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C O M M U N I C A T E ) Band 36

Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte

Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp


unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck
Christian Moser

Buchgestützte Subjektivität
Literarische Formen
der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik
von Piaton bis Montaigne

Max Niemeyer Verlag


Tübingen 2006
Gedruckt mit Unterstützung der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung,
Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen


Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN-13: 978-3-484-63036-9 ISSN 0941-1704


ISBN-10: 3-484-63036-1

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006


Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, München
http://www. niemeyer. de
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede
Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne
Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Satz: Linsen mit Spektrum, Mössingen
Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren
Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Vorbemerkung

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung einer Arbeit, die im Sommer-
semester 2003 unter dem Titel Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution:
Zur Vorgeschichte der neuzeitlichen Selbstdarstellung voη der Philosophischen Fakultät
der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Habilitationsschrift zur
Erlangung der venia legendi für das Fach Vergleichende Literaturwissenschaft an-
genommen wurde.
Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dolf Oehler für langjährige Unter-
stützung und Förderung. Prof. Dr. Franz-Josef Albersmeier, Prof. Dr. Jürgen Fohr-
mann, Prof. Dr. Helmut J. Schneider und Prof. Dr. Sabine Sielke danke ich für ihre
gutachterlichen Stellungnahmen und für konstruktive Kritik.
Dank gebührt auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung
eines Habilitandenstipendiums sowie der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stif-
tung für die Gewährung einer großzügigen Druckkostenbeihilfe.
Schließlich danke ich Prof. Dr. Fritz Nies und Prof. Dr. Wilhelm Voßkamp für
die Aufnahme des Buches in die Reihe »Communicatio«.
Das Buch ist meiner Frau Alexandra Haberkamp gewidmet, ohne deren uner-
müdliche und tatkräftige Unterstützung das Projekt nie zu einem Abschluß gelangt
wäre.

Technischer Hinweis

Griechische Texte werden in dieser Untersuchung in deutscher Übersetzung zitiert;


wichtige Begriffe und Passagen werden dabei parenthetisch im griechischen Original
angeführt.
Lateinische Texte werden im Original zitiert; die deutschen Ubersetzungen dazu
finden sich in den Fußnoten. Lateinisch ν für u wird aus Gründen leichterer Lesbar-
keit stillschweigend zu u korrigiert.
Es wird in der Regel auf einschlägige neuere Ubersetzungen zurückgegriffen.
Gelegentliche Modifikationen werden als solche kenntlich gemacht.
Alle in den neueren Sprachen abgefaßten Texte werden im fremdsprachlichen
Original zitiert.
Hervorhebungen entstammen, wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt, dem
Original.
Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG: LEKTÜREPRAKTIKEN UND


LITERARISCHE SELBSTKONSTITUTION

1. Das Buch als Spiegel 1


Buch des Selbst und Buch der Welt (1) -
Selbstlektüre — Selbstformung — Selbstverschriftlichung (5) - Selbstver-
schriftlichung und Autobiographie (8)

2. Applikation und Selbsttechnik 12


Zur Geschichte des Begriffs der Applikation (12) - Gadamers Konzept
der Applikation (17) - Applikation als Selbsttechnik? (22) - Antike
Schau vs. christliche Lektüre? (25)

V O M SOKRATISCHEN DIALOG ZUM


SELBSTGESPRÄCH DES LESERS: ANTIKE VORGESCHICHTE DER
BUCHGESTÜTZTEN SELBSTKONSTITUTION

I. Selbsterkenntnis und Selbstsorge 31

1. Das Ideal der ungegenständlichen Wissensform 31


Verflechtung von Selbst- und Weltwissen ( 3 1 ) - Mündliche vs. schrift-
liche Unterweisung (41)

2. Ein Goldenes Zeitalter der Selbstkultur?


Michel Foucaults Interpretation der antiken Ethik 49
Gibt es ein antikes Selbst? (49) - Genealogie des Subjekts vs. Ästhetik
der Existenz (52) — Foucaults Abwertung der Selbsterkenntnis (57)
- Aufspaltung der Einheit von Wissens- und Subjektkonstitution (59)
- Rhetorische Aufrüstung der Wahrheit; Artifizialität des Selbst (66)

3. Die verschleierte Gegenständlichkeit des Wissens 69


Ethopoetisches Schreiben (69) - Mneme und hypomnesis (72) - Insze-
nierung der Schrift (74)
VIII Inhaltsverzeichnis

II. Dialektische Strategien der Selbstsorge: Piatons Alkibiades 1 79

1. Der platonische Alkibiades — ein Musterfall praktischer Selbstsorge?. . 79


Neuere Deutungen des Alkibiades (80) - Die Rolle der Dialektik (84)
2. Der sokratische elenchos 87
Wissensprüfung als Lebensprüfung (87) - Elenktisches vs. rhetorisches
Beweisverfahren (89)

3. Die Erfahrung des Nicht-Wissens: Der elenchos als


Instrument der Selbsterkenntnis 96
Elenktische Prüfung des Alkibiades (96) - Scheitern des elenchos und
Königsrede (99)
4. Akribische Begriffsanalysen: Die Diärese als
Instrument der Selbsterkenntnis 104
Das Schneideinstrument der Sprache (104) - Definition des Selbst
(107)

5. Der Spiegel der Sprache: Das Paradeigma als


Instrument der Selbsterkenntnis 110
Paradeigma und Metapher (112) - Spiegelungsfunktion und Sehstrahl-
theorie (114) - Sokrates als Paradeigma (120)

III. Piatons Konzeption der Lektüre: Dialogform und


mimetische Aneignung des Geschriebenen 125

1. Das Paradeigma und die Technik des visuellen Lesens 125


Das Paradeigma als Lesehilfe (128) - Paradeigma und Dialogform
(134)

2. Dialogform und Schriftkritik 135


Der geschriebene Dialog als Gedächtnisstütze (Szlezak) (138) - Der
geschriebene Dialog als Auslöser eines hermeneutischen Gesprächs
zwischen Text und Leser (Schleiermacher) (144)

3. Lektüre als mimetische Einübung in philosophisches Verhalten:


Die Vorrede zum Theattetos-Dia\og 149
Diegesis — hypomnesis — mimesis: Die Abfassung der Dialogschrift (150)
— Die mimetische Aktivität des Lesers (153)

IV. Der Freund als Spiegel: Zur Problematik von Selbsterkenntnis und
praktischer Übung in der aristotelischen Ethik 159

1. Aufwertung der ethischen Übung 159


Inhaltsverzeichnis IX

2. Übung und die Aneignung sittlichen Wissens 163


Ethischer Diskurs und moralische Praxis (163) - Gesetz und Gewöh-
nung (168)

3. Das glückliche Leben - ergon oder energeia? 173


Die Problematik der moralischen Wertschätzung (173) — Glück und
Lebensgeschichte: Das Beispiel des Priamos (177)
4. Der Freund - Spiegel des Selbst auf der Schwelle
zwischen energeia und ergon 183
Typen der Freundesliebe (184) — Die spekuläre Funktion der Tugend-
freundschaft (188) - Selbstbespiegelung im Freund vs. Selbstbespiege-
lung in der Schrift (192)

5. Eine neue Form von Übung: Musikalische Charakterbildung 195


Charakterbildung durch das Hören von Musik (196) — Charakterbil-
dung durch das Spielen von Musik (199)

V. Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung:


Von der Deklamation zur Lektüre- und Schreibübung 203

1. Isokrates und die Sophisten 203


Aufwertung der Urteilskraft (203) - Muster einer sophistischen Re-
deübung (211)

2. Die Funktion der rhetorischen Lektüreübung —


Quintilians Institutio oratoria 214
Copia und iudicium (216) - Lektüreübung und imitatio (218)

3. Die Rede - ein dissimuliertes Schreiben:


Quintilians Konzeption der Schreibübung 225
Das schützende Gehäuse der Schrift (226) - Schreibübung und Impro-
visation (229) - Schrift als Instrument rhetorischer Askese (234)
4. Die Lektüreübung im Grenzbereich von rhetorischer institutio
und philosophischer Charakterbildung: Ciceros De oratore 237
Ciceros Konzept von Übung und imitatio (240) - Rhetorische Übung
als philosophisches Therapeutikum (247)

VI. Verinnerlichung der dialektischen Struktur: Schrift als Instrument


der Selbstdisziplinierung in der kaiserzeitlichen Philosophie 255

1. Der neue Abstand zum Lehrer: Epiktets Kritik


an der sokratischen Methode 259
Epiktets elenktisches Experiment (259) - Hören und Schweigen
(262)
χ Inhaltsverzeichnis

2. Der neue Abstand zum Selbst:


Plutarch und die Kunst des Hörens 266
Hören als Selbstprüfung (266) — Der Freund: Anstoß zur Selbstprüfung
(271)

3. Der neue Abstand zum Freund: Der Brief als pädagogisches


Instrument in Senecas Epistulae morales 277
Briefliche Unterweisung vs. contubernium (279) - Propädeutik des
Lesens (283) — Stoische Praktiken des Lesens und Schreibens: Ep. 33
(285) - Kein Lesen ohne Schreiben (289) — Epistolare Selbstgespräche:
Der Brief als Medium der Introspektion (293)

6. Ein Selbstgespräch in schriftlicher Form:


Marc Aurels TA ΕΙΣ ΕΑΥΤΟΝ 300
Die Aufzeichnungen Marc Aurels: Hypomnemata oder Selbstgespräch?
(301) — Selbstreform durch Selbstverschriftlichung: Die Funktion des
Lebensrückblicks in den Aufzeichnungen Marc Aurels (307)

V O M PHILOSOPHISCHEN SELBSTGESPRÄCH ZUR HERMENEUTIK


DES GEFALLENEN WLLLENS: LITERARISCHE FORMEN
DES UMGANGS MIT DEM SELBST BEI AURELIUS AUGUSTINUS

VII. Das Scheitern der Dialektik: Augustins philosophisches Frühwerk . . . 325

1. Die Unordnung des Gesprächs: Zufälle und Einfälle


in Augustins Dialogschrift De ordine 325
Ordo rerum und ordo studiorum (325) - Gestörte Ordnungen (330)
- Das Schreiben: Eine ordnungspolitische Maßnahme (334) - Ge-
spräch unter Abwesenden (340) - Die Desintegration des Gesprächs:
Soliloquium und narratio als Alternativen (344)

2. Das Soliloquium·. Verbalisierung des Denkens,


Verschriftlichung der inneren Rede 352
Das Soliloquium und seine Vorläufer (352) - Die augustinische Sprach-
und Zeichentheorie (355) - Verbalisierung, Dialogisierung und Ver-
schriftlichung der inneren Rede (360) - Dialektische Methode vs.
disruptive Illumination (364) - Innere Spaltung des Subjekts (373) -
Alternativen zur Dialektik: Hermeneutisches Erraten und diegetischer
Bericht (379)
Inhaltsverzeichnis XI

VIII. Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen:


Augustins karitative Hermeneutik der Mit-Teilung 387

1. Der hermeneutische Schlüssel der Caritas·.


De catechizandis rudibus 391
Denken und Sprechen (391) - Selbstlektüre im anderen; liebendes
Entgegenkommen durch Erzählen (400)

2. Aneignung durch Weggabe: De doctrina christiana 407


Kritik an der charismatischen Schriftauslegung (407) - Verfertigung
der Gedanken beim Schreiben (413)

IX. Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik. . 421

1. Die strukturelle Offenheit der Confessiones 421


Die Confessiones in der literaturwissenschaftlichen Autobiographiefor-
schung (422) - Konversion als Deutungsschema und als deutungsbe-
dürftiges Ereignis (427)

2. Schwierigkeiten mit dem Anfang 431


Der unsichere Grund der Bekenntnisrede: Das Prooemium zu Buch I
(432) - Der fremde Beginn des eigenen Lebens: Darstellung der in-
fantia (437)

3. Mütterlicher Sprachunterricht: Paradigma für


das Wirken der Vorsehung (Buch I und II) 443
Ein alternativer Anfang:pueritia vs. infantia (443) - Muttersprache und
pueriles Verlangen (449) - Ambivalenz des Spracherwerbs: Sündenfall
und Gnadenerweis (455)

4. Traumbotschaften und philosophische Bücher: Erste Schritte


auf dem Weg zum >richtigen< Lesen (Buch III und IV) 463
Erziehung zum Lesen; Erziehung durch Lesen (463) - Die Lektüre des
ciceronianischen Hortensius: Ein frühes Konversionserlebnis? (466) - Ci-
cero als Leselehrer: Die Technik des >Uberlesens< (473) - Mütterlicher
Unterricht im close reading (478)

5. Stumme Lektüre und spirituelle Schau:


Das gefährliche Beispiel des Ambrosius (Buch V-VII) 481
Ambrosius — eine >väterliche< oder eine >mütterliche< Lehrerfigur? (481)
- Der jungfräuliche Körper des stummen Lesers (488) - Die Lektüre
der Platonicorum libri: Spiritueller Aufstieg nach ambrosianischem
Muster (497) - Das Scheitern des spirituellen Aufstiegs: Einsicht in
den Scheincharakter der ambrosianischen integritas (502)
XII Inhaltsverzeichnis

6. Rehabilitation der Erzählung: Die narrative Dimension des


Bekehrungsgeschehens (Buch V I I I ) 510
Die Geschichte des Victorinus: Die mitreißende Kraft des Bekenntnisses
(512) - Die perverse Ö k o n o m i e des Erzählens (519) - Die Erzählung
Ponticians: Der Codex als Verkörperung der Vorsehung (527) - Das
hagiographische Modell der narratio und sein augustinisches Gegenmo-
dell (529) - Willenskonflikt und Konversionsschema (537)

7. Das Konversionsszenario im Mailänder Garten:


Aufdeckung der Paradoxien augustinischer Selbsthermeneutik 541
Das tolle, lege: Eine direkte Ansprache des Sünders? (541) - Scham
und Schuld: Die potenzierte Mittelbarkeit der Selbsterkenntnis ( 5 4 9 )
— Selbsterkenntnis als hermeneutischer Raub (556)

8. Bekenntnis als Dialog, Exegese als Bekenntnis:


Die karitative Öffnung des autobiographischen Textes 563
Die dialogische Einfassung der bekenntnishaften narratio (563) - Das
Beispiel des Birnendiebstahls (566) - Der offene Raum der Schrift (570)
- Verharren in der Mittelbarkeit der Schrift: Die Psalmenlektüre von
Cassiciacum (577) - Buch X I - X I I I : Die neue Form des Lektürebekennt-
nisses (581) — Coda: Die verhinderte Rückkehr zum Vater (586)

V O N DER HERMENEUTIK DES W I L L E N S ZUR ÄSTHETISIERUNG


DER SELBSTERKENNTNIS: FRANCESCO PETRARCA IM
SPANNUNGSFELD VON ANTIKER SELBSTTECHNOLOGIE UND
AUGUSTINISCHER SÜNDENANALYSE

X. Lesen als Gespräch mit dem Autor: Petrarcas humanistische


Konzeption der Lektüre 597

1. Lektüre — eine Quelle der experientia 597


Philosophie als ars vitae (597) - Erfahrungsbedürftigkeit und Erfah-
rungsverlust (602) - Wiederbelebung des Vergangenen durch Kritik
(608)
2. Lesen und Schreiben als Selbsterprobung:
Petrarcas Revision der stoischen Lektürepraktiken 612
Erfahrung der Zeit (613) - Lektüre der Zeit ( 6 1 7 ) - Experimente mit
der Zeit ( 6 2 1 )

3. Gespräche mit Ruinen: Der Brief als Paradigma


des humanistischen Lektüreverfahrens 626
Identifikation durch Nicht-Übereinstimmung ( 6 2 6 ) - Der Text als
Ruine (634) - Epistolartheorie und Lektürekonzeption (640)
Inhaltsverzeichnis XIII

XI. Petrarcas Secretum·. Selbsthermeneutik im Geiste


der Selbstästhetisierung 647

1. Christlicher Humanismus: Petrarcas Verhältnis zu Augustinus 647


Augustinus als Symbolgestalt des christlichen H u m a n i s m u s (650) - Das
Lektüre-Gespräch: Flucht in die Träumerei oder Konfrontation mit
der Wahrheit? (654) — Das Secretum: Eine meditative Lektüre der
Confessiones (659)

2. Das literarische Supplement der Wahrheit:


Die Schrift als ästhetischer Erfahrungsraum 667
Der Wille zur Selbsttäuschung (667) - Der großzügige Inquisitor (675)
- Die Asthetisierung des Selbstverhältnisses (679)

XII. Der Bericht über die Besteigung des M o n t Ventoux:


Petrarcas Allegorie des Lesens 687

1. Sehen vs. Lesen 687

2. Der Berg als Metapher des Selbst 693


Der Bergsteiger als Philologe (693) — Asthetisierender Lebensrückblick
(705)

3. Schreiben als Selbstbetäubung 710


Flucht in die Literatur (710) - Verweigerung der karitativen Mit-Tei-
lung (719)

Schlußbetrachtung 727
Resümee (727) — Ausblick: Michel de Montaignes essayistische Selbst-
enteignung (734)

Literaturverzeichnis 743

1. Quellen 743

2. Wörterbücher u n d Hilfsmittel 747

3. Forschungsliteratur 747

Namensverzeichnis 761
Einleitung: Lektürepraktiken und
literarische Selbstkonstitution

1. Das Buch als Spiegel

Buch des Selbst u n d Buch der Welt

Bis weit in die Neuzeit hinein ist die Problematik der Selbsterkenntnis an die
Tätigkeit des Lesens gekoppelt. Das Individuum, das die Wahrheit seines Selbst
ergründen will, wendet sich diesem nicht direkt zu, sondern rekurriert auf das
Hilfsmittel des Buches. Die Einsicht in sein eigenes Inneres wird ihm durch die
Lektüre autoritativer Schriften vermittelt. Der Kirchenvater Aurelius Augustinus
bringt die enge Verbindung zwischen Selbsterkenntnis und Lektüre dadurch zum
Ausdruck, daß er die Bibel mit einem klaren Spiegel vergleicht: »[S]unt tamquam
sincerissimum speculum proposita hominibus oracula caelestium paginarum, ut
ibi quisque videat quodlibet peccatum quantum sit, quod forte magnum est ex
male viventium caeco more contemnitur.« 1 Der Spiegel der Schrift führt dem
Leser vor Augen, wie seine Seele eigentlich beschaffen sein sollte; er zeigt ihm
aber zugleich auch auf, wie es tatsächlich um sie bestellt ist. Die heilsame Selbst-
erkenntnis, die dem Sünder durch Lektüre zuteil wird, beruht auf der Einsicht
in diese Diskrepanz zwischen dem Soll- und dem Ist-Zustand seiner Seele. Der
Spiegel der Schrift enthüllt dem Leser die sündhafte Verderbnis seines Tuns, die
ihm in der gewöhnlichen Lebenspraxis und in der unmittelbaren Selbstwahrneh-
mung verborgen bleibt.
Die Verknüpfung von Selbsterkenntnis und Lektüre, auf die Augustinus ver-
weist, hat im Okzident für mehr als ein Jahrtausend Bestand. Ein Indiz für ihre
Persistenz ist die weite Verbreitung der Metapher vom Buch als Spiegel der Seele,
die bis ins 17. Jahrhundert hinein immer wieder dann Verwendung findet, wenn

1
Aurelius Augustinus: Contra epistolam Parmeniani libri tres. In:CEuvres de Saint Augustin. Vol.
28: Traites anti-donatistes I. Textes de R. Anastasi, M. Petschenig et G. Bouissou, introduction
et notes par Y. Congar, traduction de G. Finaert. Bruges et Paris 1963 (Bibliotheque Augusti-
nienne). S. 410 (III.2.9). (»Die Orakelsprüche der himmlischen Bücher sind den Menschen
wie ein sehr klarer Spiegel vor Augen gestellt, damit dort ein jeder sehe, wie groß seine Sünde
ist — eine Sünde, deren gewaltige Schwere gerade von denen, die schlecht leben, aus blinder
Gewohnheit unterschätzt wird.« [Ubersetzung von mir, Ch. M.]).
2 Einleitung

es darum geht, das Individuum zur Erkenntnis seiner selbst zu führen, 2 Der Weg
nach innen, in die verborgenen Tiefen des Ichs, führt zumeist über Bücher - über
die Heilige Schrift vor allem, aber auch über die Autoritäten der antiken und der
patristischen Tradition. Tatsächlich ist der Ehrentitel eines speculum animi keines-
wegs nur dem Buch der Bücher vorbehalten. Der Gedanke, daß Selbsterkenntnis
nur durch Lektüre zu erlangen sei, dient schließlich auch denen zur Rechtfertigung
ihrer schriftstellerischen Tätigkeit, die über keine literarische Bildung verfügen. Der
puritanische Kesselflicker John Bunyan etwa beschließt die in Versform gehaltene
Vorrede zu seiner allegorischen Erzählung The Pilgrim's Progress (1678) mit der fol-
genden Apostrophe seines Lesers:
Would'st read thy self, and read thou know'st not what
And yet know whether thou art blest or not,

2
Zur Geschichte der Metapher vom Buch als Spiegel in der Antike, im Mittelalter und in der
Frühen Neuzeit vgl. den knappen Überblick, den Ernst Robert Curtius im Kontext seiner
Ausführungen über »Das Buch als Symbol« bietet: Europäische Literatur und lateinisches
Mittelalter. Tübingen und Basel "1993. S. 3 0 6 - 3 5 2 , hier: S. 340f. Der Status, den diese
Metapher in der protestantischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts besitzt, ist sehr viel
besser erforscht als ihre frühe Geschichte. Vgl. etwa Winfried Schleiner: T h e Imagery of John
Donne's Sermons. Providence 1970. S. 149f., S. 235; John R. Knott Jr.: T h e Sword of the
Spirit. Puritan Responses to the Bible. Chicago and London 1980. S. 52; Barbara A. John-
son: Reading Piers Plowman and The Pilgrim's Progress. Reception and the Protestant Reader.
Carbondale and Edwardsville 1992. S. 184—196. — Hans Blumenberg weist in seiner großen
Studie über die Metaphorik des Buches zwar auf die weite Verbreitung des Spiegelvergleichs
hin, schließt ihn aber ausdrücklich aus seiner Betrachtung aus. »Der Piatonismus von Bild
und Spiegel«, so lautet seine Begründung, »nimmt der Metaphorik des Buches ihre spezifische
Besonderheit.« (H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M . 4 1 9 9 9 . S. 51.) Es ist
zu fragen, ob sich Blumenberg mit dieser Entscheidung nicht der Möglichkeit beraubt, eine
der zentralen Figurationen für das Welt- und Selbstverhältnis des vormodernen Menschen zu
analysieren. Bezeichnenderweise ist der Terminus speculum im Mittelalter ein außerordentlich
beliebter Buchtitel. Bücher sind nach mittelalterlichem Verständnis Spiegel - Spiegel der Welt
und Spiegel des Selbst. Literarische specula treten in zwei verschiedenen Varianten auf: Auf der
einen Seite gibt es specula, die eine enzyklopädische Form besitzen. In ihnen ist das verfügbare
Wissen über die O r d n u n g der Welt versammelt; sie zeigen auf, welche Stellung dem Menschen
innerhalb dieser O r d n u n g zukommt. Ein Beispiel für diesen Typus des literarischen Spiegels
bietet das Speculum Maius des Vincent de Beauvais aus dem 13. Jahrhundert. Auf der anderen
Seite gibt es specula, die Rechts- und Moralvorschriften oder Beispiele tugendhaften Verhaltens
enthalten. Sie präsentieren ein (mal stärker, mal weniger stark kodifiziertes) Idealbild der virtus,
das den Leser zum Vergleich mit seinem eigenen Verhalten herausfordert. Der Sachsenspiegel
des Eike von Repgow etwa ist nicht nur ein Gesetzbuch, sondern auch ein Tugendspiegel.
Wie die Beichtspiegel des 14. und 15. Jahrhunderts hat er die Funktion, dem Individuum
zur Selbsterkenntnis, zur Einsicht in die Defizienz oder Angemessenheit seines Verhaltens, zu
verhelfen. Einar Mär Jonsson zeigt auf, daß der mittelalterliche Buchtitel speculum sich von
der antiken Verwendung der Spiegelmetapher für die Selbsterkenntnis herleitet. Vgl. Ε. M.
Jonsson: Le miroir. Naissance d'un genre litteraire. Paris 1995. S. 125-154. Michel Beaujour
legt dar, daß zwischen den beiden unterschiedlichen Varianten des literarischen speculum enge
thematische und strukturelle Beziehungen bestehen: Selbsterkenntnis ist im Mittelalter an
Welterkenntnis gebunden - an die Einsicht in die Position, die dem Menschen innerhalb der
von Gott geschaffenen O r d n u n g zugewiesen ist. Vgl. M. Beaujour: Miroirs d'encre. Rhetorique
de l'autoportrait. Paris 1980. S. 29^41.
Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution 3

By reading the same lines? Ο then come hither,


And lay my Book, thy Head and Heart together. 3

Bunyan preist sein Werk als ein nützliches Instrument der Selbsterkenntnis an. Die
Einsicht, die der nonkonformistische Prediger dabei im Sinn hat, ist zwar von an-
derer Art als diejenige, die dem katholischen Kirchenvater Augustinus vorschwebt:
Bunyan verheißt seinem Leser die Möglichkeit, durch die Lektüre seines Buches
Aufschluß über die Frage zu gewinnen, ob er zu den Erwählten gehört oder nicht.
Der Grundgedanke hat sich jedoch nicht verändert. Was das Selbst seinem Wesen
nach ausmacht und wie sein aktueller Zustand konkret beschaffen ist, kann das
Individuum nicht durch unmittelbare Introspektion, sondern allein durch das Le-
sen von Texten in Erfahrung bringen. Selbsterkenntnis ist ein Produkt der Lektüre
- diese Annahme gilt gleichermaßen für den frühchristlichen Kirchenlehrer, den
mittelalterlichen Mönch, den humanistischen Gelehrten und den puritanischen
Prediger.
Wie stark diese Annahme im europäischen Denken verwurzelt ist, wie selbst-
verständlich sie lange Zeit als eine fundamentale Kulturtechnik gehandhabt wird,
zeigt sich vor allem dort, wo der Versuch unternommen wird, sie zu entkräften. In
seinem großen Essay über die Kindererziehung (»De l'institution des enfans«, 1.26)
vertritt Michel de Montaigne die Auffassung, daß der Heranwachsende Selbst- und
Menschenkenntnis nicht durch das Medium des Buches, sondern nur durch die
direkte Konfrontation mit der Welt — mit anderen Menschen, unterschiedlichen
Meinungen und Verhaltensweisen, fremden Sitten und Gebräuchen — erlangen
könne: »Ce grand monde [...], c'est le miroüer oil il nous faut regarder pour nous
connoistre de bon biais. Somme, je veux que ce soit le livre de mon escholier.«4
Um das Eigene begreifen und richtig einschätzen zu können, muß sich das Indi-
viduum der Erfahrung des Fremden aussetzen - aber eben einer unmittelbaren
Erfahrung, nicht einer durch Bücher vermittelten: »Tant d'humeurs, de sectes, de
jugemens, d'opinions, de loix et de coustumes nous apprennent ä juger sainement
des nostres, et apprennent nostre jugement ä reconnoistre son imperfection et sa
naturelle foiblesse: qui η est pas un legier apprentissage.«5 Doch signifikanterweise
kann Montaigne seine neue Konzeption der Selbsterkenntnis nur in der alten Spra-
che der Buchmetaphorik zum Ausdruck bringen. Das Individuum, das durch die
Erfahrung der Fremde zur Selbsteinsicht geführt werden soll, läßt die Bücher nicht
etwa hinter sich, ihm wird vielmehr ein anderes Buch in die Hand gegeben — das

3
John Bunyan: T h e Pilgrim's Progress. Edited with an introduction by Ν. H. Keeble. Oxford
and New York 1984. S. 7.
4
Michel de Montaigne: Essais. In: ders.: CEuvres completes. Textes etablis par Albert Thibaudet
et Maurice Rat, introduction et notes par Maurice Rat. Paris 1962 (Bibliotheque de la Pleiade).
S. 157.
5
Ebd.
4 Einleitung

Buch der Welt. 6 Montaigne denkt den Vorgang der Selbsterkenntnis im Grunde
immer noch als Lektüre. 7 Tatsächlich entspringen seine Essais, die er zum Zweck
der Selbsterkundung verfaßt, 8 gerade nicht einer unmittelbar gewonnenen Welt-
erfahrung. Der Essayist schult sein jugement nicht in der direkten Konfrontation
mit fremden Menschen und Kulturen, sondern im Umgang mit fremden Texten.
Das Buch der Welt erschließt sich ihm in Gestalt von Büchern - vermittelt durch
die antike Literatur, die Montaigne in ihrer ganzen, auch unkanonische Rander-
scheinungen umfassenden Bandbreite zur Kenntnis nimmt, vermittelt aber auch
durch neue Textformen, etwa durch die Reiseberichte der frühen Entdecker und
Kolonisatoren. 9
Der Schritt von der buchgestützten zur unmittelbaren Selbsterkenntnis, den
Montaigne in den Essais programmatisch in Aussicht stellt, wird erst ein halbes
Jahrhundert später ernsthaft in Angriff genommen - durch Rene Descartes, der
in seinem Discours de la methode (1637) das Projekt des Essayisten aufgreift und
zu überbieten sucht. Descartes berichtet, daß er das Studium der Bücher, das ihm
keinen befriedigenden Aufschluß über die Welt und sein Selbst zu geben vermochte,
bereits in jungen Jahren aufgab, um statt dessen auf Reisen zu gehen und im großen
Buch der Welt (»dans le grand livre du monde«) zu lesen.10 Auch der Verfasser des
Discours macht also zunächst noch von der Buchmetaphorik Gebrauch und bezeugt
somit die Zählebigkeit der Verknüpfung von Selbsterkenntnis und Lektüre. Doch
anders als Montaigne, auf dessen Essay 1.26 er an dieser Stelle deutlich Bezug nimmt,
sieht Descartes auch in der Welterfahrung kein geeignetes Instrument der Selbster-
kenntnis. Das Lesen im Buch der Welt hat für ihn nur eine propädeutische Funk-
tion; es m u ß schließlich einer direkteren Form des Selbststudiums weichen: »Mais,
apres que j'eus employe quelques annees ä etudier ainsi dans le livre du monde, et
ä tacher d'acquerir quelque experience, je pris un jour la resolution d'etudier aussi
en moi-meme«. 11 Weder das Lesen der Bücher noch die Erfahrung der Welt gilt
Descartes als ein gangbarer Weg zur Selbsterkenntnis. Die Wahrheit seines Seins
erschließt sich dem Subjekt vielmehr allein im Selbstbezug des cogito - im unmit-

6
Montaigne kombiniert in der zitierten Passage zwei hergebrachte Buchmetaphern — die Me-
tapher vom Buch der Welt und die Metapher vom Buch als Spiegel. Zur Metapher des Buchs
der Welt vgl. H . Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt (passim). Zu Montaignes Umgang mit
der Welt-Buch-Metapher siehe ebd. S. 6 5 - 6 7 .
7
Vgl. M. de Montaigne: Essais. S. 1652: »[...] je me deschiffre moy-mesme« (III.5, Zusatz von
1588).
8
Vgl. ebd. S. 1050: »Je m'estudie plus qu'autre subject. C'est ma metaphisique, c'est ma phi-
sique.« (III. 13).
5
Zu Montaignes Antike-Rezeption vgl. Hugo Friedrich: Montaigne. Tübingen und Basel 3 1993.
S. 36—90. Zu seinem Interesse an neuerer Reiseliteratur vgl. ebd. S. 192—195.
10
Κεηέ Descartes: Discours de la methode pour bien conduire sa raison et chercher la verite
dans les sciences. In: CEuvres et lettres de Descartes. Textes presentes par Andre Bridoux. Paris
1953 (Bibliotheque de la Pleiade). S. 125-179, hier: S. 131.
" Ebd. S. 132.
Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution 5

telbaren Denken des Selbst, das zugleich ein autonomes Selberdenken ist. Descartes
stilisiert sich im Discours zu einer Gründergestalt, die einen radikalen Bruch mit der
Uberlieferung vollzieht. Er gibt vor, der erste zu sein, der mit dem Versuch Ernst
macht, das Erkenntnissubjekt aus seiner Bindung an das Buch und an die Welt zu
lösen, um es ganz auf sich selbst zu stellen.12 Die subjektkonstitutive Funktion der
Lektüre wird somit nachhaltig in Zweifel gezogen.13

Selbstlektiire - Selbstformung - Selbstverschriftlichung


Denn daß die Lektüre für das Selbst des Lesers in gewisser Weise konstitutiv ist,
gehört zu den Grundannahmen des vor-cartesianischen Denkens. Durch Lektüre
gewinnt das Individuum Zugang zur Wahrheit seiner selbst. Die Lektüre stellt aber
zudem einen privilegierten Modus der Selbstbearbeitung, der moralischen Formung
der eigenen Persönlichkeit dar. Das Individuum liest nicht bloß, um intellektuelle
Einsicht in sein eigenes Wesen zu gewinnen. Es liest auch, um dieser Einsicht zu
praktischer Wirkung zu verhelfen. Das Selbst soll durch die Lektüre verändert
werden. Daher fordert John Bunyan den Leser seines Werkes dazu auf, »my Book,
thy Head and Heart« zusammenzuführen: Es gilt, den Leser nicht allein in seinem
Verstand, sondern in seiner ganzen Persönlichkeit zu treffen und umzugestalten. Wie
Augustinus die Erkenntnisfunktion des Buches in das prägnante Bild des speculum
animi gefaßt hat, so hält er in seinen Confessiones auch reiches Anschauungsmaterial
für die praktische und transformative Wirkung des Lesens bereit. Ein Beispiel, das
unmittelbar in die Augen springt, ist die berühmte Darstellung seiner Bekehrung,
die im achten Buch des Bekenntniswerks präsentiert wird. Denn anders als der
Apostel Paulus, der vor Damaskus eine visionäre Erleuchtung erfuhr und daraufhin
zum christlichen Glauben konvertierte,14 wird Augustinus durch ein Lektüreerlebnis
dazu bewegt, mit seinem alten Leben zu brechen. Das Buchorakel, das er im Garten

12 Hans Blumenberg weist zu Recht d a r a u f h i n , daß die Selbstbegründung des Erkenntnissub-


jekts bei Descartes den Charakter einer Inszenierung besitzt: »Die Heroisierung des Descartes
zur Gründerfigur der Neuzeit hat in seiner Selbststilisierung, in der das Geschichtliche z u m
Hypothetischen wird, ihr Fundament.« (Die Legitimität der Neuzeit. Erweiterte Neuausga-
be. Frankfurt a. M . 1996. S. 208.) Ein wesentlicher Aspekt dieser Selbststilisierung besteht
darin, d a ß Descartes systematisch all das verschweigt, was er d e m S t u d i u m der Bücher zu
verdanken hat. Das cogito-Argument beispielsweise findet sich in ähnlicher Form bereits bei
Augustinus, mit dessen Schriften Descartes bestens vertraut war (vgl. Etienne Gilson: Rene
Descartes. Discours de la methode. Texte et commentaire. Paris 1930. S. 295f.). Der Gedanke
der unmittelbaren Selbsteinkehr ist durch die Augustinus-Lektüre vermittelt. Tatsächlich
löst Descartes die Verbindung zwischen Selbsterkenntnis und Lektüre also nicht einfach auf,
vielmehr entwickelt er Strategien, um sie zu verschleiern. Die Schwierigkeiten, auf die er bei
seinem Versuch stößt, ein unmittelbares Selbstverhältnis zu etablieren, attestieren einmal mehr
die Persistenz dieser Verbindung.
13 Zu diesem Befund gelangt Brian Stock: Reading, Writing, a n d the Self: Petrarch a n d His
Forerunners. In: N L H 2 6 (1995). S. 7 1 7 - 7 3 0 , hier: S. 718f.
14 Apg. 9 . 1 - 9 .
6 Einleitung

seiner Mailänder Wohnung auf Veranlassung des vom Nachbarhaus her erschal-
lenden Rufes »tolle, lege« durchführt, bildet den Höhepunkt dieser umwälzenden
Lektüreerfahrung. 15 Sie umfaßt jedoch mehr als die erschütternde Begegnung des
Sünders mit einem Schriftwort, das ihm die Haltlosigkeit seines bisherigen Lebens
offenbart. Der Protagonist der Confessiones kann den Ruf nur deshalb überhaupt
als Anweisung zur Durchführung eines Buchorakels verstehen, weil er kurz zuvor
eine Reihe von exemplarischen, kunstvoll ineinander verschachtelten Konversi-
onsgeschichten rezipiert hat, die er im entscheidenden Moment nachahmt: die
Geschichte der zwei kaiserlichen Beamten, die in einem Kloster vor den Toren
Triers auf ein Exemplar der Vita Antonii gestoßen und durch die Lektüre dieses
Buches bekehrt worden waren, sowie die in dieser Vita enthaltene Geschichte von
der Konversion des heiligen Antonius, der ein zufällig vernommenes Schriftwort
als unmittelbar an ihn adressierten Befehl zur Nachfolge Christi aufgefaßt hatte.
Diese Erzählungen, so berichtet Augustinus, machten ihm den korrupten Zustand
seiner Seele bewußt und entzündeten in ihm das Verlangen, den beispielhaften
Gestalten nachzueifern. 16 Indem Augustinus den Ruf und das Buchorakel als
göttliche Aufforderung zur Umkehr deutet, imitiert er die narrativen Exempel
und setzt das Gelesene praktisch um. Er wird zu dem, wovon er las. Mehr noch:
Dadurch, daß Augustinus sein eigenes Bekehrungserlebnis zur Grundlage seiner
Lebensgeschichte macht und in Gestalt der Confessiones niederschreibt, unterzieht
er die exemplarischen Erzählungen einer doppelten, sowohl praktischen als auch
literarischen imitatio. Seine Konversion markiert die Umsetzung von Text in Leben;
dieses Leben wird dann seinerseits wieder in einen Text verwandelt, der anderen als
Spiegel und als Anreiz zur Umkehr dienen soll.
Augustins Bekehrung, die sein neues Selbst begründet, ist der Effekt einer be-
stimmten Form von Lektüre. Sie ist darüber hinaus an eine spezifische, nämlich
narrative Form der Selbstverschriftlichung gekoppelt. Die durch das Lesen ausgelöste
Konversion ist jedoch nicht das einzige Beispiel für die konstitutive Funktion der
Lektüre, das die Confessiones bereit halten. Nur der erste Teil des Bekenntniswerks hat
die Form der Erzählung. In den Büchern XI bis XIII dagegen erzählt Augustinus kei-
ne Geschichten, vielmehr betätigt er sich als Leser und Exeget der Heiligen Schrift.
Genauer: Er begibt sich daran, über das göttliche Gesetz zu meditieren (»meditari in
lege tua«). 17 Auch dabei handelt es sich um ein Lektüreverfahren, das den Leser zur
Selbsterkenntnis führen und ihn zugleich in seinem moralischen Sein bestimmen
soll. Mit seiner Schriftmeditation greift Augustinus auf eine alte Lektüretechnik
zurück, deren Wurzeln zum einen in der jüdischen Tradition der Thora-Exegese,

15 Aurelius Augustinus: Confessionum libri XIII. Hg. von Luc Verheijen. In: Aurelii Augustini
Opera. Bd. I. Turnhout 1981 (Corpus Christianorum. Series Latina. Bd. 27). VIII. 1 2 . 2 8 - 3 0 .
16 Ebd.VIII.7.16.
17 Ebd. XI.2.2.
Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution 7

zum anderen im Bereich der heidnisch-antiken Philosophie und Rhetorik liegen. 18


Die Gesetzesmeditation ist eine spezielle Variante dieser Technik. Der apokryphe
Jakobusbrief stellt sie folgendermaßen dar:
Estote autem factores verbi et non auditores tantum fallentes vosmetipsos. Quia si quis auditor
est verbi et non factor, hie comparabitur viro consideranti vultum nativitatis suae in speculo;
consideravit enim se et abiit, et statim oblitus est qualis fuerit. Qui autem perspexerit in lege
perfecta libertatis et permanserit, non auditor obliviosus factus sed factor operis, hic beatus
in facto suo erit."

Der Jakobusbrief vergleicht die Meditation über das Gesetz mit dem Blick in den
Spiegel. Der Spiegel der Schrift präsentiert dem Leser das Bild seines wahren Selbst.
Der gesetzestreue Leser nimmt dieses Bild nicht bloß flüchtig wahr, sondern er ver-
senkt sich darin, er studiert es, er prägt es seinem Gedächtnis ein und erhebt es somit
zum Prinzip seines Handelns. Auch hier geht es darum, daß der Leser sich nicht
damit begnügt, den Sinn des Textes zu erfassen, daß er nicht nur erkennt, worin das
richtige Handeln besteht und wie seine Seele beschaffen sein sollte, sondern daß er
das Gelesene auch praktisch umsetzt, ja mit ihm eins wird, sich nach seinem Bilde
umformt und es inkorporiert. Um den Vorgang der meditativen Inkorporation der
Schrift zu beschreiben, rekurriert Augustinus auf die Bildlichkeit der Ingestion und
des Wiederkäuens - eine Bildlichkeit, die gleichermaßen in der jüdischen wie auch
in der heidnisch-antiken Praxis der meditatio beheimatet ist: 20

18 Zu den jüdischen Ursprüngen der christlichen meditatio vgl. Jacques Rousse / Hermann Josef
Sieben / Andre Boland: Lectio divina et lecture spirituelle. In: Dictionnaire de spiritualite
ascetique et mystique. Doctrine et histoire. Publie sous la direction de Marcel Viller. Paris
1932ff. Bd. 9. Sp. 470-510, hier: Sp. 470f.; Emmanuel von Severus: Das Wort >meditari<
im Sprachgebrauch der Heiligen Schrift. In: Geist und Leben 26 (1953). S. 365-375. Zur
meditatio im Kontext der antiken Philosophie vgl. Paul Rabbow: Seelenführung. Methodik
der Exerzitien in der Antike. München 1954; Pierre Hadot: Exercices spirituels et philosophie
antique. Paris 2 1987. S. 18-33 und passim.
" Jak. 1.22-25 (zitiert nach: Nova Vulgata Bibliorum Sacrorum Editio. Rom 1979). (»Hört
das Wort nicht nur an, sondern handelt danach; sonst betrügt ihr euch selbst. Wer das
Wort nur hört, aber nicht danach handelt, ist wie ein Mensch, der sein eigenes Gesicht im
Spiegel betrachtet: Er betrachtet sich, geht weg, und schon hat er vergessen, wie er aussah.
Wer sich aber in das vollkommene Gesetz der Freiheit vertieft und an ihm festhält, wer es
nicht nur hört, um es wieder zu vergessen, sondern danach handelt, der wird durch sein
Tun selig sein.« [Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung nach dem Kommentar der
Jerusalemer Bibel. Neu bearbeitete und erweiterte Ausgabe deutsch hg. von Alfons Deissler
und Anton Vögtle in Verbindung mit Johannes M. Nützel. Freiburg im Breisgau, Basel,
Wien 1985.]).
20 Zu den alt-hebräischen Wurzeln dieser Bildlichkeit und zu der entsprechenden Textpraxis

vgl. Jean Leclercq: Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters
Aus dem Französischen von Johannes und Nicole Stöber. Düsseldorf 1963. S. 25f.; Marcel
Jousse: La manducation de la parole. Paris 1975; Fidelis Ruppert: Meditatio - Ruminatio. Zu
einem Grundbegriff christlicher Meditation. In: Erbe und Auftrag 53 (1977). S. 83-93. Zu
ihrem Stellenwert in der heidnisch-antiken und humanistischen Tradition vgl. Günter Butzer:
Pac-man und seine Freunde. Szenen aus der Geschichte der Grammatophagie. In: Medien
des Gedächtnisses. DVjs Sonderheft 1998. Hg. von Aleida Assmann, Manfred Weinberg und
Martin Windisch. Stuttgart und Weimar 1998. S. 228-244.
8 Einleitung

Quando [...] audis, aut quando legis, manducas; quando inde cogitas, ruminas, ut sis animal
mundum, non immundum. Quod significat etiam sapientia per Salomonem dicens: Thesaurus
desiderabilis requiescit in ore sapientis; vir autem stultus glutit ilium. Qui enim glutit, ut non
in illo appareat quod voruit, oblitus est quod audivit. Qui autem non est oblitus, cogitat, et
cogitando ruminat, ruminando delectatur.21

Das Bild der ruminatio verweist auf eine besonders intensive Form der Lektüre, bei
der der Leser den Text zum Gegenstand eines - durchaus wörtlich zu verstehenden
— Nach-Denkens erhebt. Dieses Nachdenken zielt zunächst auf die gründliche
Erfassung des Textsinns ab. Der Leser reflektiert auf das Gelesene, um in ver-
borgene Bedeutungsschichten einzudringen und sich den spirituellen Gehalt des
Textes bewußt zu machen. Die ruminatio bezeichnet aber zugleich einen Akt der
Aneignung: Wie das Tier die aufgenommene Nahrung durch die Tätigkeiten des
Wiederkäuens und der Digestion in körpereigene Substanz verwandelt, so soll der
Leser den Gehalt der Schrift durch Meditation in seine Seele überführen, um die
nötige Kraft zu gesetzestreuem Verhalten zu erlangen. Wie die Lektürekonversion ist
das Lektüreverfahren der Meditation an spezifische Schreibverfahren gekoppelt. Die
meditatio stellt nicht nur die Verbindung zwischen dem Text und der moralischen
Praxis des Lesers her; sie impliziert zudem eine bestimmte literarische Praxis. In den
Confessiones verleiht Augustinus seiner Gesetzesmeditation die Form des exegetischen
Kommentars. Die meditative Lektüre schlägt sich unmittelbar in der Produktion ei-
nes neuen Textes nieder. In seinem Kommentar extrahiert und erläutert Augustinus
die heilsamen Wahrheiten, die in der Schrift enthalten sind, und erleichtert somit
sich selbst wie auch seinen Lesern die Tätigkeit der Aneignung. »Der Kommen-
tar«, so erläutern Aleida und Jan Assmann die Funktion dieses Schreibverfahrens,
»dient [...] der Umsetzung von Text in Leben, der Freisetzung des weltdeutenden,
handlungsorientierenden und lebensformenden Anspruchs in ständig veränderten
Erfahrungshorizonten«.22

Selbstverschriftlichung und Autobiographie


So sehr sich die im achten Buch der Confessiones beschriebene Konversionslektüre
von der Schriftmeditation unterscheidet, die Augustinus im letzten Teil seines

21 Aurelius Augustinus: Enarrationes in Psalmos I—L. Hg. von E. Dekkers und J. Fraipont. In:
Aurelii Augustini Opera. Bd. X. 1. Turnhout 1956 (Corpus Christianorum. Series Latina. Bd. 38).
XXXVI.3.5. (»Wenn du hörst oder wenn du liest, dann ißt du; wenn du über das Gelesene
nachdenkst, käust du wieder, auf daß du ein reines und kein unreines Tier seist. Das wird auch
durch den Weisheitsspruch Salomons zum Ausdruck gebracht, der besagt: Der wünschenswerte
Schatz ruht im Munde des Weisen; der törichte Mann aber schlingt ihn herunter. Wer nämlich
schlingt, so daß an ihm nicht sichtbar wird, was er in sich aufgenommen hat, der hat das, was
er gehört hat, vergessen. Wer aber nicht vergessen hat, der denkt nach und käut nachdenkend
wieder und wird erfreut, indem er wiederkäut.« [Übersetzung von mir, Ch. M.]).
22 Aleida und Jan Assmann: Kanon und Zensur. In: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäolo-
gie der literarischen Kommunikation II. Hg. von Aleida und Jan Assmann. München 1987.
S. 7-27, hier: S. 14.
Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution 9

Bekenntniswerks durchführt, beide Lektüreszenarien verweisen auf die Existenz


eines Zusammenhangs zwischen der Praxis des Lesens, der ethischen Formung des
Subjekts und spezifischen Techniken des Schreibens. Es ist dieser Z u s a m m e n h a n g
zwischen Selbstkonstitution, Lektüre- und Schreibverfahren, der den Gegenstand
der vorliegenden Untersuchung bildet. Das vormoderne Subjekt konstituiert sich,
indem es liest. Das Individuum hat keinen unmittelbaren, im reinen Denken gege-
benen Zugang zur Wahrheit seiner selbst; diese wird ihm vielmehr durch autoritative
Texte vermittelt. Die Selbstentzifferung des Individuums ist an die Entzifferung
von Schriften gekoppelt. Diese Lektüre beschränkt sich jedoch nicht auf die herme-
neutische Erfassung von Sinn. U m als konstitutives Element fungieren zu können,
m u ß dieser Sinn mit Wirkkraft ausgestattet werden. Das Lesen wird bis in die Frühe
Neuzeit hinein in einem emphatischen Sinne als Praxis begriffen, als produktive
Tätigkeit, welche die Persönlichkeit des Lesers zu transformieren vermag. Der Leser
soll das Wissen, das er in den Texten vorfindet, nicht bloß passiv in Empfang oder
distanziert zur Kenntnis nehmen, sondern zur Grundlage seiner Identität und Le-
bensführung machen. Die Lektüre ist in einen Apparat vielfältiger Verfahrensweisen
eingebunden, die der in den Texten enthaltenen Wahrheit zur W i r k u n g verhelfen
und sie in der Psyche des Lesers verwurzeln sollen.
Zu diesen Verfahrensweisen zählt nicht zuletzt auch das Schreiben. Das Lesen
findet seine Ergänzung im Schreiben, ja das Schreiben ist notwendiger Bestandteil
eines Lektürevorgangs, der mehr sein will als ein kognitiver Akt. Schreibend macht
sich der Leser das Gelesene ganz zu eigen; schreibend festigt er die Überzeugungen,
die er durch Lektüre gewonnen hat; schreibend legt er davon Zeugnis ab, d a ß er
sich mit den aufgenommenen Wahrheiten identifiziert und sie als identitätsstiftende
Elemente verinnerlicht hat. Zwischen der Lektüretätigkeit und dem autobiographi-
schen Schreiben besteht mithin eine enge Beziehung. Vormoderne Autobiographik
stellt die Lektüreaktivität des Individuums nicht bloß distanziert als ein M o m e n t
der Lebensgeschichte dar, sie geht vielmehr unmittelbar aus d e m Vollzug dieser
Aktivität hervor. Die Art und Weise, wie das Individuum liest, bestimmt auch sein
autobiographisches Schreibverfahren. Auf der einen Seite steht das Lesen nicht nur
im Zeichen der Selbsterkenntnis, sondern auch der Selbstformung. A u f der anderen
Seite beschränkt sich die Aufgabe des Schreibens nicht auf die bloße Darstellung
des Selbst, sondern erfüllt eine ethopoetische Funktion - es dient der Umgestaltung
und der Disziplinierung des schreibenden Subjekts. 23

23 Z u m Begriff der Ethopoetik u n d des ethopoetischen Schreibens vgl. M i c h e l Foucault:


L'hermeneutique du sujet. Cours au College de France (1981—1982). Edition etablie, sous la
direction de Franiois Ewald et Alessandro Fontana, par Fröderic Gros. Paris 2 0 0 1 . S. 227f.;
ders.: L'ecriture de soi. In: ders.: Dits et ecrits 1 9 5 4 - 1 9 8 8 . fidition etablie sous la direction
de Daniel Defert et Fran$ois Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange. Paris 1994.
Bd. 4. S. 4 1 5 - 4 3 0 , hier: S. 4 1 8 .
10 Einleitung

Der Vielfalt der Lektüretechniken korrespondiert mithin die Vielzahl der Dar-
stellungsmuster, die im autobiographischen Schrifttum zur Anwendung gelangen.
Die vormoderne Autobiographik richtet sich nicht an einem singulären, norma-
tiven Gattungsmodell aus. Die Confessiones, denen ein solcher normativer Status
in der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung fälschlicherweise oft
zugeschrieben wird, markieren eine hybride Verbindung unterschiedlicher Schreib-
verfahren (Bekenntnis, Konversionsgeschichte, Gebet, Gedächtnis- und Schriftme-
ditation, exegetischer Kommentar), die Augustinus hellenistischen, jüdischen und
frühchristlichen Traditionszusammenhängen entnommen hat. In den Confessiones
finden eine Reihe ganz unterschiedlicher Darstellungstechniken Verwendung. Das
Bekenntniswerk stellt seinerseits nur eine von vielen Quellen dar, aus denen sich
die autobiographische Literatur des Mittelalters und der Neuzeit speist. Zwar hat
bereits Georg Misch im ersten Band seiner monumentalen Geschichte der Autobio-
graphie die unter Kultur- und Literaturhistorikern verbreitete Neigung beklagt, das
Bekenntniswerk des Kirchenvaters zum alleinigen Ursprung der abendländischen
Selbstdarstellung zu stilisieren: Die Confessiones, so argumentiert Misch, stehen nicht
am Anfang einer Entwicklung, sondern sie stehen mitten darin; sie fuhren eine Tra-
ditionslinie weiter, die bis in die klassische Antike zurückreicht.24 Gleichwohl lebt die
besagte Neigung auch heute noch in unverminderter Stärke fort. Sei es, daß sie die
Gattungshistorie der Autobiographie als Ausdruck einer sich emanzipierenden Sub-
jektivität zu rekonstruieren sucht,25 sei es, daß sie darauf abzielt, das im Laufe dieser
Geschichte zur >Mündigkeit< gelangende Subjekt aus poststrukturalistischer Sicht zu
dekonstruieren:26 Die Kultur- und Literaturgeschichtsschreibung sieht in Augustinus
noch immer eine - mal positiv, mal negativ bewertete — Gründerfigur.27
Zusätzlich befördert wird die Neigung, Augustinus zum Gründerheros zu stili-
sieren, durch das restriktive Gattungsverständnis, das die Autobiographieforschung
noch immer beherrscht. Es orientiert sich an den kanonischen Texten des 18. und
19. Jahrhunderts (Rousseau, Goethe, Chateaubriand) und legt die Autobiographie
auf die retrospektive Prosaerzählung der eigenen Lebensgeschichte fest.28 Die enge

24 G. Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. I: Das Altertum. Erste Hälfte. Frankfurt a. M.
3 1949. S. 20.
25 Vgl. etwa Karl Joachim Weintraub: The Value of the Individual: Self and Circumstance in
Autobiography. Chicago and London 1978. S. 22—48.
26 Vgl. etwa Linda Anderson: Autobiography. London and New York 2001. S. 18-27.
27 Die vorliegende Untersuchung will dieses Bild korrigieren, indem sie die augustinischen
Confessiones als ambivalente Gelenkstelle zwischen antiken und neuzeitlichen Formen der
Selbstverschriftlichung markiert.
28 Vgl. Philippe Lejeune: L'autobiographie en France. Paris 1971. S. 14: »Nous appelons auto-
biographie le recit r&rospectif en prose que quelqu'un fait de sa propre existence, quand il
met l'accent principal Sur sa vie individuelle, en particulier sur l'histoire de sa personnalite.«
Obwohl oder vielleicht gerade weil Lejeunes Gattungsdefinition konventionell erscheint und
die communis opinio der neueren Autobiographieforschung auf den Punkt bringt, hat sie sich
als außerordentlich einflußreich erwiesen. Es gibt kaum eine Abhandlung zur Theorie oder
Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution 11

Definition des Genres erfaßt jedoch nur einen Bruchteil der Texte, die der Selbst-
darstellung und Selbstformung gewidmet sind. Das gilt schon für die moderne
autobiographische Literatur, der die Definition doch in erster Linie gerecht werden
will. So läßt sie sich etwa auf Rousseaus Confessions anwenden, nicht aber auf seine
Dialogues oder Reveries, die gleichwohl das in den Bekenntnissen in Angriff genom-
mene Projekt der Selbstanalyse konsequent fortsetzen. 29 Es gilt erst recht für vor-
und frühmoderne Selbstdarstellungen, die mit wenigen Ausnahmen ganz durch das
Raster einer solchen Definition fallen. Zu diesen seltenen Ausnahmen zählen die
augustinischen Confessiones, denen folglich in den gattungshistorischen Synthesen
ein Ehrenplatz zugewiesen wird. Freilich läßt sich nur der erste, narrative Teil des
Bekenntniswerks in das Zwangskorsett des modernen Gattungsbegriffs pressen; die
exegetischen Partien und die Gedächtnismeditation fallen aus diesem engen Rahmen
heraus und finden daher meist keine Berücksichtigung. Um derartige Verzerrungen
der Perspektive zu vermeiden, wird den folgenden Analysen ein offener, flexibler
Gattungsbegriff der literarischen Selbstdarstellung zugrunde gelegt, der der Tatsa-
che Rechnung trägt, daß die Verfasser autobiographischer Texte zu allen Zeiten auf
eine Vielzahl unterschiedlicher Darstellungsformen zurückgegriffen haben. 30 Nur
auf der Basis eines offenen Gattungsbegriffs ist es möglich, den Zusammenhang
zwischen Lektürepraktiken und autobiographischen Schreibverfahren zu erfassen
und für die Erstellung einer Problemgeschichte vormoderner Subjektivität fruchtbar
zu machen. Versucht man, die augustinischen Confessiones im historischen Kontext
der Lektüre- und der ihnen korrespondierenden Schreibtechniken zu situieren, so
wird sichtbar, daß sie keinen geistes- und gattungsgeschichtlichen Anfangspunkt

Geschichte der Selbstdarstellung, in der sie nicht zitiert wird. Sie erfährt auch durch Lejeunes
spätere Konzeption des autobiographischen Pakts keine Revision. Im Gegenteil, die Definition
aus L'autobiographie en France wird in Lepacte autobiographique mit fast identischem Wortlaut
wiederholt. Vgl. Ph. Lejeune: Le pacte autobiographique. Paris 1975. S. 14.
25 Vgl. jedoch den neuerdings von Jörg Dünne unternommenen Versuch, die Autobiographik
Rousseaus auf eine ältere Tradition asketischen Schreibens zurückzuführen: Asketisches
Schreiben. Rousseau und Flaubert als Paradigmen literarischer Selbstpraxis in der Moderne.
Tübingen 2003. — Die Arbeit von Dünne erschien nach der Fertigstellung der vorliegenden
Untersuchung und konnte daher leider nicht mehr angemessen berücksichtigt werden. Vgl.
aber meine Besprechung des Buches in der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunst-
wissenschaft 50/2 (2005). S. 287-296.
30 Ansätze zu einem flexibleren Gattungsverständnis finden sich bei Michel Beaujour, der der
autobiographischen Lebensgeschichte eine nicht-narrative Form der Selbstdarstellung, das
autoportrait, gegenüberstellt. Doch Beaujour vertritt die Auffassung, daß zwischen der narra-
tiven und der nicht-narrativen Selbstdarstellung ein fundamentaler Gegensatz besteht. Das
autoportrait, so behauptet er, ist eine ganz andere Textsorte, die anderen Gattungsgesetzen
unterliegt und der Darstellung einer anderen Form von Subjektivität verpflichtet ist: »un
autre genre - ou du moins un autre type de discours« (Miroirs d'encre. S. 8). Die Flexibilität,
die durch die Berücksichtigung nicht-narrativer Schreibtechniken gewonnen wurde, geht
auf diese Weise wieder verloren. Die rigide Unterscheidung zwischen narratio und autopor-
trait wird der autobiographischen Praxis nicht gerecht, in der narrative und nicht-narrative
Darstellungsformen häufig miteinander kombiniert werden. Die augustinischen Confessiones
bieten dafür ein anschauliches Beispiel.
12 Einleitung

markieren, sondern einen problemgeschichtlichen Wendepunkt: Augustinus macht


von bereits bestehenden Verfahrensweisen Gebrauch, unterzieht diese aber zugleich
auch einer Umgestaltung und etabliert auf diese Weise einen neuen Typus von
Selbstverhältnis.

2 . Applikation und Selbsttechnik

Zur Geschichte des Begriffs der Applikation

Das vormoderne Subjekt vergewissert sich der Wahrheit seiner selbst in der Ausei-
nandersetzung mit Texten; lesend und schreibend sucht es ihrer habhaft zu werden.
Es liegt somit nahe, den Vorgang der literarischen Selbstkonstitution auf das herme-
neutische Konzept der Applikation zu beziehen. Die Konstitution des Subjekts wäre
als eine Spielart der Applikation zu beschreiben, als Anwendung einer Textlektüre
auf die eigene Person, die das Selbst zugleich (neu) begründet. Der hermeneutische
Begriff der Applikation bezeichnet allgemein die »in jedem Verstehen enthaltenef]
Vermittlungsleistung, in der ein Textsinn auf eine aktuelle Situation bezogen/ange-
wendet wird.«31 Doch hier geht es nicht bloß darum, einen Text auf eine spezifische
Lebenssituation anzuwenden. Gemeint ist vielmehr eine Applikation, die das
Leben des Individuums in seiner Gesamtheit bestimmt, die seine Persönlichkeit
verändert und prägt. Der Leser macht von dem Text nicht bloß punktuell einen
praktischen Gebrauch, sondern er eignet ihn sich vollkommen an, er wird mit ihm
eins. Tatsächlich wird der Begriff Applikation häufig synonym mit dem Terminus
Aneignung verwendet. In diesem engeren, emphatischen Sinne kennzeichnet er »das
Sich-zu-eigen-Machen eines fremden Textsinns und seine Integration in die eigene
Lebenspraxis«.32
Heinrich Anz weist darauf hin, daß »eine durchgeführte Begriffsgeschichte« des
Terminus Applikation bislang noch nicht existiert.33 In Anlehnung an den histo-
rischen Abriß, den Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode präsentiert,
behauptet er, daß die durch den Begriff bezeichnete Sache zwar bereits in den mittel-
alterlichen Auslegungslehren angesprochen sei, daß aber erst die nachreformatorische
Hermeneutik des Pietismus sie in ihrer Bedeutung erkannt und ihr einen termino-
logischen Status verliehen habe, denn die Wahrnehmung der Applikation als eines

31 Heinrich Anz: Applikation. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubear-


beitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Klaus Weimar, Harald
Fricke, Klaus Grubenmüller und Jan-Dirk Müller. Berlin und New York 1997ff. Bd. 1.
S. 1 1 3 - 1 1 5 , hier: S. 113.
32 H . Anz: Aneignung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. S. 86f., hier:
S. 86.
33 H . Anz: Applikation. S. 115.
12 Einleitung

markieren, sondern einen problemgeschichtlichen Wendepunkt: Augustinus macht


von bereits bestehenden Verfahrensweisen Gebrauch, unterzieht diese aber zugleich
auch einer Umgestaltung und etabliert auf diese Weise einen neuen Typus von
Selbstverhältnis.

2 . Applikation und Selbsttechnik

Zur Geschichte des Begriffs der Applikation

Das vormoderne Subjekt vergewissert sich der Wahrheit seiner selbst in der Ausei-
nandersetzung mit Texten; lesend und schreibend sucht es ihrer habhaft zu werden.
Es liegt somit nahe, den Vorgang der literarischen Selbstkonstitution auf das herme-
neutische Konzept der Applikation zu beziehen. Die Konstitution des Subjekts wäre
als eine Spielart der Applikation zu beschreiben, als Anwendung einer Textlektüre
auf die eigene Person, die das Selbst zugleich (neu) begründet. Der hermeneutische
Begriff der Applikation bezeichnet allgemein die »in jedem Verstehen enthaltenef]
Vermittlungsleistung, in der ein Textsinn auf eine aktuelle Situation bezogen/ange-
wendet wird.«31 Doch hier geht es nicht bloß darum, einen Text auf eine spezifische
Lebenssituation anzuwenden. Gemeint ist vielmehr eine Applikation, die das
Leben des Individuums in seiner Gesamtheit bestimmt, die seine Persönlichkeit
verändert und prägt. Der Leser macht von dem Text nicht bloß punktuell einen
praktischen Gebrauch, sondern er eignet ihn sich vollkommen an, er wird mit ihm
eins. Tatsächlich wird der Begriff Applikation häufig synonym mit dem Terminus
Aneignung verwendet. In diesem engeren, emphatischen Sinne kennzeichnet er »das
Sich-zu-eigen-Machen eines fremden Textsinns und seine Integration in die eigene
Lebenspraxis«.32
Heinrich Anz weist darauf hin, daß »eine durchgeführte Begriffsgeschichte« des
Terminus Applikation bislang noch nicht existiert.33 In Anlehnung an den histo-
rischen Abriß, den Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode präsentiert,
behauptet er, daß die durch den Begriff bezeichnete Sache zwar bereits in den mittel-
alterlichen Auslegungslehren angesprochen sei, daß aber erst die nachreformatorische
Hermeneutik des Pietismus sie in ihrer Bedeutung erkannt und ihr einen termino-
logischen Status verliehen habe, denn die Wahrnehmung der Applikation als eines

31 Heinrich Anz: Applikation. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubear-


beitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Klaus Weimar, Harald
Fricke, Klaus Grubenmüller und Jan-Dirk Müller. Berlin und New York 1997ff. Bd. 1.
S. 1 1 3 - 1 1 5 , hier: S. 113.
32 H . Anz: Aneignung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. S. 86f., hier:
S. 86.
33 H . Anz: Applikation. S. 115.
Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution 13

eigenständigen Problembereichs setze »die Aufspaltung des einheitlichen Verstehens


in ein generelles Glaubenswissen und einen sich daran anschließenden Glaubens-
vollzug voraus.« 34 D i e pietistische Hermeneutik habe dieser Aufspaltung durch die
Ausdifferenzierung des Verstehens in die drei hermeneutischen Aufgabenstellungen
der subtilitas intelligendi, der subtilitas explicandi und der subtilitas applicandi Rech-
nung getragen. D i e Applikation ist demnach ein dezidiert neuzeitliches P h ä n o m e n
- die Anwendung des Textsinns gewinnt erst dann ein problematisches Ansehen,
wird also erst in dem M o m e n t z u m Gegenstand theoretischer Reflexion, in d e m
die mittelalterliche Einheit von Glaubenswissen und Glaubenspraxis zerfällt u n d
das Individuum gegenüber der Glaubensgemeinschaft, in der es bislang aufgehoben
war, an Eigenwert gewinnt.
Diese Sichtweise, die A n z mit seinem Gewährsmann G a d a m e r teilt, bedarf der
Korrektur. Z u m einen kann man leicht nachweisen, daß die Applikation nicht erst
im Pietismus terminologische Geltung erlangt hat. Z u m anderen - und dieser E i n -
wand wiegt sehr viel schwerer - trifft es nicht zu, daß die Aufspaltung der Einheit
von Glaubenswissen u n d Glaubensvollzug, von verstehender Einsicht u n d prak-
tischer Anwendung, ein Charakteristikum der Neuzeit ist. Dieser Einwand wiegt
deshalb so schwer, weil er das wirkungsgeschichtliche K o n z e p t der Applikation,
das Gadamer in Wahrheit und Methode entwickelt, in Frage stellt. D e r wirkungs-
geschichtliche u n d rezeptionsästhetische B e g r i f f der A p p l i k a t i o n - dies soll i m
folgenden dargelegt werden - ist nicht dazu geeignet, den Z u s a m m e n h a n g zwischen
Lektüre und literarischer Selbstkonstitution zu analysieren und in seiner historischen
Bedingtheit zu markieren.
D e r Begriff der Applikation spielt nicht erst im deutschen Pietismus des 18. Jahr-
hunderts, sondern bereits im englischen Nonkonformismus des 16. und 17. Jahr-
hunderts eine b e d e u t e n d e R o l l e . In den h o m i l e t i s c h e n u n d h e r m e n e u t i s c h e n
Traktaten, die von puritanischen Geistlichen in großer Zahl verfaßt wurden, dreht
sich alles u m die P r o b l e m a t i k der Applikation. E i n e der einflußreichsten dieser
Abhandlungen, W i l l i a m Perkins' The Arte of Prophecying, definiert den A k t der
Applikation wie folgt: » A p p l i c a t i o n is that, whereby the doctrine rightlie collected is
diverslly fitted according as place, time, and person doe require.« 3 5 Perkins widmet
diesem T h e m a zwei umfangreiche Kapitel seiner Abhandlung, in denen er die dem
Prediger zur Verfügung stehenden Techniken der Applikation aufzählt und einge-
hend erörtert. 3 6 W i e groß die Bedeutung ist, die er der Applikation zuweist, zeigt

34 Ebd. S. 114.
35 T h e Arte of Prophecying: or A Treatise concerning the sacred and onely true manner and
method of Preaching. First written in Latine by Master William Perkins: and now faithfully
translated into English (for that it containeth many worthy things fit for the knowledge of
men of all degrees) by Thomas Tuke. London 1607. S. 99.
36 Ebd. S. 9 9 - 1 2 2 (»Of the waies how to use and applie doctrine«), S. 1 2 2 - 1 2 9 (»Of the kinds
o f Application«).
14 Einleitung

sich noch einmal am Schluß des Traktats, wo er die Prinzipien der homiletischen
Kunst zusammenfaßt:
THE ORDER AND SUMME of the sacred and only methode of Preaching. 1. To read the Text
distinctly out of the Canonicall Scriptures. 2. To give the sense and understanding of it being read,
by the Scriptures it selfe, 3. To collect a few and profitable points of doctrine out of the naturall
sense. 4. Toapplie (ifhe have the gift) the doctrines rightly collected to the life and manners of men,
in a simple andplaine speech.17

D e m protestantischen sola scriptura-Vnnzvp gehorchend, beschränkt Perkins die


Aufgabe des Predigers auf die Auslegung der Heiligen Schrift. Der Prediger hat
zunächst den Literalsinn der Schrift zu erfassen (intellegere). Den Literalsinn soll er
sodann erklären (explicate), indem er ihn auf die Grundwahrheiten der christlichen
Glaubensdoktrin bezieht. Diese soll er schließlich auf die konkrete Lebenssituation
seiner Hörer anwenden (applicare). Perkins' homiletische Verstehenslehre stellt somit
ein Musterbeispiel für die Aufspaltung der Einheit von theoretischem Glaubenswis-
sen und praktischem Glaubensvollzug dar. Tatsächlich ist die rigide Unterscheidung
zwischen doctrine und use kennzeichnend für den puritanischen Umgang mit der
Bibel. 38 Dem puritanischen Leser geht es immer zunächst darum, sich ein intellektu-
elles Verständnis der Bibel zu erarbeiten, ehe dieses in einem zweiten Schritt auf die
praktische Lebensführung und auf das Selbst des Interpreten appliziert wird. Es wäre
jedoch falsch, daraus den Schluß zu ziehen, daß der Puritanismus - vielleicht gar
unter dem Einfluß des neuzeitlichen Rationalismus - eine rein intellektualistische
Bibelhermeneutik betrieben habe, deren Zweck allein die Herstellung einer kohä-
renten Doktrin gewesen sei. Das Gegenteil ist der Fall. Die Applikation ist bei den
Puritanern zwar zeitlich gesehen nur ein zweiter Schritt, der Wertigkeit nach aber
besitzt sie absolute Priorität. 39 Unablässig schärfen die nonkonformistischen Theo-
logen ihren Anhängern ein, daß es nicht genüge, sich intellektuelle Einsicht in die
Heilswahrheit (»notional knowledge«) zu verschaffen, sondern daß dieses abstrakte,
doktrinale Wissen verinnerlicht und in spirituelle Erfahrung (»spiritual knowledge«)
umgesetzt werden müsse, damit es seine Heilswirkung entfalten könne. 40 »[A]pply
these things to thine own hart,« so ermahnt etwa der walisische Bischof Lewis Bayly
den Bibelleser, »and reade not these Chapters, as matters o f Historicall discourse:
but as if they were so many Letters or Epistles sent downe from God out o f heaven
to thee«.·" Der Leser wird dazu aufgefordert, die Schrift als eine an ihn persönlich
adressierte Botschaft aufzufassen und sie sich auf diese Weise anzueignen. Doch die
puritanische Geistlichkeit begnügt sich nicht damit, solche Forderungen zu erheben.

37 Ebd. S. 148.
38 Vgl. William Haller: The Rise of Puritanism. New York 3 1957.S. 134.
39 Ebd. S. 135. Vgl. auch John R. Knott Jr.: The Sword of the Spirit. S. 46f.
40 Vgl. Owen C. Watkins: The Puritan Experience. London 1972. S. 97f.
41 Lewis Bayly: The Practice of Pietie Directing a Christian how to walke that he may please
God. London 111619. S. 245.
Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution 15

Sie gibt dem Leser zudem einen Apparat von Verfahrensweisen an die Hand, der es
ihm ermöglichen soll, sie zu erfüllen. Dazu gehören vor allem spezifische Techniken
der Meditation. »As digestion is the turning of the raw food into Chyle and Blood,
and Spirits and Flesh;« heißt es etwa in einer der populärsten puritanischen Anlei-
tungen zur individuellen Applikation der Schriftwahrheit, »so Meditation rightly
managed, turneth the Truths received and remembred, into warm affection, raised
resolution and upright conversation.«42 Wie sehr die puritanische Hermeneutik auch
darauf bedacht ist, sich von ihrer katholischen Gegenspielerin abzugrenzen: Dort, wo
es um die Applikation der Schrift geht, knüpft sie an das alte Lektüreverfahren der
meditatio an, das in der katholischen Kirche seit Jahrhunderten praktiziert wird.43 Die
puritanische Hermeneutik mag zwar den Begriff der Applikation geprägt haben, die
Techniken jedoch, die dieser Begriff bezeichnet, übernimmt sie mitsamt der daran
gekoppelten Bildlichkeit der Grammatophagie aus der alteuropäischen Tradition.
Der Begriff der meditatio verweist nicht auf die Einheit von Wissen und prakti-
schem Vollzug, die laut Gadamer für das vormoderne Zeitalter charakteristisch ist.
Er taucht vielmehr immer dann auf, wenn diese Einheit in Frage steht. Das gilt für
die puritanische Hermeneutik, wo die meditatio den Übergang von doctrine zu use
regelt. Das gilt aber bereits fur die antike Rhetorik, aus der das Konzept ursprünglich
herstammt:44 Die meditatio oder melete (gr. >Ubung<) soll zwischen dem rhetorischen
Kunstwissen (doctrina) und der rednerischen Praxis vermitteln.45 Das gilt schließlich
auch für die mittelalterliche Hermeneutik, in der die meditatio eine bedeutende Rolle
spielt. Mary Carruthers legt in ihrer Studie über die mittelalterlichen Lektüreprakti-
ken dar, daß die Autoren des 12. Jahrhunderts den Lektürevorgang in zwei deutlich
voneinander geschiedene Phasen aufzuteilen pflegen, in lectio und meditatio·.'''' Auf
der einen Seite steht die lectio, die ein grammatikalisch korrektes Verständnis des
Textes sicherzustellen hat.47 Im Zuge der lectio sollen auch die Tropen und Figuren

42
Richard Baxter: T h e Saints Everlasting Rest: Or, A Treatise of the Blessed State of the Saints
in their Enjoyment of G o d in Glory. L o n d o n l 2 1688. S. 654.
43
Z u r puritanischen Praxis der Meditation u n d ihrer Beziehung zu katholischen Meditati-
onstechniken vgl. Louis L. Martz: T h e Poetry of Meditation. Α Study in English Religious
Literature. N e w Haven 1954. S. 153—175; U. Milo K a u f m a n n : The Pilgrim's Progress and
Traditions in Puritan Meditation. N e w Haven and London 1966. S. 1 7 5 - 2 5 1 ; Barbara Kiefer
Lewalski: Protestant Poetics and the Seventeenth-Century Religious Lyric. Princeton 1979.
S. 1 4 7 - 1 7 8 .
44
Z u r Herleitung der philosophischen u n d religiösen meditatio aus der antiken Rhetorik vgl. P.
Rabbow: Seelenführung. M e t h o d i k der Exerzitien in der Antike. S. 87—89 und passim.
45
Die rhetorische melete u m f a ß t einen Kursus von Deklamations-, Lektüre- u n d S c h r e i b ü b u n -
gen, mit deren Hilfe der Adept der Redekunst sein theoretisches Wissen in eine praktische
Fertigkeit umwandeln soll. Diese Funktion der rhetorischen melete wird in Kapitel V. dieser
Untersuchung ausführlich dargestellt.
46
Vgl. etwa H u g o von Sankt Victor: D e m o d o dicendi et meditandi. In: Hugonis d e S. Victore
Canonici Regularis S. Victoris Parisiensis O p e r a O m n i a . Hg. von J.-P. Migne. Paris 1854 (Pa-
trologia Latina. Bd. 176). S. 878: »Duo sunt quae ingenium exercent, lectio et meditatio.«
47
Ebd.: »[L]ectio est per subjectam sensus investigatio.«
16 Einleitung

erkannt werden, von denen der Verfasser Gebrauch macht, das heißt: Sie soll nicht
nur den Wortsinn, sondern auch die allegorische Bedeutung des Textes erfassen.
Auf der anderen Seite steht die meditatio·. »meditatio is the stage at which reading
is memorized and changed into personal experience.«48 Die erste Phase der Lektüre
dient also der Entschlüsselung des Sinns. Durch die lectio verschafft sich der Leser
ein Wissen. In der zweiten, meditativen Phase eignet sich der Leser dieses Wissen
an: »>Littera< and >allegoria< (grammar and typological history) are the work of lectio
and are essentially informative about a text; tropology and anagogy are the activities
of digestive meditation and constitute the ethical activity of making one's reading
one's own.«49 Der Unterscheidung zwischen lectio und meditatio korrespondiert eine
Grenzziehung auf dem Felde des vierfachen Schriftsinns: Auf der einen Seite stehen
der sensus historicus und die Typologie, die dem Leser heilsgeschichtliche Kenntnisse
vermitteln; auf der anderen Seite stehen die Bedeutungsebenen der Tropologie
und der Anagogie, zu denen der Leser nur auf dem Wege der Meditation Zugang
gewinnen kann. Diese Grenzziehung findet nicht erst im 12. Jahrhundert statt.
Schon Gregor der Große faßt Tropologie und Anagogie zu einer Einheit zusammen
und stellt sie der literalen und typologischen Deutung gegenüber.50 Das spirituell-
meditative Lektüreverfahren, das die Heilslehre zur Wirkung bringen und die Per-
sönlichkeit des Lesers transformieren soll, wird somit von einem Lesen abgegrenzt,
das dem Interpreten die erforderlichen Heilskenntnisse vermittelt. Die puritanische
Unterscheidung zwischen doctrine und use ist in der mittelalterlichen Gegenüber-
stellung von lectio und meditatio, Typologie und Tropologie, scholastischem Studium
und monastischer lectio divina bereits vorgeprägt.51 Die Einheit von Glaubenswissen
und Glaubensvollzug ist somit auch im Mittelalter nicht einfach gegeben, sie muß
vielmehr allererst hergestellt werden, und zwar mittels spezifischer Applikationsver-
fahren. Die meditatio ist ein solches Applikationsverfahren, durch das der Leser das
Wissen, das er im Zuge der lectio gewinnt, verinnerlicht.

48
Mary Carruthers: The Book of Memory. Α Study of Memory in Medieval Culture. Cambridge
1990. S. 44.
49
Ebd. S. 165.
50
Henning Graf Reventlow: Epochen der Bibelauslegung. Bd. 2: Von der Spätantike bis zum
Ausgang des Mittelalters. München 1994. S. 111.
51
Zum Gegensatz zwischen scholastischen und monastischen Lektüreverfahren, der der Gegen-
überstellung von lectio und meditatio weitgehend entspricht, vgl. J. Leclercq: Wissenschaft und
Gottverlangen. S. 85: Ivan Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne
entstand. Ein Kommentar zu Hugos >Didascalion<. Aus dem Englischen von Ylva Eriksson-
Kuchenbuch. Frankfurt a. M. 1991. S. 84-96.
Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution 17

Gadamers Konzept der Applikation

Die These, daß die Applikation erst in der Neuzeit aus dem als Einheit begriffenen
Verstehensprozeß ausgegliedert und zu einem eigenständigen hermeneutischen Ver-
fahrensschritt verfestigt worden sei, ist also letztlich nicht haltbar. Diese These ist auf
Hans-Georg Gadamers grundlegende Studie Wahrheit und Methode (1960) zurück-
zuführen, in der der Versuch unternommen wird, die geisteswissenschaftliche Her-
meneutik auf der Basis des Applikationsbegriffs zu erneuern. Gadamer k o m m t das
Verdienst zu, die Kategorie der Applikation gegenüber dem Objektivitätsanspruch
der exakten Wissenschaften und des Historismus rehabilitiert zu haben. Er hat das
Bewußtsein dafür geschärft, daß Verstehen keine neutrale, distanzierte Einsicht in
einen für sich bestehenden Gegenstand darstellt. Vielmehr bestimmt das Verstehen
den Gegenstand mit, den es zu erfassen sucht, und zwar dadurch, daß es ihn in einer
historisch spezifischen Situation und aus einer bestimmten Interessenlage heraus
zur Anwendung und somit auch zu aktueller Wirkung bringt. Das Verstehen ist
folglich »kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten.«52
Bei seinem Versuch, den Begriff der Applikation aufzuwerten, geht Gadamer jedoch
von einer Grundvoraussetzung aus, die sich als problematisch erweist. Er postuliert
die unauflösliche Einheit von Verstehen und Anwendung. Die Applikation bildet
demnach einen integralen, unabdingbaren Bestandteil des hermeneutischen Gesche-
hens. Anwendung ist laut Gadamer kein eigenständiger Vorgang, der etwas bereits
Verstandenes nachträglich in Gebrauch nimmt und auf eine von diesem getrennte
Entität bezieht. Vielmehr gilt: »Verstehen ist [...] immer schon Anwenden.« 53 Weil
die Anwendung auf diese Weise fest in den wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang
eingegliedert ist, läßt sie sich nicht als Methode hypostasieren. Gadamer konstruiert
einen Gegensatz zwischen der wissenschaftlichen Erkenntnis, die >von außen< an
ihren Gegenstand herantritt, um sich seiner mittels methodischer Verfahren zu be-
mächtigen, und dem applikativen Verstehen, das mit seinem Gegenstand durch die
geschichtliche Kontinuität der Uberlieferung je schon verbunden ist. Seiner Ansicht
nach ist es ein Kennzeichen der in den exakten Wissenschaften gepflegten Methodik,
daß sie sich von dem Gegenstand ablöst, den sie zu erfassen sucht. Sie wird dadurch
einer Formalisierung zugänglich und verselbständigt sich zu einem Apparat lehrbarer
und gezielt einsetzbarer Verfahrenstechniken. Die hermeneutische Anwendung kann
dagegen nicht als Verfahrensform von den jeweiligen Inhalten getrennt werden, die
sie dem Verständnis erschließt. Die Applikation - dies ist ein Grundprinzip der
Gadamerschen Hermeneutik — ist keine Methode.
Aus dieser Entgegensetzung von Applikation und Methode ergeben sich zwei
Konsequenzen. Zum einen weist Gadamer dem vor-cartesianischen, vor-modernen

52
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Herme-
neutik. 6. Aufl. In: ders: Gesammelte Werke. Bd. 1. Tübingen 1990. S. 301.
53
Ebd. S. 314.
18 Einleitung

Umgang mit Texten eine Modellfunktion zu. Er konstruiert das Idealbild einer Zeit,
in der Verstehen und Anwendung noch eins waren, und stellt ihr das Schreckbild des
modernen Wissenschaftlers gegenüber, der sein Erkenntnisobjekt mit methodischen
Mitteln zu überwältigen sucht, anstatt mit ihm in einen hermeneutischen Dialog
zu treten. Z u m anderen gewinnt die Applikation ein überpersönliches Ansehen.
Sie ist keine Verfahrensweise, die das individuelle Subjekt erlernen und anwenden
kann. Folglich entzieht sie sich seiner Kontrolle; sie ist eher ein Geschehen, an dem
er partizipiert, als eine Tätigkeit, die er bewußt ausübt. Diese beiden Aspekte des
Gadamerschen ApplikationsbegrifFs werden im zentralen Kapitel von Wahrheit und
Methode, das der »Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems« gewid-
met ist, zusammengeführt. Denn um die Einheit von Verstehen und Anwendung
zu veranschaulichen, rekurriert Gadamer auf ein antikes Muster. Er wendet sich der
Nikomachischen Ethik des Aristoteles zu, um ihr ein »Modell der in der hermeneutischen
Aufgabe gelegenen Probleme« zu entnehmen. 5 4 Laut Gadamer etabliert Aristoteles
einen Gegensatz zwischen dem sittlichen und dem theoretischen Wissen (episteme),
das szientifischen Ansprüchen genügen soll. Das »sittliche Wissen« - so übersetzt
Gadamer den aristotelischen Begriff der phronesis, der gewöhnlich mit >Klugheit<
wiedergegeben wird - unterscheidet sich von der theoretischen Wissenschaft durch
seinen unmittelbaren Praxisbezug. Es reguliert das menschliche Handeln. Den Praxis-
bezug hat die phronesis jedoch mit einer anderen Form von Wissen gemein - nämlich
mit dem Kunstwissen (techne), dem technischen Sachverstand des Künstlers oder
Handwerkers, der ein ergon, ein künstlerisches Werkstück, produziert. Die technische
Hervorbringung wird wie die sittliche Handlung durch ein vorgängiges Wissen ange-
leitet. Es stellt sich somit die Frage, ob die praktische Umsetzung ethischen Wissens
- die Anwendung des moralischen Codes - in Analogie zur technischen Herstellung
verstanden werden kann. Ist die phronesis eine Art sittlichen Kunstwissens? Stellt die
Applikation des moralischen Codes ein technisches Verfahren dar? Die Gleichsetzung
von phronesis und techne hätte weitreichende Konsequenzen. Denn als technisches
Wissen wäre die sittliche Einsicht »ein Wissen darüber, wie man sich selbst herzu-
stellen hat.«55 Sie wäre - um einen BegrifF von Michel Foucault aufzugreifen - eine
Selbsttechnologie. 56 Die Anwendung dieses Wissens m ü ß t e als eine Applikation
beschrieben werden, die für das Selbst konstitutiv wäre. Doch Gadamer evoziert
das Schreckgespenst einer technomorphen Selbstformung nur, damit er sich um so
deutlicher davon absetzen kann. Seiner Ansicht nach ist die aristotelische phronesis
mit der techne unvereinbar. Sie markiert das Gegenteil eines Herstellungswissens, ja,
sie stellt die Möglichkeit autonomer Selbstgestaltung radikal in Frage:

54
Ebd. S. 329 (Hervorhebung im Original).
55
Ebd. S. 320.
56
Das Konzept der Selbsttechnologie entwickelt Foucault in seinen späten Schriften zur antiken
Lebenskunst. Vgl. M. Foucault: L'usage des plaisirs. Paris 1984; ders.: Le souci de soi. Paris
1984.
Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution 19

Man lernt eine Techne - und kann sie auch verlernen. Man lernt aber nicht das sittliche
Wissen und kann es auch nicht verlernen. Man steht ihm nicht in der Weise gegenüber, daß
man es sich aneignen kann oder auch nicht, so wie man ein sachliches Können, eine Techne,
wählen kann oder nicht. Man ist vielmehr immer schon in der Situation dessen, der handeln
soll [...], m u ß also immer schon das sittliche Wissen besitzen und anwenden. Eben deshalb ist
der Begriff der Anwendung in hohem Grade problematisch. Denn anwenden kann man nur
etwas, was man schon vordem ftir sich besitzt. Das sittliche Wissen aber besitzt man nicht so
für sich, daß man es schon hat und dann auf die konkreten Situationen anwendet. 57

Laut Gadamer hat das aristotelische Moralsubjekt das sittliche Wissen weder erlernt
noch auf irgendeine andere Weise erworben. Vielmehr ist es ihm »immer schon« zu
eigen, ohne daß es darüber wie über einen dinglichen Besitz verfügen könnte. Das
sittliche Wissen scheint also eine ganz besondere Form zu haben. Es ist untrennbar
mit dem Sein des Wissenden verbunden. Es läßt sich nicht objektivieren — etwa in
Gestalt eines Moralgesetzes, das detaillierte Vorschriften enthält. Die aristotelische
Ethik, so argumentiert Gadamer, ist keine Gesetzesethik. Der moralische Code
existiert nicht unabhängig von seiner Anwendung — das Wissen ist von seiner Ap-
plikation nicht zu trennen.
Um so dringlicher stellt sich allerdings die Frage, wie das Individuum zu einem
solchen Wissenden werden kann. Denn der Mensch kommt ja nicht als ein Wis-
sender, als ein fertiges Moralsubjekt zur Welt. Gadamer weicht dieser Frage aus. Er
begnügt sich damit, auf den Geltungsanspruch der Tradition zu verweisen, der die
Existenz des sittlichen Wissens erklären soll. Bei Aristoteles, so argumentiert er, steht
das ethische Subjekt »immer schon in einer sittlich-politischen Bindung« und ge-
winnt »von da aus sein Bild der Sache«.58 Dem »Immer schon< des sittlichen Wissens
korreliert somit das »Immer schon« der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemein-
schaft und ihrer kulturellen Überlieferung. Ethisches Wissen muß demnach nicht
erst erworben werden. Vielmehr ist das, was die Uberlieferung sagt, »immer schon
ein Eigenes«.59 Das Individuum konstituiert sich nicht dadurch als Moralsubjekt,
daß es sich die kulturellen und moralischen Werte aneignet, sondern es ist sich selbst
je schon vorgegeben, und zwar in Gestalt der Tradition, die ihm seinen Platz anweist.
Gadamer erweckt somit den Eindruck, als garantiere die bloße Zugehörigkeit zu
einer politisch-sozialen Gemeinschaft bereits den Besitz des kulturellen Wissens,
das in dieser Gemeinschaft gültig ist. Er setzt das, was Applikation eigentlich erst
vollbringen soll, als »immer schon« geleistet voraus: die Verinnerlichung der Werte,
die das Leben einer Gemeinschaft bestimmen. Anders als Aristoteles selbst, der sich
intensiv mit dieser Frage beschäftigt, unterschlägt Gadamer den langwierigen und
komplizierten Prozeß der Sozialisation, an dem eine Vielzahl von Institutionen und
Instanzen beteiligt ist. Dadurch aber, daß die Sozialisation des ethischen Subjekts
als unproblematisch abgetan wird, gewinnt sie paradoxerweise das Ansehen eines

57
H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. S. 322f.
58
Ebd. S. 325.
55
Ebd. S. 286.
20 Einleitung

Naturvorgangs. 60 Der Gegensatz zwischen öffentlicher und privater Erziehung,


die Frage nach den geeigneten Erziehungsmitteln, der Zusammenhang zwischen
Gesetzgebung und moralischer Bildung: diese und viele andere Aspekte der Sozi-
alisation, die von Aristoteles ausführlich diskutiert werden,61 finden bei Gadamer
keine Erwähnung. Er erzeugt vielmehr den Anschein, als wachse das Individuum
von selbst in die kulturelle Ordnung hinein, der es angehören soll, als teile sich das
sittliche Wissen von selbst mit - ganz ohne die Beihilfe vermittelnder Instanzen. Das
ethische Wissen scheint in einem leeren Raum zu schweben, unbelastet von der Ma-
terialität eines Mediums, unbehindert von den Zwängen einer diskursiven Ordnung,
unbeeinträchtigt schließlich sogar von den Individuen, die als Träger dieses Wissens
fungieren und durch ihr moralisches Handeln für seinen Fortbestand sorgen. Bei
Gadamer tritt am Ende nicht das Individuum, das die ethischen Werte appliziert,
sondern die Überlieferung selbst als das handelnde Subjekt in Erscheinung. Die all-
mächtige Tradition überliefert sich selbst; sie bringt sich auch selbst zur Anwendung:
»Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken,
sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und
Gegenwart beständig vermitteln.«62 Überlieferung geschieht, ob die Individuen, die
an ihr teilhaben, dies nun wollen oder nicht.
Das sittliche Wissen aristotelischer Prägung gilt Gadamer als das Paradigma einer
selbstmächtigen und selbsttätigen Tradition. Das überlieferte Wissen und die Texte,
die es transportieren, haben von sich aus die Kraft, die Individuen anzusprechen und
sie zur Applikation zu nötigen. »Das erste, womit das Verstehen beginnt, ist [...],
daß etwas uns anspricht.«63 Die Initiative geht somit von der Überlieferung aus.
Sie erhebt einen »Applikationsanspruch«, dem das Individuum zu »entsprechen«
hat.64 Die Überlieferung verlangt, daß sie angewendet wird. Der individuelle Leser
hat diesem Verlangen Folge zu leisten - er »ordnet sich selbst dem beherrschenden
Anspruch des Textes unter.«65 Applikation ist nicht, wie Gadamer zunächst zu
suggerieren schien, eine produktive, schöpferische Tätigkeit, sondern ein Akt der

60 Der Versuch, den Sozialisationsprozeß zu naturalisieren, ist ein Kennzeichen des neuhumani-
stischen Bildungskonzepts, dem sich Gadamer zu Beginn von Wahrheit und Methode verschreibt
(ebd. S. 15—24). Bildung zielt darauf ab, den scharfen Einschnitt der Kulturisation, der durch
Rituale der Initiation markiert wird, in einen gleitenden Ubergang zu transformieren. Vgl.
dazu Friedrich Kittler: Zur Sozialisation Wilhelm Meisters. In: Dichtung als Sozialisationsspiel.
Studien zu Goethe und Gottfried Keller. Hg. von Friedrich Kittler und Gerhard Kaiser. Göt-
tingen 1978. S. 13-178; Christian Moser: Initiation und Erinnerungsbild: Zur literarischen
Konstitution des Subjekts um 1800 (Rousseau, Goethe, Wordsworth). In: Bildersturm und
Bilderflut um 1800. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne. Hg. von Helmut J.
Schneider, Ralf Simon und Thomas Wirtz. Bielefeld 2001. S. 249-267.
" Und zwar im 2. und 10. Buch der Nikomachischen Ethik sowie im 7. und 8. Buch der Poli-
tik.
62 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. S. 295 (Hervorhebung im Original).
63 Ebd. S. 304.
64 Ebd. S. 316, S. 345.
65 Ebd. S. 316.
Lektürepraktiken und literarische Seibitkonstitution 21

Unterwerfung, ein Dienst an der Tradition. Die Tradition agiert, das verstehende
Individuum reagiert. Fragwürdig daran ist nicht bloß die Tatsache, daß Gadamer
den Inhalten der Uberlieferung eine zeitlose normative Geltung unterstellt. In diese
Richtung zielt die Kritik, die von Seiten der literaturwissenschaftlichen Rezepti-
onsästhetik artikuliert wird. 66 Fragwürdig ist vor allem die Vorstellung, daß die
Tradition eine solche Geltung aus sich selbst heraus besitzt, daß sie, ohne an be-
stimmte Institutionen, Medien oder Verfahrensweisen gebunden zu sein, die Macht
hat, das Verhalten der Individuen zu regulieren und ihre Persönlichkeit zu formen.
Diese Vorstellung steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der - von der
Rezeptionsästhetik geteilten — Grundannahme, daß das Verstehen und die Appli-
kation eine Einheit bilden. 67 Auf Aristoteles kann sich Gadamer allerdings nicht
berufen, um die Vorstellung der selbstmächtigen Überlieferung zu rechtfertigen.
Der Rückgriff auf die Nikomachische Ethik erweist sich bei näherer Betrachtung als
ein Mißgriff. Denn Aristoteles beschäftigt sich ausdrücklich mit der Frage, wie man
dem sittlichen Wissen die Kraft verleihen kann, die benötigt wird, um den Charakter
der Individuen zu bilden. Dabei gelangt er zu dem Ergebnis, daß es am günstigsten
wäre, die moralische Erziehung durch eine staatliche Gesetzgebung zu regeln, denn
nur in Gesetzesform besitzen die moralischen Werte eine Autorität, die die Indivi-
duen zum Gehorsam zu zwingen vermag.68 Laut Aristoteles ist es erforderlich, sich
des staatlichen Machtapparats zu bedienen, um den sittlichen Werten zur Geltung
zu verhelfen. Das wiederum impliziert die Notwendigkeit, das ungegenständliche
Traditionswissen in eine gegenständliche, lehrbare Form zu bringen, wie sie etwa
das Gesetzbuch darstellt. Aristoteles trägt somit der Tatsache Rechnung, daß die
Überlieferung nicht durch sich selbst bestehen kann. 69 Sie verfügt nicht je schon
über die Macht, das moralische Sein der ihr zugehörigen Individuen zu bestimmen,
sondern sie muß mit dieser Macht allererst ausgestattet werden.
Was für die Tradition im ganzen gilt, das gilt auch für die einzelnen Texte, die
das sittliche Wissen überliefern. Sie besitzen nicht von sich aus das Vermögen, Leser

66
Vgl. etwa Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1970.
S. 185-189.
67
Nicht die rezeptionsästhetisch ausgerichtete Literaturwissenschaft, sondern die ethnologisch
inspirierte Kulturwissenschaft hat den problematischen Charakter dieser Einheit erkannt. Der
ethnologisch geschulte Kulturhistoriker entwickelt einen Sinn für die Alterität der eigenen
geschichtlichen Überlieferung. Er macht das befremdlich Andere des Überlieferten sichtbar,
das kein wirkungsgeschichtlicher Zusammenhang zu umgreifen vermag. Vgl. dazu Hans
Medick: »Missionare im Ruderboot?« Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an
die Sozialgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984). S. 295-319, hier: S. 304f.
68
Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Begründet von Ernst Grumach, hg. von Helmut
Flashar. Bd. 6: Nikomachische Ethik. Übersetzt von Franz Dirlmeiet. Berlin 9 1991. 1180a.
69
Vgl. A. und J. Assmann: Kanon und Zensur. S. 11: »Erst wenn wir uns freimachen vom
Gedanken an selbsttätige Stabilisatoren der Überlieferung wird das Moment der >unwahr-
scheinlichen< Zeitresistenz als Ergebnis einer bewußten und mühevollen Anstrengung sichtbar.
Permanenz stellt sich nicht von selbst her, aber es gibt gesellschaftliche Institutionen, die mit
ihrer Herstellung befaßt sind.«
22 Einleitung

anzusprechen und zur Applikation zu nötigen. Diese appellative Kraft m u ß ihnen


vielmehr mittels spezieller Verfahrensweisen verliehen werden. Dazu gehören zum
einen Lektüre- u n d Aneignungstechniken (Formen der Meditation, Reflexions-
u n d Gedächtnisübungen); dazu gehören aber auch bestimmte textimmanente
Darstellungsstrategien (rhetorische und formale Applikationshilfen, Techniken der
exemplarischen Veranschaulichung, Formen der Adressierung), die den Leser dazu
animieren, den Abstand zwischen Theorie und Praxis, zwischen Text und Leben
zu überbrücken. Gadamer dementiert die Existenz eines solchen Abstands. Seiner
Auffassung nach steht das Individuum kraft seiner Zugehörigkeit zur Überlieferung
immer schon in einer direkten Beziehung zu den Texten, die es auf sich selbst an-
wendet. Dasjenige, was die Applikation eigentlich erst leisten soll, die Vermittlung
von Text und Leser, wird somit schlichtweg vorausgesetzt. Doch nur dort, wo die
zwischen Leser und Text bestehende Kluft nicht durch das Konstrukt einer sich
selbst vermittelnden Uberlieferung überspielt wird, ist es überhaupt sinnvoll, von
einem Applikationsvorgang zu reden. Eine solche Kluft ist nicht erst für die Moder-
ne, sondern auch für die Frühe Neuzeit, ja bereits für die Antike zu veranschlagen.
Günther Bien zeigt auf, daß schon Piaton und Aristoteles darauf reflektieren, wie
dem Auseinandertreten von theoretischem Diskurs und sittlich-politischer Praxis
beizukommen ist.70 Wo Theorie und Praxis auseinandertreten, da wird Applikation
zu einem Problem. Mit der Anerkennung der Kluft zwischen Theorie und Praxis und
der dadurch bedingten Äußerlichkeit der Applikation gegenüber ihrem Gegenstand
wird aber auch die prinzipielle Entgegensetzung von Anwendung und Methode
hinfällig. Der wirkungsgeschichtlichen Hermeneutik dient dieser Gegensatz dazu,
das Verstehen als reinen Bewußtseinsvorgang von seinen materiellen, gesellschaft-
lichen und medialen Voraussetzungen abzukoppeln. Das gilt auch — und trotz aller
Bemühungen, sich von der Gadamerschen Verabsolutierung der Uberlieferung
abzusetzen — für die rezeptionsästhetische Revision wirkungsgeschichtlicher Herme-
neutik. Die wirkungsgeschichtliche Hermeneutik erfaßt die historische Variabilität
der Deutungen, nicht aber diejenige der Deutungs- und Aneignungsverfahren. Eben
diesen Verfahrenscharakter der Applikation gilt es jedoch, ins Blickfeld zu rücken.
Sie soll in der vorliegenden Untersuchung nicht als mentaler Prozeß, sondern als
ein Ensemble von Techniken und Methoden beschrieben werden, die an spezifische
kulturelle Praktiken und diskursive Einrichtungen gebunden sind.

Applikation als Selbsttechnik?

Die Applikation ist kein integraler Bestandteil eines durch die Überlieferung gesteu-
erten Verstehensprozesses, sondern ein eigenständiges Verfahren, mit dessen Hilfe das

70
Günther Bien: Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Piaton und
Aristoteles. In: Philosophisches Jahrbuch 76 (1968/69). S. 2 6 4 - 3 1 5 .
Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution 23

I n d i v i d u u m einen Text auf seine Lebenspraxis a n w e n d e n u n d zur W i r k u n g b r i n g e n


k a n n . Sie ist kein unpersönliches Geschehen, das schicksalhaft über das I n d i v i d u u m
hereinbricht, sondern ein b e w u ß t vollzogener Akt, d u r c h d e n es v e r ä n d e r n d auf sich
selbst einzuwirken versucht. Die Analogie zwischen pbronesis u n d techne, die G a d a -
m e r nur evoziert, u m sie gleich wieder in Bausch u n d Bogen zu verwerfen, ist also
nicht aus der L u f t gegriffen. Es bietet sich vielmehr geradezu an, die Applikation als
ein I n s t r u m e n t der ethischen Selbstformung u n d als Bestandteil einer Technologie
des Selbst zu beschreiben. Die Applikation ist eine Selbsttechnik. Michel Foucault,
der den Begriff der Selbsttechnologie geprägt hat, versteht d a r u n t e r
[a set of practices] which permit individuals to effect by their own means or with the help
of others a certain number of operations on their own bodies and souls, thoughts, conduct,
and way of being, so as to transform themselves in order to attain a certain state of happiness,
purity, wisdom, perfection, or immortality. 71

Die Lektüre scheint bis in die Neuzeit hinein im R a h m e n dieses Ensembles eine be-
sonders wichtige Rolle zu spielen. D u r c h Lektüre g e w i n n t das I n d i v i d u u m Einsicht
in die Wahrheit seiner selbst; m i t Hilfe b e s t i m m t e r Applikationsverfahren sorgt es
d a n n dafür, d a ß es diese Wahrheit nicht bloß versteht, sondern auch danach lebt. Es
verinnerlicht das Begriffene u n d erhebt es z u m Prinzip seines H a n d e l n s . Erstaunli-
cherweise schließt Foucault aber ausgerechnet diese so d o m i n i e r e n d erscheinende
Form der ethischen Selbstbearbeitung von der technique de soi aus. Er konstruiert
nämlich einen Gegensatz zwischen Selbsttechnik u n d Selbsterkenntnis. Seiner A n -
sicht nach ist die Selbsttechnik - z u m i n d e s t in ihrer ursprünglichen F o r m , wie sie in
der klassischen Antike z u m Vorschein k o m m t — kein I n s t r u m e n t der Selbsterkennt-
nis. Sie hat nicht die Aufgabe, zwischen d e m I n d i v i d u u m u n d der W a h r h e i t seiner
selbst zu vermitteln. Vielmehr ist sie eine reine, v o m Wahrheitsdiskurs weitgehend
abgekoppelte Praxis, die im D i e n s t e einer »esthetique d e l'existence« steht. M i t
ihrer Hilfe soll das I n d i v i d u u m seinem Leben — wie e i n e m Kunstwerk — eine F o r m
verleihen, die ästhetischen A n s p r ü c h e n genügt. 7 2 A n d e r s als G a d a m e r geht Foucault
davon aus, d a ß zwischen T h e o r i e u n d Praxis eine Kluft besteht. D o c h er weist der
Selbsttechnik eben nicht die F u n k t i o n zu, diese Kluft zu ü b e r w i n d e n . Laut Foucault
eröffnet der A b s t a n d zur Wahrheit d e m I n d i v i d u u m vielmehr einen Spielraum, d e n
es für die künstlerische Selbstgestaltung zu nutzen gilt. Zwar bedarf der Künstler der
Existenz wie jeder technites der A n l e i t u n g d u r c h ein Wissen: Stünde er in gar keiner
Beziehung zur Wahrheit, d a n n wäre sein Werk ein formloses Zufallsprodukt. Aber
er eignet sich die Wahrheit nicht an oder unterwirft sich ihr gar, sondern er bleibt
auf Distanz, u m sich ihrer als eines unverbindlichen O r i e n t i e r u n g s p u n k t s zu bedie-

71
Michel Foucault: Technologies of the Self. In: Technologies of the Self. A Seminar with Michel
Foucault. Edited by Luther H. Martin, Huck Gutman and Patrick H . Hutton. Amherst 1988.
S. 16-49, hier: S. 18.
72
M. Foucault: L'usage des plaisirs. S. 16f.
24 Einleitung

nen. Es geht dem Künstler des Selbst nicht darum, mit der Wahrheit vertraut zu
werden. Im Gegenteil, sie interessiert ihn nur, insofern sie ihm fremd und äußerlich
bleibt. Seine Wißbegierde ist nicht eine solche, die die Wahrheit vereinnahmt oder
sich durch sie vereinnahmen läßt: »non pas celle qui cherche a s'assimiler ce qu'il
convient de connaitre, mais celle qui permet de se deprendre de soi-meme.« 73 Erst
im Späthellenismus und in der römischen Kaiserzeit, so argumentiert Foucault, wird
die Selbsttechnik zu einem Instrument umgestaltet, das der Selbsterkenntnis und
der Aneignung der Wahrheit dient. Das Christentum verwandelt die Selbsttechnik
dann vollends in eine hermeneutique du sujet, die das Individuum auf die Wahrheit
seiner selbst verpflichtet.
Wo Gadamer die Existenz einer übermächtigen, selbsttätigen Uberlieferung po-
stuliert, da verfällt Foucault in das andere Extrem. Er behauptet die relative Macht-
losigkeit der antiken Wahrheitsdiskurse, die dem Individuum eine weitgehende
Freiheit der Selbstgestaltung garantiert. Während Gadamer dem sittlichen Wissen
einen »Applikationsanspruch« zuerkennt und somit die Vermittlung zwischen dem
Subjekt und der Wahrheit als je schon vollbracht voraussetzt, beharrt Foucault
darauf, daß die Wahrheit dem Individuum fremd und äußerlich ist. Doch sieht
er in der Kluft, die sich zwischen Theorie und Praxis, zwischen der Wahrheit und
dem Subjekt auftut, kein Problem, das nach Lösungen verlangt — etwa in Gestalt
bestimmter diskursiver Mechanismen, die dem Wissen die ihm fehlende Autorität
verleihen. Vielmehr deutet er sie positiv als Ermöglichungsgrund einer Praxis der
Lebenskunst. Beide, Gadamer und Foucault, stilisieren die Antike zu einem golde-
nen Zeitalter: Für den einen stellt sie das Muster einer lebendigen Tradition dar, in
der die Anwendung sich noch nicht als Methode vom Verstehensprozeß abgelöst
hat; für den anderen ist sie das Beispiel einer Kultur, die nicht vom Willen zur
Wahrheit beherrscht wird. Wie Gadamer auf der einen Seite die Macht der Traditi-
on überschätzt und die Applikation somit zu einem bloßen Epiphänomen der sich
selbst vermittelnden Wahrheit degradiert, so neigt Foucault auf der anderen Seite
dazu, die schöpferische Freiheit zu übertreiben, die dem Individuum als Gestalter
seiner selbst zur Verfügung steht. Beide übersehen die eigentliche Aufgabe der Ap-
plikation, die darin besteht, die Wahrheit im Subjekt zur Wirkung zu bringen. Die
Wahrheit verfügt von sich aus nicht über die Kraft, das Verhalten der Individuen
zu steuern. Es bedarf daher bestimmter Institutionen und Verfahrensweisen, die ihr
diese Kraft verleihen. Dazu gehören nicht zuletzt die Techniken der Applikation.
Foucaults Ansatz erlaubt es zwar, die Lektüre- und Schreibtätigkeit des Individuums
als Bestandteil einer Technologie des Selbst zu analysieren. Doch wo Gadamer den
Applikationsvorgang in unzulässiger Weise ihres Verfahrenscharakters entkleidet, da
wird er von Foucault allzu voreilig ästhetisiert. Der wirkungsgeschichtliche Ansatz

73
Ebd. S. 14. — Mit dieser Aussage beschreibt Foucault seine eigene Erkenntnispraxis, die er
aber explizit in Analogie zur antiken Selbsttechnologie stellt (ebd. S. 15).
Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution 25

ist wenig geeignet, die Applikation als konkretes Verfahren autobiographischer


Selbst- und Textkonstitution zu analysieren. Foucaults Konzept der pratique de soi
erfaßt zwar den verfahrenstechnischen Aspekt, verliert aber den Wahrheitsbezug
der Selbsttechnik aus den Augen. Es gilt daher, die Kategorie der Selbsttechnik mit
der Problematik der Selbsterkenntnis zu verknüpfen. Das erfordert eine gründliche
Auseinandersetzung mit dem Spätwerk Foucaults und mit seiner Deutung der anti-
ken Ethik, die er zum Paradigma der Selbsttechnologie erhebt. Auch in der antiken
Ethik, soviel läßt sich im Vorgriff auf diese Auseinandersetzung bereits sagen, stehen
die Selbsttechniken im Dienst der Wahrheitsdiskurse. Nicht nur das christliche, auch
das antike Selbst unterliegt einem Regime der Wahrheit, wenngleich diese Wahrheit
anders beschaffen ist, ihr Regime sich folglich anderer Mittel bedient und andere
Effekte hervorruft als ihr christlicher Abkömmling. Die Applikation läßt sich als
historisch variables Ensemble von Lektüre- und Schreibverfahren bestimmen, mit-
tels derer das Individuum sich eine Identität konstruiert. Diese ist jedoch stets auf
vorgegebene Wahrheitsdiskurse bezogen.

Antike Schau vs. christliche Lektüre?


Foucaults Entgegensetzung von Selbsttechnik und Selbsterkenntnis impliziert eine
scharfe historische Grenzziehung. Er unterscheidet zwischen dem antiken Subjekt,
das sein Selbst wie ein Kunstwerk herstellt, und dem christlichen Subjekt, das sein
Selbst wie ein Buch liest - das seine Seelenregungen entziffert, um der verborgenen
Wahrheit seines Seins auf die Spur zu kommen. Brian Stock setzt eine vergleichbare
geschichtliche Zäsur. Er sieht in Augustinus den Begründer einer neuen Form von
Subjektivität, die auf der Analogie von Selbsterkenntnis und Lektüre beruht: »The
reading of a book and the understanding of the self became analogous intentional
activities.«74 Diese Sichtweise scheint durch Hans Blumenbergs Studien zur Me-
tapher des Buches bestätigt zu werden. Blumenberg argumentiert, daß die meta-
phorische Gleichsetzung der Welt mit dem Buch eine genuin christliche Erfindung
darstellt. Die epistemologische Leitmetapher der Antike sei diejenige der visuellen
Schau. Für das Christentum dagegen gelte, »daß die Natur erfaßbar wird für die
Metaphorik des Buches, indem sie nicht durch Anschauung, sondern durch Denken
verstanden, nämlich >gelesen< werden kann.«75 Das antike Erkenntnissubjekt schaut
die sich ihm darbietende kosmische Ordnung; das christliche Subjekt liest im Buch
der Welt.76 Was für das Weltverhältnis gilt, das scheint sich auf das Selbstverhältnis
übertragen zu lassen: Das antike Subjekt verhält sich auch sich selbst gegenüber als

74 B. Stock: Reading, Writing, and the Self. S. 844. Vgl. auch das Kapitel »Reading and Self-
Knowledge« in: ders.: After Augustine. The Meditative Reader and the Text. Philadelphia
2001. S. 8 - 2 3 .
75 H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. S. 48.
76 Ebd. S. 22f.
26 Einleitung

ein Schauender. Wie der platonische Demiurg, der die Welt nach dem Urbild der
Ideenordnung schafft, gestaltet das antike Moralsubjekt sein Selbst und sein Leben
nach einem ideellen Muster, in das es durch theoretische Betrachtung Einsicht ge-
winnt. Im Gegensatz dazu wird dem christlichen Subjekt die Wahrheit seiner selbst
nicht unmittelbar durch geistige Schau zuteil, vielmehr muß es sie auf dem Wege
einer mühsamen Entzifferung opaker Zeichen aus ihrer Verborgenheit hervorholen.
Die Selbstkonstitution durch Lektüre scheint demzufolge ein spezifisch christliches
Phänomen zu sein. Eine problemgeschichtliche Studie, die den Zusammenhang
zwischen Lesen, Schreiben und Selbstkonstitution zu ergründen sucht, brauchte
sich um die antike Problematik des Selbst nicht zu kümmern. Sie fände erst in der
christlichen Praxis der Seelenanalyse — in den Confessiones des Kirchenvaters Augus-
tinus etwa - einen geeigneten Untersuchungsgegenstand.
Der Kontrast zwischen antiker Selbstschau und christlicher Selbstlektüre besitzt
eine verführerische Suggestivität, ist jedoch nicht unproblematisch. Daß der histori-
sche Bruch zwischen den antiken und den christlichen Formen der Selbstbeziehung
sich nicht ohne weiteres auf die einfache Formel Sehen vs. Lesen reduzieren läßt,
bezeugt schon das augustinische Bild vom Buch als speculum animi. Bezeichnender-
weise schließt Blumenberg dieses Bild aus seiner metaphorologischen Untersuchung
aus, und zwar mit der Begründung, daß der »Piatonismus von Bild und Spiegel [...]
der Metaphorik des Buches ihre spezifische Besonderheit« nehme. 77 Blumenberg tut
die Gleichsetzung von Buch und Spiegel als einen antiken Restbestand ab, der den
eigentlichen Aussagegehalt der Buchmetapher verdunkele. Doch diese Mißachtung
wird dem hohen Stellenwert nicht gerecht, den das augustinische Bild bis in die
Neuzeit hinein besitzt.78 Das Bild des Spiegels ist kein funktionsloses Rudiment,
das die kulturelle Uberlieferung als überflüssige Last mit sich schleppt, es markiert,
wie Ralf Konersmann darlegt, gerade auch in der Neuzeit eine Grundmetapher der
Subjektivität. 79 Augustins Bild verweist somit auf die Kontinuitäten, die über den
kulturgeschichtlichen Bruch zwischen Antike und Christentum hinweg wirksam
sind. Es indiziert aber vor allem, daß die Folgen dieses Bruchs für die Problematik
der Subjektivität nicht richtig eingeschätzt werden können, solange man nur die
Metaphern des Lesens und nicht auch die realen Lektürepraktiken untersucht. Wenn
Blumenberg die christliche Lektüre der Welt der griechischen Schau gegenüberstellt,
dann hat er, ohne dies explizit zu machen, eine ganz spezifische Form des Lesens im
Sinn. Lektüre heißt für ihn: Ergründung einer nicht unmittelbar zutage liegenden
Bedeutung, Entschlüsselung eines verborgenen, unsichtbaren Sinns. Lektüre (im Ge-
gensatz zur Schau) findet laut Blumenberg nur da statt, wo der Leser Sinn nicht (in
Analogie zur sensuellen Wahrnehmung) direkt erfaßt, sondern ihn sich durch eine

77
Ebd. S. 51.
78
Siehe oben, Anm. 2.
79
Ralf Konersmann: Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts. Frankfurt a. Μ. 1991. Vgl.
insbesondere die »Kleine Geschichte der Spiegelmetapher«, ebd. S. 75—173.
Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution 27

hermeneutische Anstrengung erschließen muß. Das Modell dieser Lektüre ist offen-
bar die allegorische Auslegung. Dabei handelt es sich jedoch beileibe nicht um die
einzige Form der Lektüre, die im Christentum praktiziert wird. Sie ist zudem keine
christliche Erfindung, sondern besitzt eine lange, weit in die Antike zurückreichende
Tradition. Blumenberg greift also eine besondere Lektüreform heraus und setzt diese
mit dem Lesen gleich. Er universalisiert eine spezifische Form des Lesens. Ahnliches
gilt fur Michel Foucault. Er beteuert zwar, nicht das historische Schicksal von Be-
griffen und Metaphern, sondern die Geschichte wirklicher Praktiken nachzeichnen
zu wollen.80 Doch wenn er die Tätigkeit des christlichen Subjekts als eine Praxis der
Selbstentzifferung (»dechiffrement«) beschreibt,81 evoziert auch er das Modell der
allegorischen Lektüre, ohne zu erläutern, welcher Zusammenhang konkret zwischen
der Technik der allegorischen Schriftauslegung und der Selbstentzifferung besteht,
ohne zu fragen, wie das Subjekt überhaupt dazu kommt, sich selbst als eine Art Buch
zu begreifen, und warum es gerade diese eine, bestimmte Technik der Lektüre auf
sich selbst anwendet. Impliziert die Analogie zwischen Selbst und Buch nicht auch
die Möglichkeit, andere Lektüreverfahren zu applizieren? Es ist ja durchaus denkbar,
daß Augustinus mit seiner spekulären Buchmetapher eine Form von Selbsterkennt-
nis im Visier hat, die sich nicht am Modell der allegorischen Lektüre orientiert,
sondern sich bewußt davon absetzt. Die Spiegelschau bildet keinen Gegensatz zur
Lektüre, sondern sie verweist auf eine andere Form des Lesens. Vielleicht gilt dies
sogar schon für Piaton — vielleicht korrespondiert der von ihm verwendeten visuellen
Metaphorik der Schau eine visuelle Technik des Lesens? Um solche Fragen zu klären,
genügt es nicht, den Metapherngebrauch der Autoren zu studieren. Vielmehr ist es
erforderlich, ihre Äußerungen über Schrift, Lektüre und die ethische Formung des
Subjekts einer genauen Analyse zu unterziehen, um diese sodann mit ihrer literari-
schen und autobiographischen Praxis zu konfrontieren.
Es erscheint also wenig sinnvoll, den Gegensatz zwischen antiker Schau und
christlicher Lektüre vorbehaltlos zu übernehmen und zur Basis einer Untersuchung
zu machen, die sich mit der Geschichte der literarischen Selbstkonstitution beschäf-
tigt. Dieser Gegensatz leistet einer ahistorischen Auffassung der Lektüretätigkeit
Vorschub. Er verführt zu der Annahme, daß das Lesen zu allen Zeiten dieselbe
Form besessen und ähnliche Funktionen erfüllt habe. 82 Im Kontrast dazu gilt es, die

80
M. Foucault: L'usage des plaisirs. S. 11.
81
Ebd. S. 74.
82
Diesen Vorwurf erhebt Roger Chartier gegenüber der phänomenologischen Auffassung der
Lektüre. Signifikanterweise besitzt nicht nur Blumenbergs Metaphorologie, sondern auch
Brian Stocks Analyse des Zusammenhangs zwischen Lesen, Schreiben und Selbsterkennt-
nis Affinitäten zur phänomenologischen Philosophie. Zur Kritik an einem ahistorischen
Lektürebegriff, wie er in Philosophie und Literaturwissenschaft noch immer gang und gäbe
ist, vgl. Guglielmo Cavallo / Roger Chartier: Introduction. In: Histoire de la lecture dans
le monde occidental. Sous la direction de Guglielmo Cavallo et Roger Chartier. Paris 1997.
S. 7—46, hier: S. 8: »II faut tenir, aussi, que la lecture est toujours une pratique incarnee dans
28 Einleitung

historische Variabilität und Vielfalt der Lektürepraktiken zu berücksichtigen wie


auch der Tatsache Rechnung zu tragen, daß ein und dieselbe Lektüreform in un-
terschiedlichen kulturellen Kontexten verschiedene Funktionen erfüllen kann. Aus
dieser Perspektive markiert die Epochenschwelle zwischen Antike und Christentum
nicht die Ablösung des Sehens durch das Lesen, sondern einen Einschnitt innerhalb
der Geschichte der Lektürepraktiken. Es handelt sich dabei um einen Vorgang, in
dessen Verlauf innovative Techniken des Lesens und Schreibens entwickelt, aber auch
bereits bestehende Lektüreformen umgestaltet und mit neuen Funktionen versehen
werden. Dieser Wechsel stellt keinen glatten kulturgeschichtlichen Bruch dar. Viel-
mehr ist er als ein komplexes Zugleich von Kontinuitäten und Diskontinuitäten,
von Ubernahmen, Umstrukturierungen und strategischen Neuorientierungen zu be-
schreiben. Die Epochenschwelle zwischen der Antike und dem frühen Christentum
bildet zwar einen der Schwerpunkte der vorliegenden Untersuchung. Das bedeutet
aber nicht, daß dieser Umbruch als voraussetzungsloser Ursprung der literarischen
Selbsthermeneutik gekennzeichnet werden soll. Es wird vielmehr davon ausgegan-
gen, daß die christliche Form der buch- und schriftgestützten Selbstkonstitution eine
antike Vorgeschichte hat. Nur die Kenntnis dieser Vorgeschichte ermöglicht es, den
Stellenwert zu ermessen, den der Epochenumbruch innerhalb der Problemgeschichte
abendländischer Subjektivität besitzt. Diese Kenntnis ist zudem notwendig, um die
Bedeutung einer zweiten Epochenschwelle zu erfassen, die einen weiteren Schwer-
punkt dieser Untersuchung darstellt: den Beginn der Neuzeit. Foucault charakterisiert
die Renaissance als eine Epoche, in der die Vorherrschaft der christlichen Selbsther-
meneutik gebrochen und die antike Selbsttechnologie wiederentdeckt wird. Doch was
heißt in diesem Zusammenhang >Wiederentdeckung<? Die Wiederentdeckung erfolgt
auf dem Wege der Lektüre. Diese Lektüre hat einen gewaltigen historischen Abstand
zu überwinden, der den Autoren der Renaissance erstmals als solcher bewußt wird. Sie
greifen auf antike Applikationsverfahren zurück. Die Möglichkeit eines Rückgriffs,
der eine historische Kluft von mehreren Jahrhunderten überbrückt, ist allerdings
nicht einfach gegeben. Die Applikationsverfahren müssen ihrerseits erst appliziert und
angeeignet, müssen revidiert und umgestaltet werden, damit sie ihre Funktion unter
den Bedingungen einer ganz anderen geschichtlichen Situation erfüllen können. Auch
dieser Epochenumbruch muß folglich als ein komplexes Zugleich von Rückwendung
und Innovation, von Wiederverwendung und Neubewertung aufgefaßt werden. Sein
Ergebnis ist eine dezidiert ästhetische Form von buchgestützter Subjektivität, die in
vielerlei Hinsicht auf moderne Techniken der Selbstkonstitution vorausweist.

des gestes, des espaces, des habitudes. A distance d une approche phenomenologique qui
efface les modalites concretes de la lecture, consideree c o m m e un invariant anthropologique,
il faut identifier les dispositions specifiques qui distinguent les communautes des lecteurs, les
traditions de lecture, les fa^ons de lire.« Vgl. auch R. Chartier: Lesewelten. Buch und Lektüre
in der frühen Neuzeit. Aus d e m Französischen von Brita Schleinitz und Ruthard Stäblein.
Frankfurt a. M „ N e w York, Paris 1990. S. 7 - 1 2 , S. 33f.
I. Selbsterkenntnis und Selbstsorge

1. D a s Ideal der ungegenständlichen W i s s e n s f o r m

Verflechtung von Selbst- und Weltwissen

Die delphische Maxime des gnothi sauton scheint das Selbstverständnis der abend-
ländischen Kultur so nachhaltig geprägt zu haben, daß es schwer fällt, sie in ihrer
Historizität zu erfassen. Pierre Courcelle, der die Uberlieferungsgeschichte der
Maxime für die Antike und das Mittelalter nachzuzeichnen sucht, verleiht seiner
Verwunderung darüber Ausdruck, daß sie trotz ihrer universalen Verbreitung bislang
kaum die ihr gebührende kulturhistorische Aufmerksamkeit erregt habe.1 Doch in
der vermeintlichen Universalität liegt gerade das Problem: Die Erfolgsgeschichte
des delphischen Präzepts bekundet sich darin, daß der Akt der Selbsterkenntnis
und ihr Gegenstand das Ansehen quasi natürlicher Phänomene gewonnen haben.
Das delphische Prinzip, das schon in der Antike an ein anthropologisches Interesse
gekoppelt war,2 erscheint seinerseits als anthropologische Konstante. Wenn etwa
Karl Philipp Moritz das von ihm begründete Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
(1783-1793) auf den Namen ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ tauft, so suggeriert er eine die
Jahrtausende überspannende Kontinuität anthropologischer Fragestellungen und
Verfahrensweisen, die das innovative Potential seines eigenen empirisch-psychologi-
schen Projekts verdeckt. Er insinuiert die transhistorische Persistenz einer universalen
Menschennatur, zu deren wesentlichen Merkmalen das Interesse an der Kenntnis
ihrer selbst gehört.3 Die anthropologische Inanspruchnahme der Maxime behindert
somit auch dann noch die Einsicht in die Historizität des Phänomens, wenn sie - wie
Moritz dies tut — den Menschen als ein geschichtliches Wesen zu begreifen sucht. Sie
leistet einem modernisierenden Mißverständnis des antiken Begriffs wie auch der
antiken Praxis der Selbsterkenntnis Vorschub.

1 Pierre Courcelle: Connais-toi toi-meme. De Socrate ä saint Bernard. Paris 1974. Bd. 1. S. 7.
2 So lautet die These Pierre Courcelles (ebd.).
3 Vgl. die einleitenden Worte, die Moritz dem ersten Band des Magazins voranstellt: »Aber
wie kann ich den ganzen übrigen Teil meines Lebens besser nutzen, als wenn ich ihn, neben
der tätigen Ausübung meiner Pflicht, zur Erforschung und Betrachtung desjenigen anwende,
was mir und meinen Mitgeschöpfen gerade am wichtigsten ist? Und was ist dem Menschen
wichtiger, als der Mensch?« (Karl Philipp Moritz: ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfah-
rungsseelenkunde. In: ders.: Werke. Hg. von Horst Günther. Frankfurt a. M . 2 1993. Bd. 3.
S. 101-167, hier: S. 103.).
32 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Folgt man dagegen einigen neueren kulturhistorischen Untersuchungen zur Ge-


nese neuzeitlicher Subjektivität, so zielt die delphische Maxime auf den Erwerb einer
ganz anderen Form von Wissen ab als ihre moderne Adaptation. 4 In der Neuzeit
wird der Begriff der Selbsterkenntnis demnach auf die innere Einkehr eines Subjekts
bezogen, das sich - losgelöst aus seinen weltlichen und gesellschaftlichen Beziigen
- in seinem individuellen Sosein zum isolierten Gegenstand der Beobachtung und
Analyse erhebt. Antike Selbsterkenntnis unterscheidet sich in dreierlei Hinsicht von
ihrem neuzeitlichen Pendant: Sie richtet sich erstens nicht auf die Individualität des
erkennenden Subjekts, sondern sucht seine allgemeine Wesensnatur zu begreifen;
sie verfährt zweitens nicht introspektiv, ermöglicht daher auch keine eindeutige
Lokalisierung des Selbst in einem gegenüber der Außenwelt abgegrenzten psychi-
schen Innenraum; und sie vermeidet es drittens, das Selbst aus seiner Einbindung
in überindividuelle Ordnungszusammenhänge herauszulösen. Der antiken Selbst-
erkenntnis fehlt somit das Moment der unmittelbaren Reflexivität.5 Sie erfaßt ihren
Gegenstand nicht im direkten Selbstbezug, sondern vermittelt die Einsicht in eine
substantiell vorgegebene, teleologisch strukturierte Seinsordnung. Das Selbst erkennt
sich als Bestandteil des Kosmos. Wissen über seine eigene Natur und seine Bestim-
mung kann es allein dadurch gewinnen, daß es sich dem Ganzen der Naturordnung
zuwendet, die ihm zugewiesene Position innerhalb des Ordnungsgefüges erfaßt
und eben dadurch auch schon einnimmt. 6 Selbsterkenntnis ist in der Antike von
Welterkenntnis nicht zu trennen, weil »nur die Welt in ihrer vorgegebenen Ordnung
der Wesenheiten Auskunft darüber geben kann, was diesem Selbst gemäß oder un-
gemäß, seine Ordnungsstelle erfüllend oder verfehlend ist. Kenntnis des Kosmos ist
die Implikation des Postulats der Selbsterkenntnis.«7

4
Die folgende Skizze der antiken Problematik der Selbsterkenntnis orientiert sich an den
Arbeiten von Hans Blumenberg, Charles Taylor, Jean-Pierre Vernant und Wolfgang Wieland.
Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a.
M. 1996, Charles Taylor: Sources of the Self. T h e Making of the Modern Identity. C a m -
bridge 1989; Jean-Pierre Vernant: L'individu, la mort, l'amour. Soi-meme et l'autre en Grece
ancienne. Paris 1989; Wolfgang Wieland: Piaton und die Formen des Wissens. Göttingen
1982.
5
Vgl. J.-P. Vernant: L'individu, la mort, l'amour. S. 225f.: »II n'y a pas d'introspection. Le sujet
ne constitue pas un monde interieur clos, dans lequel il doit penetrer pour se retrouver ou
plutöt se decouvrir. [...] Sa conscience de soi nest pas reflexive, repli sur soi, enfermement
interieur, face ä face avec sa propre personne: eile est existentielle. [...] C o m m e on l'a souvent
note, le cogito ergo sum [...] n'a aucun sens pour un Grec. J'existe puisque j'ai des mains, des
pieds, des sentiments, que je marche, que je cours, que je vois et sens. Je fais tout cela et je
sais que je le fais. Mais jamais je ne pense mon existence ä travers la conscience que j'en ai.
M a conscience est toujours accrochee a l'exterieur: j'ai conscience de voir tel objet, d'entendre
tel son, de souffrir telle douleur.«
6
Ebd. S. 228: »L'äme immortelle ne traduit pas chez l'homme sa psychologie singuliere, mais
plutöt l'aspiration du sujet individuel ä se fondre dans le tout, ä se reintegrer dans l'ordre
cosmique general.«
7
H . Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. S. 290.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 33

Während die antike Selbsterkenntnis auf der einen Seite an die Einsicht in die
präexistente Weltordnung gebunden ist, enthält die Erkenntnis der Welt auf der
anderen Seite immer auch ein reflexives Moment, eine implizite Bezugnahme auf
das Selbst des Erkennenden. Diese reflexive Komponente der Welterkenntnis ergibt
sich konsequent aus der Annahme, daß die Wirklichkeit durchgängig nach teleolo-
gischen Gesichtspunkten organisiert ist. Nicht nur ist das Individuum von Natur
aus dazu prädisponiert, die Weltordnung zu erkennen. Es gilt auch umgekehrt,
daß die Dinge der Welt daraufhin angelegt sind, erkannt zu werden. Der Akt der
Erkenntnis ist selbst ein Stück dieser Ordnung. Die Fürsorge, welche die Natur
dem Menschen aufgrund dieser Zugemessenheit angedeihen läßt, bekundet sich
unter anderem darin, daß sie ihm die Zweckmäßigkeit seines Handelns anzeigt.
Der Mensch, der Einsicht in die Ordnung des Seienden gewinnt, erfährt zugleich,
daß er dadurch den ihm von der Natur vorgegebenen Daseinszweck erfüllt. Laut
Aristoteles ist die Tätigkeit, die dem Wesen des Menschen gemäß ist, von einem
Gefühl der Lust begleitet. Der Mensch empfindet Lust, wenn er diejenige Aktivi-
tät, durch die er sein Menschsein realisiert, das Denken und Erkennen nämlich,
der Vollendung zuführt. 8 Auf andere Weise trägt die stoische Philosophie der
reflexiven Komponente des Erkennens Rechnung. Sie bildet ein Kernelement
der stoischen Entwicklungspsychologie, der sogenannten Oikeiosis-Lehre. Nach
stoizistischem Verständnis ist den Aktivitäten des menschlichen Wesens von Ge-
burt an eine fundamentale Selbstbezüglichkeit zu eigen. Der Mensch besitzt die
Fähigkeit der synaisthesis (Mitwahrnehmung): Jede Vorstellung eines Gegenstandes
beinhaltet zugleich die Selbstwahrnehmung des Vorstellenden, der den Gegen-
stand daraufhin beurteilt, ob er für ihn nützlich oder schädlich, zuträglich oder
gefährlich ist. 9 Das Erfassen der Welt ist folglich von der Rücksichtnahme auf das
eigene Selbst nicht zu trennen. Dieses ist sich als bewahrenswertes Gut und als
Zielpunkt einer permanenten Sorge vorgegeben. Die Oikeiosis-Lehre knüpft somit
an die sokratische Konzeption der epimeleia heautou, der Sorge um das Selbst an. 10
In ihrer stoischen Variante bezeichnet diese Haltung keinen isolierten Selbstbezug,
keine reflexive Rückwendung auf die eigene Person, die mit einer Abkehr von
der Naturordnung einherginge. Sie ist vielmehr durch die Natur selbst gestiftet.
Die originäre Selbstbezüglichkeit menschlichen Wahrnehmens und Handelns
entspringt ihrer Fürsorge. Auf diese Weise integriert die Natur den Menschen in das

8 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1 1 7 4 b - l 175a.


' Vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. Uber den Zusammenhang von Natur-, Sprach-
und Moralphilosophie im altstoischen System. Stuttgart 1981. S. 145f. - Zur stoischen Oikei-
osis-Lehre vgl. auch Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. Göttingen
4 1970. Bd. 1. S. 57f., S. 113-115; A. A. Long: Hellenistic Philosophy. Stoics, Epicureans,

Sceptics. London 1974. S. 170f.; A. A. Long / D. N. Sedley: The Hellenistic Philosophers.


Cambridge 1987. Bd. 1. S. 347-351; Michael Hauskeller: Geschichte der Ethik. Bd. 1: Antike.
München 1997. S. 194-202.
10 M. Forschner: Die stoische Ethik. S. 145.
34 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

System ihrer Zwecke und führt ihn seinem eigentlichen Telos zu, der Entdeckung
und Entfaltung seiner Vernunftanlage."
Die Einbindung der Selbstsorge in die teleologische Struktur kennzeichnet
letztlich auch die sokratische Konzeption der epimeleia heautou. Sokrates fordert
den Menschen dazu auf, sich um sich selbst zu kümmern: Er soll sich nicht in tri-
vialen Beschäftigungen ergehen, sondern sich nur mit solchen Dingen abgeben, die
einen Bezug auf seine Seele und ihr Heil besitzen.12 Zwar verbindet Sokrates seine
Forderung mit der Kritik an naturphilosophischer, insbesondere an kosmologischer
Spekulation. 13 Diese Kritik bedeutet aber keine prinzipielle Absage an die Natur-
und Welterkenntnis. Sokrates verurteilt vielmehr eine bestimmte Form des Wissens,
ein solches nämlich, das den impliziten Selbstbezug des Erkennens aus den Augen
verliert. Wenn er also einerseits ein Wissen ablehnt, das keine reflexive Komponente
beinhaltet, so gilt ihm andererseits eine Selbsterkenntnis als suspekt, die keinen
Weltbezug besitzt. Die Selbsterkenntnis, die im Zentrum der sokratischen epimeleia
steht, geht nicht aus einem Akt unmittelbarer Selbstreflexion hervor. Die Prüfung
(.elenchos), der Sokrates seine Gesprächspartner unterzieht, um sie zur Einsicht in
die Beschaffenheit ihrer Seele zu führen, zielt nie direkt auf das Selbst der in Frage
stehenden Person. Geprüft wird vielmehr immer ein Wissen über etwas anderes;14
geprüft werden die Meinungen und Uberzeugungen, die der Gesprächspartner hin-
sichtlich der bedeutendsten Dinge - hinsichtlich des Schönen, Gerechten und Guten
— hegt. Selbsterkenntnis erlangt der Geprüfte mithin nur auf dem Umweg über ein
Sachwissen.15 Sie läßt sich von der Einsicht in die vorgegebene Vernunftordnung
nicht ablösen. Auch und gerade für Sokrates gilt die Devise: Selbsterkenntnis ist ge-
bunden an Welterkenntnis, denn Welterkenntnis enthält eine implizite Bezugnahme
auf das Selbst des Erkennenden.
Die Verflechtung von Selbst- und Welterkenntnis verweist auf das Bestreben
der antiken Philosophie, das Selbst und die Welt auf ein und derselben ontischen

11
M. Pohlenz: Die Stoa. Bd. 1. S. 115.
12
Piaton: Apologie 30d-e. - Die Schriften Piatons werden nach der folgenden Ausgabe zitiert:
Piaton: Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Hg. von G u n t h e r Eigler, deutsche
Ubersetzung von Friedrich Schleiermacher. Darmstadt 2 1990. - Zur sokratischen Konzeption
der Selbstsorge vgl. Gernot Böhme: Der Typ Sokrates. Frankfurt a. M. 1988. S. 51-63; Michel
Foucault: L'herm&ieutique du sujet. Cours au College de France (1981-1982). S. 3 - 1 0 3 .
— Zur Fortführung der von Sokrates begründeten Tradition der Selbstsorge im Mittelalter
und in der Neuzeit vgl. die Beiträge in: Autobiographisches Schreiben u n d philosophische
Selbstsorge. Hg. von Maria Moog-Grünewald. Heidelberg 2004.
13
Zu dieser sog. sokratischen Wende vgl. H . Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. S. 281—
290.
14
Vgl. Piaton: Protagoras 333c: »Denn ich will eigentlich nur den Satz prüfen, aber es ereignet
sich dann wohl, daß dabei auch ich, der Fragende, und der Antwortende geprüft werden.«
- Z u r sokratischen Methode einer kombinierten Prüfung von Satz und Person vgl. Gregory
Vlastos: T h e Socratic Elenchus. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy 1 (1983). S. 27—58,
hier: S. 37f.
15
Vgl. W. Wieland: Piaton und die Formen des Wissens. S. 31 Of.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 35

Ebene anzusiedeln. Sie propagiert eine Form der Erkenntnis, die den Erkennenden
in die Weltordnung integriert. Das Selbst und die Welt sollen nicht als getrennte
Subjekt- und Objektsphären auseinandertreten.16 Die antike Philosophie meidet
die Vorstellung eines Selbst, das dem Gegenstandsbereich der Welt als autonome
Instanz gegenübersteht. Die angestrebte Synthese von Selbst und Welt findet ihren
Niederschlag in einem wichtigen Prinzip der platonischen und der aristotelischen
Erkenntnistheorie. Demnach kann Gleiches nur durch Gleiches erkannt werden.17
Um Einsicht in die kosmische Vernunftordnung gewinnen zu können, muß das
Individuum dem zu Erkennenden ähnlich werden; es muß dasjenige zur Geltung
bringen, was in ihm selbst die Natur des Vernünftigen besitzt. Erkenntnis aktuali-
siert sich in Form einer Wesensverwandtschaft, als Teilhabe an einer übergreifenden
Struktur vernünftigen Seins. Sie kann daher nicht einfach in einem subjektiven
Bewußtsein lokalisiert werden. In De anima beschreibt Aristoteles die Erkenntnis
als einen Vorgang, der gleichzeitig im Erkennenden wie auch im Erkannten ab-
läuft.18 Erkenntnis gilt ihm folglich nicht als eigenständige kognitive Leistung eines
Erkenntnissubjekts. Der Gegenstand der Erkenntnis ist vielmehr aktiv an ihrer
Hervorbringung beteiligt. Der kognitive Prozeß soll Subjekt und Objekt somit auf
einer gemeinsamen Ebene teleologisch geordneten Seins zusammenführen. Durch
den Erkenntnisakt bindet sich das Individuum in die umfassende Seinsordnung ein.
Diese Zielrichtung der Integration wird durch die neuzeitliche Erkenntnistheorie
invertiert. Die rationalistische und empiristische Philosophie, so erläutert Charles
Taylor, verficht das Ideal der »disengaged reason«, einer kognitiven Vernunft, die sich
aus ihrer unreflektierten Verflechtung in die Welt der Dinge befreien muß, ehe sie
brauchbares Wissen zu produzieren vermag. Anstatt in der Welt selbst die Verkör-
perung der Vernunftordnung zu sehen, der sich das Individuum zu unterwerfen hat,
wird die Vernunftordnung als konstruktive Leistung eines subjektiven Bewußtseins
aufgefaßt, das die Welt auf den Status neutraler Gegenständlichkeit reduziert und
sie somit dem verändernden Zugriff zugänglich macht:19 »We demistify the cosmos
as a setter of ends by grasping it mechanistically and functionally as a domain of
possible means.«20
Das der antiken Epistemologie zugrundeliegende Ziel, den Erkennenden in die
vorgegebene Vernunftordnung zu integrieren, bestimmt schließlich auch die beson-

16 Charles Taylor arbeitet diese Differenz zwischen d e m antiken und dem neuzeitlichen Welt-
bezug des Subjekts mit großer Deutlichkeit heraus. Vgl. C . Taylor: Sources of the Self.
S. 1 8 6 - 1 8 8 .
17 Piaton: Timaios 4 5 c (mit Bezug auf die visuelle W a h r n e h m u n g ) ; Aristoteles: Nikomachische
Ethik 1139a. Vgl. auch Aristoteles: Über die Seele. Ubersetzt von W i l l y Theiler. In: ders.:
Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 13. Berlin 7 1 9 8 6 . 4 2 5 b , 4 3 0 a .
" Aristoteles: Über die Seele 425b, 4 3 0 a .
19 C. Taylor: Sources of the Self. S. 144f., 1 8 6 - 1 8 8 . Vgl. auch Η . Blumenberg: Die Legitimität
der Neuzeit. S. 161 und passim.
20 C. Taylor: Sources of the Self. S. 149.
36 Vom somatischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

dere Form, die das dabei erworbene Wissen in der Seele des Wissenden anzunehmen
hat. Wenn die Erkenntnis das Individuum mit der Welt verbinden soll, dann kommt
dem daraus entstehenden Wissen die Aufgabe zu, dieser Verbindung festen Bestand
zu verleihen. Aus der nicht-gegenständlichen Einsicht in die Vernunftordnung muß
ein ebenso nicht-gegenständliches, mit der Person des Erkennenden verknüpftes
Wissen hervorgehen. Im Kontrast dazu unterzieht das neuzeitliche Erkenntnis-
subjekt sein Wissen einer durchgreifenden Vergegenständlichung. Disengagement
kennzeichnet die Haltung der erkennenden Vernunft nicht nur der Welt gegenüber,
die auf diese Weise objektiviert werden soll. Die Vernunft wird darüber hinaus dazu
angehalten, die gleiche neutralisierende Distanz auch im Verhältnis zu ihren eigenen
Hervorbringungen zu etablieren.21 Sie soll nicht nur die zu erkennende Wirklichkeit,
sondern auch ihre eigene Erkenntnistätigkeit vergegenständlichen. Das neuzeitliche
Wissenssubjekt, so erläutert Wolfgang Wieland, ist
eine Instanz vom Typus eines Bewußtseins überhaupt, das zu seinen Wissensinhalten selbst
dann noch eine gegenständliche Beziehung hat, wenn es sich bei ihnen um angeborene
Ideen oder apriorische Wahrheiten handelt. Vor allem aber handelt es sich bei diesem
Bewußtsein überhaupt um eine Instanz, die durch keinen möglichen Wissensinhalt selbst
affiziert oder modifiziert wird, sondern sich gegenüber allen Inhalten in unveränderlicher
Identität behauptet. 2 2

Das Wissen, das ein Wissen über die Gegenstände der Welt ist und diesen gegenü-
ber äußerlich bleibt, hat seinerseits eine gegenständliche Form. 23 Es läßt sich vom
Wissenden abtrennen und einem anderen Subjekt mitteilen, ohne daß jener einen
substantiellen Verlust erleidet und dieses in seinem Sein eine wesentliche Verände-
rung erfährt. Die antike Philosophie, die darauf abzielt, das Individuum durch die
Erkenntnis der Weltordnung in diese Weltordnung einzubinden, muß die Erzeu-
gung eines solchen gegenständlichen Wissens vermeiden. Wer nur ein gegenständ-
liches Wissen über die Weltordnung besitzt, befindet sich dieser gegenüber in einer
Position der Exteriorität. Das Wissen, das durch die Verbindung von Welt- und
Selbsterkenntnis begründet wird, darf dem Individuum nicht wie ein toter, dingli-
cher Besitz anhängen. Das Individuum soll Wissen nicht bloß haben, es soll dieses
Wissen gewissermaßen sein. Um die Integration in die vorgegebene Ordnung zu
verwirklichen, muß sich der Wissende mit seinem Wissen identifizieren. Man kann
auch umgekehrt formulieren: Die Integration des Individuums in die Weltordnung
erfordert ein Wissen, das so mächtig ist, daß es die Identität des Wissenden, sein
personales Sein zu bestimmen und zu formen vermag. Das Wissen konstituiert das
Individuum als Moralsubjekt. Denn die Welt, die durch dieses Wissen erfaßt werden

21
Ebd. S. 174f.
22
W. Wieland: Piaton und die Formen des Wissens. S. 251.
23
Ebd. S. 224f. - Die gegenständliche Wissensform par excellence ist laut Wieland das propo-
sitionale Wissen. Die Aussage hat nicht nur einen Gegenstand, auf den sie sich bezieht, sie
kann auch ihrerseits wie ein Gegenstand betrachtet und behandelt werden.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 37

soll, ist kein Inbegriff neutraler Gegenständlichkeit, sondern eine Matrix vorgege-
bener Werte und Zwecke. Das Individuum soll von dieser Weltordnung nicht bloß
äußerlich Kenntnis erlangen; es soll sie zum inneren Prinzip seines Handelns und
seiner Lebensführung machen. Das Welt- und Selbst-Wissen soll gelebt werden.
Der hier skizzierte Zusammenhang zwischen Selbst- und Welterkenntnis, zwi-
schen Wissensbildung und Subjektkonstitution läßt sich anhand der platonischen
Konzeption der Ideenerkenntnis veranschaulichen. Die Ideenerkenntnis markiert
die Einsicht des Individuums in die präexistente Seinsordnung, durch die es sich
dieser Ordnung eingliedert und sich zugleich als Moralsubjekt konstituiert. Pia-
ton kontrastiert den Erwerb von Ideenwissen mit der sophistischen Theorie der
Wissensbildung. Er wendet sich kritisch gegen die von den Sophisten vorgetragene
Behauptung, »wenn keine Erkenntnis in der Seele sei, könnten sie sie ihr einsetzen,
wie wenn sie blinden Augen ein Gesicht einsetzten«.24 Er desavouiert den von den
Sophisten erhobenen Anspruch, die Tugend lehren zu können, indem er auf die
Form verweist, die dem Tugendwissen in der sophistischen paideia verliehen wird.
Diese, so Piaton, basiert auf der Vorstellung, daß sich Wissen wie ein Gegenstand
von Seele zu Seele übertragen lasse. Die Sophisten geben dem Wissen das Ansehen
eines vorgefertigten Produkts, das der Lernende in sich aufnehmen und sich ohne
große Mühe zu eigen machen kann. Doch Wissen, das der Seele auf diese Weise
»eingesetzt« wird, bleibt ein Fremdkörper, ein dinglicher Besitz. Es bestimmt den
Wissenden nicht in seinem personalen Sein, begründet mithin keine Tugendhal-
tung. Allerdings liegt es wohl auch gar nicht in der Absicht der sophistischen paideia,
den Zögling zur Identifikation mit dem Wissen zu bewegen. Die Distanz, die der
Sophist gegenüber den Inhalten des Wissens wahrt, ist vielmehr eine Voraussetzung
dafür, daß er sie instrumentell handhaben, sie zu Zwecken der Überredung und der
Täuschung einsetzen kann. In dieser Fähigkeit, mit dem Wissen klug und effektiv
zur Beförderung des persönlichen Nutzens umzugehen, besteht nach sophistischer
Ansicht die eigentliche Tugend, die durch die paideia vermittelt werden soll. Aus
platonischer Perspektive leistet die Vergegenständlichung des Wissens jedoch seinem
Mißbrauch Vorschub. Piaton stellt der sophistischen Kunst, der Seele Wissen einzu-
setzen, daher eine philosophische »Kunst der Umlenkung« entgegen.25 Mittels dieser
Kunst wird nicht das Wissen bewegt, um es in die Seele des Zöglings zu transferieren.
Vielmehr wird umgekehrt die Seele dazu veranlaßt, sich zu bewegen und sich der
Wahrheit zuzuwenden. Dem Konzept der Umlenkung liegt die Vorstellung zugrun-
de, daß die Vernunft kein subjektives Vermögen darstellt, sondern substantiell, als
durch sich selbst bestehende Ordnung der Ideen, vorgegeben ist. Diese Ordnung
verkörpert die Vernunft, das wahre Wissen kann der Seele also gar nicht eingesetzt,

24 Piaton: Politeia 518c.


25 Ebd. 518d.
38 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

sondern nur durch sie geschaut werden. Die Wahrheit, so scheint es, befindet sich
nicht >in< der Seele des Wissenden, sondern sie ist >Gegenstand< ihrer Betrachtung.26
Aber die räumliche Metaphorik, die einen psychischen Innenbereich von einem
>Außen< oder einem >Gegenüber< abgrenzt, verfälscht den Vorgang der Wissensbil-
dung, wie ihn Piaton konzipiert. Die Wahrheit existiert zwar unabhängig von der
Erkenntnistätigkeit des Betrachters, doch um sie zu betrachten, muß dieser mit dem
Geschauten eins werden. 27 Sie läßt sich nicht lokalisieren, verräumlichen und verge-
genständlichen. Da die Seele ein Bestandteil der Vernunftordnung ist, ist das Wahre
auch ein Teil von ihr. Einsicht in das Wahre, das Unvergängliche und Göttliche, das
sich in den Ideen manifestiert, gewinnt das Individuum folglich nur dann, wenn
das, was in ihm selbst von der Natur des Göttlichen ist, sich diesem zuwendet. 28 Es
erkennt das Wahre, indem es seine Ähnlichkeit mit dem Wahren aktualisiert. Das
Wahre verwirklicht sich an ihm selbst - nicht jedoch in Gestalt eines gegenständlich
verfugbaren Wissens, das es in Besitz nehmen oder auch entäußern kann, sondern
als die eigentliche Wesensnatur seiner Seele, die in der Hinwendung zum Wahren
gegenüber dem Unwesentlichen - den irrationalen Trieben - die Herrschaft erlangt.
Der Erkennende wird zu dem, was er weiß. Die »Umlenkung« der Seele markiert
eine regelrechte Konversion. 29 Sie erlangt wahres Wissen, indem sie sich auf ihre
eigentliche Wesensnatur besinnt und diese gleichzeitig — eben vermittels ihrer Er-
kenntnisbemühungen - realisiert. Das platonische Tugendwissen unterscheidet sich,
wie Konrad Gaiser bemerkt, von herkömmlichen Wissensformen dadurch, »daß
man es nicht durch gewöhnliches Lernen, sondern nur im Zusammenhang mit einer
Umkehrung des Lebens, einem wirklichen Besserwerden erwerben kann.« 30

26
Vgl. C. Taylor: Sources of the Self. S. 123f.: »[T]he language of inside / outside can in a sense
be misleading as a formulation of Plato's position. In an important sense, the moral sources we
accede to by reason are not within us. They can be seen outside us, in the Good; or perhaps
our acceding to a higher condition ought to be seen as something which takes place in the
>space< between us and this order of the good. O n c e reason ist substantively defined, once
a correct vision of the order is criterial to rationality, then our becoming rational ought not
most perspicuously to be described as something that takes place in us, but rather better as
our connecting u p to the larger order in which we are placed. [...] The soul as immaterial
and eternal ought to turn to what is immaterial and eternal. Not what happens within it but
where it is facing in the metaphysical landscape is what matters.«
27
Das Einswerden des Betrachters mit dem Geschauten charakterisiert nach antiker Vorstellung
nicht nur die Vernunfterkenntnis, sondern auch die visuelle Wahrnehmung. Das Auge ist
demnach kein Empfangsorgan, vielmehr sendet es Sehstrahlen aus, die mit dem Sonnenlicht
und den feurigen Emissionen des Wahrnehmungsobjekts zu einem einzigen Lichtkörper ver-
schmelzen, so daß der Betrachter unmittelbar im Gegenstand schaut. Vgl. Gerard Simon: Der
Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik. Aus dem Französischen übersetzt
von Heinz Jatho. München 1992. S. 31 und passim.
28
Piaton: Politeia 518e, 61 le.
25
Vgl. C. Taylor: Sources of the Self. S. 123: »[J]ust as the physical eye can only be turned by
swivelling the whole body, so the whole soul must be turned to attain wisdom. It is not a
matter of internalizing a capacity but rather of a conversion«.
30
Konrad Gaiser: Protreptik und Paränese bei Piaton. Untersuchungen zur Form des platonischen
Dialogs. Stuttgart 1959. S. 101.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 39

W e l t e r k e n n t n i s u n d S e l b s t e r k e n n t n i s sind im p l a t o n i s c h e n Ideenwissen a u f
unauflösliche Weise miteinander verknüpft. D e r Erkennende gewinnt E i n b l i c k in
die übergreifende Seinsordnung und erlangt zugleich Aufschluß über seine eigene
Wesensnatur. Ideenerkenntnis führt zur Einsicht in die Suprematie der Seele über
den Körper und in die wesensmäßige Ähnlichkeit, die zwischen dem vernünftigen
Seelenteil und der Ideenwelt besteht. 3 1 Das Ideenwissen soll d e m W i s s e n d e n a u f
diese Weise eine sichere ethische Orientierung gewähren. E r erkennt das G u t e an
sich, und er sieht ein, was an i h m selbst und für ihn selbst gut ist. Diese E i n s i c h t
wird ihm zudem nicht in abstrakter F o r m zuteil, sondern in Gestalt eines unge-
genständlichen Wissens, das sich unmittelbar praktisch auswirkt, i n d e m es eine
neue Lebenshaltung begründet. S o m i t tritt die intellektualistische A u s r i c h t u n g ,
die als charakteristisch für die antike E t h i k angesehen wird, 3 2 im p l a t o n i s c h e n
Ideenwissen zwar klar in E r s c h e i n u n g : D i e T u g e n d ist in der T a t ein W i s s e n .
D o c h dieses Wissen existiert n i c h t losgelöst von seiner praktischen A n w e n d u n g
a u f die tugendhafte Seele. Laut Piaton kann das I n d i v i d u u m das Tugendwissen
nur dadurch erlangen, daß es dieses in einem Akt der U m k e h r bereits appliziert
und der Formung seiner Seele dienstbar macht. Das Wissen ist u n t r e n n b a r m i t der
Person des Tugendhaften verbunden. Es ist keine ethische D o k t r i n , kein Korpus
von Wissenssätzen, a u f die der H a n d e l n d e in S i t u a t i o n e n sittlicher B e w ä h r u n g
zurückgreift. Das Tugendwissen manifestiert sich vielmehr in Gestalt einer See-
lenhaltung, einer Ausrichtung a u f das G u t e hin, die das Individuum zu sittlichem
Handeln prädisponiert. 3 3
Das antike Moralsubjekt konstituiert sich als Wissenssubjekt, wobei die besonde-
re Form des Wissens von entscheidender Bedeutung ist. N u r ein ungegenständliches
Wissen kann die E i n b i n d u n g des Individuums in die vorgegebene Seinsordnung
gewährleisten. Die Integration des Subjekts markiert zugleich seine Unterwerfung
unter eine Wahrheit, die seine sittliche Praxis direkt bestimmt. Bei allen z u m Teil
gravierenden Unterschieden in der theoretischen Doktrin bleiben die großen Philo-
sophenschulen der Antike dem gemeinsamen Leitbild eines vom Wissenden nicht
ablösbaren Wissens verpflichtet. So unterzieht Aristoteles die platonische E t h i k zwar
einer scharfen Kritik. 3 4 E r moniert vor allem die Abgehobenheit und Lebensferne des
Ideenwissens. Er wirft Piaton somit vor, daß es ihm letztlich doch nicht gelungen sei,

31 Thomas Alexander Szlezäk: Piaton und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen
zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin und New York 1985. S. 136.
32 Vgl. C. Taylor: Sources o f the Self. S. 137f., S. I48f.; W. Wieland: Piaton und die Formen
des Wissens. S. 263f.
33 Konsequenterweise vermeidet es Piaton, das Ideenwissen inhaltlich zu bestimmen. Vgl. W.
Wieland: Piaton und die Formen des Wissens. S. 160; Christiane Schildknecht: Philosophische
Masken. Literarische Formen der Philosophie bei Piaton, Descartes, Wolff und Lichtenberg.
Stuttgart 1990. S. 32.
34 Zur aristotelischen Kritik an der platonischen Idee des Guten vgl. Nikomachische Ethik
1 1 9 6 a - l 197a. - Zur Kritik am sokratischen Tugendwissen vgl. ebd. 1144b—1145a.
40 Vom somatischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

das Ideenwissen zugleich als eine die moralische Praxis regulierende Seelenhaltung
auszuweisen. Aber auch Aristoteles koppelt die Tugend an eine spezifische Form des
Wissens und des Erkennens. 35 Dieses sittliche Wissen richtet sich nicht auf das ideelle
Gute an sich. Es beinhaltet vielmehr die Kenntnis dessen, was für den Menschen in
seiner konkreten Lebenswelt gut ist, was ihn glücklich machen und zu einer gelun-
genen Lebensführung beitragen kann. Was für den Menschen gut ist, wird freilich in
maßgeblicher Weise durch seine Wesensnatur bestimmt. Das sittliche Wissen ist also
weiterhin auf einen teleologisch geordneten Kosmos bezogen. Die Tugend umfaßt
die Einsicht in die wesenhaft vorgezeichneten Daseinsziele des Menschen und in
die Mittel, die er anwenden muß, um diese Ziele zu erreichen. 36 Aristoteles zufolge
hat das für die Tugend konstitutive Wissen nicht die gegenständliche Form eines
Regelwerks oder einer Doktrin. Die Tugend ist vielmehr eine hexis, ein Habitus.
Die hexis bezeichnet einen erworbenen Besitz; als solcher ist sie von der Naturanlage
zu unterscheiden. 37 Der Mensch wird somit nicht tugendhaft geboren, sondern er
muß sich sittliche Einsicht in einem Prozeß der ethischenpaideia allererst aneignen.
Doch Aristoteles beschreibt die sittliche hexis als eine besonders intensive Form des
Besitzens: als ein Wissen, das so eng mit dem Wissenden verbunden ist, daß es das
Ansehen einer naturgegebenen Fähigkeit gewinnt. 38 Die phronesis, die Einsicht in
das Gute, ist nicht nur ein Wissen, sondern auch eine Fähigkeit - eine praktische
Klugheit, die es ermöglicht, das Wissen in konkreten Handlungssituationen an-
zuwenden. 35 Im Unterschied zum platonischen Ideenwissen realisiert sich dieser
aristotelische Habitus des Wissens nicht in Form einer Herrschaft der Vernunft
über den Körper und die niederen Seelenteile. Das sittliche Wissen ist vielmehr in
der irrationalen Komponente der Psyche verankert: Die orexis, das Strebevermögen,
fungiert als Trägerin des sittlichen Wissens. Auf diese Weise potenziert Aristoteles
die Identifikation des Wissenden mit seinem Wissen. Das aristotelische Subjekt geht
eine noch intensivere Bindung mit den Inhalten seines Wissens ein als sein plato-
nisches Pendant. Der besonnene Mensch, der das aristotelische Ideal der Tugend
verkörpert, ist - so lautet eine bezeichnende Formulierung aus der Nikomachischen

35
Ebd. 1094a: Die Einsicht in das höchste G u t ist fur das Leben von großer Bedeutung. N u r
wer es kennt, wird — dem Bogenschützen vergleichbar, der die Zielscheibe vor Augen hat — in
seinem Handeln das Richtige treffen können.
36
Ebd. 1140a-1140b.
37
Ebd. 1103a-1103b.
38
Gerhard Funke spricht von dem »Doppelgesicht«, das für die Gewohnheit und somit für die
aristotelische hexis kennzeichnend sei: Sie ist Natur, »indem sie eine Beschaffenheit angibt,
die dem Menschen wie eine Eigenschaft anhaftet«, und sie ist eine zweite, andere Natur, »weil
sie nicht ursprünglich, sondern erworben, also zusätzlich hervorgebracht ist«. Vgl. Gerhard
Funke: Gewohnheit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter
u n d Karlfried Gründer. Basel 1971ff. Bd. 3. Sp. 5 9 7 - 6 1 6 , hier. Sp. 597. Zur aristotelischen
hexis als einer zweiten Natur vgl. auch ders.: Gewohnheit. Bonn 1958. S. 4 7 - 4 9 .
35
Der Begriff der phronesis wird in Franz Dirlmeiers deutscher Übersetzung der Nikomachischen
Ethik dementsprechend mal mit »Wissen« oder »Einsicht«, mal mit »Klugheit« oder »Fähigkeit«
wiedergegeben. Phronesis ist beides: Wissen und Fähigkeit - ein naturalisiertes Wissen.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 41

Ethik - mit dem sittlichen Wissen »verwachsen«, wohingegen der Unbeherrschte


zwar zutreffende moralische Einsichten zu äußern versteht, sich diese aber nicht ganz
zu eigen macht: Er gleicht dem Schauspieler, der eine Rolle spielt, oder dem Schüler,
der sein auswendig gelerntes Lehrpensum wiedergibt.40
Auch die stoische Philosophie bestimmt die Tugend als ein Wissen; auch sie
schreibt diesem Tugendwissen einen habituellen Status als hexis oder diathesis zu.41
Der Stoizismus vertritt eine monistische Auffassung der Psyche, bestreitet mithin
die Existenz eines irrationalen Seelenteils. Die Affekte sind demnach keine naturge-
gebenen Regungen, die der Herrschaft der Vernunft unterworfen werden müssen.
Sie sind selbst eine Manifestation des logos, und zwar des logos in seiner appetitiven
Gestalt. Affekte sind Fehlurteile der Vernunft. Sie entstehen, wenn die Vernunft
einen Gegenstand als ein erstrebenswertes Gut oder zu meidendes Übel beurteilt, der
es seiner Natur nach gar nicht ist. Der kognitive Akt, der die Sache als gut oder übel
vorstellt, setzt sich unmittelbar in leidenschaftliche, begehrliche oder furchtsame
Erregung um - er ist eine Selbstaffektion der getäuschten Vernunft.42 Das stoische
Tugendideal der apatheia, der Leidenschaftslosigkeit, markiert folglich einen Zu-
stand der Seele, in dem diese von Irrtümern und Fehleinschätzungen frei ist. Doch
um Fehlurteile vermeiden zu können, muß der Mensch wissen, worin seine Wesens-
natur besteht, welche Stellung er in der natürlichen Ordnung einnimmt und was
ihm als Vernunftgeschöpf zuträglich ist. Die tugendhafte Seelenhaltung setzt somit
die Einsicht in das Ganze der Naturordnung voraus.43 Wahre Tugend liegt aber nur
dort vor, wo dieses Wissen die ungegenständliche Form einer inneren Disposition
{diathesis) besitzt — wo es ganz verinnerlicht und zum unverrückbaren Maßstab der
fortlaufend vollzogenen Aktivität des Urteilens und Einschätzens erhoben wurde.

Mündliche vs. schriftliche Unterweisung

So groß die Differenzen zwischen den Grundrichtungen der antiken Philosophie im


einzelnen auch sein mögen, sie stimmen doch darin überein, daß sie eine bestimmte
Form des Wissens privilegieren: ein Wissen, in dem Welterkenntnis und Selbster-
kenntnis miteinander verschränkt sind; ein Wissen zudem, über das der Wissende
nicht wie über einen toten, dinglichen Besitz verfügt, sondern das ihn als lebendige
Kraft in seinem Denken, Streben und Handeln motiviert; ein Wissen schließlich,

40 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1147a.


41 Vgl. M. Forschner: Die stoische Ethik. S. 6 6 ; A. A. Long: Hellenistic Philosophy. S. 177.
42 Zur stoischen Affektenlehre vgl. M . Pohlenz: Die Stoa. Bd. 1. S. 1 4 1 - 1 5 3 , vor allem aber
die vorzügliche Darstellung bei Martha C . Nussbaum: T h e Therapy o f Desire. Theory and
Practice in Hellenistic Ethics. Princeton 1994. S. 3 6 6 - 3 8 6 .
43 Vgl. dazu zusammenfassend Cicero in seiner Darstellung der stoischen Philosophie: »Nec
vero potest quisquam de bonis et malis vere iudicare nisi omni cognita ratione naturae et
vitae etiam deorum, et utrum conveniat necne naturam hominis cum universa.« (Marcus
Tullius Cicero: D e finibus bonorum et malorum libri quinque. Edited by Leighton Durham
Reynolds. Oxford 1 9 9 8 . 111.73.).
42 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

das mit der Person des Wissenden eins ist und diesen als Moralsubjekt konstituiert.
Wer sich ein solches Wissen angeeignet hat, besitzt nicht bloß Kenntnis über die
Weltordnung und über sein wahres Selbst, sondern er wird zu dem, was er weiß; er
ist ein lebendiger Teil der teleologischen Weltordnung, die er erkennt, und erfüllt
somit seine Bestimmung. Zugleich markiert diese aktive, teilnehmende Form des
Wissens die einzige Möglichkeit, Einsicht in das Wahre zu gewinnen: Die Wahrheit
bleibt all denen verschlossen, die sich nicht durch sie verändern lassen wollen. Aus
dieser Konzeption des Wissens ergeben sich weitreichende Konsequenzen für das
Selbstverständnis der antiken Philosophie und für den Status des philosophischen
Diskurses. Wenn die Aufgabe der Philosophie darin besteht, wahres Wissen zu er-
zeugen, und wenn wahres Wissen nicht losgelöst von der Person des Wissenden zu
existieren vermag, dann kann die Hervorbringung von Wissen nur auf dem Wege
der Bildung von Wissenssubjekten erfolgen. 44 Die Philosophie kann Wissen allein
dadurch produzieren, daß sie Individuen zu Wissenden macht. Ihre Zielsetzung darf
somit keine - nach modernem Verständnis - theoretische, sondern muß in erster
Linie eine praktische und psychagogische sein. Ihre raison d'etre besteht nicht darin,
eine abstrakte Doktrin aufzustellen und systemlogisch abzusichern. Der philoso-
phische Diskurs ist kein Selbstzweck. Seine Existenz ist nur als Funktionselement
einer ethischen paideia gerechtfertigt, die es sich zur Aufgabe macht, Individuen zur
Wahrheit zu führen und als Moralsubjekte zu konstituieren. Die Philosophie soll
gelebt und praktiziert, nicht bloß studiert werden. 45
In diesem Sinne warnt Piaton den Philosophen davor, seine Kräfte an die Ab-
fassung systematischer Abhandlungen zu verschwenden. Die »echten Kinder« des
Philosophen seien nicht die Werke, die er hinterlasse, sondern die Seelen seiner
Schüler, denen er ein wahres Wissen eingepflanzt habe.46 Der Philosoph soll keine
Bücher schreiben, seine Aufgabe ist vielmehr darin zu sehen, einen lebendigen logos
zu erzeugen, der »mit Einsicht geschrieben wird in des Lernenden Seele«.47 Der
Philosoph soll also direkt auf die Seele seines Zöglings einwirken. Das Ziel, wahres
Wissen zu erzeugen, läßt sich nur auf dem Weg der paideia erreichen, doch diese
paideia unterliegt besonderen Bedingungen. Der Philosoph muß dafür Sorge tragen,
daß das Wissen, das er generieren will, die Psyche seines Schülers unmittelbar affi-

44
Vgl. Jürgen Mittelstraß: Versuch über den sokratischen Dialog. In: Das Gespräch. Hg. von
Karlheinz Stierle und Rainer Warning. München 1984 (Politik und Hermeneutik. Bd. 11).
S. 11-27, hier: S. 11.
45
Es ist das Verdienst Pierre Hadots, die entscheidende Bedeutung dieser lebenspraktischen
Dimension antiken Philosophierens herausgestellt zu haben. Wer in der antiken Philosophie
nur nach Antworten auf theoretische Fragen sucht, unterliegt demnach einem gravierenden
Mißverständnis. Die antike Philosophie versteht sich in erster Linie nicht als theoretische
Spekulation, sondern als eine Lebensform. Vgl. P. Hadot: Exercices spirituels et philosophie
antique. Paris 2 1987; ders.: Qu'est-ce que la philosophie antique? Paris 1995.
46
Platon: Phaidros 278a.
47
Ebd. 276a.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 43

ziert und dort zugleich auch Fuß faßt, daß es auf das Denken, Fühlen und Streben
seines Zöglings Einfluß gewinnt, ja seine ganze Lebensführung bestimmt. In diesem
Sinne stellt Piaton der als oberflächlich disqualifizierten paideia der Sophisten, die
ihren Schülern die Tugend in Form eines dogmatischen Lehrstoffs zu vermitteln
suchen, seine philosophische »Kunst der Umlenkung« entgegen - eine Kunst, die
darauf abzielt, die Persönlichkeit des Lernenden von Grund auf zu transformieren
und ihn eben dadurch mit der Einsicht in das Wahre zu begaben. 48 Die Philosophie
produziert also Wissen, indem sie Subjekte konstituiert; sie konstituiert Subjekte,
indem sie diese einem machtvollen und dynamischen Wissen unterwirft. Piaton
fordert eine philosophische Praxis, welche die Bildung von Wissen und die Formung
von Subjekten zur Einheit zusammenführt.
Die Idealvorstellung eines ungegenständlichen Wissens, das den Wissenden
in das teleologisch geordnete Seinsgefüge integriert, und das daraus abgeleitete
Postulat der Einheit von Wissensbildung und Subjektkonstitution begründen den
Vorrang, den die antike Philosophie der mündlichen Unterweisung gegenüber der
schriftlichen Lehre einräumt. Das Ziel der paideia besteht darin, Wissen direkt in
der Seele des Schülers hervorzubringen und zu habitualisieren. Die angestrebte Un-
mittelbarkeit der Wissensbildung scheint den Gebrauch des Mediums Schrift von
vorneherein auszuschließen, denn die Schrift ist das Instrument par excellence der
Vergegenständlichung von Wissen. 49 Der geschriebene logos scheint in seiner Ma-
terialität, Räumlichkeit und Äußerlichkeit dem Habitus-Wissen, das als integraler
Bestandteil der Psyche gedacht wird, diametral entgegenzustehen. Doch die pole-
mische Schärfe, die Piaton seiner Schriftkritik verleiht, entzündet sich nicht zuletzt
an der Beobachtung, daß der vermeintliche Gegenpol wahren Wissens diesem in
mancherlei Hinsicht täuschend ähnlich sieht. Die Materialität des Geschriebenen
verschafft dem schriftlich fixierten Wissen den Anschein von Selbständigkeit und
Substantialität. Sie suggeriert, daß Wissen auch unabhängig von der Person des
Wissenden bestehen kann. Die scheinbare Autarkie des Schriftstücks erweckt den

48
Piaton: Politeia 518d.
49
Vgl. Walter J. Ong.· Orality and Literary. The Technologizing of the Word. London and New
York 1982. S. 43f.: »Writing fosters abstractions that disengage knowledge from the arena
where human beings struggle with one another. It seperates the knower from the known«.
Ong referiert mit dieser Aussage die These, die Eric A. Havelock seiner Untersuchung über
die medientechnologischen Voraussetzungen der griechischen Philosophie zugrunde legt. Laut
Havelock kann das analytische Denken, das auch und gerade für das platonische Philosophieren
bestimmend sei, nur in einer hochentwickelten Schriftkultur entstehen. Die dialektischen
Operationen und BegrifFsanalysen, die Piaton durchführt, beruhen demnach auf der Mög-
lichkeit, das Denken mittels Schrift zu vergegenständlichen. Vgl. Ε. A. Havelock: Preface to
Plato. Cambridge/Mass. 1963. - Havelocks Befund scheint der Annahme zu widersprechen,
daß die antike Philosophie primär auf die Herstellung eines ungegenständlichen Wissens
abziele. Tatsächlich ist dieser Widerspruch aber, wie im folgenden dargelegt werden soll, für
die antike Philosophie selbst kennzeichnend. Sie setzt wahres Wissen mit ungegenständlichem
Wissen gleich, bringt aber letztlich doch nur gegenständliche Formen des Wissens hervor, die
ihre Gegenständlichkeit zu verschleiern suchen.
44 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Eindruck, als verweise das Geschriebene nicht bloß auf ein Wissen, sondern als sei es
selbst dieses Wissen, als sei das Wissen in ihm verkörpert. 50 Mehr noch: Das eigent-
liche Skandalon der Schrift besteht laut Piaton darin, daß sie sich das Ansehen des
Lebendigen zu geben vermag. Wie die Malerei stellt auch die Schriftstellerei »ihre Aus-
geburten hin als lebend «, und zwar mit Erfolg: »Du könntest glauben, sie sprächen,
als verstünden sie etwas [δόξαις μεν αν ώς τι φρονοΰντας αυτούς λεγειν]«. 51 Das
Geschriebene erzeugt also nicht nur die Illusion, Wissen zu verkörpern, es täuscht
zudem auch vor, selbst wissend und verständig zu sein, selbst etwas lehren zu können.
Die Gefahr, die von der Schrift ausgeht, besteht demnach nicht bloß darin, daß sie
Wissen vergegenständlicht. Bedrohlicher noch erscheint ihre Fähigkeit, ihre eigene
Gegenständlichkeit zu verbergen. Sie gibt sich nicht als das tote Objekt zu erkennen,
das sie in Wirklichkeit ist. Die Macht der Schrift erweist sich als eine Spielart jener
Täuschungsmacht, die Piaton mit der Rhetorik der Sophisten assoziiert. Piaton
unternimmt daher den Versuch, die Täuschungsmanöver der Schrift zu entlarven.
Zum einen will er zeigen, daß sie ein bloßes »Schattenbild [εΐδωλον]« ist, ein totes
Abbild, das dem Abgebildeten gegenüber äußerlich bleibt und dieses folglich - ganz
im Gegensatz zur »lebende[n] und beseelte[n] Rede des wahrhaft Wissenden« - ge-
rade nicht zu verkörpern vermag.52 Zum anderen desavouiert er die vermeintliche
Autarkie des Geschriebenen: Tatsächlich, so argumentiert er, ist die Schrift gar nicht
dazu fähig, eine selbständige Existenz zu führen. An den Wortlaut gefesselt, den sie
dem Wissen verleiht, kann sie sich gegen Angriffe nicht verteidigen; auf Fragen, die
ihr gestellt werden, antwortet sie stets »doch nur ein und dasselbe«: So »bedarf sie
immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder imstande sich zu schützen noch
sich zu helfen.« 53 Eben diese Fähigkeit, sich gegen wen auch immer zur Wehr zu
setzen, das Vermögen, flexibel auf die unterschiedlichsten Situationen zu reagieren,
ist laut Piaton eine wesentliche Eigenschaft wahren, mit der Person des Wissenden
zur Einheit verschmolzenen Wissens. Die Schrift entbehrt dieser Eigenschaft. Hilflos,
kraftlos und tot, vermag sie kein wirkliches Wissen mitzuteilen, sondern nur mit dem
Schein des Wissens zu täuschen. Diejenigen, die diesem Schein erliegen, werden sich
»vielwissend zu sein dünken, obwohl sie doch unwissend größtenteils sind und schwer
zu behandeln, nachdem sie dünkelweise geworden sind statt weise.«54 Der wahrhaft
Wissende hingegen, der den Scheincharakter der Schrift durchschaut, gesteht ihr im
Rahmen der paideia allenfalls eine untergeordnete Funktion zu. In dem Bewußtsein,
daß sie ein bloßes Abbild darstellt, reduziert er sie auf den Status einer Gedächtnis-
hilfe. Geschriebene Reden dienen »demjenigen zur Erinnerung, der schon das weiß,
worüber sie geschrieben sind.« 55

50 Vgl. W. Wieland: Piaton und die Formen des Wissens. S. 20f.


51 Piaton: Phaidros 2 7 5 d (Hervorhebung von mir, Ch. M.).
52 Ebd. 276a.
53 Ebd. 275e.
54 Ebd. 2 7 5 a - b .
55 Ebd. 275d.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 45

Doch auch als bloßes Hilfsmittel der Erinnerung stellt die Schrift noch eine Be-
drohung fur den Wissenden dar. Die vermeintliche Beständigkeit des Geschriebenen
kann ihn dazu verleiten, sein Wissen der Schrift zur Verwahrung anzuvertrauen und
somit sein eigenes Gedächtnis zu vernachlässigen.56 Das Gedächtnis ( m n e m e ) gilt
Piaton aber gerade als ein lebendiges Organ wahren Wissens. Es ist nach seinem
Verständnis mehr als ein bloßes Speicherinstrument, welches das ihm einmal Anver-
traute getreulich aufbewahrt. Die Wissensinhalte werden in der mneme nicht bloß
deponiert, um sie bei Bedarf abzurufen.57 Piatons Gedächtnis-Konzeption orientiert
sich weder an dem Modell des Schatzhauses oder des Magazins noch an demjenigen
der Wachstafel und der Einprägung. 58 Diese Modelle verleihen dem Gedächtnis
eine räumliche Struktur; sie implizieren mithin die Vergegenständlichung des zu
bewahrenden Wissens, die ja gerade vermieden werden soll.59 Als bloßes Depositum,
das an seiner Aufbewahrungsstätte ruht und auf seine Ingebrauchnahme wartet,
unterscheidet sich der Gedächtnisinhalt nur wenig von der starren Dinglichkeit des
Geschriebenen. Ein Wissen, über das der Wissende auf diese Weise verfugt, bleibt ein
toter Besitz. Piaton bestimmt die mneme daher als eine dynamische Form der Auf-
bewahrung. Sie soll dem Wissen in der Seele des Wissenden keine ruhende, latente,
sondern eine aktive, lebendige Präsenz verschaffen. Erinnerung ist kein sporadischer
Akt der Vergegenwärtigung. Vielmehr soll die mneme dem Wissen zu kontinuierli-
cher Wirksamkeit verhelfen. Idealiter hat sie, wie Jacques Derrida in seiner Analyse
des Phaidros herausarbeitet, die Form einer beständigen Anspannung der Seele, die
sich dem Wahren (den Ideen) permanent zugewandt zu halten versucht. Die Schrift
bedroht diese dynamische Seelenhaltung:
c'est cette vie de la memoire que lepharmakon de l'ecriture viendrait hypnotiser [...]. Confiante
dans la permanence et Γ independence de ses types (tupoi), la memoire s'endormira, ne se tiendra
plus, ne tiendra plus ä se tenir tendue, präsente, au plus proche de la verite des etants.60

Als wissend gilt mithin nicht derjenige, der seine Kenntnisse schnell abrufen kann.
Wahres Wissen besteht vielmehr in einer inneren Tätigkeit des Bewahrens, einem
angespannten Sich-Halten der Seele. Die platonische Schriftkritik impliziert die
Unterscheidung zwischen einem passiven, gegenständlichen und einem aktiven,
ungegenständlichen Gedächtnis. Aristoteles und die Stoiker machen sich diese Un-
terscheidung zu eigen. Die von ihnen propagierte Seelenhaltung (hexis) markiert eine

56 Ebd. 275a.
57 Vgl. Herwig Blum: Die antike Mnemotechnik. Hildesheim und New York 1969. S. 63: Das
Bewahren ist bei Piaton »kein gesichertes Ruhen oder Deponiertsein.«
58 Das Wachstafelgleichnis wird im Theaitetos erörtert, aber als inadäquat verworfen. Vgl. Pia-
ton: Theaitetos 191d-197a. - Z u den Gedächtnismodellen vgl. Harald Weinrich: Typen der
Gedächtnismetaphorik. In: Archiv für BegrifFsgeschichte 9 (1964). S. 23—26.
55 Aus diesem Grund lehnt Piaton die Mnemotechnik und ihre Gedächtnisarchitekturen ab.
Vgl. Piaton: Hippias maior 285e.
60 Jacques Derrida: La pharmacie de Piaton. In: ders.: La dissemination. Paris 1972. S. 69—198,
hierS. 119f.
46 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

dynamische Form der Wissensspeicherung. Wenn Aristoteles das Strebevermögen


zum tragenden Element des sittlichen Wissens erklärt, dann dynamisiert er dieses
Wissen. Die Seele hält das sittliche Wissen in Gestalt eines fortwährenden Strebens,
einer stetigen Ausrichtung des Wissens präsent. 61 Dies gilt erst recht für die diathesis
der Stoiker: Sie ist, wie Maximilian Forschner aufzeigt, keine bloße Handlungsdis-
position, die der Aktualisierung durch konkreten Handlungsvollzug bedarf, vielmehr
ist sie selbst ein aktuelles inneres Handeln, eine unablässige seelische Tätigkeit des
Prüfens und Urteilens. 62 Die aristotelische phronesis und die stoische diathesis sind
wie die platonische mneme dynamische Formen des Wissens. Die Schrift gilt als
moralische Bedrohung, weil sie diese innere Dynamik zum Erliegen bringen kann.
Sie befördert die seelische Trägheit und verführt zu dem Irrglauben, daß es genügt,
Wissen zu besitzen, um wissend zu sein. 63
Die Schrift scheint somit als Instrument der ethischen paideia ungeeignet zu sein.
Ein kraftloses Abbild wahren Wissens, ist sie offenbar nicht dazu fähig, die geforder-
te »Umlenkung« und Transformation der Seele zu bewirken. Eine Konversion zur
philosophischen Lebensform, die allein durch die Lektüre von Schriften ausgelöst
wird, ist unter dieser Voraussetzung kaum vorstellbar. Geschriebene logoi können
kein wahres, mit der Psyche verwachsenes Wissen begründen - im Gegenteil, sie
drohen die bereits bestehenden Seelenhaltungen zu schwächen und zu zerstören. Die
Weitergabe wahren Wissens scheint nur unmittelbar von Seele zu Seele erfolgen zu
können. Dem Ideal der Einheit von Wissensbildung und Subjektkonstitution korres-
pondiert daher das Ideal einer ethischen paideia, die auf den Gebrauch des Mediums
Schrift verzichtet. Diese ideale paideia soll sich der mündlichen Rede bedienen, die
- im Gegensatz zur geschriebenen - als lebendig und beseelt angesehen wird und
einen direkten Zugang zur Wahrheit verheißt. 64 Vor allem aber soll der Lernende
von der unmittelbaren Gegenwart eines Lehrers profitieren, der das wahre Wissen
in seiner Person und in seinem Handeln verkörpert. Die Bildung sittlichen Wissens
beruht demnach auf dem dauerhaften, persönlichen Umgang des Lehrers mit sei-

61 Das Tugendwissen ist bei Aristoteles somit ein Zwischending zwischen passiver Disposition
und aktivem Handeln. Vgl. G. Funke: Gewohnheit. S. 48: »Die Tugend ist selbstverständlich
[...] kein passives Vermögen. Dennoch ist sie auch andererseits nicht selbst Tätigkeit-vielmehr
erweist sie sich als >Kraft<.« Die Tugend ist zwar selbst keine Tätigkeit, doch wenn sich das
Individuum nicht kontinuierlich tugendhaft betätigt (wenn es sich nicht übt), ergeht es der
Tugend nicht anders als der platonischen mneme·. Die hexis bildet sich zurück, die Tugend
verschwindet, die Kraft erlahmt. Vgl. Nikomachische Ethik 1105a.
62 Vgl. M. Forschner: Die stoische Ethik. S. 66, S. I l 6 f . - Die stoische diathesis ist also nicht
bloß eine Kraft (dynamis), sondern ein aktives Wirken (energeia).
63 Seneca unterscheidet dementsprechend zwischen aktiver Wissenshaltung und passivem
Gedächtnis: » [A]liud autem est meminisse, aliud scire. Meminisse est rem commissam me-
moriae custodire; at contra scire est et sua facere quaeque nec ad exemplar pendere et totiens
respicere ad magistrum.« (Lucius Annaeus Seneca: Ad Lucilium epistulae morales. Edited by
L. D. Reynolds. Bd. 1. Oxford 1965. Ep. 33.8.).
64 Piaton: Phaidros 276a.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 47

nem Schüler, auf der direkten Interaktion im Gespräch, in der ethischen Praxis und
im alltäglichen Zusammenleben. Dieses Ideal der paideia ist erstaunlich langlebig.
Es scheint während der gesamten Antike seine Gültigkeit zu behalten. Ein halbes
Jahrtausend, nachdem Piaton im Phaidros sein Verdikt über die Schrift geäußert
hat, taucht es etwa wie selbstverständlich in den Überlegungen zur geeigneten Form
ethischer Unterweisung wieder auf, die der Stoiker Lucius Annaeus Seneca gegen-
über seinem Freund und Schüler Lucilius anstellt. Seneca reagiert auf den Wunsch
seines Schützlings, sich durch die Lektüre philosophischer Schriften zu bilden. Zwar
kommt er seinem Wunsch nach und übersendet ihm einige Texte, die er zu diesem
Zweck für geeignet hält, doch er rät ihm zugleich von seinem Vorhaben ab:
Plus tarnen tibi et viva vox et convictus q u a m oratio proderit; in rem praesentem venias
oportet, p r i m u m quia homines amplius oculis q u a m auribus credunt, deinde q u i a l o n g u m
iter est per praecepta, breve et efficax per exempla. Z e n o n e m Cleanthes non expressisset, si
cantummodo audisset: vitae eius interfuit, secreta perspexit, observavit illum, an ex formula
sua viveret. Piaton et Aristoteles et omnis in diversum itura sapientium turba plus ex moribus
quam ex verbis Socratis traxit [...]. 6 5

Seneca zeichnet ein Idealbild der philosophischen Unterweisung. Die geistige und
physische Präsenz des Lehrers, der das zu erwerbende Wissen in seinem Charakter
verkörpert und in seiner Lebensführung paradigmatisch vorfuhrt, macht demzufolge
den langen Weg schulmäßiger Belehrung überflüssig. Zwischen dem Schüler und
seinem Lehrer steht keine Doktrin, kein Korpus von Dogmen und Regeln. Vielmehr
wirkt das dem Schüler stets vor Augen stehende praktische Beispiel des Lehrers
unmittelbar wissens- und seelenbildend. Das sittliche Wissen überträgt sich ohne
Verlust von einem auf den anderen, so daß der Schüler schließlich den Lehrer inkor-
poriert: Zenon lebt in Kleanthes fort. Seneca skizziert das Phantasma einer absoluten
Tradition, eines Überlieferungsgeschehens, das jenseits aller Vermittlungsinstanzen
abläuft.66 Ist zu Beginn der zitierten Passage noch von der lebendigen Stimme (»viva

65 L. Annaeus Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 6.5f. (»Mehr dennoch wird dir die lebendige
Stimme und unser Zusammensein nützen als meine Ausführungen: an Ort und Stelle m u ß t
du kommen, erstens, weil die Menschen mehr den Augen als den Ohren trauen, zweitens, weil
lang der Weg ist über Belehrung, kurz und wirksam über Beispiele. Den Zenon hätte Kleanthes
nicht verkörpern können, w e n n er ihn nur gehört hätte: an seinem Leben hatte er Anteil, in
seine geheimen Gedanken hatte er Einblick, beobachtet hat er ihn, ob er nach seiner Regel
lebe; Piaton und Aristoteles u n d die ganze Schar der Philosophen, die sich in verschiedene
Richtungen entwickeln sollte, haben mehr aus dem Charakter als aus den Worten Sokrates'
Gewinn gehabt«. [L. A. Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und Deutsch. Hg. und
übersetzt von M a n f r e d Rosenbach. Bd. 3. Darmstadt "1995· S. 33.]).
66 Den Begriff der absoluten Tradition entnehme ich Patrice Loraux: L'art platonicien d'avoir l'air
d'ecrire. In: Les savoirs de l'ecriture en Grece ancienne. Sous la direction de Marcel Detienne.
Lille 1988 (Cahiers de philologie. Bd. 14). S. 420—455. — Z u m Topos der lebendigen S t i m m e
und zum hohen Stellenwert oraler Überlieferung in den hellenistischen Philosophenschulen,
insbesondere aber im Stoizismus, vgl. Loveday Alexander: T h e Living Voice. Scepticism
towards the Written Word in Early Christian and in Graeco-Roman Texts. In: T h e Bible in
Three Dimensions. Essays in Celebration of Forty Years of Biblical Studies in the University
of Sheffield. Edited by David J. A. Clines, Stephen E. Fowl and Stanley E. Porter. Sheffield
1990. S. 2 2 1 - 2 4 7 , hier: S. 2 3 0 - 2 3 7 .
48 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

vox«) die Rede, die als ein der Schrift überlegenes Kommunikationsmedium geprie-
sen wird, so werden Stimme und Ohr bald durch das Auge verdrängt. Die visuelle
Wahrnehmung suggeriert eine noch größere Unmittelbarkeit: als könne die schiere
Gegenwart des Lehrers formend und belehrend auf die Seele des beobachtenden
Schülers einwirken; als bringe sich das sittliche Wissen im Blickkontakt zwischen
Mentor und Zögling von selbst zur Geltung. Das wahre Wissen tritt in Gestalt der
Person des Wissenden sichtbar in Erscheinung; es findet durch die Augen direkten
Eingang in die Seele des Lernenden. Das epistemologische Postulat der sich selbst
darbietenden, durch Schau zu erfassenden Wahrheit des Seienden hat seine psy-
chagogische Entsprechung im Ideal der unvermittelten, durch Stimme und Blick
gestifteten Lehrer-Schüler-Beziehung. 67
Doch das Lob der Unmittelbarkeit, das Seneca nicht ohne Bedacht in einem der
ersten Briefe aus der Sammlung der Epistulae morales artikuliert, hat ein paradoxes
Ansehen. Denn es markiert den Ausgangspunkt eines Bildungsprojekts, bei dem aus-
schließlich mit den Mitteln schriftlicher Darstellung operiert wird. Lucilius kommt
eben nicht in den Genuß der persönlichen Gegenwart seines Lehrers; sein Bildungs-
gang wird aus der Ferne gesteuert - durch die Briefe, die Seneca ihm in dichter Folge
zukommen läßt. Lucilius konstituiert sich als Wissens- und Moralsubjekt, indem er
liest. Das psychagogische Verfahren, das der Briefschreiber zur Anwendung bringt,
widerspricht dem eingangs gezeichneten Idealbild philosophischer Unterweisung.
Eine ähnliche Unstimmigkeit kennzeichnet auch Piatons Umgang mit der Schrift:
Seine Schriftkritik wird in schriftlicher Form vorgetragen; die rigorose Ablehnung
der Schrift hindert ihn nicht daran, ausgiebig von ihr Gebrauch zu machen.
Dieser Widerspruch zwischen dem Idealbild ethischer Unterweisung und der
schriftstellerischen Tätigkeit, die solche Bilder konstruiert, wirft eine Reihe von
Fragen auf. Zu fragen wäre zunächst, ob diese Bilder tatsächlich als Idealvorstellun-
gen anzusehen sind, die mit der Realität der psychagogischen Praxis nichts zu tun
haben. Entsprechendes gilt für das grundlegende Konzept des ungegenständlichen
Wissens und für die immer wieder geforderte Einheit von Wissensbildung und
Subjektkonstitution. Handelt es sich dabei um theoretische Konstrukte, die - trotz
des behaupteten Praxisbezugs - nur als Elemente eines abgehobenen Diskurses zu
verstehen sind? Oder sind sie als verbindliche Zielvorgaben aufzufassen, an denen
sich die antike Praxis der Wissens- und Subjektbildung tatsächlich orientiert? Ist
die ethische paideia darum bemüht, diese Konzepte umzusetzen? Wenn dies der
Fall sein sollte, so ergibt sich das Problem, wie der Widerspruch zwischen der
Schriftkritik und der praktischen Indienstnahme des Geschriebenen aufzulösen ist.
Da Piaton und Seneca sich schriftstellerisch betätigen, müßte man in diesem Fall

67
Zur antiken Konzeption der sich selbst darbietenden Wahrheit und der damit verbundenen
visuellen Metaphorik vgl. H . Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der
philosophischen BegrifFsbildung. In: Studium Generale 10 (1957). S. 4 3 2 - 4 4 7 .
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 49

davon ausgehen, daß bestimmte Typen schriftlicher Mitteilung dem Verdikt gegen
das Geschriebene nicht unterliegen. Welche Funktion erfüllen diese geschriebenen
Texte im Rahmen der ethischen paideiäi Gibt es spezifische Formen und Techni-
ken schriftlicher Darstellung — etwa die Dialogform bei Piaton, die Briefform bei
Seneca - , die es erlauben, dem Geschriebenen seine bedrohliche Gegenständlichkeit
zu nehmen? Ist es möglich, die erstrebte Unmittelbarkeit im Medium der Schrift
zu simulieren? Sind auf der anderen Seite bestimmte Lektüreverfahren denkbar,
mit deren Hilfe der Leser schriftlich vermitteltes Wissen in eine Seelenhaltung zu
transformieren vermag?
Wenn man diese Möglichkeiten zugesteht, stößt man gleichwohl auf ein weiteres,
diesmal grundsätzliches Problem. Das eigentliche Skandalon der Schrift besteht
laut Piaton nicht in ihrer Gegenständlichkeit, sondern in ihrer Fähigkeit, diese zu
verschleiern. Wer im schriftlichen Diskurs die Illusion von Unmittelbarkeit zu erzeu-
gen sucht, bedient sich also eben jener Täuschungsmacht, die Piaton als skandalös
brandmarkt. Was aber ist von einer Wahrheit zu halten, die auf Täuschungsmittel
zurückgreifen muß, um sich zur Geltung bringen zu können? Der Widerspruch
zwischen dem Idealbild mündlicher Unterweisung und der Praxis, die den Schrift-
gebrauch einschließt, ist dazu angetan, einen Verdacht zu erregen. Vielleicht ist es gar
nicht so, daß die Schrift das ungegenständliche Wissen in seinem Bestand bedroht
und an der Entfaltung seiner subjektivierenden Kraft hindert, sondern es verhält
sich umgekehrt: Das Wissen bedarf geradezu des Hilfsmittels der Schrift, um eine
solche Wirkung überhaupt erzielen zu können, und die Verschleierung seiner Ge-
genständlichkeit ist ein Bestandteil dieser Wirkungsstrategie. U m diesem Verdacht
nachgehen und die Bedeutung von Schrift und Lektüre für die Konstitution des
antiken Moralsubjekts ermitteln zu können, ist es jedoch nötig, den methodischen
Zugriff auf die Textzeugnisse der griechischen und römischen Ethik zu modifi-
zieren. Es genügt nicht, sich an den programmatischen Äußerungen der antiken
Philosophen zu orientieren. Diese müssen vielmehr in ihrem spannungsvollen
Wechselverhältnis zur psychagogischen und pädagogischen Praxis analysiert werden.
Die dazu erforderliche methodische Orientierung soll im folgenden in der kritischen
Auseinandersetzung mit dem Spätwerk des französischen Kulturhistorikers Michel
Foucault erarbeitet werden.

2. Ein Goldenes Zeitalter der Selbstkultur?


Michel Foucaults Interpretation der antiken Ethik

Gibt es ein antikes Selbst?

Es war bislang mit einer gewissen terminologischen Unbefangenheit von der Kon-
stitution des antiken Moralsubjekts, der Formung des ethischen Selbst und der
Subjektivierung des Individuums die Rede. Inwiefern aber ist es überhaupt statthaft,
50 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

diese Begriffe im Kontext der antiken Philosophie und Ethik zu verwenden? Sie
suggerieren die Existenz einer autonomen, unabhängigen Entität des Subjekts und
lassen sich folglich nur schwer mit dem Glauben an eine substantielle Seinsordnung
vereinbaren, innerhalb derer dem menschlichen Wesen eine feste Position je schon
vorgezeichnet ist. Als Teil dieser Ordnung scheint es dem Individuum verwehrt
zu sein, ein unmittelbares Selbstverhältnis, eine Beziehung reiner Reflexivität zu
etablieren. Selbsterkenntnis ist vielmehr immer gebunden an Welterkenntnis; Welt-
erkenntnis enthält immer eine reflexive Komponente. Ein reflexiver Akt, der das
menschliche Individuum als Erkenntnisobjekt isoliert, vergegenständlicht das Selbst
und löst es aus dem vorgegebenen Ordnungsgefüge heraus. Die antike Philosophie
favorisiert jedoch ein nicht-gegenständliches Wissen, das auf der Identifikation des
Wissenden mit seinem Wissen beruht und seine Integration in die zu erkennende
Ordnung gewährleisten soll. Der Wissende macht dabei weder die Welt noch sich
selbst zum Gegenstand ACT Erkenntnis. Die Nominalisierung des Reflexivpronomens,
so argumentiert Charles Taylor, ist als ein dezidiert neuzeitliches Phänomen anzuse-
hen: Dem antiken Denken sei die Vorstellung einer eigenständigen, aus der Einbin-
dung in Ordnungszusammenhänge heraustretenden Instanz des Selbst fremd. 68
Doch diese Einschätzung ist keineswegs unumstritten. In der Philosophie- und
Kulturgeschichtsschreibung etwa ist es seit längerem üblich, zwischen dem Denken
des klassischen Zeitalters und der Ethik der hellenistischen Philosophenschulen zu
differenzieren: Während ersteres die normative Geltung einer präexistenten Weltord-
nung postuliere und die Eudämonie des menschlichen Individuums an die Verwirkli-
chung seines naturhaft vorgegebenen Wesensziels knüpfe, werde der Kosmos von den
letzteren zunehmend als gleichgültig angesehen; die Vorstellung eines geordneten
Weltganzen habe keine normative, sondern nur noch eine instrumenteile Funktion
und trage zur Beruhigung des Individuums bei, welches sein Glück in eben diesem
Gefühl der Unbelangbarkeit und Unabhängigkeit, nicht aber in der Aktualisierung
einer teleologischen Vorgabe finde.69 Diese Verinnerlichung der Eudämonie und
die sie begleitende Neutralisierung der Weltordnung gilt als Indiz einer allgemeinen
Tendenz der Individualisierung, die in vielen Bereichen der hellenistischen Kultur

68 C . Taylor: Sources o f the Self. S. 113.


" Zur individualistischen Ausrichtung der hellenistischen Philosophie vgl. die zusammenfassen-
den Ausführungen bei Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus
und Skepsis. München 1985 (Geschichte der Philosophie. Bd. III). S. 32—39. DieTendenz zur
»Neutralisierung« des Kosmos in der hellenistischen Philosophie untersucht Hans Blumenberg:
Die Legitimität der Neuzeit. S. 205f., S. 303—318. — Den instrumentellen, >beruhigungsthera-
peutischen< Charakter, der den Welterklärungsmodellen und dem kosmologischen Wissen in
der hellenistischen Ethik, insbesondere aber bei den Epikureern zukommt, beleuchtet Martha
C. Nussbaum: T h e Therapy o f Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics. Princeteon
1994. S. 120—130. Nussbaum macht aber auch deutlich, daß die Instrumentalisierung des
Wissens und die Entwertung der Ordnungsmodelle keineswegs als ein generelles Merkmal
der hellenistischen Ethik angesehen werden kann. Vor allem die peripatetische und stoische
Philosophie hält an der Verbindlichkeit kosmologischer Ordnungskonzepte fest.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 51

ihre Spuren hinterlassen habe. Sie wird auf soziale und politische Ursachen zurück-
geführt, insbesondere auf den mit der alexandrinischen Herrschaft einsetzenden
Verfall der Polis-Strukturen, der das Individuum der Möglichkeit unmittelbarer
Teilhabe am öffentlichen Leben beraubt und die politische Ordnung als ethische
Bezugsgröße entwertet habe.70 Demnach gibt es zwar kein antikes, wohl aber ein
spezifisch hellenistisches Selbst, das seine Existenz dem Verfall kosmologischer wie
auch politischer Ordnungsstrukturen zu verdanken hat. Das Grundmuster dieser
historischen Deutung unterscheidet sich also nicht wesentlich von demjenigen
Taylors: Auch er koppelt die Entstehung von Subjektivität an den Verlust verbind-
licher Ordnungsschemata, datiert diesen jedoch auf den Beginn der Neuzeit. Die
hellenistische Tendenz der Entkosmisierung und Individualisierung erscheint somit
als Präfiguration der neuzeitlichen Geburt des autonomen Subjekts.71
Jüngere kulturgeschichtliche Forschungsarbeiten gehen in dem Bemühen, dem
neuzeitlichen Phänomen der Subjektivität eine antike Vorgeschichte zu verleihen,
noch einen Schritt weiter. Sie revidieren die historische Grenzziehung und verlegen
die Anfänge einer ethischen Problematisierung des Selbst in das klassische Zeitalter
zurück.72 Die Fraglosigkeit, mit der dabei auch im Kontext der sokratischen, plato-
nischen und aristotelischen Philosophie vom Selbst oder vom Subjekt gesprochen
wird, ist nicht zuletzt auf den Impuls zurückzuführen, der von dem ebenso ein-
flußreichen wie umstrittenen Spätwerk des französischen Kulturhistorikers Michel
Foucault ausgeht. Foucault wendet sich - für viele überraschend — im zweiten und
dritten Band seiner Histoire de la sexualite dem ethischen Diskurs der Antike zu. Die
antike Ethik, so lautet seine These, ist eine Ethik der Selbstsorge. Sie richtet sich
an eine privilegierte Bevölkerungsschicht, ermahnt die Angehörigen dieser Gruppe
zur Aufmerksamkeit auf die je individuelle Lebensführung und stellt das Wissen,
die Techniken, die geistige wie auch materielle Infrastruktur zur Verfügung, deren
der einzelne bedarf, um die eigene Persönlichkeit zum Gegenstand zielgerichteter,
aktiver und intensiver Pflege zu machen. Laut Foucault ist die Zentrierung auf das
Selbst sowohl für die Ethik des klassischen als auch für diejenige des hellenistischen
Zeitalters charakteristisch. Einen historischen Bruch vermag er nicht festzustellen;
der Hellenismus zeichne sich lediglich durch »une intensification du rapport ä soi«

70 Vgl. Michael Hauskeller: Geschichte der Ethik. Bd. 1. S. 133£, 190.


71 Vgl. aber Blumenberg (Die Legitimität der Neuzeit. S. 159-204), der die Differenzen zwischen
Spätantike und Neuzeit betont (hellenistische Innerlichkeit vs. moderne Selbstbehauptung).
Da Taylor auch, ja gerade das moderne Subjekt durch Innerlichkeit und Reflexivität gekenn-
zeichnet sieht, treten bei ihm diese Differenzen nicht so deutlich in Erscheinung.
72 Reto Luzius Fetz etwa tritt dem Befund Charles Taylors explizit entgegen und beruft sich
dabei auf den platonischen Dialog Alkibiades /, in dem eine streng systematische Begriffsbe-
stimmung des Selbst unternommen werde. Vgl. R. L. Fetz: Dialektik der Subjektivität: Die
Bestimmung des Selbst aus der Differenz von Ich und Mein, Sein und Haben: Alkibiades I,
Epiktet, Meister Eckhardt. In: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität.
Hg. von Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle und Peter Schulz. Bd. 1. Berlin und New
York 1998. S. 177-203, hier: S. 183.
52 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

aus, der seiner Struktur nach aber bereits in der Ethik des vierten vorchristlichen
Jahrhunderts vorgeprägt sei. 73 Er deutet den ethischen Diskurs der Antike mithin als
den institutionellen Rahmen einer hoch entwickelten, im Ubergang vom klassischen
zum hellenistischen Zeitalter nicht erst entstehenden, sondern sich verstärkenden
Kultur des Selbst. Laut Foucault ist es nicht nur möglich, von einem antiken Selbst
und von Ansätzen einer sich entfaltenden reflexiven Selbstbeziehung zu sprechen.
Die Antike markiert vielmehr die Blütezeit einer differenzierten Selbstkultur, die
sich allerdings in vielerlei Hinsicht radikal von den Erscheinungsformen moderner
Subjektivität unterscheidet.

G e n e a l o g i e des S u b j e k t s vs. Ä s t h e t i k der Existenz

Die Tragweite der Interpretation, der Foucault die antike Ethik unterzieht, wird erst
dann erkennbar, wenn man sie als Bestandteil eines großangelegten historiographi-
schen Projekts begreift, das zugleich politisch motiviert ist. Foucaults Rückwendung
zur Antike steht zum einen im Kontext seines Bestrebens, eine Genealogie des
modernen Subjekts zu erstellen. Z u m anderen weist er ihr eine paradigmatische
Bedeutung für eine spezifische Konzeption des Selbst zu, die mit emanzipatorischen
Aspirationen verknüpft ist. Genealogische Geschichtsschreibung und politisches, ja
ethisches Engagement gehen eine hybride Verbindung ein. 7 4 Die in Anlehnung an
Friedrich Nietzsche konzipierte Verfahrensweise der genealogischen Herleitung zielt
auf die radikale Historisierung vermeintlich transhistorischer, universaler D e n k -
und Handlungskategorien. 7 5 Die genealogische Analyse entlarvt Entitäten, die das
Ansehen einer natürlichen, vordiskursiven Gegebenheit besitzen, als das Produkt
kultureller Zeichensysteme und diskursiver Praktiken; sie weist die vermeintlich
unbedingten Ursprünge und Ursachen geschichtlicher Realitäten als bloße W i r -
kungen aus, die durch eine Vielzahl kontingenter Faktoren und unkontrollierbarer
Umstände bedingt sind.
Als Genealoge des Subjekts geht Foucault somit davon aus, daß dem Selbst kein
substantielles Sein zukommt, daß es sich nicht gegeben ist - weder als natürliche
noch als metaphysische oder transzendentale Instanz. Das Selbst ist vielmehr ein
kulturelles Artefakt, das im Zusammenspiel spezifischer diskursiver Praktiken,

73 Michel Foucault: Le souci de soi. S. 55.


74 In der Einleitung zum zweiten Band seiner Histoire de la sextialite, in der er seine überraschende
Hinwendung zur antiken Philosophie begründet, charakterisiert Foucault sein historiogra-
phisches Projekt explizit als ein ethisches Unterfangen: Die Beschäftigung mit der antiken
Vorgeschichte moderner Subjektivität, mit den Texten und Praktiken einer fernen Epoche
gilt ihm als »une >ascese<, un exercice de soi, dans la pensee.« Vgl. M . Foucault: L'usage des
plaisirs. S. 15.
75 Zur Methodik genealogischer Geschichtsschreibung vgl. M . Foucault: Nietzsche, l'histoire,
la genealogie. In: ders.: Dits et ecrits 1954—1988. Edition Stabile sous la direction de Daniel
Defert et Francois Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange. Bd. 2. Paris 1 9 9 4 .
S. 1 3 6 - 1 5 6 .
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 53

gesellschaftlicher Institutionen und Machtmechanismen hervorgebracht wird. Die


Tatsache, daß ein Individuum sich als eine mit sich selbst identische Person erfaßt,
markiert demnach keine originäre Selbsterfahrung, sondern ist bereits als Effekt des
diskursiven Apparats aufzufassen, der dem Individuum eine Identität einpflanzt. Laut
Foucault gibt es keine unmittelbare, natürliche Form der Selbstwahrnehmung, durch
die sich das Subjekt - spontan u n d außerhalb der Instanzen kultureller Vermittlung
— seines individuellen Seins versichern kann. Auch u n d gerade die Praktiken der
Introspektion sind kulturell determiniert. Sie bringen das Subjekt hervor, das sie zu
enthüllen vorgeben. Wer auf sich selbst reflektiert, sein Seelen- und Gefühlsleben
beobachtet, seinen Neigungen u n d W ü n s c h e n nachforscht, der ist kein passiver
Betrachter einer vorgegebenen Substanz, sondern er betätigt sich aktiv als Produ-
zent und Gestalter seines Selbst. Techniken dieser Art erzeugen die Illusion einer
Ontologie des Subjekts; sie vermitteln dem Individuum die täuschende Vorstellung,
die Identität zu sein, die es in Wirklichkeit nur hat, ja, die es durch die Anwendung
besagter Techniken allererst hervorbringt. Foucault deutet die Ontologie des Selbst
als wesentlichen Bestandteil einer spezifisch neuzeitlichen Machttechnologie, die
darauf abzielt, den einzelnen Menschen auf die - scheinbar präexistente, tatsächlich
aber künstlich induzierte - Wahrheit seiner selbst zu verpflichten. Der altehrwürdige
Imperativ »Erkenne dich selbst!« übernimmt im Rahmen der modernen Techniken
der Selbstkonstitution die Funktion, das Individuum an seine Identität zu fesseln; er
verleitet den einzelnen dazu, die Wahrheit seiner selbst als Schlüssel zur erfolgreichen
Lebensbewältigung aufzufassen, während er ihn tatsächlich dem Macht-, Kontroll-
und Disziplinierungsapparat einer Gesellschaft ausliefert, die ihre Mitglieder eben
dadurch beherrscht, daß sie sie zu Subjekten macht. 76
Wenn das Selbst als ein kulturelles Konstrukt anzusehen ist, so ergibt sich daraus
für den Genealogen die Verpflichtung, die Verfahrensweisen zu identifizieren und
historisch herzuleiten, derer sich eine bestimmte Kultur bedient, um Subjekte herzu-
stellen. Laut Foucault handelt es sich dabei in den modernen Gesellschaften des O k -
zidents vor allem um solche Verfahrensweisen, die den einzelnen Menschen einem
Regime der Wahrheit seiner selbst unterwerfen: Techniken der Beobachtung, der
Kontrolle, der Inquisition, der Beichte und des Geständnisses, die vorgeblich darauf
hinwirken, das wahre Sein eines Individuums zu ergründen, dieses aber dadurch erst
- als Effekt und als Organ einer Machtstruktur - konstituieren. Foucault n i m m t
dieses genealogische Projekt zunächst in seinen Studien Surveiller et punir (1975)
und La volonte de savoir (1976) in Angriff, die zwei wichtigen Bereichen neuzeitlicher
Subjektkonstitution gewidmet sind: der Strafjustiz und der Sexualität. Dabei ver-
sucht er aufzuzeigen, wie innovative Überwachungs- und Kontrollmechanismen mit

76
Vgl. M. Foucault: Afterword. T h e Subject and Power. In: Hubert L. Dreyfus / Paul Rabinow:
Michel Foucault. Beyond Structuralism and Hermeneutics. Chicago 2 1983. S. 208-226, hier:
S. 212.
54 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

dem Erkenntnisapparat der H u m a n - und Biowissenschaften konspirieren, um eine


spezifische Form von Subjektivität als Vehikel einer alle gesellschaftlichen Bereiche
infiltrierenden, produktivitäts- und lebenssteigernden M a c h t hervorzubringen.
In seinen Schriften aus den späten siebziger und den achtziger Jahren hält Fou-
cault zwar vordergründig an seinem Vorhaben fest, das neuzeitliche S u b j e k t auf
seine konstitutiven Bedingungen zurückzuführen, vollzieht dabei jedoch einen fol-
genreichen Wechsel der Perspektive. I m Zentrum seiner Analysen stehen nun nicht
mehr die gesellschaftlichen Machtapparate, Diskurse und Institutionen, die Subjekte
produzieren, sondern die Individuen, denen eine eigenständige, ja schöpferische
Rolle bei der Konstitution des Selbst zugewiesen wird. D e n diskursiven »techniques
de domination«, die dem einzelnen eine bestimmte Identität implantieren und ihn
dem gesellschaftlichen Macht-Wissen-Komplex unterwerfen, wird mit den »techni-
ques de soi« eine zweite Kategorie von Techniken an die Seite gestellt. 77 Sie erlauben
es dem Individuum, auf sich selber einzuwirken, sich eine Identität zu erwerben,
die eigene Persönlichkeit zu gestalten und zu verändern. 7 8 Aus der Tatsache, daß das
Selbst keine substantielle Gegebenheit darstellt, schließt Foucault nun nicht mehr
auf den notwendigerweise kulturell und gesellschaftlich vermittelten Charakter der
Subjektkonstitution. Er legt vielmehr die Möglichkeit nahe, das Selbst als Resultat
einer eigenständigen, kreativen Leistung anzusehen, die jeder einzelne zu voll-
bringen hat. D e r Verlagerung des Blickwinkels von der gesellschaftlichen a u f die
individuelle Produktion des Selbst liegt eine gewandelte Auffassung des Subjekts
zugrunde. D e u t e t e Foucault das S u b j e k t zuvor als Effekt einer T e c h n o l o g i e der
M a c h t , die sich dem Individuum nicht b l o ß von außen aufprägt, sondern es un-
mittelbar in seinem seelischen und körperlichen Sein durchdringt und formiert,
einer M a c h t m i t h i n , die sich n i c h t einfach abschütteln läßt, so gesteht er dem
Individuum nun die Fähigkeit zu, sich von dem gesellschaftlichen Herrschafts-
apparat zu distanzieren und von den Techniken der Subjektivierung einen reflek-
tierten, kontrollierten G e b r a u c h zu machen. 7 9 D e m entspricht das Vermögen des
einzelnen, zu sich selbst in Distanz zu treten - das eigene Selbst zu objektivieren,
u m es einer bewußten Arbeit der Gestaltung zu unterziehen. D i e M e c h a n i s m e n

77 Zur Unterscheidung zwischen »techniques de domination« und »techniques de soi« vgl. M.


Foucault: Sexualite et solitude. In: ders.: Dits et icrits. Bd. 4. S. 168-178, hier: S. 170f.; ders.:
Technologies of the Self. In: Technologies of the Self. A Seminar with Michel Foucault. Edited
by Luther H. Martin, Huck Gutman and Patrick H. Hutton. Amherst/MA 1988. S. 16-49,
hier: S. 18.
78 »[Technologies of the self [...] permit individuals to effect by their own means or with the help
of others a certain number of operations on their own bodies and souls, thoughts, conduct,
and way of being, so as to transform themselves in order to attain a certain state of happiness,
purity, wisdom, perfection, or immortality.« (Ebd. S. 18).
79 Schon die Unterscheidung zwischen Machttechniken und Selbsttechniken verweist auf ein
neues Verständnis von Subjektivität. In Surveiller etpunir und La volonte de savoir wird eine
solche Unterscheidung nicht getroffen — Techniken der Selbstkonstitution sind dort immer
zugleich auch Machttechniken.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 55

der M a c h t w i r k e n nicht m e h r direkt a u f das I n d i v i d u u m ein, s o n d e r n v e r m i t t e l t


d u r c h ein reflexives S e l b s t v e r h ä l t n i s . 8 0 D i e s e s impliziert s o m i t eine f u n d a m e n t a l e
Freiheit: die Freiheit einerseits, sich von d e n gesellschaftlich u n d kulturell sankti-
onierten M u s t e r n subjektiver Identität loslösen, die Freiheit andererseits, ü b e r das
eigene Sein nach Belieben v e r f ü g e n zu k ö n n e n - aus sich selbst etwas m a c h e n , das
eigene Selbst als bewußt intendiertes W e r k erschaffen zu k ö n n e n . 8 1 L a u t F o u c a u l t
arbeitet der neuzeitliche Staat, der die T e c h n i k e n der christlichen P a s t o r a l m a c h t in
eine politische F o r m ü b e r f ü h r t , zwar d a r a u f hin, das I n d i v i d u u m an die W a h r h e i t
seiner selbst zu ketten u n d i h m die Freiheit zu verbergen, die es als p o t e n t i e l l e r
S c h ö p f e r seiner selbst besitzt. 8 2 D o c h die M ö g l i c h k e i t eines kreativen U m g a n g s
mit d e m Selbst ist g r u n d s ä t z l i c h i m m e r gegeben. D a s politische Interesse, d a s d e m
genealogischen Projekt F o u c a u l t s z u g r u n d e liegt, besteht darin, diese M ö g l i c h k e i t
wieder zur G e l t u n g zu b r i n g e n : »We have to p r o m o t e n e w f o r m s o f s u b j e c t i v i t y
through the refusal o f this k i n d o f individuality w h i c h has been i m p o s e d u p o n us
for several centuries.« 8 3

80 Zum Begriff des Selbstverhältnisses (»rapport ä soi-meme«), der in Foucaults Spätwerk von
zentraler Bedeutung ist, vgl. L'usage des plaisirs. S. 1 lf. — Gilles Deleuze weist auf die spezifische
Form von Reflexivität hin, die dem Foucaultschen Konzept des Selbstverhältnisses zugrunde
liegt. Vgl. G. Deleuze: Michel Foucault. Ubersetzt von Hermann Kocyba. Frankfurt a. M.
1987. S. 139f. Siehe dazu auch J. Dünne: Asketisches Schreiben. S. 12—20.
81 Foucault vermeidet es, den Begriff der Freiheit zu verwenden, würde dieser ihn doch in eine
gefährliche Nähe zu eben jener Subjektphilosophie phänomenologischer und existentialis-
tischer Prägung bringen, die er mittels seiner genealogischen Methode zu bekämpfen sucht.
Gleichwohl sind gewisse Affinitäten zwischen seiner Konzeption der Selbsttechnik und dem
Subjektbegriff Jean-Paul Sartres unübersehbar. Beide gehen davon aus, daß der Mensch sich
in seiner Wesenhaftigkeit nicht vorgegeben ist, sondern sich handelnd allererst herstellt:
»L'homme est seulement, non seulement tel qu'il se con^oit, mais tel qu'il se veut [...]; l'homme
n'est rien d'autre que ce qu'il se fait.« (Jean-Paul Sartre: L'existentialisme est un humanisme.
Paris 1970. S. 22.) Laut Foucault ist Sartre aber noch in einem essentialistischen Denken
befangen: »I think that from the theoretical point of view, Sartre avoids the idea of the self
as something which is given to us, but through the moral notion of authenticity, he turns
back to the idea that we have to be ourselves — to be truly our true self. I think that the only
acceptable practical consequence of what Sartre has said is to link his theoretical insight to the
practice of creativity — and not of authenticity.« Foucault fühlt sich von Nietzsches Idee der
Selbsterfindung sehr viel stärker angezogen als von Sartres Leitvorstellung der authentischen
Existenz. (Vgl. M. Foucault: On the Genealogy of Ethics: An Overview of Work in Progress.
In: H. L. Dreyfus / Paul Rabinow: Michel Foucault. S. 229-252, hier: S. 237.) - Während
Foucault die anthropologischen Implikationen seines Konzepts der Selbsttechnologie nicht
entfaltet, werden diese von seinen Epigonen mit um so größerer, mitunter vergröbernder
Deutlichkeit offen gelegt. Wilhelm Schmid zum Beispiel, dessen populäre Philosophie der
Lebenskunst durch das Spätwerk Foucaults inspiriert ist, führt die selbstschöpferische Aktivität
des Lebenskünstlers auf die vermeintlich unhintergehbare Autonomie des menschlichen Wesens
zurück: »Es ist dieses Konzept der autonomen Bestimmung des Menschen, auf das sich die
Philosophie der Lebenskunst bezieht.« Vgl. W. Schmid: Philosophie der Lebenskunst. Eine
Grundlegung. Frankfurt a. M. 5 1999. S. 81.
82 Zur pastoralen Seelsorge als Modell einer zugleich individualisierenden und disziplinierenden
Machtform und als Matrix moderner Machttechniken vgl. M. Foucault: »Omnes et singula-
tim«: vers une critique de la raison politique. In: ders.: Dits et ecrits. Bd. 4. S. 134-161.
83 M. Foucault: Afterword. The Subject and Power. S. 216
56 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Wenn sich Foucault in L'usage desplaisirs und Le souci de soi der antiken Ethik zu-
wendet, so geschieht dies zunächst mit der genealogischen Zielsetzung, »la lente forma-
tion, pendant l'Antiquite, d'une hermeneutique de soi« aufzudecken, die christlichen
und neuzeitlichen Verfahrensweisen der Subjektivierung mithin auf ihre altertümlichen
Wurzeln zurückzuführen.84 Es zeigt sich jedoch sehr schnell, daß Foucault an den
Übereinstimmungen zwischen den antiken und christlichen Techniken der Selbst-
konstitution wenig interessiert ist. Im Gegenteil, er bemüht sich darum, dem Kontrast
zwischen antiker Ethik und christlicher Moral möglichst scharfe Konturen zu geben.
Auf diese Weise erscheint die antike Selbstsorge schließlich nicht als Vorläuferin der
chrisdichen Selbsthermeneutik und ihrer modernen Abkömmlinge, sondern als eigen-
ständige historische Alternative. Die antike Ethik wird zum Gegenmodell der christli-
chen Pastoral- und der neuzeitlichen Disziplinarmacht stilisiert. Foucault verleiht ihr
das exemplarische Ansehen einer Selbsttechnologie, einer Anleitung zum überlegten,
zielgerichteten und verantwortlichen Umgang mit dem eigenen Leben und der eigenen
Persönlichkeit. Gegenüber der christlichen Moral zeichnet sie sich dadurch aus, daß
sie der Existenz des Individuums eine starke Struktur zu geben vermag, ohne sich auf
ein Rechtswesen, ein Autoritätssystem oder einen disziplinarischen Apparat beziehen
zu müssen.85 Während die christliche Pastoralmacht laut Foucault daraufhinwirkt, das
Individuum einem einheitlichen moralischen Code und der unbedingten Autorität
eines Seelsorgers zu unterwerfen, will die antike Ethik den einzelnen dazu befähigen,
die Herrschaft über sich selbst zu gewinnen.86 Sie stattet ihn mit den Techniken und
den Kenntnissen aus, die es ihm erlauben, eine souveräne Kontrolle über seine Leiden-
schaften und Triebe auszuüben. Gleichzeitig leitet sie ihn dazu an, die auf diese Weise
errungene Autonomie für alle sichtbar nach außen hin darzustellen. Laut Foucault
steht die antike Ethik der Selbstbeherrschung im Dienst einer Ästhetik der Existenz:
Das Individuum soll in die Lage versetzt werden, seinem Leben eine Form zu geben,
ja es zum Kunstwerk zu erhöhen.87 Verweisen die Triebe und Begierden das christliche
Subjekt auf die skandalöse Wahrheit seines sündhaften postlapsarischen Seins, die es
daher in einer unablässigen Aktivität der Seelenerforschung zu entschlüsseln gilt, so
bilden sie fiir das antike Subjekt das neutrale Ausgangsmaterial künstlerischer Selbst-
gestaltung.88 Sie entspringen einer Naturkraft, die an sich weder gut noch übel ist, der
gegenüber das Individuum sich jedoch als Herr seiner selbst zu erweisen hat.

84 M. Foucault: L'usage des plaisirs. S. 12.


85 M. Foucault: On the Genealogy of Ethics. S. 235; tiers.: L'hermeneutique du sujet. Cours au
College de France. S. 109f.
86 M. Foucault: L'usage des plaisirs. S. 27f., S. 38f. und passim.
87 Ebd. S. 17.
88 Ebd. S. 155f. und passim
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 57

Foucaults A b w e r t u n g der Selbsterkenntnis

Im Gegensatz zum christlichen Subjekt, dem die Instanzen der Pastoralmacht die
Verpflichtung auferlegen, eine Hermeneutik des Begehrens zu betreiben, und das
mithin auf das Trugbild einer vorgegebenen Wahrheit subjektiven Seins ausgerichtet
wird, tritt das antike Subjekt offen als Urheber und Gestalter seiner selbst in Erschei-
nung. Foucault sieht in ihm geradezu den Prototyp eines Selbst, das sich als etwas
Herzustellendes begreift, das sich — weitgehend unbedrängt von den Zwängen des
gesellschaftlichen Machtapparats, aber auch unbelastet von teleologischen Vorgaben
- dem Unterfangen widmen kann, seine eigene personale Identität wie ein Kunst-
werk zu erschaffen. Die antike Ethik wird zum Paradigma eines kreativen Umgangs
mit dem Selbst erhoben. Foucault nimmt somit eine extreme Gegenposition zu der
von Charles Taylor vertretenen Auffassung ein. Während dieser daran zweifelt, ob
es überhaupt statthaft ist, den Begriff des Selbst auf die antike Ethik anzuwenden,
deklariert jener die Antike zum goldenen Zeitalter einer entfalteten Selbstkultur. Tat-
sächlich scheint die Freiheit der Selbstgestaltung, die Foucault dem antiken Subjekt
unterstellt, nur schwer mit der Vorstellung einer präexistenten Seinsordnung verein-
bar zu sein, wie sie der platonischen, peripatetischen und stoischen Ethik zugrunde
liegt. Dieser Vorstellung zufolge ist sich das Selbst als Bestandteil der teleologisch
geordneten Welt wesenhaft vorgegeben. Wenn Aristoteles das Glück des Individuums
- den Zielpunkt aller sittlichen Anstrengungen - als »ein Tätigsein der Seele im Sinne
der ihr wesenhaften Tüchtigkeit« bestimmt, 89 so bringt er die Einbindung der Ethik
in eine übergreifende teleologische Struktur unmißverständlich zum Ausdruck: Die
glückliche, tugendhafte Existenz des einzelnen ist demnach gekoppelt an die Aktuali-
sierung seiner menschlichen Wesensnatur. Foucault deutet die ethische Formung, der
sich das antike Subjekt unterzieht, zwar auch als eine zielgerichtete Aktivität. Seiner
Auffassung nach ist das Individuum dabei jedoch gerade nicht auf ein vorgegebenes
Wesensziel bezogen. Vielmehr setztes sich ein Ziel: »[il] se fixe un certain mode d'etre
qui vaudra comme accomplissement de lui-meme«. 90 Das Subjekt findet dieses Telos
seiner moralischen Existenz nicht schon in sich vor, sondern es wählt eine bestimmte
Zielvorstellung, die es sich in einem bewußten Akt der Entscheidung - sozusagen
von außen — auferlegt. Im Hinblick auf dieses äußere Telos sittlicher Vollkommen-
heit, so erklärt Foucault, wirkt das Individuum dann verändernd auf sich selbst ein.
Die >Natur< des Subjekts, die dieser Einwirkung unterworfen wird, markiert somit
keine teleologische Wesensvorgabe. Sie ist nicht mehr als der Stoff, dem mit Hilfe
der ethischen Selbsttechniken eine bestimmte Form aufgeprägt werden soll. 91

89 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1098a.


50 M. Foucault: L'usage des plaisirs. S. 35.
" Foucault bezeichnet die Affekte, insbesondere aber das sexuelle Begehren als die »ethische
Substanz« (»la substance ethique«) des antiken Moralsubjekts, als den »Hauptstoff seines
moralischen Verhaltens« (»[la] matiere principale de sa conduite morale«). (L'usage des plaisirs.
S. 32).
58 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Diese zielgerichtete Arbeit der Gestaltung, so argumentiert Foucault, wird in der


Antike in einem emphatischen Sinne als Tätigkeit bestimmt: Das Subjekt hat dabei
ein Programm sorgfältig ausgewählter Übungen zu durchlaufen, mit deren Hilfe es
seine Willenskraft stärkt, seine Affekte unter Kontrolle bringt, nützliche Gewohnhei-
ten ausbildet und schädliche eliminiert. 9 2 Das Selbst ist ein Produkt der askesis. D i e
antike Ethik gewinnt so das Ansehen einer praktischen Kunst der Selbstherstellung,
die sich von den Formen des Wissens und Erkennens weitgehend loslöst. Tatsächlich
vertritt Foucault ausdrücklich die These, daß den Praktiken asketischer Selbstgestal-
tung in der Antike eine Priorität gegenüber den Praktiken des Wissens, insbesondere
aber gegenüber der Selbsterkenntnis eingeräumt werde. Unter der Bedingung, daß
sich das Selbst nicht vorgegeben ist, sondern einem Akt der Setzung entspringt, ist
diese Behauptung nur konsequent. G e h t man hingegen — mit Piaton, Aristoteles
und den Stoikern — von der Präexistenz einer teleologischen Weltordnung aus, so
läßt sie sich kaum aufrechterhalten. W e n n sich das Selbst in Gestalt eines ontolo-
gisch verbürgten Wesensziels i m m e r schon vorausliegt, dann m u ß jegliche ethische
Aktivität von der Erkenntnis dieses Wesens und der es umfassenden Seinsordnung
ihren Ausgang nehmen. Laut Foucault liegen die Verhältnisse jedoch umgekehrt.
E r unterscheidet zwischen zwei ethischen Prinzipien, denen in der A n t i k e eine
grundlegende Bedeutung beigemessen werde: zwischen dem Prinzip der Selbstsorge
(epimeleia heautou), die er mit der rein praktischen Aktivität der askesis assoziiert, 93
und dem delphischen Prinzip des gnothi sauton. Letzteres, so behauptet Foucault,
ist dem ersteren untergeordnet; 9 4 ja, die asketische Transformation des Subjekts wird
zur unabdingbaren Voraussetzung der Selbst- und Welterkenntnis erklärt: »no access
to truth without ascesis.« 95 Wissen und Erkenntnis spielen somit bei der Konstitu-

92 Zum hohen Stellenwert, den die praktischen Übungen laut Foucault in der antiken Ethik
besitzen, vgl. L'usage des plaisirs. S. 9 4 - 9 0 . - Foucault orientiert sich mit seiner Hochschätzung
der askesis an den einschlägigen Studien von Pierre Hadot: Exercices spirituels et philosophie
antique; Qu'est-ce que la philosophie antique? — Hadot seinerseits stützt sich auf die wich-
tigen Vorarbeiten von Paul Rabbow: Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike.
München 1954.
53 Vgl. M. Foucault: L'hermeneutique du sujet. Cours au College de France. S. 4—11; ders.:
L'hermeneutique du sujet. In: ders.: Dits et ecrits. Bd. 4. S. 3 5 3 - 3 6 5 , hier: S. 355.
M »In Greek and Roman texts, the injunction of having to know oneself was always associated
with the other principle of having to take care of yourself, and it was that need to take care
for oneself that brought the Delphic maxim into operation. [...] One had to occupy oneself
with oneself before the Delphic principle was brought into action. There was a subordination
ofthe second principle to the former.« (M. Foucault: Technologies of the Self. S. 20; Hervorh.
von mir, Ch. M.) »To summarize: There has been an inversion between the hierarchy of
the two principles of antiquity, T a k e care of yourself and >Know thyself.< In Greco-Roman
culture knowledge of oneself appeared as the consequence of taking care of yourself. In the modern
world, knowledge of oneself constitutes the fundamental principle.« (Ebd. S. 22; Hervorh.
von mir, Ch. M.) Vgl. auch ders.: L'hermeneutique du sujet. Cours au College de France.
S. 10.
55 M. Foucault: O n the Genealogy o f Ethics. S. 252.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 59

tion des antiken Moralsubjekts nur eine sekundäre Rolle. Dieses ist in erster Linie
das Produkt einer Praxis der Selbstgestaltung, die unabhängig von der Frage nach
der Wahrheit seines Seins vollzogen werden kann. Die Einsicht in das Wahre — so
argumentiert Foucault - gewinnt für das Subjekt erst dann Bedeutung, wenn es die
eigentliche Arbeit asketischer Formung bereits geleistet hat. Dem Individuum, das
die Herrschaft über sich selbst errungen hat, vermittelt sie nämlich einen Begriff
von Harmonie und Ordnung, der es ihm erlaubt, seiner ethischen Lebenshaltung
eine ästhetische Gestalt, »[le] profil d'une beaute visible«, zu verleihen. 9 6 Das Wissen
erfüllt im Rahmen der Selbsttechnologie somit zwar eine wichtige, aber begrenzte
Funktion. M i t seiner Hilfe verleiht der Lebenskünstler seinem Werk den ästhetischen
FeinschlifF. Dabei bleibt dieses Wissen dem Subjekt äußerlich; das Selbst wird nicht
- wie in der platonischen, aristotelischen und stoischen Ethik vorgesehen - dazu ge-
nötigt, sich mit ihm zu identifizieren, mit der Wahrheit eins zu werden. Es unterhält
vielmehr - so lautet die signifikante Formulierung Foucaults - einen distanzierten
»rapport au vrai«. 97 Das Selbst besitzt ein Wissen u m die Wahrheit, m u ß sich ihr aber
nicht unterwerfen, ist durch sie also nicht unmittelbar in seinem Sein bestimmt. 9 8
Das antike Subjekt hat demnach gegenüber dem metaphysischen Wahrheitsdiskurs
den gleichen Spielraum der Selbstgestaltung, über den es auch im Verhältnis zum
moralischen Code verfügt: Wahrheit und Gesetz, so behauptet Foucault, ziehen in
der Ferne einen sehr weiten Kreis um das Individuum: »Les quelques grandes lois
communes [...] restent presentes, mais comme si elles dessinaient au loin un cercle
tres large, ä l'interieur duquel la pensee pratique doit definir ce qu'il convient de
faire.« 99

Aufspaltung der Einheit von Wissens- und Subjektkonstitution

Das Bild, das Foucault vom antiken Subjekt zeichnet, widerspricht also in mehrerlei
Hinsicht den Vorstellungen, die der platonischen, aristotelischen und stoischen
Philosophie zu entnehmen sind: Laut Foucault konzipiert die antike Ethik das
Selbst nicht als wesenhaft vorgegebene Realität, sondern als etwas von Grund auf

% M . Foucault: L'usage des plaisirs. S. 103.


57 Ebd.
98 Es ist sicherlich kein Zufall, d a ß Aristoteles den Unbeherrschten, der sich das sittliche W i s s e n
nicht g a n z a n g e e i g n e t hat, m i t d e m Schauspieler vergleicht, der d i e Verse einer e i n s t u d i e r t e n
Rolle rezitiert. Das M o r a l s u b j e k t ist kein Schauspieler; seine e t h i s c h e Existenz findet g e r a d e
nicht als glanzvolle ethische p e r f o r m a n c e « ihre R e c h t f e r t i g u n g . D i e D i s t a n z z w i s c h e n seiner
m o r a l i s c h e n Praxis u n d d e m W i s s e n , an d e m es sich orientiert, soll v i e l m e h r e l i m i n i e r t , d e r
S p i e l r a u m ästhetisierender G e s t a l t u n g m i n i m i e r t w e r d e n . Ansätze zu einer R o l l e n t h e o r i e
personaler Identität gibt es in der A n t i k e erst bei C i c e r o , sie steht also i m Z u s a m m e n h a n g
m i t der skeptizistischen D e s a v o u i e r u n g des teleologischen O r d n u n g s g e f ü g e s . Z u C i c e r o s
R o l l e n t h e o r i e des Selbst vgl. M a x i m i l i a n Forschner: Ü b e r das G l ü c k des M e n s c h e n . Aristo-
teles, Epikur, Stoa, T h o m a s v o n A q u i n , Kant. D a r m s t a d t 2 1 9 9 4 . S. 66—77.
" M . Foucault: L'usage des plaisirs. S. 7 3 .
60 Vom sokrattschen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Herzustellendes; d a s S u b j e k t versteht sich d e m n a c h nicht als Teil eines übergreifen-


d e n teleologischen O r d n u n g s g e f ü g e s , s o n d e r n als a u t o n o m e Instanz, die aus allen
B i n d u n g e n herauszutreten v e r m a g , u m sich ein Ziel z u setzen u n d einen »rapport ä
s o i - m e m e « , ein B e z i e h u n g unmittelbarer Reflexivität einzurichten; u n d schließlich
realisiert es dieses Ziel nicht d u r c h den E r w e r b eines u n g e g e n s t ä n d l i c h e n Wissens,
m i t d e m es sich identifiziert, s o n d e r n d u r c h d e n V o l l z u g k o n k r e t e r p r a k t i s c h e r
Ü b u n g e n , in d e n e n es sich z u m S t o f f , z u m materiellen G e g e n s t a n d einer Arbeit der
S e l b s t g e s t a l t u n g m a c h t . Angesichts dieser W i d e r s p r ü c h e d r ä n g t sich die Frage auf,
wie antik die ethische Selbsttechnologie ü b e r h a u p t ist, die F o u c a u l t als M u s t e r einer
Ä s t h e t i k der E x i s t e n z der neuzeitlichen S e l b s t h e r m e n e u t i k entgegenstellt. Basiert
seine B e s c h r e i b u n g der ethischen L e b e n s k u n s t a u f einer a d ä q u a t e n genealogischen
R e k o n s t r u k t i o n der antiken Selbstkultur? O d e r vermittelt sie ein bloßes W u n s c h -
bild, das in anachronistischer Weise a u f eine ferne Vergangenheit projiziert wird, ein
W u n s c h b i l d z u m a l , das seine dezidiert neuzeitliche P r ä g u n g - das Pathos a u t o n o m e r
S e l b s t e r z e u g u n g , die m o d e r n e H o c h s c h ä t z u n g von Kreativität u n d E r f i n d u n g s g e i s t
— nicht zu verleugnen vermag? 1 0 0 Fragen dieser Art sind sicherlich nicht unberechtigt,
d e n n allzu leichtfertig setzt sich F o u c a u l t ü b e r die t e l e o l o g i s c h e F u n d i e r u n g der
antiken E t h i k hinweg; allzu deutlich ist sein B e m ü h e n , d i e Verfahrensweisen antiker
S u b j e k t k o n s t i t u t i o n aus ihrer V e r k n ü p f u n g mit d e m p h i l o s o p h i s c h e n Wahrheitsdis-
kurs, zugleich auch aus ihrer Verstrickung in Machtstrukturen u n d Autoritätssysteme
herauszulösen. 1 0 1

100 Die Freiheit der Selbstgestaltung, die Foucault dem antiken Subjekt zuerkennt, hat keinen
altertümlichen, sondern einen durchaus neuzeitlichen Anstrich. Sie verweist zum einen auf
die optimistische, die unbegrenzte Bildsamkeit des Individuums akzentuierende Anthropo-
logie der Renaissance, wie sie in Pico della Mirandolas Oratio de hominis dignitate (1486)
spektakulär zum Ausdruck gebracht wird. (Vgl. dazu Thomas Greene: The Flexibility of the
Self in Renaissance Literature. In: The Disciplines of Criticism. Essays in Literary Theory,
Interpretation, and History. Edited by Peter Demetz, Thomas Greene and Lowry Nelson
Jr. New Haven and London 1968. S. 241-268.) Bezeichnenderweise beruft sich Foucault
ausdrücklich auf die Vorarbeiten bedeutender Renaissance-Forscher, um sein Projekt einer
Genealogie der Selbsttechniken zu rechtfertigen: Er erwähnt Jacob Burckhardts klassische
Studie über Die Kultur der Renaissance in Italien (1859) sowie Stephen Greenblatts Un-
tersuchung über Renaissance Self-Fashioning (1980). (Vgl. L'usage des plaisirs. S. 17.) Der
kreative Umgang mit dem Selbst, den Foucault beispielhaft in der Antike verwirklicht sieht,
gemahnt zum anderen aber auch an dezidiert moderne Modelle der Subjektkonstitution,
etwa an Sartres existentialistisches Konzept der Selbstbegründung oder an Nietzsches — in
Ecce Homo (1888) paradigmatisch vorgeführte - Praxis der Selbstfingierung (s. Kapitel I,
Anm. 81).
101 Dieser Aspekt der Foucaultschen Auseinandersetzung mit der antiken Ethik hat eine Vielzahl
von kritischen Reaktionen hervorgerufen. So moniert Pierre Hadot, dessen Untersuchungen
zur antiken askesis Foucault nachhaltig beeinflußt haben, daß das Konzept der Selbsttech-
nologie allzu sehr auf das individuelle Subjekt hin zentriert sei. Die antike Ethik ziele nicht
darauf ab, ein isoliertes Selbstverhältnis zu etablieren. Der Zweck der asketischen Übungen
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 61

Die offenkundige Einseitigkeit, die das in L'usage des plaisirs und Le souci de soi
gezeichnete Bild antiker Selbstkultur charakterisiert, 102 rechtfertigt es gleichwohl
nicht, die Ergebnisse der Foucaultschen Analyse in Bausch und Bogen zu verwer-
fen. Es gilt vielmehr genau zu überprüfen, welche sachlich wie auch methodisch
bedingten Gründe ihm überhaupt die Möglichkeit eröffnen, die antike Ethik zum
Paradigma einer kreativen Ästhetik der Existenz zu stilisieren, und inwiefern die
genealogische Verfahrensweise dazu geeignet ist, die Grundannahme einer teleolo-
gischen Vorstrukturiertheit des Selbst in Frage zu stellen. Dabei wird sehr schnell
erkennbar, daß Foucaults Untersuchung noch in ihrer Tendenz zur Uberzeich-
nung der Selbstpraktiken auf ein fundamentales Dilemma verweist, mit dem die
antike Ethik von Anfang an konfrontiert ist. Dem Vorwurf, den metaphysischen
Wahrheitsdiskurs nicht hinreichend berücksichtigt zu haben, begegnet Foucault
mit einer ebenso provozierenden wie simplen Geste: Der theoretische Diskurs, so
erklärt er, ist für ihn gar nicht von Belang, denn er möchte keine Geschichte der
Subjektkonzeptionen, sondern eine genealogische Geschichte der Formen materieller
Subjektkonstitution schreiben. Er schließt den theoretischen Diskurs daher bewußt
aus seiner Betrachtung aus. Foucault folgt in seinen Studien zur antiken Ethik der
methodischen Direktive, nicht die Theorie, die abgehobene Rede über das Selbst,
sondern die konkreten Praktiken der Selbstkonstitution zu analysieren. Ihn interes-
siert nicht, wie das Subjekt in der Antike theoretisch gedacht, er untersucht vielmehr,

bestehe vielmehr darin, das partikulare Selbst in Richtung auf seine allgemeine Natur, seine
»Zugehörigkeit zum kosmischen Ganzen« zu überschreiten; dem ethischen Subjekt sei es darum
zu tun, »seiner selbst als Teil der Natur bewußt zu werden, als kleiner Teil der universellen
Vernunft.« Vgl. Pierre Hadot: Überlegungen zum Begriff der »Selbstkultur«. In: Spiele der
Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Hg. von F r a n c i s Ewald und Bernhard Waidenfels.
Frankfurt a. M. 1991. S. 2 1 9 - 2 2 8 , hier: S. 220f., 226. - Mario Vegetti wirft Foucault vor,
einem ästhetizistischen »platonisme pacifie« zu huldigen u n d die normativen, autoritären
Elemente der antiken Ethik zu vernachlässigen. Vgl. M. Vegetti: Foucault et les anciens. In:
Critique 4 2 (1986). S. 9 2 5 - 9 3 2 , hier: S. 930f. - Martha C. Nussbaum kritisiert, daß Foucault
die konstitutive Bedeutung von Wissen und Erkenntnis für das ethische Subjekt unterschätzt
habe. Die antike techne der gelungenen Lebensführung sei »an art that deals in valid and sound
arguments, an art that is committed to the truth.« Bei den Praktiken, die der Formung des
ethischen Selbst dienten, handele es sich keineswegs bloß u m Techniken der askesis, sondern
vor allem u m solche Verfahrensweisen, die auf die psychagogisch wirksame Vermittlung von
Wissen abzielten - »practices of argumentation and psychological interaction aimed at personal
and societal change.« Vgl. Μ. C. Nussbaum: T h e Therapy of Desire. S. 5f·, 9.
1112
Weniger einseitig, wenngleich der gleichen Grundtendenz verhaftet, sind die Ausführungen, die
Foucault in seiner Vorlesung am College de France aus den Jahren 1981 und 1982 präsentiert
(L'hermeneutique du sujet. Cours au College de France).
62 Vom somatischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

wie es praktisch gemacht wird. 103 Foucault bescheidet sich mit dem Anspruch, die
realen Verfahrensweisen zu beschreiben, die im Rahmen der antiken Selbstkultur
zur Anwendung gelangen. Wenn die spezifische Form von Subjektivität, die sich aus
der Rekonstruktion dieser Verfahrensweisen herauskristallisiert, der theoretischen
Konzeption des Selbst widerspricht, wie sie der philosophische Diskurs der Antike
entwirft, so ist diese Inkongruenz nicht notwendigerweise auf die interpretatorische
Willkür des Genealogen zurückzuführen. Ebenso gut kann man darauf schließen,
daß zwischen der antiken Theorie und der antiken Praxis der Selbstkonstitution ein
reales Mißverhältnis besteht.
Die Ausklammerung des theoretischen Diskurses aus der genealogischen Be-
trachtung bedeutet freilich nicht, daß den Formen des Wissens auf der Ebene der
Praktiken keinerlei Rolle zugestanden wird. Im Gegenteil, kennzeichnend für die
antike Selbstkultur ist laut Foucault gerade der Dualismus zweier verschiedener Pra-
xistypen: der Praktiken der Askese, der seelischen und körperlichen Selbsttransfor-
mation einerseits, der Praktiken des Wissens, der Wahrheits- und Selbsterkenntnis
andererseits. Der Gegensatz zwischen Theorie und Praxis, den Foucault seiner Ana-
lyse zugrundelegt, kehrt innerhalb des Feldes der Selbsttechniken also noch einmal
wieder: Eine Kategorie eigentlicher, >reiner< Praktiken steht den theoretisch affizier-
ten kognitiven Praktiken gegenüber. Foucault weist den ersteren, die er mit dem
ethischen Prinzip der aktiven Selbstsorge (epimeleia) assoziiert, eine Vorrangstellung
zu. Er versucht auf diese Weise, den >technischen< Charakter der ethischen Selbst-
formung zu profilieren. So anfechtbar diese Rangordnung der Prinzipien auch sein
mag, die ihr zugrundeliegende Beobachtung eines Dualismus von Wissenspraktiken

103
Zu dieser methodischen Direktive vgl. M. Foucault: Sexualite et solitude. In: ders.: Dits et
ecrits. Bd. 4. S. 168-178, hier: S. 170; ders.: L'ethique du souci de soi comme pratique de
la liberte. In: ders.: Dits et ecrits. Bd. 4. S. 708-729, hier: S. 718. - Indem Foucault die
Theorie von der Praxis dermaßen scharf abgrenzt, spricht er dem theoretischen Diskurs von
vorneherein die Fähigkeit ab, nachhaltige praktische Effekte zu erzielen und an der Subjekt-
konstitution mitzuwirken. Er insinuiert somit eine performative Schwäche des Diskurses,
die in markanter Weise mit dem in L'archeologie du savoir (1969) und in Vordre du discours
(1971) entfalteten Diskurskonzept kontrastiert. Dort fordert er den genealogischen Histori-
ker der Wissenssysteme dazu auf, die Diskurse nicht als bloße Zeichensysteme, sondern als
konstitutive Praktiken zu betrachten: »ä ne pas — ä ne plus — traiter les discours comme des
ensembles de signes (d'elements signifiants renvoyant ä des contenus ou ä des representations)
mais comme des pratiques qui forment systematiquement les objets dont ils parlent.« (M.
Foucault: L'archeologie du savoir. Paris 1969. S. 66f.) In L'usage des plaisirs hat der Diskurs
die Fähigkeit verloren, die Gegenstände des Wissens zugleich dar- und herzustellen. Es
bleibt dabei offen, ob diese Schwäche als eine besondere Eigenschaft des antiken Diskurses
anzusehen ist, die diesen vom neuzeitlichen Wissenssystem unterscheidet, oder ob Foucault
seiner Untersuchung einen revidierten Diskursbegriff zugrunde legt. In L'ordre du discours
wird die Entstehung der klassischen griechischen Philosophie jedenfalls noch mit der Geburt
jenes Willens zur Wahrheit assoziiert, den Foucault als grundlegend für die abendländischen
Macht- und Wissensordnungen erachtet: »Entre Hesiode et Piaton un certain partage s'est
etabli, separant le discours vrai et le discours faux [...] Ce partage historique a sans doute
donne sa forme generale ä notre volonte ä savoir.« (Michel Foucault: L'ordre du discours.
ί ε ς ο η inaugurale au College de France prononcee le 2 decembre 1970. Paris 1971. S. 17f.).
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 63

und asketischen Techniken hat für die Problematik der antiken Subjektkonstitution
weitreichende Konsequenzen. Wenn nämlich in der ethischen paideia tatsächlich
ein Nebeneinander verschiedener Praxistypen zu verzeichnen ist, dann steht die
Einheit von Wissens- und Subjektbildung in Frage, die in den programmatischen
Texten des ethischen Diskurses immer wieder postuliert wird. Nach platonischem
Verständnis ist ja die Einsicht, die das Individuum in die kosmische Vernunft-
ordnung gewinnt, untrennbar mit der Umkehr seiner Seele, der Transformation
seines sittlichen Seins verbunden. Die theoretische Schau ist demnach unmittelbar
praktisch wirksam; die Wissenspraxis ist zugleich eine Praxis der Selbstformung.
Geht man jedoch mit Foucault davon aus, daß die antike Selbstkultur durch ein
Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenspraktiken und
praktischen Übungen geprägt ist, so gewinnt die bei Piaton geforderte Einheit das
Ansehen eines rein theoretischen Idealbilds, das in der Realität der ethischen paideia
- und allein diese bildet das Objekt der genealogischen Untersuchung - keine
Entsprechung findet. In der psychagogischen Praxis, so könnte man im Anschluß
an Foucault vermuten, mißlingt die platonische Synthese von Wissensvermittlung
und Subjektkonstitution; was als einheitlicher paideutischer Prozesses intendiert
ist, spaltet sich in die getrennten Momente der intellektuellen Belehrung und der
asketischen Selbstformung auf. Die Erzeugung von Wissen und die Herstellung
einer inneren Haltung treten als getrennte Vorgänge auseinander, müssen also, um
die erstrebte Wissenshaltung realisieren zu können, in einem gesonderten Verfahren
wieder zusammengeführt werden.
Eine weitere Beobachtung kann den Verdacht erhärten, der durch die ambiva-
lente Einstellung der antiken Philosophen gegenüber der Schrift erregt und durch
Foucaults genealogische Analyse genährt wird. Der philosophische Diskurs dekretiert
das Ideal einer ethischen Praxis, in der die Wahrheitserkenntnis mit der Transformati-
on des Subjekts koinzidiert; es zielt auf die Herstellung eines nicht-gegenständlichen
Wissens, das mit der Person des Wissenden unmittelbar eins wird und diesen in seinem
sittlichen Sein bestimmt. Bei näherer Betrachtung kann man jedoch feststellen, daß
diese Idealvorstellung einen zirkulären Begründungszusammenhang verdeckt, der ihre
praktische Umsetzung obstruiert. Die platonische epistrophe fußt, wie Konrad Gaiser
bemerkt, auf zwei Voraussetzungen, »die sich gegenseitig aufheben können: Einerseits
hängt es von der richtigen Einstellung der Seele ab, ob sie der Richtungsangabe des
λόγος zu folgen vermag; andererseits kann allein der Λόχος durch den Hinweis auf die
Wahrheit bewirken, daß sich die Seele nach der Wahrheit richtet.«104 Die Erkenntnis
der Wahrheit erfordert eine Umkehr der ganzen Seele, setzt mithin das Vorhandensein
der richtigen Seelenhaltung und die entsprechende Formung des Subjekts bereits
voraus. Um eine Umwendung vollziehen zu können, muß das Individuum aber wis-
sen, wohin es sich wenden soll; es muß also zuvor schon eine Kenntnis der Wahrheit

104
K. Gaiser: Protreptik und Paränese bei Piaton. S. 186.
64 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

besitzen. Wahrheitserkenntnis und Seelenbildung liegen sich wechselseitig voraus. Ein


ähnlicher Zirkel kennzeichnet die Konstitution des Subjekts, wie sie von der stoischen
Philosophie konzipiert wird. Demnach ermöglicht die Einsicht in die Naturordnung
dem Individuum, sich seiner Autarkie zu vergewissern: Es erkennt, worin die wahren,
wirklich erstrebenswerten Güter bestehen, und daß diese allein seinem Willen unter-
liegen. Zugleich jedoch gilt, daß es erst dann in der Lage ist, die Ordnung der Natur
zu durchschauen, wenn es sich seiner Unabhängigkeit versichert hat. Denn solange es
Dinge begehrt, die sich der Kontrolle seines Willens entziehen, solange es ein Sklave
seiner Leidenschaften ist, sieht es die Welt in einem falschen, verzerrten Licht, ist es
mithin unfähig, die wahren von den falschen Gütern zu unterscheiden. 105 Um die
Wahrheit erkennen zu können, muß das Subjekt sich bereits aus seiner Abhängigkeit
befreit haben; um seine Unabhängigkeit erringen zu können, bedarf es der Einsicht
in die wahre Ordnung der Dinge.
Piaton und die Stoiker stimmen in der Behauptung überein, daß sich das Moral-
subjekt durch eine spezifische Form der Wahrheitserkenntnis und der Wissensbil-
dung konstituiert. Tatsächlich setzt die Wahrheitserkenntnis aber die Existenz dessen
voraus, was durch sie begründet werden soll. Ahnliches gilt für den Tugendhabitus,
dessen Erzeugung in der Nikomachischen Ethik geschildert wird: Auch Aristoteles
verstrickt sich bei dem Versuch, die Entstehung der tugendhaften Seelendisposition
darzulegen, in ein zirkuläres Bedingungsgeflecht. 106 Nicht einmal auf der Ebene
theoretischer Beschreibung gelingt es mithin dem philosophischen Diskurs, das
ethische Subjekt aus einem einheitlichen Prozeß der Wissens- und Selbstbildung
hervorgehen zu lassen. Diese Einheit bleibt auch in der Theorie ein bloßes Postulat.
Um so aussichtsloser erscheint das Unterfangen, sie in der psychagogischen Praxis
umzusetzen. Idealiter fallen die Vorgänge der Welterkenntnis, der Selbsterkennt-
nis und der Umwandlung des Subjekts in eins; sie sollen ein ungegenständliches
Wissen, eine moralische Wissenshaltung begründen, die das Individuum in die

105
Kataleptische Vorstellungen - Vorstellungen, die ein unverzerrtes Bild der Wahrheit präsentie-
ren und diese zugleich durch den Eindruck der Evidenz verbürgen — kann daher nur derjenige
produzieren, der schon über eine diathesis, eine unerschütterliche Seelenhaltung verfügt.
Vgl. M. Pohlenz: Die Stoa. Bd. 1. S. 60-63; Α. A. Long und D. N. Sedley: The Hellenistic
Philosophers. Bd. 1. S. 256f.
106
Demnach entsteht der Tugendhabitus durch die wiederholte Ausübung tugendhafter Hand-
lungen—»aus gleichen Einzelhandlungen erwächst schließlich die gefestigte Haltung.« (1103b)
Es kommt folglich ganz entscheidend darauf an, wie diese Einzelhandlungen beschaffen sind:
»Darum müssen wir unseren Handlungen einen bestimmten Wertcharakter erteilen, denn
je nachdem sie sich gestalten, ergibt sich die entsprechende feste Grundhaltung.« (Ebd.)
Sittlichen Wert besitzt das Tun aber nicht schon dann, wenn der Handelnde sich an einem
äußeren Maßstab des Guten — einem ethischen Code, einer gesetzlichen Vorschrift, einer
gegenständlichen Form des sittlichen Wissens mithin - orientiert. Als wert- und tugendhaft
gilt vielmehr nur diejenige Handlung, die von einer entsprechenden inneren Einstellung
begleitet ist, die also aus einer bereits bestehenden festen Seelenhaltung hervorgeht. (1105a)
Der Tugendhabitus wird durch tugendhaftes Handeln begründet; dieses aber setzt die Existenz
einer habituellen Disposition voraus.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 65

vorgegebene Seinsordnung integriert. In der Praxis der ethischen paideia hingegen


muß das Ineinander der Vorgänge einem Neben- und Nacheinander weichen:
Den Verfahrensweisen der Wissensvermittlung treten die asketischen Techniken
der Persönlichkeitsformung an die Seite. Die Wahrheitserkenntnis scheint von
sich aus keine Seelenhaltung, sondern nur ein gegenständliches Wissen erzeugen
zu können; die in der ethischen Unterweisung vermittelte Wahrheit ist offenbar
nicht stark genug, um das Subjekt verändern und in seinem Sein bestimmen zu
können. Dazu bedarf es zusätzlicher, wirkungsvollerer Verfahren, die unmittelbar
am Körper und an der Psyche des Individuums ansetzen, um sie einer methodischen
Umgestaltung zu unterziehen.
Die mangelnde Durchschlagskraft der Wahrheit, die in der ethischen Praxis
manifest wird, die sich aber auch in den Unstimmigkeiten des philosophischen
Diskurses andeutet, stellt eine der Grundvoraussetzungen antiken Denkens in
Frage: die teleologische Struktur der kosmischen Ordnung. Denn das teleologische
Denken geht davon aus, daß der erkennende Mensch und die zu erkennende Welt
aufeinander angelegt sind. Demnach muß sich der Erkennende keiner besonderen
Anstrengung unterziehen, um in den Besitz der Wahrheit zu gelangen. Seine natür-
liche Disposition zum Wissen korreliert vielmehr der Natürlichkeit der Wahrheit,
die sich ihm von selbst darbietet. Das Sein ist »aus sich selbst (also nicht erst durch
das hinzukommende Denken, das es aus einer Situation der Un-Wahrheit heraus
entdeckte) wahr.«107 Da Erkenntnis und Wissen zu den naturhaft vorgegebenen We-
senszielen gehören, muß die Wahrheit über die Kraft verfügen, sich gegenüber der
Unwahrheit durchzusetzen: »Wahrheit ist nicht nur anwesend, sie ist andringlich.«108
Der Glaube an die Existenz der teleologischen Ordnung schlägt sich daher, wie
Hans Blumenberg beobachtet, in einer für den philosophischen Diskurs der Antike
charakteristischen Metaphorik nieder - der Metaphorik der mächtigen Wahrheit, die
sich selbst zur Geltung zu bringen vermag.109 Doch mit dieser Macht kann es nicht
weit her sein, wenn das Individuum die Veränderung seines Seins, die eigentlich
durch die Wahrheit selbst bewirkt werden sollte, mit Hilfe spezifischer Techniken
der Askese eigenständig hervorbringen muß. In der ethischen Praxis, so scheint es,
transformiert nicht die Wahrheit das Subjekt, sondern dieses sich selbst. Der als
Einheit konzipierte Vorgang der ethischen paideia teilt sich auf in einen dogmatisch
ausgerichteten Unterricht einerseits, eine Praxis asketischer Selbstformung anderer-
seits. Die Zerspaltung des Bildungsvorgangs impliziert die Vergegenständlichung
sowohl des Wissens als auch des Selbst; sie bedroht somit dessen Einbindung in
den teleologisch strukturierten Ordnungszusammenhang.
Foucault interpretiert diesen Sachverhalt dahingehend, daß die Schwäche des
antiken Wahrheitsdiskurses dem Individuum einen Spielraum ästhetischer Selbst-

107 H. Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. S. 4 3 3 .


108 Ebd. S. 4 3 4 .
109 Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. Μ. 2 1999. S. 15—20.
66 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

gestaltung eröffne. Aus dem Nebeneinander von dogmatischer Unterweisung und


asketischer Praxis folgert er eine gewisse Unabhängigkeit der letzteren gegenüber
der ersteren. Er bestimmt die antike Ethik als eine Kunst der Lebensgestaltung,
die sich weitgehend vom Herrschaftsanspruch der Wahrheit befreit. Doch dieser
Schluß ist keineswegs zwingend. Tatsächlich laufen die Praktiken des Wissens und
die Techniken der Askese nicht einfach nebeneinander her. Zwischen ihnen besteht
vielmehr ein enges Verhältnis wechselseitiger Komplementarität. Z u m einen näm-
lich ist die Arbeit asketischer Persönlichkeitsbildung ohne ein Wissen, das ihr die
Richtung weist, gar nicht vorstellbar. Die Wahrheit vermag auf das Subjekt zwar
nicht unmittelbar formend einzuwirken, aber sie leitet den Vorgang asketischer
Selbstbearbeitung in Gestalt eines gegenständlichen Wissens, eines äußerlich
gesetzten und theoretisch begründeten Telos an. Die philosophische Doktrin gibt
der asketischen Praxis die notwendige Orientierung. Z u m anderen aber existiert
ein ganzer Komplex von Übungen, denen die besondere Aufgabe zukommt, das
in gegenständlicher Form vorliegende Wissen in einen habituellen Besitz des
Individuums zu überführen. Mit ihrer Hilfe soll das Subjekt das sittliche Wissen,
das seinem Handeln und seiner Lebensführung als Richtschnur dient, nicht bloß
intellektuell bewältigen, sondern in seiner Psyche verankern, ja mit seinem sittlichen
Sein verschmelzen. 110 Obgleich es der ethischen paideia also nicht gelingt, die Wahr-
heitserkenntnis direkt an die Erzeugung einer inneren Haltung zu koppeln, so stellt
sie doch die Mittel bereit, um ein äußerliches Lehrwissen nachträglich, in einem
langwierigen Prozeß der Anverwandlung, zu verinnerlichen und zu habitualisieren.
Die in der Doktrin enthaltene Wahrheit soll zum Prinzip des Handelns und der
Lebensgestaltung werden - einem Prinzip, auf welches das Individuum schließlich
nicht von außen her zugreift, sondern das sein Tun von innen heraus steuert.

Rhetorische A u f r ü s t u n g der Wahrheit; Artifizialität des Selbst

Die meditativen und asketischen Praktiken zielen folglich darauf ab, dem Wissen
jene innerlich formende Kraft zu verleihen, über die es von sich aus nicht verfügt.
Den gleichen Zweck verfolgen die rhetorischen und literarischen Strategien, die im
Rahmen der dogmatischen Unterweisung zur Anwendung gelangen. Der paräneti-
sche Zuspruch, der pointierte Merksatz, das zur Nacheiferung animierende Exempel,
die durch Metapher und Vergleich erzeugte Anschaulichkeit, die Verlebendigung

110 Dieser Typus von Übungen wird mit dem Begriff melete (lat. meditatio) bezeichnet. Während
die eigentliche askesis vor allem solche Praktiken umfaßt, die den Willen, die Affekte und den
Körper unmittelbar zu beeinflussen suchen, markiert melete eine Form der Übung, die auf
vorgegebene Wissensinhalte bezogen ist: meletan bedeutet, wie Paul Rabbow ausführt, »einen
Inhalt so in sich aufnehmen, daß er in den organischen, unbewußten Lebensprozeß der Seele
eingeht; daß er nicht mehr >Gegen<stand ist, >über< den man nachdenkt, sondern selbst als ein
unmittelbar Wirkliches in uns eingehend ein Stück Seele wird.« (Paul Rabbow: Seelenführung.
Methodik der Exerzitien in der Antike. S. 24.) Zur Differenzierung zwischen askesis und melete
vgl. auch Pierre Hadot: Exercices spirituels et philosophie antique. S. 206f.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 67

durch Formen der Dramatisierung und Narrativierung — dies sind nur einige der
Mittel, die dem Wissen eine ebenso intensive wie nachhaltige psychische Wirkung
sichern sollen."1 Die Techniken der askesis und der melete, die das Individuum auf
sich selbst appliziert, kooperieren mit den rhetorischen Strategien auf Seiten des
philosophischen Diskurses, um das sittliche Wissen seiner Gegenständlichkeit zu
entkleiden und es in eine Seelenhaltung zu verwandeln. Von einer Emanzipation der
Selbstpraktiken gegenüber den Formen des Wissens, wie Foucault sie konstatiert,
kann daher keine Rede sein. Die Arbeit asketischer Selbstformung und die rhetori-
sche Aufrüstung des Diskurses stehen vielmehr ganz im Zeichen der Wahrheit, die
auf diese Weise als der eigentliche Faktor der Subjektivierung zur Geltung gebracht
werden soll. Foucault unterschätzt somit die Bedeutung, die dem Wahrheitsdiskurs
für die Konstitution des ethischen Subjekts zukommt. Seine Analyse ist gleichwohl
nicht ohne Wert, vermag sie doch das Künstliche, Gemachte der dem Wahren
zugesprochenen Geltung sichtbar zu machen. Die Autorität der Wahrheit ist eine
erborgte; sie ist das Ergebnis einer Inszenierung. Zwar ist der philosophische Diskurs
seit dem platonischen Verdikt gegen die Sophistik darum bemüht, den Verfahrens-
weisen der Rhetorik jegliche kognitive Eigenleistung abzusprechen und sie auf den
Status bloßer Wirkungsmittel zu reduzieren: Die Uberzeugungskraft soll »als eine
>Qualität< der Wahrheit selbst und die Redekunst mit ihren Mitteln nur als eine
sachgemäße Vollstreckung und Verstärkung dieser Qualität« ausgewiesen werden. 112
Doch um die faktische Ohnmacht der Wahrheit kompensieren zu können, ist der
Diskurs auf eben diese Wirkungsmittel angewiesen. Die Metaphorik der mächtigen,

111 Die rhetorischen und literarischen Darstellungsmittel der antiken Ethik stehen im Z e n t r u m
der Studien von Martha C . Nussbaum. Insbesondere die hellenistische Ethik, so argumentiert
sie, greift auf ein ganzes Arsenal solcher Darstellungsmittel zurück, um d e m philosophischen
Diskurs therapeutische Wirksamkeit zu verleihen und so d e m Anspruch gerecht zu werden,
eine Heilkunst der Seele zu sein. Die herkömmlichen Verfahrensweisen der Wissensver-
mittlung - die Formen des deduktiven und dialektischen Räsonnements — erweisen sich in
dieser Hinsicht als unzulänglich. Die logische Überzeugungskraft der Wahrheit bedarf der
Ergänzung durch rhetorische, literarische und psychagogische Techniken der Seelensteuerung:
»Thus medical philosophy, while committed to logical reasoning, a n d to marks of good
reasoning such as clarity, consistency, rigor, and breadth of scope, will often need to search
for techniques that are more complicated and indirect, more psychologically engaging, than
those of conventional deductive or dialectical argument. It must find ways to delve into the
pupil's inner world, using gripping examples, techniques of narrative, appeals to m e m o r y and
imagination — all in the service of bringing the pupil's whole life into the investigative process.«
( M . C. Nussbaum: T h e Therapy of Desire. S. 35; vgl. auch dies.: Love's Knowledge. Essays on
Philosophy and Literature. Oxford a n d New York 1990.) - Die literarischen und rhetorischen
Darstellungsmittel spielen aber nicht erst i m philosophischen Diskurs des Hellenismus eine
wichtige Rolle. Konrad Gaiser zeigt auf, daß Paränese, Paradeigma und mythische Erzählung
im somatischen Dialog ein unabdingbares Supplement der dialektischen Erörterung bilden:
Nur mit ihrer Hilfe kann der Gesprächspartner an den »toten Punkten«, die den Fortgang des
Lehrgesprächs immer wieder bedrohen, zur weiteren Verfolgung seines Bildungswegs animiert
werden; nur mit ihrer Hilfe kann die innere Einstellung erzeugt werden, die zur A u f n a h m e der
Wahrheit befähigt. Vgl. K. Gaiser: Protreptik und Paränese bei Piaton. S. 186 u n d passim.
112 Η . Blumenberg: Paradigmen einer Metaphorologie. S. 9.
68 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

sich selbst zur Geltung bringenden Wahrheit, die Blumenberg als charakteristisch
für den philosophischen Diskurs der Antike ansieht, ist ein solches Wirkungsmittel.
Sie soll der Wahrheit die Macht allererst verleihen, die sie als ihr innewohnend be-
hauptet; sie soll ihr zu der Wirkung verhelfen, die sie von sich aus nicht zu erzeugen
vermag.113 Wenn aber die vom Wissen hervorgerufene Wirkung nur ein künstlich er-
zeugter Wahrheitseffekt ist, so sind es letztlich die rhetorischen und psychagogischen
Kunstmittel, die für die Transformation des Individuums verantwortlich zeichnen.
Sie begründen das Subjekt, indem sie es mit dem Schein der Wahrheit täuschen und
dieser unterwerfen. Die innere Seelenhaltung ist ein mit instrumentellen Mitteln
erzeugtes Machwerk, keine Realisierung eines vorgezeichneten Wesensziels. Das
Subjekt ist nur scheinbar das Produkt einer Vernunftwahrheit, die in der Seele des
Individuums die ihr vorbestimmte Herrschaftsstellung übernimmt. In Wirklichkeit
ist es ein Produkt asketischer, rhetorischer und literarischer Praktiken, welche das In-
dividuum nach einem äußerlichen Modell sittlicher Vollkommenheit umgestalten.
Darum hat Foucault zwar Recht, wenn er den Konstruktcharakter des antiken
Selbst gegenüber dem theoretischen Idealbild teleologischer Vorbestimmtheit her-
vorhebt: In der ethischen Praxis kann sich das Subjekt nicht konstituieren, ohne in
eine gegenständliche Beziehung zu seinem eigenen Sein zu treten und ohne dabei
von einem externen, gegenständlichen Wissen Gebrauch zu machen; es ist sich selbst
nicht in Gestalt eines innerlichen Wesensziels vorgegeben, sondern es eignet sich ein
solches erst nachträglich an. Foucault irrt jedoch, wenn er der antiken Ethik die Ab-
sicht unterstellt, die Künstlichkeit des Subjekts in Form einer Ästhetik der Existenz
auch noch offen zur Schau zu stellen. Die ethische paideia will dem Individuum
nicht das Gefühl vermitteln, der souveräne Schöpfer eines glanzvollen Lebenskunst-
werks zu sein. Das Subjekt soll vielmehr in dem Bewußtsein agieren, eine natur- bzw.
vernunftgemäße Existenz zu führen und seiner wesensmäßigen Bestimmung gerecht
zu werden. Der antiken Ethik ist folglich daran gelegen, den artifiziellen Charakter
des Selbst zu verbergen und die Existenz einer intakten, mit normativer Geltung
versehenen Seinsordnung zu suggerieren, der sich das Individuum zu unterwerfen
hat. Daher ist es ihr Ziel, die im Rahmen des ethischen Bildungsprozesses unver-

113
Die Figuration der mächtigen Wahrheit ist somit Bestandteil einer Wirkungsstrategie, die
dem Wissen die ihm fehlende konstitutive Kraft zu verleihen sucht. Blumenberg hingegen
fuhrt diese Figuration als Beispiel einer absoluten Metapher an. Als solcher kommt ihr die
Aufgabe zu, dem nie übersehbaren Ganzen der Realität eine Struktur zu geben. Sie erfüllt auf
diese Weise zwar eine pragmatische Funktion (sie bietet einen »Anhalt von Orientierungen«
und bestimmt so ein spezifisches »Weltverhalten«), doch beschränkt sich diese auf eine bloße
»Erkenntnispragmatik« (ebd. S. 23, 25). Das Handeln, das durch die absolute Metapher
induziert wird, ist in erster Linie ein Erkennen, eine kognitive Leistung der Welterschließung.
In dem Bestreben, die kognitive Funktion der uneigentlichen Rede zu rehabilitieren, vernach-
lässigt Blumenberg ihren im engeren Sinne pragmatischen, wirkungsbezogenen Aspekt. Die
Performanz dieser Rede, die Tatsache, daß sie selbst eine Form von Handlung darstellt, daß
und wie sie reale Effekte hervorzurufen, Gegenstände und Subjekte zu konstituieren vermag,
bleibt im Rahmen der Blumenbergschen Metaphorologie unberücksichtigt.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 69

meidliche Vergegenständlichung des Wissens wie auch des Selbst zu verschleiern und
zum Verschwinden zu bringen. Der innere Habitus, den die Wahrheit von sich aus
nicht zu begründen vermag, wird mit künstlichen Mitteln hergestellt: Das Subjekt
soll sich das Wissen ganz zu eigen machen; es soll sich mit ihm identifizieren, damit
es schließlich den Eindruck gewinnt, der Vernunftordnung nicht bloß gegenüberzu-
stehen, nicht bloß etwas über sie zu wissen, sondern mit ihr eins zu sein. Während
der theoretische Diskurs die Immanenz und die natürliche Vorgegebenheit der teloi
vorspiegelt, trägt die Praxis ethischer Unterweisung dafür Sorge, daß externe, gesetzte
Daseinsziele im nachhinein verinnerlicht und naturalisiert werden. Die antike Ethik
steht also keineswegs offen zum künstlichen Charakter des Subjekts, das sie mit
Hilfe eines ganzen Apparats von Techniken hervorbringt. So sehr sich die antike
Technologie der Subjektivierung von ihrem christlichen Widerpart unterscheidet:
Auch sie will dem Selbst das Ansehen einer vordiskursiven Gegebenheit verleihen;
auch sie unternimmt den Versuch, das kulturelle Artefakt als natürliche Entität aus-
zuweisen. Sie ist folglich ein ebenso legitimer Gegenstand der genealogischen Kritik
wie das christliche oder das neuzeitliche Subjekt, dem Foucault - in einem Anflug
nostalgischer Verklärung - die antike Selbstkultur als Paradigma einer ganz anderen
Form von Subjektkonstitution entgegenstellen möchte.

3. Die verschleierte Gegenständlichkeit des Wissens

Ethopoetisches Schreiben
Die im theoretischen Diskurs der antiken Philosophie postulierte Einheit von Wis-
sensbildung und Subjektkonstitution läßt sich in der Praxis der ethischen paideia
nicht realisieren. In der Praxis ist es unvermeidlich, das Wissen und das mittels
Wissen zu formende Selbst zu vergegenständlichen. Das erforderliche Wissen liegt
immer erst in einer gegenständlichen Form vor - als philosophische Doktrin, als
ethischer Code, als äußerlich vorgegebenes Daseinsziel. Es m u ß in einem geson-
derten Verfahren auf das Subjekt appliziert und mit diesem zur Einheit verbunden
werden. Die Techniken der Subjektivierung zielen daher in erster Linie darauf ab,
die unvermeidliche Gegenständlichkeit des Wissens zu eliminieren und zu verschlei-
ern. Sie veranlassen das Individuum dazu, sich das Wissen zu eigen machen, es zu
verinnerlichen und sich mit ihm zu identifizieren. Aus der Perspektive des Genea-
logen ist die Verurteilung gegenständlichen Wissens, wie sie im ethischen Diskurs
immer wieder artikuliert wird, somit selbst ein Teil jener Verschleierungsstrategie,
die das Moralsubjekt über seine eigene Künstlichkeit hinwegtäuschen soll. Das gilt
insbesondere für die Kritik am Medium Schrift, die seit Piatons Phaidros zu einem
Gemeinplatz der antiken Philosophie geworden ist. Die Tatsache, daß Piaton seine
Anklage des geschriebenen Worts in einem schriftlich verfaßten Dialog zum Aus-
druck bringt, daß er sie mithin in den Kontext einer simulierten Mündlichkeit stellt,
70 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

die ihre schriftliche Medialität zu verleugnen sucht, macht die Verschleierungstaktik


sinnfällig, die im philosophischen Diskurs zur Anwendung gelangt. Verschleiert wird
die nicht unbedeutende Rolle, die das Medium Schrift in der Praxis ethischerpaideia
zu spielen hat. Der unabdingbare Rekurs auf gegenständliches Wissen impliziert
die Inanspruchnahme geschriebener logoi; die Techniken, die der Habitualisierung
und Verinnerlichung von Wissen dienen, umfassen auch die Praxis der Lektüre. Die
Behauptung Piatons, daß Schrift und Lektüre weder wissensbildend noch seelen-
formend zu wirken vermögen, wird durch die diskursive Praxis - nicht zuletzt auch
durch seine eigene — widerlegt. Allerdings handelt es sich um eine ganz spezifische
Form von Lektüre, die in das Arsenal antiker Selbstpraktiken Eingang findet: eine
Lektüre, die dem geschriebenen Text keinerlei Autonomie zubilligt; die darauf hin-
arbeitet, ihn auf besonders nachhaltige Weise zu appropriieren, ihn dem Gedächtnis
einzuverleiben und der eigenen Persönlichkeitsstruktur zu integrieren. »A work is not
truly read«, so erläutert Mary Carruthers die antike Konzeption der Lektüre,
until one has made it part o f oneself - that process constitutes a necessary stage o f its >textuali-
sation<. Merely running one's eyes over the written pages is not reading at all, for the writing
must be transferred into memory, from graphemes on parchment or papyrus or paper to images
written in one's brain by emotion and sense. 114

Die Lektüre gehört also zu jenen meditativen Techniken, denen die Aufgabe zu-
kommt, gegenständliches Wissen zu assimilieren und in eine innere Seelenhaltung
umzuwandeln. Lesen ist mehr als bloßes Sinnverstehen, mehr als das Nachvollzie-
hen eines vorgegebenen Bedeutungszusammenhangs. Lesen ist eine intensiv und
systematisch betriebene Aktivität, die den Text in seiner Integrität nicht bestehen
läßt, sondern ihn auf bestimmte Weise zurichtet und manipuliert. Die meditative
Lektüre ist selbst eine Art von Schreiben, ein Art von Komposition: Der gelesene
Text wird in fragmentarische Bedeutungseinheiten zerlegt, um ihn im Selbst des
Lesers und als dieses Selbst wieder neu zusammensetzen zu können. Das Selbst ist
der Text, der aus der meditativen Arbeit der Zergliederung und der Rekomposition
hervorgeht.115 Dieser skripturale Charakter der Meditation tritt ganz konkret in
Gestalt einer spezifischen Schreibpraxis in Erscheinung, welche die Aneignung
und Verinnerlichung des Wissens befördern soll. Der Zögling der ethischen
paideia wird dazu angehalten, Notizbücher, sogenannte hypomnemata, anzulegen
und zu führen, die zur Aufnahme der Früchte seiner Lektüreaktivität - Exzerpte,
Kernsätze, Lebensregeln und Sinnsprüche - bestimmt sind. Diese Notizen sollen
ihrerseits den Gegenstand stets wiederholter Lektüre, Reflexion und Meditation
bilden. Die hypomnemata markieren, wie Foucault formuliert, eine antike »ecriture

114 Mary Carruthers: T h e Book o f Memory. Α Study o f Memory in Medieval Culture. Cambridge
1990. S. 10.
115 Zur Verfahrensweise der Fragmentarisierung als Bestandteil der meditativen Lektürepraxis
vgl. M . Carruthers: T h e Book of Memory. S. 174 und passim; Μ . Foucault: L'ecriture de soi.
In: ders.: Dits et ecrits. Bd. 4 . S. 4 1 5 ^ 4 3 0 , hier: S. 4 2 1 .
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 71

de soi«. Sie dienen der Ethisierung des Wissens. »Comme element de l'entraine-
ment de soi, l'ecriture a [...] une fonction ethopoetique: eile est un Operateur de la
transformation de la verite en ethos.«I16
Schrift und Lektüre scheinen im Rahmen der ethischen paideia m i t h i n eine
bedeutendere Rolle zu spielen, als die offiziellen Verlautbarungen der Philosophen
glauben machen wollen. Foucault betrachtet die schriftgestützte Selbstkonstitution
allerdings als ein typisches Phänomen der Spätantike, das sich deutlich von den Ver-
fahrensweisen der klassischen Periode, insbesondere aber von der platonischen Kon-
zeption der Subjektbildung unterscheide. 117 Die Entstehung einer ecriture de soi wird
auf äußere Faktoren zurückgeführt; sie erscheint als Teil eines größeren kultur- und
mediengeschichtlichen Umbruchs, der sich gleichzeitig auch in anderen Bereichen
- etwa in der zunehmenden Verschulung und Verschriftlichung von Philosophie
und Rhetorik - bemerkbar macht." 8 Die historischen Dokumente - die von Seneca
und Epiktet wiederholt geäußerte Kritik an der Philologisierung der philosophischen
Unterrichtspraxis zum Beispiel, aber auch die wenigen erhaltenen Zeugnisse einer
ecriture de soi, die, wie Marc Aurels TA ΕΙΣ EA YTON ausnahmslos der römischen
Kaiserzeit entstammen - scheinen in der Tat dafür zu sprechen, daß die Tendenz
zur Verschriftlichung des ethischen Diskurses in der Spätantike einen beachtlichen
Schub erfahren hat. 119 Gleichwohl gilt für die spätantike ecriture de soi das gleiche,
was laut Foucault für die hellenistische Ethik überhaupt in ihrem Verhältnis zur
Ethik des klassischen Zeitalters zu veranschlagen ist: Sie stellt keine absolute Innova-
tion dar, sondern verstärkt und vertieft bereits bestehende Tendenzen. So sehr er dies
auch zu verbergen sucht, der ethische Diskurs ist von vorneherein auf den Gebrauch
der Schrift zum Zwecke der Subjektkonstitution angelegt. Neben den äußeren, ver-
stärkenden Faktoren müssen auch die systematischen Gründe beleuchtet werden, die
den Einzug der Schrift in die antike Selbstkultur allererst ermöglichen. Dazu bietet

116
M. Foucault: L'ecriture de soi. S. 418
117
Vgl. M. Foucault: Technologies of the Self. S. 35; ders.: L'hermeneutique du sujet. S. 360f.;
ders.: L'ecriture de soi. S. 418.
118
Die spätantike Verschulung der Philosophie und ihre Konsequenzen für die ethische Lebens-
kunst beschreibt P. Hadot: Qu'est-ce que la philosophie antique? S. 227—242. - Zur Literarisie-
rung der Rhetorik, die sich insbesondere in der Ausprägung eines starren Doktrinarismus u n d
eines Mimesis-Postulats manifestiert, vgl. Manfred Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike.
Aristoteles - Horaz - >Longin<. Eine Einführung. Darmstadt 2 1992. S. 185-191.
Zur Kritik an der Philologisierung der Philosophie vgl. Seneca: Ad Lucilium epistulae morales.
Ep. 26.6, 88.42, 108.35. - Die Tatsache, daß sich keine früheren Beispiele einer Ecriture de
soi erhalten haben, ist aber an sich noch nicht sehr aussagekräftig. D a hypomnemata n u r für
den persönlichen Gebrauch bestimmt waren, mithin nicht kopiert, publiziert u n d verbreitet
wurden, ist der fast vollständige Verlust entsprechender Textzeugnisse nicht verwunderlich.
Die Uberlieferung der Notizen Marc Aurels ist wohl vor allem auf die herausragende soziale
Stellung ihres Verfassers zurückzuführen: Was auch immer ein Kaiser schrieb, es war allein
schon deshalb der Aufbewahrung wert. Zur Überlieferungsgeschichte der hypomnemata Marc
Aurels vgl. Pierre Hadot: La citadelle intirieure. Introduction aux Pensees de Marc Aurele.
Paris 1992. S. 3 5 - 3 9 .
72 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

ausgerechnet die platonische Schriftkritik eine Handhabe. Denn gerade indem Pia-
ton versucht, den Einfluß der Schrift auf die ethische paideia zu minimieren, weist
er ihr eine Funktion zu, die fiir das Moralsubjekt von konstitutiver Bedeutung ist.

Mneme u n d hypomnesis

Piaton spricht der Schrift die Fähigkeit ab, Wissen zu vermitteln oder aufzuspei-
chern. Sie kann auf Seiten des Lesers keine Erkenntnis bilden, keine neue Einsicht
hervorrufen; sie kann nur an ein Wissen erinnern, über das der Leser bereits ver-
fugt. 120 Doch was heißt in diesem Zusammenhang >erinnern<? Von der eigentlichen
Domäne der Erinnerung - der lebendigen Vergegenwärtigung wahrhaften Wissens
— wird die Schrift ja gerade ausgeschlossen. Ihr mnemonisches Vermögen ist also
äußerst begrenzt. Sie ist ein bloßes Hilfsmittel der Erinnerung, eine Gedächtnisstütze
{hypomnesis), die von der Erinnerung selbst, der mneme, sorgfältig zu unterscheiden
ist.121 Da die Schrift der Wahrheit gegenüber äußerlich bleibt, darf sie nicht an die
Stelle der eigentlichen Gedächtnisaktivität gesetzt werden; sie darf die mneme nicht
verdrängen. Ihre beschränkte Aufgabe, an bereits bestehendes Wissen zu erinnern,
kann sie allenfalls auf indirekte Weise erfüllen, indem sie nämlich das Gedächtnis
dazu animiert, seinerseits aktiv zu werden und die Wahrheit, die schon in seinem
Besitz ist, zu aktualisieren. Der geschriebene logos ist nur der äußere Anstoß, der
die eigentliche Gedächtnistätigkeit, die eigentliche Leistung der Vergegenwärtigung
auslöst, ohne sie selbst vollziehen zu können. Schrift bildet den bloßen »Anlaß für
die Erinnerung an etwas, was selbst in die schriftliche Fixierung gar nicht eingeht.«122
Dadurch, daß Piaton ihr die Fähigkeit aberkennt, Wahrheit zu repräsentieren, re-
duziert er sie auf den Status eines paränetischen Wirkungsmittels. In ihrer legitimen
Funktion als hypomnesis ist die Schrift nicht viel mehr als ein Impuls, der die mneme
daran erinnert, sich zu erinnern. Sie ist ein bloßer Anreiz zur Erinnerung, eine
Mahnung an das Erinnern. 123
Doch indem Piaton die Schrift zum Wirkungsmittel degradiert, bereitet er zu-
gleich ihre Rehabilitation als ein notwendiges Instrument der ethischen paideia vor.
Auf denjenigen, der die Schrift richtig zu handhaben weiß, der sie also in stetem
Bewußtsein ihrer Unzulänglichkeit und ihres fehlenden Wahrheitsbezugs als bloßes
Hilfsmittel gebraucht, vermag sie eine ganz andere Wirkung auszuüben, als Sokra-
tes ihr im Gespräch mit Phaidros zunächst zuschreibt: Das Pharmakon der Schrift
ist in diesem Falle kein Sedativum, das die mneme einschläfert und das Vergessen

120
Piaton: Phaidros 275d.
121
Ebd. 274a.
122
W. Wieland: Piaton und die Formen des Wissens. S. 18.
123
Der Begriff hypomnema hat u.a. auch die Bedeutung Mahnmal, Erinnerungszeichen, Ermah-
nung. Vgl. Wolfgang Thiel: Piatons Hypomnemata. Die Genese des Piatonismus aus dem
Gedächtnis der Schrift. Freiburg und M ü n c h e n 1993. S. 126f.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 73

befördert, 124 sondern, im Gegenteil, ein Tonikum, das die Erinnerung zur Tätigkeit
anregt, ja, diese allererst in Gang setzt. Die Schrift fungiert als Auslöser der Erinne-
rung; sie fuhrt das Gedächtnis aus partieller Vergessenheit zu sich selbst zurück. Die
Charakterisierung der Schrift als tonisches Hilfsmittel der Erinnerung macht somit
einen Mangel sichtbar, der der mneme innewohnt. Wenn das Gedächtnis mitunter
daran erinnert werden muß, sich an das zu erinnern, was es bereits weiß, so folgt
daraus, daß es sich selbst gegenüber nicht vollkommen präsent ist. Die mneme hat
sich nicht ganz in der Gewalt; sie verfügt nicht souverän über ihre Inhalte. Diese
stehen vielmehr ständig in der Gefahr, in den Zustand der Latenz zu geraten oder
gar der völligen Vergessenheit anheim zu fallen. Anders formuliert: der mneme fehlt
die Kraft, die erforderlich wäre, um das zu bewahrende Wissen in seiner Totalität
als lebendige Seelenhaltung zu aktualisieren. Das aktive, lebendige Gedächtnis wird
nicht nur durch äußere Faktoren bedroht (etwa durch die Schrift). Es steht zudem
unter einem inneren Druck. Seine Kapazität und seine Kraftreserven sind begrenzt.
Diese Endlichkeit der mneme macht sie jedoch allererst zu dem, was sie ist: »Une
memoire sans limite«, so argumentiert Derrida, »ne serait d'ailleurs pas une memoire
mais l'infinite d'une presence ä soi.«125 Die Schwäche der Erinnerung, die ständige
Gefahr eines Rückfalls in Passivität, Latenz oder schieres Vergessen, ist folglich
kein Verhängnis, das von außen über sie hereinbricht, sondern eine wesentliche,
strukturbestimmende Eigenschaft. Das Vergessen ist ein notwendiger Bestandteil
der Erinnerung. 126 Die Dynamik, welche die mneme vorgeblich gegenüber der toten
Dinglichkeit des Geschriebenen auszeichnet, ist nicht der Ausdruck überschäumen-
der Lebenskraft. Im Gegenteil, sie kennzeichnet den Kampf, den die mneme gegen
ihr eigenes Schwinden zu führen hat. Wissen und Erkenntnis sind den mythischen
»Bildwerke[n] des Daidalos« vergleichbar: Sie haben die Neigung, »davon[zu]gehen
und [zu] fliehen«, wenn man sich nicht aktiv darum bemüht, sie festzuhalten. 127 Sie
sind ständig in Bewegung und können nur durch unablässige Übung (melete) vor
dem Vergehen bewahrt werden:
Und viel wunderlicher noch als dieses ist, daß auch die Erkenntnisse nicht nur teils entstehen,
teils vergehen u n d wir nie dieselben sind in bezug auf die Erkenntnisse, sondern daß auch
jeder einzelnen Erkenntnis dasselbe begegnet. Denn was man Nachsinnen heißt, geht auf eine
ausgegangene Erkenntnis. Vergessen nämlich ist das Ausgehen einer Erkenntnis. Nachsinnen
[μελέτη] aber bildet statt der abgegangenen eine Erinnerung [μνήμην] ein und erhält so die
Erkenntnis, daß sie scheint, dieselbe zu sein. 128

124
Vgl. Piaton: Phaidros 274a. — Zur Metapher des Pharmakons vgl. J. Derrida: La pharmacie
de Piaton. S. 108-132.
125
J. Derrida: La pharmacie de Piaton. S. 124.
126
Harald Weinrichs Einschätzung, wonach Piaton der Problematik des Vergessens kaum Beach-
tung geschenkt habe, bedarf also im Hinblick auf die Konzeption der hypomnesis einer Kor-
rektur. Vgl. H . Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München 1997. S. 35.
127
Piaton: Menon 9 7 d - 9 8 a .
128
Piaton: Symposion 208a.
74 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Nur scheinbar ist das Wissen, das im Gedächtnis bewahrt wird, stets ein und das-
selbe; nur scheinbar ist also auch der Wissende, der in seinem sittlichen Sein durch
das Wissen bestimmt wird, mit sich selbst identisch. Der Eindruck, daß es sich
dabei um substantielle Einheiten handelt, die auf Dauer und durch sich selbst zu
bestehen vermögen, beruht auf einer Täuschung. Was das Ansehen einer beständigen
Präsenz, einer kontinuierlich durchgehaltenen Aktivität, eines festen Habitus besitzt,
erweist sich bei näherer Betrachtung als Sukzession distinkter, stets erneuerter Akte
der Vergegenwärtigung. Die mneme vermag das zu bewahrende Wissen nicht in
einen gesicherten Besitz zu überführen. Sie ist eine Repräsentation des Wissens, die
aufgrund ihrer Schwäche, ihrer Neigung zum »Ausgehen«, immer wieder neu reprä-
sentiert werden muß. Sie stellt also tatsächlich eine Aktivität dar, eine dynamische
Form des Bewahrens. Doch diese Dynamik ist nicht der kontinuierliche Ausfluß
einer inneren Kraftquelle; die mneme kann nicht als der innere Quellpunkt einer
fortwährenden Krafteinwirkung angesehen werden, die das Wissen in der Seele des
Wissenden belebt. Die mneme vermag sich vielmehr allein dadurch zu erhalten, daß
sie immer wieder aus sich selbst heraustritt. Sie kann nur bestehen, indem sie sich
wiederholt auf ihre eigenen Inhalte >besinnt<, indem sie sich mit einem toten Abbild,
einer Repräsentation ihrer selbst affiziert. In der Praxis der melete vergegenständlicht
die mneme sich selbst und erhält sich so am Leben. Die gegenständliche Repräsenta-
tion des Wissens markiert den hypomnematischen Anstoß, der die mneme auf sich
selbst zurückführt. Ohne diesen belebenden Impuls von außen schwindet sie dahin.
Bleibt die mneme in sich selber eingeschlossen, erinnert sie sich - wie im Phaidros
zunächst gefordert wird - immer nur »innerlich [...] und unmittelbar«, versäumt
sie es mithin, sich ihre Inhalte periodisch auch »von außen vermittels fremder Zei-
chen« gegenüberzustellen, 129 so erlahmen ihre Kräfte und das Wissen geht verloren.
Die mneme ist auf den hypomnematischen Anstoß angewiesen, der sie aus ihrer
Selbstvergessenheit herausreißt und sie daran erinnert, sich zu erinnern. Sie muß
sich immer aufs neue repräsentieren und vergegenständlichen, um die Illusion einer
ungebrochenen, inneren Präsenz der Wahrheit zu erzeugen. Die Schrift kann einen
solchen Impuls generieren, wenn man sie nur richtig zu handhaben weiß.

Inszenierung der Schrift

Bei näherem Hinsehen wird somit erkennbar, daß Piatons Phaidros keineswegs ei-
ner rückhaltlosen Verdammung des Mediums Schrift das Wort redet, sondern zwei
verschiedene Formen des Umgangs mit dem Geschriebenen, zwei unterschiedliche
Lektüre- und Textmodelle miteinander konfrontiert. Die Schrift erscheint einerseits
als Bedrohung der Erinnerung - dann nämlich, wenn ihr die Fähigkeit zuerkannt
wird, Wissen adäquat zu repräsentieren und die lebendige mneme zu ersetzen. Diese

129
Piaton: Phaidros 275a.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 75

Auffassung verleitet das Individuum zur »Vernachlässigung des Gedächtnisses«;' 30 sie


hält es davon ab, die mneme zu üben, ja sich das Wissen überhaupt erst anzueignen.
Sie leistet also einem passiven Rezeptionsverhalten Vorschub: Das Individuum be-
gnügt sich damit, den geschriebenen Text verstehend nachzuvollziehen, anstatt das
Gelesene zu verinnerlichen und der Habitusbildung zuzuführen. Dieser Mißbrauch
der Schrift bringt aber zugleich die natürliche Schwäche der mneme zum Vorschein,
die eine Praxis der melete erforderlich macht, und verweist so auf die Möglichkeit,
einen ganz anderen Gebrauch von den geschriebenen logoi zu machen. Der geschrie-
bene Text, dessen Repräsentationsleistung als minderwertig deklariert wird und der
sich somit nicht als adäquater Ersatz der mneme anbietet, vermag die umgekehrte
Wirkung zu erzielen. Als hypomnematischer Anstoß, der das Gedächtnis auf sich
selbst zurückführt, ist gerade die Schrift ein geeignetes Mittel, um die mneme zu
stärken und zu üben. Mit ihrer Hilfe läßt sich das Gedächtnis dazu bewegen, die
ihm entgleitende Wahrheit immer wieder neu zu vergegenwärtigen und zu beleben.
Der hypomnematische Text dient als Meditations- und Ubungsvorlage. Er animiert
den Leser zu einer dynamischen Form der Lektüre, bei der das Wissen nicht bloß
passiv registriert und in Empfang genommen, sondern einem intensiven Prozeß der
Aneignung und Verinnerlichung unterzogen wird. Die hypomnematische Schrift
provoziert die Erinnerung zu eigenständiger Tätigkeit. Sie ist ein psychagogisches
Wirkungsmittel, und als solches verleiht sie der mneme samt ihren Inhalten die
Kraft, die ihr von Natur aus fehlt. Sie gehört somit zum Apparat der Techniken und
Instrumente, die das sittliche Wissen mit der Macht ausstatten, Individuen innerlich
zu formen und »umzulenken«. Nur scheinbar handelt es sich bei der hypomnesis um
ein untergeordnetes Hilfsmittel. Tatsächlich stellt sie ein notwendiges Instrument
der Subjektivierung dar, das der Wahrheit allererst zur Wirkung verhilft. Es kann
daher nicht verwundern, daß Piaton den hypomnematischen Gebrauch der Schrift
ausdrücklich gutheißt. 131
Piaton reduziert die Schrift auf den Status eines bloßen Hilfs- und Anregungsmit-
tels der Erinnerung. Es zeigt sich jedoch, daß die Erinnerung auf solche Anregungs-
mittel angewiesen ist. Sie haben für die mneme eine konstitutive Funktion. Piaton
verschleiert somit die wirkliche Bedeutung, die der hypomnesis im Rahmen der ethi-
schen paideia zukommt. Diese Verschleierung ist aber eine Voraussetzung dafür, daß
die hypomnematische Schrift ihre anregende Wirkung überhaupt entfalten kann: Nur
wenn das Individuum die Schrift fur unfähig hält, Wissen wahrhaft zu repräsentieren,
ist es gegen die Versuchung gefeit, das geschriebene Wort an die Stelle der mneme zu
setzen und sich der Mühe des Gedächtnistrainings zu entziehen. Doch die melete,
der das Gedächtnis unterzogen wird, beruht gerade auf der Fähigkeit der hypomnesis,
die mneme auf sich selbst zurückzuführen und ihr ihre Inhalte vergegenwärtigend vor

130
Ebd.
131
Ebd. 276d.
76 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Augen zu stellen. Die hypomnesis muß also in der Lage sein, die Wahrheit zu reprä-
sentieren, doch sie muß ihre Repräsentationsleistung zugleich verbergen, um auf die
mneme eine belebende Wirkung ausüben zu können. Strategien der Verschleierung
sind mithin ein notwendiger Bestandteil der mit hypomnematischen Mitteln betrie-
benen Kultivierung des Gedächtnisses. Ausschlaggebend fiir die Wirkung, die von
einer schriftlichen Mitteilung ausgeht, ist die Art und Weise, wie sie ihre Schriftlichkeit
inszeniert. Piaton kontrastiert im Phaidros die zum persönlichen Gebrauch angefer-
tigten hypomnematischen Notizen, die »einen Vorrat von Erinnerungen [...] auf das
vergeßliche Alter« ansammeln, mit dem sorgfältig ausgearbeiteten, zur Publikation
bestimmten Schriftwerk, das den Leser eben aufgrund seiner Abgeschlossenheit zu
einer verfehlten, passiven Rezeptionshaltung verleitet — das ihn in den Glauben wiegt,
es genüge, das fertig formulierte Wissen zur Kenntnis zu nehmen, anstatt es sich aktiv
zu eigen zu machen und der mneme einzuverleiben. 132 Die scheinbare Formlosigkeit
der hypomnemata markiert demgegenüber nicht den Rohzustand eines gänzlich
unbearbeiteten Wissens, sondern ist als bewußt eingesetzte Strategie anzusehen. Sie
dient dazu, die vermeintliche Unzulänglichkeit der Schrift vor Augen zu fuhren. Der
hypomnematische Text wirkt anregend auf die Gedächtnisaktivität durch seine zur
Schau gestellte Unabgeschlossenheit und Vorläufigkeit. A u f diese Weise signalisiert
er, daß die eigentliche Arbeit der Aneignung noch aussteht. Er kennzeichnet sich
selbst als bloße Ubergangsstation auf dem Weg zur Verinnerlichung des Wissens.
Die hypomnemata präsentieren ein Wissen, und nehmen diese Präsenz doch zugleich
wieder zurück. Sie deuten an, anstatt zu explizieren. Sie legen die Wahrheit nicht
in systematisch ausgearbeiteter Gestalt vor, sondern verweisen auf sie, stellen sie in
Aussicht, umreißen sie. Die hypomnemata sind das Beispiel einer indirekten Dar-
stellungsform, die das Wissen in dem Maße vorenthält, in dem sie es präsentiert,
und die es eben dadurch um so nachhaltiger in der Seele des Lesers zur Wirkung
zu bringen sucht.
Die im Phaidros artikulierte Schriftkritik schließt somit die Möglichkeit einer
schriftgestützten Konstitution des ethischen Subjekts keineswegs aus. Im Gegen-
teil, sie präfiguriert eben jene Form des meditativen Umgangs mit geschriebenen
Texten, die Foucault als typisch für die Selbstkultur der Spätantike erachtet. Pia-
tons Überlegungen zum hypomnematischen Schriftgebrauch geben daher Anlaß
zu der Frage, ob dieser Darstellungsstrategie in der Antike ein paradigmatischer
Status zukommt. Läßt sich daraus das verbindliche Modell einer psychagogischen
ecriture, einer schriftgestützten Konstitution des antiken Moralsubjekts ableiten?
Orientiert sich Piaton mit seinen eigenen Schriften an einem solchen Modell? Läßt
sich insbesondere die von ihm favorisierte Dialogform damit vereinbaren, oder
verweist das dialogische Schreiben auf eine alternative Technik der Selbstkonstitu-
tion? Inwieweit ist das hypomnematische Modell für seine Nachfolger und für die

132
Ebd. 275a-b, 276d.
Selbsterkenntnis und Selbstsorge 77

hellenistische Ethik verbindlich? Wird es im Laufe der Jahrhunderte abgewandelt,


durch konkurrierende Modelle ersetzt oder ergänzt? Diese Fragen sollen im folgen-
den anhand ausgewählter Textbeispiele erörtert werden. Hier gilt es zunächst einmal
festzuhalten, daß der Umgang mit gegenständlichen Wissensformen nicht erst in
den hellenistischen Philosophenschulen, sondern schon im klassischen Zeitalter
entscheidende Bedeutung für die ethische paideia gewinnt. Die Verschulung der
Philosophie, die Dogmatisierung des ethischen Diskurses und der Verlust der Un-
mittelbarkeit im Lehrer-Schüler-Verhältnis sind keine Zeichen für den Niedergang
der philosophischen Lebensform. Ahnliches gilt für die von Blumenberg und Taylor
für das hellenistische Zeitalter diagnostizierten Tendenzen: für die Neutralisierung
des Kosmos, die den fortschreitenden Geltungsverlust der teleologischen Ordnung
zu indizieren, die Integration des Selbst in die Ordnung in Frage zu stellen und es
als isolierte Entität — als Gegenstand der Selbstbetrachtung und Selbstbearbeitung
- freizusetzen scheint. Diese späten Entwicklungen machen vielmehr deutlicher
sichtbar, was bei Piaton als Problem bereits angelegt ist. Eine solche Unmittelbarkeit
und Integration hat es offenbar nie gegeben. Schon bei Piaton ist sie eine Fiktion,
die der Disziplinierung des Individuums dient; schon dort muß sie unter großem
Aufwand an Kunstmitteln vorgetäuscht und abgesichert werden. Der direkte Bezug
zur Wahrheit, wie er in der Seelenhaltung - das heißt: der Identifikation des Indivi-
duums mit dem sittlichen Wissen - verwirklicht zu sein scheint, ist in der ethischen
Praxis der Antike immer nur ein fiktives Konstrukt. Die Unmittelbarkeit ist von
Anfang an eine künstlich erzeugte, vielfach vermittelte. Das Scheitern des von Piaton
unternommenen Versuchs, die Schrift aus der ethischen paideia auszuschließen,
verweist auf die Unabdingbarkeit mittelbarer und gegenständlicher Wissensformen
für die Konstitution des Moralsubjekts.
Der Umgang mit diesen Wissensformen unterliegt gleichwohl einem folgenrei-
chen Wandel. Während Piaton und Aristoteles ihre Aufmerksamkeit darauf richten,
die Gegenständlichkeit des Wissens zu verschleiern, entwickelt die hellenistische
Philosophie spezifische Lektüre- und Schreibverfahren, die den gegenständlichen
Charakter des Wissens bewußt zum Zwecke der Disziplinierung des Selbst einsetzen.
Damit verbunden ist die Herausbildung rudimentärer Techniken der Selbstdarstel-
lung - einer primitiven Form der Autobiographie.
II. Dialektische Strategien der Selbstsorge: Piatons Alkibiades I

1. Der platonische Alkibiades -


ein Musterfall praktischer Selbstsorge?

In kaum einem antiken Textzeugnis wird die Problematik des Selbst so ausführlich
behandelt und so intensiv erörtert wie in dem Piaton zugeschriebenen Alkibiades-O\-
alog, der - um ihn von einem gleichnamigen, aber sehr viel kürzeren Werk zu unter-
scheiden - auch als Der Große Alkibiades oder als Alkibiades der Erste bezeichnet wird.
Nicht nur kreist die Auseinandersetzung zwischen dem angehenden Staatsmann und
seinem Lehrer Sokrates, die im Großen Alkibiades dramatisiert wird, beständig um
die Themen der Selbsterkenntnis und der Selbstsorge. Der Dialog versucht zudem
eine Antwort auf die fundamentale Frage nach dem Wesen des Selbst, dem »Selbst
selbst [αύτό ταύτό]«, zu finden.1 Es bietet sich daher geradezu an, den Großen Alki-
biades ins Feld zu führen, um die von Charles Taylor vertretene These zu widerlegen,
die Griechen hätten es nicht zu einem eigentlichen Begriff des Selbst gebracht.2 Doch
die Zentrierung des Dialogs auf die Thematik des Selbst hin hat erst in jüngerer
Zeit wieder ein verstärktes Forschungsinteresse erregt, nachdem der Text über einen
Zeitraum von mehr als anderthalb Jahrhunderten eine kaum beachtete Randexistenz
innerhalb des Kanons platonischer Schriften fristen mußte. Die Marginalisierung,
unter welcher der Alkibiades in der Piatonforschung lange Zeit zu leiden hatte, ist in
erster Linie auf das einflußreiche Urteil Friedrich Schleiermachers zurückzuführen,
der die Echtheit des Dialogs, seine literarischen und philosophischen Qualitäten in
Frage gestellt hat.3 Schleiermachers Verdikt kontrastiert auf das schärfste mit der au-
ßerordentlichen Hochschätzung, die dem Alkibiades in der Antike und bis weit in die
Neuzeit hinein entgegengebracht wurde. Der Dialog diente in der Akademie über

1 Piaton: Alkibiades 129b, 130d.


2 R. L. Fetz: Dialektik der Subjektivität. S. 183.
3 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Alkibiades der sogenannte erste. Einleitung. In:
ders.: U b e r die Philosophie Piatons. H g . von Peter M . Steiner. H a m b u r g 1996. S. 3 1 9 - 3 2 6 ,
hier: S. 3 2 0 : » U n d so sei es denn noch einmal u n t e r n o m m e n und gesagt, daß dieses kleine
Werk, welches von denen, die in Pausch und Bogen zu bewundern pflegen, von je her vor-
züglich ist gepriesen worden, uns ziemlich geringfügig und schlecht erscheint, und zwar a u f
eine solche Weise daß wir es d e m Piaton nicht zuschreiben können, und wenn auch noch
so viele, die seinen Geist beschwören zu können glauben, ihn hier aufs deutlichste wollen
vernommen haben.«
80 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Generationen hinweg als Einführung in die Philosophie Piatons.4 Hinweise auf den
Alkibiades finden sich bei Aristoteles, Xenophon, Polybios, Cicero, Persius, Plutarch
und Hermogenes; sie belegen das hohe Ansehen und die weite Verbreitung des
Textes im griechischen wie auch im lateinischen Sprachbereich.5 In der Spätantike
wurde der Alkibiades zum bevorzugten Gegenstand einer exegetischen Praxis, von
der die vollständig erhaltenen Kommentare des Proklos und des Olympiodor wie
auch die fragmentarisch überlieferten Erklärungen des Iamblichus Zeugnis geben.6
Die besondere Beachtung, die Ati Alkibiadeshei den Kommentatoren gefunden hat,
ist ein deutliches Zeichen dafür, daß dem Text im ausgehenden Altertum weiterhin
der privilegierte Status eines philosophischen Grundlagenwerks zuerkannt wurde.
Die Protagonisten des Renaissance-Platonismus haben sich diese uneingeschränkte
Wertschätzung ganz zu eigen gemacht: »Candidissimus Piatonis nostri liber, qui
Alcibiades primus inscribitur, Alcibiade ipso venustior, et omni carior auro«,7 so
charakterisiert Marsilio Ficino den Dialog, den er nicht nur als platonischen Fun-
damentaltext anpreist, sondern zudem mit der Würde des genialischen Erstlings
bekleidet.

Neuere Deutungen des Alkibiades


Die starke Rezeption des Alkibiades in den neoplatonisch beeinflußten Kreisen der
Spätantike und der Renaissance hat ihre Spuren auch in der neueren Forschungs-
literatur hinterlassen. Die neoplatonischen Autoren deuten den Alkibiades als eine
Abhandlung über die Selbsterkenntnis. Diese Interpretation ist sicherlich nicht aus
der Luft gegriffen; sie wird nicht zuletzt durch das prägnante paradeigma nahege-
legt, das Sokrates am Ende des Dialogs präsentiert, um seinem Gesprächspartner
den komplexen Vorgang der Selbsterkenntnis zu veranschaulichen:8 das Bild des
Augenspiegels, »das allein« — so behauptet Paul Friedländer in seinem Bemühen,
Schleiermachers Verdammungsurteil zu revidieren — »als Siegel den Ursprung des
Dialoges aus Piatons Schöpferhand verbürgen würde, und das weit in die Zeiten
gewirkt hat«.9 Die suggestive Kraft, die von diesem Gleichnis ausgeht, überstrahlt

4
Vgl. Paul Friedländer: Der Große Alkibiades. Ein Weg zu Piaton. Bonn 1921. S. 6.
5
Zur antiken Wirkungsgeschichte des Alkibiades vgl. Paul Friedländer: Piaton. Bd. 2. Berlin
Ί 9 6 4 . S. 214; O t t o Apelt: Einleitung zu den beiden Alkibiades. In: Piatons Dialoge. Alkibiades
der Erste und Alkibiades der Zweite. Ubersetzt und erläutert von O t t o Apelt. Leipzig 1918.
S. 131-143, hier: S. 131f.
6
Die Kommentare des Proklos und des Iamblichos sind in neueren Ausgaben leicht zugänglich.
Vgl. Proklos: Commentary on the First Alcibiades of Plato. Hg. von Leendert G. Westerink.
Amsterdam 1954 ; ders.: Commentarius in Piatonis Alcibiadem Priorem. Hg. von William
O'Neill. T h e Hague 1965; ders.: Sur le premier Alcibiade de Piaton. Hg. und übersetzt von
A. Ph. Segond. 2 Bde. Paris 1985; Iamblichos: In Piatonis Dialogos commentarium fragmenta.
Hg. von J. M. Dillon. Leiden 1973.
7
Zit. nach P. Friedländer: Piaton. Bd. 2. S. 214.
8
Piaton: Alkibiades 132e-133c.
9
P. Friedländer: Piaton. Bd. 2. S. 220.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 81

die Vielfalt der Aspekte, unter denen das Selbst im Alkibiades betrachtet wird, und
leistet somit einer einseitigen Interpretation des Textes Vorschub. Nicht zufällig
bildet das Augen-Paradeigma den Ausgangspunkt einer mächtigen Traditionslinie,
welche die Problematik der Selbsterkenntnis mittels der Spiegelmetaphorik diskursiv
zu bewältigen versucht.10 Pierre Courcelle schließt sich in seiner Studie über die
Geschichte des delphischen Prinzips der neoplatonischen Deutung des Alkibiades
an. Er bestimmt das »Connais-toi toi-meme« als »theme principal« des Dialogs, der
nach seiner Auffassung ein Schlüsseldokument für die sokratische Konzeption der
Selbsterkenntnis darstellt."
Erst Michel Foucault unternimmt den Versuch, aus den eingefahrenen Gleisen
des neoplatonischen Deutungsmusters herauszutreten und das Prinzip der epime-
leia heautou gegenüber der delphischen Maxime zur Geltung zu bringen. Auch
Foucault weist dem Alkibiades eine Bedeutung für die Vorgeschichte neuzeitlicher
Subjektivität zu. Der Text, so argumentiert Foucault, ist in doppelter Hinsicht bei-
spielhaft. Er knüpft die epimeleia an die Voraussetzung einer adäquaten Selbster-
kenntnis. Zum einen bezeugt er auf diese Weise die für den gesamten Piatonismus
charakteristische Hochschätzung der Selbsterkenntnis, die sie über die praktischen
Formen der Selbstsorge zu erheben scheint, und weist somit auf spätere Entwick-
lungen voraus, insbesondere auf die Entstehung einer neoplatonisch inspirierten
Hermeneutik des Selbst im frühen Christentum. Zum anderen aber spielt die
epimeleia laut Foucault im Alkibiades eine derart herausgehobene Rolle, daß sie
sich als ernsthafte Konkurrentin, ja gar als die eigentliche Basis (»fondement«)
des delphischen Prinzips zu profilieren beginnt. 12 Der Dialog scheint folglich
die Weichen zu stellen für die Ausdifferenzierung der asketischen Selbstprakti-
ken und für deren Emanzipation gegenüber dem Wahrheitsdiskurs, wie sie sich
- laut Foucault - in der hellenistischen Ethik endgültig durchsetzt. Tatsächlich
ist Foucault darum bemüht, die Verbindung zwischen der praktischen Selbstsorge
und der theoretischen Selbsterkenntnis schon in ihren platonischen Anfängen als
brüchig zu erweisen. Die spezifische Form der Selbsterkenntnis, die Sokrates im
Alkibiades anmahnt, richtet sich seiner Auffassung nach auf ein überindividuelles

10
Zum Spiegel als Basismetapher abendländischer Subjektivität vgl. Ralf Konersmann: Lebendige
Spiegel. Konersmann stellt das Mi%tn-paradeigma aus dem Alkibiades an den Anfang seiner
»Kleinen Geschichte der Spiegelmetapher« (ebd. S. 75—78). Erweist der metaphorischen Rede
- in Anlehnung an Blumenberg - die pragmatische Funktion zu, das Subjekt zu stabilisieren
und ihm eine verläßiiche Orientierung zu verleihen. Bezeichnenderweise erfüllt die Metapher
diese Aufgabe jedoch vor allem dadurch, daß sie dem Subjekt zur Selbsterkenntnis verhilft.
Die Pragmatik der Metapher ist eine Erkenntnispragmatik: Der Spiegel ist »ein Modell, das
dem Bedürfnis nach Weltorientierung hilfreich entgegenkommt, indem es die Möglichkeit
der adaequatio glaubhaft macht. Zugleich genügt es dem Bedürfnis nach Selbstthematisierung,
indem es dem Bewußtsein gestattet, ein konformes Bild seiner selbst und damit Selbsterkennt-
nis zu gewinnen.« (Ebd. S. 34.).
" P. Courcelle: Connais-toi toi-meme. Bd. 1. S. 15·
12
M. Foucault: L'hermeneutique du sujet. Cours au College de France. S. 10.
82 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Sein und erfolgt demnach unabhängig von der asketischen Einwirkung des Selbst
auf sich selbst. 13 Das Wissen, welches das Subjekt auf diese Weise gewinnt, steht
in keiner direkten Beziehung zu den konkreten Praktiken und Übungen, in de-
nen sich die Aktivität der epimeleia manifestiert: »The care of the self is the care
of the activity and not the care of the soul-as-substance.« H Selbsterkenntnis ist
theoretische Schau, Selbstsorge ist praktisches Wirken. Anstatt die kontemplative
Selbstreflexion als Teil der tätigen Selbstsorge zu verstehen, lernt der Foucaultsche
Alkibiades, daß die epimeleia nicht nur die Notwendigkeit zu erkennen, sondern
auch die Notwendigkeit, tatsächlich an sich zu arbeiten und sich durch Übung
umzuformen, beinhalten muß: »Xepimeleia heautou [...] comporte non seulement
la necessite de connaitre [...], mais de s'appliquer effectivement ä soi et de s'exercer
soi-meme et se transformer.« 15
Foucault unterscheidet also das Erkennen von der >tatsächlichen< Arbeit der
Selbstgestaltung. 16 Wissen und Erkennen stellen demnach schon bei Piaton eine
von der eigentlichen ethischen Praxis abgehobene, unverbindliche und letztlich
wirkungslose Tätigkeit dar. Foucault stilisiert den platonischen Alkibiades auf
diese Weise zum Prototypen einer Ästhetik der Selbst- und Lebensgestaltung.
Die Implikationen dieses Deutungsansatzes werden bei denjenigen, die Foucaults
Konzeption der Selbstkultur aufgreifen, noch deutlicher sichtbar. So argumentiert
etwa Helmut Pfeiffer, daß die in der italienischen Renaissance zu beobachtende
»>literarisierende< Verwendung des Dialogs« in dem platonischen Dia-
log bereits vorgezeichnet sei: »Weil der Alkibiades selbst schon >kaleidoskopisch<
verfährt, lädt er dazu ein, sein Dialogschema synkretistisch zu amplifizieren.« 17
Piaton verzichte im Alkibiades auf die systematische und sukzessive Entfaltung
>harter< Theorie, etwa der Ideenlehre; der Text habe »sein Zentrum nicht in der
Wissensvermittlung, sondern in der Erzeugung einer bestimmten Einstellung, die
[sie!] der Selbstsorge und der Selbsterkenntnis«. 18 Pfeiffer geht somit noch einen

13
Vgl. M. Foucault: O n the Genealogy of Ethics. S. 249: »You see that this idea that one must
know oneself, i.e. gain ontological knowledge of the soul's mode of being, is independent of
what one would call an exercise of the self upon the self.«
14
M. Foucault: Technologies of the Self. S. 25.
15
M. Foucault: L'usage des plaisirs. S. 85.
16
Von dieser Auffassung ist Foucault in seiner Vorlesung am College de France jedoch
wieder abgerückt. D o r t betont er die Verflechtung (»l'enchevetrement«) von Selbstsorge
u n d Selbsterkenntnis im Alkibiades (L'hermeneutique d u sujet. C o u r s au College de
France. S. 67). Allerdings geht er nicht darauf ein, mit welchen Mitteln Sokrates u n d
Piaton operieren, u m eine solche Verflechtung herstellen. Weder die Dialektik noch die
Rhetorik finden in diesem Z u s a m m e n h a n g Erwähnung. Doch eben darauf k o m m t es
Sokrates (Piaton) an: die Selbsterkenntnis mit dialektischen u n d rhetorischen Mitteln
im Erkennenden zur W i r k u n g zu bringen, damit dieser eine U m k e h r vollzieht und sein
Leben neu einrichtet.
17
Helmut Pfeiffer: Selbstkultur und Selbsterhaltung. Spielräume literarischer Anthropologie in
der frühen Neuzeit. Unveröffentlichte Habilitationsschrift. Konstanz 1991. S. 95f.
18
Ebd. S. 95.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 83

Schritt weiter als Foucault. Während dieser den Gegensatz zwischen Theorie und
Praxis im Alkibiades selbst ausgeprägt findet, kennzeichnet jener den Dialog als
ästhetisch-literarischen Widerpart zum theoretischen Wissen, der eine entspre-
chende Form des Selbstverhältnisses propagiert. Der Alkibiades weist demnach
auf die spätantike, ja die frühneuzeitliche Praxis der ecriture de soi voraus: Wie der
Text des Dialogs die Versatzstücke des philosophischen Diskurses spielerisch und
kaleidoskopartig zu einem »Mosaik des Wissens« zusammensetzt," so soll auch
das ethische Subjekt, dessen Konstitution im Dialog paradigmatisch vorgeführt
wird, den kreativen, distanzierten Umgang mit den Formen des Wissens und der
Erkenntnis pflegen, um eine ästhetische Lebenshaltung zu begründen.
Die Deutungen, denen Foucault und Pfeiffer den Alkibiades unterziehen,
bilden ein heilsames Korrektiv gegenüber der neoplatonischen Verabsolutierung
der delphischen Maxime. Dabei verfallen sie jedoch in das andere Extrem: Allzu
vorschnell sind sie bereit, die Prinzipien der Selbstsorge und der Selbsterkenntnis
gegeneinander auszuspielen und dem Alkibiades auf diese Weise das Ansehen einer
frühen Programmschrift der ethischen Lebenskunst zu geben. Die unsystematische
Vorgehensweise, die Pfeiffer im Alkibiades wahrnimmt und als Vorbotin einer Äs-
thetisierung des Selbst deklarieren zu können glaubt, ist jedoch keine Besonderheit
dieses einen Textes, sondern ein generelles Kennzeichen der Dialogform, die Piaton
aus grundsätzlichen, vor allem aber aus psychagogischen Erwägungen heraus den
meisten seiner philosophischen Schriften verliehen hat. Es trifft daher auch nicht
zu, daß Sokrates im Alkibiades das Ziel der Wissensvermittlung aus den Augen
verliert. Sein Ziel besteht vielmehr darin, eine bestimmte Form von Wissen auf
diejenige Art und Weise zu vermitteln, die dieser angemessen ist - ein ungegen-
ständliches Wissen nämlich, das mit der Person des Wissenden verschmelzen soll.
Wenn Pfeiffer anhand des Alkibiades einen Gegensatz zwischen der Vermittlung
von Wissen und der Herstellung einer inneren Einstellung zu konstruieren sucht,
so verfehlt er folglich die dem Dialog zugrundeliegende Intention: Sokrates arbei-
tet gerade darauf hin, seinem Schüler ein Wissen zugänglich zu machen, das sich
in Gestalt einer inneren Einstellung realisiert. Ahnliches gilt für den Gegensatz
zwischen praktischer epimeleia und theoretischer Selbsterkenntnis, den Foucault
im Alkibiades angelegt sieht. Sokrates bestimmt die epimeleia als eine techne. Er
versteht unter Selbstsorge mithin nicht eine diffuse Bewußtseinshaltung, eine be-
sorgte Aufmerksamkeit und Wachsamkeit auf die Belange des Selbst, sondern eine
regelrechte »Kunst, durch welche einer sich selbst besorgt«. 20 Nach platonischem
Verständnis besitzt die Kunst ( t e c h n e ) zwar einen unmittelbaren Praxisbezug, un-
terscheidet sich jedoch darin von der bloßen Geschicklichkeit {tribe), daß sie auf

" Ebd. S. 122.


20 Piaton: Alkibiades 128d.
84 Vom sokrattschen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

einem begründeten Wissen beruht.21 Als Kunst der Selbstverbesserung umfaßt die
epimeleia folglich nicht bloß eine Reihe von Praktiken und Übungen, sondern auch
die gründliche Kenntnis dessen, was den Gegenstand dieser Praxis bildet: »Und wie,«
so fragt Sokrates, »was für eine Kunst einen selbst besser macht [τίς τέχνη βελτίω
ποιεί αύτόν], könnten wir das wohl einsehen, wenn wir nicht wüßten, was wir selbst
sind?«22 Die epimeleia, derer sich Alkibiades befleißigen soll, markiert also tatsächlich
eine >Selbsttechnik< - aber eine solche, die als Einheit von Wissen und praktischem
Können konzipiert ist.23 Ob es Sokrates gelingt, diese Einheit in der ethischen
paideia zu realisieren, ist eine Frage, die nur auf dem Wege einer gründlichen Tex-
tanalyse beantwortet werden kann. Foucault jedoch läßt diese Frage gar nicht erst
aufkommen. Indem er den Gegensatz zwischen Selbstsorge und kontemplativer
Selbsterkenntnis voraussetzt, schließt er gerade jene Aktivität von seiner Analyse aus,
in der Alkibiades begriffen ist, da Sokrates ihn in die Kunst der epimeleia einweist:
die dialektische Unterredung.

Die Rolle der Dialektik

Wenn die epimeleia, wie Foucault insinuiert, eine vom Wissen weitgehend unabhän-
gige Praxis darstellt, dann zählt die Dialektik nicht zu den Verfahrensweisen, von
denen sie Gebrauch macht. Bezeichnenderweise findet die Dialektik in Foucaults
Ausführungen zum Alkibiades keinerlei Berücksichtigung. Im Dialog selbst dagegen
wird sie nicht nur praktiziert; sie bildet zudem einen der Gegenstände des Gesprächs,
das Sokrates mit seinem Schüler fuhrt.24 Mehr noch: Sokrates gibt zu verstehen, daß

21 Vgl. Piaton: Gorgias 465a: »Eine Kunst [τέχνην] aber leugne ich, daß es [sc. die sophistische
Rhetorik] sei; sondern nur eine Übung [έμπειρίαν], weil sie keine Einsicht [λόγον] hat von
dem, was sie anwendet, was es wohl seiner Natur nach ist, und also den Grund von einem
jeden nicht anzugeben weiß; ich aber kann nichts Kunst nennen, was eine unverständige
Sache [ä/.oyov -πράγμα] ist.« Vgl. auch ebd. 501a: Sokrates stellt den Heilkünstler, der über
die Gründe seines Vorgehens Rechenschaft zu geben weiß, dem Rhetoriker gegenüber, der
sein Handeln lediglich auf tribe und empeiria zu stützen vermag. — Zur platonischen Kon-
zeption der techne vgl. Dietrich Kurz: ΑΚΡΙΒΕΙΑ. Das Ideal der Exaktheit bei den Griechen
bis Aristoteles. Göppingen 1970. S. 8 8 - 1 2 3 ; Martha C. Nussbaum: The Fragility of Good-
ness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy. Cambridge 1986. S. 9 4 - 9 9 . Zur
sophistischen Auffassung der techne (techne als »Beobachtung, Nachvollzug des jeweils schon
Geschehenen, um dessen Regeln und Forderungen kennenzulernen und sich in die »richtige·
Ordnung des Geschehens einzufügen«) vgl. Jörg Kube: ΤΕΧΝΗ und ΑΡΕΤΗ. Sophistisches
und platonisches Tugendwissen. Berlin 1969. S. 48—114, hier: S. 59.
22 Piaton: Alkibiades 128e (Hervorh. von mir, Ch. M.).
23 Zu der angestrebten Einheit von Wissen und Können vgl. auch Bruno Snell: Die Entdeckung
des Geistes. Studien zur Entdeckung des europäischen Denkens bei den Griechen. Göttingen
4 1 9 7 5 . S. 174: »Das Modell des Handwerks ist Sokrates schon durch das attische Wort für

Wissen (episteme) gegeben, das nicht, wie die jonischen Wörter für Wissen und Erkenntnis,
nur das Theoretische umfaßt, sondern auch das Praktische, das zugleich Wissen und Können
ist, und gerade für die Fertigkeiten der handwerklichen Berufe gebraucht wird.«
24 Vgl. Piaton: Alkibiades 1 1 2 e - l 13c.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 85

die techne der Selbstsorge nur auf dem Wege dialektischer Schulung erworben wer-
den kann. Nachdem es ihm gelungen ist, bei Alkibiades ein Bedürfnis nach epimeleia
wachzurufen, wird er mit der Frage konfrontiert: »Wie aber soll ich mich geschickt
machen [έτημέλειαν [...] τιοιεΐςθαι], ο Sokrates? Kannst du mir das wohl erklären?«
Doch Sokrates enttäuscht die Erwartung seines Schülers. Anstatt Alkibiades mit
einer klaren Bestimmung der epimeleia und mit konkreten Verhaltensmaßregeln
zu beglücken, gibt er ihm zunächst eine ausweichende Antwort: »Ja,« erwidert er,
»aber nur durch gemeinsame Beratung [κοινή βουλή], auf welche Weise wir wohl
so trefflich werden könnten als möglich.«25 Sokrates vermeidet den direkten Weg
des Lehrvortrags und der praktischen Anweisung; er wählt den Umweg der »ge-
meinsamen Beratung«, des dialektischen Frage-und-Antwort-Spiels. 26 Er präsentiert
seinem Schüler keine fertigen Wahrheiten, kein gegenständliches Wissen. Vielmehr
veranlaßt er ihn mittels seiner Fragetechnik dazu, dieses Wissen eigenständig her-
vorzubringen. Das Gespräch über die Selbstsorge, das Alkibiades die Anstrengung
des Selberdenkens zumutet, dient mithin bereits der Einübung in die epimeleia.
Das dialektische Verfahren ist der epimeleia nicht äußerlich, sondern zählt selbst
zu den Praktiken und Übungen, von denen sie Gebrauch macht. Der Alkibiades
handelt nicht nur von der Selbstsorge und ihrer Unabdingbarkeit für eine gelungene
Lebensführung. Er zielt zugleich darauf ab, sie in Gestalt einer dialektischen Übung
praktisch umzusetzen. 27 Da Foucault die epimeleia jedoch in einem emphatischen
Sinne als »real activity«,28 als reine Praxis der askesis begreift, versperrt er sich den
Zugang zu der pragmatischen Dimension des Dialogs. Er liest den Alkibiades plan
wie eine programmatische Abhandlung, welche die Tätigkeit der epimeleia anpreist
und beschreibt, ohne etwas zu ihrer Verwirklichung beizutragen.
Die Praxis der epimeleia, die Sokrates seinem Schüler nahebringen will, besteht
nicht bloß darin, eine Reihe von Übungen zu absolvieren und einen Kursus asketi-
scher Selbstdisziplinierung zu durchlaufen. Sokrates signalisiert seinem Gesprächs-
partner, daß diese Praxis hier und jetzt, im Rahmen der gegenwärtig geführten
Unterredung, ihren Anfang nimmt. Das dialektische Lehrgespräch soll Alkibiades
mit dem Wissen ausstatten, das eine Verbesserung des Selbst ermöglicht; es soll ihn

25
Ebd. 124b-c. - Vgl. auch ebd. 127e: »SOKRATES: D u m u ß t nur guten Mutes sein. D e n n
hättest du, daß es so mit dir steht, im fünfzigsten Jahre gemerkt: so wäre es dir wohl schwer
geworden, noch Sorgfalt auf dich zu wenden [έπιμεληθήναι σαυτού]; so aber ist dein Alter
eben das rechte, worin man es innewerden muß. ALKIBIADES: Was m u ß nun aber tun, wer es
innegeworden ist, ο Sokrates? SOKRATES: Beantworten, was gefragt wird, ο Alkibiades.«
26
Xenophon (Memorabilien IV.512) bestimmt das sokratische dialegesthai als »zusammenkommen
und gemeinsam beraten«. Vgl. J. Mittelstraß: Versuch über den Sokratischen Dialog. S. 14.
27
Anders als Foucault, der ihm in dieser Hinsicht auffälligerweise die Gefolgschaft verweigert,
sieht Pierre Hadot in der Dialektik einen integralen Bestandteil der philosophischen Übung.
Er charakterisiert die geschriebenen Dialoge Piatons als »des exercices-modeles«. Das sokra-
tische Gespräch markiert demnach das Modell schlechthin der philosophischen melete. Vgl.
P. Hadot: Exercices spirituels et philosophie antique. S. 41 —49 (Zitat: S. 46).
28
M. Foucault: Technologies of the Self. S. 24.
86 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

folglich zur Selbsterkenntnis anleiten. Zugleich soll es diesem Wissen praktische


Wirksamkeit verleihen, also eine wirkliche Verbesserung hervorrufen - und zwar
dadurch, daß es das Wissen in Form einer inneren Haltung begründet. Wenn der
platonische Alkibiades mithin als ein programmatischer Text anzusehen ist, dann
nicht nur im Hinblick auf die Verbindung zwischen Selbstsorge und Selbster-
kenntnis, die er zu stiften versucht, sondern auch im Hinblick auf die dialektische
Verfahrensweise, die er als geeignetes Mittel der Subjektkonstitution propagiert.
Paul Friedländer verweist in seiner Analyse des Alkibiades auf die »Kargheit, mit der
unser Dialog sich auf die zwei Hauptpersonen beschränkt«, erkennt aber in dieser
Kargheit zugleich die »ausgezeichnete Stärke« des Textes.29 Denn die Konzentration
auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis ermöglicht es Piaton, den Vorgang der inneren
Wandlung nachzuzeichnen, den Alkibiades im Laufe des Gesprächs durchmacht,
und die Techniken aufzuzeigen, derer sich Sokrates bedient, um diesen Wandel
hervorzurufen. Der Alkibiades zeichnet sich gegenüber den anderen platonischen
Dialogen dadurch aus, daß er den Blick des Lesers ganz auf die »Umlenkung« des
Protagonisten fokussiert.30 Er ist in besonderer Weise exemplarisch, nicht nur weil
er eine Konversion zu inszenieren sucht, sondern auch, weil er zwei verschiedene
Methoden dialektischer Unterweisung exponiert, mit deren Hilfe dieser Vorgang
gesteuert werden soll. Im ersten Teil des Alkibiades hat das Lehrgespräch die Form
eines elenchos. Der Text präsentiert somit eine Prüfungs- und Uberzeugungstech-
nik, die vor allem in den frühen Dialogen Piatons zur Anwendung gelangt und
mit der spezifisch sokratischen Methode der Gesprächsführung assoziiert wird.31
Im zweiten Teil des Dialogs wird Alkibiades mit einer ganz anderen dialektischen
Vorgehensweise konfrontiert. Sokrates bedient sich nun der Methode diäretischer
Begriffseinteilung, einer Technik, die für das Spätwerk Piatons - etwa für das im
Sophistes und Politikos geübte Verfahren - charakteristisch ist und die zudem im
Kontext seiner Schriftkritik als Kernstück einer dezidiert philosophischen Rhetorik
angepriesen wird. 32 Der Alkibiades verklammert somit das Früh- mit dem Spätwerk
Piatons; er bietet sozusagen eine Quintessenz sokratisch-platonischer Dialektik. Der
Dialog thematisiert nicht bloß die Problematik der Selbstkonstitution; er versucht

29 P. Friedländer: Piaton. Bd. 2. S. 215.


30 Ebd. S. 216. - Vgl. auch H. Pfeiffer: Selbstkultur und Selbsterhaltung. S. 96.
31 Gregory Vlastos, der Doyen der neueren Sokrates-Forschung, beschreibt diese Methode in
einer mittlerweile als klassisch angesehenen Abhandlung: T h e Socratic Elenchus. In: Oxford
Studies in Ancient Philosophy 1 (1983). S. 27-58.
32 Vgl. Piaton: Phaidros 265d—266a. — Paul Friedländer weist zwar daraufhin, daß die »Technik
der >Einteilungen«< im Alkibiades appliziert wird (Piaton. Bd. 2. S. 217). D a er aber an der
platonischen Urheberschaft des Alkibiades keinen Zweifel hegt und diesem eine Ubergangs-
position zwischen den frühen und den mittleren Dialogen Piatons zuerkennt, kann er die
darin zur Anwendung gelangende diätetische Vorgehensweise nur als einen Vorgriff auf das
später perfektionierte Verfahren deuten. Es ist aber ebenso denkbar, daß der Alkibiades als
platonisches Spätwerk oder als Werk eines Platon-Epigonen bewußt auf die fertig ausgebildete
Technik der Diärese zurückgreift.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 87

darüber hinaus, die Konstitution des Moralsubjekts exemplarisch vorzuführen und


an spezifische Techniken der mündlichen Unterweisung zu koppeln.
Der repräsentative Gestus, der den Text als Musterstück sokratischer und platoni-
scher paideia erscheinen läßt, wirft freilich auch eine Reihe von Fragen auf. Warum
etwa kommt es innerhalb des Gesprächs zu einem abrupten Wechsel der dialekti-
schen Methode? Indiziert dieser Wechsel einen Mangel, der der dialektischen Verfah-
rensweise der Subjektbildung inhäriert? Diese Fragen sollen der folgenden Analyse
des Alkibiades die Richtung weisen. Das Gespräch zwischen Sokrates und Alkibiades,
das in diesem Text inszeniert wird, entwickelt eine Eigendynamik, die den Ge-
sprächsführer immer mehr von der methodisch gesteuerten Dialektik wegführt und
ihn dazu veranlaßt, sich paränetischer und rhetorischer Instrumente zu bedienen.
Der Dialog selbst bewegt sich aus dem dialektischen Gesprächsmodus heraus, deckt
dessen Unzulänglichkeiten auf und rekurriert auf gegenständliche Vermittlungsfor-
men: Der aktive, zur Eigentätigkeit animierte Gesprächspartner wird am Ende zum
passiven Betrachter degradiert; der (Mit-)Produzent eines wahrhaftigen logos findet
sich schließlich in der Rolle des Zuschauers wieder, dem ein Wahrheitsschauspiel
präsentiert wird. Das paradeigma des Augenspiegels verwandelt Alkibiades, wie im
folgenden demonstriert werden soll, in einen Leser der Wahrheit.

2. Der sokratische elenchos

Wissensprüfung als Lebensprüfung

In der Apologie erklärt Sokrates, daß er vom delphischen Gott mit der Aufgabe
betraut worden sei, die Menschen zu prüfen. Die Prüfungstätigkeit, zu der sich So-
krates berufen fühlt, scheint sich auf zwei unterschiedliche Bereiche menschlichen
Seins zu richten. Zum einen handelt es sich um eine Prüfung des Wissens: Sokrates
sieht sich verpflichtet, die Menschen, denen er begegnet, daraufhin zu untersuchen,
was sie wissen oder zu wissen meinen; er verfolgt dabei vor allem das Ziel, schein-
haftes Wissen zu entlarven und denen, die sich für weise halten, ihre tatsächliche
Unwissenheit vor Augen führen. 33 Zum anderen erkennt Sokrates seine Aufgabe
darin, die Lebensführung seiner Mitbürger auf die Probe zu stellen: Er prüft die Art
und Weise, wie sie leben; er versucht herauszufinden, ob sie sich in ihrer Lebenspraxis
mehr um ihren Leib und um äußerliche Güter oder um ihr Seelenheil, um Wahrheit
und Erkenntnis kümmern. 34 Dabei folgt er der Devise, daß »ein Leben ohne Selbst-
erforschung [...] gar nicht verdient, gelebt zu werden«. 35 Der Prüfung des Wissens
wird somit die Prüfung des Lebens an die Seite gestellt.

" Piaton: Apologie 23b.


34
Ebd. 29e-30a.
35
Ebd. 38a.
88 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Es wäre folglich zu erwarten, daß den verschiedenen Zielrichtungen der sokra-


tischen Prüfungsaktivität unterschiedliche Prüfungstechniken korrespondieren, die
— je nachdem, was gerade geprüft wird - zur Anwendung gelangen: ein im engeren
Sinne philosophisches Prüfungsverfahren einerseits, mit dessen Hilfe die Ansichten
des Geprüften auf ihre Stimmigkeit und logische Stringenz hin analysiert werden
können, und ein ethisches Prüfungsverfahren andererseits, das die Durchleuchtung
der Biographie, der sittlichen Praxis und des Charakters der in Frage stehenden
Person ermöglicht. Letzteres Verfahren wäre als eine Art Vorläufer der neuzeitlichen
Inquisitions- und Beichttechniken anzusehen. Tatsächlich bedient sich Sokrates in
den platonischen Dialogen aber nur eines Verfahrens, um die vermeintlich divergie-
renden Zwecke der Lebens- und der Wissensprüfung zu erreichen:
Socrates does not provide for two types of elenchus - a philosophical one, providing for truth
about the good life, and a therapeutic one, searching out the answerer's life in the hope of
bringing him to the truth. There is one elenchus, and it must do both jobs, though one or
the other will be to the fore in different phases of it. 36

Um den bios des Prüflings zu erforschen, befragt ihn Sokrates nicht über seine
Lebensgeschichte, seine Taten und Verfehlungen, ebensowenig über seine konkreten
Lebensumstände und seinen Lebenswandel. Familienstand, Beruf, gesellschaftliche
Stellung, Gewohnheiten, Beschäftigungen, Neigungen und Wünsche - alle diese
Faktoren, die nach herkömmlichem Verständnis das >Leben< eines Individuums aus-
machen, kommen im elenchos nur beiläufig zur Sprache. Sokrates versucht vielmehr,
die Ansichten und Uberzeugungen seines Gesprächspartners in Erfahrung zu bringen.
Ihn interessiert nicht unmittelbar das, was einer tut oder getan hat, sondern das, was er
denkt. Die Lebensführung des Individuums wird nur vermittelt über seine Meinungen
und sein sittliches Wissen zum Gegenstand der Prüfung. Die Prüfung des Lebens ist
mit der Prüfung des Wissens identisch: Wie einer lebt, läßt sich laut Sokrates nur
dadurch feststellen, daß man herausfindet, was er weiß oder zu wissen glaubt.
Dem elenktischen Verfahren liegt somit die Annahme zugrunde, daß das Wissen,
über das ein Mensch verfügt, zugleich auch seine sittliche Praxis bestimmt. Sokrates
hat eine ganz bestimmte Form von Wissen im Visier. Er untersucht mit Hilfe seiner
Befragungsmethode nicht den Wahrheitsgehalt eines objektiven Wissens, einer
Doktrin oder einer Theorie. Gegenstand seiner Prüfung ist vielmehr der diffuse
Grenzbereich zwischen Wissen und Glauben: das Wissen, das der Befragte zu besit-
zen glaubt; das Wissen, das ihm zum Glauben, zur inneren Uberzeugung geworden
ist, mit dem er sich identifiziert und das ihn - sei es bewußt oder unbewußt - in
seinem Handeln leitet. Um mittels des elenchos an dieses Wissen heranzukommen,
verlangt Sokrates von demjenigen, der sich mit ihm auf ein Gespräch einläßt, die
unbedingte Einhaltung einer Grundregel: Er verpflichtet ihn zur Aufrichtigkeit.
Immer wieder schärft Sokrates seinen Gesprächspartnern die Maxime ein, auf seine

34 G. Vlastos: The Socratic Elenchus. S. 37.


Dialektische Strategien der Selbstsorge 89

Fragen nur solche Antworten zu geben, die sie wirklich für wahr halten. 37 Diese
Grundregel des elenchos soll zum einen dem Abgleiten des Gesprächs in die Unver-
bindlichkeit eristischer Scheinargumentation vorbeugen, die allein den glanzvollen
Sieg im Rededuell, nicht aber die ernsthafte Erkundung der Wahrheit zum Ziel hat.38
Zum anderen zwingt sie den Dialogpartner dazu, seine eigene Persönlichkeit und
sein eigenes Leben in die Untersuchung einzubringen. 39 Sie bindet das Wissen an
das Individuum und stellt somit sicher, daß der Befragte sich nicht nur über die zur
Diskussion stehenden moralischen Wahrheiten äußert, sondern sein wahres Selbst
in Gestalt seiner inneren Uberzeugungen aktualisiert.

Elenktisches vs. rhetorisches Beweisverfahren

Das griechische Wort elenchos verweist in seiner allgemeinen Bedeutung auf die
kritische Uberprüfung, Untersuchung oder Erprobung eines Sachverhalts. Konkret
bezeichnet der Terminus die Widerlegung, beziehungsweise Überführung, eines
Gegners im Streitgespräch oder in der gerichtlichen Auseinandersetzung; davon ab-
geleitet ist die Bedeutungskomponente »Beweis, Beweismittel·.40 Für die sokratische
Verfahrensweise ist jedoch nicht bloß eine dieser Komponenten, sondern das ganze
Bedeutungsspektrum des Begriffs relevant.41 Denn Sokrates begnügt sich keineswegs
damit herauszufinden, wie die Lebenseinstellung seines jeweiligen Gesprächspart-
ners beschaffen ist. Der elenchos umfaßt mehr als die kritische Feststellung eines
Sachverhalts. Sokrates verfolgt darüber hinaus das Ziel, die verkehrten Ansichten
seines Gegenspielers zu widerlegen, ihn von der Wahrheit zu überzeugen und auf
diese Weise zu einer tugendhaften Lebensführung zu bekehren. Der elenchos ist, wie
Gregory Vlastos in seiner Definition hervorhebt, ein Beweisverfahren: »Socratic
elenchus is a search for moral truth by adversary argument in which a thesis is de-
bated only if asserted as the answerer's own belief, who is regarded as refuted if and
only if the negation of his thesis is deduced from his own beliefs.«42 Aus dieser Be-
stimmung der sokratischen Methode geht allerdings auch hervor, daß Widerlegung

37
Eine Vielzahl von Belegstellen für diese Grundregel des elenchos bieten G. Vlastos: T h e Socratic
Elenchus. S. 35; Thomas C. Brickhouse / Nicholas D . Smith: Plato's Socrates. N e w York and
Oxford 1994. S. 80n.
38
Vgl. G. Vlastos: T h e Socratic Elenchus. S. 36; J. Mittelstraß: Versuch über den sokratischen
Dialog. S. 15.
39
Vgl. T. C. Brickhouse / N . D. Smith: Plato's Socrates. S. 14: »Only if the interlocutors answer
his questions with their sincerely held beliefs can Socrates be confident that he is really testing
an aspect of how they think they should live.«
40
Stephanus: Thesaurus Graecae Linguae. Ndr. Graz 1954. Bd. 4. Sp. 700f.; H e n r y George
Liddell / Robert Scott: A Greek-English Lexicon. Revised and augmented by Sir Henry Stuart
Jones. Oxford 1968. S. 531.
41
Sokrates selbst verwendet zwar nicht das Nomen elenchos, greift aber sehr häufig auf die
Verbform elenchein zurück, u m sein Procedere zu beschreiben. Vgl. G. Vlastos: T h e Socratic
Elenchus. S. 28.
42
G. Vlastos: T h e Socratic Elenchus. S. 30.
90 Vom somatischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

und Beweisführung im Rahmen des elenchos eine ganz spezifische Form annehmen.
Den Ausgangspunkt des elenktischen Gesprächs bildet stets eine These, die der
Gesprächspartner als Ausdruck seiner moralischen Uberzeugung präsentiert. Durch
geschickte Fragemanöver bringt Sokrates seinen Gegenspieler schließlich dazu,
einen Satz zu äußern, der seiner eigenen Ausgangsthese widerspricht. Er führt ihn
in die Aporie. Beweiskraft besitzt dabei aber nicht der logische Widerspruch, der
sich zwischen zwei unvereinbaren Aussagen offenbart. Es kommt Sokrates gar nicht
darauf an, seinem Gesprächspartner fehlerhaftes oder unsauberes Denken nachzu-
weisen. Von entscheidender Bedeutung ist vielmehr, daß der kontradiktorische Satz
- sofern die Grundregel des elenchos eingehalten wird - der inneren Uberzeugung
des Befragten entspringt. Dem Gesprächspartner wird somit demonstriert, daß
seine Ausgangsthese anderen Sätzen entgegensteht, von deren Richtigkeit er ebenso,
wenn nicht gar stärker überzeugt ist. Er wird mit der Möglichkeit konfrontiert, daß
das, wovon er anfangs überzeugt zu sein glaubte, seiner eigentlichen Überzeugung
zuwiderläuft. Der Widerspruch, den Sokrates aufdeckt, ist nicht bloß ein logischer
Widerspruch zwischen zwei Wissenssätzen. Er markiert eine Diskrepanz, die den
Wissenden selbst in seinem sittlichen Sein kennzeichnet und ihn innerlich spaltet.
Der Widerspruch ist ein Teil seiner selbst; der Befragte stimmt mit sich selbst nicht
überein. Von daher erklärt sich die außerordentliche Verwirrung, in die Sokrates
seine Gesprächspartner zu stürzen pflegt. Der elenchos ist deshalb als Widerlegungs-
technik so effektiv, weil er den Befragten in seinem Innersten trifft: Er zerstört das
Scheinwissen, dem der Prüfling erlegen ist, an seiner affektiven Wurzel - dort, wo
das Wissen und der Glaube zu wissen eins sind.
Die sokratische Verfahrensweise ist freilich an eine Vorbedingung geknüpft, die
alles andere als selbstverständlich ist. Sokrates kann die Widerlegung verfehlter An-
sichten nur dann aus der inneren Überzeugung des Befragten ableiten, wenn dieser
bereits über das wahre Wissen verfügt. 43 Er muß bei seinem Gesprächspartner die
Existenz bestimmter verborgener Überzeugungen schlichtweg voraussetzen. Sokra-
tes scheint davon auszugehen, daß sich alle Menschen je schon im Besitz wahren
Wissens befinden, ohne sich dessen notwendigerweise bewußt zu sein.44 Demnach
gibt es offenbar so etwas wie eine ursprüngliche Identifikation mit der Wahrheit, die
unter dem Einfluß gängiger Meinungen und Vorurteile verdunkelt, verdrängt oder

43
Vgl. Gregory Vlastos: Socrates. Ironist and Moral Philosopher. Ithaca and New York 1991.
S. 113f.: »Since Socrates does expect to discover truth by this method, he must be making
an exceedingly bold assumption which he never states [...], namely that side by side with
all their false beliefs, his interlocutors always carry truth somewhere or other in their belief
system; hence if Socrates pokes around in their belief system he can expect to turn up true
beließ entailing the negation of each of their false ones.«
44
Vgl. Τ. C. Brickhouse / N . D. Smith: Plato's Socrates. S. 83: »Socrates freely attributes certain
beliefs to people who might unreflectingly disclaim having such beliefs. T h e beliefs he attributes
are those which he is convinced all persons hold [...].«
Dialektische Strategien der Selbstsorge 91

vergessen, aber nie gänzlich ausgelöscht werden kann. 4 5 Die Aufgabe des Elenktikers
besteht folglich darin, die aberrante Identifikation des Befragten m i t falschem W i s -
sen rückgängig zu machen, die latenten G r u n d ü b e r z e u g u n g e n aus der Tiefe seiner
Seele hervorzuholen u n d sein wahres, verschüttetes Selbst zu reaktivieren. D i e innere
Diskrepanz, die der elenchos auf Seiten des Gesprächspartners z u m Vorschein bringt,
verweist auf eine verborgene D i m e n s i o n seiner Psyche:
Socrates rejects [the] supposition that we are psychologically transparent to ourselves in favor
of a view of our psychology according to which what is most importantly true of us may be
hidden to us if we do not lead the examined life. What we are is brought to light by Socratic
examination, which reveals what we really believe, intend, regard, and desire.46

D e r elenchos erweist sich s o m i t als ein I n s t r u m e n t der Selbsterkenntnis. Allerdings


vermittelt der Elenktiker seinem G e s p r ä c h s p a r t n e r kein Wissen darüber, wie dieses
Selbst an sich beschaffen ist. Er veranlaßt den Befragten n i c h t dazu, das Selbst als
isoliertes P h ä n o m e n zu b e t r a c h t e n oder einen A k t u n m i t t e l b a r e r Selbstreflexion
zu vollziehen. D e r elenchos will das Selbst n i c h t u n a b h ä n g i g v o n d e m W i s s e n
erfassen, m i t d e m es sich identifiziert. D a s u n t e r s c h e i d e t d e n elenchos v o n d e n
neuzeitlichen T e c h n i k e n introspektiver Selbstanalyse. D a s sokratische V e r f a h r e n
zielt d a r a u f ab, eine u n m i t t e l b a r e , unauflösliche Beziehung zwischen d e m S u b j e k t
u n d der W a h r h e i t h e r z u s t e l l e n . S o k r a t e s e r k e n n t d e n b e s o n d e r e n V o r z u g d e r
elenktischen M e t h o d e eben d a r i n , d a ß sie die D e m o n s t r a t i o n d e r W a h r h e i t an
ihre Aktualisierung im S u b j e k t zu k o p p e l n vermag. D e r elenchos, so b e h a u p t e t er,
ist ein Beweisverfahren u n d zugleich eine psychagogische T e c h n i k , die der W a h r -
heit zu praktischer W i r k u n g verhilft. D e r elenchos u n t e r w i r f t das I n d i v i d u u m d e r
M a c h t der W a h r h e i t .
Es ist sicherlich kein Zufall, d a ß Sokrates die psychagogische Effektivität des
elenchos in der A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t der S o p h i s t i k b e s o n d e r s n a c h d r ü c k l i c h
herausstreicht. D e r elenchos tritt sozusagen in K o n k u r r e n z zur rhetorischen techne
der Sophisten, die sich zu der B e h a u p t u n g versteigen, m i t Hilfe der R h e t o r i k die
M e i n u n g der M e n s c h e n beherrschen u n d ihr H a n d e l n dirigieren zu k ö n n e n . I m
Gorgias-Dialog will Sokrates seinen G e g n e r n demonstrieren, d a ß der elenchos nicht
n u r das bessere, wahre Wissen zu produzieren, sondern auch die stärkere praktische
W i r k u n g zu erzielen vermag u n d somit ein ideales I n s t r u m e n t der S e e l e n f ü h r u n g
darstellt. Das elenktische u n d das rhetorische Beweisverfahren werden im Gorgias di-
rekt miteinander konfrontiert. Diese programmatisch vollzogene Gegenüberstellung
soll im folgenden skizziert werden, u m im A n s c h l u ß daran a n h a n d des Alkibiades
zu untersuchen, ob die praktische U m s e t z u n g des P r o g r a m m s d e m darin e r h o b e n e n
Anspruch gerecht werden k a n n .

45
Darin wäre der sokratische Ansatzpunkt für die platonische anamnesis-Lehre zu sehen. Vgl.
G. Vlastos: T h e Socratic Elenchus. S. 55f.
46
T. C. Brickhouse / N. D. Smith: Plato's Socrates. S. 102.
92 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Ausgangspunkt der Gegenüberstellung ist das ungläubige Staunen, mit dem


Polos, ein Schüler des Sophisten Gorgias, einen Grundsatz der sokratischen Ethik
zur Kenntnis nimmt - die Behauptung nämlich, daß der Ungerechte nicht glücklich
sein könne. Sokrates fordert Polos dazu auf, diese Behauptung zu widerlegen. Der
Sophist fühlt sich seiner Sache sicher:
POLOS: Wohlan denn, Sokrates, es ist gar nicht nötig, dich durch alte Geschichten zu wider-
legen [παλαιοϊς πράγμασιν έλέγχειν]; sondern was gestern und ehegestern sich ereignet hat,
ist hinlänglich, dich zu widerlegen und zu beweisen, daß viele Menschen, welche Unrecht
tun, glückselig sind. 4 7

Der aktuelle Fall, den Polos dann anführt, um den sokratischen Grundsatz zu ent-
kräften, ist die Erfolgsgeschichte des makedonischen Königs Archelaos. Dieser sei
durch Mord, Verrat und andere unlautere Mittel in den Besitz einer unumschränkten
Herrschaft gelangt, die ihm die Erfüllung aller seiner Wünsche ermögliche. 48 Polos
verweist somit auf einen Zeugen, der die Vereinbarkeit von Unrecht und Glück
beglaubigen soll. Zeuge ist Archelaos auch in einem technischen Sinne. In der rhe-
torischen Kunstlehre hat der Zeuge einen ambivalenten Status. Einerseits zählt er
- neben dem Gesetz, dem Vertrag, der Folter und dem Eid - zu den inartifiziellen
Beweismitteln, die nicht der Kunstfertigkeit des Redners entspringen, sondern in
der zu behandelnden Sache selbst begründet sind. 49 Doch der Zeuge nimmt unter
den inartifiziellen Beweismitteln eine Sonderstellung ein. Als Zeuge gilt nämlich
nicht nur der »gegenwärtige« Zeuge, der Tat- und Augenzeuge also, der unmittelbare
Kenntnis von dem zu bewahrheitenden Gegenstand besitzt. Der Redner darf auch
von »alten« Zeugen Gebrauch machen, den »Dichter[n] und sonst Männer[n] von
Ansehen, deren Urteile bekannt sind«. 50 Dem »alten« Zeugnis, das den Werken der
Dichtkunst oder der geschichtlichen Überlieferung entnommen ist, wird sogar eine
größere Beweiskraft zuerkannt als der Aussage des Tatzeugen. 51 Es stützt sich auf die
kanonische Autorität der Tradition, auf das Ansehen des Bekannten; es spricht mit
der Überzeugungskraft des Exemplarischen und Sinnfällig-Prägnanten. Die litera-
rische Qualität, die dem Zeugnis somit zuerkannt wird, nähert es den artifiziellen
Beweismitteln an. Tatsächlich hat das »alte« Zeugnis eine täuschende Ähnlichkeit mit
dem artifiziellen Beweismittel des Beispiels (paradeigma). Es unterscheidet sich vom
paradeigma allein durch eben dieses Moment der Täuschung: Beispiele, so erklärt
Aristoteles, erwecken »den Anschein von Zeugnissen, ein Zeuge aber wird jederzeit

47 Piaton: Gorgias 470c-d.


48 Ebd. 471 a-c.
49 Aristoteles: Rhetorik. Ubersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort
von Franz G. Sieveke. München '1995. 1375a. - Der griechische Text der Rhetorik wird nach
der folgenden Ausgabe zitiert: Aristotelis Ars Rhetorica. Hg. von Rudolf Kassel. Berlin 1976.
50 Ebd. 1375b.
51 Ebd. 1376a: »Am glaubwürdigsten jedoch sind die alten Zeugen; denn sie sind unbestech-
lich.«
Dialektische Strategien der Selbstsorge 93

zur Vermittlung der Glaubwürdigkeit akzeptiert.«52 Der Zeuge steht auf der Schwelle
zwischen Inartifizialität und Artifizialität; er markiert die Kunst, die sich ganz den
Anschein der Kunstlosigkeit zu geben vermag.
Auch Polos beruft sich auf ein Beispiel, wenngleich nicht auf eine alte, sondern
auf eine neue, aktuelle Geschichte. Die sokratische These - so insinuiert er - ist der-
art abwegig, daß es die Mühe nicht lohnt, vollwertige Zeugen aus dem Schatzhaus
des kulturellen Gedächtnisses hervorzuholen und gegen sie aufzubieten. Doch die
Reverenz, die Polos auf diese Weise den »alten Geschichten« erweist, ist zugleich eine
rhetorische Finte, die es ihm erlaubt, sich auf elegante Weise aus der Bindung an die
Tradition zu lösen. Der Verzicht auf alte Geschichten indiziert die distanzierte Hal-
tung des Sophisten einer Überlieferung gegenüber, die keine uneingeschränkte Gel-
tung mehr für sich beanspruchen kann. Es ist sicherlich kein Zufall, daß auch der
von Polos angeführte Zeuge einen Bruch mit der Vergangenheit vollzieht: Archelaos
ist, wie Polos ausführlich berichtet, nur dadurch zur Herrschaft gelangt, daß er
alle rechtmäßigen Anwärter auf den makedonischen Thron aus dem Weg geräumt
hat. 53 Er stützt seine Position nicht auf das dynastische Prinzip und die Ordnung
des Herkommens, sondern auf die ebenso kluge wie rücksichtslose Anwendung
von Gewalt. Polos verfährt in gewisser Weise ähnlich. Um seiner Beweisführung die
erwünschte Durchschlagskraft zu verleihen, macht er sich nicht das Ansehen der
Tradition zunutze. Vielmehr ersetzt er die symbolische Autorität der Uberlieferung
durch das eindrucksvolle Tableau realer Macht, deren Aktualität zudem durch rhe-
torische Strategien der Veranschaulichung und Vergegenwärtigung hervorgehoben
wird. Die Gewalt des Emporkömmlings, der sich selbst zum König gemacht hat,
soll ihre Entsprechung in der überzeugenden Gewalt einer Rede finden, die sich
aus traditionellen und moralischen Bindungen befreit hat. Die Uberzeugungskraft
der von Polos dargebotenen »neuen Geschichte« beruht auf der Faktizität einer
Macht, die ihrerseits Tatsachen zu schaffen vermag. Es ist nicht allein die faktische
Existenz des glücklichen Tyrannen, durch die er Sokrates widerlegen zu können
glaubt. Die Figur des Gewaltherrschers versinnbildlicht darüber hinaus die Macht
der sophistischen Rhetorik, Tatsachen nach Willkür setzen und mit dem Anschein
der Wahrheit versehen zu können. Daß Archelaos nicht nur mächtig, sondern auch
glücklich ist, wird nämlich weder erklärt noch hergeleitet. Polos setzt das für seine
Beweisführung entscheidende Faktum — das Glück des Mächtigen — stillschweigend
voraus; er setzt es als Tatsache.
Sokrates durchschaut die Strategie seines Gegenspielers. Er geht daher auf in-
haltliche Aspekte der von Polos vorgetragenen Rede überhaupt nicht ein, sondern
unterzieht das von diesem applizierte Beweisverfahren einer grundsätzlichen Kritik.
»Du Seliger«, so apostrophiert er den Sophisten,

52
Ebd. 1394a.
53
Piaton: Gorgias 471a-c.
94 Vom somatischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

gedenkst eben mich auf rednerische Art [ρητορικώς] zu überführen [έλεγχειν], wie sie auch an
der Gerichtsstätte Beweis zu führen [έλεγχειν] sich einbilden. Denn auch da glaubt ein Teil
den andern überführt zu haben [έλεγχειν ], wenn er für seine Behauptung, die er vorträgt,
viele Zeugen [μάρτυρας] aufstellen kann und angesehene, der Gegenpart aber etwa einen
aufstellt oder gar keinen. Ein solcher Beweis [έλεγχος] aber ist gar nichts wert, wo es auf die
Wahrheit ankommt. 54

Sokrates begnügt sich nicht damit, die Glaubwürdigkeit des einen bestimmten
Zeugen anzufechten, den sein Kontrahent gegen ihn antreten läßt. Vielmehr
stellt er die Möglichkeit überhaupt in Frage, einen Sachverhalt durch rhetorische
Zeugen zu bewahrheiten. Weder das Ansehen, noch die Macht, noch die Viel-
zahl der aufgebotenen Zeugen kann in seinen Augen etwas dazu beitragen, die
Glaubhaftigkeit eines Zeugnisses zu erhöhen. Im Gegenteil, wer sachfremde - das
heißt artifizielle, rhetorischer Amplifikation zugängliche - Kriterien dieser Art in
den Vordergrund stellt, exponiert nur das Unvermögen des Zeugen, die Wahrheit
aus eigener Kraft zu beglaubigen. Sokrates läßt sich daher durch das paradeigma
des makedonischen Königs nicht beeindrucken. Die Tatsache, durch die Polos
die sokratische These widerlegen möchte, wird durch das Zeugnis des Archelaos
nicht bewiesen, sondern nur behauptet. O b der Tyrann wirklich glücklich sei,
so erklärt Sokrates, wisse er nicht: »denn ich habe nie Umgang gehabt mit dem
Manne.« 55 Er wäre folglich nur dann dazu bereit, das Glück des Königs als Tatsache
zu akzeptieren, wenn er sich dessen durch persönliche Einsichtnahme versichern
könnte. Beweiskraft besitzt für Sokrates offenbar ausschließlich dasjenige, was er
selbst als Tat- und Augenzeuge unmittelbar zur Kenntnis zu nehmen vermag. 56 Ein
Beweisverfahren, das diesen Namen verdient, muß daher einem hohen Anspruch
gerecht werden. Es darf den, der ein Urteil fällen soll, nicht bloß mit fremden
Zeugnissen versehen, sondern m u ß ihn seinerseits zum Zeugen der Wahrheit
machen. Dieser Anspruch, so behauptet Sokrates, wird durch den elenchos erfüllt.
Im Unterschied zum Redner, der eine Vielzahl von Zeugnissen aufbietet und diese
mit der erborgten Autorität der Uberlieferung oder des gesellschaftlichen Ansehens
ausstattet, macht der Elenktiker nur von einem Zeugnis Gebrauch: »Nämlich
ich verstehe für das, was ich sage, nur einen Zeugen aufzustellen,« so beschreibt
Sokrates seine Vorgehensweise,
den, mit dem ich jedesmal rede, die andern alle laß ich gehen, und nur von dem einen weiß ich
die Stimme einzufordern, mit den andern aber rede ich nicht einmal. Sieh also zu, ob du nun
auch willst an deinem Teile Rede stehen und das Gefragte beantworten. Ich nämlich glaube,
daß ich und du und alle Menschen das Unrechttun für schlimmer halten als das Unrechtleiden
und das Nichtgestraftwerden als das Gestraftwerden. 57

54
Ebd. 471e-472a.
55
Ebd. 470d.
56
Vgl. Piaton: Theaitetos 201c: Sokrates führt das Wissen des Augenzeugen als Beispiel für ein
ungegenständliches Wissen an, das nicht von einer Person auf die andere übertragen werden
kann. Vgl. dazu C. Schildknecht: Philosophische Masken. S. 27.
57
Piaton: Gorgias 474a-b. - Vgl. auch ebd. 472b und 476a.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 95

Inwiefern ist es überhaupt gerechtfertigt, den Dialogpartner im elenchos als Zeugen


der Wahrheit zu titulieren? Bezeichnenderweise läßt sich Sokrates nicht darauf ein,
diese Frage explizit zu erörtern. Anstatt Argumente zur Stützung seiner These anzu-
führen und sich über die Besonderheiten des elenktischen Beweisverfahrens zu äu-
ßern, versucht er seinen Gegenspieler durch eine neue, provozierende Behauptung
— Unrechtleiden sei besser als Unrechttun - in ein Gespräch zu verwickeln. Um
zu beweisen, daß der Befragte im elenchos ein Zeuge der Wahrheit ist, unterzieht
Sokrates seinen Gegner einer Befragung und macht ihn selbst zu einem solchen
Zeugen. Er begründet und erklärt seine Behauptung nicht, sondern er bemüht
sich, sie im Vollzug der elenktischen Praxis zu bewahrheiten. Polos soll am eigenen
Leibe erfahren, was es heißt, ein Zeuge der Wahrheit zu sein; er selbst soll Zeug-
nis davon ablegen, daß der Befragte im elenchos als Zeuge der Wahrheit fungiert.
Diese >praktische< Art der Beweisführung ist charakteristisch für den elenchos. Sie
läßt erkennen, daß Sokrates seiner Konzeption des elenchos ein emphatisches Ver-
ständnis von Zeugenschaft zugrunde legt. Er weist dem Gesprächspartner nicht die
Rolle des passiven Hörers oder Beobachters zu, vor dessen Ohren oder Augen eine
Wahrheit enthüllt wird. Zeuge ist der Gesprächspartner vielmehr in dem Sinne, daß
die Wahrheit sich an ihm selbst manifestiert. Er wird dazu gebracht, die Wahrheit
auszuagieren; er ist ein Täter der Wahrheit. Sie wird ihm nicht nur vorgeführt, er
selbst führt sie vor — und zwar nicht bloß als Gegenstand und abwesende Referenz
seiner Rede, sondern als lebendige Präsenz, als Bestandteil seiner selbst und seines
logos. Denn die Aktivität, zu welcher der Gesprächspartner im elenchos veranlaßt
wird, ist in erster Linie ein Sprachhandeln. Er soll, wie Sokrates gegenüber Polos
deutlich macht, »Rede stehen und das Gefragte beantworten«. Im elenchos wird
der Gesprächspartner dazu veranlaßt, einen logos zu produzieren, der gegen seine
ursprüngliche Ansicht zeugt. Das wahre Selbst des Befragten, das durch den elenchos
zum Vorschein gebracht werden soll, aktualisiert sich in Gestalt einer Äußerung.
Dieser logos beglaubigt die Existenz des wahren Selbst und erweckt es zugleich zum
Leben. An die Stelle einer Reflexion auf AAS Selbst und einer Rede über das Selbst
tritt im elenchos das redende Selbst - das Selbst als Rede. Der logos des Gesprächs-
partners ist ein Sprechakt, ein performatives Sprechen: Er bringt die Wahrheit
hervor, die er bezeugt. Der Befragte ist nicht bloß ein Augen- oder Ohrenzeuge,
sondern ein Erzeuger der Wahrheit.
96 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

3. Die Erfahrung des Nicht-Wissens: Der elenchos


als Instrument der Selbsterkenntnis

E l e n k t i s c h e P r ü f u n g des A l k i b i a d e s

D e r Alkibiades-O\z\oQ ist in seinem ersten Teil ein typisches »elenktisches Begeg-


nungsgespräch«. 5 8 Sokrates trifft an einem nicht näher bezeichneten O r t auf den
jungen Alkibiades und verwickelt ihn in eine Unterredung. D e r Zeitpunkt, zu dem
das Gespräch stattfindet, ist aber, wie Sokrates schnell deutlich macht, keineswegs
zufällig, denn Alkibiades befindet sich in einem kritischen Stadium seiner Entwick-
lung. E r steht an der Schwelle zum Erwachsenenalter und ist von dem W u n s c h
beseelt, so bald wie möglich sein D e b ü t auf der politischen B ü h n e Athens zu geben.
Sokrates weiß um die Begabung, aber auch um den Ehrgeiz, die Ruhmsucht und
die Ignoranz des jungen Mannes. E r verfolgt die Absicht, Alkibiades von seinem
voreiligen politischen Engagement ab- und zur Sorge um sein vernachlässigtes Selbst
anzuhalten. U m den stolzen Jüngling überhaupt ins Gespräch ziehen zu können,
m u ß sich Sokrates einer List bedienen. Er gibt Alkibiades zu verstehen, daß er sein
Begehren nach M a c h t und Ehre durchschaut habe und daß n u r einer - nämlich
er, Sokrates - ihm das Begehrte zu verschaffen vermöge. 5 9 E r erklärt sich bereit,
den Beweis für diese Behauptung anzutreten, aber nicht in Gestalt einer »langefn]
Rede«; vielmehr wolle er unmittelbar »zeigen [ένδείξασθαι], daß sich dies wirklich so
verhält, wenn du mir nur ein weniges dabei willst zu Hilfe kommen.« 6 0 Die Hilfelei-
stung, die Sokrates verlangt, besteht darin, daß Alkibiades sich an der Unterredung
beteiligt und die ihm gestellten Fragen aufrichtig beantwortet.
D e r elenchos, den Sokrates auf diese Weise eingefädelt und m i t der Verheißung
einer direkten, deiktischen Präsentation der Wahrheit eröffnet hat, wendet sich
sogleich den politischen Plänen des jungen M a n n e s zu. Sokrates will Alkibiades
zu dem Eingeständnis bewegen, daß er gar nicht über das Wissen verfügt, das der
Staatsmann benötigt, um erfolgreich tätig zu sein. Mittels umständlicher Fragema-
növer bringt er ihm zunächst die Einsicht nahe, daß dieses Wissen insbesondere die
Kenntnis von Recht und Unrecht beinhalten müsse. Sodann versucht er Alkibiades
klar zu machen, daß er davon nicht die geringste Ahnung hat. D e n n eine intensive
Befragung ergibt, daß der junge Mann den Unterschied zwischen Recht und Unrecht
weder von einem anderen gelernt, noch selbst gefunden hat. Diese beschämende
Enthüllung führt Alkibiades an die Schwelle zur Selbsterkenntnis. A u f die Frage des
Sokrates - »Wie soll man nun glauben, daß du dich auf Recht und Unrecht verstehst,
worüber du so schwankst und es offenbar weder von jemandem gelernt noch es selbst
erfunden hast?« - antwortet Alkibiades: »Nach dem, was du sagst, sollte man es nicht

58 P. Friedländer: Piaton. Bd. 2. S. 2 2 2 .


59 Piaton: Alkibiades 105d-e.
60 Ebd. 106b.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 97

glauben.«61 Der junge Mann ist, so scheint es, zur Einsicht in seine Unwissenheit ge-
langt; ein wichtiger Schritt zu seiner Besserung ist getan. Doch Sokrates ist mit der
Antwort seines Gesprächspartners überraschenderweise nicht zufrieden:
SOKRATES: Siehst du, wie du auch dies wieder gar nicht richtig gesprochen hast, ο Alki-
biades?
ALKIBIADES: Was denn?
SOKRATES: Daß du behauptest, ich sage dies.
ALKIBIADES: W i e doch? Bist du es etwa nicht, der behauptet [ λ έ γ ε ι ς ] , daß ich nichts verstehe
von Recht und Unrecht?
SOKRATES: Gar nicht.
ALKIBIADES: Sondern ich etwa?
SOKRATES: Ja.
ALKIBIADES: Woher aber?
SOKRATES: Das wirst du so sehen. Wenn ich dich frage: Eins und zwei, welches von beiden
ist mehr? so wirst du doch sagen zwei?
ALKIBIADES: Gewiß.
SOKRATES: Um wieviel?
ALKIBIADES: Um eins.
SOKRATES: Welcher von uns beiden ist nun der Behauptende, daß zwei um eins mehr ist als
eins?
ALKIBIADES: Ich. 62

Alkibiades ist die Tatsache entgangen, daß er sich seiner Unwissenheit selbst über-
führt hat. Er wußte offenbar nicht, was er tat, als er antwortete. Der junge Mann
ist in dem Glauben befangen, daß es Sokrates war, der seine Ignoranz entlarvt hat;
er hat den Eindruck, der Demonstration eines unerbittlichen Seelenzergliederers
beigewohnt zu haben, während er als Antwortender doch maßgeblich an dem Ent-
larvungsvorgang beteiligt war. Alkibiades ist sich der aktiven Rolle nicht bewußt, die
er im elenchos zu spielen hat. Um ihm diese nahezubringen, verfährt Sokrates ganz
ähnlich wie im Gorgias. Die mathematische Aufgabe, die er seinem Gesprächspartner
stellt, ist ein elenchos im kleinen. Anstatt zu begründen, warum der Antwortende im
elenktischen Gespräch der Behauptende ist, inszeniert Sokrates einen Modelldialog,
in dem Alkibiades sich selbst als gleichzeitig Behauptenden und Antwortenden
wahrnimmt. Alkibiades wird nicht mit einem gegenständlichen Wissen, mit Erklä-
rungen und Definitionen ausgestattet. Sokrates macht ihn vielmehr zum Zeugen
der Wahrheit. Eine solche Form der Beweisführung läßt sich kaum widerlegen. Wie
könnte man auch dasjenige in Abrede stellen, was man an sich selbst und im Vollzug
der eigenen Redepraxis erfährt? Der elenchos scheint den rhetorischen Überzeu-
gungstechniken tatsächlich weit überlegen zu sein. Sokrates hebt diesen Vorteil um
so nachdrücklicher hervor, als sein Dialogpartner den Wunsch äußert, durch einen
fortlaufenden Vortrag belehrt zu werden, und sich nur widerstrebend auf das elenk-
tische Verfahren einläßt. »Willst du denn nicht so sehr als nur möglich überzeugt

61 Ebd. 112d.
62 Ebd. 112e.
98 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

werden?«, so bedrängt ihn Sokrates: »Und nicht wahr, wenn du selbst behauptest
[λέγεις], daß sich etwas so verhält, dann bist du aufs beste überzeugt?«63
Der Elenktiker überzeugt seinen Gegenspieler, indem er ihn dazu bringt, den zu
bewahrheitenden Sachverhalt selbst zu behaupten. Die Behauptung {logos) geht dabei
in ihrer konstativen Funktion, eine Wahrheit zu repräsentieren, nicht auf; sie ist zu-
gleich auch performativ wirksam. Der elenchos aktualisiert die Wahrheit, die vermittelt
werden soll. Diesem programmatischen Anspruch, den Sokrates in seiner kleinen
Mathematikprüfung exemplarisch einzulösen sucht, ist er jedoch bei seinem ersten
Versuch, Alkbiades von seiner Unwissenheit zu überzeugen, nicht gerecht geworden.
Zwar hat er den jungen Mann dazu veranlaßt, Behauptungen aufzustellen, aber dieser
hat gar nicht gemerkt, daß er selbst der Behauptende war. Den Behauptungen fehlte
die erforderliche performative Kraft; die überzeugende Wirkung ist ausgeblieben.
Alkibiades zeigt denn auch keine Bereitschaft, aus der Erkenntnis seiner Unwissenheit
irgendwelche Konsequenzen zu ziehen. Seine Unkenntnis in bezug auf das Gerechte
und das Ungerechte beunruhigt ihn überhaupt nicht; in der Politik, so erklärt er, kom-
me es ohnehin eher auf die Einsicht in das Vorteilhafte und Nützliche an.64
Sokrates ist also vorerst in seinem Bemühen gescheitert, Alkibiades spürbar mit
seiner Unwissenheit zu konfrontieren. Die Durchführung des elenktischen Verfah-
rens war offenkundig mangelhaft. Der entscheidende Mangel ist vielleicht darin zu
sehen, daß Sokrates die Unwissenheit seines Gesprächspartners gleich zu Beginn
zum explizit erörterten Thema der Unterredung gemacht hat. Das Gespräch über
die Unwissenheit hat von der Unwissenheit abgelenkt, die Alkibiades im Gespräch
durch seine Behauptungen vorführte. Die Vergegenständlichung der Unwissenheit
als Gesprächsthema hat den Prüfling möglicherweise dazu verleitet, eine distanzierte
Haltung einzunehmen und sich in Sicherheit zu wiegen; sie hat ihn daran gehindert,
sich mit seiner eigenen Unwissenheit zu identifizieren.
Doch Sokrates läßt sich durch diesen Mißerfolg nicht entmutigen. Er unter-
nimmt einen zweiten Anlauf, um Alkibiades von seiner Unwissenheit zu überzeu-
gen, und versucht dabei, den anfangs begangenen Fehler zu korrigieren. Diesmal
vermeidet er es, die Ignoranz seines Gesprächspartners direkt anzusprechen. Er
bemüht sich vielmehr darum, den elenchos in seiner >klassischen< Form umzusetzen:
Alkibiades soll dazu bewegt werden, einer von ihm selbst aufgestellten These zu
widersprechen. Sokrates greift die Behauptung auf, die der junge Mann nach seinem
ersten Prüfungsgespräch mit provozierender Selbstsicherheit zum besten gegeben
hatte - die Behauptung nämlich, daß die Politik es mit dem Nützlichen, nicht mit
dem Gerechten zu tun habe, und daß es sich dabei um zwei ganz verschiedene Din-
ge handele. Tatsächlich gelingt es dem Gesprächsführer, Alkibiades auf dem Wege
der Befragung dahin zu bringen, das Gegenteil seiner Ausgangsthese zu behaupten.

63 Ebd. 114e.
" Ebd. 113d.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 99

Dabei scheint sich nun endlich auch die erhoffte Wirkung des elenchos einzustellen.
Alkibiades zeigt die typischen Symptome akuter Unwissenheit:
SOKRATES: Das Gerechte also, ο Alkibiades, ist vorteilhaft.
ALKIBIADES: Es scheint, ja.
SOKRATES: W i e nun, bist du es, der dies behauptet, oder ich, der Fragende?
ALKIBIADES: Ich ja wohl, wie es scheint.
SOKRATES: Wenn nun einer aufsteht, um zu beratschlagen, gleichviel ob mit den Athenern
oder Peparethiern, in der Meinung zu verstehen, was recht und unrecht ist, und will doch
behaupten zu wissen, das Gerechte sei bisweilen übel: Würdest du ihn nicht auslachen, da
doch auch du behauptest, das Gerechte und das Vorteilhafte sei dasselbe?
ALKIBIADES: Aber bei den Göttern, ο Sokrates, ich weiß nicht, was ich behaupte [ λ έ γ ω ] ,
sondern ordentlich ganz verdreht [ ά τ ό π ω ς ] komme ich mir vor. 65

Alkibiades wird durch den elenchos in einen Zustand heilloser Verwirrung gestürzt.
Seine Unwissenheit aktualisiert sich in Gestalt dieser Konfusion. Diesmal kann er
sich seine Unkenntnis nicht vom Leib halten; sie ist kein Gesprächsgegenstand. Sie
erfaßt ihn vielmehr unmittelbar. Die Situation, in der sich der Prüfling befindet,
kehrt das Resultat des ersten, gescheiterten elenchos um: Er weiß nun zwar, daß tr
selbst der Behauptende ist, aber er weiß nicht mehr, was er behauptet. Während ihn
das erste Prüfungsgespräch mit einem gegenständlichen Wissen über sein Selbst aus-
stattete, das aber wirkungslos blieb, entfaltet der elenchos nun eine äußerst intensive
Wirkung, die jedoch ins Leere geht, da sie von keinem klaren Bewußtsein begleitet
ist. Alkibiades agiert sein Unwissen aus, aber er weiß dabei nicht, was er tut. Auch
der zweite Versuch, den jungen Mann zur Selbsterkenntnis und zur Umkehr zu
bewegen, scheint somit zu mißlingen. Die von Sokrates vorgetragene Maxime, daß
derjenige, der selbst etwas behauptet, davon aufs beste überzeugt wird, bewahrheitet
sich nicht.

Scheitern des elenchos u n d Königsrede

Genauer gesagt bewahrheitet sie sich nur allzu sehr. Alkibiades wird von dem, was er
behauptet, «έέτ-zeugt; die Wahrheit entfaltet ein Übermaß an Überzeugungskraft.
Er ist nicht dazu fähig, die Wahrheit, die er durch die Aktivität seines Behauptens
attestiert und aktualisiert, zum Gegenstand einer Behauptung zu machen. Seine
Behauptung ist ein unmittelbares Zeugnis der Wahrheit und seines wahren Selbst,
eben deshalb entzieht sie sich seiner Kontrolle. U m den kognitiven Status dieser
Behauptung genauer zu bestimmen, ist es hilfreich, auf die Unterscheidung zwischen
Zeugnis (»testimony«) und Geständnis (»confession«) zu rekurrieren, die Shoshana
Felman im Rahmen ihrer sprechakttheoretischen Analyse des testimonial discourse
trifft. Im Gegensatz zum Geständnis, das laut Felman einen distanzierten, objektivie-
renden Umgang mit der Wahrheit des Selbst impliziert, bezeichnet das Zeugnis

65
Ebd. 1 1 6 d - e .
100 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

a mode of truth's realization beyond what is available as a statement, beyond what is available,
that is, as a truth transparent to itself and entirely known, given, in advance, prior to the very
process of its utterance. T h e testimony will thereby be understood, in other words, not as a
mode of statement of, but rather as a mode of access to, that truth. 6 6

Als Beispiel für ein solches Selbstzeugnis nennt Felman den Diskurs, den der Patient
in der psychoanalytischen talking cure produziert. Dieser Diskurs transportiert ein
Selbstwissen, das den Gehalt seiner Aussagen übersteigt. Die unbewußten Konflikte
des Patienten werden zutage gefördert, indem man ihn - unter Ausnutzung des Me-
chanismus der Übertragung - dazu bringt, sie im Gespräch mit dem Therapeuten
nicht bloß auszusprechen, sondern sprechend auszuagieren. Der Patient glaubt,
einen bekenntnishaften Diskurs über seine Kindheitserlebnisse, seine familiären
Konflikte und sein Sexualleben hervorzubringen, während er die entscheidenden, in
Aussageform nicht mitteilbaren Wahrheiten im Verhältnis zum Therapeuten noch
einmal durchspielt. 67 Es besteht eine Kluft zwischen dem, was seine Rede sagt, und
dem, was sie vollzieht - »[a] breach between act and knowledge, between constative
and performative«. 68
Der elenchos weist in dieser Hinsicht gewisse Ähnlichkeiten mit der talking cure
auf. Auch Sokrates veranlaßt Alkibiades dazu, einen Diskurs hervorzubringen, den
er nicht unter Kontrolle hat. Alkibiades artikuliert ein Wissen, das sich selbst nicht
weiß. Er kann das, was er sprechend tut, nicht in ein adäquates Bewußtsein seines
Tuns umsetzen. Der elenchos aktualisiert das Selbst des Prüflings und bringt es zum
Sprechen, doch es ist von sich aus nicht dazu fähig, dieses Tun in Erkenntnis auf-
zulösen. Nur ein anderer, Außenstehender vermag Alkibiades darüber Aufschluß zu
geben, was es mit seiner Verwirrung, seinem sich selbst nicht wissenden Behaupten
auf sich hat. »Und das weißt du nicht, Lieber, was für ein Zustand dies ist?«69 Mit
dieser Frage leitet Sokrates den Versuch ein, seinem Schützling zur Klarheit über
seine Situation zu verhelfen. Er informiert ihn darüber, daß sein »Zustand« als

66
Shoshana Felman / Dori Laub: Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis,
and History. New York and London 1992. S. 16f.
67
Vgl. Sigmund Freud: Zur Dynamik der Übertragung (1912). In: ders.: Studienausgabe. Er-
gänzungsband: Schriften zur Behandlungstechnik. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela
Richards, James Strachey und Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt a. M. 1975. S. 159-168, hier:
S. 168: »Die unbewußten Regungen wollen nicht erinnert werden, wie es die Kur wünscht,
sondern sie streben danach, sich zu reproduzieren, entsprechend der Zeitlosigkeit und Halluzi-
nationsfähigkeit des Unbewußten. Der Kranke [...] will seine Leidenschaft agieren, ohne auf die
reale Situation Rücksicht zu nehmen. Der Arzt will ihn dazu nötigen, diese Gefühlsregungen
in den Zusammenhang der Behandlung und in seine Lebensgeschichte einzureihen, sie der
denkenden Betrachtung unterzuordnen und nach ihrem psychischen Werte zu erkennen.
Dieser Kampf zwischen Intellekt und Triebleben, zwischen Erkennen und Agierenwollen spielt
sich fast ausschließlich an den Übertragungsphänomenen ab.« Vgl. auch ders.: Erinnern, Wie-
derholen und Durcharbeiten (1914). In: Schriften zur Behandlungstechnik. S. 207-215.
68
Shoshana Felman: T h e Literary Speech Act. Don Juan with J. L. Austin, or Seduction in Two
Languages. Translated by Catherine Porter. Ithaca 1983. S. 96.
69
Platon: Alkibiades 116e.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 101

Manifestation einer bodenlosen Unwissenheit anzusehen ist. Das (Un-)Wissen, das


eben noch in der Rede des Alkibiades wirksam war, wird somit wieder zu einem
Gegenstand des Gesprächs. Alkibiades ist nun nicht mehr derjenige, der selbst et-
was behauptet, indem er Fragen beantwortet, sondern Sokrates tritt als Lehrer und
Erklärer in Aktion. »Und die Ursache, weißt du sie, oder soll ich sie sagen?«, so fragt
er. »Sage sie«, antwortet Alkibiades,70 und Sokrates läßt sich nicht zwei Mal bitten:
Er setzt seinem Schüler die Gründe für seine Konfusion auseinander und erläutert
die Unterschiede zwischen dem wahrem Wissen, der Einsicht in das eigene Nicht-
Wissen und dem dünkelhaften Scheinwissen.
Damit, so sollte man glauben, ist Alkibiades im Besitz alles dessen, was er zu
vollständiger Selbsterkenntnis benötigt. Der elenchos scheint nun komplett zu sein.
Alkibiades ist eine ebenso intensive wie unmittelbare Erfahrung seiner Ignoranz
zuteil geworden; diese Erfahrung wurde ihm zudem aufgeschlüsselt und sorgfältig
erläutert. Gründlicher und nachhaltiger kann man einen Jüngling kaum mit seiner
prekären Seelenlage vertraut machen. Es verwundert daher nicht, daß Sokrates seine
Erläuterung mit einer Frage beschließt, der eine gewisse ungeduldige Erwartung
unschwer anzumerken ist:
SOKRATES: Was gedenkst du nun aber mit dir selbst zu tun? Es so zu lassen, wie du jetzt bist,
oder irgendeine Fürsorge [έπιμέλειάν] zu treffen?
ALKIBIADES: Das wollen wir noch miteinander beraten [κοινή βουλή], ο Sokrates; wiewohl
ich verstehe, was du sagst, und es zugebe. Denn mir scheinen die, welche die Angelegen-
heiten der Stadt besorgen, bis auf wenige gar ununterrichtet zu sein.71

Die Antwort, die Alkibiades seinem Lehrer gibt, ist für diesen in höchstem Maße
unbefriedigend. Der große psychagogische Aufwand scheint sich nicht gelohnt zu
haben. Nachdem Sokrates ihm den Zustand der Konfusion erklärt hat, besitzt Alki-
biades zwar ein genaues Verständnis seines Unwissens, doch diese Einsicht ist noch
immer nicht effektiv. Der junge Mann ist genauso wenig wie vorher dazu bereit,
praktische Konsequenzen aus seiner Selbsterkenntnis zu ziehen. Die Notwendigkeit,
sich um sein Selbst zu bekümmern, sich Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen,
wird von ihm mit dem Hinweis auf die Unbildung seiner Konkurrenten und seine
eigene natürliche Begabung abgewiesen. Die intensive Wirkung der elenktischen
Befragung - die schmerzhafte Erfahrung totaler Orientierungslosigkeit - scheint
verpufft zu sein und keine Spuren hinterlassen zu haben. Die Sturheit, mit der
Alkibiades an seinen politischen Plänen festhält, offenbart das endgültige Scheitern
des elenktischen Verfahrens. Alkibiades weiß um seine Unkenntnis, aber er ist
nicht wirklich davon berührt. Es ist dem Elenktiker nicht gelungen, die Erzeugung
therapeutischer Wirkung mit der Erzeugung von Wissen zu vereinen. Der elenchos
produziert einen Exzeß an Wirkung, einen logos, der einen Überschuß an performa-
tiver Kraft entbindet, der mithin unkontrollierbar und nicht zu handhaben ist. Die

70 Ebd. 117b.
71 Ebd. 119a-b.
102 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

nachträgliche Erklärung bringt zwar ein kontrollierbares Wissen hervor, dieses aber
bleibt unwirksam. Die konstative und die performative Komponente des elenkti-
schen logos finden nicht zueinander.
Das erneute Scheitern veranlaßt Sokrates schließlich dazu, den elenchos kurzer-
hand abzubrechen. Um Alkibiades doch noch zur Umkehr zu bewegen, greift er zu
einem ganz anderen Mittel: Er hält eine lange Rede — die sogenannte Königsrede,72
in der Paul Friedländer gar das »Kernstück des Dialoges« zu erkennen glaubt.73 An
einem neuralgischen Punkt des Gesprächs wird das elenktische mithin durch das
rhetorische Beweisverfahren ersetzt. In seinem Vortrag, der nach allen Regeln der
Kunst ausgearbeitet ist, argumentiert Sokrates, daß Alkibiades, um sein Ziel zu
erreichen, nicht mit den ungebildeten Athenern, sondern mit den Besten der be-
nachbarten Völker, den Königen und Königssöhnen Spartas und Persiens wetteifern
müsse. Diese aber seien ihm, was Herkunft, Reichtum, Erziehung und Naturgaben
anbetrifft, weit überlegen. Den Vorzügen seiner Konkurrenten habe Alkibiades
potentiell nur eines entgegenzusetzen, nämlich »Geschick [έπιμελεία] und Kunst
[τέχνη]«,74 eben jene Kenntnisse und Fertigkeiten also, deren Erwerb er fatalerweise
als überflüssig erachte.
Um dem jungen Mann seine Unterlegenheit nachdrücklich vor Augen zu füh-
ren, zeichnet Sokrates zunächst ein anschauliches, wenn auch idealisiertes Bild der
persischen Prinzenerziehung und wendet dann einen besonderen Kunstgriff an: Er
leiht den spartanischen und persischen Königinnen seine Stimme und läßt sie ihre
Verwunderung darüber kundtun, daß ein derart unbedarfter Mensch wie Alkibi-
ades es wagen könne, gegen ihre Gatten und Söhne anzutreten. Aus dem Munde
der Königinnen werden dem Jüngling noch einmal alle seine Unzulänglichkeiten
vorgerechnet. Sokrates inszeniert mittels dieser fiktiven Rede innerhalb der Rede ein
demütigendes Schauspiel. »Und doch,« so lautet das peinliche Fazit, »dünkt dich
das nicht schmählich, wenn die Weiber der Feinde es richtiger einsehen, wie wir
wohl sein müßten, um es mit ihnen aufzunehmen, als wir selbst von uns selbst?«75
Da es Sokrates nicht gelungen ist, Alkibiades selbst zum glaubhaften Zeugen seiner
Unwissenheit zu machen, bietet er fremde Zeugen a u f - rhetorische Zeugen, die mit
fiktiver Stimme sprechen; Zeugen von der Art, wie der Sophist Polos sie im Gorgias
zum Einsatz bringt. Diese Zeugen halten Alkibiades einen Spiegel vor Augen. Der
junge Mann erfährt die Wahrheit nicht - wie im elenchos - unmittelbar als Teil seines
eigenen Seins, sondern er wird mit einem äußerlichen Bild konfrontiert. Mit Hilfe
dieses rhetorischen Kunstgriffs gelingt es Sokrates schließlich doch noch, Alkibiades
von der Notwendigkeit der epimeleia zu überzeugen. »Wie aber soll ich mich geschickt
machen [έττιμέλειαν [...] τιοιεΐσθαι], ο Sokrates?«, mit dieser dringlichen Frage re-

72 Ebd. 121a-124b.
73 P. Friedländer: Piaton. Bd. 2. S. 219.
74 Piaton: Alkibiades 124b.
75 Ebd. 124a.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 103

agiert Alkibiades auf den langen Vortrag seines Lehrers: »Kannst du mir das wohl
erklären? Denn gar sehr scheinst du mir die Wahrheit gesagt zu haben.«76
Wo der Elenktiker scheitert, da reüssiert der Redner. Nur über den Umweg der
vergegenständlichenden Erklärung zum einen, der rhetorischen Dynamisierung
dieses gegenständlichen Wissens zum anderen schafft es Sokrates, Alkibiades zur
Änderung seiner Einstellung zu bewegen. Da sein Gesinnungswandel also letztlich
nicht auf dialektische Überzeugungsarbeit, sondern auf rhetorische Überredungs-
kunst zurückzuführen ist, steht seine Stabilität von vorneherein in Frage.
Immerhin verspürt Alkibiades nun das dringende Bedürfnis, sich aus seiner miß-
lichen Lage zu befreien. Er ist dazu entschlossen, seinem Selbst die bislang versäumte
Pflege zukommen zu lassen, und kann es kaum erwarten, dieses Vorhaben in die Tat
umzusetzen. Es sieht fast so aus, als habe ein Rollentausch stattgefunden: Nun ist es
Alkibiades, der Sokrates ungeduldig mit seinen Fragen bedrängt, während dieser den
jungen Mann zu bremsen versucht. Alkibiades ist nur an einem interessiert: Auf wel-
che Weise, so fragt er, soll ich für mich selbst Sorge tragen?77 Was kann ich tun, um
epimeleia auszuüben?78 Aus diesen Fragen geht hervor, daß Alkibiades die epimeleia
als eine konkrete Praxis begreift, die eine Besserung des Selbst herbeizuführen ver-
mag. Er tritt an Sokrates mit der Erwartung heran, eine Einweisung in diese Praxis,
einen Korpus von Vorschriften und Verhaltensregeln, eine Art Gebrauchsanweisung
der epimeleia zu erhalten, um sich möglichst umgehend in entsprechender Weise
betätigen zu können.79 Doch Sokrates unterläuft diese Erwartung. Die Frage, was
zu tun sei, beantwortet er mit der Aufforderung, das Lehrgespräch fortzusetzen.80
Weiterhin koppelt er die Praxis der epimeleia an die dialektische Wahrheitssuche. Auf
diese Weise will er verhindern, daß der junge Mann den Fehler aufs neue begeht,
der bereits seiner Entscheidung zugrunde lag, in die Politik zu gehen. Wie Alkibia-
des zu Beginn der Unterredung glaubte, sich ohne vorherige Unterweisung in den
höchsten Staatsangelegenheiten profilieren zu können, so glaubt er offenbar nun,
die Selbstsorge ohne genaue Kenntnis dessen betreiben zu können, was das Selbst
sei. Er scheint seine Lektion eben doch noch nicht gelernt zu haben: Wieder will er
handeln, ohne zu wissen. Das Ungestüm, mit dem sich Alkibiades auf die Praxis der
epimeleia wirft, ist ein deutliches Zeichen dafür, daß die Selbsterkenntnis, die ihm
durch den elenchos vermittelt wurde, noch keine hinreichende Festigkeit gewonnen
hat. Noch immer glaubt er zu kennen, wovon er gar nichts weiß; noch immer
veranlaßt ihn dieser Glaube zu einem voreiligen Handeln. Er hat die Einsicht in
seine Ignoranz offenbar noch nicht genügend verinnerlicht, um daraus die richtigen
Konsequenzen für sein praktisches Verhalten ziehen zu können. Wäre er wirklich

76 Ebd. 124b.
77 Ebd. 124b, 132b.
7" Ebd. 124d, 127e.
79 Alkibiades' Auffassung der epimeleia entspricht somit derjenigen Foucaults.
80 Piaton: Alkibiades 124c, 127e.
104 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

von seinem Unwissen überzeugt, so würde er sich zu allererst um die Beseitigung


dieses Mißstandes kümmern: >Was muß ich wissen?«, nicht >Was soll ich tun?<, so
müßte seine Frage lauten.

4. Akribische Begriffsanalysen: Die Diärese als


Instrument der Selbsterkenntnis

Das Schneideinstrument der Sprache


Die Fortsetzung des Gesprächs ist daher dem Ziel verpflichtet, die Selbsterkenntnis
zu festigen und zu vertiefen, über die Alkibiades nur in unzulänglicher Weise verfugt.
Der erste Teil des Dialogs hat den jungen Mann mit dem beklagenswerten Zustand
bekannt gemacht, in dem sich sein Selbst - ihm bislang völlig unbewußt — befindet.
Jetzt kommt es darauf an, Alkibiades die Mittel an die Hand zu geben, um diesen
Mangel zu beheben. Der negativen Selbsterkenntnis, welche die individuellen Defi-
zite aufdeckt, muß eine positive Selbsterkenntnis an die Seite treten: Eine Besserung
seines Zustands kann Alkibiades nur dann herbeiführen, wenn er weiß, worin das
wahre Selbst besteht. Die Einsicht in den Ist-Zustand bedarf der Ergänzung durch
das teleologische Wissen um den Soll-Zustand.
Im zweiten Teil des Dialogs bemüht sich Sokrates folglich darum, seinem Ge-
sprächspartner die Einsicht in das Wesen des Selbst zu vermitteln. Da der elenchos
gescheitert ist, wählt er nun eine andere Vorgehensweise. Das Selbst ist nun nicht
mehr als Rede und in der Rede präsent, die der Gesprächspartner — veranlaßt durch
die Fragen des Elenktikers - hervorbringt. Vielmehr führt Sokrates einen Diskurs
über das Wesen des Selbst. Es kommt zu einem Wechsel der Methode: Der elenchos
wird durch die dialektische Begriffsanalyse ersetzt. Sokrates will seinen Schüler auf
dem Wege der Diärese, des im platonischen Spätwerk dominierenden Verfahrens
der Herstellung exakten Wissens, zur Selbsterkenntnis geleiten.81 Er verfolgt die
Absicht, eine präzise Definition des Selbst zu erstellen. Sokrates scheint folglich
eine ganz andere Form von Wissen im Visier zu haben als im ersten Teil des Dialogs
- ein gegenständliches Wissen, das sich in Form von Sätzen formulieren und vom
einen auf den anderen übertragen läßt. Muß man mithin davon ausgehen, daß er
sein Vorhaben aufgegeben hat, Alkibiades mit einem ungegenständlichen Wissen
auszustatten und eine »Umlenkung« seiner Seele zu bewirken? Gibt er sich nun
damit zufrieden, ihm ein unverbindliches Wortwissen zu verschaffen?
Sicherlich nicht. Der Ubergang des elenchos zur Diärese markiert keine Ausflucht
in abstrakte Theorie. Im Gegenteil, Alkibiades soll mit einem dezidiert praktischen
Wissen ausgestattet werden, einem Wissen, das den Vollzug der epimeleia anzuleiten

Vgl. D. Kurz: ΑΚΡΙΒΕΙΑ. S. 101.


Dialektische Strategien der Selbstsorge 105

vermag. Zum einen nämlich verweist Sokrates auf das Beispiel des Handwerkers.
Die Kunst des Schusters etwa umfaßt nicht bloß die technische Geschicklichkeit,
die erforderlich ist, um einen Schuh herzustellen, sondern auch die genaue Kennt-
nis dessen, was den Schuh zum Schuh macht. 82 Die Schuhmacherkunst stellt eine
Einheit von theoretischem Wissen und praktischen Können dar. 83 Ähnliches gilt
nach sokratischer Ansicht auch für die epimeleia. Tatsächlich bezeichnet Sokrates
die epimeleia ausdrücklich als eine techne. Sie ist die »Kunst«, die »einen selbst
besser macht«. 84 Wie die Ausübung der Schuhmacherkunst nicht allein auf der
Beherrschung aller notwendigen Handgriffe, sondern auch auf der Einsicht in das
Wesen des Schuhs beruht, so basiert die techne der epimeleia auf der Einsicht in
die wahre Beschaffenheit des Selbst.85 Während Alkibiades nach einer konkreten
Gebrauchsanleitung der epimeleia verlangt, beharrt Sokrates auf der Notwendigkeit
einer exakten Wesensbestimmung des Selbst. Exaktheit - akribeia — ist nach plato-
nischer Auffassung ein hervorstechendes Merkmal echten Kunstwissens. 86 Wer bloß
über ungefähre Sachkenntnisse verfügt, wird demnach in seinem Handeln zu keinen
sicheren Ergebnissen gelangen. Nur auf der Basis präzisen Wissens können zuverläs-
sige praktische Resultate erzielt werden, die dem Einfluß des Zufalls (tyche) entzogen
sind.87 Die akribische Sachkenntnis des technites gilt Sokrates als der Inbegriff eines
fest gegründeten Wissens, das die reibungslose Umsetzung in die Praxis ermöglicht. 88
Er will seinem Schüler mit Hilfe des diäretischen Verfahrens ein derartiges Wissen
verschaffen und ihn somit in die Technologie des Selbst einweisen.
Zum anderen begreift Sokrates die Definition des Selbst, die er Alkibiades an
die Hand geben will, nicht als ein abstraktes Wortwissen, sondern als ein konkretes
Sachwissen, das dem Wissenden unmittelbaren Zugang zu der durch das Wort
bezeichneten Sache gewähren soll. Mittels der Diärese will der Gesprächsführer sei-
nen Schüler direkt mit seinem wahren Selbst in Verbindung setzen. Das akribische
Wissen, das der Kunst der Selbstverbesserung zugrunde gelegt wird, erweist seine
Technizität auch darin, daß es sich nur mit technischen Mitteln erwerben läßt. Die

82
Piaton: Alkibiades 128e-129a.
83
Diese Einheit von Wissen und Können kennzeichnet generell die sokratische Auffassung
der episteme. Vgl. B. Snell: Die Entdeckung des Geistes. S. 174; W. Wieland: Piaton und die
Formen des Wissens (passim).
84
Piaton: Alkibiades 129a.
85
Ebd. 128e-129a.
86
Vgl. D. Kurz: ΑΚΡΙΒΕΙΑ. S. 80.
87
Darin besteht laut Kube die Essenz des platonischen techne-Begriffes: Piaton weist den Sophi-
sten nach, »daß das, was τέχνη bedeutet, nämlich rationales, von Zufall u n d höherer Gewalt
möglichst unabhängiges Handeln, ohne genaue Kenntnis des herzustellenden Gegenstandes
gar nicht möglich ist«. (J. Kube: ΤΕΧΝΗ und ΑΡΕΤΗ. S. 228.) Vgl. D. Kurz: ΑΚΡΙΒΕΙΑ.
S. 34f.; zum Stellenwert des Gegensatzes von techne und tyche bei Piaton vgl. auch M. C.
Nussbaum: T h e Fragility of Goodness. S. 89—105.
88
Τ. C. Brickhouse / Ν . D. Smith: Plato's Socrates. S. 6; D i r k o T h o m s e n : >Techne< als Metapher
und als Begriff der sittlichen Einsicht. Z u m Verhältnis von Vernunft und Natur bei Piaton
und Aristoteles. Freiburgund M ü n c h e n 1990. S. 125.
106 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Diärese ist ihrerseits eine techne. Das Werkzeug, dessen sich der dialektische Künstler
bedient, ist die Sprache. Die techne der diäretischen Analyse beruht auf dem kunst-
vollen Umgang mit dem Wort. Wie der Webekünstler die Webelade benutzt, um den
»Einschlag und die ineinanderverworrene Kette wieder [zu] sondern«, so gebraucht
der Dialektiker die Rede, um die Dinge voneinander zu unterscheiden: »Das Wort
ist also belehrendes Werkzeug und ein das Wesen unterscheidendes und sondern-
des«.89 Der Diäretiker trennt mit Hilfe der Rede, was nicht zusammengehört. Er
durchschneidet falsche Verbindungen und löst das Unwesentliche vom Wesentlichen
ab. Der diäretische logos ist ein Schneideinstrument. Er erzeugt akribeia, indem
er Einschnitte setzt und Differenzierungen vornimmt. Der Herkunftsbereich des
Wortes akribes ist das Handwerk des Zimmermanns. Es verweist ursprünglich auf
die Aktivität des Sägens und Schneidens: Mit dem Attribut akribes versah man den
passend zugeschnittenen, fest und sicher sitzenden Balken.90
Die Sprache fungiert in der diäretischen Analyse also nicht nur als Schneide-
instrument. Sie ist gleichzeitig auch das Objekt, an dem geschnitten wird. Zu-
rechtgeschnitten werden nicht die Dinge selbst, sondern die logoi, die auf diese
Weise dem wahren Wesen der Dinge angepaßt werden. Der Dialektiker hat bei
seinem Geschäft des Unterscheidens insbesondere darauf zu achten, daß er keine
willkürlichen Grenzziehungen vornimmt. 91 Er m u ß so lange an seinen Wörtern
drechseln, er muß so lange mit dem Differenzieren fortfahren, bis er die Gewiß-
heit besitzt, daß seine Rede die wesenhaft vorgegebenen Grenzlinien zwischen
den Dingen nachzeichnet. Die Schneidetätigkeit des Diäretikers verfolgt letztlich
den Zweck, einen passenden logos herzustellen - einen logos, der sich genau mit
der zu bestimmenden Sache deckt. 92 Er arbeitet daran, die Instrumentalität und
Mittelbarkeit seiner Rede im Laufe des Analysevorgangs zum Verschwinden zu
bringen. Die Diärese ist mithin dem Ideal eigentlichen Sprechens verpflichtet. In
scharfem Kontrast zur sophistischen Rhetorik, welche die Täuschungsmacht der
Rede auf die Konventionalität des Sprachzeichens gründet und die Antinomie
von Wort und Sache postuliert, zielt das diäretische Verfahren auf die Erzeugung
eines logos, der in einer unmittelbaren, festen und eindeutigen Beziehung zu dem
bezeichneten Gegenstand steht. 93 Hinter der Definition, dem Endprodukt der

89
Piaton: Kratylos 388c.
90
D. Kurz: ΑΚΡΙΒΕΙΑ. S. 9. — Auch der Begriff techne entstammt ursprünglich der Kunst des
Zimmermanns. Vgl. J. Kube: ΤΕΧΝΗ und ΑΡΕΤΗ. S. 9f.
" F. P. Hager: Dihairesis. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter
u n d Karlfried Gründer. Basel und Stuttgart 197Iff. Bd. 2. Sp. 2 4 2 - 2 4 4 , hier: Sp. 242; vgl.
auch Peter Stemmer.· Piatons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge. Berlin und New
York 1992. S. 72.
52
D. Kurz: ΑΚΡΙΒΕΙΑ. S. 92.
53
Die anti-sophistische Stoßrichtung der diäretischen Verfahrensweise (Gegenmittel gegen die
Auflösung des einheitlichen Sprachgebrauchs, gegen die Verwischung sprachlicher Grenzzie-
hungen u n d die Labilität wertender Einschätzungen) erläutert P. Stemmer: Piatons Dialektik.
S. 11.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 107

dialektischen Begriffsanalyse, steht die Sache selbst, die — losgelöst von allem
unwesentlichen Beiwerk - als isolierte, unabhängige, mit sich selbst identische
Entität erkennbar wird.

Definition des Selbst

Sokrates will Alkibiades auf dem methodisch gesicherten Weg der Diärese zur Ein-
sicht in das wahre Wesen des Selbst führen. Die präzise Kenntnis dessen, was das
Selbst an sich ist, soll dem jungen Mann einen festen Anhaltspunkt bieten, an dem
er die Aktivität der epimeleia ausrichten und ihrerseits methodisch absichern kann.
Sokrates begibt sich somit im zweiten Teil des Dialogs daran, das Fundament fiir eine
erfolgreiche Praxis der Selbstverbesserung zu legen. Gemeinsam mit seinem Schüler
will er »das Selbst selbst finden«.94 Allerdings besitzen die diäretischen Passagen des Al-
kibiades, die der Suche nach dem wahren Selbst gewidmet sind, nur äußerlich die Form
eines Dialogs. Der junge Mann begnügt sich dabei, wie Paul Friedländer bemerkt,
meist mit dem passiven, »ruhig sachliche[n] Hinhören«. 95 Anders als im elenktischen
Gespräch legt Sokrates nun keinen besonderen Wert mehr darauf, daß Alkibiades sich
aktiv an der Wahrheitsfindung beteiligt. Die Beweiskraft der diäretischen Rede gründet
nicht in der Tatsache, daß der Gesprächspartner selbst als der Behauptende auftritt.
Sie beruht vielmehr auf dem Geschick, mit dem der Gesprächsführer das Werkzeug
der Rede zu handhaben und seine Schnitte zu setzen versteht. Sie basiert vor allem auf
der Treffsicherheit und Abbildgenauigkeit der Rede, die er hervorzubringen sucht: Die
Diärese ist dann erfolgreich, wenn die Definition, auf die sie hinfuhrt, das Wesen der
Sache tatsächlich aufschließt, wenn Alkibiades mithin in dem logos, der ihm am Ende
präsentiert wird, sein wahres Selbst anzuerkennen vermag. Die eigentliche Durchfüh-
rung der Diärese liegt daher ganz in der Hand des Lehrers.
Die grundlegende Unterscheidung, mit der Sokrates seine Analyse eröffnet,
ist diejenige zwischen dem Selbst und dem Seinigen, zwischen Sein und Haben. 9 6
Diese Differenzierung ermöglicht es, die Kunst der Selbstsorge von den sekundären
Künsten abzugrenzen, die auf die Herstellung und Pflege materieller Güter und
Besitztümer gerichtet sind. Die epimeleia heautou bezeichnet demnach allein eine
solche Aktivität der Fürsorge, die unmittelbar dem Selbst zugute kommt. Freilich ist
die Unterscheidung zwischen Sein und Haben noch sehr ungenau. Sie mahnt zwar
zur Aufmerksamkeit auf das, was wir sind, verschafft aber keine positive Klarheit
darüber, worin dieses Sein eigentlich besteht. Daher führt Sokrates eine weitere
Differenz ein. Er sondert den Gebrauchenden von dem Gebrauchsgegenstand, den

94 Platon: Alkibiades 129b.


95 P. Friedländer: Platon. Bd. 2. S. 219.
96 Paton: Alkibiades 128a-d. — Reto Luzius Ferz sieht in dieser Grenzziehung die zentrale, weg-
weisende Aussage des Alkibiades. Er untersucht ihre Konsequenzen für die spätantike und mit-
telalterliche Konzeption des Selbst. Vgl. R. L. Fetz: Dialektik der Subjektivität. S. 183-203.
108 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Künstler von seinem Werkzeug ab und versucht auf diese Weise, das Wesen des
Selbst klarer einzugrenzen. 97 Denn der Handwerker steht zu dem Instrument, mit
dem er arbeitet, in einer engeren Beziehung als der Reiche zu den Gütern, die er
besitzt. Das Gebrauchen markiert eine intensivere Form des Habens als das bloße
Besitzen. Gleichwohl ist das Werkzeug von dem Benutzer selbst zu unterscheiden
— es gehört zu dem, was er hat, nicht zu dem, was er ist. Von dieser Unterscheidung
ausgehend bestimmt Sokrates den Körper als Werkzeug der Seele, die sich des Leibs
zu ihren Zwecken bedient und diesen regiert. Der Körper ist folglich kein wesentli-
cher Bestandteil des Selbst, sondern etwas, was wir besitzen und gebrauchen, ohne
es zu sein. Das wahre Selbst des Menschen ist seine Seele: »Soll dir nun erst noch
deutlicher bewiesen werden, daß die Seele der Mensch ist?«,98 so beschließt Sokrates
seine diäretische Untersuchung.
Das Selbst ist die Seele: Ist dies das präzise Wissen, das Alkibiades den unmittel-
baren Zugang zur Wahrheit eröffnet? Der feste Anhaltspunkt, der seinem Schwanken
ein Ende bereitet? Das Richtmaß, das die Praxis der epimeleia anzuleiten vermag?
Die Art und Weise, wie Alkibiades auf die diäretische Enthüllung des wahren Selbst
reagiert, läßt Zweifel an der Effektivität der von Sokrates gewählten Verfahrensweise
aufkommen. Der junge Mann weiß nämlich mit der Definition, die ihm präsentiert
wird, nicht viel anzufangen. Sie ist ihm eben doch zu abstrakt — doch nur ein Wissen
und nicht zugleich auch eine Fähigkeit. Er kann sich nicht vorstellen, wie die Praxis
der Selbstverbesserung aussehen soll, die sich auf ein solches Wissen stützt. Daher
zeigt sich Alkibiades zwar durch den Vortrag seines Lehrers beeindruckt, doch fordert
er diesen erneut dazu auf, die Aktivität der Selbstsorge konkret zu beschreiben: »Du
scheinst mir sehr gut zu reden, ο Sokrates! - Aber versuche nun auch mir zu erklären,
auf welche Weise wir denn nun für uns selbst sollen Sorge tragen.«99 Die Ungeduld,
die aus diesen Worten spricht, ist durchaus nachvollziehbar. Denn obwohl Sokrates
dem Resultat der Diärese die Form einer praktischen Anweisung gibt, fordert diese
nicht zum Handeln, sondern wieder nur zum Erkennen auf: »Die Seele also befiehlt
uns kennenzulernen, wer das vorschreibt, sich selbst zu kennen«, 100 so lautet das
Fazit seiner Analyse. Die Maxime des gnothi sauton ist mithin lediglich ein wenig
präzisiert worden. Die Diärese, die dem Wesen des Selbst auf den Grund gehen und
den Ubergang zur Praxis der epimeleia ermöglichen sollte, führt am Ende nur zu
der Einsicht, daß die eigentliche Selbsterkenntnis immer noch aussteht. Sie gewährt
lediglich eine vorläufige Orientierung, die dem an der Praxis der Selbstverbesserung
Interessierten keine direkte Handhabe bietet.
Es kann daher nicht verwundern, daß Alkibiades sich in dem Spiegel nicht wie-
derzuerkennen vermag, den ihm der Diäretiker vorhält. Der junge Mann tut sich

97
Piaton: Alkibiades 129b-d.
98
Ebd. 130c.
59
Ebd. 132b.
100
Ebd. 130e.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 109

schwer, eine Beziehung zwischen den besonderen Erfordernissen seiner persönlichen


Situation und den allgemeinen Wissenssätzen herzustellen, mit denen ihn sein Lehrer
konfrontiert. Sokrates bleiben diese Schwierigkeiten nicht verborgen. Er spürt, daß
Alkibiades nicht ganz bei der Sache ist, und beschließt deshalb noch während des
Vollzugs der diäretischen Analyse, seinen Gesprächspartner wieder stärker am Prozeß
der Wahrheitsfindung zu beteiligen. Um den für seine Beweisführung entscheidenden
Unterschied zwischen dem Gebrauchenden und seinem Werkzeug herzuleiten, zieht er
eine Parallele zwischen dem Gesprächsteilnehmer, der sich der Sprache als Instrument
der Mitteilung bedient, und dem Schuster, der »mit dem Werkmesser und dem Kneif«
arbeitet.101 Das Beispiel des Sprechenden ermöglicht die direkte Bezugnahme auf die
gegenwärtige Gesprächssituation: »So komm denn, beim Zeus. Mit wem redest du
jetzt! Nicht wahr, doch mit mir?«102 Dem jungen Mann wird signalisiert, daß er selbst
der Gebrauchende ist, von dem der diäretische Diskurs handelt. Sokrates greift kur-
zerhand auf eine elenktische Strategie zurück — er macht Alkibiades zum Zeugen des
Wissens, das bewahrheitet werden soll. Auf diese Weise will er die allgemeine Einsicht
in das Wesen des Selbst, die er auf diäretischem Wege hervorbringt, an das konkrete,
individuelle Selbst seines Schülers binden. Doch das Vorhaben mißlingt auf eine verrä-
terische Weise. Das Beispiel besagt nämlich das Gegenteil dessen, was es bewirken soll.
Es besagt, daß der Gebrauchende etwas anderes ist als der logos, den er verwendet; es
trennt somit den Sprechenden von seiner Rede ab. Die Analogie zwischen der Sprache
und dem Werkmesser des Schusters akzentuiert das Moment der Trennung und treibt
somit den Widerspruch hervor, in den sich Sokrates verstrickt hat.
Die Erzeugung exakten Wissens läßt sich letztlich nicht mit dem Bestreben
vereinbaren, das Wissen an die Person des Wissenden zu knüpfen. Exaktes Wissen
ist zu allgemein, um Alkibiades zu innerer Anteilnahme zu bewegen. Wahre Selbst-
erkenntnis, die das Wesentliche exakt wiedergibt, ist eine selbstlose Erkenntnis, eine
Erkenntnis, die jeglichen Bezug auf das individuelle Selbst verliert. Mit anderen
Worten: Selbsterkenntnis ist Welterkenntnis, Einsicht in die substantiell vorge-
gebene Seins- und Vernunftordnung. Wer das eigentliche Selbst erfassen will, so
erklärt Sokrates seinem Gesprächspartner, muß auf »Gott [θεόν] und die Vernunft
[φρόνησιν]« schauen.103 Die Selbsterkenntnis, zu der Alkibiades geführt werden soll,
ist mit der Ideenerkenntnis identisch. Doch während Piaton in seinen programma-
tischen Ausführungen zur Ideenlehre der Wesenserkenntnis einen impliziten Bezug
auf das Selbst des Erkennenden zuschreibt, erweist sich dieser Selbstbezug in der
psychagogischen Praxis, wie sie im Alkibiades inszeniert wird, als problematisch. Der
Selbstbezug der Wahrheitserkenntnis kann in der Praxis der ethischen Subjektkons-
titution nicht einfach als gegeben vorausgesetzt, sondern muß mit Hilfe spezifischer

101 Ebd. 129c.


102 Ebd. 1 2 % (Hervorh. von mir, Ch. M.).
103 Ebd. 133c.
110 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Verfahren allererst hergestellt werden. Sokrates stößt somit auf das Problem der
Applikation. Um das Individuum der allgemeinen Vernunftordnung zu unterwerfen,
muß er sicher stellen, daß es sich selbst in dieser Ordnung wiedererkennen kann, daß
es sich mit ihr identifiziert. Weder mit elenktischen noch mit diäretischen Mitteln ist
es Sokrates aber gelungen, eine solche Identifikation herbeizuführen. Der elencbos des
ersten Dialogteils bindet das Subjekt zwar an die Wahrheit, doch er provoziert eine
Überidentifikation des Wissenden mit seinem Wissen, die seine Integration in die
Vernunftordnung verhindert. Die Diärese führt zwar zur Einsicht in diese Ordnung,
aber sie spaltet das Wissen vom Wissenden ab. Sokrates bleibt also keine andere
Wahl, als einen weiteren Anlauf zu unternehmen, um Alkibiades für die Sache der
Selbstsorge zu gewinnen. Wie er den elenchos nur durch die Anwendung rhetorischer
Uberzeugungsmittel zu einem positiven Abschluß zu bringen vermag, so kann er die
Konversion seines Schülers zur substantiellen Wahrheit nur dadurch vollenden, daß
er die literale Sprache der Diärese durch ein figuratives Sprechen ersetzt.

5. Der Spiegel der Sprache: Das Paradeigma als


Instrument der Selbsterkenntnis

»Wie können wir aber dies [sc. das Selbst] am genauesten [εναργέστατα] kennenler-
nen?«,104 mit dieser Frage leitet Sokrates einen weiteren, letzten Versuch ein, Alkibiades
zur Einsicht in sein wahres Selbst zu fuhren und zugleich eine Transformation seiner
Persönlichkeit auszulösen, die den Ausgangspunkt einer geregelten Praxis der Selbst-
gestaltung, der epimeleia heautou bilden soll. Bei vordergründiger Betrachtung scheint
es zunächst so, als wolle Sokrates auf dem Wege der diäretischen Analyse fortschreiten
und sich nun - nachdem er das wahre Selbst als die Seele bestimmt hat — auch noch
eine exakte Definition der Seele erarbeiten. Tatsächlich markiert seine Frage jedoch
einen folgenreichen Wechsel der psychagogischen Methode. Denn zum einen stellt
sie das Wie der Selbsterkenntnis auf den Prüfstand, macht das Methodenproblem also
explizit zum Thema der Erörterung. Zum anderen gibt sie zu verstehen, daß Sokrates
zwar noch immer auf die exakte Kenntnis des Selbst abzielt, dabei aber eine ganz ande-
re Form von Genauigkeit im Visier hat. Das Wort enarges verweist auf die Deutlichkeit
dessen, was sichtbar vor Augen steht. Eine Erkenntnis, die als enarges bezeichnet wird,
besitzt die Qualität der Anschaulichkeit. Die akribeia der diäretischen Rede hingegen
beruht auf der Trennschärfe des Begriffs. Ihre Deutlichkeit ist nicht die Evidenz des
sinnlich Wahrnehmbaren, denn die Aufgabe der diäretischen Begriffsanalyse besteht
gerade darin, »ohne alle Wahrnehmung nur mittels des Wortes und Gedankens [άνευ
πααών αισθήσεων δια του λόγου] auf das selbst, was jedes ist«, zu zielen.105 In dem

104
Ebd. 132c.
105
Piaton: Politeia 532a (Hervorhebung von mir, Ch. M.).
Dialektische Strategien der Selbstsorge 111

Bemühen, der Einsicht in das Wesen des Selbst eine psychagogisch wirksame Be-
züglichkeit auf die Person des Erkennenden zu verleihen, ist Sokrates offenbar dazu
entschlossen, die abstrakte Definition durch eine anschauliche Form des Wissens zu
ersetzen und die diäretische aknbeia der mit rhetorischen Mitteln herzustellenden
enargeia aufzuopfern.' 06 Z u diesen Mitteln gehören unter anderem die Metapher, der
bildhafte Vergleich und das Paradeigma. 107 Sokrates will Alkibiades die Einsicht in
das Wesen des Selbst mit Hilfe eines Paradeigmas vermitteln. Das anschauliche Bei-
spiel soll an die Stelle der logischen Analyse treten. Freilich führt dieser Tausch für
Alkibiades nicht unmittelbar zu einer Erleichterung seiner Erkenntnisbemühungen.
Das von Sokrates gewählte Paradeigma ist komplex. Der Lehrer begnügt sich nicht
damit, das allgemeine Wesen des Selbst in ein konkretes Bild zu übertragen. Er
versinnbildlicht nicht das Selbst, sondern den Vorgang der Selbsterkenntnis, und
zeigt dabei in paradeigmatischer Form auf, daß das Selbst nur mit paradeigmatischen
Mitteln zur Erkenntnis seiner selbst gelangen kann. Das sokratische Paradeigma der
Selbsterkenntnis hat einen metafiguralen Status: Es ist ein Paradeigma desjenigen
Paradeigmas, das jedem erfolgreichen Akt der Selbsterkenntnis zugrunde liegt.

106 Der Terminus enargeia ist seit dem vierten vorchristlichen Jahrhundert als rhetorischer
Fachbegriff bezeugt (vgl. A. Kemmann: Evidentia, Evidenz. In: Historisches Wörterbuch der
Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Tübingen 1992fF. Bd. 3. Sp. 3 3 ^ 7 , hier: Sp. 41). Aristoteles
etwa widmet diesem Stilmittel im dritten Buch seiner Rhetorik eine eingehende Betrachtung.
Es gehört zu den Techniken der Vergegenwärtigung und Verlebendigung, die der Rede die
Qualität der asteia verleihen. Damit ist eine besonders effektvolle Redeweise gemeint, die den
Hörer dadurch einzunehmen versteht, daß sie ihm auf leichte und schnelle Weise Wissen und
Unterweisung vermittelt. Vgl. Aristoteles: Rhetorik 1410b—1412a.
107 Aristoteles (ebd. 1410b) führt die folgenden Stilmittel als Techniken der Vergegenwärtigung
und Verlebendigung an: die Metapher, den bildhaften Vergleich, die Antithese und das Vor-
Augen-Führen. Das Paradeigma wird in diesem Zusammenhang zwar nicht explizit erwähnt,
aber Aristoteles bestimmt den bildhaften Vergleich an anderer Stelle (ebd. 1393a—b) als eine
Unterart des Paradeigmas und bringt ihn dabei sogar mit Sokrates in Verbindung: Der Vergleich
ist »der sokratische Gebrauch des Beispiels« (ebd. 1393b). Bei Piaton ist von einem solchen
Bemühen um terminologische Differenzierung noch nicht viel zu spüren: Er verwendet den
Begriff Paradeigma, um eine Redestrategie zu bezeichnen, die sich im Dunstkreis von Meta-
pher, Vergleich und allegorischem Mythos bewegt. Das platonische Paradeigma hat, wie im
folgenden dargelegt werden soll, eine Zwischenstellung zwischen Metapher und Vergleich inne.
Zur platonischen Konzeption des Paradeigmas vgl. Victor Goldschmidt: Le paradigme dans
la dialectique platonicienne. Paris 1947, siehe dort insbesondere S. 93f. (Vergleich mit dem
aristotelischen Begriff des Paradeigmas), S. 104—110 (zur Verwandtschaft von Paradeigma und
Metapher). - Laut Aristoteles ist die Metapher ein effektiveres Instrument der Veranschauli-
chung als der Vergleich - vor allem dann, wenn sie mit dem Stilmittel des Vor-Augen-Führens
(energeia) kombiniert wird. Das aristotelische Schlüsselkonzept der energeia markiert im Kon-
text der Rhetorik die Darstellung von Dingen, die in Tätigkeit und Wirksamkeit begriffen sind
(141 lb-1412a). Indem Aristoteles der energeia in seinen Ausführungen zur Anschaulichkeit
eine Sonderstellung einräumt, leistet er der Verwechslung der Termini energeia und enargeia
Vorschub, die in der langen Geschichte der Rhetorik immer wieder zu beobachten ist. Vgl.
A. Kemmann: Evidentia, Evidenz. Sp. 40.
112 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Paradeigma und Metapher


Sokrates hält sich nicht mit einführenden Überlegungen auf. Er konfrontiert seinen
Gesprächspartner ohne Umschweife mit dem Paradeigma der Selbsterkenntnis, das
er für das einzig angemessene hält: »Ich will dir sagen, was ich glaube, daß dieser
[sc. der delphische] Spruch meint und uns anrät. Und es mag wohl nicht recht
viele, sondern nur ein Beispiel [παράδειγμα] dazu geben, nämlich dasjenige des
Gesichts.«108 Sokrates will die Selbsterkenntnis anhand der visuellen Wahrnehmung
veranschaulichen. Er vergleicht die Seele mit dem Auge. Er vermeidet es, die Wahl
dieses Paradeigmas zu begründen, erklärt auch nicht, warum für ihn nur dieses eine
Paradeigma in Frage kommt. Vor allem aber unterläßt er es, das tertium compara-
tionis zu explizieren. Vielmehr beschränkt er sich vorerst darauf, die beiden Ver-
gleichsobjekte nebeneinander (παρά) auszustellen (δεικνύναι). m Der Verzicht auf
Erklärungen und Begründungen ist ein Bestandteil der Strategie paradeigmatischen
Sprechens. Wer ein Paradeigma anführt, insinuiert, daß das bloße Nebeneinander
der Vergleichsobjekte genügt, um das Ahnliche, das sie miteinander verbindet, er-
kennbar zu machen. Die paradeigmatische Darstellung profitiert von der Tatsache,
»daß einige Dinge leicht zu erkennende zur Wahrnehmung gehörige Ähnlichkeiten
[ομοιότητες] an sich tragen, welche es dann gar nicht schwer ist aufzuzeigen, wenn
jemand einem, der Rechenschaft über etwas verlangt, nicht auf eine mühsame Wei-
se, sondern ohne Erklärung [χωρίς λόγου] leicht etwas darüber deutlich machen
will«.110 Da die Ähnlichkeit leicht zu erfassen ist, ist die Erklärung überflüssig.
Doch zugleich trägt der Verzicht auf die Erklärung, die Ellipse des logos, maßgeb-
lich dazu bei, die Ähnlichkeit allererst wahrnehmbar zu machen. In dieser Hinsicht
ist das Paradeigma der Metapher näher verwandt als dem bildhaften Vergleich.
Denn die Metapher ist, wie Aristoteles in seiner Rhetorik ausführt, ein Vergleich,
bei dem die Erklärung weggelassen wird, der also eines erklärenden Wortes be-
darf: »ώστε δσαι αν εύδοκιμώσιν ώς μεταφοραϊ λεχθεΐσαι, δήλον οτι αύται και
εικόνες έσονται, και αί εικόνες μεταφοραϊ λόγου δεόμεναι.«111 Das Fehlen der
Erklärung, das Metapher und Paradeigma gleichermaßen charakterisiert, läßt di-
ese Redefiguren in einem ambivalenten Licht erscheinen. Es bedingt zudem ihre

108
Piaton: Alkibiades 132d (Übersetzung modifiziert).
109
Im Unterschied zum lateinischen exemplum (von eximere·. herausnehmen, wegnehmen,
absondern) verweist das griechische paradeigma nicht auf die Beziehung zwischen Teil und
Ganzem, Besonderem und Allgemeinem, sondern auf die Kontiguität und Sichtbarkeit
dessen, was nebeneinander ausgestellt wird. »The Greek term is therefore always associated
with light, showing, seeing, and pointing; the Latin term concerns selection, excision, textual
combination, and discontinuity.« (John D. Lyons: Exemplum. T h e Rhetoric of Example in
Early Modern France and Italy. Princeton 1989. S. 12.) Doch auch die platonische Konzep-
tion des Paradeigmas impliziert, wie im folgenden gezeigt werden soll, die Vorstellung des
Wegnehmens und der Exzision: Das erklärungslose Nebeneinanderstellen ist eine Form der
elliptischen Verkürzung, die Anschaulichkeit allererst hervorbringt.
110
Piaton: Politikos 285e.
111
Aristoteles: Rhetorik 1407a.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 113

besondere Wirkungskraft, ihre Suggestivität. Z u m einen nämlich ermöglicht der


Wegfall der Explikation, die Rede ganz auf das Anschauliche zu reduzieren: Nichts
lenkt von dem wahrnehmbaren Gegenstand ab, den sie darbietet. Die Metapher
setzt das eine unvermittelt an die Stelle des anderen; das Paradeigma setzt das eine
ebenso unvermittelt neben das andere. Der Vergleich dagegen begnügt sich nicht
mit einem solchen umstandslosen Setzen. Er ist umständlicher und »weitläufiger
[μακροτέρως]«; er obstruiert somit den Eindruck sinnlich wahrnehmbarer Ge-
genwart. 112 »La metaphore«, so erläutert Jacques Derrida die aristotelische Kontra-
stierung von Metapher und Vergleich, »met ainsi sous les yeux, avec vivacite, ce que
la comparaison, plus trainante, reconstruit indirectement.«" 3
Zum anderen aber veranlaßt der Verzicht auf die Erklärung den Hörer der Rede
dazu, die Ähnlichkeit, die ihm nicht expliziert wird, selbst zu ermitteln. Der Ver-
gleich erklärt, worin die Ähnlichkeit besteht: »Folglich sucht [ζητεί] auch die Seele
nicht danach.«114 Der Metapher hingegen liegt ein verborgener, elliptischer Syllo-
gismus zugrunde. 115 Da sie den einen Gegenstand erklärungslos mit dem anderen
gleichsetzt, nötigt sie den Hörer zur Suche. Ausgehend von dem Gegebenen muß
er die Eigenschaft erschließen, die den beiden Vergleichsobjekten gemeinsam ist.
Die Metapher präsentiert ein Ähnliches, aber worin diese Ähnlichkeit besteht, das
zeigt sie gerade nicht: »[eile donne] ä voir en acte ce qui neanmoins ne se donne pas
en acte, seulement dans son double tres ressemblant, son mimerne.«"'' Der syllogi-
stische Charakter von Metapher und Paradeigma ist dort besonders ausgeprägt, wo
Sinnliches mit Unsinnlichem verglichen wird. Die Ähnlichkeit zwischen dem Auge
und der Seele etwa läßt sich nicht wahrnehmen, da niemand je die Seele hat sehen
können. Das Augenähnliche der Seele kann - um die Formulierung aus der Politeia
noch einmal aufzugreifen - »nur mittels des Wortes und Gedankens« erfaßt werden.

112
Ebd. 1410b.
1,3
Jacques Derrida: La mythologie blanche. La metaphore dans le texte philosophique. In: ders.:
Marges de la philosophie. Paris 1972. S. 2 4 7 - 3 2 4 , hier: S. 285.
"" Aristoteles: Rhetorik 1410b.
115
Genauer: ein verborgenes Enthymem. Das rhetorische Schlußverfahren des E n t h y m e m s
unterscheidet sich vom dialektischen Schlußverfahren des Syllogismus einerseits dadurch,
daß es von wahrscheinlichen oder allgemein bekannten statt von gewissen u n d apodiktisch
bewiesenen Prämissen ausgeht, andererseits durch seine Kürze und Prägnanz (der Verzicht
auf den Beweis markiert ja bereits eine elliptische Beschneidung des Schlußverfahrens). Das
Enthymem ist ein verkürzter Syllogismus, ein Syllogismus ohne Erklärung (vgl. Aristoteles:
Rhetorik. 1357a, 1395b, 1419a). Auch hier hat die elliptische Struktur die doppelte Funktion,
Anschaulichkeit zu erzeugen und den Hörer zu geistiger Eigentätigkeit zu animieren; auch
hier wird die Illusion gesteigerter Präsenz paradoxerweise dadurch erzeugt, daß der Rede etwas
weggenommen wird. Die Ellipse wirkt belebend auf die Rede und auf den Hörer. Es wäre
mithin zu prüfen, ob Aristoteles nicht generell die Überzeugungstechniken der Rhetorik als
elliptische Verkürzung dialektischer Argumentationsverfahren konzipiert, und zwar mit der
Absicht, die Rede und die Seele des Hörers zu energetisieren, sie in den Zustand der Wirk-
samkeit, der energeia zu versetzen. - Zur elliptischen Syllogistik der metaphorischen Rede vgl.
auch Jacques Derrida: La mythologie blanche. S. 285f.
116
J. Derrida: La mythologie blanche. S. 285.
114 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Gleichwohl manifestiert sich die Suggestivkraft des Paradeigmas eben darin, daß diese
Ähnlichkeit unmittelbar >einleuchtet<, sobald man das eine dem anderen >an die Seite
stellte Die okulare Qualität der Seele wird >evident<, weil Sokrates davon absieht, sie
herzuleiten. Und umgekehrt: Die Erklärung erübrigt sich, da das zu Erklärende sich
unmittelbar aus der Gleichsetzung der Gegenstände ergibt: Zeigen und Verbergen,
Vor-Augen-Finden und Entfernen, Sichtbarmachen und Vorenthalten gehen in der
metaphorischen und paradeigmatischen Rede folglich eine enge Verbindung ein. 1 1 7
Metapher und Paradeigma sprechen das sinnliche Wahrnehmungsvermögen des Hö-
rers an und provozieren ihn gleichzeitig zu geistiger Eigentätigkeit. Auf diese Nähe,
diese Kontiguität von Wahrnehmung und Denken ist die eindrückliche Wirkung des
Paradeigmas zurückzuführen. Sie verleitet den Hörer dazu, das Nebeneinander in ein
Ineinander zu verwandeln, und das, was er wahrnimmt, mit dem, was er denkt, zu
identifizieren. Die Uberzeugungskraft der metaphorischen und paradeigmatischen
Rede beruht auf einer Verwechslung von Wahrnehmung und Denken. Der Rezipient
glaubt zu sehen oder zu hören, was er denkend erschließt; er erliegt der Illusion, daß
der Sinn, den er entziffert, ihm leibhaftig vor Augen steht.

Spiegelungsfunktion und Sehstrahltheorie

Auf der Analogie zwischen Seele und Auge, die ohne Erklärung in den Raum gestellt
wird, baut Sokrates sein Paradeigma der Selbsterkenntnis auf. »Wenn jemand un-
serm Auge wie einem Menschen den Rat gäbe und sagte: Besieh dich selbst, wie
würden wir doch glauben, daß er das fordere?«, so fragt er: »Nicht daß es dahin
schauen sollte, wohinein das Auge schauend sich selbst sehen würde?« 118 Auge
und Seele — dies geht aus dem Paradeigma ohne Erklärung hervor - sind einander
ähnlich, weil beide als Erkenntnisorgane fungieren. D e m Vergleich liegt somit
eine weitere Metapher zugrunde: die Analogie zwischen visueller Wahrnehmung
und geistiger Erkenntnis. Das Erkennen ist eine Art von geistigem Sehen - der
schlagenden >Evidenz<, die dieser Analogie im antiken Denken zukommt, verdankt
das Paradeigma, das Sokrates seinem Schüler vorführt, einen Teil seiner überzeu-
genden W i r k u n g . " 9 Denn es handelt sich dabei nicht um eine beliebige Metapher.
D i e visuelle Metaphorik durchzieht die gesamte griechische Terminologie des

'17 Derrick (ebd. S. 289) weist daraufhin, daß die Beispiele, die Aristoteles zur Veranschaulichung
seiner Metaphernkonzeption anführt, häufig den Akt des Abschneidens, Abtrennens oder
Wegnehmens darstellen. Die Metaphern bringen somit den Vorgang elliptischer Verkürzung
vor Augen, dem sie ihre Anschaulichkeit verdanken; sie versinnbildlichen das Zugleich von
Sichtbarmachen und Verbergen, auf dem die Wirkkraft metaphorischen Sprechens beruht.
118 Piaton: Alkibiades 132d.
1 " In gewisser Weise ist die visuelle Metaphorik des Erkennens fur das paradeigmatische Sprechen
konstitutiv. Weil das Erkennen immer schon als eine Art von Sehen gedacht wird, fällt es leicht,
die Kontiguität von Wahrnehmung und Denken, die durch das Paradeigma erzeugt wird, in
eine Identität zu überführen. Die visuelle Metaphorik des Erkennens leistet der Verwechslung
von Wahrnehmung und Denken Vorschub, auf der die Wirkung des Paradeigmas beruht.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 115

Erkennens. 120 Die Analogie von Sehen und Erkennen ist eine absolute Metapher
im Sinne Hans Blumenbergs - eine Metapher, die das erkenntnispragmatische
Feld eröffnet und absteckt, auf dem sich ein bestimmtes Denken bewegen kann. 121
Sie korreliert der Grundannahme eines teleologisch geordneten Kosmos: In der
mühelosen Schau der Wahrheit, die sich dem geistigen Auge wie von selbst
darbietet, gelangt die wechselseitige, teleologisch verbürgte Zugemessenheit von
Erkennendem und Erkenntnisgegenstand zum Ausdruck. 122 Doch die visuelle Me-
taphorik setzt der Erkenntnis zugleich auch ihre Grenzen. Das Auge ist nicht dazu
geschaffen, sich selbst zu sehen. Der eine Gegenstand, der dem Wahrnehmungsor-
gan nicht zugemessen ist, den es nicht ohne Mühe in den Blick nehmen kann, ist
dieses Organ selbst. Um sich selbst zu betrachten, muß das Auge seine natürliche
Blickrichtung invertieren und sich künstlicher Hilfsmittel bedienen. Es muß, wie
Alkibiades vorschlägt, »in Spiegel und dergleichen« schauen. 123 Sokrates scheint folg-
lich mit seinem Paradeigma auf einen Erkenntnistyp zu verweisen, der das System
der vorgegebenen Zwecke durchbricht. Das sich selbst betrachtende Auge markiert
eine widernatürliche Form des Sehens. Das Paradeigma stellt die Selbsterkenntnis
offenbar als einen Akt dar, der den Erkennenden aus der Naturordnung herauslöst,
isoliert und vergegenständlicht, anstatt ihn in diese Ordnung zu integrieren und der
vorgegebenen Wahrheit zu unterwerfen.
Doch es wäre voreilig, solche Schlüsse zu ziehen, denn Sokrates führt sein Pa-
radeigma noch weiter aus. Tatsächlich besteht seine Absicht darin, die Erkenntnis
des einzelnen, individuellen Selbst auf paradeigmatischen Wege mit der Einsicht
in die überpersönliche Wahrheitsordnung, in das Selbst selbst zu vermitteln. Er
will der Einsicht in diese Wahrheit einen individuellen Selbstbezug verleihen und
sie dadurch allererst zur Wirkung bringen. Daher greift er den Vorschlag seines
Gesprächspartners, das Hilfsmittel des Spiegels in Anspruch zu nehmen, zwar
auf, gibt diesem jedoch eine eigentümliche Wendung. Sokrates hat einen ganz
bestimmten Spiegel im Sinn. Er erinnert Alkibiades an die durch Beobachtung
leicht zu verifizierende Tatsache, »daß, wenn jemand in ein Auge hineinsieht, sein
Gesicht in der gegenüberliegenden Sehe erscheint wie in einem Spiegel, was wir
deshalb auch das >Püppchen< [κόρην] nennen, da es ein Abbild [ε'ίδωλον] ist des
Hineinschauenden.« 124 Sokrates ist nicht dazu bereit, jeden beliebigen Spiegel als
Reflexionsmedium des Auges zu akzeptieren. Nicht der gewöhnliche Blick in den
Spiegel, sondern der Blick in das Auge eines anderen wird von ihm zum Paradeig-

120
Vgl. H. Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit; J. Derrida: La mythologie blanche.
S. 298f. und passim.
121
Zur Konzeption der absoluten Metapher vgl. H. Blumenberg: Paradigmen zu einer Meta-
phorologie. S. 10-13 und passim; zum fundamentalen Stellenwert der visuellen Metaphorik
im Denken der klassischen Antike vgl. ders.: Licht als Metapher der Wahrheit. S. 433f.
122
Vgl. H. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. S. 278f.
123
Piaton: Alkibiades 132e.
124
Ebd. 133a.
116 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

m a der Selbsterkenntnis erhoben. »Wenn also ein Auge sich selbst schauen will,
m u ß es in ein Auge schauen, u n d zwar in den Teil desselben, welchem die Tugend
[άρετή] des Auges eigentlich einwohnt.« 1 2 5
W a r u m weist Sokrates ausgerechnet dieser spezifischen Form von Spekularität
einen paradigmatischen Status zu? Weshalb finden andere, effektivere Formen der
Spiegelung keine Berücksichtigung? Diese Fragen drängen sich auf, denn das Auge
eines anderen ist als katoptrisches Instrument nicht gerade zweckmäßig. Einem
Auge, das eine möglichst deutliche Vorstellung seiner selbst gewinnen will, würde
m a n eher dazu raten, in einen künstlichen, eigens zu diesem Zweck gefertigten
Spiegel zu schauen, als d e m winzigen Reflex nachzuspähen, der in der Pupille
eines Fremden aufscheint. 1 2 6 D o c h zum einen scheint Sokrates die katoptrische
Eigenschaft des Auges eben deshalb so zu schätzen, weil sie einen natürlichen
Spiegelungseffekt darstellt. Das Auge ist ein von der N a t u r selbst vorgesehenes
Instrument der Bespiegelung. Das Paradeigma des Augenspiegels erlaubt es somit,
den Akt der Selbsterkenntnis doch noch in die teleologische N a t u r o r d n u n g zu in-
tegrieren. 127 Z u m anderen k o m m t es Sokrates nicht bloß darauf an, d a ß der Spiegel
ein möglichst ähnliches und deutliches Bild des Betrachters hervorbringt. Genauso
wichtig, wenn nicht gar wichtiger ist ihm, daß der Spiegel dem Betrachter zugleich
auch ähnlich ist. Will das Auge sich selbst erkennen, dann m u ß es - darauf beharrt
Sokrates - auf etwas Gleichartiges blicken: »Wenn es aber auf irgendeinen andern
Teil des Menschen sähe oder auf irgendein anderes Ding außer jenem, dem dieses
ähnlich [όμοΐον] ist, wird es nicht sich selbst sehen.« 128 Das Auge des anderen dient
mithin auf zweifache Weise als Spiegel. Der Reflex, der in der Pupille sichtbar wird,
präsentiert dem Betrachter ein Abbild seiner äußeren Erscheinung. Doch nicht nur
der Reflex, der im Auge des anderen aufscheint, auch dieses Auge selbst stellt ein

125
Ebd. 133b.
126
Auch wenn man die - im Vergleich zum modernen Glasspiegel - geringere Qualität antiker
Metallspiegel in Rechnung stellt, so besteht doch kein Zweifel daran, daß der künstliche
Spiegel ein weitaus besseres Spiegelbild zu erzeugen vermag als das Auge eines anderen. Einen
ähnlichen Einwand formuliert bereits O t t o Apelt in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung
des Alkibiades. Vgl. Piatons Dialoge. Alkibades der Erste, Alkibiades der Zweite. Ubersetzt und
erläutert von O t t o Apelt. Leipzig 1918. S. 225. - Die neuere kulturgeschichtliche Forschung
zur Technik des Spiegels und der Spiegelherstellung in der Antike faßt Einar Mär Jönsson
zusammen: Le miroir. Naissance d'un genre litteraire. Paris 1995. S. 36—49. - Die Technik
des Glasspiegels war in der Antike im übrigen nicht unbekannt. Vgl. Ada von Baldershofen-
Netoliczka: Κάτοπτρον. In: Paulys Realenzyklopädie der classischen Altertumswissenschaften.
Neue Bearbeitung unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen hg. von Georg Wissowa.
Stuttgart 1893ff. 1. Reihe. 21. Halbband. Sp. 2 9 ^ 4 , hier: Sp. 44f.
127
Es fällt allerdings auf, daß Sokrates sein Paradeigma zurechtbiegen muß, u m ihm den Anschein
des Natürlichen zu verleihen. Das Künstliche, Konstruierte des Vergleichs tritt nirgends deut-
licher zutage als dort, wo der künstliche Spiegel zugunsten des >natürlichen< Augenspiegels
zurückgewiesen wird. Die Naturordnung, auf die Sokrates seinen Schüler verpflichten will,
kann nur mit künstlichen Mitteln zur Geltung gebracht werden.
128
Piaton: Alkibiades 133a.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 117

Spiegelbild dar, insofern es nämlich dem Betrachter ähnlich ist.129 Seine Spiegelfunk-
tion gründet in dem, was es ist. Als ein anderes Exemplar derselben Gattung verhilft
es dem betrachtenden Auge zur Einsicht in das, was es seinem Wesen nach ist. Es
ist ein Abbild nicht der äußeren, individuellen Erscheinung, sondern des inneren
Wesens, auf das es vermöge seiner Ähnlichkeit verweist.
Das Paradeigma des Augenspiegels führt somit zwei verschiedene Formen der
Spiegelung und zwei unterschiedliche Ähnlichkeitsbeziehungen zusammen. Die
Pointe des Paradeigmas besteht nun darin, daß es die divergierenden Ähnlichkeits-
beziehungen unvermittelt in eins setzt. Die Pupille im Auge des anderen markiert
diese Synthese. Die Pupille bildet in jeder Beziehung das Zentrum des Auges. Sie ist
der Teil des Wahrnehmungsorgans, »welchem die Tugend [άρετή] [...] eigentlich ein-
wohnt.« 130 Sokrates kennzeichnet sie als den Sitz der Sehkraft, die das Auge allererst
zum Auge macht. Ein Auge, das die Pupille eines anderen Auges betrachtet, sieht so-
mit ein Abbild seiner eigenen arete, seiner eigenen Wesensnatur. Gleichzeitig erblickt
der Betrachter jedoch ein gewöhnliches Spiegelbild, das ihn in seiner individuellen
Beschaffenheit reflektiert. Dieser Spiegelreflex - daran läßt Sokrates keinen Zweifel
- ist kein bloßer Widerschein, der der Pupille äußerlich anhängt. Das Spiegelbild
ist vielmehr mit der Pupille eins: Man nennt sie kore (>Püppchen<), so erklärt der
Gesprächsführer, weil sie »ein Abbild ist [öv] des Hineinschauenden.«' 31 Die Pupille
des anderen bietet dem Betrachter somit beides in unauflöslicher Verquickung;
die Veranschaulichung seiner allgemeinen Wesensnatur und ein Spiegelbild seines
besonderen, individuellen Seins. Die Visualisierung des Wesenhaften in Gestalt der
Pupille ist unmittelbar auch die Repräsentation des einzelnen. Der Blick in den
Augenspiegel versinnbildlicht somit einen Akt der Wesenserkenntnis, der einen
direkten Bezug auf das individuelle Selbst des Erkennenden besitzt: Der Betracht-
ende erkennt in dem Abbild des überpersönlichen Wesens zugleich auch ein Abbild
seiner empirischen Person wieder - er kann sich mit der wesenhaften Wahrheit,
die ihm offenbart wird, identifizieren. Die Instanz, die diese Vermittlungsleistung
vollbringt, ist die Person des anderen. Das Paradeigma des Augenspiegels revidiert
die delphische Maxime: Erkenne dich selbst in einem anderen - diese Anweisung
erteilt Sokrates seinem Gesprächspartner in gleichnishafter Form.
Das Paradeigma, das die gelungene Synthese von wesenhafter und individueller
Selbsterkenntnis vorführt und somit eine Lösung für das Problem der Applikation
in Aussicht stellt, weist freilich einen Makel auf: Es ist eine Fiktion; seine Evidenz
beruht auf einer bewußt herbeigeführten Täuschung. Die Besonderheit des somati-
schen Typs gleichnishafter Rede — dies behauptet Aristoteles in seiner Rhetorik - ist
darin zu sehen, daß sie nicht mit Tatsachen, sondern mit Erfundenem operiert. So-

129 So auch M. Foucault: L'hermeneutique du sujet. Cours au College de France. S. 68f.


130 Piaton: Alkibiades 133b.
131 Ebd. 133a (Hervorhebung von mir, Ch. M.).
118 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

krates fingiert und konstruiert seineparadeigmata. 1 3 2 Diese Behauptung bewahrheitet


sich auch im vorliegenden Fall, obwohl der Gesprächsführer die Überzeugungskraft
seines Gleichnisses gerade a u f die Autorität natürlicher Tatsachen zu gründen sucht.
D o c h Sokrates erfindet sich eine Natur. In dem Bestreben, die Selbsterkenntnis auf
die Naturordnung zurückzuführen, zeichnet er ein verzerrtes, verfälschendes Bild
der natürlichen Gegebenheiten. D e n n das Paradeigma des Augenspiegels wider-
spricht den Einsichten der antiken O p t i k und der ihr zugrundeliegenden Theorie
der Sehstrahlen. 1 3 3
Dieser T h e o r i e zufolge n i m m t die Pupille Licht nicht von außen auf. D i e Ver-
hältnisse liegen umgekehrt: Das Auge sendet Sehstrahlen aus. 134 D i e Pupille ist also
kein Reflektor, kein Spiegel oder Spiegelbild. Sie ist eine Ö f f n u n g im Auge, die
den Austritt der Sehstrahlen ermöglicht. D i e Konzeption des Netzhautbildes ist
der antiken Wahrnehmungstheorie unbekannt. 1 3 5 Das Sehen ist ein Vorgang, bei
dem im Normalfall von Bildern überhaupt kein Gebrauch gemacht wird. Die vom
Auge ausgehenden Sehstrahlen stellen dabei eine direkte Verbindung zwischen der
Seele des Wahrnehmenden und dem wahrgenommen O b j e k t her. Sie verschmelzen
mit dem Sonnenlicht und mit den feurigen Emissionen des Wahrnehmungsobjekts
zu einem einzigen, homogenen Lichtkörper. 1 5 6 Das reguläre Sehen gehorcht somit
dem Prinzip der homoiosis — es ist eine W a h r n e h m u n g des Gleichen im Gleichen. 1 3 7
D e r W a h r n e h m e n d e sieht unmittelbar im Gegenstand, ohne der Vermittlung eines
Bildes zu bedürfen. 1 3 8 B e i m Blick in den Spiegel hingegen wird die direkte Ver-
bindung zwischen dem W a h r n e h m e n d e n und dem Gegenstand aufgehoben. D i e
Sehstrahlen finden nämlich an der glatten Oberfläche des Spiegels keinen Halt; 1 3 9
sie werden abgelenkt und unmerklich auf andere Gegenstände gerichtet, so daß
der W a h r n e h m e n d e diese Gegenstände im Spiegel zu sehen glaubt, während sie
sich tatsächlich anderswo befinden. 1 4 0 A u f diese Weise trennt der Spiegel ein Bild

132 Vgl. Aristoteles: Rhetorik 1393a-b.


133 Ich stütze mich im folgenden auf die einschlägige Studie von Gerard Simon: Der Blick, das
Sein und die Erscheinung in der antiken Optik. Übersetzt von Heinz Jatho. München 1992.
— Piaton selbst hat, wie die bedeutenden Ausführungen zum Gesichtssinn in seinem Timaios-
Dialog eindrucksvoll belegen - an der Ausarbeitung der Sehstrahltheorie einen maßgeblichen
Anteil. Diese Theorie wird in der einen oder anderen Variante von fast allen antiken Philoso-
phenschulen vertreten. Eine Ausnahme bildet die materialistische Wahrnehmungstheorie der
Atomisten, die von Epikur übernommen wird. Nach epikureischer Auffassung ist das Auge kein
Sender, sondern ein Empfangsorgan, das die von den Gegenständen unablässig abgestoßenen
Häutchen oder Oberflächenbilder (»simulacra«) aufnimmt. Vgl. dazu Titus Lucretius Carus:
De rerum natura libri sex. Edited by Cyril Bailey. Oxford 1947. Vol. 1. IV.54-452.
134 G. Simon: Der Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik. S. 31.
135 Ebd. S. 42.
136 Vgl. Piaton: Timaios 45b-c. Vgl. auchE. M.Jonsson: LeMiroir. S. 50: »[...] la vision s'effectuait

en fait en dehors du corps, dans les objets eux-meme et sans l'intermediaire d'une image.«
137 Vgl. G. Simon: Der Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik. S. 205.
138 Vgl. Piaton: Timaios 45b-c.
139 Ebd. 46a.

""> Vgl. Ε. M. Jonsson: Le Miroir. S. 51.


Dialektische Strategien der Selbstsorge 119

vom Wahrnehmungsobjekt ab. Die spekuläre Wahrnehmung markiert ein medi-


atisiertes und somit ein irreguläres Sehen, ein Sehen mittels leerer, substanzloser
Bilder. Als Produkt irregeleiteter Sehstrahlen besitzt das Spiegelbild keine objektive
Realität. Es existiert nur für denjenigen, der in den Spiegel hineinschaut. 141 Das
Spiegelbild ist eine » E r s c h e i n u n g ohne Wahrheit«. 142 Es täuscht ein Sein vor, das
ihm nicht wirklich zukommt. Es simuliert eine Ähnlichkeit, die nicht wirklich
existiert, da es selbst nicht wirklich ist. Die vermeintliche Ähnlichkeit des Spiegel-
bilds kann den Wahrnehmenden daher dazu verleiten, das Bild mit seinem Träger
zu identifizieren und so dem Unwirklichen eine falsche Realität und Substantialität
zuzusprechen.
Folgt man den Prämissen der Sehstrahltheorie, so ist das Spiegelbild, dessen man
bei der Betrachtung eines fremden Auges gewahr wird, ein bloßes Phantasma. Ihm
kommt keine objektive Realität zu, sondern es wird vom Betrachter selbst hervor-
gebracht. Da der Spiegelreflex dem fremden Auge somit gar nicht angehört, sagt
er auch nichts darüber aus, was dieses Auge sieht und wie sein Sehen funktioniert.
Es steht in keinerlei Beziehung zur Sehkraft des Auges, das betrachtet wird. Diese
entzieht sich vielmehr der Wahrnehmung: Die Pupille, der Sitz der Sehkraft, ist
ein schwarzes Loch, eine gestaltlose Leere. Das Spiegelbild im Auge des anderen ist
mithin eine bloße Projektion, die beim Hineinschauen mehr oder weniger zufällig
genau an der Stelle in Erscheinung tritt, wo sich jene Leere auftut. Sokrates macht
sich diese Koinzidenz für sein Paradeigma zunutze. Er nimmt die enge räumliche
Nähe von Spiegelbild und Pupille zum Anlaß, das eine mit dem anderen zu iden-
tifizieren: Die Pupille ist ein Spiegelbild des Hineinschauenden, so behauptet er.
Sokrates setzt den Spiegelreflex schlichtweg mit dem unsichtbaren Kraftzentrum des
Auges gleich. Zum einen schreibt er dem Spiegelbild dadurch irrtümlicherweise eine
objektive Wirklichkeit und ein substantielles Sein zu. Zum anderen wird der Pupille,
dem dunklen Wesenszentrum des Auges, eine sichtbare Gestalt aufgeprägt, und zwar
eine solche, in der sich das betrachtende Auge unmittelbar wiedererkennen kann. Es
glaubt in der Pupille des anderen die Verkörperung der okularen arete und zugleich
ein Abbild seiner individuellen Beschaffenheit sehen zu können. Doch diese Einsicht
beruht auf einer Täuschung. Was als Einheit erscheint, ist in Wirklichkeit das bloße
Nebeneinander eines substanzlosen Bilds und eines gestaltlosen Wesens.
Die Synthese von Wesenserkenntnis und individueller Selbsterkenntnis, die
durch das sokratische Augen-Paradeigma veranschaulicht werden soll, erweist sich
somit als eine Illusion. Sie kann nur vorgetäuscht oder fingiert werden; sie läßt sich
nur in Form eines Trugbildes realisieren. Das Spiegel-Gleichnis führt beispielhaft vor
Augen, wie man den Schein einer solchen Synthese erzeugen kann - eben dadurch
nämlich, daß ein Verhältnis der Kontiguität oder der Simultaneität zwischen dem

141 G. Simon: Der Blick, das Sein und die Erscheinungen der antiken Optik. S. 164f., S. 213.
142 Ebd. S. 181.
120 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch eies Lesers

Wahrnehmbaren und dem Unsinnlichen, zwischen Sehen und Denken eingerich-


tet wird. Tatsächlich stellt Sokrates in seinem Gleichnis zwei ganz verschiedene
Spiegelrelationen unvermittelt nebeneinander. Einerseits reflektiert das Auge ein
gewöhnliches Spiegelbild, das eine sinnlich wahrnehmbare Ähnlichkeit hervorbringt.
Andererseits ist das fremde Auge dem Auge des Betrachters ähnlich, spiegelt dieses
folglich aufgrund einer wesenhaften Gleichartigkeit wider, die sich aber nicht wahr-
nehmen, sondern nur erschließen oder theoretisch erklären läßt. Das Auge betrachtet
sich also gleichzeitig in einem sinnlichen und in einem unsinnlichen Spiegel. Die
Simultaneität dieser Vorgänge, die schiere Kopräsenz der beiden Spiegel kann den
Betrachter dazu verleiten, den einen mit dem anderen gleichzusetzen, so daß er zu
sehen glaubt, was eigentlich nur denkend erschlossen werden kann. Die Herstellung
einer solchen Kontiguität von Wahrnehmen und Denken, die der Verwechslung
Vorschub leistet, ist aber für die paradeigmatische Argumentationsstrategie über-
haupt kennzeichnend. Das sokratische Spiegel-Paradeigma ist nicht zuletzt auch
ein Sinnbild paradeigmatischen Sehens und Erkennens. Sokrates propagiert eine
paradeigmatische Form der Selbsterkenntnis. U m der Einsicht in das überpersön-
liche Wesen des Selbst einen Bezug auf die Person des Erkennenden zu verleihen,
bedarf es der Vermittlung durch ein Paradeigma. Das Paradeigma ist sozusagen der
sinnliche Spiegel, der dem Individuum die - wenngleich aberrante — Identifikation
mit der unsinnlichen Wahrheit ermöglicht.

Sokrates als Paradeigma

Das Spiegel-Gleichnis, das den Vorgang der Selbsterkenntnis veranschaulicht, ist also
als Anleitung zur Herstellung eines Paradeigmas zu verstehen. Sokrates verlangt von
Alkbiades nicht, daß er unmittelbar auf sein partikulares Selbst reflektiert. Ebenso-
wenig fordert er ihn dazu auf, sich ganz vom Partikularen zu lösen, um das Selbst als
Teil der ideellen Seinsordnung zu erfassen. Er verweist ihn vielmehr an eine Instanz,
die auf der Schwelle zwischen dem Partikularen und dem Allgemeinen, zwischen
Selbigkeit und Alterität steht. Alkibiades soll Selbsterkenntnis erlangen, indem er
ein anderes an seine Stelle setzt, das ihm ähnlich ist - ein Paradeigma des Selbst, ein
anderes Selbst, eine andere Seele: »Muß nun etwa ebenso, lieber Alkibiades, auch
die Seele, wenn sie sich selbst erkennen will, in eine Seele sehen? Und am meisten in
den Teil derselben, welchem die Tugend [άρετή] der Seele einwohnt, die Weisheit
[σοφία], und in irgend etwas anderes, dem dieses ähnlich ist?«143
Sokrates kommt nicht umhin, seinem Gesprächspartner eine - wenngleich skiz-
zenhafte und ihrerseits erklärungsbedürftige - Erklärung des Spiegel-Gleichnisses zu
unterbreiten. Die Pupille, so erläutert er, korrespondiert dem rationalen Seelenteil,
»worin das Wissen [εΐδέναι] und die Einsicht [φρονεΐν] sich findet«.144 Wissen und

143 Piaton: Alkibiades 133b.


" I4 Ebd. 133c.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 121

Einsicht aber sind dem Göttlichen ähnlich, »und wer auf dieses schaute und alles
Göttliche erkennte, Gott [θεόν] und die Vernunft [φρόνησιν], der würde so auch
sich selbst am besten erkennen.« 145 Die Seele des anderen kann demnach zwischen
dem Selbst und dem Göttlichen vermitteln. Wahre Selbsterkenntnis ist Ideenkennt-
nis, Einsicht in das Göttliche. Aber das Individuum ist nicht dazu gezwungen, sich
in einem radikalen Akt der Umkehr direkt zur Schau des Göttlichen, das heißt der
substantiellen Vernunftordnung zu erheben. Ihm steht vielmehr die Möglichkeit
offen, anstelle des Göttlichen eine andere Seele zu betrachten, und zwar eine solche,
die ihrerseits in der Schau des Göttlichen begriffen ist und auf diese Weise ihre
Vernunft- und Gottähnlichkeit aktualisiert. Das Individuum erkennt das Göttliche
somit indirekt im Spiegel der anderen Seele. Diese macht das ideelle Sein im Wider-
schein ihrer Erkenntnistätigkeit sichtbar.
Doch die fremde Seele hat nicht nur eine indirekte, sondern auch eine direkte
Spiegelungsfunktion. Sie stellt dem Betrachter ein Selbst vor Augen, das seinem
Wesen gemäß tätig ist, repräsentiert mithin den Sollzustand der individuellen Seele.
Die Seele des anderen verweist als Paradeigma des Selbst mittelbar auf sein über-
persönliches Wesen, unmittelbar auf die teleologische Erfüllung seines partikularen
Seins.146 Sie ist Abbild und Vorbild in einem. Natürlich hat Sokrates bei seinen
Ausführungen zur paradeigmatischen Funktion des anderen eine ganz bestimmte,
nämlich seine eigene Seele im Sinn, die er Alkibiades als einen geeigneten Spiegel
des Selbst anempfiehlt. Er läßt den jungen Mann ja bereits in der gegenwärtigen
Situation des Gesprächs an seinen Erkenntnisbemühungen teilhaben, gewährt ihm
also schon jetzt Einblick in die arete seiner Seele und betätigt sich somit als Spiegel.
Sokrates bietet sich im Dialog mit Alkibiades als Paradeigma des wahren Selbst dar.
Er instituiert sich als Beispiel, als ein Abbild wahren Seins, das zugleich die Funktion
eines Vorbilds erfüllt. In dieser personalisierten Gestalt gewinnt das Wissen über das
Selbst einen direkten Bezug zur Praxis der epimeleia. Sokrates ist das musterhafte
Selbst, dem es nachzueifern und ähnlich zu werden gilt. Die Aktivität der Selbstsorge
realisiert sich in der Nachfolge einer paradeigmatischen Lehrerfigur.
Das Paradeigma, das Sokrates dem jungen Mann schließlich in Gestalt seiner
selbst präsentiert, verfehlt seine Wirkung nicht. Alkibiades reagiert prompt. Anstatt
seinen Lehrer weiterhin mit der Frage zu bedrängen, was er denn tun solle, um die
techne der epimeleia zu erwerben, tut er etwas: Er faßt einen Entschluß. Alkibiades
bekundet die Absicht, seine ehrgeizigen Pläne auf Eis zu legen, sich zur Vorbereitung
seines politischen Engagements ernsthaft »der Gerechtigkeit zu befleißigen« und bei
Sokrates in die Lehre zu gehen, um seinem vernachlässigten Selbst die erforderliche

145 Ebd
·
146
Auch hier werden also zwei verschiedene Ahnlichkeitsrelationen miteinander verquickt, so
daß der Betrachter der Illusion erliegt, das Göttliche unmittelbar im anderen sehen zu können.
Auf diese Weise erhält das Göttliche eine Form, in der sich der Betrachter wiedererkennen
und mit der er sich identifizieren kann.
122 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

intensive Pflege angedeihen zu lassen.147 Der junge Mann erkennt Sokrates als das
für ihn maßgebliche Paradeigma des Selbst an. Es scheint folglich so, als habe dieser
einen durchschlagenden Erfolg erzielt. Was auf dem Wege elenktischer Prüfung und
dialektischer Wahrheitsfindung nicht oder nur unvollkommen zu erreichen war, ist
ihm offenbar mit rhetorischen Mitteln, durch artifizielle Uberzeugungstechniken
und paradeigmatische Argumentationsstrategien gelungen: Alkibiades zur Einsicht
in sein wahres Selbst zu führen und ihn zur Umkehr zu bewegen. Das Gespräch
scheint mithin in der Konversion des jungen Manns zu kulminieren, die dem ganzen
Text das exemplarische Ansehen eines Modellfalls philosophischer paideia verleiht.
Der wahrhaft paradigmatische Charakter des Dialogs erweist sich jedoch ge-
rade darin, daß er sich nicht zum perfekten Exempel eines gelungenen Akts der
Selbstkonstitution rundet. Der Text gesteht die Unvollkommenheit und prekäre
Vorläufigkeit des Bildungsprozesses ein, den er auf beispielhafte Weise vorführt. Er
tut dies, indem er zum einen die Unzulänglichkeit der Dialektik, ihr Angewiesensein
auf rhetorische Hilfsmittel exponiert; zum anderen dadurch, daß er die Wirksamkeit
auch dieser Hilfsmittel noch in Frage stellt. Bezeichnenderweise beschließt Sokrates
das Gespräch mit einem skeptischen Ausblick auf die Zukunft. Er beglückwünscht
Alkibiades zu seinem Entschluß und fügt dann warnend hinzu: »Aber ich zittere
[...], wenn ich die Stärke der Stadt erwäge, ob sie nicht dich und mich überwältigen
wird.« 148 Sokrates weist mit diesen Worten prophetisch auf das künftige Schicksal des
jungen Mannes und auf sein eigenes Ende voraus. Doch die Angst vor der Stärke der
Stadt impliziert auch die Sorge, daß das neue Selbst, dem er auf Seiten seines Schü-
lers zum Durchbruch verhelfen will, den verderblichen Einflüssen der Außenwelt
nicht gewachsen ist. Sokrates furchtet, daß die Wandlung des jungen Mannes auf
keiner sicheren Basis steht, denn sie wurde nicht durch philosophische Verfahren der
Wissensbildung, sondern durch ein rhetorisches Täuschungsmanöver hervorgerufen.
Zwar impliziert das paradeigmatische Sprechen, das Sokrates im zweiten Teil des Di-
alogs so effektiv zum Einsatz bringt, einen verborgenen Syllogismus: Der Hörer wird
dazu animiert, Ähnlichkeiten zu erschließen. Doch die außerordentliche Wirkkraft
dieser Rede beruht gerade darauf, daß sie den Rezipienten durch die von ihr erzeugte
Kontiguität sinnlicher und quasinatürlicher Ähnlichkeiten dazu verleitet, das Den-
ken im Wahrnehmen aufgehen zu lassen. Sie suggeriert die Sichtbarkeit von Wissen.
Der Hörer steht daher immer in der Gefahr, das Paradeigma zu literalisieren. Es
gibt keine Gewähr dafür, daß Alkibiades die paradeigmatische Rede über das Selbst
wirklich begriffen hat und daß seine Umkehr in einem festen Wissen gründet.
Tatsächlich finden diese Befürchtungen in den abschließenden Äußerungen des
jungen Mannes nur allzu schnell ihre Bestätigung. Alkibiades will seinen Entschluß
noch einmal bekräftigen: »Und überdies sage ich noch dieses, daß wir nun wohl gar

147
Piaton: Alkibiades 135d-e.
148
Ebd. 135e.
Dialektische Strategien der Selbstsorge 123

unsere Gestalt vertauschen werden [μεταβαλεΐν τό σχήμα], ο Sokrates, ich die dei-
nige annehmend und du die meinige. Denn es kann nicht fehlen, daß ich dich nicht
überall begleiten sollte [παιθαγωγήσω] von diesem Tage an und du von mir begleitet
werden [παιδαγωγήση].«14' Der Tausch der Gestalten versinnbildlicht die Wandlung,
die das Gespräch mit Sokrates schließlich doch bei Alkibiades hervorgerufen hat.
Die Figuration des Tauschs verweist zugleich auf die rhetorische Operation, die dem
Vorgang paradeigmatischer Selbsterkenntnis zugrunde liegt - die Substitution des
Selbst durch ein anderes, Ahnliches. Indem Alkibiades sich zu einem Tausch der
Gestalten bereit erklärt, erkennt er Sokrates als Paradeigma seines wahren Selbst an
— als Vorbild, dem es nachzustreben und überallhin zu folgen gilt.
Doch die Begleitung, die der junge Mann seinem Lehrer angelobt, hat ein
merkwürdiges Ansehen. Das Verbum paidagogein, das er in diesem Zusammenhang
verwendet, bezeichnet die Tätigkeit des Begleitens, die der Lehrer in bezug auf seinen
Schüler, nicht der Schüler in bezug auf seinen Lehrer ausübt. Der paidagogos ist der
Knabenführer, der Erzieher. Alkibiades sieht sich selbst also in der Rolle des Lehrers,
des Führers und Vorbilds, dem Sokrates - in Verkehrung der wahren Verhältnisse
— als unmündiger Schüler zu folgen hat. Er nimmt die Anweisung zum Tausch beim
Wort, die ihm Sokrates in paradeigmatischer Form vermittelt hat. Der junge Mann
betreibt die vollkommene Identifikation mit seinem Lehrer; er setzt sein wahres
Selbst buchstäblich mit Sokrates gleich. Er will nicht wie Sokrates sein, sondern er
will Sokrates sein — er will ganz an seine Stelle treten, ganz mit ihm eins werden.
Alkibiades literalisiert somit das Paradeigma. Er erweist sich als unfähig, das Parad-
eigma zu lesen, das heißt: die Ähnlichkeit zu erschließen, die Sokrates als konkrete
Person mit dem ideellen Sein des wahren Selbst verbindet. Wie das Auge, das in ein
fremdes Auge blickt, den Spiegelreflex, der an der Stelle der Pupille erscheint, mit
dieser gleichsetzt, so identifiziert Alkibiades seinen Lehrer, der sich als Paradeigma
neben das Göttliche stellt, als Gott. 150 Er sieht in Sokrates nicht ein Abbild des ide-
ellen Seins, sondern seine Verkörperung. Doch zugleich ist es eben diese Fehllektüre,
die dem Paradeigma seine psychagogische Wirkung sichert. Sie bewegt Alkibiades
allererst dazu, sich seinem Lehrer in bedingungsloser Ergebenheit anzuschließen.

145 Ebd. 135d.


150 Für dieses literalisierende Mißverständnis des Paradeigmas findet sich am Schluß des Dialogs
ein weiterer Beleg. Sokrates unterwirft die neue Bewußtseinshaltung seines Gesprächs-
partners noch einmal einer Prüfung: »SOKRATES: Weißt du nun, wie du dem entfliehen
sollst, was jetzt mit dir ist, damit wir es doch nicht nennen an einem trefflichen Manne?
ALKIBIADES: Ich weiß wohl. SOKRATES: Wie denn? ALKIBIADES: Wenn du willst, ο
Sokrates. SOKRATES: Das sagst du nicht recht, ο Alkibiades. ALKIBIADES: Wie muß ich
denn sagen? SOKRATES: Wenn Gott will.« (135c—d, Ubersetzung modifiziert) Der Rüffel,
den sich Alkibiades von Seiten seines Lehrers gefallen lassen muß, ist bezeichnend. Er sieht
in Sokrates nicht ein Paradeigma des Göttlichen, sondern die Verkörperung desselben; er
setzt ihn mit dem Gott gleich. Sokrates hingegen beharrt auf der Differenz, die ihn — trotz
der wesenhaften Ähnlichkeit, die an seiner Seele in Erscheinung tritt - vom Bereich des
Göttlichen scheidet.
124 Vom somatischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Sie erweckt in ihm das Verlangen nach der Wahrheit, indem sie der Wahrheit eine
begehrenswerte Gestalt verleiht. 151

151
Die Überredung mit Hilfe des Paradeigmas markiert zugleich eine erotische Verführung. Das
Paradeigma bringt die erotische Dimension der Lehrer-Schüler-Beziehung zum Durchbruch.
Auch hier kommt es zu einem Rollentausch: Alkibiades, der zuvor von Liebhabern — darunter
auch Sokrates — verfolgt wurde, wird nun selbst zum Liebhaber — zum Liebhaber der Wahrheit,
die ihm aber erst dann begehrenswert erscheint, nachdem sie eine paradeigmatische Gestalt
angenommen hat.
III. Piatons Konzeption der Lektüre: Dialogform und
mimetische Aneignung des Geschriebenen

1. Das Paradeigma und die Technik des visuellen Lesens

Der im Alkibiades-Dialog dargestellte paideutische Prozeß folgt einem Struktursche-


ma, das als Dreiphasenmodell beschrieben werden kann. Im ersten, elenktischen Teil
des Gesprächs, der Alkibiades zur Einsicht in sein Unwissen führen soll, wird der
junge Mann zunächst dazu veranlaßt, seine Ignoranz auszuagieren. Die Konfusion,
in die ihn der Gesprächsfiihrer stürzt, macht ihm sein Unwissen auf unmittelbare
und effektive Weise erfahrbar, hindert ihn aber gleichzeitig daran, zu einer klaren
Einsicht in seinen Zustand zu gelangen. Sokrates erklärt ihm daher in einem zweiten
Schritt, was es mit seiner Verwirrung auf sich hat. Doch die vernünftige Erklärung
bleibt in psychagogischer Hinsicht wirkungslos. Erst nachdem Sokrates in einem
dritten Schritt den erklärenden logos durch ein eindrückliches Bild, die dialektischen
durch rhetorische Uberzeugungsmittel ersetzt hat, zeigt sich Alkibiades dazu bereit,
praktische Konsequenzen aus der Einsicht in sein Unwissen zu ziehen.
Aktualisierung des Selbst in Gestalt eines performativ wirksamen logos, Vergegen-
ständlichung durch Erklärung, rhetorische Verschleierung der Gegenständlichkeit:
Dieser Dreischritt kennzeichnet auch den zweiten Teil des Gesprächs, in dem Sok-
rates dem jungen Mann das Wesen des Selbst aufschließen und ihn in der techne der
epimeleia unterweisen will. Während der elenktischen Befragung wird Alkibiades
dazu gebracht, zutreffende Aussagen über das Gerechte zu machen. Sein wahres
Selbst tritt also unmittelbar als Aussagesubjekt in Aktion, aber es vermag sich in
seinen Aussagen nicht wiederzuerkennen: Alkibiades weiß weder, was er behauptet,
noch weiß er, daß er selbst der Behauptende ist. In einem zweiten Schritt erhebt
Sokrates das wahre Selbst daher zum Gegenstand einer dialektischen Begriffsanalyse.
Er will seinem Gesprächspartner mit Hilfe der diätetischen Methode erklären, wie
das Selbst seinem Wesen nach beschaffen ist. Doch Alkibiades ist unfähig, diese Er-
klärung zu seiner konkreten, empirischen Person in Beziehung zu setzen. Er begreift
sie, aber sie spricht ihn nicht persönlich an. Erst nachdem Sokrates in einem dritten
Schritt die abstrakte Definition gegen ein anschauliches Paradeigma vertauscht hat,
vermag sich der junge Mann mit der überpersönlichen Wahrheit seiner selbst zu
identifizieren. Die paradeigmatische Rede bewegt ihn schließlich doch noch dazu,
einen Akt der inneren Umkehr zu vollziehen. In Piatons Politeia markiert diese
Umkehr die teleologisch legitimierte Einheit von Wissensbildung und Selbstkonsti-
tution: Die Einsicht in die Idee des Guten ist demnach an die Transformation des
126 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

erkennenden Individuums gekoppelt; Ideenerkenntnis schlägt sich unmittelbar in


einer gewandelten Lebenshaltung nieder. In der Praxis der ethischen Unterweisung,
wie sie der Alkibiades-Ό'ίύοζ exemplarisch in Szene setzt, zerfällt diese Einheit in
eine Folge distinkter Verfahrensschritte. Der Versuch, das Individuum mit einem
ungegenständlichen Wissen auszustatten, ihm eine Erkenntnis zu vermitteln, die
sich direkt in Gestalt einer veränderten Seelenhaltung manifestiert, ist zum Schei-
tern verurteilt. Um eine innere Haltung zu begründen, ist es vielmehr erforderlich,
den Umweg über die Erklärung, Entäußerung und Vergegenständlichung des
Wissens zu gehen. Die Wissenshaltung läßt sich nicht unmittelbar, sondern nur
nachträglich etablieren — durch Aneignung und Verinnerlichung eines äußerlichen,
gegenständlichen Wissens. Die Aufgabe des Seelenleiters besteht folglich darin, das
Individuum zur Identifikation mit dem Wissen zu veranlassen, das er ihm zunächst
in gegenständlicher Form präsentiert hat. Zu diesem Zweck muß er auf rhetorische
Techniken der Veranschaulichung und der Vergegenwärtigung zurückgreifen, mit
deren Hilfe dem Wissensobjekt der Schein unmittelbarer Gegenwart verliehen
werden kann.
Der Alkibiades-Oialog gipfelt in einer Apotheose der direkten Lehrer-Schüler-
Beziehung: Der junge Mann gelobt, fortan nicht mehr von der Seite seines Lehrers
zu weichen. Er sieht in Sokrates die Verkörperung seines wahren Selbst und richtet
sich daher ganz an seiner Person aus. Das lebendige Gespräch und das ständige
Zusammensein mit der vorbildlichen Lehrergestalt — »et viva vox et convictus«,1 wie
Seneca am Eingang seiner Epistuale morales formuliert - bieten ihm die Gewähr für
die optimale Pflege und Ausbildung seines Selbst. Somit scheint der in Schriftform
vorliegende Alkibiades-Όιύο^ am Ende seine eigene Vermittlungsleistung zu relati-
vieren, indem er auf die Überlegenheit der mündlichen Lehre und die Unabding-
barkeit des persönlichen Umgangs verweist. Doch während der Dialog auf der einen
Seite in der Stiftung eines unmittelbaren Lehrer-Schüler-Verhältnisses kulminiert,
bewegt er sich auf der anderen Seite immer mehr aus dem Modus dialektischer
Unterweisung heraus. Das gilt bereits für den ersten Teil des Gesprächs, in dem
die Wechselrede zwischen Lehrer und Schüler einem langen, nach allen Regeln
rhetorischer Kunst ausgearbeiteten Vortrag des Gesprächsfuhrers weichen muß. Es
gilt in noch stärkerem Maße für den zweiten Teil des Dialogs, in dem sich deutlich
die Tendenz abzeichnet, das Reden durch das Sehen, den logos durch die aisthesis
zu ersetzen. Am Ende des Gesprächs wird die Wahrheit nicht mehr als performativ
wirksamer logos produziert; es wird auch kein vernünftiger, diäretisch-analytischer
Diskurs über die Wahrheit geführt. Die Rede übernimmt vielmehr die Funktion
der Veranschaulichung und der Vergegenwärtigung. Sie nähert sich immer mehr
der Wahrnehmung an, um schließlich ganz in der paradeigmatischen Person des
Gesprächsführers aufzugehen: Alkibiades erliegt der Illusion, das wahre, göttliche

1
Seneca: Ad Lucilium epistulae morales. Ep. 6.5.
Piatons Konzeption der Lektüre 127

Selbst in der Gestalt des Sokrates sehen zu können. Sokrates ist am Schluß des Dia-
logs nicht mehr nur der Urheber einer paradeigmatischen Rede, welche die Wahrheit
anschaulich macht, sondern er ist selbst ein sichtbares Paradeigma der Wahrheit,
eine rhetorische Figur.2
Die unmittelbare Präsenz der Lehrergestalt, in der Alkibiades die Gewähr für
eine erfolgreiche Praxis der epimeleia erblickt, ist daher mit dem Makel der Künst-
lichkeit behaftet. Als paradeigmatische Gestalt täuscht Sokrates die wahrnehmbare
Gegenwart des Göttlichen vor. Seine Präsenz ist nur Schein; sie ist der Effekt von
rhetorischen Strategien der Vergegenwärtigung. Sokrates inszeniert seine Anwesen-
heit, indem er sich zum Paradeigma des wahren Selbst stilisiert. Er ist als ein »sicherer
Bürge« der Wahrheit — so bezeichnet ihn Alkibiades - ein ebenso artifizielles Kon-
strukt wie die fiktiven rhetorischen Zeugen, die er in der Königsrede anfuhrt. 3 Wenn
aber die unmittelbare Präsenz der Lehrergestalt schon innerhalb des Gesprächs ein
Kunstprodukt markiert; wenn Alkibiades bereits auf der textinternen Ebene des Di-
aloggeschehens nicht durch dialektische, sondern durch rhetorische und literarische
Mittel zur Umkehr bewegt wird; wenn seine Umkehr schließlich darauf zurückzu-
führen ist, daß er zum Betrachter eines künstlich arrangierten Wahrheitsschauspiels
gemacht wird, anstatt in der dialogischen Interaktion direkt an der Hervorbringung
des wahren logos beteiligt zu werden: Worin gründet dann noch der Vorrang, den
die mündliche gegenüber der schriftlichen Unterweisung besitzt? Sokrates macht in
seinem Gespräch mit Alkibiades von denselben Techniken der Vergegenwärtigung
und Verlebendigung Gebrauch, die der Verfasser geschriebener Dialoge anwendet,
um seinen Texten den Anschein der Unmittelbarkeit zu verleihen. Die mimetische,
dramatisierende Form der Darstellung hat ja, wie Piaton in der Politeia erläutert,
keinen anderen Zweck als den, die Illusion der realen Gegenwart zu erzeugen. 4 Bei-
de, der Autor des geschriebenen Dialogs und der Gesprächsführer, der im Rahmen
des Dialoggeschehens agiert, versuchen dadurch eine Wirkung auf den jeweiligen
Rezipienten zu erzielen, daß sie den Eindruck unmittelbarer Präsenz hervorrufen. Es
stellt sich daher die Frage, ob sich die Erkenntnis des wahren Selbst, die Alkibiades
schließlich durch die paradeigmatische Darstellungsform vermittelt wird, überhaupt
qualitativ von dem Wissen unterscheidet, das der Leser des geschriebenen Dialogs
gewinnt. >Sehen< beide nicht dasselbe, und >sehen< sie es nicht auf ähnliche Weise?

2
Diesen Übergang vom Reden zum Sehen vollzieht Seneca in der bereits zitierten Passage aus
den Epistuale morales sozusagen im Zeitraffer nach. Stimmt er anfangs noch das Lob der »viva
vox« an, so zeichnet er schließlich das Idealbild einer Lehrer-Schüler-Beziehung, die ganz ohne
Sprache auskommt und sich nur im Medium der Blicke erfüllt. Doch dieses Sehen ist ambiva-
lent. Es verweist nicht nur auf den unmittelbaren, persönlichen Umgang zwischen Lehrer und
Schüler, sondern auch auf die epistolare Kommunikation zwischen Seneca und Lucilius: Lucilius
wird seinen Lehrer nicht hören können; er m u ß mit dem >Bild< vorlieb nehmen, das Seneca
in seinen Briefen von sich selber zeichnet. Siehe dazu Kapitel VI.3 dieser Untersuchung.
3
Piaton: Alkibiades 134e.
4
Z u m Kontrast zwischen mimetischer und diegetischer Darstellungsweise vgl. Piaton: Politeia
392d-397b.
128 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Verweist das Sehen, das im Schlußteil des Alkibiades eine derart prominente Rolle
spielt, mithin auf eine spezifische Form des Lesens? Ist es also — entgegen der im
Phaidros artikulierten Schriftkritik — vielleicht doch möglich, das Individuum durch
schriftliche Unterweisung zur Umkehr zu bewegen?

Das Paradeigma als Lesehilfe

Der Alkibiades enthält keine weiteren Hinweise darauf, wie diese Fragen zu beant-
worten sind. An anderer Stelle jedoch stellt Piaton explizit eine Verbindung zwischen
der Verfahrensweise paradeigmatischer Veranschaulichung und der Praxis der Lek-
türe her. Im Politikos-Dialog läßt sich der Fremde, der gemeinsam mit Sokrates dem
Jüngeren das Wesen des Politikos, des Staatsmannes, zu ergründen sucht, darauf ein,
die Vorzüge der paradeigmatischen Darstellungsform zu erörtern. Den Anlaß zu
seinem Exkurs bildet signifikanterweise das unbefriedigende Ergebnis, das die diäte-
tische Analyse des Konzepts >Staatsmann< in einem ersten Anlauf erbracht hat: »[A]n
unserer Rede«, so kritisiert der Fremde das vorläufige Resultat der Diärese, »mögen
wohl wie an einem Gemälde die Umrisse [περιγραφήν] gut genug gezeichnet sein,
aber gleichsam die Deutlichkeit [ένάργειαν], welche durch die Pigmente und durch
die richtige Mischung der Farben entsteht, ihr noch gefehlt haben.« 5 Um dem logos
die gewünschte Deutlichkeit zu verleihen, ist es nach Auffassung des Fremden er-
forderlich, ein Paradeigma für den Staatsmann zu (er-)finden. Wie das Paradeigma
des Selbst im Alkibiades so soll auch das Paradeigma des Staatsmanns im Politikos
die akribeia des dialektischen Diskurses durch eine andere Form von Genauigkeit
ersetzen - durch die Genauigkeit des Anschaulichen, die Deutlichkeit dessen, was
unmittelbar vor Augen steht. Der Fremde vergleicht das Paradeigma daher mit einem
Gemälde, das den abgebildeten Gegenstand aufgrund seiner Farbkomposition mit
größter Akkuratesse wiederzugeben vermag. Während die umrißhafte Zeichnung
sich als totes Bild zu erkennen gibt und ihre Mittelbarkeit exponiert, erzeugt das
farbige Gemälde die Illusion lebendiger Gegenwart.
Der Fremde akzentuiert also zunächst den Eindruck der Unmittelbarkeit, der
durch das Paradeigma hervorgebracht wird, und markiert diese Unmittelbarkeit
zugleich als Schein. Es liegt in der Konsequenz dieser Sichtweise, daß er - auf die
Nachfrage seines Gesprächspartners hin - die Redefigur des Paradeigmas nicht etwa
diäretisch analysiert oder in dürren Worten beschreibt, sondern mit Hilfe eines
Paradeigmas zu erklären sucht. Der Fremde bestimmt das Paradeigma durch ein
Paradeigma; er spricht nicht über das in Frage stehende Phänomen, vielmehr prä-
sentiert er die Sache selbst. Überraschenderweise knüpft er dabei jedoch nicht an
die Gemälde-Metaphorik an, die das Moment fiktiver Unmittelbarkeit hervorhebt.
Als Paradeigma paradeigmatischen Sprechens und Verstehens wählt er nicht Malerei

5
Piaton: Politikos 277b-c.
Piatons Konzeption der Lektüre 129

u n d B i l d b e t r a c h t u n g , s o n d e r n S c h r i f t u n d Lektüre. D a s tote S c h r i f t z e i c h e n tritt an


d i e Stelle des l e b e n d i g e n G e m ä l d e s :

FREMDER: Von den Kindern wissen wir doch, wenn sie eben lesen lernen [γραμμάτων
ε μ π ε ι ρ ο ι γίγνωνται],
SOKRATES D. J.: Was denn?
FREMDER: Daß sie jeden Buchstaben in den kürzesten und leichtesten Silben bald genug
bemerken und ihn da richtig auszusprechen verstehen.
SOKRATES D. J.: Das gewiß.
FREMDER: Diese selbige aber in anderen wieder verkennen und dann fehlen in ihrer Vor-
stellung [δόξη] und Rede [λόγω],
SOKRATES D. J.: Allerdings.
FREMDER: Ist es nun nicht so am leichtesten und schönsten, sie zu dem zu führen, was sie
noch nicht erkennen?
SOKRATES D.J.: Wie?
FREMDER: Daß man sie erst zu dem zurückführe, wo sie dasselbe richtig vorgestellt haben, und
dann dieses neben das noch nicht von ihnen Erkannte stelle, um ihnen durch Vergleichung
die Ähnlichkeit und die selbige Beschaffenheit in beiden Verknüpfungen zu zeigen, bis das
richtig Vorgestellte neben alles noch Unbekannte gestellt aufgezeigt ist und so aufgezeigt
Beispiele [παραδείγματα] abgibt, welche bewirken, daß von allen Buchstaben in allen
Silben jeder, wenn er verschieden ist, auch verschieden, wenn er aber derselbe ist, auch als
derselbe immer auf gleiche Weise benannt werde.6

D e r Fremde vergleicht den dialektischen Erkenntnisvorgang m i t d e m A k t der Lek-


türe. D e m n a c h ähnelt die diäretische Analyse eines komplizierten Sachverhalts der
Entzifferung eines Schriftstücks, in d e m die Buchstaben »weitläufige u n d nicht leichte
V e r k n ü p f u n g e n « eingegangen sind. 7 In beiden Fällen setzt das Verständnis einer k o m -
plexen V e r b i n d u n g voraus, daß diese in ihre elementaren Bestandteile zerlegt wird.
N u n k ö n n t e m a n e i n w e n d e n , d a ß der Vergleich zwischen dialektischer BegrifFs-
analyse u n d Lektüre in einer e n t s c h e i d e n d e n H i n s i c h t hinkt: D e m Leser stehen die
Schriftzeichen sichtbar vor A u g e n ; er m u ß - so scheint es - nur g e n a u h i n s e h e n , u m
die einzelnen B u c h s t a b e n zu identifizieren. D i e p h o n e t i s c h e S c h r i f t n i m m t i h m die
Arbeit der Analyse in gewisser Weise ab, i n d e m sie d e n kontinuierlichen K l a n g s t r o m
der g e s p r o c h e n e n S p r a c h e d u r c h diskrete Zeichen ersetzt. D e r D i a l e k t i k e r h i n g e g e n
arbeitet blind; er v e r f ü g t ü b e r keine visuell zu erfassende Vorlage, die i h m anzeigt,
w o er seine S c h n i t t e zu setzen hat. D o c h dieser E i n w a n d verliert a n G e w i c h t , w e n n
m a n den b e s o n d e r e n B e d i n g u n g e n antiker S c h r i f t k u l t u r R e c h n u n g trägt. A n t i k e
Texte sind in der s o g e n a n n t e n scriptio continua abgefaßt. 8 Sie bieten ein v o l l k o m m e n

6 Ebd. 277e-278b.
7 Ebd. 278d.
8 Einen Uberblick über die Geschichte und Verbreitung der scriptio contimut in der Antike bietet
Paul Saenger: Space between Words. The Origins of Silent Reading. Stanford 1997. S. 9-13.
- Saenger weist darauf hin, daß zwischen der Entstehung der scriptio continua und der Ein-
führung von Vokalzeichen, d.h. der Entwicklung einer rein phonetischen Schrift, ein direkter
Zusammenhang besteht. Die Griechen, die das phönizische Alphabet adaptierten und durch
Vokalzeichen ergänzten, waren die ersten, die von der scriptio continua Gebrauch machten. Die
Römer haben die scriptio continua im zweiten Jahrhundert n. Chr. übernommen. Ansätze zu
einer Gliederung der geschriebenen Rede finden sich erst wieder in der christlichen Spätantike
130 Vom somatischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

u n g e g l i e d e r t e s E r s c h e i n u n g s b i l d . E i n B u c h s t a b e r e i h t sich n a h t l o s a n d e n a n d e r e n .
Es g i b t k e i n e A b s t ä n d e , w e l c h e d i e G r e n z e n z w i s c h e n d e n W ö r t e r n markieren;
k e i n e I n t e r p u n k t i o n , die es e r m ö g l i c h t , s y n t a k t i s c h e E i n h e i t e n u n d Satzteile visuell
zu u n t e r s c h e i d e n ; keine Absätze, die g r ö ß e r e S i n n e i n h e i t e n k e n n t l i c h m a c h e n . D a s
S c h r i f t b i l d a n t i k e r Texte h a t s o m i t n i c h t die F u n k t i o n , die logischen o d e r s e m a n t i s c h e n
S t r u k t u r e n des Diskurses k e n n t l i c h zu m a c h e n . 9 Es b i l d e t v i e l m e h r das ungegliederte
L a u t k o n t i n u u m d e r g e s p r o c h e n e n R e d e a b . D i e V e r w e n d u n g v o n scriptio continua
p r o g r a m m i e r t s o m i t eine orale, s t i m m h a f t e Lektüre. 1 0 D a d e r geschriebene Text d e m
Leser k e i n e s i c h t b a r e n A n h a l t s p u n k t e f ü r das S i n n v e r s t ä n d n i s liefert, m u ß dieser die
K e t t e d e r p h o n e t i s c h e n S c h r i f t z e i c h e n z u n ä c h s t in L a u t e u m s e t z e n , e h e er d i e s e m a n -
tischen E i n h e i t e n zu identifizieren v e r m a g . D i e L e k t ü r e ist ein k o m p l i z i e r t e r Vorgang,
d e r zwei d i s t i n k t e Phasen u m f a ß t : lectio, d i e Ü b e r t r a g u n g d e r S c h r i f t in Klang, u n d
narratio, das V e r s t e h e n des G e h ö r t e n , die Ü b e r t r a g u n g einer m i t u n t e r a m b i v a l e n t e n
L a u t f o l g e in eine eindeutige s e m a n t i s c h e S t r u k t u r . ' 1 D e r Leser h a t d e n S i n n also gerade
n i c h t in visualisierter F o r m vor A u g e n . D a s G e s c h r i e b e n e ist o p a k ; d e r S i n n erschließt
sich erst i m vergänglichen M e d i u m des Klangs. 1 2 D i e T ä t i g k e i t d e r L e k t ü r e realisiert
sich in F o r m eines v e r t r a c k t e n Z u s a m m e n s p i e l s v o n visueller W a h r n e h m u n g , oraler
A r t i k u l a t i o n sowie auditiver u n d m e n t a l e r E r f a s s u n g des G e s p r o c h e n e n . 1 3 U n t e r dieser

(scriptio per cola et commata). Worttrennung und Interpunktion werden dann ab dem siebten
Jahrhundert n. Chr. in Irland und England systematisch als analytische Lesehilfen zum Einsatz
gebracht. Die visuelle Aufbereitung des geschriebenen Textes gelangt schließlich in der Scholastik zu
voller Blüte. Vgl. dazu auch Jacqueline Hamesse: Le modele scholastique de la lecture. In: Histoire
de la lecture dans le monde occidental. S. 125—145; Ivan Illich: Im Weinberg des Textes.
' Z u m Zusammenhang zwischen der visuellen Aufbereitung des geschriebenen Textes und der
Logifizierung des Diskurses vgl. P. Saenger: Space between Words. S. 120-122; I. Illich: Im
Weinberg des Textes. S. 112.
10
Vgl. Jesper Svenbro: Phrasikleia. Anthropologie de la lecture en Grece ancienne. Paris 1988.
S. 54: »[L]es Grecs [...] ecrivaient en scriptio continua, c'est-ä-dire sans intervalles entre les
mots, ce qui - l'experience le montre - rend la lecture ä haute voix pratiquement necessaire.
De cette faion, la lecture sonore fait partie du texte, incomplet ou inacheve en lui-meme.«
11
Vgl. P. Saenger.· Space between Words. S. 8f.
12
Die im Athen des vorklassischen und klassischen Zeitalters geläufigste Bezeichnung für die Tätig-
keit des Lesens lautet anagignoskein, >wiedererkennen<. Svenbro zufolge bezieht sich der Ausdruck
ursprünglich nicht auf das Wiedererkennen des individuellen Buchstabens im geschriebenen
Text, sondern auf das Wiedererkennen der graphischen Sequenz als bedeutungshaltiger Sprache
- ein Wiedererkennen, das erst dann stattfinden kann, wenn die Kette der Schriftzeichen in
ein Lautkontinuum übertragen wurde: »[C]e n'est qu'en faisant intervenir sa voix [...] qu'il [le
lecteur] est capable de >reconnaitre< ce qui est opaque ä premiere vue.« (Phrasikleia. S. 184f.)
— Aus den Äußerungen des Fremden in Piatons Politikos geht eindeutig hervor, daß er unter
Lektüre die Identifikation einzelner Buchstaben versteht. Die Textpassage kann somit als Indiz
für eine veränderte Einstellung gegenüber dem Medium Schrift angesehen werden: Der Vorgang
des Lesens umfaßt nicht mehr notwendigerweise die Umsetzung des Geschriebenen in Klang;
das Geschriebene gewinnt gegenüber der Stimme eine gewisse Eigenständigkeit.
13
Zur Physiologie und Psychologie der Lektüre von scriptio continua vgl. Ρ Saenger: Space bet-
ween Words. S. 6—9; zur Koordination von Auge und Stimme beim lauten Lesen siehe auch
Josef Balogh: »Voces paginarum«. Beiträge zur Geschichte des lauten Lesens und Schreibens.
In: Philologus 82 (1927). S. 9 4 - 1 0 9 und 202-240, hier: S. 227f.
Piatons Konzeption der Lektüre 131

Voraussetzung erscheint der Vergleich zwischen dem Leser, der ein langes Schriftstück
zu entziffern versucht, und dem Dialektiker, der einen schwierigen Gegenstand
begreifen will, als durchaus plausibel. Beide agieren gleichsam blind; beide gewin-
nen von dem Gegenstand, den es zu entschlüsseln gilt, zunächst nur eine nebulöse,
undeutliche Vorstellung. Sie erfassen ihn, so erklärt der Fremde, nur umrißhaft und
»wie im Traume [οίον övap]«.14
Der Fremde verweist auf ein Hilfsmittel, das dem angehenden Leser das müh-
same Geschäft der Lektüre erleichtern kann und das zugleich ein geeignetes Para-
deigma der paradeigmatischen Rede darstellt. Diese Lesehilfe soll dem Lernenden
eben jene visuell zu erfassenden Orientierungspunkte zugänglich machen, die ihm
durch die ungegliederte scriptio continua vorenthalten werden. Der Fremde faßt
die Möglichkeit ins Auge, der komplexen, weitläufigen Kette von Schriftzeichen
kurze Musterstücke - paradeigmata - an die Seite zu stellen. Es handelt sich dabei
um einfache Verbindungen, deren Zusammensetzung sich gleich auf den ersten Blick
zu erkennen gibt. Legt man die kurzen und die langen Textstücke nebeneinander,
so fällt es leicht, im undifferenzierten Kontinuum der Zeichen diejenigen Segmente
auszumachen, die mit den paradeigmata übereinstimmen. Das Nebeneinander von
simpler und komplexer Verbindung bringt somit die artikulative und verräumlichen-
de Kraft der Schrift zur Geltung, die in der scriptio continua unterdrückt wird, um den
Klangstrom der phone zu imitieren. Es vereinfacht den Lektürevorgang, indem es dem
Auge gegenüber der Stimme und dem Ohr zu größerer Unabhängigkeit verhilft. Das
Nebeneinander der Verbindungen ermöglicht es, die Bestandteile der Zeichenkette
unmittelbar mit dem Blick zu erfassen. Die mühsame Arbeit der Entzifferung, die
vielschichtige Tätigkeit des Zergliederns und Unterscheidens, die auf die Mitwirkung
von Stimme und Ohr angewiesen ist, kann mit Hilfe der paradeigmata weitgehend
auf die stumme Aktivität des Schauens reduziert werden. Das Verfahren, das der
Fremde vorschlägt, dient mithin der Übung und der Verselbständigung des lesenden
Auges.15 Er assoziiert das Paradeigma mit einer spezifischen Form von Schrift, die

14 Piaton: Politikos 277d.


15 Ein weiterer Hinweis auf die Tendenz zur Verselbständigung des lesenden Auges und den
darin zum Ausdruck gelangenden Wandel in der Einstellung gegenüber dem Medium Schrift
findet sich in Piatons Theaitetos-O'talog. Auch dort rekurriert Sokrates auf das Paradeigma der
Lektüre, und zwar im Zusammenhang mit der Frage, was man unter Erkenntnis zu verstehen
habe: Er will die These überprüfen, Erkenntnis sei die richtige Vorstellung einer Sache, ver-
bunden mit Erklärung. Sein Gesprächspartner Theaitetos behauptet, daß man die einzelnen
Buchstaben weder erkennen noch erklären könne, denn die meisten seien Konsonanten, seien
also »nur ein Geräusch« oder gar stumm (203b). Sokrates hingegen argumentiert, daß man
die Buchstabenverbindung nur dann zu entziffern vermöge, wenn man auch den einzelnen
Buchstaben erkannt habe; zu diesem Zweck müsse man die Buchstaben »dem Gesicht nach
[...] unterscheiden« - ja, man könne den einzelnen, für sich allein stehenden Buchstaben sehr
viel »deutlicher« und »wirksamer« erfassen als die komplexe Verknüpfung ( 2 0 6 a - b ) . Theaitetos
vertritt also eine konventionelle Konzeption der Lektüre: Erkenntnis der Schrift ist Erkennt-
nis der Buchstabenverbindung und kann nur unter Mitwirkung der Stimme gelingen. Dem
entspricht die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs stoicheion: Er bezeichnet den Laut als
132 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

dem Leser die Arbeit der Artikulation abnimmt, und mit einer spezifischen Form
von Lektüre, bei der das Lesen im Sehen aufgeht.' 6 Das Paradeigma liest sich sozu-

elementaren Bestandteil der Silbe, welche die eigentliche Grundeinheit der gesprochenen
Sprache darstellt. Der Begriff stoicheion markiert also das unselbständige Glied einer Reihe.
(Vgl. Henry George Liddell / Robert Scott: A Greek-English Lexicon. S. 1647; vgl. auch
A. Lumpe: Element. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Sp. 439—441,
hier: Sp. 439.) Sokrates vertritt eine ganz andere Auffassung: Demnach ist Erkenntnis der
Schrift zunächst einmal Erkenntnis des einzelnen Buchstabens, und dieser kann deutlich
erfaßt werden, obwohl, ja gerade weil er ein bloßes Geräusch oder gar stumm ist. Der
Verselbständigung des Buchstabens korrespondiert somit die Verselbständigung des Auges
gegenüber der Stimme.
16 Jesper Svenbro versucht in seiner Studie über die Lektürepraktiken im antiken Griechenland
den Nachweis dafür zu erbringen, daß im vierten Jahrhundert v. Chr. eine neuartige, visuelle
Form des Lesens aufgekommen ist, welche die archaische Technik der oralen Lektüre zwar
keineswegs ganz verdrängt, bei den Angehörigen der gebildeten Elite jedoch eine gewisse
Verbreitung gefunden hat. Im archaischen Zeitalter ist das Geschriebene - wie Svenbro
vor allem anhand von Grab- und Dinginschriften aufzeigt — ganz daraufhin angelegt, in
Klang und Laut verwandelt zu werden. Der geschriebene Text an sich ist unvollständig und
bedarf der Ergänzung durch die Stimme (vgl. Phrasikleia. S. 72). Die stimmhafte Lektüre
markiert somit einen integralen Bestandteil des Textes - der Text ist kein statisches Objekt,
sondern eine dynamische Interrelation zwischen Schrift und Stimme (vgl. J. Svenbro: La
Grece archäique et classique. L'invention de la lecture silencieuse. In: Histoire de la lecture
dans le monde occidental. S. 47—77, hier: S. 56). Weder das Geschriebene noch der Leser
besitzt einen autonomen Status: Der Leser ist ein bloßes Instrument, dessen sich der Text
bedient, um Klang werden zu können (Phrasikleia. S. 54f.). Im klassischen Zeitalter, so
argumentiert Svenbro, bildet sich bei einer Minorität der Gebildeten die Fähigkeit zur
stummen, visuellen Lektüre aus. Ein neuer Typus der Dinginschrift, der im fünften Jahr-
hundert v. Chr. erstmals auftaucht, aber auch eine Reihe von Belegstellen aus den Werken
der Philosophen, Tragödiendichter und Historiker werden von ihm in dem Sinne gedeutet,
daß der geschriebene Text nun mit einer eigenen, >inneren< Stimme zu sprechen vermag und
nicht mehr in phone verwandelt werden muß, um verstanden zu werden. Svenbro zufolge
verweist die im klassischen Zeitalter geläufige Metapher des sprechenden Textes darauf,
daß der geschriebene Text sich zunehmend von der Herrschaft der Stimme befreit. Die
Bedeutung der Schriftzeichen erschließt sich den Gebildeten nicht mehr über den Umweg
der Phonalisierung, sondern offenbart sich unmittelbar dem Blick. Der Leser und das Ge-
schriebene treten als autonome Instanzen auseinander (vgl. Phrasikleia. S. 185f.). Svenbro
bezieht somit in einer Frage Position, die seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert wird - in
der Frage nämlich, ob es in der Antike so etwas wie ein stummes Lesen überhaupt gegeben
habe. Josef Balogh (»Voces paginarum«. Beiträge zur Geschichte des lauten Lesens und
Schreibens) bietet ein reichhaltiges, überwiegend lateinisches Belegmaterial auf, um seine
These zu stützen, daß die stimmhafte Lektüre im Altertum die Regel war, von der nur in ganz
seltenen Ausnahmefällen abgewichen wurde. Die stimmhafte Lektüre, so Balogh, ist dem
rhetorischen Charakter der antiken Literatur gemäß; leises Lesen gewinnt erst im Kontext
der monastischen Kultur des Frühmittelalters an Bedeutung. Bernard Knox (Silent Reading
in Antiquity. In: Greek, Roman and Byzantine Studies 9 [1968J. S. 421—435) attackiert
den Standpunkt Baloghs. Er führt Textzeugnisse an, aus denen hervorgeht, daß stummes
Lesen bereits von den Griechen des klassischen Zeitalters praktiziert wurde. Laut Knox
hat die seit dem vierten vorchristlichen Jahrhundert rasant anwachsende Produktion von
Texten die Entwicklung des neuen Lektüreverfahrens begünstigt: Die größeren Textmengen
konnten nur durch die schnellere, visuelle Form der Lesens bewältigt werden. Paul Saenger
schließlich greift in Space between Words die These Baloghs wieder auf und spitzt sie zu: Er
argumentiert, daß Worttrennung und Interpunktion zu den unabdingbaren technischen
Voraussetzungen gehören, die das stumme Lesen allererst ermöglichen.
Piatons Konzeption der Lektüre 133

sagen selbst. Genauer: Der Leser glaubt, der Selbstentzifferung des Paradeigmas als
Zuschauer beizuwohnen. 17 In Wirklichkeit ist er es, der die einfache Verbindung
in ihre Bestandteile zerlegt, der sich aber dieser Tätigkeit nicht bewußt ist.18 Denn
die Phasenverschiebung zwischen lectio und narratio, die für die Entzifferung von
scriptio continua charakteristisch ist, findet bei der Lektüre des Paradeigmas nicht
statt. Die visuelle Wahrnehmung der einfachen Verbindung und die intellektuelle
Tätigkeit des Zergliederns erfolgen simultan und leisten somit einer Verwechslung
der Aktivitäten Vorschub. Der Leser scheint dasjenige als Gegenstand der Betrach-
tung vor Augen zu haben, was er selbst durch Lektüre allererst hervorbringt.
Zwischen der Gemälde-Metaphorik, auf die der Fremde zu Beginn seines
Exkurses rekurriert, und der Bildlichkeit von Schrift und Lektüre, von der er im
weiteren Verlauf seiner Ausführungen Gebrauch macht, besteht somit gar kein
Widerspruch. Der Fremde löst den Gegensatz von toter Schrift und lebendigem
Bild auf. Das Paradeigma markiert eine Schrift, die wie ein Gemälde betrachtet
werden kann - wie ein dynamisches Bild, das dem Leser die Rolle des Zuschauers
zuweist, ihn aber zugleich zu unbewußter Tätigkeit animiert und auf diese Weise
an den Gegenstand seiner Lektüre bindet. Die vom Fremden angepriesene Lek-
türehilfe übt mithin auf den Leser eine ähnliche Wirkung aus, wie sie die lebhafte,
anschauliche, auf dem Gebrauch der Redefiguren Metapher und energeia basieren-
de Stilqualität der asteia bei dem Hörer einer Rede hervorzurufen vermag: Diese
nämlich ermöglicht es dem Rezipienten, »[a]uf leichte Weise [...] zu Wissen zu
gelangen« und »eine schnelle Unterweisung« zu erhalten, indem sie ihn einerseits
zu geistiger Aktivität und zum »Nachforschen« veranlaßt, andererseits aber dafür
Sorge trägt, daß der Sinn der Rede »entweder während des Aussprechens verstan-
den« wird oder »kurz hinterher aufgeht«. 19 So entsteht der Eindruck, als sei der
Sinn direkt an den Ausdruck gebunden, als bringe die Rede den Sinn unmittelbar
vor Augen. Die geistige Bewegung, die auf Seiten des Rezipienten durch die Rede
ausgelöst wird, kommt zugleich in der Rede zur Anschauung, und zwar in Gestalt
der energeia, des Vor-Augen-Führens sich bewegender und aktiver Gegenstände.
Dieses ambivalente Wechselverhältnis von Rezipientenaktivität und Textaktivität,
von Sinnentschlüsselung und Sinnoffenbarung kennzeichnet auch die spezifische
Form der Lektüre, die der Fremde mit dem Paradeigma in Beziehung bringt und
in der Jesper Svenbro eine Errungenschaft der literarischen Elite des klassischen
Zeitalters sieht. »Desormais,« so charakterisiert Svenbro die neue Lektürepraxis,

17
Laut Svenbro orientiert sich der neue Typus des visuellen Lesers am Modell des Theaters, u m
sein Verhältnis zum Geschriebenen zu bestimmen: »L'espace ecrit est une >scene< qui emprunte
sa logique au spectacle theätral, en attribuant le röle du spectateur au lecteur. II interiorise le
theatre.« (La Grece archa'ique et classique. S. 72).
18
»[L]'activite de celui qui lit en silence n'est pas vecue comme u n effort de dechiffrer, c'est une
activite qui s'ignore c o m m e teile« (J. Svenbro: Phrasikleia. S. 189).
" Aristoteles: Rhetorik 1410b.
134 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

»pas de moment opaque precedant - et retardant - la >reconnaissance< mais, au


contraire, identification immediate du sens par 1'oeiL«20

Paradeigma u n d Dialogform

Das Sehen, das im Schlußteil des Alkibiades die dialektische Erörterung in den
Hintergrund drängt, markiert also tatsächlich eine spezifische Form von Lektüre.
Zwischen dem Erkenntnisvorgang, der durch das Paradeigma gesteuert wird, und
der visuellen Erfassung des Geschriebenen besteht eine strukturelle Analogie: In
beiden Fällen geht die geistige Aktivität des Entzifferns in der simultan vollzo-
genen sinnlichen Aktivität des Wahrnehmens auf; in beiden Fällen erliegt der
Erkennende der Täuschung, der Selbsterklärung einer komplexen Verbindung
beiwohnen und Sinn unmittelbar sehen zu können. Die Erkenntnis- und Lesehilfe
des Paradeigmas erzeugt den Anschein einer direkten Beziehung zur Wahrheit.
Wenn Piaton das visuelle Lesen mit der paradeigmatischen Darstellungsform
assoziiert und diese in seinen Dialogen als eine psychagogisch effektive Form der
Unterweisung kennzeichnet, legt er implizit die Möglichkeit nahe, solche Unter-
weisung auch in schriftlicher Form zu erteilen. Das Paradeigma gelangt nicht nur
im Dialog zur Anwendung, der geschriebene Dialog ist selbst ein Paradeigma, das
auf eine bestimmte Weise gelesen werden will. Tatsächlich zielt die dramatische
Form der platonischen Schriften ja darauf ab, den Leser zum >Betrachter< des phi-
losophischen Erkenntnisprozesses zu machen. Der geschriebene Dialog fingiert die
Unmittelbarkeit eines natürlichen Gesprächs und versetzt den Leser in die Rolle
des Zuhörers. Der gänzliche Verzicht auf Elemente diegetischer Distanzierung,
der die rückhaltlose Umsetzung des Prinzips mimetisch-direkter Darstellung
ermöglicht, verstärkt diese Illusion. Da der geschriebene Dialog keine fertigen Er-
kenntnisse präsentiert, sondern den Vorgang der Wissensbildung vor Augen führt,
kommt ihm neben der Eigenschaft der enargeia, der Deutlichkeit des Sichtbaren,
auch noch diejenige der energeia zu, der Präsentation von Gegenständen, die in
Tätigkeit und Wirksamkeit begriffen sind. Zudem stellt er das Wissen, das er zu
vermitteln sucht, nie losgelöst von der Person eines Wissenden dar. Das Wissen
ist vielmehr an die im Dialog agierenden Figuren gekoppelt, an Lehrer und
Lernende, die mit einem individuellen Charakter und einer unverwechselbaren
Physiognomie ausgestattet sind. Alle diese Kunstmittel dienen dem Zweck der Il-
lusionserzeugung: Der Leser soll den Eindruck gewinnen, daß er dem dargestellten
Gespräch unmittelbar beiwohnt.
Der geschriebene Dialog verleugnet somit seine Mittelbarkeit und sein Ge-
schriebensein. Er manövriert den Leser in die fiktive Position eines Augenzeugen. 21

20
Phrasikleia. S. 186.
21
Vgl. W. Wieland: Piaton und die Formen des Wissens. S. 53: Der Leser eines platonischen
Dialogs »übernimmt eine Rolle, die der eines Zuhörers oder Zuschauers vergleichbar ist.«
Piatons Konzeption der Lektüre 135

Diese Position künstlich erzeugter Unmittelbarkeit unterscheidet sich zum einen


von derjenigen des Gesprächsteilnehmers, der an der dialektischen Hervorbrin-
gung der Wahrheit aktiv beteiligt ist und ihr daher - wie Alkibiades im ersten Teil
des Dialogs — allzu nahesteht, u m sie noch als die seinige erkennen zu können.
Die >natürliche< Unmittelbarkeit der wirklichen Gesprächssituation hindert den
Dialogpartner daran, sich mit seinem Wissen zu identifizieren. Die Position des
Dialoglesers kontrastiert zum anderen mit dem Standort desjenigen, d e m das
Wissen in der abstrakten Form eines dogmatischen Systems verabreicht wird,
der mithin vorgefertigte Erkenntnisse passiv entgegennimmt u n d sich davon in
keiner Weise persönlich betroffen oder angesprochen fühlt. Kennzeichnend für
den Status des Dialoglesers ist das ambivalente Zugleich von unmittelbarer N ä h e
(das Gespräch spielt sich gleichsam vor seinen Augen ab) und objektivierender
Distanz (als Zuschauer greift er in das Dialoggeschehen nicht ein), von geistiger
Aktivität (er vollzieht den Erkenntnisprozeß, der ihm vorgeführt wird, innerlich
nach) und passiver Schau (er vollzieht ihn nach, er sieht bloß zu). 22 Diese Ambi-
valenz ist ein Charakteristikum der »schnellen* u n d >leichten< Unterweisung, wie
sie durch das Paradeigma, die visuelle Lesehilfe oder die rhetorische asteia erteilt
wird. Sie ermöglicht es dem Dialogleser, sich mit d e m Wissen zu identifizieren,
das ihm in gegenständlicher, seine Gegenständlichkeit zugleich dissimulierender
Form präsentiert wird.

2. Dialogform und Schriftkritik

Wenn es zutrifft, daß zwischen dem Verstehen der paradeigmatischen Rede und
der Lektüre des geschriebenen Dialogs eine strukturelle Analogie besteht, wenn
d e m geschriebenen Dialog m i t h i n die F u n k t i o n z u e r k a n n t wird, Wissen auf
schnelle, leichte und psychagogisch wirksame Weise zu vermitteln, dann ergibt sich
das Problem, wie Piatons literarische Praxis mit seiner Schriftkritik zu vereinbaren
ist. Im Phaidros-Dialog und im 7. Brief spricht Piaton d e m geschriebenen Text
die Fähigkeit ab, den Leser zu einem Wissenden zu machen. Der Widerspruch
zwischen der literarischen Praxis des Dialogschreibers u n d seinem Verdikt gegen
die Schrift läßt sich, wie es scheint, nur auf zweierlei Weise auflösen. Z u m einen

22
Vgl- J· Mittelstraß: Versuch über den sokratischen Dialog. S. 23: »Der Leser wird in den
Dialog über Identifikations- und Beurteilungsleistungen hineingezogen, auch wenn es sich
dabei nicht in erster Linie um koargumentative Leistungen, sondern um Illusionsleistungen
handelt.« Diese Formulierung trifft den Sachverhalt sehr präzise: Der Dialogleser ist zwar
nicht in der Weise aktiv wie der Gesprächspartner, der durch Fragen dazu veranlaßt wird,
am Prozeß der Wissensbildung teilzunehmen. Gleichwohl geht die Illusion unmittelbarer
Präsenz, die durch die Lektüre des geschriebenen Dialogs erzeugt wird, auf die Tätigkeit des
Lesers zurück. Sie ist seine »Leistung«, derer er sich zwar nicht bewußt ist, die ihn aber um
so fester an den Gegenstand seiner »Wahrnehmung« bindet.
136 Vom somatischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

ist es denkbar, daß Piaton dem geschriebenen Dialog einen Sonderstatus zuweist
und ihn als den einen, exzeptionellen Typus des Schriftgebrauchs ansieht, der die
Nachteile des graphischen Mediums aufgrund seiner außergewöhnlichen forma-
len Eigenschaften zu kompensieren vermag. Die Besonderheiten der literarischen
Gestalt programmieren demnach eine besondere Form der Lektüre. Zum anderen
besteht die Möglichkeit, der platonischen Schriftkritik eine prinzipielle Geltung
zuzuschreiben, die keine Ausnahmen kennt. Der geschriebene Dialog ist demzu-
folge als Instrument philosophischer Unterweisung genauso ungeeignet wie jede
andere Form schriftlicher Mitteilung; die Besonderheiten der literarischen Gestalt
haben keine Auswirkungen auf den Modus der Rezeption.
Tatsächlich ist die Platon-Forschung in dieser Frage in zwei Lager geteilt, die
einander unversöhnlich gegenüberstehen. Die Verfechter der Dialogformtheorie,
die auf Friedrich Schleiermacher zurückgeht, deuten die geschriebenen Dialoge
Piatons als Nachahmungen mündlicher Lehrgespräche, die den dynamischen Aus-
tausch zwischen Lehrer und Schüler nicht bloß abbilden, sondern — aufgrund ihrer
formalen Anlage — im Verhältnis zwischen Text und Leser Wiederaufleben lassen.
Die schriftliche Unterweisung verfolgt laut Schleiermacher dasselbe Ziel wie die
mündliche, nämlich den Rezipienten der Rede »zur eignen inneren Erzeugung der
beabsichtigten Idee« zu nötigen.23 Die Dialogform bietet somit die Möglichkeit,
das im oralen Unterricht vermittelte Wissen ohne Reibungsverluste in das Medium
Schrift zu übertragen. Aus der Perspektive der Dialogformtheorie vermitteln die
platonischen Schriften ein adäquates Bild der platonischen Lehre.
Die Vertreter der Gegenseite stellen diese Möglichkeit in Abrede. Im Anschluß
an die Schriftkritik des Phaidros weisen sie dem geschriebenen Dialog lediglich
eine hypomnematische Funktion zu und sind allenfalls noch dazu bereit, ihn mit
protreptischen Wirkungsintentionen in Verbindung zu bringen. Die schriftliche
Darstellung des philosophischen Lehrgesprächs dient demnach in erster Linie dem
Zweck, den Leser an eine in oraler Form bereits erteilte Belehrung zu erinnern und
schon bestehendes Wissen zu reaktivieren. Sie kann zudem mit der Aufgabe betraut
werden, ein werbewirksames Bild der philosophischen Lebensweise zu zeichnen und
dem Leser die Hinwendung (epistrophe) zur Philosophie nahezulegen.24 In jedem
Fall bleibt die wahre philosophische Unterweisung, der eigentliche Prozeß der Wis-
sensbildung, dem mündlichen Lehrgespräch vorbehalten. Die Gegner der Dialog-
formtheorie gehen davon aus, daß Piaton den im Phaidros vorgetragenen Prinzipien

23 Friedrich Schleiermacher: Einleitung 1.1. In: ders.: Über die Philosophie Piatons. S. 2 5 - 6 9 ,
hier: S. 41.
2< Zur protreptischen Funktion des geschriebenen Dialogs vgl. K. Gaiser: Protreptik und Parä-
nese bei Piaton. S. 16f. - Zur hypomnematischen Funktion des geschriebenen Dialogs vgl.
Hans Joachim Krämer: Arete bei Piaton und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der
platonischen Ontologie. Heidelberg 1959. S. 393f.; Thomas Alexander Szlezäk: Piaton und
die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen.
Berlin und New York 1985. S. 8f.
Platons Konzeption der Lektüre 137

in seiner eigenen literarischen Praxis treu geblieben ist u n d es s o m i t v e r m i e d e n hat,


den »Ernst« w a h r e n W i s s e n s der Schrift anzuvertrauen, a u f die der P h i l o s o p h » n u r
[des] Spieles w e g e n « zurückgreifen darf. 2 5
D e r V e r s u c h , d i e i m Phaidros skizzierte H y p o m n e m a - T h e o r i e der S c h r i f t a u f
die geschriebenen D i a l o g e Platons a n z u w e n d e n , ist freilich nicht u n p r o b l e m a t i s c h .
W e n n es P i a t o n in seinem geschriebenen Werk tatsächlich d a r u m geht, d e n h y p o -
m n e m a t i s c h e n Charakter der Schrift zur G e l t u n g zu bringen, w a r u m wählt er d a n n
ausgerechnet die D i a l o g f o r m , die diesen Charakter verleugnet? D e r geschriebene logos
- so argumentiert Sokrates i m Phaidros - ist eine bloße Erinnerungshilfe, ein äußerer
Anstoß, der die eigentliche Leistung der m n e m o n i s c h e n Vergegenwärtigung auslöst,
o h n e sie selbst vollziehen zu k ö n n e n . D a s G e s c h r i e b e n e bildet d e n »Anlaß f u r die
E r i n n e r u n g an etwas, was selbst in die schriftliche Fixierung gar nicht eingeht.« 2 6 In
ihrer legitimen F u n k t i o n als hypomnema repräsentiert die Schrift kein Wissen, ersetzt
also nicht das l e b e n d i g e G e d ä c h t n i s ( m n e m e ) , vielmehr m a r k i e r t sie einen b l o ß e n
I m p u l s , der die mneme daran erinnert, sich zu erinnern. 2 7 D a s Bedrohliche an der
Schrift besteht aber nun gerade darin, d a ß sie gleichwohl d e n A k t lebendiger Verge-
genwärtigung zu simulieren vermag: Sie »stellt ihre A u s g e b u r t e n hin als lebend«; m a n
könnte glauben, die geschriebenen Texte »sprächen, als v e r s t ü n d e n sie etwas«. 2 8 D a s

25 Zur Kontrastierung von philosophischem Ernst und schriftstellerischer Spielerei vgl. Pia-
ton: Phaidros 276b-e. - Die Unterscheidung zwischen dem Spiel der Schrift und dem
Ernst wahren Wissens wird von den Gegnern der Dialogformtheorie mit unterschiedlichen
Deutungsakzenten versehen: a) Die einen erkennen darin einen klaren Hinweis auf die
esoterische Dimension platonischen Philosophierens, auf die Existenz eines Wissens, das
aufgrund seiner besonderen inhaltlichen Qualitäten vor dem Zugriff Unberufener bewahrt
und gegen Mißverständnis und Mißbrauch geschützt werden muß; eines Wissens, das nur
in mündlicher Form tradiert werden darf, um seine Profanierung zu verhindern. Vgl. H. J.
Krämer: Arete bei Piaton und Aristoteles; Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre.
Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Pla-
tonischen Schule. Stuttgart 2 1968. b) Die anderen sehen darin einen Hinweis nicht auf eine
inhaltlich zu bestimmende Geheimlehre, sondern auf die besondere Form, die dem wahren
philosophischen Wissen zukommt. Dieses ist an das Vermögen gekoppelt, die Erkenntnisse
situations- und adressatengerecht anzuwenden. Das wahre Wissen ist demnach zugleich auch
ein Können, eine Fähigkeit - die Fähigkeit nämlich, seinen logoi Hilfe zu leisten, sie gegen
Mißverstehen und Kritik zu verteidigen, sie zu erklären, zu begründen, zu vertiefen und auf
Prinzipien zurückzuführen. Es ist dieses mobile Hintergrund- und Tiefenwissen, das in das
»Spiel« der schriftlichen Darstellung nicht eingehen darf — ja, gar nicht eingehen kann. Vgl.
Th. A. Szlezak: Piaton und die Schriftlichkeit der Philosophie. S. 38f., S. 66 und passim; W.
Wieland: Piaton und die Formen des Wissens. S. 41 f., S. 46 und passim.
26 W. Wieland: Piaton und die Formen des Wissens. S. 18.
27 Vgl. Kapitel 1.3 dieser Untersuchung. Die hypomnematische Konzeption der Schrift korres-
pondiert dem Lektüremodell, das Jesper Svenbro für das archaische Zeitalter rekonstruiert. Im
archaischen Zeitalter ist die Schrift nicht Darstellung (Repräsentation, Ersatz) einer Stimme,
sondern Auslöser einer stimmhaften Lektüre, der die eigentliche Repräsentationsleistung
obliegt: »Avant l'invention de la lecture silencieuse, l'ecriture ne represente done pas vraiment
une voix; eile vise seulement ä la production d'une voix qui [...] imitera le meme par le meme.«
(J. Svenbro: Phrasikleia. S. 183).
28 Piaton: Phaidros 275d.
138 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Geschriebene ist zwar nicht dazu fähig, Wissen zu re-präsentieren, aber es täuscht
diese Fähigkeit vor. Die Täuschungsmacht der geschriebenen Rede kann das Indivi-
duum dazu verleiten, das innere Gedächtnis durch schriftliche Aufzeichnungen zu
ersetzen, anstatt diese - wie es ihrer >Natur< entspricht — als bloßes Hilfsmittel der
Erinnerung zu verwenden.29 Das Geschriebene erweckt den falschen Eindruck, als
könne es leisten, was vorgeblich nur die mneme zu leisten vermag: die Speicherung
und Vergegenwärtigung wahren Wissens.
Wenn Piaton seinen Schriften also wirklich eine rein hypomnematische Funktion
zuweisen wollte, dann wäre es geradezu widersinnig, ihnen eine Form zu geben, die
das Täuschungspotential des Geschriebenen zur Entfaltung bringt. Im Gegenteil:
Um zu verhindern, daß das Pharmakon der Schrift eine sedative Wirkung auf die
mneme ausübt, müßte der philosophische Schriftsteller die Unzulänglichkeit des
Geschriebenen — die unüberbrückbare Distanz, die es vom lebendigen Wissen trennt
- in den Texten selbst als solche kenntlich machen. Anstatt durch die Technik mi-
metischer Dramatisierung die Unmittelbarkeit der Gesprächssituation zu simulieren,
wäre es angezeigt, die Vorläufigkeit des schriftlich gespeicherten Wissens durch die
Form zu akzentuieren - dadurch etwa, daß man die logoi nicht ausformuliert, son-
dern nur in Gestalt stichwortartiger Notizen festhält, oder besser noch dadurch, daß
man auf diegetische Darstellungsformen zurückgreift, die den zeitlichen Abstand der
Darstellung zum Dargestellten sichtbar machen. Anstatt dem Geschriebenen den
Anschein des Lebendigen zu verleihen, müßte der philosophische Autor den toten
Abbildcharakter der Schrift, ihre unbewegliche Starrheit und Situationsinvarianz
exponieren. Doch die Dialogform hat den gegenteiligen Effekt. Sie verschleiert die
hypomnematische >Natur< der Schrift. 30 Der Verfasser geschriebener Dialoge dis-
krediert nicht die Täuschungsmacht des Geschriebenen, er macht sie sich vielmehr
zunutze, um die Illusion der Präsenz zu erzeugen.

Der geschriebene Dialog als Gedächtnisstütze (Szlezäk)

Die Gegner der Dialogformtheorie sind freilich der Ansicht, daß das Schriftwerk
Piatons seine Unzulänglichkeit und Unterlegenheit gegenüber dem mündlichen
Lehrgespräch gerade nicht verberge, sondern deutlich mache — indem es nämlich
bestimmte Teile des philosophischen Wissens zurückhalte und diese Absenz zugleich
als solche markiere. Die geschriebenen Dialoge, so behauptet etwa Hans Joachim

29 E b d . 274a.
30 D a der hypomnematische Charakter des Geschriebenen sich nicht von selbst zu erkennen gibt,
sondern mit formalen Mitteln zur Geltung gebracht werden muß, kann von einer >Natur< der
Schrift eigentlich nicht die Rede sein. Es k o m m t vielmehr immer darauf an, wie ein gegebener
Text seine eigene Schriftlichkeit inszeniert. Daher kann die Frage nach d e m Status, der d e m
geschriebenen Werk Piatons z u k o m m t , nicht losgelöst von der Analyse seiner literarischen
F o r m erörtert werden. D i e Gegner der Dialogformtheorie vernachlässigen diesen Aspekt der
F o r m und der an sie gekoppelten Selbstinszenierung von Schriftlichkeit.
Piatons Konzeption der Lektüre 139

Krämer, seien von »Stellen des Abbrechens und Verschweigens« durchzogen, die
Piaton mit strategischem Kalkül - zumeist an den Kulminationspunkten des
Gesprächs — piaziert habe.31 Thomas Alexander Szlezäk, der die bislang scharf-
sinnigste und schlüssigste Kritik der Dialogformtheorie vorgelegt hat, kann sich
gar nicht vorstellen, »daß es eine platonische Schrift geben könnte, die nicht in
irgendeiner Form an die Vorläufigkeit ihrer Darlegungen erinnerte.«32 Piaton lasse
in allem, was er geschrieben habe, »Raum für mündliche >Hilfe<«.33 Laut Szlezäk
signalisiert die platonische Dialogschrift ihrem Leser, daß sie »inhaltlich transzen-
diert werden muß, wenn sie voll verstanden werden soll«; der geschriebene Dialog
zeigt demnach an, daß er nicht durch sich selbst zu bestehen vermag, sondern
der Ergänzung durch »weiterreichende und tiefer begründende Argumente und
Theoreme« bedürftig ist.34
Die These, daß das Schriftwerk Piatons den Leser mittels inhaltlicher Leerstellen
auf die Notwendigkeit und Überlegenheit mündlichen Unterrichts verweise, kann
den Widerspruch zwischen dem hypomnematischen Schriftkonzept und der Praxis
dialogischen Schreibens jedoch nicht auflösen. Denn diese These trägt der Form der
platonischen Schriften in keiner Weise Rechnung. Setzt man die Existenz solcher
Leerstellen einmal voraus, so würde der geschriebene Dialog den Leser aufgrund
seines Inhalts dazu drängen, das Buch aus der Hand zu legen und in ein mündliches
Lehrgespräch einzutreten, wogegen er ihn aufgrund seiner Form zugleich davon zu
überzeugen suchte, daß er selbst ein derartiges Gespräch ersetzen könne. Der Inhalt
dementiert, was die Form verspricht. Die Frage, warum Piaton seinen Schriften eine
dialogische Form gegeben hat, warum er mithin die Vorläufigkeit des Geschriebe-
nen nicht auch mit formalen Mitteln sichtbar gemacht hat, stellt sich unter dieser
Voraussetzung mit um so größerer Dringlichkeit. Wieso schreibt Piaton Dialoge,
wenn er — wie die Gegner der Dialogformtheorie behaupten — an einem hypomne-
matischen Schriftkonzept festhält?
Szlezäks Antwort auf diese Frage ist ebenso einfach wie bestechend. Er argumen-
tiert, »daß die Dialoge ein Bild des wahren Philosophen bereithalten: Sokrates ist der
mündlich Philosophierende, dessen διδαχή auf die ευδαιμονία [...] der >Lernenden<
zielt.«35 Den platonischen Schriften läßt sich ein Paradeigma des Philosophen und
seiner Tätigkeit entnehmen. Die paradeigmatische Darstellung des Philosophen ist
an die Darstellung philosophischer Gespräche gebunden, da der Philosoph nicht
durch den bloßen Besitz von Wissen, sondern durch die Fähigkeit bestimmt ist,
in Situationen praktischer Bewährung effektiv damit umzugehen. Als Philosoph
gilt demnach, »wer seinen Äußerungen >zu Hilfe zu kommem, sie zu verteidigen

31
H. J. Krämer: Arete bei Piaton und Aristoteles. S. 396.
32
Th. A. Szlezäk: Piaton und die Schriftlichkeit der Philosophie. S. 67.
33
Ebd. S. 328.
34
Ebd. S. 66.
35
Ebd. S. 20.
140 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

und durch τιμιώτερα, durch >Dinge von höherem Wert<, abzustützen imstande
ist.«36 Die geschriebenen Dialoge führen vor, worin diese Hilfe besteht und wie sie
gehandhabt wird — Szlezäk betont, »daß die im Schriftwerk enthaltenen Fälle von
>Hilfe für den Logos< die Funktion von Beispielen haben: an ihnen können wir
ablesen, was βοηθεϊν konkret bedeutet.«37 Den platonischen Dialogschriften wird
somit die Aufgabe zugewiesen, ein paradeigmatisches Bild wahren, mündlichen
Philosophierens zu zeichnen.
Doch der paradeigmatische Bildcharakter läßt sich nur schwer mit dem hypom-
nematischen Status der Schrift vereinbaren. So plausibel die Ausführungen Szlezäks
zur paradeigmatischen Funktion der Dialoge erscheinen mögen, sie lassen den
Konflikt nur noch deutlicher hervortreten, der zwischen der dialogischen Form und
dem hypomnematischen Schriftkonzept besteht. Die Dialoge inszenieren eine Hilfe,
die sie als schriftlich fixierte Texte ihrerseits nicht zu leisten vermögen; sie enthalten
— wie Szlezäk pointiert formuliert — »eine modellhafte Vorwegnahme der Hilfe [...],
die sie selbst benötigen.«38 Diese antizipatorische Struktur konterkariert die Strategie
inhaltlichen Aussparens und Vorenthaltens, in der die Gegner der Dialogformtheorie
ein Charakteristikum der platonischen Schreibweise zu erkennen glauben. Als Para-
deigma mündlicher Hilfe enthüllt der Dialog vorgreifend jene »Dinge von höherem
Wert«, die er eigentlich verschweigen, zumindest aber verbergen müßte, wenn
er seinen hypomnematischen Charakter wahren wollte. Indem die Dialogschrift
mündliche Hilfe antizipiert und in dramatischer Gestalt vorfuhrt, lenkt sie den Leser
von ihrer eigenen Hilfsbedürftigkeit ab. Um in der Darstellung von Hilfe zugleich
auch die hypomnematische Vorläufigkeit des Geschriebenen zur Geltung bringen,
müßte der philosophische Schriftsteller seine Darstellung deutlich erkennbar als eine
bloße Darstellung, den paradeigmatischen Vorgriff als einen bloßen Vorgriff und den
dargestellten Gegenstand als abwesend markieren — dadurch etwa, daß er über die im
Gespräch erbrachten Hilfeleistungen in diegetisch-distanzierender Form berichtete,
anstatt sie, wie Piaton dies zumeist tut, in mimetisch-dramatisierender Gestalt zu
vergegenwärtigen.
Laut Szlezäk gibt sich die exemplarische Darstellung wahren Philosophierens im
geschriebenen Dialog tatsächlich als bloße Darstellung zu erkennen — freilich nicht
aufgrund ihrer Darstellungsform. Er behauptet, daß die paradeigmatische Antizipa-
tion tieferen Wissens dieses Wissen zugleich vorenthält. Die Beispiele von >Hilfe<,
die paradeigmata argumentativer Vertiefung, die der geschriebene Dialog im Vorgriff

36 Ebd. S. 4.
37 Ebd. S. 68. - Vgl. auch W. Wieland: Piaton und die Formen des Wissens. S. 57: Die Dialog-
form erlaubt es, »Paradigmen für einen angemessenen Umgang mit Sätzen zu gestalten und
vorzuzeigen«; der Leser kann anhand der geschriebenen Dialoge »paradigmatisch lernen, wie
man im Rahmen solcher philosophischer Gespräche Einsichten gewinnen und auf der Basis
solcher Einsichten Gespräche führen kann.«
38 T h . A. Szlezäk: Piaton und die Schriftlichkeit der Philosophie. S. 2 1 .
Piatons Konzeption der Lektüre 141

auf die eigentliche, mündliche Praxis des Philosophierens präsentiert, bieten seiner
Auffassung nach »lediglich eine grobe Umrißzeichnung der gemeinten Verfahren«. 39
Szlezak bestimmt das Paradeigma als eine schemenhafte Verkürzung der dialekti-
schen Analyse. Den Mythos vom geflügelten Gespann etwa, der im Phaidros als ein
groß angelegtes Paradeigma der menschlichen Psyche vorgetragen wird, 40 deutet er
als eine modellhafte Skizze, mit deren Hilfe Piaton »eine dialektisch argumentierende
Behandlung der Seele [...] andeutet, aber nicht ausführt«. 41 Weder die ästhetische,
bildhafte, noch die wirkungsbezogene, psychagogische Komponente paradeigmati-
schen Sprechens spielt für Szlezak eine Rolle. In seinen Augen unterscheidet sich das
Paradeigma von der Dialektik nicht durch die Form des Argumentierens, sondern al-
lein durch die Quantität der vorgebrachten Argumente. Das Paradeigma ist demnach
ein unvollständiger, ausschnitthafter Vorgriff auf die dialektische Analyse, der allein
die Fähigkeit zukommt, klare Erkenntnis hervorzubringen. Die paradeigmatische
Rede deutet an, anstatt zu explizieren, und weist somit über sich selbst hinaus. Sie
bedarf - wie das Geschriebene - der Hilfe und der Ergänzung, und sie signalisiert
diese Hilfebedürftigkeit aufgrund ihrer offenkundigen Unvollständigkeit.
Demnach verhält sich das Paradeigma zur dialektischen Erörterung wie die
umrißhafte Zeichnung zum ausgeführten Gemälde. Szlezak verwendet die gleiche
Metaphorik von Umriß und Gemälde, auf die Piaton selbst im Politikos zur Kenn-
zeichnung der paradeigmatischen Redeform zurückgreift - allerdings unter umge-
kehrten Vorzeichen. Zwar konzipiert auch Piaton das Paradeigma als ein Hilfsmittel
der Dialektik, ordnet es mithin dem Verfahren der Begriffsanalyse unter. Doch er
gibt zu verstehen, daß gerade die Analyse komplexer Gegenstände oft nur zu einer
umrißhaften Erkenntnis führt, die den Rekurs auf das Paradeigma erforderlich
macht. 42 Piaton sieht in der paradeigmatischen Rede ein Mittel, die schemenhaften
Umrisse auszufüllen, die durch die dialektische Analyse gezeichnet werden. 43 Die
bildhafte, >energetische< Sprache des Paradeigmas unterscheidet sich von der >akribi-
schen< Begriffssprache der Dialektik nicht durch ein geringeres Maß an Genauigkeit,
sondern sie erzeugt eine ganz andere Art von Genauigkeit — die Genauigkeit des
Sichtbaren und Anschaulichen - , welche die Mängel der dialektischen Analyse zu
supplementieren vermag. Die elliptische Struktur des Paradeigmas bedeutet kein
bloßes Weniger an Argumenten und an Erklärung, wie Szlezak behauptet. Dieses
vermeintliche Minus setzt sich vielmehr in ein Plus an Anschaulichkeit um — das

35 Ebd. S. 4 2 .
40 Piaton: Phaidros 2 4 6 a - 2 5 6 e .
41 T h . A. Szlezak: Piaton und die Schriftlichkeit der Philosophie. S. 4 4 .
42 Vgl. Piaton: Politikos 277d: »Es ist schwer, Bester, wenn man nicht ein Beispiel [παραδείγμασι]
zur Hand nimmt, irgend etwas Größeres recht deutlich zu machen. Denn sonst mag wohl
jeder von uns erst wie im Traume alles wissen und dann wieder gleichsam wachend alles
nicht wissen.« Dem Paradeigma kommt also die Aufgabe zu, die traumhafte Verwirrung und
Undeutlichkeit aufzulösen.
43 Ebd. 2 7 7 c .
142 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Paradeigma enthüllt dem Auge, was es dem Verstand vorenthält; es erklärt nicht
weniger, sondern auf andere Weise.44
Szlezäk legt seiner Analyse der platonischen Dialogschriften somit ein unplato-
nisches Konzept des Paradeigmas zugrunde. Wenn er den geschriebenen Dialog als
ein Paradeigma mündlicher Unterweisung bezeichnet, dann akzentuiert er einseitig
seinen defizitären Status, indem er ihn als bloße Abbreviatur und Vorstufe dialek-
tischer Erörterung ausweist. Der Text vermittelt zwar eine Vorstellung davon, wie
dialektisches Philosophieren funktioniert, zeichnet dabei aber nur eine grobe Skizze
und bekennt somit seine eigene Vorläufigkeit ein. Faßt man den geschriebenen
Dialog jedoch als ein Paradeigma im Sinne des Politikos auf, so gelangt man zu
der Feststellung, daß der Text kein umrißhaftes, totes, sondern ein anschauliches,
lebendiges Bild philosophischer paideia darzubieten und eine entsprechende Form
der Lektüre zu programmieren sucht. Erst unter dieser Voraussetzung wird es ver-
ständlich, warum Piaton seinen Schriftwerken eine dramatische Form verliehen hat.
Die Bildlichkeit der paradeigmatischen Rede und die Technik der szenischen Verge-
genwärtigung ergänzen sich in dem Bemühen, Wissen auf lebendige, anschauliche
und paränetisch wirksame Weise mitzuteilen. Szlezäk dagegen vermag auf der Basis
seines Paradeigma-Konzepts keine Beziehung zwischen der exemplarischen Funktion
und der dramatischen Gestalt der platonischen Schriften aufzuzeigen.
Wie alle Gegner der Dialogformtheorie glaubt auch Szlezäk, die mimetische, sze-
nisch-dramatisierende Darstellungsweise des geschriebenen Dialogs vernachlässigen
zu können. Er vermag zwar nicht zu erklären, warum Piaton diese Darstellungsform
gewählt hat, aber seiner Ansicht nach tut die dramatische Form dem hypomne-
matischen Status der Dialogschriften keinen Abbruch. Die geschriebene Rede ist
nicht mehr als ein Schattenbild der gesprochenen, ob sie nun in diegetischer oder
in dramatischer Gestalt vorgetragen wird: »Die formal-mimetische Angleichung
der Schrift an das Wechselgespräch führt nie über ein bloßes είδωλο ν desselben
hinaus.«45 Das Geschriebene ist und bleibt demzufolge ein totes Bild, so sehr sich
der Verfasser auch bemüht, ihm den Anschein des Lebendigen zu verleihen. Mag
diese apodiktische Feststellung nun zutreffen oder nicht, problematisch ist in jedem
Fall, daß Szlezäk vom (vermeintlichen) Sein des Geschriebenen unmittelbar auf
seine Wirkung schließt. Der geschriebene Text ist vielleicht ein totes Bild, muß dem
Leser aber keineswegs so erscheinen. Die Wirkung auf den Leser ist weniger darauf
zurückzuführen, was das Geschriebene seiner >Natur< nach ist, als vielmehr darauf,
wie es sich gibt, wie es seine Schriftlichkeit inszeniert oder dissimuliert. Andernfalls
wäre die Form der schriftlichen Äußerung, wären die Kunstmittel der Darstellung
vollkommen irrelevant. Wie wenig gleichgültig sie Piaton tatsächlich sind, bezeugt

44
Z u m Wechselverhältnis von elliptischer Verkürzung und Anschaulichkeit im platonischen
Paradeigma vgl. Kapitel II.5 dieser Untersuchung.
45
T h . A. Szlezäk: Piaton und die Schriftlichkeit der Philosophie. S. 339.
Piatons Konzeption der Lektüre 143

die in der Politeia ausführlich vorgetragene Erörterung der Frage, welche Darstel-
lungsweise — die diegetische, die mimetische oder eine Mischform — aufgrund
ihrer ethischen und politischen Konsequenzen im idealen Staatswesen zugelassen
werden dürfe. 46 Szlezäk hingegen billigt der Darstellungsform, insbesondere aber
den rhetorischen und literarischen Strategien der Vergegenwärtigung, die in den
platonischen Dialogen zur Anwendung kommen, keinerlei Wirksamkeit zu. Wie
einer auf das Geschriebene reagiert, hat nichts mit der literarischen Form des Textes
zu tun. Lebendige Rede sind die Ausführungen der platonischen Sokrates-Figur
demnach allein auf der Ebene des fiktiven Dialoggeschehens: »Wir, die Leser, sind
nicht Teil der dramatischen Szene: für uns existieren diese Reden nur [...] als λόγοι
γεγραμμένοι, mithin als >Abbild< lebendiger Rede.« 47
Szlezäk hat in gewisser Beziehung durchaus Recht: Keine dramatische Mimesis,
und sei sie noch so lebendig, kann dem Leser die Illusion vermitteln, an dem Ge-
spräch, dessen Darstellung er rezipiert, aktiv teilzunehmen. Sie versetzt ihn vielmehr
in die Position des Zuschauers oder Zuhörers, der als Zeuge des Gesprächs zugegen
ist. Zwar ist diese Position durch ein Moment der Distanz gegenüber dem Dialog-
geschehen gekennzeichnet. Gleichwohl handelt es sich dabei um eine Position, die
nicht mehr außerhalb, sondern innerhalb der fiktiven Gegenwart des Dargestellten
anzusiedeln ist. Um sie einnehmen zu können, muß sich der Leser auf die Inszenie-
rung der Gesprächssituation einlassen; er wird über Identifikations- und Illusions-
leistungen in den Text »hineingezogen«. 48 Seine Rolle ist ihm durch die Inszenierung
vorgegeben; der Leser-Zeuge ist wie die >aktiven< Teilnehmer des Gesprächs eine
literarische Kunstfigur. 49 In dieser Eigenschaft nimmt er die Reden eben nicht mehr

46 Piaton: Politeia 3 9 2 c - 3 9 8 b .
47 T h . A. Szlezäk: Piaton und die Schriftlichkeit der Philosophie. S. 36. - Vgl. auch W. Wieland:
Piaton und die Formen des Wissens. S. 53: »Alle Lebendigkeit, die den Werken Piatons a u f
G r u n d ihrer dramatischen Form eignet, kann jene Distanz nicht aufheben, die zwischen den
Dialogredenden und d e m von ihnen nicht unmittelbar angesprochenen Leser besteht.«
48 Vgl. J. Mittelstraß: Versuch über den platonischen Dialog. S. 2 3 . - D e r Leser als Zuschauer
steht also — im Gegensatz zur A u f f a s s u n g von Szlezäk und Wieland — nicht einem äußerlichen
Textobjekt gegenüber. S o b a l d er die Zuschauer-Rolle e i n g e n o m m e n hat, ist er in gewisser
Weise >in< d e m Text. D e r antiken Wahrnehmungstheorie zufolge ist das Z u s c h a u e n ja keine
Aktivität, die ein isoliertes Währnehmungssubjekt in Bezug a u f einen für sich bestehenden
Wahrnehmungsgegenstand ausübt. D e r Zuschauende befindet sich gegenüber d e m Gesehe-
nen nicht in einer Position der Exteriorität; Zuschauen ist eine W a h r n e h m u n g des Gleichen
im Gleichen. D i e auf den Leser gerichtete Strategie der geschriebenen D i a l o g e will den
Rezipienten in diesem Sinne in einen Zuschauer verwandeln — will ihn zur Identifikation
animieren, will ihn dazu bewegen, d e m paradeigmatisch Dargestellten ähnlich zu werden.
Der Leser ist nicht >bloß< ein Zuschauer. Als Zuschauer ist er vielmehr bereits ein Teil der
dargestellten Wirklichkeit, ist er über Ahnlichkeitsrelationen u n d Identifikationsleistungen
bereits mit d e m Dargestellten verbunden. Es m u ß jedoch betont werden, daß der Leser nur
durch literarische und rhetorische Mittel in diese Position gebracht werden kann: Sie ist ein
künstliches Konstrukt, keine natürliche Gegebenheit.
49 Z u m Konzept der in der Textstruktur angelegten Leserrolle vgl. die einschlägigen Studien von
Wolfgang Iser: D e r implizite Leser. M ü n c h e n 2 1 9 7 9 : D e r Akt des Lesens. M ü n c h e n 1 9 7 6 .
144 Vom somatischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

nur als geschriebene, als λόγοι γεγραμμένοι, sondern als gesprochene Äußerungen
der Gesprächsteilnehmer wahr. Seine Wahrnehmung ist zwar nur eine Illusion, aber
ein solche, die der geschriebene Text mit bewußtem Kalkül hervorzubringen sucht.
Die dramatisierende Mimesis zielt darauf ab, die Schriftlichkeit des Dialogs vergessen
zu machen.50 Der geschriebene Dialog gibt sich selbst das Ansehen eines lebendigen
Bildes, nicht eines toten eidolon - eines Bildes, das seinen Bildcharakter überspielt.
AJs paradeigmatische Vergegenwärtigung eines mündlichen Lehrgesprächs kann die
Dialogschrift nicht zugleich auf ihre hypomnematische Schriftlichkeit verweisen.
Die Strategie des mimetisch-paradeigmatischen Vor-Augen-Stellens ist mit dem
hypomnematischen Schriftkonzept nicht vereinbar.

Der geschriebene Dialog als Auslöser eines hermeneutischen


Gesprächs zwischen Text und Leser (Schleiermacher)

Die Gegner der Dialogformtheorie lassen eine schlüssige Erklärung dafür ver-
missen, warum sich Piaton in seinem geschriebenen Werk fast ausschließlich der
dialogischen Schreibweise bedient und dabei der mimetisch-dramatisierenden
Darstellungstechnik den Vorzug gibt. Die Frage, ob der Dialogform eine spezifische
Lektürepraxis korrespondiert und welche Bedeutung ihr für die Konstitution des
ethischen Subjekts zukommt, findet bei ihnen daher keine befriedigende Antwort.
Man sollte folglich erwarten, daß der von den Anhängern des hypomnematischen
Schriftkonzepts bekämpfte Opponent, die Dialogformtheorie selbst, in dieser Hin-
sicht weiterfuhrende Einsichten zu bieten vermag - schließlich stellt sie das Problem
der dialogischen Darstellungsweise und der daran gekoppelten Rezeptionsvorgänge
ostentativ in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit.
Bei näherer Betrachtung zeigt es sich jedoch, daß diese Theorie ihren eigentlichen
Gegenstand verfehlt. Zwar beharrt Schleiermacher darauf, daß das Verständnis der
platonischen Philosophie sich nur von ihrer Darbietungsweise her erschließen lasse
— »denn wenn irgendwo, so ist in ihr Form und Inhalt unzertrennlich«.51 Sobald
er sich aber konkret an die Analyse spezifischer Darstellungsstrategien begibt,
sieht er sich dazu genötigt, zwischen einer äußeren und einer inneren Form zu
unterscheiden. Die Technik der mimetischen Vergegenwärtigung, die dramatische
Inszenierung der Wechselrede wird dabei als »dialogische Einkleidung«, als »das
Außere dieser Platonischen Form« bestimmt und gegenüber einem »inneren und
wesentlichen der Platonischen Form« abgegrenzt.52 Schleiermacher klammert somit

50 Piaton selbst hebt die dissimulatorische Kraft der mimetischen Darstellungsweise hervor:
D i e Mimesis ist wie die Diegesis eine »Erzählung« (Politeia 3 9 3 b : »Erzählung nun ist doch
beides«), aber eine solche, die ihren diegetischen Charakter verleugnet, die so tut, als wäre sie
nicht Erzählung, sondern die erzählte Sache selbst.
51 F. Schleiermacher: Einleitung. S. 38.
52 Ebd. S. 59f.
Piatom Konzeption der Lektüre 145

das, was den dialogischen Charakter der platonischen Schriften sichtbar markiert,
von vorneherein aus seiner Betrachtung aus und versieht es m i t dem Stigma des
Äußerlichen, Unwesentlichen, Akzidentellen. M a ß g e b l i c h für die Steuerung des
Rezeptionsverhaltens ist seiner Auffassung nach allein die innere Form des geschrie-
benen Dialogs. Sie ist es nämlich, die den Rezipienten zu intellektueller »Selbsttä-
tigkeit« nötigen soll; sie soll verhindern, daß in seiner Seele »mit dem scheinbaren
Verständnis der W o r t e und Buchstaben eine leere Einbildung« entstehe, »als wisse
sie, was sie doch nicht weiß«; sie soll bewirken, »daß der Leser [...] zur eignen inne-
ren Erzeugung der beabsichtigten Idee [...] gezwungen werde« und sich somit das
übermittelte Wissen wahrhaft zu eigen mache. 5 3 D i e innere Form der Dialogschrift
verhindert demnach, daß der Leser eine passive Rezeptionshaltung e i n n i m m t . Sie
motiviert ihn zu geistiger Aktivität und übernimmt auf diese Weise die Rolle, die
der Fragende im mündlichen Lehrgespräch innehat. Sie scheint es möglich zu ma-
chen, die dynamische Interaktion zwischen Fragendem und Antwortendem a u f das
Verhältnis zwischen Text und Leser zu übertragen. Die eigentliche Dialogizität der
platonischen Schriften manifestiert sich laut Schleiermacher nicht in ihrer äußeren
»Einkleidung«, ihrer dramatischen Gestalt, sondern in dem Zwiegespräch zwischen
Text und Leser, das durch die innere Form initiiert wird.
Worin besteht nun diese innere Form, die den Rezipienten vorgeblich in eine
dem Standpunkt des aktiven Gesprächsteilnehmers analoge Position zu versetzen
vermag? Schleiermacher assoziiert sie mit spezifischen T e c h n i k e n der indirekten
Mitteilung. D e r Dialog wirkt anregend auf den Intellekt des Lesers weniger durch
das, was er expliziert, als durch das, was er vorenthält - indem etwa »das Ende der
Untersuchung nicht geradezu ausgesprochen und wörtlich niedergelegt«, die Seele
des Rezipienten also »in die Notwendigkeit gesetzt wird, es zu suchen«; oder indem
»aus Widersprüchen ein Rätsel geflochten wird, zu welchem die beabsichtigte Idee
die einzig mögliche Lösung ist«; oder indem »die Darstellung eines Ganzen« nur
»durch unzusammenhängende Striche angedeutet« wird; oder aber durch »das Ver-
bergen des größeren Zieles unter einem kleineren, das indirekte Anfangen mit etwas
Einzelnem«. 5 4 D i e dem platonischen Dialog zugeschriebene innere Form beruht auf
einer Strategie des nicht-wörtlichen, also figurativen Sprechens, der Andeutung, der
Auslassung und der Verhüllung. Sie hat somit eine gewisse Ähnlichkeit m i t Szlezäks
Konzeption des paradeigmatischen Vorgriffs. Bezeichnenderweise verwendet auch
Schleiermacher das Bild der umrißhaften Skizze. D o c h während der geschriebene
Dialog bei Szlezäk aufgrund seiner Skizzenhaftigkeit über sich selbst hinausweist und
seine Vorläufigkeit, seine Hilfs- und Erklärungsbedürftigkeit zu erkennen gibt, deu-
tet er laut Schleiermacher a u f sich selbst, auf in ihm verborgene Tiefenschichten. Die
innere Form markiert ein Verfahren der verschlüsselten Mitteilung. D e r geschriebene

53 Ebd. S. 39, S. 41.


54 Ebd. S. 4 l f „ S. 60.
146 Vom somatischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Dialog ist demnach nicht auf Unterstützung von außen angewiesen; die Beihilfe des
Verfassers, der Rekurs auf zusätzliche Argumente und die dialektische Entfaltung des
hypomnematisch Angedeuteten erweisen sich als überflüssig. D e r Text selbst enthält
vielmehr in chiffrierter Form alles, was er zu seiner Verteidigung und Erklärung be-
nötigt. E r besitzt eine nicht unmittelbar zugängliche Tiefen- und Innendimension,
durch die er sich zu helfen und vor Mißbrauch zu schützen weiß. D e r geschriebene
D i a l o g ist somit zwar nicht hilfe-, wohl aber deutungsbedürftig. Schleiermacher
zufolge stattet Piaton seine Dialogschriften vermöge der inneren F o r m mit einem
verborgenen Sinn aus, der vom Leser in einer hermeneutischen Anstrengung zutage
gefördert werden m u ß . U m das Geschriebene vollkommen zu verstehen, ist es also
nicht erforderlich, den Verfasser zu befragen und u m weiterführende Erklärungen zu
bitten — das Geschriebene erklärt sich selbst, wenn man es nur gründlich genug liest.
D e r Dialog zwischen Text und Leser, der durch die innere F o r m des Geschriebenen
ausgelöst wird, bezeichnet mithin die Aktivität der hermeneutischen Entzifferung. 5 5
Schleiermacher charakterisiert die Verschriftlichung des Dialogs als einen Vorgang
der Verinnerlichung: Der Verinnerlichung der mündlichen Hilfe durch die innere
F o r m korrespondiert die Verinnerlichung des mündlichen Gesprächs zum herme-
neutischen Dialog zwischen Text und Leser.
W i e aber verhält sich dieses Innere des geschriebenen Dialogs zu seiner äußeren
Form? Schleiermacher schenkt der dialogischen »Einkleidung« der platonischen
Schriften nur wenig Aufmerksamkeit. Er erachtet die äußere, dramatische Gestalt des
Geschriebenen zwar als »notwendig zur Nachahmung jenes ursprünglichen gegensei-
tigen Mitteilens«, 5 6 doch ist sie nicht - jedenfalls nicht direkt - an der Konstitution
des inneren Dialogs zwischen Text und Leser beteiligt. Außere und innere Form
laufen mehr oder weniger beziehungslos nebeneinander her. Bei näherem Hinsehen

55 Szlezäk weist darauf hin, daß es sich bei der von Schleiermacher und seinen Nachfolgern
postulierten Zwiesprache zwischen Text und Leser um »eine bloße Metapher« handelt:
Schleiermacher suggeriere auf diese Weise, daß der geschriebene Text eine lebendige, aktive
Instanz sei; Piaton kennzeichne das Geschriebene im Phaidros jedoch unmißverständlich als
totes, passives eidolon; in Wirklichkeit besage die Dialog-Metapher nicht mehr, als daß der
Leser über das Gelesene nachdenke, sie verweise also auf eine >monologische< Aktivität, die
auf Seiten des Rezipienten, nicht aber auf selten des toten Text-Objekts zu lokalisieren sei.
(Piaton und die Schriftlichkeit der Philosophie. S. 3 5 3 - 3 5 5 . ) — Es trifft natürlich zu, daß der
Dialog zwischen Text und Leser nur in einem übertragenen Sinne als Gespräch bezeichnet
werden kann. Doch Szlezäk ist allzu schnell dazu bereit, eine solche Ausdrucksweise als bloße
Metapher abzutun. Wenn der geschriebene Text sich selbst mit metaphorischen Mitteln eine
Stimme, ein Leben und eine Aktivität zudichtet und somit über seine tote Dinglichkeit hin-
wegtäuscht, dann bleibt dies nicht ohne Auswirkungen auf die Art und Weise, wie er rezipiert
wird. Es stellt sich also die Frage, wie und als was sich der geschriebene Text inszeniert. Laut
Schleiermacher übernimmt die Dialogschrift im Verhältnis zum Leser die Rolle des philoso-
phischen Gesprächsführers, doch er liefert keine Belege dafür, daß der Text selbst sich diese
Rolle zuschreibt und in entsprechender Weise stilisiert wird. Seine Dialog-Metapher ist daher
tatsächlich ein bloße Metapher, eine aufgesetzte Metapher, die nicht in den Darstellungsstra-
tegien des Textes verankert ist.
56 Schleiermacher: Einleitung. S. 40.
Piatons Konzeption der Lektüre 147

zeigt es sich sogar, daß sie konträre Darstellungsstrategien verfolgen: Während die
dramatisierende Mimesis darauf hinarbeitet, dem Leser etwas vor Augen zu stellen
und die unmittelbare, lebendige Präsenz des Dargestellten zu simulieren, dient die
innere Form dem Zweck, den eigentlichen Gegenstand der Darstellung zu verber-
gen. Die äußere Form enthüllt und visualisiert, die innere Form verschleiert und
verrätselt. Die äußere Form verleitet den Leser zu einer Form von Lektüre, die
der sinnlichen Wahrnehmung analog ist, und hält ihn auf diese Weise von einem
tieferen Nachsinnen ab; die innere Form dagegen animiert ihn zu selbsttätiger
intellektueller Suche. Aus der Perspektive Schleiermachers vermag dieser Gegensatz
der Wirkungsintentionen das Konzept der inneren Form aber nicht nachhaltig in
Frage zu stellen. Im Gegenteil, gerade dadurch, daß die äußere Form den Leser
ablenkt und für sich vereinnahmt, trägt sie zu der Verhüllung des Inneren bei. Die
äußere Form ist ein Bestandteil der Verhüllungsstrategie und wirkt somit eben
doch - wenn auch nur indirekt - an der Konstitution des inneren Dialogs zwi-
schen Text und Leser mit. Das bedeutet aber zugleich, daß die dramatische Gestalt
des geschriebenen Dialogs tatsächlich nicht mehr ist als eine Einkleidung, eine
Hülle, die keinerlei Eigenwert besitzt. Die Hülle der dramatischen Form ist nur
dazu da, durchdrungen zu werden; allenfalls hat sie die Funktion einer Schutzwehr,
welche die Unberufenen daran hindert, den kostbaren inneren Wahrheitsgehalt
zu profanieren. 57 Nur der oberflächliche Leser erliegt der Verführungskraft dieser
sinnlichen Hülle und liefert sich der Illusion aus, dem dargestellten Gespräch als
Zuschauer oder Zuhörer unmittelbar beizuwohnen. Der philosophische Leser
hingegen durchschaut die rhetorischen und literarischen Täuschungsmanöver.
Anstatt sich mit der Rolle eines passiven, äußerlichen Zuhörers zu bescheiden,
strebt er danach, die Hülle zu penetrieren und »sich zu einem wahren Hörer des
Inneren« zu erheben. 58
Das Nebeneinander von äußerer und innerer Form, das Schleiermacher als
charakteristisch für den platonischen Dialog ansieht, markiert also nicht die span-
nungsvolle Koexistenz zweier unterschiedlicher Formprinzipien, sondern verweist
auf einen grundlegenden Gegensatz zwischen äußerer Form und innerem Gehalt,
zwischen sinnlicher Hülle und intelligiblem Kern, zwischen Textkörper und geis-
tigem Sinn. Von einem solchen Gegensatz ist bei Piaton selbst aber keine Rede.
Schleiermacher wendet in anachronistischer Manier ein Text- und Lektüremodell
auf die platonischen Dialogschriften an, das in der klassischen Antike noch gar

57
Schleiermacher dementiert die Existenz einer mündlich überlieferten platonischen Geheim-
lehre. Er ist der Ansicht, daß Piaton keine Scheu davor gehabt habe, das Ganze seiner philo-
sophischen Doktrin dem Medium Schrift anzuvertrauen — wenngleich in einer indirekten,
verschlüsselten Form, die dem Mißbrauch vorbeugen sollte (vgl. Einleitung. S. 3 3 - 3 7 ) .
Schleiermacher stellt der Hypothese einer oralen Geheimlehre somit das Konzept einer inneren
Esoterik der Dialogform entgegen. Zur Kritik an diesem Konzept vgl. T h . A. Szlezäk: Piaton
und die Schriftlichkeit der Philosophie. S. 368-370.
58
Schleiermacher: Einleitung. S. 42.
148 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

keinen B e s t a n d hatte, das vielmehr - i m Z u g e der z u n e h m e n d e n P h i l o l o g i s i e r u n g


der P h i l o s o p h i e - erst i m H e l l e n i s m u s zur A u s p r ä g u n g g e l a n g t i s t . 5 ' Folgt m a n d e m
D e u t u n g s a n s a t z S c h l e i e r m a c h e r s , so h a t P i a t o n seine D i a l o g e f ü r p r o f e s s i o n e l l e
Leser konzipiert, die den geschriebenen Text einer intensiven exegetischen B e h a n d -
l u n g unterziehen, die j e d e Ä u ß e r u n g d u r c h l e u c h t e n u n d d a r a u f h i n ü b e r p r ü f e n , o b
sie nicht m e h r enthält, als sie v o r d e r g r ü n d i g mitzuteilen scheint, kurz: die alle ihre
B e m ü h u n g e n d a r a u f richten, eine esoterische B e d e u t u n g s s c h i c h t freizulegen, aus
der die wahre p h i l o s o p h i s c h e Lehre hervorgeht. E i n derartiger Leser ist z u m Beispiel
der n e o p l a t o n i s c h e P h i l o s o p h Plotin: N i c h t nur fordert er die A d e p t e n der Philo-
s o p h i e d a z u auf, die Werke Piatons i m m e r wieder u n d m i t äußerster G r ü n d l i c h k e i t
zu lesen u n d auszulegen; d a r ü b e r h i n a u s deklariert er sein eigenes p h i l o s o p h i s c h e s
S c h a f f e n als einen einzigen großen, v e r b o r g e n e S i n n d i m e n s i o n e n erschließenden
K o m m e n t a r zu d e n Texten des M e i s t e r s . 6 0 D i e U n t e r s c h e i d u n g zwischen Inner-
lichkeit u n d E x t e r i o r i t ä t , die S c h l e i e r m a c h e r s e i n e m T e x t m o d e l l z u g r u n d e legt,
spielt in der p h i l o s o p h i s c h e n Mythen-Allegorese, 6 1 später d a n n vor allem bei d e n
frühchristlichen A n h ä n g e r n des N e o p l a t o n i s m u s eine b e d e u t e n d e Rolle. Sie wird
in der Patristik f ü r ein spirituelles Verständnis der H e i l i g e n S c h r i f t f r u c h t b a r ge-
m a c h t . 6 2 S c h l e i e r m a c h e r erklärt die exegetische, spiritualisierende Lektürepraxis,
die sich bei heidnischen u n d christlichen Vertretern des N e o p l a t o n i s m u s unter d e n
spezifischen historischen B e d i n g u n g e n der S p ä t a n t i k e herausbildet, k u r z e r h a n d zur
u r s p r ü n g l i c h intendierten Rezeptionsweise der platonischen S c h r i f t e n u n d f ü h r t sie
a u f d e r e n innere F o r m zurück.

55 Die im späten Hellenismus, insbesondere bei Epikureern und Neoplatonikern hervortre-


tende Tendenz zur Verschulung der Philosophie, den dabei zu verzeichnenden Einfluß
der alexandrinischen Philologie und die Herausbildung neuer Formen des Umgangs mit
philosophischen Texten beleuchten Pierre Hadot: Qu'est-ce que la philosophie antique? S.
227-242; Michael Erler: Philologia Medicans. Wie die Epikureer die Texte ihres Meisters
lasen. In: Vermittlung und Tradierung von Wissen in der griechischen Kultur. Hg. von
Wolfgang Kullmann und Jochen Althoff. Tübingen 1993. S. 281-303. - Auch Hans Joachim
Krämer (Neues zum Streit um Piatons Prinzipientheorie. In: Philosophische Rundschau
27 [1980], S. 1—38) bezichtigt Schleiermacher des Anachronismus: Er wirft ihm vor,
seiner Platon-Deutung das protestantische Prinzip der Schriftautarkie zugrunde gelegt zu
haben. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß die Technik der indirekten, verschlüsselten
Mitteilung, die Schleiermacher als charakteristisch für den platonischen Dialog ansieht,
der protestantischen Privilegierung des Literalsinns widerspricht, während sie sich mit der
Praxis der Allegorese durchaus vereinbaren läßt, die in den Philosophenschulen des helle-
nistischen Zeitalters, insbesondere aber in der neoplatonisch inspirierten Patristik einen
großen Aufschwung erlebte.
60 Vgl. M. Erler: Philologia Medicans. S. 297, S. 299f.
61 Vgl. dazu die klassische Studie von Jean Pepin: Mythe et allegorie. Les origines grecques et
les contestations judeo-chretiennes. Paris 2 1976.
62 Vgl. dazu die einschlägigen Beiträge in: The Cambridge History of the Bible. Vol. I: From
the Beginnings to Jerome. Edited by P. R. Ackroyd and C. F. Evans. Cambridge 1970. Vgl.
auch Bertrand de Margerie: Introduction ä l'histoire de l'exegese. Vol. 1: Les peres grecs et
orienteaux. Paris 1980; Henning Graf Reventlow: Epochen der Bibelauslegung. Bd. 1: Vom
alten Testament bis Origenes. München 1990.
Piatons Konzeption der Lektüre 149

Doch diese läßt sich mit der paradeigmatischen Funktion der Dialogschrift
nicht vereinbaren. Die vermeintlich indirekten Darstellungsmittel wie Mythos und
Paradeigma, die Schleiermacher mit der inneren Form assoziiert, dienen bei Piaton
nicht der Verhüllung oder Verrätselung des Wissens. Im Gegenteil, sie fungieren
als Erkenntnis- und Lesehilfen. Die Wirkung dieser Darstellungsmittel beruht auf
einer künstlich erzeugten Kontiguität von Denken und Wahrnehmung. Sie führen
Denken und Wahrnehmung zusammen, anstatt - wie Schleiermacher insinuiert
- das Intelligible vom Sinnlichen abzutrennen und dem Zugriff der Unberufenen
zu entziehen. Was sich bei Schleiermacher in ein Außen und ein Innen, ein drama-
tisches Vor-Augen-Führen und ein spiritualisierendes Verbergen aufspaltet, bildet
bei Piaton eine dynamische Einheit: Die elliptische Verkürzung dient der Steigerung
von Anschaulichkeit. Was das Paradeigma an expliziter Erklärung vorenthält und zu
suchen gibt, stellt es dem Leser zugleich >sichtbar< vor Augen, so daß er unmittelbar
wahrzunehmen glaubt, was er denkend erschließt.

3. Lektüre als mimetische Einübung in philosophisches Verhalten:


Die Vorrede zum Theaitetos-Dialog

Weder die Gegner der Dialogformtheorie noch ihre Verfechter tragen der von Piaton
favorisierten dialogischen Schreibweise in hinreichendem M a ß e Rechnung. Die
einen vertreten die Ansicht, daß die platonischen Schriften durch bewußt gesetzte
inhaltliche Leerstellen ihre eigene Vorläufigkeit exponieren und sich somit als tote
Schattenbilder mündlicher Unterweisung zu erkennen geben. Dabei bleibt jedoch
die Frage offen, warum Piaton mit der Dialogform eine auf Verlebendigung und
Vergegenwärtigung zielende Darstellungsstrategie verfolgt, welche die vorgebli-
che hypomnematische Totenstarre des Geschriebenen konterkariert. Die anderen
messen der Dialogizität der platonischen Schriften zwar höchste Bedeutung zu,
führen diese aber auf das verborgene Innenleben der Texte zurück, während sie die
dramatisierende Mimesis der Wechselrede zu einem Moment der äußeren Form
degradieren, die am eigentlichen Prozeß dialogischer Wissensbildung nicht beteiligt
sei. In beiden Fällen wird der Eindruck erweckt, als sei die im geschriebenen Dialog
betriebene szenische Vergegenwärtigung der Gesprächssituation nur eine beiläufige,
weitgehend wirkungs- und funktionslose Erscheinung; in beiden Fällen finden die
rhetorischen und literarischen Techniken der Vergegenwärtigung keine angemessene
Berücksichtigung.
Diese Vernachlässigung der an die dialogische Schreibweise gekoppelten Dar-
stellungs- und Wirkungsstrategien läßt sich nicht dadurch rechtfertigen, daß Piaton
selbst darauf verzichtet hat, seine Vorliebe für die Form des geschriebenen Dialogs
zu begründen. Zwar sucht man in den platonischen Gesprächen vergeblich nach
einer expliziten poetologischen Reflexion auf die Vor- und Nachteile der dialogischen
150 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Schreibweise.63 Doch eine solche Explikation widerspräche ja auch dem deiktischen


und paradeigmatischen Charakter des geschriebenen Dialogs; sie würde zudem den
Bruch jener Illusion unmittelbarer Gegenwart herbeiführen, die durch die dramati-
sierende Mimesis erzeugt wird. Dem deiktischen Charakter der Dialogschrift wäre
es eher gemäß, wenn dem Leser die Wirkungsweise der Dialogform anhand einer
exemplarischen Inszenierung vor Augen geführt würde. Tatsächlich hält Piaton
eine derartige Inszenierung parat, und zwar in Gestalt des Rahmengesprächs, das er
seinem f heaitetos-Dialog vorangestellt hat. Der Prolog zum Theaitetos ist deshalb be-
sonders aufschlußreich, weil einer der beiden Dialogleser, die Piaton darin auftreten
läßt, sich zugleich als Dialogschreiber zu erkennen gibt und über die Modalitäten der
Textherstellung Rechenschaft ablegt. Er verkörpert sozusagen das komplexe Wech-
selverhältnis zwischen der Schreib- und der Wirkungsweise der philosophischen
Dialogschrift. Die Lektüreszene, die den Theaitetos eröffnet, ist daher dazu geeignet,
den Deutungsansatz der Dialogformtheorie und denjenigen ihrer Opponenten zu
desavouieren. Aus dem Lektüreszenario des Prologs geht - wie im folgenden auf-
gezeigt werden soll - klar hervor, daß die Funktion der Dialogschrift weder darin
besteht, den Leser hypomnematisch auf das mündliche Lehrgespräch zu verweisen,
noch darin, ihn zur Entzifferung eines verborgenen Sinns zu provozieren.

Diegesis — hypomnesis — mimesis: Die Abfassung der Dialogschrift

Das Rahmengespräch, mit dem Piaton den Leser in seinen Theaitetos-Oiä\og ein-
führt, wird von Eukleides und Terpsion, zwei in Megara beheimateten Schülern des
Sokrates, bestritten. Eukleides berichtet, daß er auf dem Weg in die Stadt dem be-
rühmten Mathematiker Theaitetos begegnet sei, der - an einer tödlichen, im Kampf
gegen die Thebaner empfangenen Wunde dahinsiechend - vom Kriegsschauplatz
Korinth nach Athen heimgeführt werde und in Megara eine kurze Zwischenstation
eingelegt habe. Die Begegnung mit dem sterbenden Mathematiker veranlaßt Eu-
kleides dazu, der weissagenden Worte seines Lehrers Sokrates zu gedenken: Dieser
habe Theaitetos als jungen Mann kennengelernt; kurz vor seiner Verurteilung habe
er noch die Gelegenheit gehabt, mit dem angehenden Mathematiker ein gründliches
Gespräch zu fuhren, über dessen Inhalt er ihm, Eukleides, ausfuhrlich berichtet habe;

63 Die Schriftkritik des Phaidros bildet da keine Ausnahme. Piaton geht im Phaidros mit keinem
Wort auf die literarische Form des geschriebenen Dialogs ein; vielmehr wird, wie Szlezak zu
Recht betont, die Unzulänglichkeit der Schrift überhaupt (das heißt: die Unzulänglichkeit
ausnahmslos aller Formen der schriftlichen Darstellung) gegenüber dem mündlichen Lehrge-
spräch herausgearbeitet. (Vgl. Th. A. Szlezak: Piaton und die Schriftlichkeit der Philosophie.
S. 342f. und passim.) Was für das mündliche Lehrgespräch gilt, gilt nicht automatisch auch
für den geschriebenen Dialog. Diesem Mißverständnis erliegt Schleiermacher: »Da nun
ungeachtet dieser Klagen Piaton von der ersten Männlichkeit an bis in das späteste Alter so
vieles geschrieben hat: so ist offenbar, er muß gesucht haben, auch die schriftlich Belehrung
jener besseren so ähnlich zu machen als möglich, und es muß ihm damit auch gelungen sein.«
(Einleitung. S. 40.).
Platons Konzeption der Lektüre 151

dabei habe er seine Freude an der Begabung des jungen Mannes zum Ausdruck ge-
bracht und ihm eine große Zukunft prognostiziert. Der Hinweis auf das lange Jahre
zurückliegende Gespräch zwischen Sokrates undTheaitetos erregt die Neugierde des
Terpsion. Auf seine Frage, ob ihm Eukleides den Hergang der Unterredung erzählen
könne, antwortet dieser:
Beim Zeus, zum mindesten gewiß nicht so mündlich [στόματος]. Aber ich habe gleich da-
mals, als ich nach Hause kam, Aufzeichnungen [υπομνήματα] darüber angefertigt, hernach
habe ich bei mehrerer Muße nachgesonnen und sie aufgeschrieben [ύστερον δέ κατά σχολήν
άναμιμνησκόμενος έ'γραφον], und sooft ich nach Athen kam, erfragte ich vom Sokrates, wessen
ich mich nicht recht erinnerte, und brachte es in Ordnung, wenn ich wieder hierher kam, so
daß fast die ganze Unterredung nachgeschrieben ist [γέγραπται]

Eukleides weist ausdrücklich darauf hin, daß die dialogische Form des Textes das
Ergebnis seiner kompositorischen Bemühungen sei — er habe das Gespräch dergestalt
abgefaßt, »nicht als ob Sokrates es mir erzählt [διηγούμενον], wie er mir es doch
erzählt hat [διηγεΐτο], sondern so, daß er wirklich mit denen redet, welche er als
Unterredner nannte.«65 Terpsion äußert den dringenden Wunsch, das von Eukleides
verfaßte »Buch [βιβλίον]« zu lesen,66 und da auch dieser das Bedürfnis empfindet,
sich von den Anstrengungen des Tages zu erholen, beschließen sie, sich die Dia-
logschrift von einem Sklavenjungen vortragen zu lassen. Damit ist die Uberleitung
zum eigentlichen Gespräch zwischen Sokrates und Theaitetos vollzogen: Der Leser
des Theaitetos wird dazu eingeladen, sich in die Situation der Zuhörer Eukleides
und Terpsion zu versetzen, eine entspannte Geisteshaltung einzunehmen und so
zu lesen, als kämen ihm die Stimmen der Protagonisten Sokrates und Theaitetos
unmittelbar zu Ohren.
Eine wesentliche Funktion des Prologs besteht offenbar darin, die Echtheit
der Unterredung zwischen Sokrates und Theaitetos glaubhaft zu machen. Piaton
versieht den geschriebenen Dialog mit einer fingierten Entstehungs- und Überliefe-
rungsgeschichte, um - so scheint es jedenfalls zunächst — die authentische Nähe der
Repräsentation zum repräsentierten Vorgang zu verbürgen: Der Leser wird in den
Glauben gewiegt, eine Darstellung in Händen zu halten, deren Ursprung bei Sokra-
tes selbst liegt — in seinem mündlichen Bericht, den Eukleides sorgfältig aufbewahrt
und wahrheitsgetreu wiedergegeben hat.
Bei genauerer Betrachtung zeigt es sich jedoch, daß der Prolog die Funktion
des historischen Echtheitssiegels nur auf unzulängliche Weise zu erfüllen vermag.
Es fällt auf, daß Eukleides in der Schilderung, die er von der Entstehung seines
Dialog-Buches liefert, gerade nicht die Nähe, sondern die Distanz akzentuiert, die
den Akt der endgültigen Niederschrift und der daran gekoppelten Formgebung von
dem dargestellten Vorgang, dem ursprünglichen Ereignis des Gesprächs, trennt. Er

64 Piaton: Theaitetos l42d— 143a (Übersetzung modifiziert).


65 Ebd. 143b (Übersetzung modifiziert).
66 Ebd.
152 Vom sokrattschen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

zeigt eine ganze Kette von Vermittlungsstufen auf, die das sokratische Zeugnis zu
durchlaufen hat, ehe es die Gestalt der Dialogschrift annehmen kann, und entlarvt
somit den Eindruck der Unmittelbarkeit, den der vollendete Text kraft seiner drama-
tischen Form hervorbringt, als künstlich erzeugten Schein. Der geschriebene Dialog
gibt sich das Ansehen, eine Transkription, eine wirklichkeitsnahe Repräsentation der
ursprünglichen Unterredung zu sein, doch Eukleides bildet in seinem Text etwas ab,
was er selbst nie gesehen hat. Er hat an dem Gespräch, das er darstellt, nicht teilge-
nommen; Sokrates hat ihm darüber nur in diegetischer Form berichtet. Diesen Be-
richt hat Eukleides nicht unmittelbar protokolliert - zwischen der Erzählung seines
Gewährsmanns und dem Beginn der Niederschrift liegt vielmehr der lange Heimweg
von Athen nach Megara. Dort bemüht er sich nicht etwa darum, den sokratischen
Bericht möglichst vollständig und detailgetreu zu fixieren. Die Diegesis, die ja ih-
rerseits eine verkürzende und distanzierende Form der Vermittlung darstellt, wird
in hypomnematischer Gestalt, in Form von stichwortartigen Notizen festgehalten
und so noch einmal auf einen bloßen Umriß reduziert. Erst nach einem weiteren
zeitlichen Intervall beginnt Eukleides mit der endgültigen schriftlichen Ausarbeitung
des Dialogs, wobei der Text zugleich seine dramatische Form erhält.
Die dramatisierende Mimesis steht also nicht in direkter Nähe, sondern in größt-
möglicher Ferne zum nachgeahmten Gegenstand. Sie ist kein unmittelbares Abbild
der Wirklichkeit, sondern eine fiktive Rekonstruktion derselben, und zwar auf der
Basis einer dürren hypomnematischen Skizze. Der dargestellten Wirklichkeit muß
erst alles Leben ausgetrieben werden, das lebendige Gespräch muß diegetisch distan-
ziert, die Diegesis muß hypomnematisch skelettiert werden, ehe sich der Dialogautor
daran begeben kann, ihm mit den Mitteln der mimetischen Darstellungsweise ein
neues, künstliches Leben einzuhauchen.67 Die dramatisierende Mimesis ist nicht das
tote Abbild eines Lebendigen, sie markiert vielmehr die künstliche Verlebendigung
eines toten Abbilds, die Umwandlung eines schemenhaften Umrisses in ein farbiges
Gemälde, das Leben und Gegenwart vorzutäuschen vermag.
Die dialogische Schreibweise steht somit in einer ambivalenten Beziehung zum
Tod, den sie einerseits voraussetzt, andererseits aber zu bannen sucht. Tatsächlich
macht sich die bedrohliche Nähe des Todes im Prolog des Theaitetos deutlich be-
merkbar: Sokrates berichtet Eukleides noch kurz vor seiner Verurteilung und Hin-
richtung über seine Unterredung mit Theaitetos; dieser liegt zu dem (fiktiven) Zeit-
punkt, da das Rahmengespräch mit anschließender Lesung stattfindet, seinerseits im
Sterben. Beide jedoch leben in der Dialogschrift fort, die Eukleides angefertigt hat.
Nicht das lebendige Gedächtnis des Schülers, sondern das artifizielle Gedächtnis

67 Vgl. P. Loraux: L'art platonicien d'avoir l'air d'ecrire. S. 442: »Mais, repentir ou Variante
d'un parricide plus encore que simple convention de vraisemblance, [...] Euclide de Megäre
retablit le mouvement et redonne la vie: >je retouchai le tout et fabriquai du gramma vivant,
des grammata qui feraient impression de vie, je supprimai leur dimension d'aide-memoire
pour mettre en avant leur aptitude ä rivaliser avec la vertu mimetique de la peinture.««
Platons Konzeption der Lektüre 153

der dialogisch verlebendigten Schrift sichert den Fortbestand ihrer Reden. Der Ent-
stehungsprozeß des Theaitetos-Oidogs umfaßt zwar in seiner ersten Phase die Wei-
tergabe mnemonisch gespeicherten Wissens — eine orale traditio, die von mneme zu
mneme erfolgt (Sokrates verläßt sich bei seiner Erzählung ganz auf sein Gedächtnis;
Eukleides speist diesen Bericht seiner mneme ein, ehe er etwas aufschreibt).68 Aber der
mündliche Uberlieferungsvorgang findet ein ebenso abruptes wie definitives Ende,
sobald Eukleides seine Hypomnemata einer literarischen Bearbeitung unterzieht,
um eine dramatisch gestaltete Dialogschrift herzustellen. Nachdem er den Dialog
abgefaßt hat, ist Eukleides bezeichnenderweise nicht mehr dazu fähig, »mündlich«
über das Gespräch Auskunft zu geben, von dem ihm Sokrates berichtet hat.69 Anstatt
zu erzählen, verweist er Terpsion auf seine Dialogschrift. Es scheint so, als sei das
Leben aus seiner mneme gewichen und ganz in den von ihm verfertigten Dialogtext
übergegangen. Eukleides kann nicht mehr - wie im Phaidros gefordert — »innerlich
sich selbst und unmittelbar erinnern«, er vertraut vielmehr den ganz äußerlichen,
»fremde[n] Zeichen« der Schrift, 70 denen er jedoch den Anschein der Unmittel-
barkeit und der Lebendigkeit verliehen hat. Der geschriebene Dialog ist also keine
bloße Gedächtnisstütze; er erinnert nicht an Kenntnisse, die ihren eigentlichen Sitz
in der mneme des Wissenden haben und lediglich einer periodischen Auffrischung,
einer hypomnematischen Aktivierung bedürfen. Vielmehr leistet die Dialogschrift
des Eukleides, was sie - laut Phaidros - unter gar keinen Umständen leisten dürfte:
Sie ersetzt die mneme. Während die hypomnematische Umrißzeichnung die mneme
des Lesers dazu animiert, die gespeicherten Kenntnisse zu aktualisieren und zu
verlebendigen, nimmt das farbige, lebendige Gemälde des geschriebenen Dialogs
dem Gedächtnis diese Arbeit ab. Die Dialogschrift scheint sich sozusagen selbst zu
lesen; der dramatisch gestaltete Text scheint von sich aus, mit seiner eigenen Stimme,
zu sprechen.71 Der Leser des Dialogs übernimmt die Position des Zuschauers oder
Zuhörers; die Mühen mnemonischer Vergegenwärtigung werden ihm erspart. Für
Eukleides und Terpsion ist Lektüre offenkundig keine Arbeit — und schon gar nicht
die penible Arbeit der Exegese - , sondern eine Form von Erholung: »So laß uns dann
gehen, und indes wir der Ruhe pflegen, mag uns der Knabe vorlesen.«72

Die mimetische Aktivität des Lesers

Die Passivität des Lesers ist aber nur eine scheinbare - ihr liegt eine verborgene Akti-
vität zugrunde. Die Dialogschrift verschleiert die Kunst und die Arbeit der Vergegen-

68 Vgl. Detlef Thiel: Platons Hypomnemata. S. 94: »Noch bevor er in der Form des Buches
erscheint, ist der logos bereits verwahrt in verschiedenen individuellen Gedächtnissen.«
69 Piaton: Theaitetos l42d.
70 Piaton: Phaidros 275a.
71 Zur im klassischen Zeitalter aufkommenden Vorstellung vom sprechenden Text vgl. J. Svenbro:
Phrasildeia. S. 185f.
72 Piaton: Theaitetos 143b.
154 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

wärtigung, auf der ihre Wirkung beruht. Eukleides kann ja nur deshalb in die Rolle
des passiven Zuhörers schlüpfen, weil er sich zuvor der Mühe unterzogen hat, den
Bericht über das Gespräch zu dramatisieren. Er nimmt die Arbeit der literarischen
Komposition auf sich und erzeugt - in einem komplexen, langwierigen Prozeß der
Herstellung — eine kunstvolle Mimesis des Dialogs, um sich dann - ungestört und
ganz ohne Anstrengung — der Illusion ausliefern zu können, dem wirklichen Dialog
als Zuhörer unmittelbar beizuwohnen. Eukleides, der Verfasser des Dialogs, täuscht
Eukleides, den Dialogleser. Er verdrängt den Kunstaufwand, den er selbst betrieben
hat; er vergißt, daß er selbst der Urheber der Rede ist, die er als Leser vernimmt.
Tatsächlich sieht Piaton einen solchen Täuschungsmechanismus als kennzeich-
nend für die mimetische Darstellungsweise an. Wann immer der Dichter sich der
Technik dramatisierender Mimesis bedient, redet er so, »als ob ein anderer der
Redende wäre als er selbst«.73 Dort etwa, wo Homer seine Helden in wörtlicher
Rede sprechen läßt, gibt der Dichter sich »alle ersinnliche Mühe [...], uns dahin zu
bewegen, daß uns nicht Homeros scheine der Redende zu sein«.74 Die mimetische
Darstellungsform ermöglicht es dem Dichter, »sich selbst [zu] verbergen« und somit
auch seine Kunst zu verstecken:75 Die Mimesis ist wie die Diegesis eine narrative
Form der Vermittlung - »Erzählung [διήγησις] nun ist doch beides« -, 7 6 aber eine
solche, die ihren diegetischen Charakter, ihre narrative Mittelbarkeit verschleiert.
Auch der Dialogverfasser Eukleides verbirgt seine auktoriale Präsenz; auch er
kaschiert die Kunstmittel, mit deren Hilfe er dem Leser das Gespräch zwischen
Sokrates und Theaitetos nahebringt — und zwar mit solchem Erfolg, daß er selbst zu
den Düpierten gehört. Er wird seiner Autorschaft und des damit verbundenen Ein-
griffs in den Transmissionsvorgang nicht gewahr, sondern hält sich für ein neutrales
Glied der Uberlieferungskette, das den sokratischen logos unverfälscht aufbewahrt
und weiterleitet. 77 Als Leser der von ihm selbst verfaßten Schrift glaubt Eukleides,
den Stimmen seines Lehrers Sokrates und des Theaitetos zu lauschen; in Wirklichkeit
aber handelt es sich dabei um seine eigene Stimme, welche die Stimmen der anderen
simuliert. Der Autor Eukleides hat sich so gut hinter den Dialogfiguren versteckt, die
er in seinem Text zum Leben erweckt, daß er sich selbst darin nicht wiederfindet.
Eukleides seinerseits ist eine Dialogfigur, hinter der sich der Autor Piaton ver-
birgt. Es ist bemerkenswert, daß Piaton justament in dem Text, der einer Darlegung

73
Piaton: Politeia 393a.
74
Ebd. 393b.
75
Ebd. 393c.
76
Ebd. 393b.
77
P. Loraux (L'art platonicien d'avoir l'air d'ecrire. S. 433) argumentiert, daß dem Rahmenge-
spräch als ganzem die Funktion zukommt, das künstlich Gemachte des Dialogs zu verbergen
und dem sokratischen logos das Ansehen einer - durch die Vermittlungsinstanzen aufgrund
ihrer Neutralität nicht beeinträchtigten — Idealität zu verleihen: »C'est tout l'art du prologue:
son extreme composition [...] veut, par sa position, accrediter 1'idee que le dialogue ne releve
plus d'un travail de composition, mais d'une simple histoire de la transmission qu'il ne fait
precisement qu'amorcer.«
Piatons Konzeption der Lektüre 155

seiner Poetik dialogischen Schreibens am nächsten kommt, seine Verfasserschaft


dementiert, indem er eine fiktive Autorfigur an seine Stelle setzt. Das Verfahren
auktorialer Selbstverleugnung, das er am Beispiel des Eukleides vorführt, wird von
ihm selbst praktiziert. Piaton will die mit mimetischen Mitteln hervorgebrachte
Illusion unmittelbarer Gegenwart auch dort noch gewahrt wissen, wo sie als Illusion
demaskiert wird.
Eukleides verfällt der durch die Dialogschrift ausgelösten Illusion unmittelbarer
Gegenwart, obwohl er ihr Urheber ist. Er übersieht die von ihm selbst erbrachte
Arbeit der Kunstgestaltung. Die Bereitwilligkeit, mit der er sich der Selbstmysti-
fikation ergibt, ist nicht auf eine idiosynkratische Leichtgläubigkeit oder Vergeß-
lichkeit zurückzuführen. Vielmehr verweist sie zum einen auf die außerordentliche
Täuschungsmacht, die der mimetischen Darstellungsform innewohnt. Zum anderen
markiert sie den Selbstbetrug, den jeder Dialogleser begeht, sobald er sich auf die
Inszenierung der Gesprächssituation einläßt und die ihm offerierte Position fiktiver
Zuhörerschaft einnimmt. Objektiv betrachtet, ist auch die lebendigste schriftliche
Mimesis - wie die Gegner der Dialogformtheorie immer wieder hervorheben — nicht
mehr als ein totes eidolon, ein stummes, passives Stück Schrift, das sich nicht zu hel-
fen weiß. Das dynamische Leben, das die ausgearbeitete Dialogschrift im Gegensatz
zur hypomnematischen Skizze an den Tag legt, ist nur ein künstlich generierter
Schein. Der Leser, der dieser Täuschung erliegt, glaubt, den Text selbst sprechen
zu hören; in Wirklichkeit aber ist er es, der ihm - der impliziten Lektüreanweisung
Folge leistend - sein Leben und seine Stimme leiht. Er täuscht sich über den wahren
Charakter des Geschriebenen und erkennt ihm ein Leben zu, das es ohne sein Zutun
gar nicht besitzen würde. Der Dialogleser, der zu hören oder zu sehen meint, was
er liest, ist somit in ähnlicher Weise vergeßlich wie der Dialogschreiber Eukleides:
Er verleugnet seine Rolle als Ko-Autor, als Mit-Verursacher der Illusion, der er er-
liegt. Darin ähnelt er dem mimetischen Künstler, der in seiner Rede den Eindruck
erzeugt, als spräche ein anderer: Auch der Dialogleser tut so, als sei die Stimme,
die er selbst lesend produziert, die Stimme eines anderen. Eukleides leistet dieser
Selbsttäuschung zusätzlich dadurch Vorschub, daß er das Dialogbuch von einem
Sklavenjungen vorlesen läßt. Auf diese Weise wird zwar offenbar, daß die Stimme,
mit der die Dialogschrift spricht, immer nur eine geliehene ist, daß der Text mithin
zu seiner Verlebendigung der aktiven Mitwirkung des Lesers bedarf. Doch zugleich
verschleiert Eukleides seine Mitwirkung, indem er sie an einen anderen delegiert.
Der Sklavenjunge soll ihm die Arbeit der Verlebendigung abnehmen, so daß er sich
ganz der Illusion hingeben kann, passiver Zuhörer zu sein und unmittelbar die logoi
des Sokrates und des Theaitetos zu vernehmen.
Der paradeigmatische Dialogleser, den Piaton im Prolog des Theaitetos vorführt,
ist also kein grübelnder Exeget, wie ihn Friedrich Schleiermacher in seiner Theorie
der inneren Dialogform konzipiert. Der prototypische Leser begibt sich nicht daran,
den Text auf verborgene Aussagen hin zu durchforschen. Er betrachtet sich auch
nicht als Mitwirkenden in einem Prozeß dialogischer Wissensbildung, der durch
156 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

die innere Form des Textes dazu angetrieben wird, sich eine verschlüsselte Wahrheit
durch selbsttätiges Denken zu eigen zu machen. Der Dialogleser übernimmt weder
die Rolle des Dialogpartners noch die des hermeneutischen Spürhunds, sondern
diejenige des Zuschauers oder Zuhörers. Das bedeutet auf der anderen Seite je-
doch nicht, daß er dem geschriebenen Text gegenüber in teilnahmsloser Passivität
verharrt. Der Dialogleser ist vielmehr an der Hervorbringung der lebendigen In-
szenierung beteiligt, der er als Betrachter beiwohnt. Er ist in das, was er bloß zu
sehen und zu hören meint, sehr viel stärker involviert, als es den Anschein hat. Der
vermeintlichen Passivität des Zuschauens liegt eine verborgene Aktivität zugrunde
- keine exegetische Arbeit der Entzifferung, sondern eine mimetische Aktivität der
Verlebendigung und Vergegenwärtigung. Der Dialogleser ist als Zuschauer nicht
teilnahmslos; er konstituiert sich überhaupt erst in dem Maße als Zuschauer, in
dem er aktiv am Vollzug der dramatisierenden Mimesis partizipiert - freilich ohne
sich dessen bewußt zu sein.
Auf dieser untergründigen mimetischen Aktivität des Lesers beruht die beson-
dere Wirkung der dialogischen Schreibweise. Signifikanterweise drängt Piaton in
der Politeia darauf, den Gebrauch mimetischer Darstellungsformen im idealen
Staatswesen streng zu regulieren. Denn wer sich mimetisch betätigt, steht in der
Gefahr, »von der Nachahmung das Sein davon[zu]tragen«; die Nachahmung kann
leicht »in Gewöhnungen und in Natur übergehen«. 78 Der Nachahmer wird mit
der Zeit dem ähnlich, was er imitiert. Der »verständige Mann« muß daher genau
darauf achten, welche Gegenstände er in mimetischer Form behandelt: Nur dann,
»wenn er in der Erzählung auf eine Rede oder Handlung eines wackeren Mannes
kommt,« wird er sie »als selbst jener seiend vortragen wollen und sich einer solchen
Nachahmung nicht schämen«.79 Der mimetische Vortrag der Rede eines anderen
markiert eine besonders intensive Form ihrer Aneignung. Indem der Dialogleser
den fiktiven Gesprächsteilnehmern seine Stimme leiht, ist auch er in diesem Sinne
mimetisch aktiv. Damit er die Sprecher hören kann, muß er selbst sie sprechen
machen, das heißt: ihre Reden nachbilden und beleben. Anders als der Zuhörer, der
bei einem wirklichen Gespräch zugegen ist, ist der Dialogleser genötigt, sich den
fiktiven Gesprächsteilnehmern anzuverwandeln, um sich der Täuschung überlassen
zu können, ihre Worte zu vernehmen. Paradoxerweise steht der Leser des geschrie-
benen Dialogs den Sprechern und ihren logoi somit sehr viel näher als derjenige, der
einer realen Unterredung als Zuschauer beiwohnt. Die künstliche Unmittelbarkeit
des geschriebenen Dialogs stiftet eine engere Beziehung zwischen dem Hörer und
den logoi als ihr >natürliches< Pendant. Andererseits steht der Dialogleser zu den logoi
nicht in einer derart unmittelbaren Beziehung wie derjenige, der als Dialogpartner
aktiv an der Unterredung teilnimmt: Dieser wird durch Fragen dazu genötigt, logoi

78
Piaton: Politeia 3 9 5 c - d .
79
Ebd. 396c.
Piatons Konzeption der Lektüre 157

zu produzieren, mit denen er so sehr eins ist, daß sie sich seiner Verfügungsgewalt
entziehen. Der geschriebene Dialog bringt die logoi nicht direkt im Dialogleser, als
Teil seiner selbst hervor, sondern er bringt sie ihm nahe, so daß er sie sich aneignen
und sich mit ihnen identifizieren kann.
Warum unterzieht sich Eukleides überhaupt der Mühe, einen schriftlichen
Dialog anzufertigen? Warum beläßt er es nicht dabei, die sokratischen logoi als
Erinnerungsschatz, als Bestandteil seiner mneme zu hüten? Offenkundig kann sich
Eukleides die sokratischen logoi nur auf dem Umweg der Verschriftlichung ganz zu
eigen machen. Zwar hat er sie unmittelbar nach dem Vortrag seines Lehrers seiner
mneme einverleibt. Sie sind also in gewisser Weise mit ihm eins. Doch erst nachdem
er sie zunächst in hypomnematischer Form entäußert, sodann in dialogischer Gestalt
wiederbelebt hat, kann er sich mit ihnen identifizieren, kann er sie wirklich als die
seinigen anerkennen. Eukleides ersetzt die >natürliche< Unmittelbarkeit des mnemo-
nisch gespeicherten logos durch die künstliche Unmittelbarkeit der Dialogschrift, um
die Wirkung der sokratischen Rede zur Entfaltung zu bringen.
IV. Der Freund als Spiegel: Zur Problematik von Selbsterkenntnis
und praktischer Übung in der aristotelischen Ethik

1. Aufwertung der ethischen Übung

Um die Position des Zuschauers oder Zuhörers einnehmen zu können, muß der Le-
ser des platonischen Dialogs selbst mimetisch tätig werden. Hören und sehen kann er
nur, weil er den geschriebenen logoi eine imaginäre Stimme und ein imaginäres Ge-
sicht verleiht. Der Dialogleser ist aktiv an der Hervorbringung des Dramas beteiligt,
dem er als bloßer Betrachter beizuwohnen glaubt. Der passiven Rezeptionshaltung
des Zuhörers liegt eine verborgene Tätigkeit zugrunde.
Tatsächlich ist es nach antiker Vorstellung durchaus möglich, die mimetische Ver-
lebendigung fremder Rede, an welcher der Leser mitwirkt, in einem emphatischen
Sinne als Handlung aufzufassen. Manfred Fuhrmann weist darauf hin, daß das
Verbum mimeisthai und das zugehörige Substantiv mimesis im fünften und vierten
Jahrhundert vor Christus zwei deutlich voneinander geschiedene Hauptbedeutungen
besaßen: »Sie bezeichneten einmal das optisch (oder akustisch) wahrnehmbare
Abbilden sowie dessen Produkt, das Abbild; sie dienten zum anderen als Ausdruck
für das Nachahmen durch Handeln, sei es daß jemand einem Vorbild nachstrebte,
sei es daß er auf der Bühne oder sonstwo eine andere Person (ein Rolle, eine Figur)
darstellte oder verkörperte.«1 Während Piaton im zehnten Buch der Politeia den
Abbildcharakter der mimetischen Darstellung hervorhebt, um die Wahrheitsferne
der Dichtung und ihre Minderwertigkeit gegenüber dem philosophischen Diskurs
glaubhaft zu machen, hebt er im dritten Buch desselben Werks mit der Gegenü-
berstellung von mimesis und diegesis auf den Handlungsaspekt der Nachahmung
ab. Der Dichter, der die Rede eines anderen nicht diegetisch referiert, sondern in
mimetischer Form wiedergibt, der mithin so spricht, »als ob ein anderer der Redende
wäre als er selbst«,2 produziert kein bloßes Abbild fremder Rede. Vielmehr schlüpft
er in die Rolle dessen, den er nachahmt; er identifiziert sich mit ihm und verhält
sich in jeder Hinsicht so, »als wäre er ein anderer«.3 Der mimetisch-dramatisierende
Dichter verfährt wie ein Schauspieler: Er will »sich selbst einem anderen nachbilden
[όμοιοΰν εαυτόν αλλψ] in Stimme oder Gebärde«;4 er versucht, sich dem anderen so

1 Manfred Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike. S. 85f.


2 Piaton: Politeia 393a.
5 Ebd. 393c (Hervorhebung von mir, Ch. M.).
4 Ebd. 393c.
160 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

weit wie möglich anzugleichen. Zu diesem Zweck transkribiert oder zitiert er nicht
lediglich die Worte, die der andere artikuliert, sondern er imitiert sein Sprachgeba-
ren. Der mimetisch dramatisierende Dichter erzeugt nicht bloß ein der dargestellten
Wirklichkeit ähnliches eidolon·, er macht sich selbst dem Dargestellten ähnlich. Ob
man den Handlungen eines Menschen nacheifert oder seine Reden in mimetisch-
dramatisierender Form reproduziert - zwischen diesen Aktivitäten besteht laut
Piaton kein qualitativer Unterschied. In beiden Fällen liegt eine Nachahmung
durch Handlung vor. Daher ist es gleichermaßen riskant, sich dem Wahnsinnigen
»ähnlich zu machen in Reden oder Taten«: »Denn kennen [γνωστέον] muß man
freilich wahnsinnige eben wie böse Männer und Frauen, dichten aber oder darstellen
[μιμητέον] nichts von ihnen.« 5
Gefährlich ist die mimetische Darstellungsform, weil die handelnde Nachah-
mung und die Nachahmung von Handlung - insbesondere dann, wenn sie wieder-
holt ausgeführt wird - eine Handlungsdisposition, eine Gewohnheit des Handelns
zu begründen vermag.6 Der Dichter, der einen allzu intensiven mimetischen Um-
gang mit seinen Darstellungsobjekten pflegt, setzt sich der Gefahr aus, »daß die
Nachahmungen [...] in Gewöhnungen [εθη] und in Natur [φύσιν] übergehen, es
betreffe nun den Leib oder die Töne oder das Gemüt«. 7 Nach platonischer Auffas-
sung kann die Tätigkeit des dramatischen Schriftstellers und des Dialogschreibers
somit eine Veränderung seines Charakters herbeiführen. Indem er eine mimetisch-
dramatisierende Darstellung verfaßt, wirkt er - je nachdem wie der Gegenstand der
Nachahmung beschaffen ist - in bestimmter Weise formend auf seine eigene Seele
ein. Daher verlangt Piaton, die Technik dramatisierender Mimesis restriktiv und mit
größter Vorsicht zu handhaben. Den Virtuosen mimetischer Darstellungskunst, der
sich in seiner Rede jedem beliebigen Gegenstand anzuverwandeln versteht, möchte
er als charakterlose, amoralische Persönlichkeit aus dem idealen Staatswesen verbannt
sehen. 8 Dem verständigen Mann hingegen, der zwischen nachahmenswerten und
zu vermeidenden Charakteren zu unterscheiden weiß, gesteht er den maßvollen
Gebrauch der mimetischen Darstellungsform zu.9
Zwar richtet Piaton seine Aufmerksamkeit im dritten Buch der Politeia somit
auf die sittlichen Gefahren, die mit der mimetischen Darstellungsform verbunden
sind. Zugleich deutet er jedoch die Möglichkeit an, die dramatisierende Mimesis
positiv für die Zwecke der ethischen paideia zu nutzen. Von dieser Möglichkeit zeu-

5
Ebd. 396a.
6
Das Lernen durch Gewöhnung gehört zu den Grundprinzipien antiker Pädagogik: Jede
Übung, jede Wiederholung wirkt habitualisierend und gewohnheitsbildend; die Gewohnheit
markiert eine zweite, erworbene Natur. Die sorgfältig gesteuerte Gewohnheitsbildung spielt im
platonischen Idealstaat bei der Erziehung der Wächter eine zentrale Rolle. Zur platonischen
Konzeption der Gewöhnung vgl. G. Funke: Gewohnheit. S. 3 5 ^ 5 .
7
Piaton: Politeia 395c-d.
8
Vgl. ebd. 397a, 398a.
9
Ebd. 396c-e.
Der Freund als Spiegel 161

gen nicht zuletzt seine eigenen philosophischen Schriften, in denen die mimetische
Anverwandlung fremder Rede nicht etwa mit vorsichtiger Zurückhaltung betrieben
wird, sondern zum alles beherrschenden Prinzip der Darstellung avanciert. Der
geschriebene Dialog, in dem das mimetische gegenüber dem diegetischen Moment
dominiert, ist mehr als das distanzierte Abbild eines Gesprächs — er ist das Resultat
einer handelnden Nachahmung der Sprecher. Da die Dialogform auch den Leser
zu mimetischer Aktivität animiert, erstreckt sich der therapeutische Nutzen der
dramatisierenden Darstellung gleichermaßen auf den Textproduzenten und den
Textrezipienten. Während der Dialogleser den Sprechern zuhört und sich durch
ihre logoi intellektuell belehren läßt, macht er sich diese zugleich auf ganz andere
Weise zu eigen: Er bildet das Sprachhandeln der Dialogpartner nach; er formt seine
Seele nach ihrem Muster. Der Leser nimmt die logoi als Hörer auf und erfaßt sie
mit seinem Verstand; gleichzeitig aber übt er das Gehörte mimetisch-handelnd ein.
Er versteht das Gehörte, und er assimiliert es durch eine Art von Gewöhnung, eine
mimetische Gymnastik der Seele. Der Schriftkritik des Phaidros zum Trotz scheint
dem geschriebenen Dialog somit etwas zu gelingen, was eigentlich der mündlichen
Unterweisung vorbehalten sein sollte: die Bildung von Wissen mit der ethischen For-
mung des Subjekts zu verknüpfen. Freilich verdankt das ethische Wissen in diesem
Fall seine formende Kraft den rhetorischen Techniken und der literarischen Form,
die zu seiner Vermittlung eingesetzt werden. Zudem wird eine wirkliche Einheit von
Wissens- und Subjektbildung nicht erzielt: Die intellektuelle Einsicht in die Gegen-
stände des Wissens und die Tätigkeit mimetischer Einübung laufen auf selten des
Lesers unverbunden nebeneinander her. Gleichwohl zeichnet sich die Möglichkeit
ab, den Primat der Oralität auf dem Felde ethischer paideia in Frage zu stellen.
Das Lektüreverfahren, das der dialogischen Schreibstrategie Piatons korrespon-
diert, weist in mehrerlei Hinsicht auf die Selbsttechniken voraus, die in der ethischen
paideia des Hellenismus und der römischen Kaiserzeit zur Anwendung gelangen. In-
dem Piaton einerseits die Tugend als eine spezifische Form von Wissen bestimmt, die
Konstitution des ethischen Subjekts somit auf einen dialektischen Erkenntnisprozeß
zurückführt, indem er andererseits die mimetisch-dramatisierende Darstellung die-
ses Prozesses und ihre Rezeption als Nachahmung durch Handeln charakterisiert,
bereitet er jener Verinnerlichung sittlicher Praxis und jener Vergeistigung sittlicher
Übung den Boden, die für den ethischen Diskurs des Hellenismus kennzeichnend
sind. Um einem moralischen Vorbild nacheifern und ein sittliches Verhalten einü-
ben zu können, ist es schon bei Piaton nicht unbedingt erforderlich, sich an einer
lebendigen Person zu orientieren und sich handelnd auf die Außenwelt einzulassen,
sich also im engeren Sinne praktisch zu betätigen. Die mimetisch-dramatisierende
Darstellungsform der Dialogschrift eröffnet dem Leser vielmehr die Möglichkeit,
sich das sittliche Wissen durch eine innere, imaginative Aktivität anzueignen. Der
Leser übt sich, indem er das Schauspiel dialektischer Unterweisung in seiner Phan-
tasie zur Aufführung bringt und sich dabei die logoi der Sprechenden in mimetischer
Anverwandlung zu eigen macht. Die Lektüre des platonischen Dialogs markiert
162 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

eine Verinnerlichung der nachahmenden Tätigkeit und der praktischen Einübung


in sittliches Verhalten.
Der platonische Leser ist sich der Tatsache allerdings nicht bewußt, daß er in
dieser Weise innerlich tätig wird. Dem Dialogleser bleibt seine eigene Aktivität
verborgen. Er merkt nicht, daß er selbst die Sprecher zum Leben erweckt, denen er
zuzuhören vermeint. Die Figur des Eukleides, die Piaton im Prolog des Theaitetos
vorführt, ist ein Sinnbild für diese Verblendung: Als Leser des Theaitetos-Gesptichs
ist er davon überzeugt, unmittelbar die authentischen Worte seines Lehrers Sokra-
tes zu vernehmen, und vergißt dabei den Aufwand an mimetischer Kunst, den er
betreiben muß, um sich dieser Illusion hingeben zu können. Der Dialogleser weiß
nicht, daß er die Wahrheiten, die er aufnimmt und versteht, zugleich auch innerlich
einübt; ihm wird nicht bewußt, daß er, während er hört, zugleich auch innerlich
handelt. Die Dialogschrift verschleiert die imaginative Tätigkeit, zu der sie den
Leser animiert. Wie sie ihr Geschriebensein dissimuliert, so verbirgt sie auch die
wirkungsästhetischen Kunstmittel, mit deren Hilfe sie den Leser für die Wahrheit
einzunehmen und zur mimetischen Aneignung derselben zu bewegen sucht.
Auf diese Weise erweckt sie den trügerischen Eindruck, daß die Wahrheit, die
sie vermittelt, sich selber präsentiert und von sich aus formend und verändernd auf
den Leser einwirkt. Sie erzeugt den Schein einer selbstmächtigen Wahrheit. Die Wir-
kungsstrategien des platonischen Dialogs zielen darauf ab, den Leser in den Glauben
zu wiegen, daß die Erkenntnis der Wahrheit eine Transformation des Erkennenden
hervorzurufen vermag. Sie suggerieren, daß die Einsicht in das Wahre den entschei-
denden Faktor für die Umkehr des Individuums markiert und die Entstehung einer
tugendhaften Seelenhaltung zur Folge hat. Piaton verschleiert die wichtige Rolle,
die der Übung bei der Konstitution des ethischen Subjekts zukommt. Unter den
drei Elementen, die nach antikem Verständnis für die Ausbildung einer Fertigkeit
unabdingbar sind - der natürlichen Begabung {physis), dem Kunstwissen [episteme
oder techne) und der Übung (melete) —,10 weist er dem Element des Kunstwissens die
zentrale Bedeutung zu. Diese programmatisch postulierte Hierarchie der Bildungs-
faktoren widerspricht der dialektischen und schriftstellerischen Praxis Piatons, in der
die Übungselemente - wenn auch zum Teil verhüllt - eine wichtige Rolle spielen.
Somit leistet das durch die platonische Dialogform programmierte Rezeptionsverhal-
ten zwar der Verinnerlichung sittlichen Handelns Vorschub und weist auf die Selbst-
praktiken der späteren Antike voraus. Die an die Dialoglektüre gekoppelte Aktivität
mimetischer Vergegenwärtigung stellt jedoch keine Selbsttechnik im eigentlichen
Sinne dar: Erst in der hellenistischen Ethik gewinnt diese Aktivität das Profil einer
Verfahrensweise, die vom Individuum bewußt implementiert werden kann, um
zielgerichtet und kontrolliert auf die eigene Persönlichkeit einzuwirken.

10
ZurTrias der Bildungselemente vgl. Paul Shorey: Φύσις, Μελέτη, Επιστήμη. In: Transactions
and Proceedings of the American Philological Association 40 (1909). S. 185-201.
Der Freund als Spiegel 163

Die Entwicklung, die von den Täuschungs- und Verbergungsstrategien Piatons


zur Entstehung eines Apparats von Selbsttechniken in der hellenistischen Ethik
führt, ist durch die Aufwertung des Elements der melete gekennzeichnet. Sie geht
zum einen mit der Einsicht in die Schwäche theoretischen Wissens einher, das von
sich aus nicht dazu fähig ist, Moralsubjekte zu konstituieren und sittliches Verhalten
zu programmieren. Zum anderen impliziert sie einen Wandel in der Einstellung
gegenüber dem Medium Schrift, dessen Beteiligung am Prozeß der Subjektkonstitu-
tion schließlich nicht mehr verschleiert oder als notwendiges Übel toleriert, sondern
mit bewußtem Kalkül forciert wird. Die Verinnerlichung und Vergeistigung der
melete ist an die zunehmende Verschriftlichung der ethischen paideia gekoppelt.
Ehe diese Entwicklung im einzelnen nachgezeichnet wird, gilt es jedoch zunächst
einmal, das Konzept der Übung zu klären, das der aristotelischen Ethik zugrunde
liegt. Denn die Kritik, die Aristoteles an der sokratischen und platonischen Moral-
philosophie übt, gibt der angesprochenen Entwicklung zwar einen starken Impuls:
Aristoteles verschiebt die Gewichte innerhalb der Trias der antiken Bildungsfaktoren
nachhaltig zugunsten der Übung. Doch in seinem Bemühen, die melete als eine rein
praktische Form der Wissens- und Charakterbildung scharf von der dialektischen
Verfahrensweise Piatons abzugrenzen, gerät er zugleich in Widersprüche, die ihn
schließlich dazu nötigen, einen neuen, anderen Typus von Übung einzuführen, den
die hellenistische Philosophie dann später aufgreift und weiterentwickelt. Aristoteles
verstrickt sich nicht zuletzt deshalb in derartige Widersprüche, weil er die ethische
paideia so weit wie möglich von schriftlicher Unterweisung freizuhalten versucht.

2. Übung und die Aneignung sittlichen Wissens

Ethischer Diskurs und moralische Praxis

Die aristotelische Attacke auf die Prärogative der theoretischen Unterweisung richtet
sich nicht allein gegen das sokratische Tugend- und das platonische Ideenwissen.
Aristoteles nimmt seine eigene Sittenlehre nicht von der kritischen Relativierung
philosophischer Reflexion aus. Im Schlußkapitel der Nikomachischen Ethik wirft
er die Frage auf, wozu das Unterfangen einer theoretischen Behandlung der Moral
überhaupt nützlich sei:
Dürfen wir nun, nachdem diese D i n g e [...] im U m r i ß hinreichend dargestellt sind, unsere
Aufgabe als beendet ansehen? Ist es nicht bekanntlich so, daß beim menschlichen H a n d e l n
das Ziel nicht darin besteht, die einzelnen D i n g e zu betrachten und zu erkennen, sondern
vielmehr sie handelnd zu verwirklichen? U n d auch bei den ethischen Werten reicht es nicht
aus, von ihnen zu wissen [είδεναι], sondern man m u ß versuchen sie zu haben u n d in die Tat
umzusetzen [εχειν και χρήσθαι] oder a u f irgendeine Weise ein trefflicher Mensch zu werden.
Wenn nun dialektische Argumente [λόγοι] allein schon genügten, u m die Hörer zu rechtlichen
Menschen zu machen, so wäre ihnen [...] vielfacher u n d reicher L o h n gewiß u n d m a n sollte
sich diese (Argumente) beschaffen. Leider aber scheint das gesprochene Wort zwar die Kraft zu
haben, j u n g e Leute von freiem Wesen anzuregen und zu begeistern und einen edelgeborenen
164 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

und das Edle wahrhaft liebenden Charakter so weit zu fördern, daß er in der Trefflichkeit
befestigt werden könnte, dagegen die Vielen zu edler Wesensbildung anzuregen, dazu scheint
es nicht imstande zu sein. [...] Denn da sie dem Gefühl und der Leidenschaft leben, verfolgen
sie nur solche Lust, die ihrem Wesen zugeordnet ist und die Mittel dazu, während sie das
Gegenteil, die Unlust, meiden. [...] Welche Argumentation [λόγος] [...] aber könnte solche
Menschen umformen? Es ist ja nicht möglich, jedenfalls nicht leicht, das, was so lange mit
dem Wesenskern verhaftet war, durch das Wort zu wandeln.' 1

Aristoteles will die ethische Doktrin in ihre Schranken weisen. Die theoretische Ein-
sicht in das Gute, so erklärt er, vermag bei dem Individuum keine Änderung seines
Verhaltens hervorzurufen; dialektische Argumente sind zu schwach - weder können
sie es zur Umkehr, zur Aufgabe seiner verfehlten Uberzeugungen bewegen, noch sind
sie dazu fähig, eine neue Seelenhaltung zu begründen. Denn zu dem Zeitpunkt, da
die philosophische Unterweisung einsetzt, sind die falschen Wertvorstellungen durch
langen Gebrauch schon so tief in der Seele verwurzelt, daß es stärkerer Mittel als
vernünftiger Argumente bedarf, um eine Wirkung zu erzielen.
Aus seiner ernüchternden Einsicht in die Schwäche dialektischen Wissens
zieht Aristoteles nun aber nicht etwa den Schluß, daß der ethischen Doktrin mit
rhetorischen oder literarischen Mitteln eine größere Durchschlagskraft verliehen
werden müsse. Er faßt die Möglichkeit gar nicht ins Auge, dem philosophischen
Diskurs eine Form zu verleihen, die nicht nur den Intellekt, sondern auch die
Affekte anspricht und somit den dialektischen Argumenten einen Zugang zu
tieferen Seelenschichten eröffnet. 12 Ebensowenig verfällt er auf den Gedanken,
den Schüler der Philosophie zur meditativen Aneignung der Lehrinhalte aufzu-
fordern. Vielmehr trennt Aristoteles den Vorgang der Charakterbildung ganz von
der theoretischen Unterweisung ab. 13 Der philosophische Unterricht kann und
soll auch nicht die Aufgabe erfüllen, die Seele des Schülers zu formen und seine
Persönlichkeit von Grund auf umzuwandeln. 14 Das Hören ethischer Vorlesungen
ist demnach nur für diejenigen überhaupt von Nutzen, die - sei es aufgrund
ihrer natürlichen Veranlagung (weil sie »edelgeboren« sind), sei es aufgrund früh-
kindlicher Erziehung - bereits charakterlich vorgebildet sind und eine geeignete
Seelenhaltung besitzen:
Rede [λόγος] und Belehrung [διδαχή] aber haben wohl kaum bei allen entscheidenden Einfluß,
sondern die Seele des Hörers m u ß erst durch vorherige Gewöhnung [εθεσι] dazu bereitgemacht
werden, sich in Zuneigung und H a ß vom Edlen leiten zu lassen, bearbeitet wie ein Stück Land,

" Aristoteles: Nikomachische Ethik 1179a-l 179b. - Der griechische Text wird nach der folgen-
den Ausgabe zitiert: Aristotelis Opera. Hg. von Immanuel Bekker, neu hg. von Olof Gigon.
Bd. 2. Berlin 1960.
12
Vgl. M. C. Nussbaum: T h e Therapy of Desire. S. 70.
13
Vgl. ebd. S. 97f.
14
»Aristotle's own lectures, though practical, are [...] intended for an audience already trained
in good character. It is not simply that otherwise listeners will not be converted. It is that his
lectures are not designed as a therapy that can convert or catalyze substantial, adult character
change.« (Nancy Sherman: Making a Necessity of Virtue. Aristotle and Kant on Virtue.
Cambridge 1997. S. 81.).
Der Freund als Spiegel 165

das den Samen nähren soll. Denn wer dem Gefühl und der Leidenschaft lebt, hört nicht auf
das abratende Wort und wenn, so würde er es wiederum nicht verstehen. 15

Aristoteles glaubt also nicht daran, daß der Philosoph einen nachhaltigen Einfluß
auf die charakterliche Verfassung seiner Schüler ausüben kann. Der philosophische
Lehrer hat es mit Menschen zu tun, die in ihrem sittlichen Sein bereits weitgehend
festgelegt sind. Seine Aufgabe beschränkt sich folglich darauf, die charakterlichen
Voreinstellungen, Werte und Uberzeugungen aufzuklären und bewußt zu machen,
die sie bereits besitzen und von denen sie in ihrem Handeln angeleitet werden. 16
Dieser Einsicht in die begrenzte Wirkungsmacht philosophischen Unterrichts
korrespondiert die Form, die Aristoteles seinen ethischen Schriften verleiht. Er
unternimmt gar nicht erst den Versuch, die Uberzeugungskraft der Argumente
rhetorisch zu steigern oder die ethische Doktrin durch paränetische Elemente anzu-
reichern, sondern konzentriert sich ganz auf die sachliche Erörterung der relevanten
Gesichtspunkte sittlichen Verhaltens. Die Nikomachische Ethik gehört zu den soge-
nannten esoterischen, aus dem peripatetischen Schulbetrieb hervorgehenden Werken
des Aristoteles; es handelt sich um die Niederschrift einer Vorlesung.17 Die Rezep-
tionshaltung, die der Text anvisiert, ist diejenige des aufmerksamen Zuhörens. 18
Aristoteles spricht die Vernunft seiner Hörer an; sie sollen sich um ein intellektuelles
Verständnis des Vorgetragenen bemühen. 19 Im Vergleich zum Gesprächspartner im
sokratischen elenchos, der aktiv an der Hervorbringung der dialektischen Argumente
beteiligt ist und dessen Persönlichkeit einer grundlegenden Prüfung unterzogen
wird, oder zum Adepten der stoischen Philosophie, der den Lehrstoff durch intensive
Meditation verinnerlicht, verhält sich der Rezipient der aristotelischen Vorlesung
passiv: Er soll lediglich verstehen und einsehen, was ihm an Wissen vermittelt wird.
Er braucht es sich nicht zu applizieren, da er es — in Gestalt einer charakterlichen
Voreinstellung - bereits besitzt; ja, er kann es überhaupt nur verstehen, weil es ihm
in dieser Form schon zu eigen ist.
Doch wie kommt diese Voreinstellung zustande? Auf welchem Wege erwirbt das
Individuum die Werte und Überzeugungen, die sein Handeln bestimmen? Nach
aristotelischem Verständnis ist die seelische Grundhaltung ein Produkt der Übung.
Der Charakter (ήθος) entsteht durch Gewöhnung (εθος), durch die Einübung
spezifischer Verhaltensmuster. 20 Während Aristoteles das Erlernen der ethischen
Doktrin als eine rein intellektuelle Angelegenheit darstellt, die keinerlei praktische
Betätigung beinhaltet, konzipiert er die Charakterbildung als einen Vorgang, der von

15
Aristoteles: Nikomachische Ethik 1179b (Übersetzung modifiziert).
16
Vgl. ebd. 1094a.
17
Vgl. Otfried Höffe: Aristoteles. München 1996. S. 23f.
18
Aristoteles selbst thematisiert die Zuhörereinstellung und die Voraussetzungen, die der Zuhörer
erfüllen muß, um dem Vortrag folgen zu können: Nikomachische Ethik 1095a.
" Zur Assoziation von vernünftiger Belehrung und Hören vgl. Aristoteles: Politik. Übersetzt
und hg. von Olof Gigon. München 2 1972. 1332b, 1334b.
20
Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1103a.
166 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

theoretischer Reflexion und begrifflichem Wissen so weit wie möglich freizuhalten


ist. Denn zum einen konstituiert sich der sittliche Charakter zu einem Zeitpunkt, da
das Vernunftvermögen des Heranwachsenden noch nicht ausgereift, er für vernünfti-
ge Argumente mithin noch gar nicht empfänglich ist: Die Charakterbildung fällt in
den Aufgabenbereich der frühkindlichen und kindlichen Erziehung. 21 Zum anderen
soll dabei gerade der affektive, irrationale Seelenteil - das Begehren nämlich (orexis)
- der Formung unterzogen werden. Die Übung, die der Zögling zu absolvieren hat,
ist folglich in einem emphatischen Sinne als Praxis aufzufassen:

Die sittlichen Werte [άρετάς] [...] gewinnen wir erst, indem wir uns tätig bemühen. Bei Kunst
und Handwerk ist es genau so. Denn was man erst lernen muß, bevor man es ausführen kann,
das lernt man, indem man es ausführt: Baumeister wird man, indem man baut, und Kitha-
rakünstler, indem man das Instrument spielt. So werden wir auch gerecht, indem wir gerecht
handeln, besonnen, indem wir besonnen, und tapfer, indem wir tapfer handeln. 22

Aristoteles beharrt darauf, daß die Charaktertugenden nur aus dem Vollzug der
entsprechenden moralischen Handlungen hervorgehen können. Um einen sittlichen
Charakter zu erwerben, muß sich das Individuum in realen Handlungssituationen
bewähren. Je nachdem, wie diese Handlungen beschaffen sind, gestaltet sich der
Charakter, denn dieser entsteht durch die wiederholte Ausübung gleichartiger Tätig-
keiten und Verhaltensweisen; er stellt eine Art Handlungsdisposition dar. Es kommt
bei der Charakterbildung somit in ganz entscheidendem Maße auf die Form an, die
das Individuum seinen Einzelhandlungen verleiht. 23 Das Subjekt formt seine Seele,
indem es seine Handlungen formt.
Folglich scheint die ethischepaideia — entgegen der von Aristoteles vorgetragenen
Ansicht — eben doch nicht ganz ohne theoretische Anleitung auskommen zu können.
Denn wie soll das Individuum seinem Handeln die richtige Form geben, wenn es
nicht weiß, worin das Richtige besteht? Tatsächlich betont Aristoteles die unabding-
bare Notwendigkeit, dem Individuum in der Phase seiner Charakterbildung durch
»eine bestimmte Führung« beizustehen. 24 Diese Führung manifestiert sich allerdings
nicht in Gestalt von moralischen Lehren und Erklärungen. Da das Streben nach Lust
den primären Handlungsantrieb des Heranwachsenden bildet, kann der Erzieher
das Verhalten seines Zöglings vielmehr allein durch die Manipulation von Lust-
und Unlustgefühlen beeinflussen. 25 Der Pädagoge steuert das Handeln nicht durch
theoretische Anweisungen, sondern durch Strafe und Belohnung. Die Charakter-
bildung markiert in ihrem Kern eine Konditionierung des Begehrens. Der Vorgang
der Gewöhnung umfaßt nämlich zweierlei - die Einübung in ein Verhaltensmuster
und die Modellierung der Affekte, die an den Vollzug der entsprechenden Hand-

21 Ebd. 1103b, 1104b.


22 Ebd. 1103a-b.
23 Ebd. 1103b.
24 Ebd. 1104b.
25 Ebd. - Vgl. auch 1172a, 1180a.
Der Freund als Spiegel 167

lung gekoppelt sind. Eine Tätigkeit, deren Ausübung anfangs große Anstrengungen
erfordert und mit schmerzhaften Gefühlen verbunden ist, geht mit der Zeit u n d bei
fortgesetzter Ü b u n g immer leichter von der Hand; sie wird zur Routine. Dadurch
verliert sie den Charakter des Unlustvollen und wird schließlich gar als angenehm
erfahren. 2 6 Doch das Individuum kann nur durch Zwang dazu gebracht werden,
den Anfangswiderstand seines Begehrens zu brechen und die M ü h e n der Ü b u n g auf
sich zu nehmen. Allein die Androhung noch größerer Unlust kann es dazu bewegen,
die zunächst als unangenehm empfundene H a n d l u n g wiederholt auszufuhren. Der
Erzieher m u ß also über eine Autorität verfügen, die es ihm erlaubt, den Zögling zur
Ausübung bestimmter Handlungen zu zwingen und auf diese Weise sein Begehren
auf die richtigen Handlungsziele auszurichten: »Irrationaler Trieb weicht nicht d e m
Wort, sondern nur der Gewalt.« 2 7
Es erscheint Aristoteles jedoch problematisch, eine Einzelperson mit einer sol-
chen Autorität auszustatten. Denn einerseits steht derjenige, d e m die unbedingte
Autorität über einen anderen eingeräumt wird, in der Gefahr, seine Machtposition
zu mißbrauchen, den Untergebenen nicht zu dessen Besten, sondern zu Nutz und
Frommen des Herrschenden anzuleiten und somit selbst eben j e n e m Trieb nach
falscher Lust zu erliegen, der auf Seiten des Zöglings bekämpft werden soll. Dieses
Argument führt Aristoteles gegen die Staatsform der Monarchie ins Feld, in welcher
der König an keine gesetzliche O r d n u n g gebunden ist, sondern selbst das Gesetz
verkörpert. 28 Andererseits schätzt Aristoteles die Autorität, die eine Einzelperson
besitzen kann, als unzureichend ein. Das Gebot eines einzelnen »hat nicht jenes
Kraftvolle u n d Zwingende«, dessen es bedarf, u m die Triebstruktur des Kindes u m -
zuformen. 2 ' Aus diesen Gründen tritt Aristoteles dafür ein, die Charakterbildung
und die moralische Erziehung gesetzlich zu regeln. Denn das Gesetz instituiert eine
zweckgerichtete, auf Vernunftprinzipien beruhende Lebensordnung und beugt somit
der Willkür vor, die das Handeln eines einzelnen beeinträchtigen kann. 3 0 Das Gesetz
besitzt zugleich eine unangefochtene Autorität — es konstituiert eine »Ordnung, die
sich durchzusetzen die Kraft hat«. 31 Im Idealfall ist die Charakterbildung somit die
Einübung in ein Verhalten, dem durch die gesetzliche Ordnung eine normative Kraft
verliehen wird. W o die staatliche Gesetzgebung sich in dieser Hinsicht als mangelhaft
erweist, soll der Heranwachsende den Gewohnheiten seiner Familie unterworfen

26 Ebd. 1104a-1104b.
27 Ebd. 1179b.
28 Aristoteles: Politik 1287a-1287b. - Vgl. auch Nikomachische Ethik 1134a— 1134b: »Darum
vertrauen wir die oberste Gewalt nicht einem Menschen an, sondern dem geschriebenen
Gesetz, denn der Mensch würde seinem Eigennutz zuliebe in der bezeichneten Weise handeln
und zum Tyrann werden.«
25 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1180a.
30 Ebd.
31 Ebd.
168 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

werden, die durch die väterliche Autorität sanktioniert sind. 32 Als nachahmenswertes
Beispiel führt Aristoteles bezeichnenderweise die Gesetzgebung des Militärstaats
Sparta an, die - in dieser Hinsicht einzigartig unter allen griechischen Verfassungen
— die Verhältnisse zwischen den Rechtssubjekten nicht bloß prohibitiv reguliert, son-
dern darüber hinaus die Betätigung der Individuen positiv zu bestimmen sucht, und
zwar von frühester Jugend an. 33 Auf diese Weise, so argumentiert Aristoteles, trägt
sie dafür Sorge, daß der einzelne die als maßgeblich anerkannten Werte verinnerlicht
und zur herrschenden Triebkraft seines Handelns macht.
Das sittliche Wissen, das sich das Individuum durch die ethische paideia
erwirbt, ist also keineswegs in einem herrschaftsfreien Raum anzusiedeln. Der
philosophische Unterricht in ethischer Theorie kommt zwar ohne koerzitive
Strategien aus: Die dialektischen Argumente sind nach aristotelischer Auffassung
der rhetorischen Amplifikation nicht bedürftig und können ganz auf ihren intel-
lektuellen Gehalt reduziert werden; der ethische Diskurs, der im peripatetischen
Schulbetrieb gepflegt wird, ist - wie Martha C. Nussbaum darlegt - als »gentle,
complicated, reciprocal, and quite unlike force« anzusehen. 34 Der Schüler der Phi-
losophie kann sich allerdings an diesem Diskurs nur deshalb überhaupt beteiligen,
weil er aufgrund seiner Charakterbildung über die sittliche Einsicht bereits verfügt,
die den Gegenstand der dialektischen Unterweisung bildet. Doch um diese Haltung
erzeugen und den Charakter bilden zu können, muß das sittliche Wissen eine Form
annehmen, die alles andere als sanft und nachgiebig ist. Nur in der autoritären,
unbeugsamen Gestalt des Gesetzes oder der väterlichen Anordnung hat es die Kraft,
das Individuum zur Ausprägung tugendhafter Gewohnheiten anzuhalten. Auch
die aristotelische Ethik kommt also letztlich nicht umhin, dem sittlichen Wissen
durch externe Macht- und Wirkungsmittel zu seiner Durchsetzung zu verhelfen.
Die Autorität des Gesetzes und die väterliche Gewalt treten an die Stelle der Wir-
kungsstrategien, mit denen der dialektische Gesprächsführer und der Psychagoge
operieren; Belohnung und Strafe ersetzen die rhetorischen Techniken der Überre-
dung und der Überzeugung.

Gesetz u n d G e w ö h n u n g

Dieser gewaltsame Aspekt der ethischen paideia verdient deshalb hervorgehoben zu


werden, weil die peripatetische Moralphilosophie üblicherweise zu einem Gegenpol

32 Ebd. 1180b. - Vgl. auch ebd.: Da die Menschen durch Gesetze tugendhaft werden, soll
sich der Vater, der sich um die Erziehung seiner Kinder kümmern will, die Fähigkeiten des
Gesetzgebers aneignen.
33 Ebd. 1180a. Vgl. auch Aristoteles: Politik 1337a. - Aristoteles schätzt an der spartanischen
Verfassung die Tatsache, daß sie auf ein großes Ziel hin ausgerichtet, also teleologisch struktu-
riert ist. Dem spezifischen Inhalt dieses Ziels (der Idealisierung von Krieg und Gewalt) steht
er kritisch gegenüber. Vgl. Aristoteles: Politik 1324b.
34 M. C. Nussbaum: The Therapy of Desire. S. 71.
Der Freund als Spiegel 169

der strengen Gesetzesethik stilisiert wird.35 Als Hauptmerkmal des sittlichen Wissens
aristotelischer Prägung gilt seine Unbestimmtheit. Das ethische Wissen vermag dem
Handelnden demnach nur eine ungefähre moralische Orientierung zu geben; es be-
sitzt nicht die Vorgängigkeit eines abgeschlossenen Regelwerks oder die begriffliche
Klarheit einer systematischen Doktrin, sondern hat lediglich den Geltungsanspruch
von Schemata, die sich immer erst in der besonderen Situation des Handelnden kon-
kretisieren.36 Im Gegensatz zur >harten< Theorie der platonischen Ideenlehre oder zur
durch göttliche Autorität legitimierten Bestimmtheit der jüdischen Thora steht die
aristotelische phronesis in dem Ruf, ein >weiches<, schwaches, nicht-repressives Wissen
zu sein, das dem Handelnden einen gewissen Spielraum einräumt, so daß er flexibel
auf die Besonderheiten der jeweiligen Situation reagieren und seine ethische Praxis
in eigener Verantwortung, ja in gewissem Sinne sogar kreativ gestalten kann. 37 Dabei
wird jedoch zumeist darüber hinweggesehen, daß dieses vorgeblich so sanfte Wissen
dem Individuum unter erheblichem Aufwand an Zwang und Gewalt erst andressiert
werden muß, ehe es davon in der angegebenen Weise Gebrauch machen kann. 38 Der

35 Vgl. etwa die apodiktische Aussage von Nancy Sherman: »Aristotelian virtue ethics is simply
not a legalistic ethics requiring the interpretation of law and tradition, in the way Judaic ethics
is.« (N. Sherman: Making a Necessity of Virtue. S. 275f.).
36 Diese Eigenschaft des sittlichen Wissens veranlaßt Hans-Georg Gadamer dazu, die aristotelische
phronesis zum Paradigma des hermeneutischen Bewußtseins zu erheben. In ihr sieht er jene
Einheit von Verstehen und Applikation realisiert, die das Grundprinzip wirkungsgeschichtli-
cher Überlieferungsdynamik bildet. Vgl. Wahrheit und Methode. S. 317—329; s. dazu auch
die Einleitung zu dieser Untersuchung.
37 Der Gegensatz zwischen dem unbestimmten Habitus-Wissen und dem klar definierten Ge-
setzes-Wissen wird häufig als Gegensatz zwischen einer die schöpferische Selbsttätigkeit des
Individuums ermöglichenden und einer solche Freiräume rigoros beschränkenden Wissensform
gedeutet. Wer mit derartigen Gegensätzen operiert, übersieht jedoch das große kreative Potential,
das in der Auslegung und Anwendung fixer Gesetze aktualisiert werden kann. M a n denke nur
an den stupenden Erfindungsreichtum und die zum Teil subversive Innovationskraft, die in den
jüdischen Midrasch-Kommentaren zum Ausdruck gelangt. Vgl. dazu Midrash and Literature.
Edited by Geoffrey Hartman and Sanford Budick. New Haven 1986.
38 Das aristotelische Tugendwissen, so behauptet etwa Hans-Georg Gadamer, läßt sich nicht
erlernen: »Man steht ihm nicht in der Weise gegenüber, daß man es sich aneignen kann oder
auch nicht«; das Moralsubjekt »ist vielmehr immer schon in der Situation dessen, der handeln
soll [...], muß also immer schon das sittliche Wissen besitzen und anwenden.« (Wahrheit und
Methode. S. 322) Die Formulierung »immer schon«, die in dieser Aussage wiederholt auftaucht,
ist verräterisch. Gadamer kann das sittliche Wissen nur deshalb als paradigmatisch für die
Einheit von Verstehen und Applikation ansehen, weil er davon ausgeht, daß die Aneignung
dieses Wissens »immer schon« stattgefunden hat. Darin besteht ja die Pointe - man könnte auch
sagen: die Schwäche - des von Gadamer vorgetragenen wirkungsgeschichtlichen Konzepts: Es
setzt dasjenige, was die Applikation eigentlich leisten soll, nämlich die Vermittlung zwischen
dem Deutungsobjekt und dem Interpreten, in Form einer selbstmächtigen Überlieferung
voraus, der das Individuum »immer schon« zugehört. Gadamer blendet den schmerzhaften,
gewaltsamen Vorgang der Kulturisation schlichtweg aus, durch den der einzelne in diesen
Überlieferungszusammenhang eingeführt wird. Aristoteles hingegen macht ihn kenntlich:
Das Individuum ist eben nicht »je schon« im Besitz des sittlichen Wissens, sondern muß es
sich durch Ü b u n g und Gewöhnung erwerben. Dabei untersteht es einer »Führung«, die sich
der Mittel des Zwangs und der Züchtigung bedient.
170 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Gegensatz, der zwischen der flexiblen Wissenshaltung der aristotelischen phronesis und
dem rigiden Moralgesetz jüdischer, aber auch christlich-platonischer Provenienz ange-
nommen wird, stellt daher eine unzulässige Vereinfachung der Gegebenheiten dar.
Bezeichnenderweise macht sich auch Michel Foucault diesen Gegensatz in seinen
Studien zur antiken Selbsttechnologie zu eigen. Er geht von der problematischen
Unterscheidung zwischen stark und schwach kodifizierten Moralsystemen aus:
Erstere, so behauptet er, legen das Hauptgewicht auf die Autoritätsinstanzen und die
Strafsanktionen; die Konstitution des Moralsubjekts vollzieht sich hier vor allem in
juridischer Form - als Unterwerfung des Individuums unter das Gesetz.39 Letztere
— und für sie steht ganz offenkundig die aristotelische Ethik Modell —40 weisen der
Ausarbeitung eines Selbstverhältnisses und den Selbstpraktiken einen sehr viel höheren
Stellenwert zu als dem moralischen Code. Das Subjekt konstituiert sich demzufolge
nicht durch die Unterwerfung unter ein Gesetz, sondern dadurch, daß es verändernd
auf sich selbst einwirkt, moralische Verhaltensweisen einübt und sein Begehren
unter Kontrolle bringt.41 Besteht im einen Falle das Ziel darin, dem Moralgesetz zur
Herrschaft über das Subjekt zu verhelfen, so soll im anderen Falle das Subjekt die
Herrschaft über sich selbst erlangen. Laut Foucault gehören Übung und Gewöhnung
im Moralsystem der klassischen Antike zu den Instrumenten, von denen der freie
Mann Gebrauch machen kann, um seiner Lebensführung die gewünschte Form zu
geben. Sie sind Ausdruck einer Macht, die das Individuum besitzt und über sich
selbst ausübt, nicht aber einer fremden Gewalt, der es sich unterstellt.
Foucault verfehlt somit die Funktion, die den Praktiken der Übung und der Ge-
wöhnung in der aristotelischen Ethik zukommt. Nicht die Seele des freien Mannes,
sondern diejenige des Heranwachsenden soll laut Aristoteles durch Gewöhnung
geformt werden, und diese Übung ist kein Instrument der individuellen Selbstherr-
schaft, sondern sie dient dazu, dem Subjekt die in der Gesellschaft herrschenden
Wertvorstellungen einzupflanzen. Daher verlangt Aristoteles, daß die Charakter-
bildung unter der Aufsicht und der Führung einer berufenen, nach Möglichkeit
gesetzlichen Autorität zu erfolgen habe. Übung und Gewohnheit sind keine reinen
Selbsttechniken, sondern soziale und pädagogische Herrschaftsinstrumente. Die
Transformation des Selbst liegt nicht allein in der Hand des einzelnen; sie ist eine
Angelegenheit der Politik und der Gesetzgebung.42 Aristoteles konzipiert die Ethik
als einen Teil der Staatskunst. Seiner Auffassung nach ist es die Aufgabe des Politikers
und des Gesetzgebers, die Bürger tugendhaft und glücklich zu machen, indem er

" M. Foucault: L'usage des plaisirs. S. 36f.


40 Foucault orientiert sich in L'usage des plaisirs, wie einige der von ihm verwendeten Schlüssel-
begriffe indizieren (telos, chresis, Übung), sehr viel stärker an der aristotelischen als an der pla-
tonischen Ethik. Zur Kritik an Foucaults Aristoteles-Verständnis vgl. Wolfgang Detel: Macht,
Moral, Wissen. Foucault und die klassische Antike. Frankfurt a. M. 1998. S. 76-119.
41 M. Foucault: L'usage des plaisirs. S. 37.
42 Vgl. M. C. Nussbaum: The Therapy of Desire. S. 56.
Der Freund als Spiegel 171

nämlich die geeigneten Rahmenbedingungen dafür schafft, daß eine frühzeitige und
intensive G e w ö h n u n g an tugendhaftes Handeln stattfinden kann. 4 3
Stellt man das sittliche Wissen in den Kontext der sozialen Institutionen, die laut
Aristoteles für seine Weitergabe zuständig sind, so wird deutlich, daß es keineswegs
einen weniger repressiven C h a r a k t e r besitzt als die moralische D o k t r i n , die i m
R a h m e n einer streng kodifizierten Ethik vermittelt wird. Gleichwohl läßt sich nicht
verleugnen, daß zwischen der aristotelischen Tugendethik und der Gesetzesethik
markante Unterschiede bestehen - Unterschiede, die insbesondere die F o r m des
sittlichen Wissens sowie die Art und Weise seines Erwerbs betreffen. N a c h aristote-
lischer Auffassung soll das Gesetz zwar die moralischen Werte autorisieren und den
Prozeß ihrer Vermittlung regeln. Das bedeutet aber nicht, daß der Heranwachsende
dazu verpflichtet wird, sich das Gesetz unmittelbar zu eigen zu m a c h e n . D i e Sozi-
alisation mittels Ü b u n g und G e w ö h n u n g ist keine »rote m e m o r y o f rules«. 4 4 Das
Individuum verinnerlicht die im Gesetz kodifizierten W e r t e nicht dadurch, daß es
die maßgeblichen Verhaltensregeln seinem Gedächtnis einschreibt, sondern dadurch,
daß es gesetzmäßiges Verhalten in Situationen praktischer Bewährung einübt. N a c h
aristotelischer Ansicht soll der Heranwachsende die gesetzlichen Vorschriften nicht
unabhängig von ihrer praktischen Anwendung erlernen. D i e ethische Erziehung im
frührabbinischen J u d e n t u m verfährt da ganz anders: Zunächst wird dafür Sorge ge-
tragen, daß sich der Heranwachsende den Gesetzestext der T h o r a in seiner ursprüng-
lichen, von k o m m e n t i e r e n d e n u n d deutenden Zusätzen unverfälschten R e i n h e i t
aneignet. Erst in einer zweiten Ausbildungsphase erwirbt der Zögling die Fähigkeit,
die T h o r a zu interpretieren und sein moralisches Wissen in gesetzmäßiges Handeln
umzusetzen. D i e Markierung der Differenz zwischen der ethischen D o k t r i n und
ihrer Applikation stellt, wie der Religionshistoriker Birger Gerhardsson erläutert, ein
Grundprinzip des rabbinischen Moralsystems dar: »This distinction was so basic that
the organized school system was itself based upon it — the elementary school had,
as its primary objective, to teach the children the text o f the written T o rah, while
interpretation o f the text belonged to the more advanced school.« 4 5 Das Gesetz wird
von seiner Anwendung, der Text von seiner D e u t u n g sorgfältig abgehoben. 4 6

43 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1094a-1094b, 1102a.


44 N. Sherman: The Fabric of Character. S. 153.
45 Birger Gerhardsson: Memory and Manuscript: Oral Tradition and Written Transmission
in Rabbinic Judaism and Early Christianity. Uppsala 1961. S. 79. — Die Unterscheidung
zwischen Gesetzestext und Applikation bedingte nicht nur die Struktur des rabbinischen
Erziehungswesens; sie prägte das religiöse und gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit.
So wurde im Gottesdienst die in hebräischer Sprache erfolgende Schriftlesung (mikra) als
eigenständiger Ritus scharf von der erklärenden Übersetzung ins Aramäische (targum) und der
Predigt abgegrenzt, damit die Gemeinde den Gesetzestext nicht mit der Auslegung verwirrte
(vgl. ebd. S. 67—70). Als Speichermedium für die mündliche Thora fungierten sogenannte
tannaim, lebende Bücher, die den Text verbatim zu memorieren hatten, um ihn bei Bedarf den
Rabbis, den professionellen Exegeten, zur Verfügung stellen zu können (vgl. ebd. S. 98f.).
46 Es ist eben diese systematisch betriebene Differenzierung zwischen Text und Applikation, die
Gadamer - bezeichnenderweise unter Rekurs auf die aristotelische Ethik - in Wahrheit und
172 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Die aristotelische Ethik hingegen setzt alles daran, den Abstand zwischen dem
Sittengesetz und seiner praktischen Anwendung zu minimieren, ohne diesen jedoch
je ganz aufheben zu können. Demnach erlangt der Heranwachsende das sittliche
Wissen, indem er davon praktischen Gebrauch macht. Er wird in der ethischen
paideia nicht mit abstrakten Regeln, sondern mit der exemplarischen Umsetzung
regelkonformer Praxis konfrontiert, mit Handlungs- und Verhaltensmustern. Das
Hauptgewicht der ethischen Unterweisung liegt auf den inkorporierten Formen
sittlichens Wissens, »on the actualized achievements of virtue - on moral choice as
it is realized in actual action and an embodied standard of practical reason captured
by the example of the practically wise person«.47 Dieses in verkörpertem Zustand
vermittelte Wissen wird vom Zögling seinerseits inkorporiert, denn anstatt es durch
intellektuelle Reflexionsarbeit verstehend nachzuvollziehen, erwirbt er es durch
handelnde Nachahmung, durch Übung und Gewöhnung. Das Moralsubjekt besitzt
das sittliche Wissen schließlich nicht in Form von Regeln und Begriffen, sondern
in Gestalt einer Disposition zu richtigem Handeln, einer Ausrichtung seines Begeh-
rens auf die allgemein als werthaft anerkannten Handlungsziele: »To have practical
wisdom is to have virtue internalized in a non-codified way.«48 Das sittliche Wissen,
das auf diese Weise in den irrationalen Antrieben des Individuums verankert ist,
befindet sich je schon auf halbem Wege zur Umsetzung in konkretes Handeln; es
ist auf Applikation hin angelegt. Während derjenige, der sich an einem abstrakten
moralischen Code orientiert, immer erst einen gesonderten Reflexionsschritt vollzie-
hen muß, um die Spezifika des Einzelfalls mit der allgemeinen Norm zu vermitteln,
ist der Übergang vom Wissen zum Handeln beim aristotelischen Moralsubjekt ein
gleitender: Die ethischen Prinzipien sind unmittelbar mit seinem Willen eins; da
seine Auffassungsgabe durch intensive praktische Übung geschult ist, vermag es die
Erfordernisse der besonderen Situation im Nu richtig einzuschätzen.49

Methode zu bekämpfen sucht. Sein Konzept einer wirkungsgeschichtlichen Dynamisierung des


Verstehensprozesses richtet sich nicht bloß gegen das neuzeitliche Methodenideal der exakten
Wissenschaften, sondern mehr noch gegen die hermeneutischen Prinzipien der jüdischen Tho-
ra- Exegese. Man muß Gadamer den Vorwurf machen, daß er diesen Aspekt seines philosophi-
schen Ansatzes nicht offen thematisiert. Das Schweigen, mit dem er in Wahrheit und Methode
den jüdischen Beitrag zur Geschichte der Hermeneutik übergeht, ist auf genauso unheimliche
Weise beredt, wie seine Weigerung, auf die Folgen der Shoah für das wirkungsgeschichtliche
Bewußtsein zu reflektieren. Zu dieser Weigerung vgl. die Anmerkungen von George Steiner:
But is that enough? Hans-Georg Gadamer and the »summons to astonishment«. In: The
Times Literary Supplement. No. 5102 (January 12, 2001). S. 11—12.
47 N. Sherman: Making a Necessity of Virtue. S. 239.
48 Ebd. S. 275.
49 Bezeichnenderweise vergleicht Aristoteles die sittliche Einsicht mit dem sinnlichen Wahrneh-
mungsvermögen und mit dem Vermögen der Intuition (vgl. Nikomachische Ethik 1142a).
Martha C. Nussbaum kommentiert diesen Vergleich folgendermaßen: »Practical insight is like
perceiving in the sense that it is non-inferential, non-deductive; it is, centrally, the ability to
recognize, acknowledge, respond to, pick out certain salient features of a complex situation.«
(The Fragility of Goodness. S. 305.).
Der Freund als Spiegel 173

3. Das glückliche Leben - ergon oder energeidi

Die Problematik der moralischen Wertschätzung


Die ethische paideia, die auf Übung und Gewöhnung basiert, will die moralischen
Wertvorstellungen im irrationalen Seelenteil des Heranwachsenden verwurzeln. Sie zielt
darauf ab, das sittliche Wissen zu dynamisieren: Es soll in eine seelische Triebkraft ver-
wandelt werden, die auch unterhalb der Bewußtseinsschwelle des Handelnden wirksam
ist. Übung und Gewöhnung markieren somit eine besonders intensive Form der Verin-
nerlichung und der Aneignung, man könnte auch sagen: eine besonders effektive Form
der Subjektivierung, eine besonders nachhaltige Form der Unterwerfung unter die herr-
schenden Moralvorstellungen, die das Handeln eben nicht bloß von außen dirigieren,
sondern es von innen heraus steuern. Die Effektivität der Gewöhnung als Instrument
der Subjektivierung bedroht aber zugleich den moralischen Wert der Praxis, die auf diese
Weise programmiert wird. Die Form, die das sittliche Wissen in der Seele annimmt,
und der Modus seines Erwerbs stehen im Widerspruch zu dem gleichzeitig erhobenen
Anspruch, auf diesem Wege Moralsubjekte, das heißt: verantwortlich handelnde Indivi-
duen heranbilden zu können. Übung und Gewöhnung bewirken eine Automatisierung
des Handelns; das Subjekt agiert in gewisser Weise intuitiv, angetrieben von Ziel- und
Wertvorstellungen, die sich seiner bewußten Wahrnehmung weitgehend entziehen.
Wie aber läßt sich ein solches Handeln mit der Freiheit der Entscheidung (prohaire-
sis) vereinbaren, in der die Moralität menschlichen Verhaltens nach aristotelischem
Verständnis gründet?50 Besitzt ein Individuum, dem von Kindheit an spezifische Ver-
haltensmuster antrainiert wurden, in Bezug auf sein Handeln überhaupt eine Freiheit
der Wahl? Was unterscheidet ein solches Verhalten noch von der praktischen Routine
des Handwerkers und der technischen Fertigkeit des Künstlers, die ihre Fähigkeiten ja
gleichfalls der Übung und der Gewöhnung zu verdanken haben?
Diese Fragen stellen sich mit um so größerer Dringlichkeit, als Aristoteles immer
wieder darauf insistiert, daß zwischen praxis und poiesis, zwischen moralischem Han-
deln und technischer Hervorbringung, eine grundlegende Differenz besteht. Das
Ziel der produzierenden Tätigkeit, so argumentiert er, liegt nicht in dieser Tätigkeit
selbst, sondern in einem unabhängig davon existierenden Produkt, einem Werk
(ergon). Das moralische Handeln hingegen ist ein Selbstzweck; es wird um seiner
selbst, nicht um anderer Dinge willen vollzogen.51 Sittliches Handeln ist ein Wert

50
Zur Freiwilligkeit und Bewußtheit der Entscheidung (prohairests) als Voraussetzung für den
sittlichen Wert des Handelns vgl. Nikomachische Ethik III. 1—3 ( 1 1 0 9 b - 1 1 I I b ) . - Vgl. M .
Hauskeller: Geschichte der Ethik. Bd. 1. S. 106: »Lobenswert wird eine H a n d l u n g erst dann,
wenn sie auf einer Entscheidung im Sinne einer bewußten Wahl [...] beruht.« Z u r Problema-
tik der Entscheidung in der aristotelischen Ethik siehe auch Christof Rapp: Freiwilligkeit,
Entscheidung und Verantwortlichkeit (III 1—7). In: Aristoteles: Die Nikomachische Ethik.
Hg. von Otfried Höffe. Berlin 1995. S. 109-134.
51
Aristoteles: Nikomachische Ethik 1140b.
174 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

an sich. Um eine Unterscheidung aufzugreifen, die in der Metaphysik getroffen wird:


Die hervorbringende Aktivität ist eine Bewegung {kinesis), die zu anderem hinführt,
während das sittliche Handeln ein in sich selbst vollendetes Tun (energeia), mithin
ein Tätigsein im eigentlichen Sinne darstellt.52 Wer die Fähigkeiten eines herstellen-
den Künstlers beurteilen will, muß folglich auf das fertige Produkt schauen — der
Produzent hat dann seine Aufgabe erfüllt, »wenn das Werk [...] in charakteristischer
Beschaffenheit schließlich da ist.«53 Im Falle des sittlich Handelnden dagegen spielt
das >Werk< - der äußere Handlungserfolg, die Wirkung, die das moralische Tun in
der Außenwelt hervorruft - keine maßgebliche Rolle. Das Handeln eines Soldaten
etwa kann auch dann noch als tapfer gelten, wenn er im Kampf unterliegt. Die sitt-
liche Qualität seines Tuns wird nicht durch den äußeren Erfolg, sondern durch seine
innere Einstellung bestimmt. Laut Aristoteles muß eine Handlung drei Kriterien
erfüllen, damit sie als moralisch wertvoll von anderen Formen des Handelns, etwa
der produzierenden Tätigkeit oder dem eigennützigen Tun, abgegrenzt werden kann:
Der Handelnde muß »erstens wissentlich, zweitens auf Grund einer klaren Willens-
entscheidung handeln, einer Entscheidung, die um der Sache selbst willen gefällt ist,
und drittens muß er mit fester und unerschütterlicher Sicherheit handeln.«54
Die Ambivalenz, die den Status moralischen Handelns in der aristotelischen
Ethik kennzeichnet, wird mit Hilfe dieses Kriterien-Katalogs jedoch nicht aus der
Welt geschafft. Im Gegenteil, sie tritt nur noch deutlicher in Erscheinung. Denn die
beiden Kriterien der Entscheidung und der Sicherheit stehen zu einander in einem
Spannungsverhältnis. Wer eine Entscheidung fällt, wählt zwischen alternativen
Möglichkeiten; der Kurs seines Handeln steht also nicht von vorneherein fest. Wer
hingegen mit »unerschütterlicher Sicherheit« handelt, ist in seiner Entscheidung
nicht mehr ganz frei; er trifft keine Wahl, sondern folgt einem im Vorhinein bereits
festgelegten Kurs.55 Es ist schwer vorstellbar, wie ein und dasselbe Individuum zu-

52 Aristoteles: Metaphysik. Übersetzt von Hermann Bonitz. Auf der Grundlage der Bearbeitung
von Hector Carvallo und Ernesto Grassi neu hg. von Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg
2 1999. 1048b.

53 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1105a.


54 Ebd. 1105a.
55 Daß sich freie Entscheidung und Sicherheit des Handelns nicht miteinander vereinbaren lassen,
kann man anhand des Unterschieds zwischen Beherrschtheit (enkmteia) und Besonnenheit
(sophrosyne) demonstrieren, auf den Aristoteles großen Wert legt. Der Beherrschte verfüge
zwar über die richtige sittliche Einsicht, das tugendhafte Verhalten hat sich bei ihm aber
aufgrund fehlender praktischer Übung nicht zu einer festen charakterlichen Grundhaltung
ausgeprägt. Er muß sich in Situationen moralischer Anfechtung folglich immer wieder aufs
neue für das Gute entscheiden; er muß seine Begierden immer wieder aufs neue bezwingen.
Der Beherrschte ist nicht schlecht, er ist aber auch nicht im eigentlichen Sinne tugendhaft.
Im Kontrast zum Beherrschten handelt der Besonnene mit großer Sicherheit. Er hat seine
Begierden in der Gewalt, aber diese Selbstkontrolle entspringt nicht einer immer wieder neu
gefällten Entscheidung, sondern sie gründet in einer stabilen Handlungsdisposition; sie ist
eine feste Gewohnheit. Der Besonnene muß sich nicht mehr entscheiden. Zur aristotelischen
Differenzierung zwischen Besonnenheit und Beherrschtheit vgl. W. Detel: Macht, Moral,
Wissen. S. 8 1 - 8 3 ; M. Hauskeller: Geschichte der Ethik. Bd. 1. S. 108f.
Der Freund als Spiegel 175

gleich mit gewohnheitsmäßiger Sicherheit und aufgrund einer aktuell getroffenen


Entscheidung handeln soll.
Eine genauere Analyse des Handlungsmodells, das Aristoteles im dritten und
sechsten Buch der Nikomachischen Ethik entwickelt, bringt denn auch zum Vor-
schein, daß das Spannungsverhältnis zwischen rationaler Entscheidung und irratio-
naler Gewohnheit einseitig zugunsten der letzteren aufgelöst wird. Zwar hält er daran
fest, daß jede sittliche Handlung aus einer Entscheidung hervorgehen müsse. Diese
stellt jedoch keinen freien und bewußten Akt der Wahl dar. Die Entscheidung, die
das handelnde Moralsubjekt fällt, ist vielmehr durch eine ganze Reihe von Faktoren
determiniert. Zunächst einmal zeigt es sich, daß die Entscheidung nicht wirklich
mit einer Wahl verbunden ist. Den Gegenstand der Entscheidung bildet nämlich
dasjenige, »worüber auf Grund der Überlegung eine Vorwahl stattgefunden hat«. 56
Die eigentliche Wahl liegt somit der Entscheidung voraus; die Entscheidung hat
bloß zu vollstrecken, was durch die Überlegung bereits vorentschieden ist. Nun
könnte man argumentieren, daß dies nur eine unmaßgebliche Verschiebung der
Gewichte darstellt; daß Aristoteles, indem er den Akt der Wahl an die Überlegung
delegiert, lediglich den Vernunftcharakter der Entscheidung akzentuieren möchte.
Tatsächlich aber erweist sich der Entscheidungsspielraum, der dem Reflexions-
vermögen gewährt wird, als äußerst begrenzt. Denn die Überlegung, die der
Entscheidung die Richtung weist, befindet nicht über Handlungsziele, sondern
lediglich über die Mittel und Wege, um diese Ziele zu verwirklichen: »[D]as Ziel
wird aufgestellt, und dann setzt das Überlegen ein, wie und auf welchen Wegen
es erreicht werden kann.« 57
Über die Ziele des Handelns ist also schon entschieden worden, noch ehe das
rationale Reflexionsvermögen in Aktion tritt. Die Wahl der Ziele - die Beantwor-
tung der Frage, welche höheren Zwecke das Individuum mit seinem Tun verfolgen,
nach welchem Plan es seine Lebensführung einrichten soll, welchen Werten es
sich dabei verpflichtet fühlt — ist aber gerade die für die moralische Qualität seines
Handelns einzig relevante Entscheidung. Die pbronesis, die sittliche Vernunft, ist
an dieser grundlegenden Wahl nicht beteiligt. Die Handlungsziele sind ihr viel-
mehr vorgegeben, und zwar in Gestalt der charakterlichen Prädispositionen. 58 Der
Charakter präsentiert die sittliche Entscheidung, während der praktischen Vernunft
die Aufgabe zukommt, das solchermaßen Vorentschiedene in die Tat umzusetzen.
Die Nikomachische Ethik definiert die Charaktertugend dementsprechend als »ein

56 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1113a.


57 Ebd. 1112b.
58 Ebd. 1144a: »Denn die letzteren [sc. die Charaktertugenden] bewirken, d a ß die Zielsetzung
richtig ist, und die Einsicht weist die richtigen Wege zum Ziel.« Vgl. auch ebd. 1144a: » N u n
wird aber die Richtigkeit der Entscheidung durch die sittliche Tüchtigkeit gewährleistet; was
aber natürlicherweise zu tun ist, u m die Entscheidung zu steuern, das ist nicht die Aufgabe
der charakterlichen Tüchtigkeit, sondern eines anderen Vermögens.«
176 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Verhalten der Entscheidung [έξις προαιρετική]«.59 Diese Definition klingt paradox:


Wie kann eine Haltung, eine Voreinstellung der Affekte, zugleich einen bewußten
Akt der Entscheidung darstellen? Bei näherer Betrachtung zeigt es sich, daß auch
hier der Akt der Entscheidung dem Charakter vorausgeht. Da der Charakter aus
der wiederholten Ausübung gleichartiger Einzelhandlungen hervorgeht, fixiert er
sozusagen die Entscheidung, die diesen Handlungen zugrunde liegt. In gewisser
Weise kann man das Individuum somit als den Urheber seines eigenen Charakters
betrachten. Hat sich der Charakter erst einmal herausgebildet, so vermag das Sub-
jekt seinen Gewohnheiten zwar nicht mehr zuwiderzuhandeln - es kann sich nicht
umentscheiden. Anfangs jedoch steht ihm - rein theoretisch betrachtet - noch die
Möglichkeit offen, frei über das Wie und das Wozu seines Tuns zu entscheiden.60
Weil der Prozeß der Charakterformung aber schon in frühester Kindheit einsetzt,
weil die Entwicklung des niederen Seelenteils ontogenetisch der Ausbildung des
Vernunftvermögens vorangeht,61 liegt diese Entscheidung de facto gerade nicht in
der Hand des Individuums, sondern wird von denjenigen getroffen, die den Prozeß
der ethischenpaideia beaufsichtigen - von den Gesetzgebern, Erziehern und Eltern.
Die sittliche Grundentscheidung, die in den Charakter des Individuums eingeht
und diesen festlegt, ist also in Wirklichkeit die Entscheidung eines anderen. Der
Akt der Wahl liegt dem Handeln, dem er sittlichen Wert verleiht, immer schon
voraus. Das Individuum hinkt der Entscheidung hinterher, die seine sittliche Praxis
bestimmt. Das, was das Sittliche seines Tuns eigentlich ausmacht, entzieht sich
seinem bewußten Zugriff - es kann sein eigenes Handeln nicht beurteilen. Das
aristotelische Moralsubjekt steht niemals in der Situation, unvoreingenommen
zwischen Handlungsalternativen wählen und eine autonome Vernunftentscheidung
treffen zu können. Die Entscheidung ist vielmehr je schon gefallen. Sie ist einesteils
eine fremde Vorgabe, die sich das Subjekt zu eigen macht, andernteils bildet sie
unmittelbar ein Ingrediens seiner selbst, ein Konstituens seines Charakters, das sich
nicht objektivieren läßt. Das Individuum nimmt die Endziele seines Handelns nur
als ein unbestimmtes Wollen, als einen dunklen Antrieb wahr.
Die besonders intensive Form der Aneignung sittlichen Wissens, die das ari-
stotelische Modell der Subjektkonstitution kennzeichnet, hat somit eine Kehrseite:
Die Einsicht, die das Subjekt in sein Tun und seine moralische Verfaßtheit gewinnt,
erweist sich als unvollkommen; das Bewußtsein seines eigenen sittlichen Werts und
des Werts seiner Handlungen ist defizitär. In dieser Hinsicht ist der moralisch Han-

59
Ebd. 1106b (nach der Übersetzung von Olof Gigon [Aristoteles: Die Nikomachische Ethik.
Griechisch-deutsch. Ubersetzt von Olof Gigon, neu hg. von Rainer Nickel. Düsseldorf und Zü-
rich 2001]; Franz Dirlmeier übersetzt: »eine feste, auf Entscheidung hingeordnete Haltung«),
60
Ebd. 1114a: »So hatte auch der Ungerechte und der Zügellose am Anfang die Möglichkeit
nicht so zu werden - insofern beruht ihr jetziger Zustand auf freier Entscheidung - nachdem
sie aber so geworden sind, haben sie keine Möglichkeit mehr, nicht so zu sein.«
61
Vgl. Aristoteles: Politik 1334b.
Der Freund als Spiegel 177

delnde dem hervorbringenden Künstler unterlegen. Der Künstler nämlich kann in


der Betrachtung des von ihm produzierten Werks ein adäquates Bewußtsein seiner
Fertigkeit erlangen. Der moralisch Handelnde dagegen, der sich und sein Handeln
einschätzen will, wird auf den schwankenden Grund der Entscheidung verwiesen.
Die Entscheidung aber entzieht sich der Beobachtung: »[W]eil es nicht leicht ist,
eine echte Entscheidung zu erkennen, deshalb sind wir gezwungen, die Qualität
eines Menschen nach seinen Werken zu beurteilen.« 62 Das gilt nicht nur für den Au-
ßenstehenden, der das Handeln eines anderen betrachtet, sondern auch und gerade
für den Handelnden selbst. Er steht in der Gefahr, die Bestätigung seines sittlichen
Charakters nicht in sich selbst, sondern in seinen Werken suchen zu müssen und
eben dadurch den moralischen Wert seines Handelns zu unterminieren.

Glück und Lebensgeschichte: Das Beispiel des Priamos

Nach aristotelischer Ansicht konstituiert sich das Moralsubjekt durch Übung und
Gewöhnung. Doch indem Aristoteles die Übung in einem dezidierten Sinne als
Praxis bestimmt und scharf von der theoretischen Unterweisung abgrenzt, induziert
er auf Seiten des Subjekts einen Mangel — einen Mangel an Reflexivität und morali-
schem Selbstbewußtsein. Das Subjekt ist sich selbst in seinem Tun nicht transparent.
Das Streben, das seine Praxis dirigiert, ist nicht nur der durch Übung konditionierte
Wille, die sittlichen Werte handelnd zu verwirklichen. Es umfaßt zugleich auch den
Wunsch des Handelnden, das zu erkennen, wonach er denn eigentlich strebt; das
unbestimmte Zielwissen zu bestimmen, das ihn antreibt. Handelnd versucht das
Moralsubjekt, die Grundentscheidung einzuholen und zu objektivieren, die für sein
moralisches Sein konstitutiv ist.
Dieser dem sittlichen Streben zugrundeliegende Mangel bedroht das Ideal der in
sich selbst vollendeten moralischen Tätigkeit. Immer wieder gelangt Aristoteles in
der Nikomachischen Ethik an den Punkt, an dem die energeia sittlichen Handelns in
die kinesis einer hervorbringenden Tätigkeit umschlägt, weil er der Tatsache Rech-
nung tragen muß, daß das Subjekt, das seinen moralischen Charakter durch Übung
und Gewöhnung erworben hat, sich in seinem Tun nicht adäquat zu beurteilen
vermag. Dieses Umschlagen von praxis in poiesis läßt sich gleich im ersten Buch der
Nikomachischen Ethik beobachten, in dem die Frage nach dem höchsten Gut, dem
Endziel der sittlichen Lebensführung, erörtert wird. Aristoteles schließt sich zunächst
der allgemeinen Auffassung an, wonach das höchste Gut im Glück, in einer durch
eudaimonia ausgezeichneten Existenz, zu suchen sei. 63 Er folgt auch darin der herr-
schenden Meinung, daß er einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Glück

62 Aristoteles: Eudemische Ethik. Übersetzt von Franz Dirlmeier. In: Aristoteles: Werke in deut-
scher Übersetzung. Begründet von Ernst Grumach, hg. von H e l m u t Flashar. Bd. 7. Berlin
4 1984. 1228a.

63 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1095a.


178 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

und Tugend voraussetzt: Nur der Tugendhafte kann glücklich sein. Fragwürdig
erscheint ihm dagegen die Annahme, daß der Besitz der Tugend schon hinreicht,
um das Glück des Individuums zu gewährleisten. Wer über einen guten Charakter
verfügt, ist nicht allein deshalb schon glücklich. Das Glück stellt sich nach aristote-
lischer Ansicht vielmehr erst dann ein, wenn das Individuum von seinen Tugenden
und Anlagen aktiv Gebrauch macht und sie in tugendhaftes Handeln umsetzt. 64
Nicht derjenige, der bloß gut ist, sondern derjenige, der auch gut handelt und gut
lebt, kann als glücklich angesehen werden. 65 Aristoteles postuliert mithin eine enge
Verbindung zwischen dem Glück und dem moralischen Handeln. Tatsächlich ist
diese Verbindung seiner Auffassung nach so eng, daß das eine ohne das andere gar
nicht existieren kann. Das Glück läßt sich als Endziel des Handelns und der Lebens-
führung von der Ausübung moralischer Praxis und dem aktiven Lebensvollzug nicht
ablösen. Ebensowenig wie die Lust, mit der es innigst verknüpft ist, stellt das Glück
einen Zustand dar, der für sich zu bestehen vermag.66 Das glückliche Leben ist kein
Werk, auf dessen Verwirklichung der Handelnde hinarbeitet, vielmehr ist das aktive
Leben unmittelbar mit dem Glück eins: Glück ist »Leben als eigenständiges Tätig-
sein«, »ein Tätigsein der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit [ψυχής
ενέργεια γίνεται κατ' άρετήν]«. 67 Wie das um seiner selbst willen vollzogene sitt-
liche Handeln, dem es innewohnt, ist das wahre Glück »frei von Mangel: es genügt
sich selbst.«68 Das glückliche Leben ist somit in jedem Moment seines Vollzugs
vollendet. Glück ist keine Bewegung, die sich in einem anderen erfüllt, sondern ein
in sich selbst erfülltes Tätigsein, so daß man sagen kann: »er lebt gut und hat zugleich
gut gelebt, er ist glücklich und ist zugleich glücklich gewesen.«69

64
Ebd. 1098b-1099a.
'5 Ebd. 1095a. — Vgl. dazu auch M. C. Nussbaum: T h e Fragility of Goodness. S. 322: »There
is, then, a gap between being good and living well.« Nussbaum zufolge wendet sich Aristo-
teles mit seiner Weigerung, »good condition« u n d Glück gleichzusetzen, zum einen gegen
die Moralphilosophie des mittleren Piaton, zum anderen gegen eine frühe Ausprägung der
stoischen Ethik (ebd. S. 319, S. 493f.).
66
Zur Verknüpfung von Glück und Lust vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1153b. — In
der Nikomachischen Ethik wird das Phänomen der Lust an zwei verschiedenen Stellen mit
jeweils unterschiedlicher Akzentsetzung erörtert - das eine Mal im siebten, das andere Mal
im zehnten Buch. Trotz gewisser Differenzen, die sich zwischen diesen beiden Erörterungen
ergeben, stimmen sie doch bezeichnenderweise darin überein, daß sie die Lust nicht als ein
vom Handeln abgetrenntes Handlungsziel bestimmen. Die Lust ist ein Ingrediens der sittlichen
Aktivität, kein für sich bestehender >Gegenstand<, kein >Werk<, das durch diese Aktivität erzeugt
wird. »What we can confidently say is that they [sc. Aristotle's two accounts of pleasure] agree
in denying that pleasure is a single thing yielded in a qualitatively homogeneous way by many
different types of activity. [...] It is not something that can be prised apart from the activity to
which it is attached and sought out on its own [...]. Pleasure, even if firmly linked to excellent
activity as a necessary consequence, is not the end for which we act.« (M. C. Nussbaum: T h e
Fragility of Goodness. S. 294fi).
67
Aristoteles: Nikomachische Ethik 1098a.
68
Ebd. 1176a-b.
69
Aristoteles: Metaphysik 1048b.
Der Freund als Spiegel 179

Damit ist die Bestimmung des Glücks allerdings noch nicht ganz abgeschlossen.
Aristoteles knüpft eine weitere Bedingung an die Realisierung des glücklichen Le-
bens, die er scheinbar beiläufig mitteilt, als wäre sie ein unbedeutendes Addendum
zu seinen Ausführungen. Tatsächlich aber wird durch sie seine ganze Analyse wieder
aus den Angeln gehoben. Obwohl nämlich das Glück an die Aktualisierung der
Tugenden gekoppelt ist, wird ein Mensch, der gute Handlungen ausführt, nicht au-
tomatisch glücklich: »Beizufügen ist noch: >in einem vollen Menschenleben [έν βίω
τελείω], Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und auch nicht ein Tag.
So macht auch nicht ein Tag oder eine kleine Zeitspanne den Menschen glücklich
und selig.«70 Wahres Glück erfordert Dauer und Beständigkeit. Als glücklich gilt
folglich nur derjenige, der über einen längeren Zeitraum hinweg, ja ein Leben lang
glücklich und seinem sittlichen Charakter gemäß aktiv ist. Indem Aristoteles den
Zeitfaktor ins Spiel bringt, hebt er die Selbstgenügsamkeit des Glücks wieder auf.
Das Glück ist eben nicht in sich selbst vollendet, es ist keineswegs frei von Mangel,
sondern es gelangt erst im Verlaufe eines zeitlichen Prozesses zur Erfüllung, und ehe
dieser Prozeß nicht durchlaufen ist, darf man das handelnde Subjekt nicht glücklich
nennen. Strenggenommen erfüllt das Glück sich erst mit dem Lebensende, mit dem
Tod. Um zu beurteilen, ob ein Mensch wirklich glücklich war, m u ß man — wie Ari-
stoteles unter Bezugnahme auf Solon formuliert - »auf das Ende sehen«.71 Folglich
ist es nicht möglich, das Glück einfach mit dem tätigen Vollzug und der wesensge-
mäßen Aktualisierung des Lebens gleichzusetzen. Es manifestiert sich vielmehr in
Gestalt eines Lebensverlaufs, einer Lebensgeschichte.
Die durch Aristoteles vollzogene Wendung vom Glück als sich selbst zum Ziel
nehmender Praxis zum Glück als Lebensgeschichte findet ihre Bestätigung in einer
signifikanten Passage aus der Poetik. Die Tragödie, so argumentiert Aristoteles dort, ist
»nicht Nachahmung von Menschen« und Charakteren, sondern die Nachahmung »von
Handlung [πράξεων] und von Lebenswirklichkeit [βίου]«, und zwar von Handlung
im Sinne eines zeitlichen Verlaufs — von Handlung, die einen Anfang, eine Mitte und
ein Ende hat; von Handlung, die aus wechselhaften Geschehnissen zusammengesetzt
ist und eine Geschichte, einen mythos ergibt.72 Aristoteles sieht in dem menschlichen
Glück einen geeigneten Stoff für solche Geschichten. Uber das Glück lassen sich aber
nur dann Geschichten erzählen, wenn dieses kein in sich vollendetes Tätigsein darstellt,
sondern einen durch den Wechsel der Ereignisse gegliederten Verlauf: »Auch Glück
[εύδαιμονία] und Unglück [κακοδαιμονία] beruhen auf Handlung, und das Lebensziel
[τέλος] ist eine Art Handlung, keine bestimmte Beschaffenheit.«73 Das menschliche
Glück realisiert sich in Gestalt eines bios und eines mythos, nicht als energeia.

70
Aristoteles: Nikomachische Ethik 1098a.
71
Ebd. 1100a.
72
Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart
1982. I450a-b.
73
Ebd. 1450a.
180 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Indem es die Form einer Geschichte annimmt, trennt es sich vom Moralsub-
jekt ab und vergegenständlicht sich als Werk. Die Entäußerung des Glücks in
Werkgestalt bedingt seine Verletzbarkeit und Fragilität.74 Im Kontrast zum reinen
Tätigsein, das in jedem Moment seines Vollzugs vollendet ist, kann der Prozeß,
der das Glück sukzessive seiner Erfüllung entgegenführt, jederzeit unterbrochen
werden - das Glück, das im Werden begriffen ist, steht immer in der Gefahr, sich
in Unglück zu verkehren, und eben diese Verletzbarkeit begründet wiederum seine
Narrativität. Bezeichnenderweise rekurriert Aristoteles in der Nikomachischen Ethik
auf eine literarische Figur, auf den Gegenstand eines mythos, um die Fragilität des
Glücks zu demonstrieren. Er erinnert an die homerische Gestalt des Priamos. 75
Obwohl Priamos einen guten Charakter besaß, obwohl er als König von Troja
sein außergewöhnlich langes Leben dem aktiven Einsatz für die Belange seines
Volks widmete, darf man ihn nach aristotelischem Verständnis nicht als glücklich
bezeichnen. Denn ganz am Ende seines Lebens brach ein großes Unglück über ihn
herein. Worin bestand dieses Unglück? Es bestand nicht etwa darin, daß Priamos
durch widrige Verhältnisse an der Ausübung tugendhafter Handlungen gehindert
wurde. 76 Im Gegenteil, der Krieg, der Troja heimsuchte, bot ihm mehr noch als das
friedliche Leben die Gelegenheit, sich praktisch in der Tugend zu bewähren. Der
Krieg konnte weder den guten Charakter noch die moralische Praxis des Priamos
nachhaltig in Mitleidenschaft ziehen. Das Unglück, das ihn im hohen Alter traf,
zerstörte vielmehr sein >Lebenswerk< - das Leben, insofern es in seinem Verlauf eine
eigenständige Gestalt gewonnen hatte. Der Krieg hinderte sein Leben daran, sich
zu einem stimmigen Ganzen zu runden; er vernichtete das Glück, ehe es die Gestalt
eines vollendeten ergon erlangen konnte. Der Krieg eliminierte zudem die einzelnen
>Güter< und >Werke<, mit dessen Hilfe sich Priamos seines Glücks und seiner Tugend
versicherte: sein Königreich und die Mehrzahl seiner einhundert Kinder, allen voran
den Helden Hektor. Das Unglück entriß ihm also nicht die charakterliche Tugend,
es nahm ihm auch nicht die Gelegenheit zu tugendhafter Betätigung, sondern es
beraubte ihn dessen, wodurch er sich seine Tugend und sein Glück vor Augen füh-
ren, es sich bewußt machen konnte. Priamos war eine Geisel der tyche, weil Glück

74
Zur Verletzbarkeit des Glücks bei Aristoteles vgl. das zentrale Kapitel »The vulnerability of
the good human life: activity and desaster« in M. C. Nussbaums höchst anregender Studie:
T h e Fragility of Goodness. S. 318-342. - Nussbaum sieht die Fragilität der Eudämonie darin
begründet, daß Aristoteles das Glück nicht an den Charakter, sondern an den Vollzug von
Handlungen knüpft. Ich versuche dagegen im folgenden aufzuzeigen, daß der Werkcharakter
des Glücks — die Tatsache, daß sich das Glück in gegenständlicher Form vom Moralsubjekt
ablöst —, nicht aber sein Handlungscharakter für die Verletzbarkeit der Eudämonie verant-
wortlich zeichnet.
75
Aristoteles: Nikomachische Ethik 1100a, 1101a.
76
So lautet die Deutung von Nussbaum: T h e Fragility of Goodness. S. 328: »In his final
pitiable state Priam's capacity to act well is very much diminished; for he cannot, given the
constraints upon him, exercise many of the human excellences for which he was previously
known.«
Der Freund als Spiegel 181

und Tugend gegenständliche Werkgestalt annehmen müssen, um als solche erfahren


werden zu können.
Die aristotelische Analyse des höchsten Guts ist ambivalent. Einerseits wird das
Glück an die praktische Betätigung des tugendhaften Vermögens, an den aktuellen
Vollzug sittlicher Handlungen geknüpft. Andererseits unterliegt es der Forderung
nach Dauer und gewinnt so das Ansehen eines ergon, das sich von der Aktivität des
Subjekts ablöst und eine eigenständige Existenz führt. Der Tugendhafte erscheint
schließlich als ein Werkbildner des Glücks - Aristoteles vergleicht ihn mit dem
geschickten Handwerker, der aus dem gegebenen Material das Bestmögliche her-
auszuholen, der dem >Stoff< des Lebens auch unter ungünstigen Umständen eine
schöne Form zu geben versteht. 77 Doch eben dadurch, daß der Handelnde Glück
und Tugend in Werkgestalt entäußert, setzt er sich der Gefahr aus, ihrer gänzlich
verlustig zu gehen. Mehr noch: Bei näherer Betrachtung wird erkennbar, daß der
Werkbildner des Glücks zu keinem Zeitpunkt wirklich im Besitz dessen ist, was er
hervorzubringen sucht. Da das Glück an das »Vollmaß des Lebens« gekoppelt ist, da
die Möglichkeit, das Schicksal des Priamos zu erleiden, nie ganz auszuschließen ist,
kann der Tugendhafte, während er lebt und sich im Sinne seiner wesenhaften Tüch-
tigkeit betätigt, während er also glücklich ist oder doch sein sollte, kein zuverlässiges
Urteil darüber abgeben, ob ihm die Eudämonie zuteil wird oder nicht. Dieses Urteil
kann erst dann gefällt werden, wenn sich sein Leben vollendet hat. Dann kann er
aber nicht mehr selbst urteilen; dann ist es ein anderer, der ihn beurteilt. Das Glück
erfüllt sich in dem Moment, da der Glückliche selbst nicht mehr ist. »Darf man«, so
fragt Aristoteles mit Blick auf den Fall des Priamos, »[...] keinen Menschen glücklich
nennen, solange er lebt?«78
Tatsächlich kann der Glückliche, solange er lebt, nicht mit Sicherheit wissen, ob
er glücklich ist, denn er vermag sein Leben nicht im Ganzen zu überschauen — die
Vollendung steht immer noch aus. Das Glück des Lebenden ist also notwendiger-
weise mangelhaft - ihm fehlt das adäquate Bewußtsein seiner selbst. Glück und
Gewahrwerden des Glücks, aktueller Lebensvollzug und Selbsterkenntnis, fallen
auseinander. Bewerten läßt sich das Handeln und das daran gekoppelte Glück des
Individuums erst dann, wenn es nicht mehr das seinige ist. Das gilt sowohl für die
einzelne Handlung als auch für die Lebensaktivität in ihrer Gesamtheit. Was un-
mittelbar mit dem Individuum verbunden ist, kann von diesem nicht angemessen
beurteilt werden.
Nun zielt die paideia mittels Übung und Gewöhnung aber gerade darauf ab,
eine solche enge Verbindung zwischen dem Moralsubjekt und seinem Handeln zu
etablieren. Übung und Gewöhnung begründen eine Handlungsdisposition, sorgen
also dafür, daß das Subjekt unmittelbar mit seiner Praxis eins ist. Eben dadurch wird

77
Aristoteles: Nikomachische Ethik 1101a.
78
Ebd. 1100a.
182 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

ihm die Möglichkeit genommen, seinen eigenen sittlichen Wert zu ermessen. Das
Moralsubjekt empfindet folglich den Drang, sein Handeln zu vergegenständlichen,
um ein Bewußtsein seines Werts zu erlangen. Es gleicht sich dem hervorbringenden
Künstler an, doch diese Übereinstimmung ist prekär, gefährdet sie doch die sittliche
Qualität seines Tuns. Zwar vermag der Handwerker sein Wirken anhand des von
ihm produzierten Werks einzuschätzen. Doch das Wirken, das Werkform gewonnen
hat, trennt sich ganz von ihm ab, ist eben nicht mehr sein Wirken. Er kann seine
eigene Fertigkeit mittels des hervorgebrachten Werks beurteilen, aber nur unter der
Voraussetzung, daß er sich seinem Wirken gegenüber entfremdet und die Kontrolle
darüber verliert. Denn der technites produziert nicht für den eigenen, sondern für
fremden Gebrauch, für den Markt.79 Er übereignet sein Wirken denjenigen, für die
er arbeitet und die ihn dafür entlohnen. Er ist folglich in seinem Handeln nicht frei,
seine Tätigkeit ist eine »banausische Arbeit«, eine »Lohnarbeit«.80 Dem hervorbrin-
genden Künstler wird der Wert seines Tuns in seinem Produkt und in dem Erlös, den
dieses ihm einbringt, anschaulich, aber eben deshalb ist sein Tun nicht viel wert. Was
den Wert seines Tuns zu ermessen erlaubt, entwertet zugleich dieses Tun.
Einer vergleichbaren Gefahr liefert sich das Moralsubjekt aus, wenn es den Wert
seines Tuns erfassen will und sich dabei zu sehr an der Außenwelt und am Urteil der
anderen orientiert. Das ist laut Aristoteles vor allem bei denjenigen der Fall, die den
Erwerb von Ehre als ihr Lebensziel betrachten. Obwohl gerade »[e]dle und aktive
Naturen« nach Ehre streben, darf sie nicht mit dem höchsten Gut verwechselt wer-
den, denn dieses sollte dem handelnden Subjekt »zu innerst zugeordnet und nicht
leicht ablösbar« sein.81 Die Ehre ist ein äußerlicher Wert. Wer nach ihr strebt, sucht
sich in der Anerkennung durch andere »des eigenen Wertes zu vergewissern«.82 Man
erlangt sie durch große und glänzende Taten. Um Ehre zu erringen, muß man seine
Aufmerksamkeit daher vor allem auf die Außenseite seines Handelns richten, auf
die sichtbare Wirkung, die es erzielt. Der Ehrgeizige handelt schließlich nicht mehr
um der Tat, sondern um des dadurch zu erlangenden Ruhms willen, er instrumen-
talisiert also sein Handeln - die Ehre ist ein Produkt, das sich von ihm abspaltet.
Doch aufgrund ihrer Äußerlichkeit entzieht sie sich seiner Verfügungsgewalt: Nicht
er verfügt über sie, sondern diejenigen, die ihm Ehre erweisen. Der Ehrgeizige liefert
sich einer letztlich nicht zu kontrollierenden öffentlichen Meinung aus. Er enteignet
sich seines Handelns; er trägt seinen moralischen Charakter zu Markte.

75 Vgl. Aristoteles: Eudemische Ethik 1219b: »Der Schmied schafft den Zügel, der Reiter
gebraucht ihn.« — Vgl. auch Aristoteles: Nikomachische Ethik 1123b: »[...] der Begriff >wert-
sein< wird ausgesprochen in Hinsicht auf die äußeren Güter.« Der Wert einer Sache wird erst
dann deutlich, wenn sie in Relation zu anderen, äußeren Gütern tritt; die Institution, die eine
solche Relationierung ermöglicht, ist der Markt.
80 Vgl. Aristoteles: Politik 1337b.
81 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1095b.
82 Ebd.
Der Freund als Spiegel 183

4. Der Freund - Spiegel des Selbst auf der Schwelle


zwischen energeia und ergon

Das aristotelische Moralsubjekt befindet sich somit in einem Dilemma. Auf der ei-
nen Seite ist es unfähig, Handlungen, die es um ihrer selbst willen vollzieht - Hand-
lungen, die ihm »zuinnerst zugeordnet« sind, die sich nicht von ihm ablösen und
keine Werkform annehmen —, überhaupt zu beurteilen. Das Individuum kann den
Wert solchen Handelns nicht einschätzen; sein Selbstwertgefühl, seine Einsicht in
die eigene moralische Verfaßtheit ist unzureichend. Wenn es dagegen sein Tun als er-
gon aus sich herausstellt, um seinen Wert zu bestimmen, verliert es die Kontrolle über
sein Handeln wie auch über sich selbst. Es macht sich gegenüber den Einwirkungen
des Zufalls verwundbar und liefert sich der Autorität einer fremden Urteilsinstanz
aus. Das Individuum muß sein Tun vergegenständlichen, um Selbsterkenntnis zu
erlangen, doch indem es sich auf diese Weise entäußert, gefährdet es sowohl seine
Autonomie als auch den sittlichen Wert seines Handelns.
Wie kann man das Moralsubjekt aus diesem Dilemma befreien? Man müßte ihm
wohl die Möglichkeit eröffnen, sein Handeln zu vergegenständlichen, ohne es ganz
von sich abzulösen. Es müßten Strategien entwickelt werden, die es ihm erlauben,
sein Handeln als Teil seiner selbst zu erfahren und es zugleich objektiv - wie von
außen - zu beurteilen. Tatsächlich faßt Aristoteles eine solche Möglichkeit ins Auge.
Sie deutet sich bereits in seinen Ausführungen über die Ehre an. Wenn es uns in
unserem Wunsch nach Ehre nicht um äußerlichen Glanz, sondern um aufrichtige
Selbsterkenntnis zu tun ist, suchen wir, so argumentiert er, »von Urteilsfähigen ge-
ehrt zu werden, von Menschen, die uns kennen«. 83 Anders als der Geltungssüchtige
legt derjenige, der die Ehre aus Liebe zum sittlich Guten anstrebt, das Urteil über
den Wert seines Handelns zwar in die Hand eines anderen, nicht jedoch in die von
völlig Fremden. Er entäußert sich seines Handelns nicht ganz, er trennt es nicht
ganz von sich ab, weil er nämlich dafür Sorge trägt, daß die Richter über sein Tun
ihm freundschaftlich verbunden sind. Nur ein anderer kann das Handeln des Mo-
ralsubjekts beurteilen, aber die damit einhergehende Gefahr der Selbstentfremdung
läßt sich dadurch eindämmen, daß die Position dieses anderen mit einem Vertrauten
besetzt wird, mit einem »zweiten Ich«. Nach aristotelischer Ansicht ist der Freund ein
solches »zweites Ich [έχλΧος αύτός]«. 84 Die Lösung, die Aristoteles für das Problem
der ethischen Selbstkonstitution vorschlägt, ist die Freundschaft. Der Glückliche,
so behauptet er, ist nicht autark; er bedarf des Freundes, um sich seines Glücks
erfreuen zu können. 85

83
Ebd.
84
Ebd. 1166a; Eudemische Ethik 1245a.
85
Aristoteles: Nikomachische Ethik 1170b.
184 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Typen der Freundesliebe

Gleich zwei der zehn Bücher, aus denen sich die Nikomachische Ethik zusammen-
setzt, sind dem Thema der Freundschaft gewidmet. 86 Die Ausführlichkeit, mit der
Aristoteles das Phänomen der Freundesliebe behandelt, ist ein erstes Indiz fur die
zentrale Bedeutung, die er ihr als Bestandteil des glücklichen Lebens zuweist. Der
Freund gilt ihm »unter den äußeren Gütern als das größte«; 87 der Freund ist also
das externe Korrelat des höchsten inneren Gutes, des Glücks. Aristoteles vermeidet
es, die Freundschaft engsinnig auf einen speziellen Typus zwischenmenschlicher
Beziehungen festzulegen. Seine Definition ist bewußt allgemein gehalten, um
den verschiedensten Erscheinungsformen der philia Rechnung tragen zu können:
»Friendship«, so faßt Nancy Sherman die im achten Buch der Nikomachischen
Ethik unternommenen Bestimmungsversuche zusammen, »[...] is the mutually
acknowledged and reciprocal exchange of goodwill and affection that exists among
individuals who share an interest in each other on the basis o f virtue, pleasure, or
utility.«88 Der aristotelische Begriff der Freundschaft deckt die auf charakterlicher
Ubereinstimmung beruhende wechselseitige Wertschätzung der Tugendhaften eben-
so ab wie das Zweckbündnis, das bestimmte Individuen miteinander eingehen, um
von den Vorzügen des jeweils anderen zu profitieren. Letztlich haben nicht einmal
die Kriterien der bewußten, freiwilligen Partnerwahl und der Reziprozität, die in
die Definition der philia eingehen, einen verbindlichen Charakter, denn Aristoteles
begreift auch die unfreiwilligen, hierarchisch strukturierten Beziehungen zwischen
Blutsverwandten, insbesondere zwischen Eltern und Kindern, als Freundschaften,
ja, er schenkt gerade den letzteren große Beachtung.
So nimmt die Tugend- und Charakterfreundschaft in der Rangordnung der
Freundschaftstypen zwar die oberste Stelle ein, doch freundschaftliches Verhalten
ist nicht per se eine Tugend. Bezeichnenderweise bemüht sich Aristoteles dort, wo
er die Vorzüge der Charakterfreundschaft: erörtert, vor allem darum, den Nutzen
sichtbar zu machen, den die philia für den Tugendhaften besitzt. 89 Natürlich stellt
die Freundschaft auch an sich einen Wert dar; natürlich soll der Tugendhafte seinen
Freund auch um seiner selbst willen lieben. Gleichwohl hat die Freundschaft für ihn

86 Auch in der Endemischen Ethik (Buch VII) und in der Magna Moralia (Buch II, Kapitel 11-17)
nimmt die Erörterung der Freundschaft einen breiten Raum ein.
87 Ebd. 1169b.
88 N. Sherman: The Fabric of Character. S. 124.
89 Vgl. Μ. C. Nussbaum: The Fragility of Goodness. S. 365: »Aristotle says much more about
the instrumental than about the intrinsic value of love.« Die Begründung, die Nussbaum für
diese auffällige Erscheinung gibt, greift allerdings viel zu kurz: »For the instrumental argu-
ments might convince even someone who was otherwise inclined to banish philia from the
good life - whereas it is difficult to commend an intrinsic value to someone who does not
already respond to its claim.« Der instrumenteile Wert der Freundschaft ist keine beiläufige
Erscheinung — der Tugendhafte bedarf vielmehr der Freundschaft, um einen Defekt seiner
Konstitution als Moralsubjekt zu beheben; sie ist ein notwendiges Instrument der Selbster-
kenntnis.
Der Freund als Spiegel 185

in erster Linie eine instrumenteile Funktion. Sie bietet ihm nämlich die Möglichkeit,
sein Handeln zu objektivieren und ein Bewußtsein seines sittlichen Werts zu erlangen,
ohne sich an die Außenwelt zu verlieren. Der Freund dient als eine Art Reflexionsme-
dium. Die philia ist ein Hilfsmittel, um den Mangel an sittlichem Selbstbewußtsein
zu beheben, der durch die konsequent praktische Ausrichtung der ethischen paideia
verursacht wird. Die Freundschaft erfüllt diese Funktion auf zweierlei Weise. Zum
einen kann der Freund als so etwas wie ein >Werk< des Tugendhaften aufgefaßt werden,
als Katalysator und Zielpunkt seines moralischen Engagements. Zum anderen kann
er ihm dazu verhelfen, einen Urteilsstandpunkt außerhalb seiner selber einzunehmen
und dabei doch innerhalb der Sphäre des Selbst zu verbleiben. Der Freund vermittelt
zwischen der Innenperspektive des Selbst und der Außenperspektive der anderen,
der Gemeinschaft. Das Moralsubjekt ist ein zoon politikon, ein fur das Leben in der
Gemeinschaft bestimmtes Wesen. 50 Doch sein Glück findet das Individuum nach
aristotelischem Verständnis nicht im größeren Rahmen einer Öffentlichkeit, die mit
Ehre und Ansehen lockt, sondern in der intimeren Gemeinschaft der Familie und des
Freundeskreises, die einen Schwellenbereich zwischen Innerlichkeit und Exteriorität,
zwischen Selbigkeit und Alterität markiert.
Den Status eines Werks besitzt der Freund vor allem in solchen Beziehungen, in de-
nen der eine Partner dem anderen überlegen ist. Die Überlegenheit des einen bekundet
sich darin, daß er dem anderen Wohltaten erweist, ihm Liebe und Fürsorge angedeihen
läßt. »Lieben«, so erklärt Aristoteles, »ist wie ein schöpferisches Tun, Geliebtwerden
wie das Erleiden (diesesTuns).« 91 Der Freund, dem Liebe zuteil wird, ist sozusagen das
Geschöpf seines Wohltäters. Dieser handelt, wie es zunächst scheint, allein um der Per-
son des Geliebten willen - er liebt ihn, »auch wenn aus ihm kein Vorteil zu holen und
auch nie zu erwarten ist.«92 Doch das selbstzweckliche Freundschaftsverhältnis gewinnt
sehr schnell einen instrumenteilen Charakter: Es läßt sich nämlich nicht eindeutig
feststellen, ob es die Liebe ist, die das schöpferische Wirken des Wohltäters verursacht,
oder ob diese nicht ihrerseits erst aus der schöpferischen Tätigkeit hervorgeht. Viel-
leicht liebt der Wohltäter seinen Freund, eben weil der Freund sein Geschöpf ist, weil
er ihm sein Handeln in Werkform zur Anschauung bringt? Tatsächlich legt Aristoteles
eine derartige Annahme nahe. Für den Wohltäter, so erklärt er, ist »das Erleben seines
Handelns etwas Schönes und Edles: er freut sich also über den anderen, an dem dieses
Schöne in Erscheinung tritt«.93 Ganz unzweideutig tritt der instrumenteile Aspekt der
Freundschaft schließlich dort hervor, wo Aristoteles das Erweisen von Wohltaten mit
der kreativen Tätigkeit des Dichters vergleicht. Denn die Dichter
hängen mit Inbrunst an ihren Schöpfungen und lieben sie wie Kinder. So etwa haben wir uns
die Empfindungen des Wohltäters vorzustellen. Was er wohltätig gefördert hat, das ist sein

90 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1169b.


Ebd. 1168a.
52 Ebd. 1167b.
93 Ebd. 1168a.
186 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Werk und dieses also liebt er mehr als das Werk den Schöpfer. Der G r u n d dafür ist, daß das
Dasein für alle ein wählenswertes Gut und ein liebenswertes ist. Das Dasein aber erfüllen wir,
indem wir uns unserer Wirkungskraft bewußt werden, indem wir also leben und handeln.
Das Werk nun ist gewissermaßen der Schöpfer, sofern er wirkend ist, und deshalb liebt er sein
Werk — weil er das (wirkende) Leben liebt. 94

Die vorgeblich altruistische Liebe zum Freund erweist sich als eine subtile Spielart
der Selbstliebe. Der Wohltäter liebt den Freund, da dieser ihm ein Bewußtsein seines
Wohltuns und seiner Wirksamkeit, eine Anschauung seines sittlichen Werts vermit-
telt. Der Freund ist eine Erweiterung des Selbst, ein anderes Selbst.
Welcher spezifische Beziehungstyp liegt diesen Überlegungen zur schöpferischen
Freundesliebe zugrunde? Was fur eine Form von Freundschaft hat Aristoteles konkret
im Sinn, wenn er zwischen dem kreativen Spender und dem passiven Empfänger von
Wohltaten unterscheidet? Es liegt nahe, an eine pädagogische Form der Freundeslie-
be zu denken, an jene sublimierte Form der Päderastie, die Piaton im Symposion und
im Phaidros als ein Modell der Freundschaft und der ethischen paideia präsentiert. 95
Piaton will die sinnliche Liebe des Erasten zum Eromenen durch eine geistige Liebe
ersetzen; ein geistiger soll an die Stelle des körperlichen Zeugungsakts treten, so daß
der Geliebte zum Empfänger der höchsten Wohltaten - nämlich der Wahrheit und
des Wissens - werden kann. Der pädagogische Liebhaber wird darüber hinaus dazu
aufgefordert, seine geistige Zeugungskraft nicht dadurch zu verschwenden, daß er
geschriebene Werke anfertigt - Werke also, die sich vollkommen von ihrem Erzeuger
abtrennen und wie vaterlose Waisen durch die Welt irren.96 Als seine »echten Kinder«
und als wahre Wohltaten können vielmehr nur solche logoi gelten, die unmittelbar
der Seele eines Freundes eingepflanzt werden. 97
Die erotische Freundschaft platonischer Prägung scheint somit den Anforderun-
gen gerecht zu werden, die Aristoteles an diephilia stellt: Sie erlaubt es dem Liebha-
ber, sein tugendhaftes Wirken in einem Werk zu vergegenständlichen, ohne dieses an
die Außenwelt zu verlieren. Doch signifikanterweise schließt Aristoteles die geistige
Pädophilie, ja, überhaupt jede Form der Lehrer-Schüler-Beziehung, die in einem
professionellen Rahmen angesiedelt ist, aus seiner Betrachtung der Freundschaft
aus. »Aristotle lacks Plato's enthusiasm for the higher pederasty. Education is not his
ideal of a relationship«, so bemerkt Anthony Price.98 Nicht das Verhältnis zwischen
Lehrer und Schüler, sondern die Liebe zwischen den Eltern und ihrem Kind wird in
der Nikomachischen Ethik als das Muster einer wohltätigen, kreativen Freundschaft
präsentiert, die dem Moralsubjekt die Möglichkeit eröffnet, ein befriedigendes
Bewußtsein seines Tuns zu erlangen. Denn die Verbindung, die durch eine rein

94
Ebd.
95
Vgl. Platon: Symposion 206b-212a; Phaidros 276e-278b.
96
Platon: Phaidros 275e.
97
Ebd. 2 7 8 a - b .
98
Anthony W. Price: Friendship (VIII und IX). In: Aristoteles: Die Nikomachische Ethik.
S. 2 2 9 - 2 5 1 , hier: S. 239. - Vgl. auch N . Sherman: T h e Fabric of Character S. 151.
Der Freund als Spiegel 187

geistige Urheberschaft gestiftet wird, erscheint Aristoteles auch dort noch instabil,
wo das fertige Produkt die Form einer lebendigen Seele und nicht die eines toten
Schriftwerks besitzt. Das Kind, das aus geistiger Zeugung hervorgeht, ist - aus der
Perspektive des Urhebers betrachtet - immer noch zu sehr ein anderer, zu wenig ein
Teil seiner selbst. Daher verlangt Aristoteles, daß das sich in Werkform entäußernde
Wohltun seine Basis in einer biologischen Verbindung, in der Vater- beziehungsweise
Mutterschaft finden müsse, welche die umgreifende Identität der zugleich vonein-
ander geschiedenen Entitäten gewährleistet. Nach aristotelischer Ansicht sind die
leiblichen Eltern nämlich mit ihren Kindern wesensidentisch; sie »lieben ihre Kinder
als einen Teil ihres eigenen Wesens«, sie lieben sie »wie sich selbst - was aus ihnen
entstanden ist, existiert ja nach dem Akt der Loslösung gleichsam als zweites Ich
weiter«." Im Gegensatz zu der geistigen Beziehung zwischen dem professionellen
Erzieher und seinem Zögling läßt sich das biologisch und ontologisch verbürgte
Band zwischen Eltern und Kindern nicht durchschneiden. Das Kind, das die geistige
und körperliche Fürsorge seiner Eltern erfährt, ist ein Werk, das sich nie ganz von
seinen Urhebern abtrennen kann, das diesen mithin ein adäquates und gesichertes
Bewußtsein ihres Wesens und Wirkens vermitteln kann. 100 Das Kind bleibt auch als
für sich bestehendes ergon ein Bestandteil seiner Erzeuger. Es ermöglicht diesen, ihr
Tun in einem anderen zu reflektieren, ohne die Sphäre des Selbst zu verlassen.
Freilich birgt die biologische Absicherung der schöpferischen Freundesliebe die
Gefahr in sich, das labile Gleichgewicht zwischen Alterität und Identität zugunsten
der letzteren zu zerstören. Daher geht Aristoteles noch einen Schritt weiter und
differenziert zwischen der väterlichen und der mütterlichen Spielart der philia. Die
Mutterliebe ist in seinen Augen weitaus stärker ausgeprägt als die Vaterliebe, und
zwar paradoxerweise deshalb, weil der Vater dem Kind von Natur aus näher, viel-
leicht gar allzu nahe steht. Diese Nähe ist im Zeugungsakt selbst begründet. Denn
dabei spielt der mütterliche Körper nach aristotelischer Vorstellung lediglich die
akzidentelle Rolle des stofflichen Nährbodens, dem der für die Form des Kindes
konstitutive väterliche Samen eingepflanzt wird. Folglich steht der Vater in einer
engeren ontologischen Beziehung zu dem Kind als die Mutter. Der Sohn gehört
dem Vater an wie ein Fuß oder eine Hand; auch nach der Geburt existiert er also
ihm gegenüber nicht als eigenständiges Wesen.101 Aus väterlicher Sicht ist der Sohn

" Aristoteles: Nikomachische Ethik 1161b.


100
Das durch das Kind vermittelte Selbstbewußtsein besitzt jedoch nur eine relative Sicherheit,
weil auch das Kind eine Entäußerung des Glücks, ein äußeres Glücksgut darstellt und folg-
lich - wie das Beispiel des Priamos und seiner durch den Krieg hinweggerafften Kinderschar
drastisch vor Augen führt - dem Einfluß der tyche ausgeliefert ist.
101
Vgl. ebd. 1134b; vgl. auch Aristoteles: Magna Moralia. Übersetzt von Franz Dirlmeier. In:
Aristoteles.: Werke in deutscher Ubersetzung. Bd. 8. Berlin 5 1983. 1194b: »Für den Sohn
aber scheint es gegenüber dem Vater, für den Sklaven gegenüber dem Herrn, kein Recht zu
geben. Es hat ja auch mein Fuß mir gegenüber kein Recht oder meine H a n d , und Gleiches
gilt für jeden Körperteil. Genau so nun scheint es sich zu verhalten bei Vater und Sohn; denn
der Sohn ist, so kann man sagen, ein Teil des Vaters.«
188 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

zu sehr Teil des eigenen Selbst, zu wenig ein anderer, um die Konsistenz eines Werks
annehmen und als Reflexionsmedium dienen zu können. Die Mutter hingegen ge-
winnt bereits mit der Geburt ihres Kindes ein Bewußtsein für seine Eigenständigkeit.
Der Geburtsvorgang versinnbildlicht jenes ambivalente Zugleich von Trennung und
Verbindung, von Entäußerung und Aneignung, von Selbstliebe und altruistischer
Liebe, das die freundschaftliche Beziehung in ihrer wohl- und werktätigen Form
kennzeichnet. Mütter, so argumentiert Aristoteles, hängen »inniger an ihren Kin-
dern, denn das Gebären ist mühevoller - und sie empfinden stärker, daß das Kind
ihr Werk ist.« 1 0 2 Somit ist die Z u w e n d u n g der Mutter, die nach aristotelischem
Verständnis gar nicht über das Zeugungsvermögen verfügt, als das eigentliche Para-
digma der kreativen Freundesliebe anzusehen. D a s Verhalten der Mutter steht für
eine sittliche Aktivität, die sich, um sich ihres Werts zu versichern, entäußern muß,
jedoch ohne sich dabei zu verausgaben. Mutterschaft markiert die prekäre Balance
zwischen Selbstentäußerung u n d Selbstbewahrung, auf der nach Aristoteles das
sittliche Bewußtsein beruht.

D i e s p e k u l ä r e F u n k t i o n der T u g e n d f r e u n d s c h a f t

Nicht nur der schöpferischen Freundesliebe, die zwischen Eltern u n d Kindern


obwaltet, sondern auch der höchsten Form der philia, der Tugend- und Charak-
terfreundschaft, k o m m t bei Aristoteles die Aufgabe zu, den Mangel an sittlichem
Selbstbewußtsein zu supplementieren, der durch die einseitige Praxisbezogenheit der
ethischen paideia im Moralsubjekt hervorgerufen wird. Die Beziehung zwischen Tu-
gendfreunden beruht allein auf der Ubereinstimmung der Charaktere und der daraus
resultierenden wechselseitigen Zuneigung; sie hat also keine substantielle Basis in
einer biologischen Verbindung. Tugendfreunde teilen die gleichen Uberzeugungen,
orientieren sich an den gleichen Wertvorstellungen und streben nach den gleichen
Zielen. Aristoteles akzentuiert dieses M o m e n t der charakterlichen Ähnlichkeit:
»Vollkommene Freundschaft«, so erklärt er, »ist die der trefflichen Charaktere und
an Trefflichkeit einander Gleichen.« 1 0 3 Auch im Falle der Tugendfreundschaft ist die
Liebe zum Freund unauflöslich mit der Selbstliebe verknüpft. Der Tugendfreund
schätzt den Partner um seiner Persönlichkeit willen - er liebt »des anderen Wesens-
art«, seinen Charakter. 1 0 4 D a aber die Wesensart des anderen der eigenen Wesensart
verwandt ist, liebt er im anderen zugleich auch sich selbst. Genauer: Er liebt den an-
deren, insofern dieser ihm eine klare Vorstellung seiner eigenen Wesensart vermittelt.
Bezeichnenderweise greift Aristoteles auf die sokratische Spiegel-Metapher zurück,

102 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1168a.


,03 Ebd. 1156b. — Vgl. auch ebd. 1 1 5 9 b : »Außere und innere Gleichheit aber bedeutet Freund-
schaft und ganz besonders die Gleichheit an sittlichem Wert.«
104 Ebd. 1156b.
Der Freund als Spiegel 189

um die Instrumentalisierung der Freundschaft für die Zwecke der Selbsterkenntnis


zu veranschaulichen: 105
[W]ie wir nun, wenn wir unser eigenes Gesicht sehen wollen [αύτοίαύτών τό -πρόσωπον ίδεϊν],
durch einen Blick in den Spiegel den Anblick zustande bringen, so müssen wir auch, wenn
wir unser eigenes Wesen erkennen wollen, auf den Freund blicken: dann kommen wir zur
Erkenntnis. Denn es ist ja, wie wir sagen, der Freund ein zweites Ich [ό φίλος έτερος έγώ].
Wenn es nun angenehm ist, sein eigenes Wesen zu erkennen, diese Kenntnis aber nicht möglich
ist ohne einen anderen, den Freund, so braucht, wer sich selbst genügt, die Freundschaft, um
sich selbst zu erkennen. 106

Auch im platonischen Alkibiades-O'\ak>%, auf den Aristoteles hier offenbar anspielt, 107
wird der Freund mit einem Spiegel verglichen, der dem Partner zur Selbsterkenntnis
verhelfen soll. Der aristotelische Freundes-Spiegel ist dem katoptrischen Apparat,
den Piaton zu installieren sucht, in seinen Grundzügen ähnlich, weist ihm gegenüber
aber auch einige markante Unterschiede auf. Zunächst einmal beruht die zwischen
Sokrates und Alkibiades bestehende philia nicht auf der charakterlichen Gleichheit
der Partner, sondern ist hierarchisch strukturiert: Der Lehrer- und Liebhabergestalt,
die bereits über das Tugendwissen verfügt und folglich in der Lage ist, geistige
Wohltaten zu spenden, steht der Empfänger solcher Liebesgaben gegenüber, dessen
Konstitution als Moralsubjekt noch aussteht. Der überlegene pädagogische Freund
übernimmt dabei insofern die Aufgabe eines Spiegels, als er zwischen dem empi-
rischen Selbst seines Zöglings und dem »Selbst selbst«, der Idee des Selbst, ja, der
ideellen Seinsordnung überhaupt zu vermitteln hat. Der Lehrer als Paradeigma und
Spiegel des wahren Selbst ermöglicht es seinem Schüler, sich in diesem ideellen Selbst
wiederzuerkennen, die Einsicht in die Ideenordnung auf die eigene Person zu ap-
plizieren und sich in sie zu integrieren. 108 Mittels des Spiegel-Paradeigmas wird eine
Identität zwischen dem individuellem und dem ideellen Selbst allererst hergestellt.
In der aristotelischen Charakterfreundschaft: steht die spekuläre W a h r n e h m u n g
des Freundes unter umgekehrten Vorzeichen: Das Individuum soll durch die Ver-

105 Weder in der Untersuchung von Pierre Courcelle, die dem Topos des gnotht sauton gewidmet
ist, noch in der Studie von Ralf Konersmann, der die Geschichte der Spiegel-Metapher nachzu-
zeichnen sucht, wird der aristotelische Rekurs auf die Figuration der Spekularität berücksichtigt.
Das ist ein Indiz dafür, daß die Bedeutung, die der Problematik der Selbsterkenntnis in der
aristotelischen Ethik zukommt, weithin unterschätzt wird. Zwar ist die Selbsterkenntnis für
Aristoteles - anders als für Sokrates - nicht der Ausgangspunkt aller ethischen Bemühungen,
kein (ur das Moralsubjekt konstitutiver Akt. Doch hat sich das Moralsubjekt erst einmal mittels
Übung und Gewöhnung konstituiert, so ist das Begehren nach Selbsterkenntnis eine treibende
Kraft, die von der eigentlichen sittlichen Motivation seines Handelns nicht abstrahiert werden
kann.
106 Aristoteles: Magna Moralia 1213a.
107 In der Passage, die dem obigen Zitat aus der Magna Moralia unmittelbar vorangeht, weist
Aristoteles daraufhin, daß Selbsterkenntnis »die schwerste Aufgabe ist, wie einige der großen
Weisen gesagt haben« (1213a). Es könnte sich dabei um ein Echo auf Alkibiades 129a handeln,
wo einer der großen Weisen, nämlich Sokrates, seinem Gesprächspartner zu verstehen gibt,
daß die Einsicht in das eigene Selbst »schwer und nicht jedermanns Sache« sei.
108 Siehe oben, Kapitel II.5 dieser Untersuchung.
190 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

doppelung des Selbst im Spiegel des anderen nicht dazu bewegt werden, sich mit
dem sittlichen Wissen, den Normen und Wertvorstellungen zu identifizieren, die der
Freund verkörpert. Vielmehr markiert die Einrichtung eines spekulären Verhältnisses
den Versuch, das Wissen, das sich das Individuum durch Übung und Gewöhnung
angeeignet hat, ein wenig von sich abzulösen und in Gestalt des Freundes zu objekti-
vieren. Der Freund als Spiegel des Selbst ermöglicht es, den Weg der Subjektivierung
ein Stück weit in die umgekehrte Richtung zu beschreiten und zu ermitteln, was den
eigenen Charakter ausmacht, welche Handlungsmuster, Vorstellungen und Werte
in seine Konstitution eingegangen sind. Gerade weil das aristotelische Moralsubjekt
dazu genötigt wird, das sittliche Wissen durch praktische Übung und Gewöhnung
vollkommen zu verinnerlichen, braucht es einen Spiegel, der ihm nachträglich
Klarheit darüber verschaffen kann, was es denn da eigentlich in sich aufgenommen
hat und wie sein moralisches Handeln wirklich beschaffen ist. Bei Piaton hat der
Freundes-Spiegel die Funktion, dem sittlichen Wissen seine Alterität und seine
abstrakte Feme zu nehmen; bei Aristoteles bringt er umgekehrt ein Moment der
Differenz und der Distanz ins Spiel, um das allzu Vertraute des eigenen Charak-
ters, das sich der Wahrnehmung entzieht, sichtbar zu machen. Bei beiden hat der
Freundes-Spiegel jedoch die Aufgabe, das Selbst zu vergegenständlichen und diese
Gegenständlichkeit zugleich zu verschleiern. In beiden Fällen soll der Spiegel dem
Individuum die Möglichkeit verschaffen, sich selbst wie von außen zu betrachten,
ohne den Innenbereich des Selbst zu verlassen.
Die Spiegel-Metapher ist dazu geeignet, einen weiteren wichtigen Aspekt der
aristotelischen Tugendfreundschaft zu beleuchten. Im Rahmen dieser Freundschaft
bietet der eine Partner dem anderen nicht nur ein Spiegelbild seines Charakters dar.
Er eröffnet ihm zudem die Möglichkeit, eine direkte Anschauung seines Handelns
und Wirkens zu erlangen. In der freundschaftlichen Beziehung zwischen Eltern und
Kindern, die auf der Überlegenheit eines aktiven Spenders gegenüber einem passiven
Empfänger von Wohltaten beruht, gewinnt der Handelnde ein Bewußtsein seines
Tuns durch die Vermittlung des Werks, das er hervorbringt. Der Tugendfreund
hingegen ist kein Werk, sondern Spiegel. Wenn Freunde sich in ihren Charakteren
gleichen, dann ähneln sie sich auch in der Art und Weise, wie sie ihr Handeln ge-
stalten: »[T]reffliche Menschen [...] haben die gleiche Art zu handeln — oder doch
eine ähnliche.« 109 Die charakterliche Übereinstimmung erlaubt es daher dem Freund,
sich die Handlungen seines Partners unmittelbar zuzueignen." 0 U m sich sein eigenes
Tun bewußt zu machen, muß er den anderen nicht mit Wohltaten überhäufen. Es
genügt vielmehr, das Handeln des Partners aufmerksam zu verfolgen.
Wer an der sittlichen Praxis seines Freundes teilhat, sie beobachtet und studiert,
kann somit eine klare Vorstellung seines eigenen Tuns erwerben. Mehr noch: Das

109 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1156b.


Vgl. A. W. Price: Friendship. S. 2 3 3 : »[E]ach friend views the other's acts as belonging to
himself«.
Der Freund als Spiegel 191

gemeinsam mit dem Freund betriebene sittliche Engagement verschafft dem Mo-
ralsubjekt die Möglichkeit, das eigene Handeln zugleich von innen (als lebendige
Aktualisierung seiner Wirkungskraft) zu erfahren und von außen (wie ein gegen-
ständliches ergon) zu betrachten und zu beurteilen. Die Tugendfreundschaft fuhrt
zusammen, was in der sittlichen Praxis des einzelnen auseinanderfällt - Handeln und
Erkennen, werthaftes Tun und Bewußtsein des moralischen Wertes. Das Dilemma,
mit dem das Individuum aufgrund der poietischen Verfaßtheit des Glücks konfron-
tiert wird, kann auf diese Weise einer Lösung zugeführt werden:
Glück ist ein Tätig-sein [ένέpytui]; Tätig-sein aber ist offenbar etwas Werdendes und ist nicht
(einfach) da — wie etwas Fertiges, das man besitzt. Wenn sich aber [...] das Glück im Dasein
und Wirken entfaltet, [...] wir aber [...] leichter den anderen als uns selbst und leichter dessen
Handlungen ins volle Bewußtsein heben können als die eigenen, und wenn schließlich [...] fur
gute Menschen die Handlungen hochstehender Menschen, eben ihrer Freunde, etwas Lust-
volles bedeuten [...], so muß der vollendet Glückliche Freunde solcher Art haben, nachdem
er ja gesonnen ist, gute und in seinem Wesen verankerte Handlungen ins volle Bewußtsein zu
heben, und nachdem die Handlungen eines trefflichen Mannes, eben seines Freundes, diese
beiden Momente aufweisen. 111

Das gemeinsame Agieren mit dem Freund ermöglicht es dem Moralsubjekt, sich
ein vollständiges Bild von seinem eigenen Tun zu machen. Der Partner verhilft ihm
zur Einsicht in die Qualitäten seines Handelns; er verschafft ihm ein lebendiges
Bewußtsein seines sittlichen Werts und befördert somit die Eudämonie.
Die objektivierende Distanz, die das Moralsubjekt durch die Vermittlung des
Freundes sich selbst gegenüber etabliert, erlaubt es ihm aber nicht nur, die Güte der
eigenen Praxis zu erfassen und Freude über das Gelungene zu empfinden. Sie kann
ebensogut auch Mängel sichtbar machen. Im Zusammenwirken mit dem Freund
vermag das Individuum sein Handeln kritisch zu überprüfen und zu verbessern.
Die Tugendfreundschaft verleiht dem Moralsubjekt ein — wenn auch begrenztes
- Maß an reflexiver Handlungskontrolle, die dem rein gewohnheitsmäßigen Tun
fehlt. Der Spielraum der Reflexion und der Handlungsgestaltung, der den Partnern
auf diese Weise gewährt wird, ist zwar bei weitem nicht so groß, daß er die Revision
von Handlungszielen oder gar die Transformation der Charaktere zuließe. Doch er
ermöglicht es den Freunden, gemeinsam an der Vervollkommnung der gegebenen
Charaktereigenschaften zu arbeiten: »Und wie die Erfahrung zeigt, nehmen die
Freunde zu an sittlichem Gehalt: es ist eine Freundschaft der Tat und der gegen-
seitigen Korrektur. Denn sie bilden gleichsam die Vorzüge in sich ab, an denen sie
Gefallen finden, indem sie voneinander das Modell nehmen.«112
Der Abstand zum Selbst, der durch die Tugendfreundschaft eröffnet wird,
erlaubt es nicht nur, das eigene Handeln kritisch zu beurteilen; er bringt zudem
ein emulatives Element ins Spiel. Der eine Freund dient dem anderen als Muster,

111 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1169b-1170a.


112 Ebd. 1172a (Ubersetzung leicht modifiziert; Dirlmeier übersetzt διόρθωμα [= Verbesserung,
Korrektur] mit >Vervollkommnung<).
192 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

dem es nachzueifern gilt. Die Ähnlichkeit der Charaktere gewährleistet, daß es sich
dabei nicht um ein abgehobenes Idealbild der Tugend handelt, mit dem sich der
Handelnde in keiner Weise verbunden fühlt.113 Anders als im hierarchisch struktu-
rierten Verhältnis zwischen dem professionellen Lehrer und seinem Schüler besteht
in der auf Gleichheit basierenden Tugendfreundschaft nicht die Gefahr, daß der
Nacheifernde von seinem Vorbild überfordert wird. Der Charakterfreund ist ein
Muster der Tugend, aber ein solches, das dem Nachstrebenden erreichbar ist. Das
Moralsubjekt erfährt die Kritik und die paränetische Ermunterung, die ihm von
Seiten des Charakterfreundes zuteil wird, nicht als eine von außen herangetragene,
verständnislose Zumutung. Vielmehr erkennt es in der Urteilsinstanz des anderen
immer zugleich auch sich selbst. Das andere Ich des Charakterfreundes erlaubt es
dem Moralsubjekt, in eine kritische Distanz zum eigenen Selbst zu treten, trägt aber
zugleich dafür Sorge, daß die Grenzen des Selbst nie wirklich überschritten werden,
daß das Moralsubjekt nie ganz aus sich selbst heraustreten muß.

Selbstbespiegelung im Freund vs. Selbstbespiegelung in der Schrift

Die Freundschaft ist das notwendige Supplement einer ethischen paideia, die
mittels Übung und Gewöhnung eine derart enge Synthese zwischen dem ethi-
schen Wissen und dem Individuum erzeugt, die eine derart intensive Aneignung
der moralischen Wertvorstellungen bewirkt, daß der Handelnde sein eigenes Tun
nicht zu beurteilen vermag. Die Freundschaft erlaubt es dem Moralsubjekt, sein
Handeln aus sich herauszustellen und zu objektivieren, ohne sich seiner ganz zu
entäußern. Als Empfänger von Wohltaten ist der Freund ein Werk, das sich nicht
vollständig von seinem Erzeuger abtrennt; als Maßstab und Muster der Tugend ist
er ein Spiegel, der die kritische Außensicht auf die eigene Praxis ermöglicht, dabei
gleichwohl dafür Sorge trägt, daß der Betrachter seinem Tun nicht entfremdet
wird. Die Freundschaft bringt somit in beschränktem Maße jenes Moment der
Differenz und der reflexiven Distanz wieder zur Geltung, das durch Übung und
Gewöhnung eliminiert wurde. Die aristotelische philia stellt eine kontrollierte
Form der Selbstentäußerung dar.
Man kann aber auch umgekehrt sagen: Sie markiert den Versuch, die Urteils-
instanz des anderen ein Stück weit zu verinnerlichen. Denn Aristoteles wertet den
öffentlichen Raum, in dem glanzvolle Taten durch Ruhm und Ehre entlohnt werden,
gegenüber dem privateren Bereich des oikos, der Familie und des Freundeskreises, ab.
Die Exteriorität der Ehre und der öffentlichen Anerkennung wird durch die Inti-

113 Aristoteles zufolge kann zelos überhaupt nur dort entstehen, wo der Nachstrebende mit seinem
Muster durch Wesensähnlichkeit verbunden ist. Zelos wird hervorgerufen durch »das in die
Augen fallende Vorhandensein hochgeschätzter und für uns erreichbarer Güter bei solchen,
die von Natur aus uns gleich geartet sind« (Aristoteles: Rhetorik 1388a). — Zur emulativen
Komponente der Tugendfreundschaft vgl. auch M. C. Nussbaum: T h e Fragility of Goodness.
S. 363; Ν. Sherman: The Fabric of Character. S. 142.
Der Freund als Spiegel 193

mität der Freundesliebe ersetzt.114 Der andere, der dem Individuum ein Bewußtsein
seines sittlichen Werts verschafft, soll als Maßstab der Tugend nicht bloß die in der
Gesellschaft geltenden Wertvorstellungen vertreten, er soll dem Moralsubjekt zudem
unmittelbar nahestehen, er soll mit ihm vertraut, ihm ähnlich sein. Die Urteilsin-
stanz des anderen wird auf diese Weise intimisiert und personalisiert.
Allerdings scheut Aristoteles davor zurück, die totale Verinnerlichung dieser Ur-
teilsinstanz zu betreiben. Der Freund ist ein anderes Selbst, aber er darf nicht als ein
>innerer anderen in dieses Selbst eingehen. Das Moralsubjekt bleibt auf die Anerken-
nung von außen, durch eine getrennt von ihm existierende Instanz angewiesen, auch
wenn diese ihrer Exteriorität und ihrer Alterität weitgehend entkleidet wird. Daher
beharrt Aristoteles darauf, daß der befreundete andere dem Selbst nicht nur im
übertragenen, sondern auch im literalen Sinne des Wortes nahe-stehen müsse. Eine
freundschaftliche Beziehung existiert demnach nur dort, wo die Partner dauerhaft
zusammenleben und zusammenwirken: »Denn nichts kennzeichnet die Freundschaft
stärker als das Zusammenleben«. 115 Diephilia verwirklicht sich in der gemeinsamen
Tätigkeit der Partner, und diese umfaßt nicht bloß große und außergewöhnliche
Unternehmungen, sondern die sittliche Lebenspraxis in ihrer Gesamtheit, bis hin
zu den kleinsten Verrichtungen des Alltags. »The ideal«, so erklärt Martha C. Nuss-
baum, »is a thoroughgoing and unconstrained sharing in all activities that people
judge to be pertinent to their human good living.«116
Echte Freundschaft setzt folglich die unmittelbare und permanente Präsenz des
Partners voraus; die Beziehung zu einem Abwesenden kann nicht als philia ange-
sehen werden." 7 Anders als der von Piaton im Prolog zum Theaitetos exemplarisch
vorgeführte Dialogschreiber und Dialogleser faßt Aristoteles nicht die Möglichkeit
ins Auge, die Absenz des Freundes durch Strategien imaginärer Vergegenwärtigung
zu kompensieren. Nach aristotelischem Verständnis kann nur der wirkliche, leibhaf-

114
Genauer: Aristoteles will den öffentlichen Raum seiner Exteriorität entkleiden, indem er die
Freundschaft zwischen Individuen zur Grundlage der Polisgemeinschaft erhebt. Der Zusam-
menhalt der Polisgemeinschaft, so argumentiert er, beruht auf der unpersönlichen Herrschaft
des Gesetzes und auf der persönlichen philia, welche die Mitglieder des Gemeinwesens mit-
einander verbindet. (Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1155a.) In diese Richtung zielt
auch seine Kritik an der platonischen Konzeption des Idealstaats, insbesondere an der im Staat
erhobenen radikalen Forderung, das Private ganz im öffentlichen Raum aufgehen zu lassen,
konkret: die familiären Gütergemeinschaften aufzulösen und das persönliche Eigentum an
Kindern wie auch an materiellen Gütern abzuschaffen. Dadurch, so Aristoteles, werde gerade
nicht eine größere Einigkeit unter den Mitgliedern des Gemeinwesens hergestellt, sondern im
Gegenteil: Das kollektive Eigentum an Kindern und Gütern verwässere die Freundesliebe, die
den Zusammenhalt des Gemeinwesens garantiere. (Vgl. Aristoteles: Politik 1262a—1263b,
vor allem 1262b.).
115
Aristoteles: Nikomachische Ethik 1157b.
116
M. C. Nussbaum: The Fragility of Goodness. S. 358.
117
Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1157b: »Leute, die sich freundschaftlich anerkennen,
aber nicht zusammenleben, zeigen eher die Merkmale des Wohlwollens als die der Freund-
schaft.«
194 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

tig präsente philos dem Moralsubjekt als Spiegel dienen; nur die gemeinsame Ausü-
bung realer Handlungen kann den Freunden ein Bewußtsein ihres sittlichen Werts
verschaffen und zur Vervollkommnung ihrer Charaktere beitragen. Die Vorstellung,
daß dieses gemeinsame äußere Handeln durch eine einsame, geistige Aktivität — etwa
durch einen imaginären Dialog mit dem abwesenden Freund - ersetzt werden könn-
te, ist Aristoteles ebenso fremd wie die Idee, das Surrogat der geschriebenen logoi als
Spiegel des Selbst zu instituieren. Zwar muß er konzedieren, daß das Glück keine
energeia ist, sondern die gegenständliche Form der Lebensgeschichte, des bios und
des mythos, besitzt. Doch der naheliegende Gedanke, daß das Individuum sich seines
Glücks durch das Erzählen und das Aufschreiben seiner Lebensgeschichte versichern
könnte, wird von ihm nicht einmal in Erwägung gezogen. Das Moralsubjekt soll
sein Glück im Spiegel seines Freundes schauen, anstatt es in Gestalt eines autobiogra-
phischen Werks zu entäußern. Aristoteles akzeptiert nur eine Form der Spekularität
- den lebendigen Spiegel des Freundes.
Die Präsenz des Freundes soll einerseits den Mangel an Reflexivität kompensie-
ren, der dem auf Gewöhnung basierenden sittlichen Handeln innewohnt. Sie soll
andererseits verhindern, daß das Moralsubjekt unmittelbar auf sein Tun reflektiert
und somit die Antriebe sittlichen Handelns aus ihrer affektiven Verankerung heraus-
reißt. Aristoteles will vermeiden, daß sich das Moralsubjekt innerlich entzweit, daß
sich das Wissen der Handlungsziele und der Grundwerte, das mit dem irrationalen
Strebevermögen »zur Einheit verwachsen« ist, loslöst und verselbständigt. Mit Hilfe
der äußeren Zweiheit der sich wechselseitig abspiegelnden Freunde soll der Gefahr
vorgebeugt werden, daß die innere Einheit des Moralsubjekts zerbricht und einem
Neben- oder gar Gegeneinander von Denken und Fühlen Platz macht. Die Bezie-
hung zum Freund ermöglicht es dem Individuum, auf sein Handeln zu reflektieren,
ohne mit sich selbst in Konflikt zu geraten. Das aristotelische Moralsubjekt bildet
- entgegen der Auffassung Foucaults - kein Selbstverhältnis, keinen »rapport ä
soi« aus, der es ihm erlaubt, seine Affekte souverän zu beherrschen, sein Handeln
distanziert zu beobachten, und seine Lebensführung autonom zu gestalten. 1 ' 8 Das
Moralsubjekt tritt nicht unmittelbar, sondern nur durch die Vermittlung des anderen
zu sich selbst in ein Verhältnis. Die Bildung seines Charakters mittels Übung und
Gewöhnung untersteht der autoritären Führung von Gesetzgeber, Vater und Erzie-
her; als fertig ausgebildetes Moralsubjekt bedarf es schließlich der tätigen Beihilfe
des Freundes, um an der Vollendung seines Charakters arbeiten und ein glückliches
Leben fuhren zu können.

118
Foucault unterstellt Aristoteles, daß er dem Ideal der Selbstbeherrschung (enkrateia) verpflichtet
sei. Tatsächlich wird die enkrateia in der Nikomachischen Ethik als eine defiziente Form des
Verhaltens beschrieben: Tugendhaft ist nicht derjenige, der seine Begierden unterdrückt und
in der Gewalt hat, sondern derjenige, der auf vernünftige Weise begehrt. Vgl. dazu W. Detel:
Macht, Moral, Wissen. S. 82f.
Der Freund als Spiegel 195

5. Eine neue Form von Übung: Musikalische Charakterbildung

In der aristotelischen Ethik spielt die sittliche Praxis konkreter Individuen eine
alles beherrschende Rolle. Das Moralsubjekt konstituiert sich nicht (oder nicht
unmittelbar) dadurch, daß es theoretische Einsicht in die kosmische Seinsordnung
gewinnt oder den Code erlernt, der das Verhalten in einem bestimmten Gemein-
wesen reguliert. Nicht abstraktes Wissen, sondern reales Handeln begründet seinen
moralischen Charakter. Es konstituiert sich, indem es spezifische Handlungsmuster
einübt und sich gewisse Verhaltensweisen angewöhnt. Das sittliche Wissen wird ihm
nur in Gebrauchsform zuteil, als ein Wissen, das in der praktischen Anwendung auf
konkrete Situationen inkorporiert ist.
Die Dominanz der Praxis hat auf Seiten des Moralsubjekts einen Mangel an
sittlichem Selbstbewußtsein zur Folge, der es dazu antreibt, die versäumte Reflexion
nachzuholen. Doch auch dieser nachträglich unternommene Versuch des Individu-
ums, das eigene Tun und sittliche Sein zu einem Gegenstand des Wissens zu erheben,
hat nicht die Form einer unmittelbaren Reflexion auf das Selbst, löst sich also nicht
von der Praxis ab. Das Individuum spiegelt sich vielmehr in einem anderen, dem
Freund, der gemeinsam mit ihm daran arbeitet, die Eudämonie in der Praxis alltäg-
lichen Lebens zu verwirklichen. Auch die Selbstreflexion des Moralsubjekts ist somit
an den aktuellen Vollzug von Handlungen gekoppelt. Das aristotelische Moralsub-
jekt ist ein Produkt der askesis, und diese askesis wird in einem emphatischen Sinne
als äußere Handlung aufgefaßt. Die Tätigkeiten, die das Individuum ausführt, um
ein bestimmtes Verhalten einzuüben, sind mit denen identisch, die es in Ausübung
dieses Verhaltens vollzieht - Übung ist Vorwegnahme realer Praxis.119 Für eine >geis-
tige< askesis,120 für den Versuch, durch die inneren Aktivitäten der Meditation und
der Lektüre formend auf den eigenen Charakter einzuwirken und diesen aus seiner
Abhängigkeit vom Spiegelbild des anderen zu befreien, scheint in der aristotelischen

119 Vgl. M. Foucault: L'usage des plaisirs. S. 87: »[L]'exercice est congu comme la pratique meme
de ce ä quoi il faut s'entrainer; il n'y a pas de singularity de l'exercice par rapport au but d'at-
teindre: on s'habitue par entrainement ä la conduite qu'il faudra par la suite tenir.«
120 Den Begriff der >geistigen Ubung< übernehme ich von Pierre Hadot. Hadot ist sich dessen
bewußt, daß der Terminus heute zumeist mit einer spezifisch christlichen Praxis der Medi-
tation assoziiert wird. Die Tatsache, daß der Begriff gegenwärtig christlich besetzt ist, ist auf
den großen Erfolg des von Ignatius von Loyola verfaßten Handbuchs Exercitia spiritualia
(1548) zurückzuführen. Doch Ignatius hat mit seinem Handbuch eine Tradition wiederbelebt,
die sehr weit in die Vergangenheit zurückreicht: »[L]es exercitia spiritualia ne sont qu'une
version chretienne d'une tradition greco-romaine, dont nous aurons ä montrer l'ampleur.
Tout d'abord, la notion et le terme d 'eceratium spirituale sont attestes, bien avant Ignace de
Loyola, dans l'ancien christianisme latin et ils correspondent ä Γ askesis du christianisme grec.
Mais, ä son tour, cette askesis, qu'il faut bien entendre, non pas comme ascetisme, mais comme
pratique d'exercices spirituels, existe dejä dans la tradition philosophique de l'Antiquite. C'est
done ä cette derni^re qu'il faut finalement remonter pour expliquer l'origine et la signification
de cette notion d'exercice spirituel«. (P. Hadot: Exercices spirituels et philosophic antique.
S. 14f.).
196 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Ethik mithin kein Platz zu sein. Ähnliches gilt offenbar auch für die künstlerischen
Darstellungsformen, insbesondere für die literarischen und rhetorischen Techniken
der Vergegenwärtigung, die dem sittlichen Wissen zu psychischer Wirksamkeit
verhelfen sollen und der >geistigen< Übung den Weg bereiten. Der sittliche Cha-
rakter des aristotelischen Subjekts wird nicht durch das imaginäre Nachvollziehen
vorbildlichen Handelns, sondern durch äußeres, wirkliches Handeln gebildet; daß
sich dabei die richtigen, allgemein als verbindlich anerkannten Handlungsmuster
durchsetzen, wird nicht durch literarische und rhetorische Wirkungsmittel, sondern
durch die Macht des Gesetzes und die väterliche Autorität gewährleistet.
Dieser Eindruck wird jedenfalls durch die drei großen ethischen Schriften
hervorgerufen, die Aristoteles zugeschrieben werden, die Nikomachische Ethik, die
Endemische Ethik und die Magna Moralia. Ein anderes Bild ergibt sich jedoch,
wenn man die Politik hinzuzieht, in der die moralische Erziehung des Kindes einer
genaueren Betrachtung unterzogen wird. In der Politik entwickelt Aristoteles ein
differenzierteres Konzept der praktischen Übung. Diese präzisierenden Ausführun-
gen sind zum einen deshalb von Bedeutung, weil der Verfasser darin sein Interesse
bekundet, künstlerische Darstellungsformen für die ethische paideia nutzbar zu
machen - ein Interesse, das ihn mit dem Dialogschriftsteller Piaton verbindet. Zum
anderen weist seine vertiefende Erörterung der Übung in mancherlei Hinsicht auf
die Selbsttechniken voraus, die in der hellenistischen und in der spätantiken Ethik
zur Anwendung gelangen. Aristoteles selbst nimmt somit einige der Änderungen
vorweg, denen sein Konzept der Übung und der Charakterbildung in späterer Zeit
unterzogen wird.121

Charakterbildung durch das H ö r e n von Musik

Im achten Buch der Politik tritt Aristoteles dafür ein, die Erziehung der Kinder
durch eine vernünftige Gesetzgebung zu regeln, um auf diese Weise sicherzustellen,
daß alle Mitglieder des Gemeinwesens sich von früh auf in tugendhaftes Verhalten
einüben. Dabei erörtert er die Frage, ob und wie die traditionellen Lehrinhalte des
Elementarunterrichts etwas zur Bildung der Charaktere beitragen können. Wäh-

121
Wohlgemerkt: Es handelt sich dabei nur um zaghafte Ansätze, die das eigentliche Modell der
Charakterbildung — der Charakter entsteht durch Einübung vorgegebener Handlungsmuster
— nicht grundsätzlich in Frage stellen. Darin die Basis eines »non-behaviorist account of
habituation« zu sehen, wie M. C. Nussbaum dies tut (The Fragility of Goodness. S. 286),
oder sie gar — wie im Falle von Nancy Sherman - zum Anlaß zu nehmen, die vermeintliche
Bildungstheorie des Aristoteles zu rekonstruieren und ihm dabei die Intention zu unterstellen,
die praktische Übung als ein kognitives Training des Reflexionsvermögens, als »critical practice«
auszuweisen, führt entschieden zu weit. Für einen derartigen Rekonstruktionsversuch bieten
die ethischen Schriften kaum Anhaltspunkte, so daß sich Sherman - wie sie selbst zuzugeben
genötigt ist — weitgehend auf spekulativem Terrain bewegt: »Though Aristotle does not fully
elaborate upon these in the text, we can allow ourselves to extrapolate in a way that is consistent
with its spirit.« (Vgl. Ν. Sherman: T h e Fabric of Character. S. 157-199, hier: S. 171.).
Der Freund als Spiegel 197

rend er die Unterweisung in der Grammatik, der Gymnastik und dem Zeichnen
nur en passant behandelt, ihren Nutzen für die ethische paideia mithin als gering
einschätzt, widmet er dem Musikunterricht große Aufmerksamkeit. Mit Hilfe der
Musik, so behauptet Aristoteles, könne man auf die charakterliche Disposition
des Heranwachsenden einwirken: Es treffe nicht zu, daß sie allein dem Vergnügen
diene; vielmehr müsse man ernsthaft erwägen, ob die Musik es nicht »eher mit der
Tugend zu tun habe, sofern sie, wie die Gymnastik eine bestimmte Körperverfassung
erzeugt, ihrerseits eine bestimmte Verfassung des Charakters hervorbringt und den
Menschen gewöhnt, sich an rechten Dingen zu erfreuen«. 122 Aristoteles sieht in der
Musik mithin ein potentielles Instrument der Charakterbildung. Wenn es gelingen
kann, den Charakter des Zöglings durch Musik gezielt zu beeinflussen, dann stellt
die musikalische Betätigung - zumindest im Kontext der aristotelischen Ethik — eine
besondere Form von Übung dar: eine Übung nämlich, die sich künstlerischer Dar-
stellungsmittel bedient; eine Übung zudem, die nicht an den Vollzug realer sittlicher
Handlungen gekoppelt ist.
Tatsächlich skizziert Aristoteles so etwas wie ein Programm der musikalischen
askesis. Er führt den ethischen Nutzwert der Musik zunächst darauf zurück, daß be-
stimmte Melodien und Rhythmen als Nachahmungen von Charakteren aufzufassen
seien. Nun ist es zwar durchaus möglich, sittliche Charaktere auch mit sprachlichen
oder zeichnerischen Mitteln darzustellen. Der Vorrang, den Aristoteles der Musiker-
ziehung gegenüber dem Unterricht in Grammatik und Malerei einräumt, liegt jedoch
darin begründet, daß die musikalische mimesis in einer unmittelbaren Beziehung
zum nachgeahmten Gegenstand steht. Visuelle Repräsentationen hingegen haben
»keine direkten Beziehungen zum Charakter, sondern Gestalt und Farbe sind bloße
Zeichen des Charakters«. 123 Ähnliches gilt für die sprachliche Darstellung. Auch sie
kann nur mittelbar Einblick in die ethische Verfassung von Individuen gewähren,
indem sie etwa - wie die Tragödie oder das Epos - ihr Handeln mimetisch repräsen-
tiert und dieses Handeln als Zeichen des Charakters kenntlich macht, 124 oder indem
sie - wie Aristoteles selbst im dritten und vierten Buch der Nikomachischen Ethik und
wie sein Schüler Theophrast in seinen zur ethopoetischen Kunstform ausgestalteten
Charakterbildern - spezifische Persönlichkeitstypen analytisch-distanzierend be-
schreibt.125 Die musikalische mimesis produziert laut Aristoteles kein entferntes, totes
Abbild von Charakterhaltungen, sondern eine lebendige, beseelte Repräsentation,
die dem Dargestellten äußerst ähnlich ist. Der Kontrast zwischen musikalischer und

122
Aristoteles: Politik 1339a.
123
Ebd. 1340b.
124
Die Tragödie ist (wie auch das Epos) die Nachahmung von Handlung, nicht (jedenfalls
nicht unmittelbar) die Nachahmung von Charakteren. Vgl. Aristoteles: Poetik. 1450a. — Z u r
Handlung als Zeichen des Charakters vgl. Aristoteles: Eudemische Ethik 1228a.
125
Der Originaltitel der Nikomachischen Ethik lautet ΗΘΙΚΩΝ NIKOM ΑΧΕΙΩΝ, Nikomachische
Charakterschilderungen. Vgl. dazu M. Hauskeller: Geschichte der Ethik. Bd. 1. S. 94.
198 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

literarischer Nachahmung ist das aristotelische Äquivalent zum platonischen Gegen-


satz zwischen dramatischer mimesis und diegetischer Repräsentation: Die Musik zielt
auf die unmittelbare, performative Nachahmung der Charakterhaltung. Diese enge
Verbindung zum nachgeahmten Original verbürgt die intensive Wirkung, die von
der musikalischen Charakterdarstellung ausgeht:
Und nun sind die Rhythmen und Töne den wirklichen Naturen des Zorns, der Milde, der
Tapferkeit und Zucht und ihrer Gegensätze und den anderen ethischen Dingen außerordentlich
verwandt, wie die Erfahrung zeigt: denn wir verwandeln uns seelisch [μεταβάλλομεν γάρ την
ψυχήν], wenn wir solches hören. [...] In den Tönen haben wir aber eine unmittelbare Nach-
ahmung der Charaktere [μιμήματα των ήθών], wie sich das faktisch zeigt: denn schon die Art
der Harmonien zeigt Unterschiede, so daß wir uns als Hörer bei jeder von ihnen verwandeln
und uns anders einstellen, bei der einen traurig und melancholisch, wie bei der sogenannten
mixolydischen, bei der andern eher weich, wie bei den ausgelassenen, und in einer gefaßten
Mittellage wieder bei einer andern, wie es allein die dorische Harmonie zustande zu bringen
scheint, und enthusiastisch werden wir bei der phrygischen.' 26

Die musikalische Darbietung vermag die Seele des Hörers zu transformieren. Sie ver-
setzt ihn in die Lage, die jeweilige Gefühlshaltung, die durch Töne und Rhythmen
imitiert wird, unmittelbar selbst zu erleben. Eine Musik, welche die Gemütsstim-
mung des Tapferen nachahmt, ruft im Hörer die entsprechende Einstellung hervor.
Er wird gewissermaßen zu dem, was die Musik darstellt. Der Hörer selbst ist mime-
tisch aktiv: Er imitiert die Charakterhaltung, die ihm musikalisch vorgeführt wird;
seine Seele bringt die gleichen Affekte in der nämlichen, gemäßigten und gefaßten
Form hervor, wie sie der dargestellte Charakter empfindet. 127
Hier deutet sich also die Möglichkeit an, den Charakter des Heranwachsenden
durch eine >geistige Übungs durch ein >inneres Handeln< zu formen. Es erscheint
denkbar, ihm einen bestimmten, beispielsweise einen tapferen Seelenhabitus da-
durch anzugewöhnen, daß man ihn regelmäßig an den Darbietungen martialischer,
gemütserhebender Musik teilnehmen läßt und ihn zugleich von dem Genuß sanft-
mütiger, weicher Klänge abhält.128 Der Zögling müßte also nicht unbedingt reale,
tapfere Taten vollbringen, um einen mutigen Charakter zu erwerben. Zumindest
erscheint es möglich, geistige und praktische Übungen miteinander zu kombinieren,
also etwa mittels einer sorgfältig beaufsichtigten musikalischen Früherziehung eine
Prädisposition des Heranwachsenden zu mutigem Verhalten zu schaffen, die dann
in einer zweiten Bildungsphase durch realitätsnahe Tapferkeitsübungen zu einer

126
Aristoteles: Politik 1340a-1340b.
' 27 Dieses Nachempfinden der Affekte wirkt charakterbildend, nicht kathartisch. Aristoteles unter-
scheidet explizit zwischen solchen Harmonien, Rhythmen und Melodien, die zur Darstellung
und Bildung des Charakters taugen, und anderen, welche die Leidenschaften in der Absicht
erregen, den Hörer von ihnen zu reinigen. Eine charakterbildende Wirkung erkennt er in
erster Linie der dorischen Harmonie zu, während er die phrygische als kathartisch bezeichnet.
Vgl. Politik 1341b-1342b.
128
So etwa lautet auch das Programm musikalischer Erziehung, das Piaton in seinem Idealstaat
für den Stand der Wächter vorsieht. Vgl. Politeia 398c-^03c.
Der Freund als Spiegel 199

unerschütterlichen Haltung verfestigt werden könnte. Der aristotelische Musik-


hörer wäre somit in gewisser Hinsicht dem platonischen Dialogleser vergleichbar:
Wie dieser dem dargestellten Gespräch als passiver Zuhörer beizuwohnen scheint,
in Wirklichkeit aber dazu genötigt wird, sich die Reden der Gesprächsteilnehmer
durch die unbewußte Tätigkeit mimetischer Verlebendigung zu eigen zu machen,
so ist auch der Musikhörer nur vordergründig ein passiv Genießender, während er
sich tatsächlich aktiv in die dargestellte Charakterhaltung einübt.

Charakterbildung durch das Spielen von Musik

Aristoteles zieht zwar die Möglichkeit in Erwägung, den Charakter des Heran-
wachsenden durch das Hören von Musik zu bilden, verwirft sie aber dann doch.
Er zweifelt daran, daß das bloße Hören genügt, um eine tugendhafte Seelenhaltung
zu erzeugen. Aristoteles kann sich letztlich nicht dazu durchringen, die innere, psy-
chische Aktivität, die durch den Genuß von Musik ausgelöst wird, mit der äußeren
Tätigkeit desjenigen auf eine Stufe zu stellen, der sich praktisch in tugendhaftes
Verhalten einübt. Das Hören gilt ihm letztlich eben nicht als eine ernst zu nehmende
Praxis. »Offensichtlich macht es einen großen Unterschied,« so begründet er seine
Skepsis gegenüber dem pädagogischen Nutzen des Musikhörens, »wenn man etwas
werden will, ob man selbst aktiv an einer Tätigkeit mitwirkt [αύτός κοινωνη τών
έργων]. Denn es gehört zu den unmöglichen oder doch schwierigsten Dingen,
eine Leistung [έργων] gut zu beurteilen, an deren Hervorbringung man selbst
nicht beteiligt war.«129 Wenn man etwas werden will, das heißt in diesem Falle:
wenn man sich eine bestimmte Tugend erwerben will, dann — so ließe sich das von
Aristoteles angeführte Argument explizieren - muß man die spezifische Tätigkeit,
die dieses Etwas auszeichnet, auch in eigener Person ausüben und darf sich nicht
damit begnügen, die der Tätigkeit zugrundeliegende Gemütshaltung nachzuemp-
finden. Wer tapfer werden will — dies scheint in der Konsequenz des Arguments
zu liegen - , muß tapfere Taten vollbringen; es reicht eben nicht, sich durch die
Militärkapelle in Stimmung bringen zu lassen. Doch in seinen Ausführungen zum
Elementarunterricht vermeidet es Aristoteles überraschenderweise, diese - dem
Argumentationsmuster der Nikomachischen Ethik durchaus entsprechende - Kon-
sequenz zu ziehen. Aus der Tatsache, daß der Musikhörer sich allzu passiv verhält,
folgert er nicht, daß der Heranwachsende zur Ausübung >echter<, tugendhafter
Tätigkeiten veranlaßt werden müsse. Er verlangt vielmehr, daß der Zögling selbst
musizieren solle, anstatt bloß zu hören: »Man soll also die Musik so unterrichten,
daß sie auch ausgeübt wird.«130 Laut Aristoteles kann die musikalische Erziehung
einen wertvollen Beitrag zur Formung des Charakters leisten, wenn sie sich nicht
darauf beschränkt, den Heranwachsenden zum Rezipienten heranzubilden, sondern

129 Aristoteles: Politik 1340b (Übersetzung modifiziert).


130 Ebd. 1340b.
200 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

ihm die praktische Fertigkeit vermittelt, Musik hervorzubringen, Lieder vorzutragen


und ein Instrument zu spielen. Das Individuum, das frühzeitig in bestimmte, der
musikalischen mimesis zugängliche Charakterhaltungen eingeübt werden soll, muß
sich selbst als Musiker betätigen.
Doch inwiefern vermag die praktische musikalische Betätigung den Prozeß der
Charakterbildung zu befördern? Welche >ethisierenden< Effekte lassen sich durch die
aktive Ausübung von Musik erzielen, die durch das bloße Hören nicht hervorgerufen
werden können? Folgt man Nancy Sherman, so plädiert Aristoteles aus dem Grunde
für das praktische Musizieren, weil dieses dem Heranwachsenden die Möglichkeit
eröffnet, sich in bestimmte Charaktere einzufühlen und eine Innensicht ihrer Ge-
fühlswelt zu gewinnen: »[T]he learner's mimetic enactment of them (through perfor-
mance) is a way of coming to feel from the inside the relevant qualities of character
and emotion. [...] [M]usic provides the child with exemplars of character, and allows
the child to feel >from within« what the emotions and actions of such characters are
like.«131 Diese Erklärung ist jedoch unzureichend. Denn um einen Charakter und
seine Gefühlswelt von innen zu erleben, ist es gar nicht erforderlich, daß der Heran-
wachsende selbst musiziert. Das Eigentümliche der musikalischen mimesis besteht ja
nach aristotelischer Auffassung gerade darin, daß sie den Hörer zu verwandeln, daß
sie in seiner Seele unmittelbar die Gefühle hervorzurufen vermag, die sie zur Dar-
stellung bringt. Nicht nur der Musiker, auch der Hörer ist mimetisch aktiv, betreibt
also das »mimetic enactment« von Charakteren. Der Zögling soll nicht deshalb selbst
musizieren, weil er sich auf diese Weise intensiver mit dem nachgeahmten Charakter
identifizieren, tiefer in ihn eindringen und besser mit ihm sympathisieren kann. Im
Gegenteil, das Musizieren hat den Zweck, ein Moment der Distanz zur Geltung zu
bringen, das es dem Musiker erlaubt, den nachgeahmten Charakter zu beurteilen.
Der Musikunterricht, so argumentiert Aristoteles, soll den Heranwachsenden nicht
bloß aus nächster Nähe mit den Charakteren vertraut machen; er soll ihm vor allem
auch einen ethischen Wertmaßstab an die Hand geben. Der Schüler soll urteilen
lernen. Wer aber nur hört, der geht so sehr im Genuß des Gehörten auf, wird so sehr
mit ihm eins, daß er nicht dazu fähig ist, ein Werturteil zu fällen. Der Musizierende
hingegen stellt die Gemütshaltung, die er nachahmt, zugleich auch in Form einer
musikalischen Aufführung, eines künstlerischen Werkstücks {ergon) aus sich heraus
und gewinnt so das Minimum an Abstand, dessen er bedarf, um sie in ihrem sittli-
chen Wert richtig einzuschätzen.132
Der Hörer erfährt die ethische Verfassung, die durch Töne und Rhythmen
vermittelt wird, unmittelbar an sich selbst. Der Musiker dagegen steht in einer mit-

131
N . Sherman: T h e Fabric of Character. S. 182f.
132
Wohlgemerkt: Es handelt sich dabei u m ein moralisches, nicht um ein ästhetisches Urteil. Der
Heranwachsende soll sich durch die musikalische Betätigung »das richtige Urteilen und die
Freude an anständigen Charakteren und an schönen Handlungen« angewöhnen (Aristoteles:
Politik, 1340a; Hervorhebung von mir, Ch. M.).
Der Freund als Spiegel 201

telbaren Beziehung zum Charakter, den er nachahmt: Er erzeugt ein musikalisches


Abbild des Charakters; er macht daraus ein ergon, das er von sich ablöst — allerdings
nach Möglichkeit nicht ganz von sich ablöst, denn Aristoteles warnt ausdrücklich
davor, den Heranwachsenden zu einem Virtuosen der musikalischen Kunst auszubil-
den. Ein solcher arbeitet nämlich nicht mehr »zu seiner eigenen Vervollkommnung,
sondern zum Vergnügen der Zuhörer« und entfremdet sich auf diese Weise von
seinem Tun. 133 Der Heranwachsende soll das Musizieren als eine Tätigkeit der Muße
begreifen, die um ihrer selbst und um ihres sittlichen Gehalts willen erstrebenswert
ist, nicht jedoch als eine technische Fertigkeit, die dem Musiker die Bewunderung
eines banausischen Publikums einbringt. 134 Aristoteles fordert, daß sich der Zögling
diese Fertigkeit nur insoweit aneignet, als sie es ihm erlaubt, seine eigene mimetische
Aktivität zu objektivieren.
Die praktische musikalische Betätigung hat somit eine ähnliche Funktion wie das
Zusammenleben mit dem Freund. Wie der Freund so stellt auch die Musik eine Art
Reflexionsmedium dar. Das Musizieren bietet dem Heranwachsenden die Möglich-
keit, die charakterliche Disposition, die er imitiert, unmittelbar nachzuempfinden
und sie zugleich kritisch zu beurteilen. Er kann am eigenen Leibe erfahren, was es
heißt, ein solcher Charakter zu sein, und er kann diesen Charakter gleichzeitig wie
ein Werk von außen betrachten, ohne sich dessen ganz zu entäußern.
Gleichwohl besteht zwischen dem Reflexionsmedium der Musik und demjeni-
gen der Freundschaft ein markanter Unterschied. Um den eigenen Charakter im
Spiegel des philos erkennen und an seiner Vervollkommnung arbeiten zu können,
muß das Individuum mit dem Freund zusammenleben, sich gemeinsam mit ihm
sittlich engagieren und reale Handlungen vollziehen. Freunde beobachten und
korrigieren sich wechselseitig in ihrer konkreten moralischen Praxis. Im Rahmen
der musikalischen Erziehung wird der Spiegel des Freundes durch den Spiegel der
ästhetischen Darstellung ersetzt. Der Zögling imitiert sittliches Verhalten nicht real
handelnd, sondern künstlerisch nachbildend; er ahmt das vorbildliche Verhalten
nicht in seinem eigenen sittlichen Tun, sondern durch Verfertigung eines mimeti-
schen Abbilds nach. Der Musizierende fühlt sich unmittelbar in den musterhaften
Charakter ein und beurteilt sein Empfinden sodann anhand seiner künstlerischen
Hervorbringung. Die musikalische performance ersetzt die Performanz wirklicher
moralischer Handlungen.
In der aristotelischen Konzeption der musikalischen Erziehung deutet sich so-
mit die Möglichkeit an, die ethische askesis von der realen sittlichen Praxis und der
unmittelbaren Präsenz der pädagogischen Leitfigur loszulösen und sie statt dessen
in den Bereich künstlicher mimesis zu verlagern. Das Individuum übt sich nicht
mehr allein durch praktisches Tun in tugendhaftes Verhalten ein, sondern durch

133
Ebd. 1341b.
"" Ebd.
202 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

die Rezeption und Herstellung mimetischer Repräsentationen. Im Unterschied


zum platonischen Dialogleser, der dazu animiert wird, sich unbewußt mit den Dia-
logteilnehmern zu identifizieren und ihr Gesprächsgebaren innerlich handelnd zu
imitieren, vollzieht der aristotelische Musiker gleichzeitig beide Formen der mimesis
- die handelnde Nachahmung (er nimmt die Charakterhaltung seines Vorbilds
unmittelbar ein) und die abbildende Nachahmung (er distanziert sich von dieser
Charakterhaltung, indem er sie als ergon, als musikalische Repräsentation aus sich
herausstellt). Denn nur dadurch, daß der Zögling sich das, was er handelnd imitiert,
zugleich in Form eines Abbilds gegenüberstellt, wird er in die Lage versetzt, über
das Nachgeahmte ein Urteil zu fällen. Er kann sein Handeln nur dann beurteilen,
wenn er es vergegenständlicht. Die handelnde Nachahmung - die rein praktische
Übung und Gewöhnung — ist folglich nicht dazu geeignet, das Urteilsvermögen des
Zöglings zu schulen. Geistige Übungen, bei denen auf gegenständliche Repräsenta-
tionen zurückgegriffen wird, sind notwendig, damit der Zögling lernen kann, wie
man richtig urteilt.
Freilich bemüht sich Aristoteles nach Kräften, den gegenständlichen Charakter
dieser Übungsvorlagen zu verschleiern. Er favorisiert das Musizieren gegenüber dem
Lesen und dem Schreiben, weil das musikalische Werk in dem Moment, in dem es
hervorgebracht wird, auch schon wieder verschwindet - der Klang hat als gegen-
ständliches Werk keinen festen Bestand.
V. Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung:
Von der Deklamation zur Lektüre- und Schreibübung

Bei Piaton und Aristoteles finden sich mehr oder weniger zaghafte Ansätze dazu, die
ethische melete zu verinnerlichen und die unmittelbare Beziehung zwischen Lehrer
und Schüler durch den Rückgriff auf künstlerische Medien aufzubrechen. Nirgend-
wo läßt sich diese Tendenz zur Verinnerlichung der Übung deutlicher beobachten
als im antiken Rhetorikunterricht. Die rhetorische institutio erfüllt in mehrerlei
Hinsicht eine Modellfunktion für die ethische Selbsttechnologie. Zum einen stellen
die psychagogischen Techniken, die in der hellenistischen Ethik Verwendung finden,
Ubernahmen aus dem Bereich der Rhetorik dar.1 Die ethischen Selbstpraktiken
sind ihrem Ursprung nach rhetorische Verfahrensweisen. Zum anderen besitzt die
Rhetorik in der Antike selbst einen ethischen Auftrag. Die großen Rhetoriklehrer
— Isokrates, Cicero, Quintilian — verstehen sich zugleich auch als Sittenlehrer; die
rhetorische Unterweisung dient immer auch der moralischen Charakterbildung. Die
Grenzen zwischen dem rhetorischen und dem ethischen Diskurs sind also äußerst
durchlässig. Ehe die Frage beantwortet werden kann, wie sich in der hellenistischen
Philosophie eine proto-autobiographische Praxis der ecriture de soi herausbilden
konnte, muß daher untersucht werden, welche Entwicklung die melete im Bereich
der antiken Rhetorik durchmachte. Dies soll im folgenden anhand ausgewählter
Beispiele geschehen.

1. Isokrates und die Sophisten

Aufwertung der Urteilskraft


Die früheste ausführliche Erörterung der Bedeutung, die der Übung im Rahmen
der rhetorischen Ausbildung zukommt, findet sich bei Isokrates, einem der heraus-
ragenden griechischen Redner und Rhetoriklehrer des vierten vorchristlichen Jahr-
hunderts. Isokrates diskutiert den Stellenwert der Übung in seiner polemischen Rede
Gegen die Sophisten, die der kritischen Auseinandersetzung mit der Pädagogik der
Sophisten gewidmet ist. In der großen, gegen Ende seines langen Lebens verfaßten
Rechtfertigungsschrift Antidosis oder Uber den Vermögenstausch nimmt Isokrates den

1
Vgl. P. Rabbow: Seelenführung. S. 8 7 - 8 9 und passim.
204 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

im antisophistischen Traktat geknüpften Faden ein weiteres Mal auf, um sein eigenes
Bildungsprogramm darzulegen. Die Tatsache, daß es sich bei diesen beiden Texten
um die ältesten Belege für eine mehr als nur sporadische Reflexion auf den Sinn und
Zweck der rhetorischen Übung handelt, darf freilich nicht dazu verleiten, Isokrates
die Rolle eines pädagogischen Innovators zuzuerkennen. Der attische Rhetor greift
vielmehr auf ein Argumentationsschema zurück, das bereits im vierten Jahrhundert
den Status eines Gemeinplatzes besitzt: Er deutet die melete als Bestandteil einer
Trias von Bildungsfaktoren, der neben der Übung die natürliche Begabung (physis)
und das Kunstwissen (episteme oder techne) angehören. 2 Isokrates schließt sich der
allgemein akzeptierten Auffassung an, daß ein Individuum nur dann in der Lage
ist, Hervorragendes auf dem Gebiet einer Kunst zu leisten, wenn es über alle drei
Bildungsfaktoren verfugt - wenn es mithin eine gute Veranlagung besitzt, gründliche
theoretische Kenntnisse in seinem Fachbereich erworben und sich durch ausdauern-
de praktische Übung die nötige Routine und Erfahrung angeeignet hat.
Innerhalb dieser Trias von Bildungselementen weist Isokrates der praktischen
Übung allerdings eine Schlüsselrolle zu. Er wendet sich somit kritisch gegen das
pädagogische Konzept der Sophisten, insbesondere aber gegen den von ihnen erho-
benen Anspruch, die Kunst der Rede in Gestalt eines formalen Regelsystems lehren
zu können. Die Sophisten, so argumentiert er, überschätzen den Einfluß, den das
formalisierte Kunstwissen auf die Ausbildung des rednerischen Vermögens besitzt:
»Diese Fähigkeit schreiben solche Leute nun keineswegs der Erfahrung [έμπειρίαις]
und der natürlichen Begabung [φύσει] ihrer Schüler zu, sondern behaupten, das Wis-
sen um die Worte ließe sich genauso weiterreichen wie die Kenntnisse der Buchstaben
[γραμμάτων]«. 3 Isokrates wirft den Sophisten vor, die Faktoren der Veranlagung und
der Übung zu vernachlässigen. Indem sie die Rhetorik auf einen Grundbestand
von lehrbaren Elementen reduzieren, verfehlen sie das Wesen dieser Kunst. In der
rhetorischen paideia der Sophisten wird der Rede dasjenige ausgetrieben, was ihren
Vorrang unter allen menschlichen Fähigkeiten und ihre außerordentliche Wirksam-

2
Paul Shorey weist anhand einer Vielzahl von Belegen nach, daß dieser Gemeinplatz im vierten
vorchristlichen Jahrhundert bereits weit verbreitet ist. Vgl. Paul Shorey: Φύσις, Μελέτη,
Επιστήμη. S. 185-201. - Werner Jaeger argumentiert, daß die Zusammenstellung der drei
Bildungsfaktoren auf die frühe Sophistik zurückgeht und einem antiaristokratischen Impuls
entspringt: »[M]an ist zu der Erkenntnis gelangt, daß die Natur (φύσις) die Grundlage ist, auf
der jede Erziehung aufbauen muß. Der Aufbau selbst vollzieht sich als Lernen (μάθησις) bzw.
Lehren (διδαακάλια) und als Übung (άσκησις), die das Gelernte zur zweiten Natur macht. Hier
ist der Versuch einer Synthese der alten entgegengesetzten Standpunkte der Adelspaideia und
des Rationalismus gemacht unter grundsätzlicher Preisgabe der aristokratischen Blut-Ethik.«
(W. Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. 3 Bde. Berlin 3 1959. Bd. 1.
S. 387.).
3
Isokrates: Gegen die Sophisten § 10. In: ders.: Sämtliche Werke. Ubersetzt von Christine
Ley-Hutton, eingeleitet und erläutert von Kai Brodersen. Bd. 2. Stuttgart 1997. S. 100-104,
hier: S. 101 f. - Der griechische Text wird nach der folgenden Ausgabe zitiert: Isocrates. 3 vols.
Cambridge/MA and London 1928ff (The Loeb Classical Library, Ndr. 1998-2000.).
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 205

keit begründet: die lebendige, beseelte Kraft. Die sophistische Kunstlehre ersetzt das
schöpferische Redevermögen durch den toten Mechanismus der Schrift:
Ich wundere mich allerdings, wenn ich sehe, wie diese Leute sich für würdig halten, Schüler
zu unterrichten, obwohl ihnen entgangen ist, daß sie als Beispiel [παράδειγμα] für eine
schöpferische Sache eine Kunst mit ganz festen und engen Grenzen anführen. Wer außer
ihnen wüßte nämlich nicht, daß der Umfang der Buchstaben unveränderlich ist und immer
gleich bleibt, so daß wir immer dieselben Buchstaben für dasselbe anwenden, während im
Bereich der Reden ganz das Gegenteil zutrifft. Was nämlich von einem anderen schon einmal
gesagt worden ist, ist für den Redner danach nicht in gleicher Weise brauchbar, sondern am
geschicktesten scheint zu sein, wer so redet, wie es seinem Gegenstand entspricht, und in der
Lage ist, etwas zu finden, was in nichts einer früheren Äußerung eines anderen Redners gleicht.
Der größte Beweis für die Verschiedenheit dieser beiden Bereiche ist dies: Reden, die nicht
folgende Vorzüge aufweisen können, nämlich die passende Gelegenheit [καιρών] zu treffen
und eine angemessene Darstellung und Neuheit der Gedanken zu bieten, sind nicht gut. Für
den Bereich der Buchstaben ist nichts davon erforderlich. 4

Um die Beschränktheit des sophistischen Erziehungsprogramms zu demonstrieren,


vergleicht Isokrates das von diesem propagierte Regelwissen mit der mechanischen
Kunst des Schreibens, die er der wahren Kunst der Rede gegenüberstellt. Die
Argumentationsstrategie, die er dabei verfolgt, weist Ähnlichkeiten mit der im
platonischen Phaidros geäußerten Schriftkritik auf,5 sie orientiert sich zudem an
der aristotelischen Konzeption der phronesis. Wie laut Piaton der graphisch fixierte
Text als >vaterlose Rede< dazu verdammt ist, ohne Rücksicht auf die heterogenen
Verständnisvoraussetzungen seiner Leser und auf die wechselnden Umstände seiner
Rezeption immer nur ein und dasselbe zu wiederholen,6 so nötigt die sophistische
Privilegierung der Kunstlehre den Adepten der Rhetorik dazu, sich mit einem be-
grenzten Repertoire eingelernter Regeln und vorfabrizierter Muster zu begnügen.
Der Schüler, der seine rhetorische Praxis auf ein derart streng kodifiziertes Kunstwis-

4
Isokrates: Gegen die Sophisten § 12.
5
Zwischen der isokratischen Rede Gegen die Sophisten und dem platonischen Phaidros beste-
hen enge Beziehungen. Parallelen sind nicht nur hinsichtlich der T h e m e n (antisophistische
Polemik, Problematik der rhetorischen Ausbildung, Schriftkritik) zu verzeichnen. Piaton
weist zudem nachdrücklich auf die Trias von Veranlagung, Wissen u n d Ü b u n g hin (269d); er
attackiert die sophistischen Regelsysteme und Lehrbücher (266d-267d). Piaton beschließt den
Dialog mit der expliziten Erwähnung des Isokrates, ja, mit einem Lob auf seine rednerische
Begabung (279a): Isokrates wird als Hoffnungsträger einer stärker philosophisch ausgerich-
teten Rhetorik dem Sophisten Lysias entgegengestellt. O b Piaton mit seinem Dialog auf die
isokratische Sophisten-Schelte Bezug n i m m t oder ob Isokrates in seiner Rede auf den plato-
nischen Phaidros repliziert, ist in der philologischen Forschung strittig. Vgl. dazu P. Shorey,
Φύσις, Μελέτη, Επιστήμη. S. 194f. — Die thematischen Parallelen zwischen d e m Phaidros
und der Rede Gegen die Sophisten dürfen freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich
der platonische Entwurf einer philosophischen Rhetorik letztlich genauso deutlich von dem
empirisch ausgerichteten Ansatz des Isokrates abhebt wie von der Redekunst der Sophisten.
Es ist durchaus möglich, daß die lobende Erwähnung des Isokrates im Phaidros ironisch
oder spöttisch gemeint ist. Vgl. H a r t m u t Erbse: Piatons Urteil über Isokrates. In: Isokrates.
Hg. von Friedrich Seck. Darmstadt 1976 (Wege der Forschung. Bd. 301). S. 3 2 9 - 3 5 2 , hier:
S. 329f.
6
Vgl. Piaton: Phaidros 2 7 5 d - e .
206 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

sen gründen muß, kann nicht anders, als die immer gleichen Elemente immer wieder
neu zu reproduzieren. Die sophistische Kunstlehre, so behauptet Isokrates, beraubt
den angehenden Redner der Möglichkeit, flexibel auf die variablen Anforderungen
der Sprechsituation zu reagieren und kreativ mit dem Material der Sprache umzu-
gehen. Der nach sophistischen Prinzipien unterrichtete Schüler gleicht somit selbst
der geschriebenen Rede: Er ist eine Matrize eingedrillten Wissens; fragt man ihn, so
antwortet er immer nur dasselbe, repetiert und variiert bestenfalls die Musterstücke
regelkonformen Verhaltens, die ihm sein Lehrer - in schriftlicher Form! - vermittelt
hat. 7 Eingezwängt in das enge Korsett, das durch Regeln und Muster vorgegeben ist,
verkümmert die praktische Urteilskraft des angehenden Redners, die es ihm doch
ermöglichen sollte, den kairos, das Besondere der jeweiligen Situation zu erfassen, die
einschlägigen Argumente und sprachlichen Mittel zu ihrer Bewältigung auszuwählen
und auf diese Weise die lebendige Kraft der Rede zu entbinden. Als wissend gilt
Isokrates folglich nicht derjenige, der die Kunstregeln beherrscht, sondern derjeni-
ge, der seine rhetorischen Fähigkeiten in kluges, situationsgerechtes Sprachhandeln
umzusetzen versteht: »Wen also nenne ich gebildet, da ich die Künste [τέχνας],
wissenschaftlichen Studien [έπιστήμας] und spezielle Fertigkeiten ausschließe? Zu-
nächst diejenigen, die in der Lage sind, die tagtäglich anfallenden Aufgaben gut zu
verrichten und die sich ein Urteil bilden können, das in der jeweiligen Situation das
Richtige trifft und meist das Vorteilhafte zu erkennen vermag.« 8
Die Urteilskraft des Redners, der Isokrates auf diese Weise einen klaren Vorrang
gegenüber dem Fachwissen einräumt und die er als den eigentlichen Quellpunkt
des Redevermögens markiert, ist kein Gegenstand der theoretischen Unterweisung.
Sie läßt sich ebensowenig in Regeln fassen wie die aristotelische phronesis, der sie in
vielerlei Hinsicht ähnelt. Die isokratische Kritik am sophistischen Regelsystem kor-
respondiert der aristotelischen Ablehnung der Gesetzesethik. Isokrates sieht in der
Urteilskraft des Redners eine natürliche Fähigkeit, die allein durch ihren Gebrauch
in unterschiedlichen Situationen praktischer Bewährung, also durch Übung und
Erfahrung, ausgebildet werden kann. 9 Weil die Urteilskraft das entscheidende Ver-

7 Die sophistischen Rhetoren unterrichteten die Doktrin der Redekunst auf der Basis von
Lehrbüchern, die allerdings nur fragmentarisch erhalten sind. Vgl. George Kennedy: The Art
of Persuasion in Greece. Princeton 1963. S. 54—58. (Einen Eindruck von Form und Inhalt dieser
Handbücher vermittelt die Übersicht, die Piaton im Zuge seiner Kritik sophistischer Rhetoren-
Ausbildung bietet. Vgl. Phaidros 267d-268d.) Die Sophisten stellten ihren Schülern zudem
schriftlich ausgearbeitete Musterreden zur Verfügung, die auswendig gelernt werden sollten.
Vgl. Henri-Irenee Marrou: Histoire de l'education dans l'antiquite. Paris 1950. S. 91.
8 Isokrates: Panathenafkos § 30.
5 Vgl. J.Kube: ΤΕΧΝΗ und ΑΡΕΤΗ. S. 73: »Hier hat der καιρός bei Isokrates seinen Platz. Ein
Wissen als έπιστήμη kann es für die unzähligen verschiedenen Umstände, in denen der Rhetor
vielleicht einmal handeln muß, nicht geben. Die φρόνησις, die ihn in den Stand setzt, jeweils
richtig zu entgegnen, muß also auf etwas anderem beruhen: auf seiner δόξα, seiner Fähigkeit,
den καιρός zu erfassen. Das aber läßt sich nicht lernen, sondern nur in langer Erfahrung
üben.«
Die melete tm Kontext der rhetorischen Ausbildung 207

mögen des Redners darstellt, besitzt die Übung im isokratischen Bildungsprogramm


einen herausragenden Stellenwert. Isokrates weist darauf hin, daß viele, die einen
intensiven theoretischen Unterricht genossen haben, gleichwohl als Redner und
Politiker gescheitert sind, während andere, die nie mit einem Lehrer der rhetorischen
Kunst, geschweige denn mit einem Sophisten in Berührung gekommen sind, in der
Praxis erfolgreich zu bestehen vermögen. »Denn Meisterschaft im Reden und in
jedem anderen Gebiet«, so erklärt er dieses Phänomen, »stellt sich bei den von Natur
aus Begabten und durch Erfahrung Geübten ein.«10 Die Fähigkeit des Redners ist
kein Produkt der Lehre oder der theoretischen Einsicht, sondern der natürlichen Be-
gabung, vor allem aber der praktischen Übung. Darin gleicht sie dem aristotelischen
ethos: Wie der Baumeister, der seine Fertigkeit dadurch ausbildet, daß er baut, oder
der Tugendhafte, der einen gerechten Charakter erlangt, indem er gerechte Taten
vollbringt, so erwirbt der Redner sein oratorisches Vermögen in erster Linie durch
praktische Betätigung - man lernt reden, indem man redet.
Das ist jedoch einfacher gesagt als getan. Die Praxis ist anspruchsvoller als die
Theorie. Isokrates zufolge ist es nicht weiter schwierig, sich das theoretische Rüstzeug
der Redekunst, ihre Prinzipien und Grundelemente anzueignen, wenn man sich nur
an einen geeigneten Lehrer wendet. Unvergleichlich viel schwieriger ist es hingegen,
von den Elementen der Rhetorik den richtigen Gebrauch zu machen: »Bei jedem
einzelnen Thema aber die erforderlichen Elemente auszuwählen, miteinander zu
verbinden und zu ordnen, ferner nicht zu verfehlen, was die jeweilige Gelegenheit
[καιρών] verlangt [...], dies alles bedarf intensiver Bemühung [επιμελείας] und ist
Aufgabe eines tüchtigen Geistes, der richtige Vermutungen anzustellen weiß«."
Praktische Übung und sorgfältige Bemühung, melete und epimeleia, leisten
demnach den entscheidenden Beitrag zur Ausbildung des rhetorischen Vermögens.
Nicht zufällig ist es dieser Bereich der rhetorischen paideia, der Lehrer und Schüler
in besonders intensiver Weise zusammenführt: »Beide, Lehrer wie Lernende, müssen
einen Beitrag leisten: Die Schüler müssen die nötige Veranlagung mitbringen, die
Lehrer müssen die Fähigkeit besitzen, die Schüler auszubilden, beide aber müssen
sich um die Übung in der Anwendung bemühen.«12 Die rhetorische Übung ist eine
gemeinschaftlich unternommene Aktivität; sie erfordert das unmittelbare Zusam-
menwirken von Lehrer und Schüler. Zum einen nämlich muß der Lehrer bei den
Redeübungen seines Zöglings zugegen sein, um ihn korrigieren und zurechtweisen
zu können. Nur so kann verhindert werden, daß der Schüler sich ein fehlerhaftes
Redeverhalten angewöhnt. Da die virtuose Fertigkeit des Redners sich aus dem
wiederholten Vollzug oratorischer Einzelhandlungen heranbildet, bedarf es — ganz
wie im Falle der ethischen paideia aristotelischer Prägung —13 der strengen Aufsicht

10
Isokrates: Gegen die Sophisten § 14. - Vgl. auch ders.: Antidosis § 192.
11
Isokrates: Gegen die Sophisten § 16f.
12
Isokrates: Antidosis § 188.
13
Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1103b.
208 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

eines Lehrers, der dafür Sorge trägt, daß diese Einzelakte kunstgemäß ausgeführt
werden. Die persönliche Aufsicht des Lehrers manifestiert sich zum anderen darin,
daß er selbst sich in Anwesenheit seines Zöglings als Redner betätigt. Der Lehrer
soll seinem Schüler ein lebendiges Beispiel rhetorischer Praxis präsentieren, an
dem sich dieser in seinen Übungen orientieren kann: Er muß »selbst ein Vorbild
[παράδειγμα] sein, so daß die Schüler, von ihm geprägt und zur Nachahmung be-
fähigt [μιμήσασθαι δυναμένους], offensichtlich sogleich gewählter und anmutiger
als die anderen reden.«14
Isokrates kennzeichnet die rhetorische Übung als eine Form der Unterweisung,
die auf dem persönlichen Umgang zwischen Lehrer und Schüler beruht. Nicht an-
ders als die Tugendhaltung des aristotelischen Moralsubjekts erwächst die Fertigkeit
des Redners aus der intensiven, direkten Beziehung, die der Zögling zu seinem
Vorbild unterhält. Lehrer und Schüler agieren gemeinsam und leben zusammen.
Das ständige Zusammensein und die gemeinschaftlich vollzogene Praxis begründen
eine tiefgreifende Ähnlichkeit, welche die Schüler eines Lehrers untereinander wie
auch mit ihrem Meister verbindet. Gemeinsame Übung und Gewohnheit wirken
stilbildend und verleihen dem Redevermögen des einzelnen ein charakteristisches
Profil, das ihn als Angehörigen einer bestimmten Schule ausweist.15 »Isocrates like
Aristotle«, so resümiert Thomas Greene die pädagogischen Prinzipien des attischen
Rhetorikers, »is concerned with the unmediated impact of human beings on younger
human beings closely exposed to the force of their example.«16 Isokrates kontrastiert
die Unmittelbarkeit des persönlichen Umgangs, die sein Konzept der Übung aus-
zeichnet, mit der abstrakten Mittelbarkeit des sophistischen Regelsystems, das sich
zwischen den Lehrer und seinen Schüler stellt. Die dynamische, exemplarisch am
Lehrer in Erscheinung tretende Kunstfertigkeit wird der Leichenstarre einer dogma-
tischen, schriftlich fixierten Doktrin entgegengesetzt.
So weit der Überblick über das pädagogische Programm, das Isokrates - in deutli-
cher Übereinstimmung mit der aristotelischen Konzeption der ethischen paideia — in
seinen antisophistischen Schriften darlegt. Auffälligerweise hat er jedoch als Lehrer
und Leiter einer rhetorischen Schule seine eigenen didaktischen Prinzipien nicht
befolgt. Dem Idealbild eines auf praktische Erfahrung und Übung hin ausgerich-
teten, den persönlichen Umgang zwischen Lehrer und Schüler in den Mittelpunkt
stellenden Unterrichts hat der isokratische Schulbetrieb offenbar nie entsprochen
— er konnte ihm auch gar nicht entsprechen, denn Isokrates war, wie er selbst zugibt,
nicht dazu geeignet, als lebendiges paradeigma rhetorischer Kunstfertigkeit zu fun-
gieren. Er erfüllte weder die physischen noch die psychischen Voraussetzungen, um
seine Kunst effektvoll praktizieren zu können. Eine kräftige Stimme, Selbstsicherheit

14
Isokrates: Gegen die Sophisten § 17.
15
Isokrates: Antidosis § 206.
16
Thomas Greene: T h e Light in Troy. Imitation and Discovery in Renaissance Poetry. New
Haven 1982. S. 55.
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 209

und Geistesgegenwart - diese für den Rhetor unabdingbaren Eigenschaften m u ß t e


Isokrates entbehren. 1 7 Zwar hebt er in seinen programmatischen Schriften i m m e r
wieder die entscheidende Bedeutung von pbysis und melete hervor, doch zugleich gibt
er zu erkennen, daß er selbst seine Kunstfertigkeit a u f andere Weise erlangt habe. I m
Gegensatz zu Demosthenes, der seinen legendären Status nicht zuletzt der Tatsache
verdankte, daß er seine physischen Defekte durch konsequentes Training a b z u g l e i -
chen vermochte, unternahm Isokrates gar nicht erst den Versuch, sich i m Reden zu
üben und a u f diese Weise seine unzulängliche Naturausstattung zu kompensieren. 1 8
Vielmehr hat er es von vorneherein vermieden, öffentlich als Rhetor aufzutreten, u m
sich statt dessen ganz auf die schriftliche Ausarbeitung kunstvoller Reden zu verlegen.
Isokrates ist das Paradebeispiel eines Redenschreibers. v ) Seinen Texten haftet nichts
von der Spontaneität der Stegreifrede an; sie taugen also nicht dazu, die rhetorische
Bewältigung des kairos zu exemplifizieren. Die Reden, die Isokrates dem Publikum
vorlegte, waren das Produkt einer peniblen, sich zum Teil über Jahre hinweg erstrek-
kenden Arbeit der literarischen Komposition. 2 0 D e m e n t s p r e c h e n d präsentierte er
sich seinen Schülern auch nicht als praktisches Exempel angewandter Redekunst,
als lebendige Verkörperung rhetorischen Kunstverstandes, sondern als Verfasser
geschriebener Werke. D i e Basis seines Unterrichts bildeten schriftlich ausgearbeitete
Musterreden, mit deren Hilfe die Kunstfertigkeit des Rhetors beispielhaft vorgeführt
werden sollte. 21 In offenkundigem Widerspruch zu seinen programmatischen Ä u -
ßerungen hat Isokrates somit in seiner pädagogischen Praxis das lebendige Vorbild
des Redners durch das tote Abbild, das persönliche durch das schriftliche Exempel
substituiert. M e h r noch: E r hat sich dabei eines Verfahrens bedient, das a u f die von

17 Isokrates zeichnet ein anschauliches Bild seiner defizienten physis in der autobiographisch
gefärbten Einleitung zu seinem Panathena'ikos § 9 - 1 1 .
18 Demosthenes galt während der gesamten Antike als Musterbeispiel für die Effektivität der
rhetorischen melete. Vgl. M. Kraus: Exercitatio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik.
Bd. 3. Sp. 71-123, hier: Sp. 73.
" Dieses Ansehen besaß Isokrates auch unter seinen Zeitgenossen. Der attische Rhetor Alkidamas,
der in seiner Rede gegen die Sophisten (Peri ton sophiston) die Praxis des Redenschreibens
kritisierte, hatte dabei insbesondere die schriftstellerische Tätigkeit des Isokrates im Visier.
Vgl. Sylvia Friemann: Überlegungen zu Alkidamas' Rede über die Sophisten. In: Der Uber-
gang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen. Hg. von Wolfgang Kulimann
und Michael Reichel. Tübingen 1990. S. 301-315, zu Isokrates: S. 308-312. Friemann zeigt
allerdings auf, daß Alkidamas' Kritik am Redenschreiben ein Rückzugsgefecht darstellt: Die
nostalgische Verklärung rhetorischer Improvisationskunst bezeugt, wie weit die Verschriftli-
chung der Rhetorik im vierten vorchristlichen Jahrhundert tatsächlich bereits gediehen war
(ebd. S. 314).
20 Isokrates bevorzugte das Genre der epideiktischen Rede, die schriftlich komponiert wurde
und der Demonstration der eigenen Kunstfertigkeit diente. Er rechtfertigt diese Präferenz im
Panegyrikos (Sämtliche Werke. Bd. 1. S. 125). Als Verfasser epideiktischer Reden versuchte
Isokrates, sich von den sogenannten Logographen abzugrenzen, den professionellen Schreibern
von Gerichtsreden.
21 Zum Gebrauch schriftlicher Musterreden im isokratischen Schulbetrieb vgl. H.-I. Marrou:
Histoire de l'öducation dans l'antiquite. S. 128; G. Kennedy: The Art of Persuasion in Greece.
S. 128.
210 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

ihm so heftig attackierten Sophisten zurückgeht. Denn die Anfertigung schriftlicher


Musterreden für den Schulgebrauch war in der sophistischen paideia genauso üblich
wie die Abfassung von Lehrbüchern und Regelkompendien. 22
Wie ist der Widerspruch zwischen dem Programm und der pädagogischen Praxis
zu erklären? Warum wird das persönliche Beispiel des Lehrers durch den geschrie-
benen Mustertext ersetzt? Isokrates selbst liefert dafür zwar keine Erklärung, doch
es steht zu vermuten, daß er aus dem gleichen Grund auf das Hilfsmittel der Schrift
zurückgreift, aus dem Aristoteles dafür plädiert, den Charakter des Heranwachsen-
den nicht nur durch Musikhören, sondern durch musikalische Werktätigkeit zu
formen: um die Urteilskraft des Zöglings zu schulen. Die rein praktische Übung
ist letztlich nicht dazu geeignet, den Schüler das rechte Urteilen zu lehren. Das Ur-
teilsvermögen — darauf beharrt Isokrates — ist aber für die Befähigung des Redners
von entscheidender Bedeutung. Um die Reden anderer und seine eigene rhetorische
Praxis beurteilen zu können, braucht der Schüler einen gewissen Abstand, der mit
Hilfe der Schrift etabliert werden kann. Die Verwendung der Schrift ermöglicht es,
die Urteilskraft des Rhetorikschülers zu üben.
Indem Isokrates die schriftliche Musterrede in das Zentrum seines Unterrichts
stellt, versucht er, einen pädagogischen Mittelweg einzuschlagen. Er vermeidet die
Extreme der rein theoretischen, auf die Vermittlung des Regelsystems beschränkten
Unterweisung einerseits, wie sie von einigen Sophisten betrieben wird, und der rein
praktischen Übung andererseits. Bei Isokrates - wie überhaupt bei den gemäßigten
Sophisten - umfaßt die rhetorische melete mehr als die Schulung des Redevermögens
durch wiederholtes Reden, mehr als die praktische Anwendung der Kunstregeln in
Gestalt von Probevorträgen und Deklamationen. Zur Übung gehört vielmehr auch
die Lektüre, das sorgfältige Studium von schriftlich fixierten paradeigmata der Re-
dekunst. Der Schüler übt sich nicht nur, indem er redet, sondern auch dadurch, daß
er liest. Der scharfe Gegensatz, den Isokrates in seinen programmatischen Schriften
zwischen der praktischen Übung und der theoretischen Kunstlehre, zwischen dem
lebendigen Vollzug der Rede und seinem toten graphischen Abbild, zwischen der
Unmittelbarkeit des persönlichen Umgangs und der Mittelbarkeit des schriftlichen
Surrogats aufstellt, hat im Alltag des rhetorischen Unterrichts keinen Bestand. Der
Rekurs auf schriftliche Vorlagen führt ein Moment der theoretischen Distanz in die
praktische Übung ein, während die exemplarische Übungsvorlage die Kunstlehre zu-
gleich in praktischer Anwendung präsentiert, sie mithin ihrer theoretischen Abgeho-
benheit entkleidet. Der rhetorischen melete wird also eine hybride Schwellenposition
zwischen Theorie und Praxis, zwischen Rede und Schrift zugewiesen.

22
Vgl. M. Kraus: Exercitatio. Sp. 72; H.-I. Marrou: Histoire de Γ education dans l'antiquite.
S. 91.
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 211

Muster einer sophistischen Redeübung

Wie eine solche schriftgestützte Redeübung sich im vierten vorchristlichen Jahr-


hundert konkret gestaltete, davon kann - einmal mehr — der platonische Phaidros
einen Eindruck vermitteln. Piaton zeichnet nämlich am Eingang seines Dialogs ein
anschauliches Bild der melete und der gymnasmata, mit denen der Schüler der sophis-
tischen Redekunst sich zu beschäftigen hatte. Sokrates begegnet Phaidros just in dem
Moment, da dieser eine rhetorische Übungseinheit absolviert. Der junge Mann hat
Unterricht bei dem Sophisten Lysias genossen und ist gerade dabei, eine Musterrede
des berühmten Rhetorikers einzustudieren. Sokrates wünscht, diese Rede zu Gehör
zu bekommen. Da sich Phaidros aber zunächst ziert und behauptet, die Rede des
Lysias nicht wiedergeben zu können, signalisiert Sokrates in seiner charakteristischen
ironischen Manier, daß er ihn durchschaut habe. Phaidros, so erklärt der Philosoph,
sei sehr wohl in der Lage, die Rede des Sophisten vorzutragen, denn er habe sie ja
gründlichst eingeübt:
Ο Phaidros, wenn ich den Phaidros nicht kenne, muß ich ja mich selbst vergessen haben. Aber
eines so wenig wie das andere. Ich weiß gar wohl: Hörte der eine die Rede des Lysias, so hat er
sie nicht nur einmal angehört, sondern den Lysias immer wieder aufs neue oftmals reden lassen,
und der gehorchte ihm auch gern. Ihm aber ist auch das nicht genug gewesen, sondern zuletzt
hat er das Buch [βιβλίον] genommen und selbst, was ihm am besten gefiel, nachgesehen. Und
darüber von früh an sitzend, ist er endlich ermüdet und lustwandeln gegangen, jedoch — beim
Hunde! — wie ich wenigstens glaube, die Rede schon vollkommen wissend, wenn sie nicht allzu
lang war. Und zur Stadt hinaus ging er, um sie recht einzulernen [μελετών].23

Sokrates bietet einen Uberblick über den Ablauf einer typischen rhetorischen
Trainingseinheit. Diese umfaßt drei deutlich voneinander abgehobene Phasen, die
unterschiedlichen Lokalitäten zugeordnet werden. In der ersten Phase betätigt sich
der Schüler als Hörer, in der zweiten als Leser, in der dritten schließlich als Redner.
Der Vortrag der Musterrede durch den Lehrer ist ein Bestandteil des rhetorischen
Unterrichts, findet also in einem mehr oder weniger öffentlichen Rahmen statt. Bei
der Lektüre hingegen, die auf das Hören folgt, ist der Schüler auf sich alleine gestellt;
er unternimmt sie in der privaten Abgeschiedenheit seiner eigenen Behausung. Das
Lesen wird als eine mühsame und anstrengende Tätigkeit charakterisiert, von der
sich Phaidros anschließend erholen muß. Das im Sitzen betriebene Studium des
geschriebenen Textes kontrastiert mit der dritten Phase der melete, in der Phaidros
- vor den Toren der Stadt ambulierend - den mündlichen Vortrag der eingelernten
Rede trainiert.
Der Übende vollzieht also in mehrerlei Hinsicht eine Bewegung, die von außen
nach innen und von innen wieder nach außen fuhrt. Er verinnerlicht die Musterrede,
die ihm der Lehrer präsentiert, und zieht sich zu diesem Zweck aus dem öffent-
lichen in den privaten Raum zurück. Zwischen dem Vortrag des Lehrers und dem

23 Piaton: Phaidros 2 2 8 a - b .
212 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

(Übungs-) Vortrag des Schülers — beide sind in einem A u ß e n r a u m angesiedelt - steht


die innerliche Tätigkeit der Lektüreübung. In allen drei Ü b u n g s a b s c h n i t t e n spielt
der Aspekt der W i e d e r h o l u n g ein wichtige Rolle. Ein Ü b u n g s e f f e k t wird - anders
als bei Isokrates u n d Aristoteles - nicht n u r d a d u r c h erzielt, d a ß der Schüler i m m e r
wieder oratorische Einzelakte vollzieht, also wiederholt Reden vorträgt u n d sich
d u r c h Reden z u m Redner bildet. V i e l m e h r k o m m t die W i e d e r h o l u n g bereits in
der ersten, vermeintlich rein rezeptiven Ü b u n g s p h a s e z u m Tragen: D e r Lehrer trägt
seine Musterrede nicht bloß einmal, sondern mehrfach vor. Dieses Repetieren h a t
n i c h t allein d e n offensichtlichen Zweck, die exemplarische Rede d e m Gedächtnis
des Schülers einzuschreiben. D a r ü b e r hinaus besteht die W i r k u n g des wiederholten
Vortrags laut Sokrates darin, daß der H ö r e r sein A u g e n m e r k auf bestimmte Passagen
der Rede richtet, die i h m besonders gut gefallen. Die W i e d e r h o l u n g ermöglicht es
ihm, die Schönheiten der Rede u n d die rhetorischen Kunstgriffe zu erkennen, die er
bei einmaligem H ö r e n nicht w a h r z u n e h m e n vermag. Sie eröffnet d e m Reflexions-
u n d Urteilsvermögen des Schülers einen Spielraum. Die L e k t ü r e ü b u n g dient der
Vertiefung dieser Reflexion - lesend will Phaidros das, »was i h m a m besten gefiel«,
einer genaueren U b e r p r ü f u n g unterziehen. Die Lektüre markiert die Fortsetzung
u n d Intensivierung des aufmerksamen, reflektierten H ö r e n s . Tatsächlich stellt das
M e d i u m Schrift ja, wie Sokrates im weiteren Verlauf des Gesprächs aufzeigt, den In-
begriff der W i e d e r h o l u n g dar: Das Geschriebene sagt unter allen U m s t ä n d e n i m m e r
n u r ein u n d dasselbe, aber eben diese hilflose, starre M o n o t o n i e eröffnet d e m Leser
die Möglichkeit, d e n Text gründlich zu analysieren, seine Kompositionsprinzipien
aufzudecken u n d seine Argumentationsstrategie zu erfassen. Trotz aller Vorbehalte
gegen das Geschriebene m a c h t Sokrates selbst von dieser Möglichkeit Gebrauch:
N a c h d e m i h m Phaidros die Rede des Lysias vorgelesen hat, bittet er ihn, den »An-
fang noch einmal [zu] lesen«, u m den Text m i t Hilfe der W i e d e r h o l u n g »genau zu
beurteilen [ακριβώς διιδεΐν]« u n d zu demonstrieren, d a ß der sophistische Rhetor
in seinem Musterstück entgegen d e m ersten Anschein keine vernünftige O r d n u n g
verfolgt, sondern alles »unordentlich durcheinandergeworfen« habe. 2 4
Die rhetorische Lektüreübung, derer sich der Schüler in der Zurückgezogenheit
seiner S t u d i e r s t u b e befleißigt, erschließt i h m das I n n e n l e b e n des m u s t e r h a f t e n
Textes, m a c h t seine Struktur, seinen gedanklichen Gehalt, die Feinheiten der künst-
lerischen Ausgestaltung u n d die stilistische G r u n d h a l t u n g des Redners sichtbar. Die
F u n k t i o n der Leseübung erschöpft sich folglich keineswegs darin, d e m Lernenden
die perfekte m n e m o n i s c h e Aneignung der Musterrede zu ermöglichen. Entgegen der
v o n Isokrates vorgetragenen Polemik ist der Schüler der sophistischen Redekunst
kein bloßes Speichermedium, das die i h m vermittelten Wissens- u n d Musterstücke
ebenso mechanisch in sich a u f n i m m t , wie es sie gedankenlos wieder von sich gibt.
Phaidros m a c h t seinem Gesprächspartner deutlich, d a ß er gar kein Interesse daran

24
Ebd. 263e-264c.
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 213

hat, die Rede des Lysias in ihrem äußerlichen Wortlaut zu memorieren. Nicht die
Worte (ρήματα), sondern den ideellen Gehalt ( δ ι ά ν ο ι α ν ) , den Gedanken- und
Argumentationsgang, hat er sich durch das Studium des geschriebenen Texts zu
eigen gemacht. 25 Eben diese gründliche Vertrautheit mit der Textvorlage erregt das
Mißtrauen des Sokrates. Er beharrt darauf, daß der junge Mann die Rede des Lysias,
dessen schriftliche Aufzeichnungen er bei sich führt, aus dem Buch vorliest, anstatt
sie aus dem Gedächtnis zu rezitieren. Der Philosoph weigert sich, die Rolle des rhe-
torischen Ubungspartners zu spielen: »[D]enke von mir,« so ermahnt Sokrates seinen
Gesprächspartner, »daß ich dich zwar sehr liebe, wenn aber auch Lysias da ist, mich
dir herzugeben, damit du dich an mir einlernst [έμμελετάν], keineswegs gesonnen
bin.« 26 Sokrates will die Rede des Lysias hören, nicht aber die des Phaidros. D e n n
dieser ist durch intensive Lektüre so tief in das Innere der Rede eingedrungen, daß er
sich nicht mehr damit zufrieden gibt, den Mustertext wortgetreu zu reproduzieren.
Die gründliche Beschäftigung mit dem Modell hat seinen zelos geweckt, den Ehrgeiz,
das Vorbild nicht bloß zu kopieren, sondern eine eigenständige Nachschöpfung
hervorzubringen. Die Leseübung führt somit auf eine mimesis, die sich nicht mit
der Wiedergabe des Oberflächlichen, etwa der ins Auge springenden Stileigentüm-
lichkeiten begnügt. Die mimetische Vortragsübung, die Phaidros vor den Toren der
Stadt durchführen will, soll kein äußerliches Abbild der Musterrede darstellen. Sie
zielt vielmehr darauf ab, das Modell aufgrund der durch Lektüre gewonnenen Ein-
sicht in seine Strukturprinzipien von innen heraus zu rekonstruieren. Phaidros hat
sich das Exempel des Lysias so sehr zu eigen gemacht, daß Sokrates dem Wortlaut
seiner Rede nicht mehr trauen kann.
Piaton zeichnet in seinem Phaidros ein sehr viel differenzierteres Bild der
sophistischen melete als Isokrates in seinen programmatischen Ausführungen zur
Erziehung des Redners. Zugleich verweist er damit auf eine Alternative zu dem
von ihm selbst favorisierten Modell der mimetischen Lektüre, bei der der Leser
sich unbewußt als Imitator betätigt. Die Verwendung schriftlich fixierter Muster-
reden, die im Phaidros dokumentiert wird, stellt einen ersten Schritt in Richtung
auf die Entpragmatisierung und Mediatisierung der rhetorischen Ü b u n g dar. In
die enge, auf persönlichem Umgang beruhende Beziehung zwischen Lehrer und
Schüler dringt ein Moment der Distanz und der Mittelbarkeit ein. Der Z ö g l i n g
ahmt sein Vorbild nun nicht mehr direkt nach. Die exemplarische Praxis des Leh-
rers ist von der mimetischen Redeübung des Schülers durch ein Intervall getrennt.
Der Schüler zieht sich zum Studium des geschriebenen Redetextes zurück, ehe er
sich darin übt, den Vortrag des Lehrers zu imitieren. Doch der Abstand, den das
Geschriebene zwischen Lehrer und Schüler eröffnet, führt nicht zu einer Entfrem-
dung. Im Gegenteil, er ermöglicht es dem angehenden Redner, sich sein Vorbild

25
Ebd. 228d.
26
Ebd. 228d-e.
214 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

u m so intensiver anzueignen. Er m a c h t den Kunstverstand, den der Lehrer in seine


rhetorische Praxis investiert, allererst sichtbar und erlaubt es somit dem Schüler,
die K o m p o s i t i o n s p r i n z i p i e n der M u s t e r r e d e b e w u ß t und kontrolliert n a c h z u -
vollziehen. Anstatt — wie Isokrates behauptet - die Urteilskraft des Zöglings zu
l a h m e n , bietet das Geschriebene seinem Reflexionsvermögen den festen Anhalts-
punkt, dessen es bedarf, um sich zu entfalten. D e r Gebrauch der Schrift bringt das
Prinzip der ethisierenden, habitusbildenden Wiederholung auf eine neue Weise zur
G e l t u n g . D i e Fertigkeit des Redners ist nun nicht mehr ausschließlich ein Produkt
der Praxis im strengen Sinne des Wortes; sie kann nicht m e h r allein a u f den wie-
derholenden Vollzug oratorischer Einzelhandlungen zurückgeführt werden. D e r
geschriebene Text, der i m m e r nur ein und dasselbe sagt, ermöglicht dem Schüler
eine andere Form der Wiederholung, eine W i e d e r h o l u n g im Sinne der Reflexion:
D e r Zögling assimiliert sich das M u s t e r n i c h t b l o ß dadurch, daß er sein Vorbild
durch N a c h a h m u n g >verdoppelt< und diese >Verdopplung< ihrerseits zu Übungs-
zwecken wiederholt, sondern auch dadurch, daß er sich den exemplarischen Text
i m m e r wieder vor Augen stellt, b e s t i m m t e Passagen i m m e r wieder v o r n i m m t
und analysiert. 2 7 D i e Wiederholung, die für den Habitus und die Fertigkeit des
Redners konstitutiv ist, manifestiert sich — zum Teil zumindest - in Form einer
mentalen Aktivität; das innere Handeln der Reflexion tritt dem äußeren Handeln
der oratorischen Performanz an die Seite.

2. Die Funktion der rhetorischen Lektüreübung -


Quintilians Institutio oratoria

D a s in der rhetorischen paideia des vierten vorchristlichen J a h r h u n d e r t s prak-


tizierte Verfahren, den Schüler der Redekunst zum Studium schriftlich fixierter
Musterreden anzuhalten, markiert, wie Alexandru N . Cizek darlegt, eine wichtige
»Weichenstellung für die hellenistische R h e t o r e n s c h u l e « : I n d e m Isokrates und
die S o p h i s t e n eine V e r b i n d u n g zwischen der N a c h a h m u n g des v o r b i l d l i c h e n
Redners und der Lektüre von Texten etablierten, legten sie das F u n d a m e n t für
j e n e »auf stufenweises Einüben und Nachbilden der Vorlagen, schließlich a u f das

27 Während Isokrates den Gebrauch der Schrift in seinen pädagogischen Programmschriften


mit einer rein mechanischen Form von Wiederholung assoziiert, fordert er von den Lesern
seiner geschriebenen Reden ein Rezeptionsverhalten, wie es die sophistische Lektüreübung zur
Geltung bringt. Vgl. etwa die folgende Passage aus seiner Rede an Philipp (Sämtliche Werke.
Bd. 1. S. 83-113, hier: § 28f.): »So wirst du am ehesten und besten erkennen, ob ich wirklich
etwas zu sagen habe, wenn du von dem Unbehagen, das man gegenüber den Sophisten hat,
und den Nachteilen nur gelesener Werke einmal absiehst, wenn du jeden einzelnen Punkt
wieder aufnimmst und in Gedanken prüfst, ohne dabei die Lektüre zur Nebensache zu machen
oder nur oberflächlich zu lesen, sondern mit Überlegung und mit der Liebe zur Erkenntnis,
die auch dir, wie man sagt, zu eigen ist.«
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 215

Wetteifern mit ihnen« abzielende »Pädagogik der Imitation«, welche die Rhetorik
bis zum Ausgang der Antike dominierte. 28 Die Lektüreübung bildete im Helle-
nismus wie auch in der römischen Kaiserzeit einen unabdingbaren Bestandteil
des rhetorischen Unterrichts. Im Zeitraum zwischen dem dritten und dem ersten
Jahrhundert v. Chr. gewann sie kontinuierlich an Bedeutung, so daß man von
einer regelrechten Tendenz zur »Literarisierung der Rhetorik« sprechen kann. 29 Das
dem Schüler abverlangte Studium der schriftlichen Muster, das zunächst nur die
Werke des jeweiligen Lehrers oder Schulleiters umfaßte, erstreckte sich schließlich
auf eine ganze Reihe von als exemplarisch anerkannten Autoren, zu denen nicht
nur Rhetoren, sondern auch Dichter, Historiographen und Philosophen gehör-
ten.30 Damit verbunden war die sukzessive Herausbildung eines fest umrissenen
Kanons vorbildlicher Redner, die dem Schüler der Rhetorik ein klare Vorstellung
von der Stilreinheit der attischen Redekunst vermitteln sollte. 31 Dort, wo sich
- wie etwa in der attizistischen Bewegung des ersten vorchristlichen Jahrhunderts
- diese Tendenzen zu einem doktrinären Klassizismus verhärteten, konnte es leicht
geschehen, daß die ursprüngliche pädagogische Zielsetzung der Lektüreübung
aus dem Blickfeld geriet: Anstatt die Urteilskraft und das Reflexionsvermögen des
angehenden Redners zu schulen und ihn somit auf die rhetorische Praxis in realen
Lebenssituationen vorzubereiten, wurde er dazu genötigt, sich den normativen
Stilprinzipien einer längst vergangenen Zeit bedingungslos zu unterwerfen und
das Vorbild in seinen äußeren, sprachlichen Eigentümlichkeiten, nicht jedoch in
seinem der oratorischen Leistung zugrundeliegenden Kunstverstand zu imitieren. 32
Mit seinem Anspruch auf verbindliche Geltung, der für jede noch so abseitige
stilistische Besonderheit des Musters erhoben wurde, stellte das pädagogische
Verfahren der Nachahmung kein praktisches Gegengewicht zur Theorie mehr dar,
sondern es drohte zu einer bloßen Extension des dogmatischen Regelsystems zu
verkümmern. Auf der anderen Seite jedoch wurden die am praktischen Nutzen
der Redekunst interessierten Rhetoriklehrer gerade durch die Exzesse des Klassi-
zismus dazu herausgefordert, die eigentliche Zielsetzung der Lektüreübung wieder
in Erinnerung zu rufen und sie präziser zu beschreiben. Ihren klarsten Ausdruck
findet diese Zielsetzung in der Institutio oratoria des römischen Rhetorikers Marcus
Fabius Quintiiianus.

28 Alexandria Ν. Cizek: Imitatio et tractatio. Die literarisch-rhetorischen Grundlagen der Nach-


ahmung in Antike und Mittelalter. Tübingen 1994. S. 2.
25 M. Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike. S. 185.
30 Vgl. ebd. S. 153f.; G. Kennedy: The Art of Persuasion in Greece. S. 2 6 7 - 2 7 1 , S. 332f.

" Zum Kanon der zehn attischen Redner vgl. G. Kennedy: The Art of Persuasion in Greece.
S. 125
12 Zum starren Klassizismus insbesondere der apollodoreischen Fraktion innerhalb des Attizismus

vgl. M. Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike. S. 190f.


216 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Copia und iudicium


Das erklärte Bestreben Quintilians besteht darin, den Schüler der Redekunst mit Hilfe
seines Lehrbuchs nicht nur in die Theorie (»scientia«) der Rhetorik einzuführen, ihm
nicht bloß das abstrakte und spitzfindige Regelwerk (»nudae illae artes«) an die Hand
zu geben, sondern seine praktische Redefähigkeit (»facundiam«) und seine Redekraft
(»vires«) auszubilden.53 Zu diesem Zweck ergänzt er die Exposition der Kunstlehre
durch eine ausführliche Darstellung der rhetorischen Übung, der ein ganzes Buch
seines großen Werkes gewidmet ist.34 Innerhalb dieses X. Buches der Institutio ora-
toria nimmt die Erörterung des Lesens einen breiten Raum ein. Die in der Institutio
beschriebene Lektüreübung orientiert sich in ihren Grundzügen noch immer an der
sophistischen und isokratischen Verfahrensweise, doch vieles, was bei den griechischen
Rhetoren nur in Ansätzen erkennbar ist, wird von Quintilian entfaltet, expliziert und
einer vertiefenden Betrachtung unterzogen, wobei er auf den Erfahrungsschatz von
vier Jahrhunderten rhetorischer Übungspraxis zurückgreifen kann. Quintilian erläutert
insbesondere den Zusammenhang zwischen Lektüre, Wiederholung, Reflexion und
Habitusbildung, der in der sophistischen paideia bereits angelegt ist. Er zeigt auf, was
die Lektüre zur Ausbildung der rhetorischen Fertigkeit beitragen kann — jener »firma
quaedam facilitas, quae apud Graecos hexis nominatur«.35 Da er zudem in Anlehnung
an Isokrates und Cicero die Auffassung vertritt, daß nur ein »vir bonus« auch ein guter
Redner werden kann, da die Ausprägung der rhetorischen hexis mithin die sittlich-
moralische Formung des Charakters mit einschließt,36 haben seine Ausführungen zur
Lektüreübung auch fur die philosophische Selbsttechnologie Modellcharakter.
Der Zweck der rhetorischen Lektüreübung besteht laut Quintilian darin, den
angehenden Redner mit einer »copia rerum ac verborum« auszustatten - mit einer
Fülle von Sachkenntnissen, von Argumenten und Ideen einerseits, mit einem reichen
Wortschatz, einem Fundus an Ausdrucksmitteln und Redefiguren andererseits.37 Es
hat also zunächst den Anschein, als diene die Lektüre lediglich der Ansammlung von
Material, nicht aber der Ausbildung einer Fähigkeit. Doch dieser Schein trügt. Schon
durch die Verwendung des Begriffs copia weist Quintilian darauf hin, daß er mehr im
Sinn hat als die bloße Akkumulation eines Vorrats an Ideen und Ausdrücken. Das

33 M. Fabii Quintiliani Institutionis Oratoriae Libri Duodecim. Edited by Μ. Winterbottom.


2 vols. Oxford 1970. Bd. 1.1. Prohoemium 23. — Die deutsche Ubersetzung der lateinischen
Zitate entnehme ich der folgenden Ausgabe: Marcus Fabianus Quintiiianus: Ausbildung des
Redners. Zwölf Bücher. Hg. und übersetzt von Helmut Rahn. 2 Bde. Darmstadt 3 1995.
34 Den Stellenwert der exercitatio im Rahmen der Institutio oratoria erörtern James J. Murphy:
Introduction. In: Quintilian on the Teaching of Speaking and Writing. Translations from
Books One, Two and Ten of the Institutio oratoria. Edited by James J. Murphy. Carbondale
and Edwardville 1987. S. ix—xlviii, hier: S. xxxiv—xxxviii; Lucia Calboli Montefusco: Quintilian
and the Function of the Oratorical exercitatio. In: Latomus 55 (1996). S. 615—625.
35 Quintilian: Institutio oratoria X. 1.1.
36 Zur moralischen Fundierung der Redekunst vgl. ebd. 1.1.9ff., XII. 1, XII.2 und passim.
37 Ebd. X. 1.5.
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 217

Wort, das von dem Nomen ops abgeleitet ist, bezeichnet zum einen den Überfluß und
die unerschöpfliche Menge, den schieren Reichtum angehäufter Vorräte; aufgrund
einer metonymischen Verschiebung markiert es aber zugleich auch die Möglichkeit,
Fähigkeit, Kraft und Macht, die dem Besitzer von Reichtümern gegeben ist.38 In dieser
Doppeldeutigkeit korrespondiert es in etwa dem deutschen Begriff des >Vermögens<.
Mit der copia dicendi eines Redners ist daher nicht nur der von ihm angesammelte
Redestoff, sondern vor allem auch sein souveränes Sprach- und Ausdrucksvermögen,
seine Beherrschung der rhetorischen Kunst sowie seine Fähigkeit gemeint, die persua-
sive Macht der Rede frei- und in effektives Sprachhandeln umzusetzen.35 Das Ziel der
Lektüreübung — der Erwerb einer copia dicendi — deckt sich somit weitgehend mit dem
Ziel, das die rhetorische institutio überhaupt verfolgt. Tatsächlich belächelt Quintilian
diejenigen, die sich als bloße Sammler von Ideen und Formulierungen betätigen, diese
dann auswendig lernen und sich zu guter Letzt für rhetorisch gebildet und sprachge-
wandt halten: Ein solches Verfahren könne nur zu einer ungeordneten Anhäufung von
Material führen (»turbam [...] congregat«), woraus man wahllos irgend etwas heraus-
greifen müsse; es komme jedoch darauf an, sich Fülle zugleich mit Urteilskraft (»copia
cum iudicio«) anzueignen, denn nur wer klug und überlegt mit seinen Reichtümern
umgehe, sei dazu in der Lage, die Kraft der Rede (»vim orandi«) zu entfesseln.40
Urteilskraft und Überlegung, indicium und consilium, stellen somit die rheto-
rischen Kernvermögen dar.41 Ohne sie sind die angehäuften Schätze — und seien
sie noch so kostbar - nutzlos und tot. Wörter - so begründet Quintilian seine
Behauptung - besitzen ihre Kraft nämlich nicht von sich aus. An sich sind sie
nichts als Klang. Wörter sind vielmehr nur so gut oder schlecht, so kraftvoll oder
wirkungslos, wie sie passend oder unpassend gesetzt werden.42 Die Entscheidung

38 Thesaurus linguae latinae. Leipzig 1900fF. Vol IV. Sp. 898, Sp. 909.
" Vgl. Terence Cave: The Cornucopian Text. Problems of Writing in the French Renaissance.
Oxford 1979. S. 5: »The phrase >copia dicendi<, or even >copia< alone, is a ubiquitous syno-
nym for eloquence; coupled with other words from the same semantic domain (abundantia,
ubertas, varietas, vis, facultas, facilitas), it suggests a rich, many faceted discourse springing
from a fertile mind and powerfully affecting its recipient. It transcends specific techniques
and materials, pointing towards an ideal of 'articulate energys of speech in action.« - Zum
Doppelsinn der rhetorischen copia (Anhäufung von Material einerseits, Fähigkeit und Kraft
der Rede andererseits) vgl. auch J.-C. Margolin / Α. Μ.: Copia. In: Historisches Wörterbuch
der Rhetorik. Bd. 1. Sp. 385-394, hier: Sp. 386.
40 Quintilian: Institutio oratoria X. 1.8.
41 Quintilian weist der Urteilskraft und der Überlegung eine elementare Bedeutung für die Re-
dekunst zu. Das iudicium ist ein unverzichtbarer Bestandteil aller rhetorischen oßicia (III.3.5f.,
VI.5.1 f.). Wer die Fähigkeit des consilium entbehrt, dem ist die Kenntnis der Kunstregeln von
keinerlei Nutzen (II. 13.2). Sie besitzt die Priorität vor allen anderen Bestandteilen der Rhe-
torik und integriert diese in den umfassenden Bereich der praktischen Lebensklugheit: »Illud
dicere satis habeo, nihil esse non modo in orando, sed in omni vita prius consilio, frustraque
sine eo tradi ceteras artis, plusque vel sine doctrina prudentiam quam sine prudentia facere
doctrinam.« (VI.5.11.).
42 »[Verba] non sua natura sint bona aut mala (nam per se soni tantum sunt), sed prout opportune
proprieque aut secus conlocata sunt« (X.2.13).
218 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

darüber, welches Wort und welches Argument an welcher Stelle das passende ist,
richtet sich nach dem Kontext der sprachlichen Äußerung, dem situativen, prag-
matischen Kontext einerseits, auf den der Redner mit seinem elokutionären Akt
einzuwirken versucht, dem textinternen Kontext andererseits, in den sich jeder
Ausdruck und jeder Gedanke einfügen muß. Zuständig für diese Entscheidung ist
das Urteilsvermögen. Die Lektüre, so erklärt Quintilian, vermag das iudicium zu
schulen, weil der musterhafte Text nicht bloß einen Fundus an Ausdrücken bereit-
stellt, sondern darüber hinaus exemplarisch ihre treffende Anwendung vorführt.
Er macht sichtbar, welcher Ausdruck an welcher Stelle der geeignete ist: »non
enim solum nomina ipsa rerum cognoscemus hac cura, sed quod quoque loci sit
aptissimum.« 43 Um einen solchen Sinn für das Treffende und Passende entwickeln
zu können, genügt es eben nicht, beispielhafte Formulierungen oder Argumente
isoliert zu erfassen und aufzuspeichern. Das Wirken der Urteilskraft läßt sich nur
dadurch nachvollziehen, daß man die einzelnen Ausdrücke und Gedanken als
Bestandteile eines Ganzen, im umfassenden Kontext ihres Gebrauchs betrachtet.
Quintilian fordert daher den angehenden Redner dazu auf, die musterhaften
Redentexte ganz (»ex integro«) und im Hinblick auf die ihnen zugrundeliegende
Wirkungsstrategie zu studieren, anstatt sie als Reservoir oratorischer Versatzstücke
anzusehen. 44 Es gilt zu erkennen, wie planvoll die Vorbilder ihre Rede angelegt,
wie sorgfältig und geschickt sie ihre Argumente und Ausdrücke ausgewählt haben
- »quod consilium, quae dispositio, quam omnia, etiam quae delectationi videan-
tur data, ad victoriam spectent«. 45

Lektüreübung und imitatio


Doch inwiefern trägt gerade die Lektüre zur Ausbildung der vis orandi bei? Welchen
Vorteil besitzt der Umgang mit schriftlich fixierten Texten gegenüber dem unmit-
telbaren, persönlichen Umgang mit dem vorbildlichen Redner? In der Tat macht
Quintilian zwischen diesen beiden Formen der Übung zunächst keinen Unterschied:
Der Schüler der Rhetorik, so behauptet er, erwirbt die copia dicendi durch Lesen
und Hören, »legendo atque audiendo«. 46 Sehr bald jedoch sieht sich Quintilian
dazu genötigt, zwischen dem Lesen und dem Anhören von Reden zu differenzieren.
Dabei zeigt es sich, daß ein nachhaltiger Übungseffekt nur durch die systematisch
betriebene Lektüre zu erzielen ist. Fürderhin ist in der Institutio dann auch nur noch
von der Leseübung, nicht mehr von der Übung durch Hören die Rede.

43 Ebd. X. 1.8. ( » [ D ] e n n nicht allein die Sachbezeichnungen selbst werden wir durch diese
B e m ü h u n g kennenlernen, sondern auch, was die passendste Stelle für sie ist.«).
44 Ebd. X. 1.20.
45 Ebd. X . 2 . 2 7 . ( » [ W ] i e planvoll, wie geschickt in der Anlage; wie alles, auch was nur zur Un-
terhaltung gebracht zu sein scheint, auf den Sieg zielt«.).
46 Ebd. X. 1.8.
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 219

Denn das Hören ist dem Lesen insofern unterlegen, als der mündliche Vortrag
geradezu daraufhin angelegt ist, das Urteilsvermögen des Rezipienten zu betrügen:
»Excitat qui dicit spiritu ipso, nec imagine ambitu rerum sed rebus incendit. Vivunt
omnia enim et moventur, excipimusque nova ilia velut nascentia cum favore ac
sollicitudine«.47 Was der seine Kunst virtuos beherrschende Rhetor - und nur ein
solcher taugt ja zum Vorbild - in lebendiger, mündlicher Rede vorträgt, wirkt so,
als werde es unmittelbar im Augenblick des öffentlichen Auftritts hervorgebracht,
als sei es ein Produkt spontaner Erfindung. Die gesprochene Rede gibt sich den
Anschein der Natur; sie verschleiert den Kunstverstand, der ihrer Komposition
zugrunde liegt.48 In ihren intensivsten Momenten erzeugt sie gar den Eindruck, als
stünden die Gegenstände, von denen sie handelt, dem Hörer direkt vor Augen. Mit
Hilfe des von Quintilian nachdrücklich empfohlenen Stilmittels der enargeia läßt
der Rhetor den Hörer zeitweilig vergessen, daß seine Rede aus Sprache verfertigt
ist. 4 ' Der lebendige Vortrag tendiert dazu, alles das zu verdecken, was in der Rede
auf bewußter Wahl, Überlegung, Kunstaufwand und strategischem Kalkül beruht.
Er verbirgt das produktive Wirken des Reflexionsvermögens und schläfert auf diese
Weise auch die Urteilskraft des Rezipienten ein. Hinzu kommt, daß der Hörer als
Teil eines größeren Publikums durch die Meinung seiner Mithörer beeinflußt wird.
Der Beifall oder das Mißfallen der Mehrheit kann ihn genauso mitreißen wie der
unaufhaltsame, dynamische Redefluß des Vortragenden; beides hält ihn davon ab,
seiner eigenen Meinung zu vertrauen oder von seinem eigenen Urteilsvermögen
überhaupt Gebrauch zu machen. 50
Das Hören öffentlicher Vorträge ist also ein wenig geeignetes Mittel, um die
noch unentwickelte Urteilskraft des angehenden Redners zu schulen. Das Urteil
des Lesers hingegen ist sicherer (»[ί]η lectione certius judicium«); 51 bei ihm ist die
Gefahr weniger groß, der mitreißenden Kraft der Rede zu erliegen. Das ist nicht
nur darauf zurückzuführen, daß der Leser einer einsamen Tätigkeit nachgeht
und sich auf diese Weise dem Einfluß fremden Urteils entzieht. Förderlich auf
die Aktivität seines Reflexionsvermögens wirkt sich zudem die spezifische Mate-
rialität des Mediums aus, das ihm die Rede zugänglich macht. Laut Quintilian
wird der Leser anders als der Hörer nicht unmittelbar mit den Sachen selbst oder

47
Ebd. X. 1.16. (»Erregend wirkt beim Redner schon der lebendige Hauch seines Vortrags; nicht
durch ein Abbild der Dinge und auf einem Umweg, sondern unmittelbar durch die Dinge
[von denen er spricht] wirkt er zündend. Alles ist nämlich lebendig und bewegt sich, und wir
nehmen das Neue, was er bringt, mit Freude und Bangen gleichsam so auf, als käme es eben
zur Welt.«).
48
Vgl. auch ebd. V. 14.32: Der Redner möge dafür Sorge tragen, daß das, was er sagt, im Moment
zu entstehen und aus seiner eigenen Natur hervorzukommen scheint, es gilt zu verhindern, daß
es durch seine handwerksmäßige Faktur den Einfluß der Kunstlehre und der Schule verrät.
Enargeia undperspicuitas gelten Quintilian als die herausragenden Stilqualitäten der wirkungs-
vollen Rede. Vgl. ebd. VIII.2, VIII.3.6lff.
50
Ebd. X. 1.18.
51
Ebd. X. 1.17.
220 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

mit solchen Ausdrücken konfrontiert, die den res gleichsam naturwüchsig zu ent-
springen scheinen, die diese folglich klar und eindeutig bezeichnen. Er nähert sich
den Dingen vielmehr über einen Umweg, beziehungsweise über ein Bild: »imagine
ambitu rerum«.52
Der Quintilian-Philologie gilt diese Textstelle als eine Crux. Die textkritischen
Apparate der Ausgaben von Ludwig Radermacher und M. Winterbottom ver-
zeichnen eine ganze Reihe von Vorschlägen für Konjekturen, von denen diejenige
G. Ammons den größten Anklang gefunden hat. Ammon empfiehlt, das Nomen
ambitu durch das Adjektiv ambigua zu ersetzen.53 Demnach wäre die Textstelle so
zu verstehen: Der Leser einer geschriebenen Rede hat es mit einem zweideutigen,
unklaren und undeutlichen Bild der Dinge zu tun. Beiden Textvarianten — der
geschriebenen Rede als Umweg und der geschriebenen Rede als zweideutigem
Bild - kann man ein Verständnis abgewinnen, das sich gut in den Argumentati-
onsgang Quintilians einfügt. Zum einen ist es möglich, die Schrift als ambitus zu
bezeichnen: Wer liest, anstatt zu hören, begibt sich auf einen Umweg, denn im
Gegensatz zur mündlichen Rede exponiert die Schrift ihre Medialität, erzeugt also
nicht den täuschenden Eindruck, unmittelbar die Dinge selbst zu präsentieren.
Zum anderen macht es aber durchaus auch Sinn, die schriftliche imago der Rede
als ambigua zu charakterisieren, insbesondere dann, wenn man sich die besonderen
Bedingungen antiker Schriftkultur vor Augen führt. Denn das Schriftbild, das die
antiken Volumina darbieten, besitzt aufgrund der fehlenden Worttrennung und der
nur rudimentär ausgeprägten Interpunktion tatsächlich eine dunkle, verwirrende
Mehrdeutigkeit. Während die neuzeitliche pagina den Text visuell aufbereitet, ihn
in semantische Einheiten zergliedert und die Ambiguitäten weitgehend eliminiert,
während sie auf diese Weise einer passiven Rezeptionshaltung Vorschub leistet, die,
wenn nicht derjenigen des Zuhörers, so doch derjenigen des Zuschauers ähnelt,
bürdet die antike scriptio continua dem Leser eine mühsame analytische Arbeit auf.
Ausgehend von der diffusen Masse der Schriftzeichen, muß der antike Leser im
Zuge der lectio - einer Vorstufe zur eigentlichen Aneignung des Textsinns - einen
gegliederten Text allererst herstellen.54 Dabei hat er sich dort, wo - bedingt durch
die Unklarheiten des Schriftbilds - Mehrdeutigkeiten auftreten, zwischen ver-
schiedenen Möglichkeiten zu entscheiden. Um die geschriebene Rede überhaupt
semantisch aufschlüsseln zu können, ist der Leser somit genötigt, die Kompositi-
onsarbeit des Autors in ihren Grundzügen nachzuvollziehen. Die antike Lektüre

" Ebd. X . 1.16.


53 G. Ammon: Bericht über die Litteratur zu Quintilian (inst, or.) aus den Jahren 1 8 8 8 - 1 9 0 1 .
In: Jahresbericht über die Fortschritte der classischen Altertumswissenschaft. Begründet von
Conrad Bursian, hg. von L. Gurlitt und W. Kroll. Bd. 109 ( 1 9 0 1 ) . Leipzig 1902. S. 8 6 - 1 4 4 ,
hier: S. 120. — Radermacher hat die Konjektur Ammons in das Textcorpus seiner kritischen
Ausgabe übernommen. Vgl. M. Fabi Quintiliani Institutionis Oratoriae Libri XII. Hg. von
Ludwig Radermacher. Leipzig 1 9 5 9 (BibliothecaTeubneriana). Bd. 2. S. 2 3 5 .
54 Vgl. P. Saenger: Space between Words. S. 8f. - Vgl. auch Kapitel III. 1 dieser Untersuchung.
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 221

ist ein komplexer, mehrstufiger Prozeß, an dem die Urteilskraft und die Überlegung
von Anfang an beteiligt sind. Die spezifischen Bedingungen antiker Schriftkommu-
nikation stellen sich der Möglichkeit einer kursorischen, oberflächlichen Lektüre
in den Weg.55 Wer eine geschriebene Rede liest, wird schon allein aufgrund dieser
Bedingungen zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Text genötigt.
Im Unterschied zu Piaton, der die Unzulänglichkeiten der scriptio continua mit
technischen Hilfsmitteln (durch den Gebrauch von paradeigmata) überwinden
und eine visuelle Form der Lektüre programmieren möchte — eine Lektüre, die es
dem Leser erlaubt, den Text wie ein Schauspiel zu rezipieren - , begrüßt Quintilian
diese Unzulänglichkeiten, da sie den Leser dazu nötigen, seine Urteilskraft zu ge-
brauchen und sich mit der Faktur des Textes auseinanderzusetzen. Piaton will den
gegenständlichen Charakter der Schrift überspielen, Quintilian dagegen versucht,
ihn der Schulung des iudicium dienstbar zu machen. Seiner Ansicht nach kann
die Lektüreübung in mehrerlei Hinsicht dazu beitragen, das Urteilsvermögen des
angehenden Redners auszubilden. Schon der Lektürevorgang selbst zwingt ihn zu
einem aufmerksamen, reflektierten Umgang mit dem Text. Der Zögling, der mit der
imago ambigua des Geschriebenen konfrontiert wird, ist nicht der passive Empfänger
eines fertigen Produkts; er muß sich vielmehr als Ko-Produzent der Rede betätigen.
Die Anstrengung, die die Entzifferung der scriptio continua ihm abverlangt, weckt
in ihm das Bewußtsein dafür, daß die Elemente der Rede und ihre Stellung im Text-
gefüge auf einen Akt der Wahl zurückgehen und mit strategischem Kalkül gesetzt
sind. Weil der Leser seinem Vorbild nicht als Teil eines Kollektivs, sondern als auf
sich allein gestelltes Individuum gegenübertritt, kann die Lektüre ihm des weiteren
dabei helfen, sein iudicium von der Fremdbestimmung durch die Urteile anderer
zu emanzipieren.
Eine gewisse kritische Eigenständigkeit gewinnt das Urteilsvermögen des Lesers
dabei schließlich auch gegenüber dem Muster selbst. Im Gegensatz zum Hörer ist
der Leser nicht dazu gezwungen, dem Tempo zu folgen, das der Redner vorgibt. Ihm
steht die Möglichkeit offen, sich das, was er beim ersten Hören oder Lesen nicht
genau zu erfassen vermochte, später erneut vorzunehmen und einer gründlicheren
Betrachtung zu unterziehen. Wie der Adept der sophistischen Redekunst soll sich
auch der Rhetorikschüler Quintilians die Tatsache zunutze machen, daß der ge-
schriebene Text auf die Fragen, die man ihm stellt, stereotyp immer nur dasselbe
wiederholen kann:
Lectio libera est nec ut actionis impetus transcurrit, sed repetere saepius licet, sive dubites sive
memoriae penitus adfigere velis. Repetamus autem et tractemus et, ut cibos mansos ac prope

55
Sie stellen sich ihr in den Weg, schließen sie jedoch nicht ganz aus. Dies geht aus den Unter-
suchungen von Jesper Svenbro hervor, der Belege für eine in der gebildeten Elite anzutreffende
Praxis stummer, visueller Lektüre aus der klassischen Periode der griechischen Antike anführt.
Vgl. J. Svenbro: Phrasikleia. S. 185f. und passim.
222 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

liquefactos demittimus quo facilius digerantur, ita lectio non cruda sed raulta iteratione mollita
et velut ut confecta memoriae imitationique tradatur. 56

Quintilian bedient sich einer Bildlichkeit, die in der römischen Kaiserzeit zu einem
Topos der rhetorischen wie auch der philosophischen institutio avanciert und diesen
Status bis weit in die Neuzeit hinein beibehält. 57 Die Metaphorik der Inkorporation,
der Nahrungsaufnahme und der Verdauung verweist auf die Praxis der meditativen
Lektüre. Sie veranschaulicht die besondere Intensität, mit der sich der Leser eine tex-
tuelle Vorlage zu eigen macht, wie auch den Transformations- und Bildungsprozeß,
der damit verbunden ist. Die Wiederholung ist das Α u n d Ο dieser Lektüretechnik.
Spielt die Wiederholung schon in der gewöhnlichen Lektürepraxis eine wichtige Rol-
le — die sinnerschließende narmtio redupliziert den vorausgehenden Akt der lectio,
welche die semantischen Einheiten aus dem Schriftkontinuum herauspräpariert - , so
erhebt Quintilian sie zu einem bewußt praktizierten Verfahren der rhetorischen exer-
citatio. Er fordert den angehenden Redner dazu auf, sich nicht durch die oberfläch-
liche Beschäftigung mit vielen Autoren zu zerstreuen, sondern den eigenen Geist
durch die wiederholte Lektüre einiger weniger herausragender Muster zu formen.
Vielfache statt vielfältiger Lektüre, so lautet seine Devise — »optimis adsuescendum
est et multa magis quam multorum lectione formanda mens«. 58
Wohlgemerkt: Quintilian spricht hier von der mens, nicht bloß von der memo-
ria. Die Funktion der Wiederholung beschränkt sich nicht darauf, das Schatzhaus
des Gedächtnisses mit herausragenden Beispielen der Beredsamkeit anzufüllen, auf
die m a n im Bedarfsfall zurückgreifen kann. Der wiederholte Rückgriff soll dem
Ü b e n d e n vielmehr zu einer tieferen Einsicht in die rhetorische Verfaßtheit des
Mustertextes verhelfen. Er soll erkennen, worin die besondere Qualität des Musters

56
Quintilian: Institutio oratoria X. 1.19. (»Die Lektüre ist unabhängig und läuft nicht mit dem
Ungestüm der vorgetragenen Rede ab, sondern sie kann immer wieder zurückgreifen, falls
man Zweifel hat oder es dem Gedächtnis fest einprägen will. Zurückgreifen aber wollen wir
u n d grundsätzlich es immer wieder neu vornehmen, und wie wir die Speisen zerkaut und fast
flüssig hinunterschlucken, damit sie leichter verdaut werden, so soll unsere Lektüre nicht roh,
sondern durch vieles Wiederholen mürbe und gleichsam zerkleinert unserem Gedächtnis und
Vorrat an Mustern [zur Nachahmung] einverleibt werden.«).
57
Der Vergleich der Lektüre-meditatio mit den Vorgängen der Ingestion und der Digestion
begegnet im Kontext der philosophischenpaideia bei Epiktet (Diatriben II.9) und bei Seneca
(Ad Lucilium epistolae morales, ep. 84.6f.). Diese Bildlichkeit steht in enger Beziehung zum
Gleichnis von der Biene, die von Blüte zu Blüte fliegt, um Nektar einzusammeln, und die das
aus verschiedenen Quellen Zusammengetragene in eine Substanz, den Honig, verwandelt.
Seneca führt dieses Gleichnis im 84. Briefseiner Epistulae morales aus (84.3); auch Lukrezund
Horaz greifen darauf zurück; es findet sich aber bereits bei Isokrates, und zwar bezeichnen-
derweise im Rahmen einer protreptischen Rede, in der der Rhetor eine Blütenlese ethischer
Maximen präsentiert (vgl. Rede an Demonikos. In: Sämtliche Werke. Bd. 1. S. 9—12, § 52).
Zur Geschichte des Bienengleichnisses siehe auch Jürgen von Stackelberg: Das Bienengleichnis:
Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen imitatio. In: Romanische Forschungen 68 (1956).
S. 271—293; J. H . Waszink: Biene und Honig als Symbol des Dichters und der Dichtung in
der griechisch-römischen Antike. Opladen 1974.
58
Quintilian: Institutio oratoria X. 1.59.
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 223

begründet ist, welches seine spezifischen Vorzüge und Mängel sind. Durch repetitio
und tractatio, durch die wiederholte, abwägende Betrachtung der musterhaften Rede
im ganzen und die genaue Überprüfung einzelner Passagen soll sich der Leser einen
Vorrat an Beweis- und Ausdrucksmitteln, vor allem aber einen Einblick in die Art
und Weise verschaffen, wie man von diesen Mitteln einen effektiven und klugen Ge-
brauch machen kann. Die wiederholte abwägende Betrachtung, durch die der Leser
das Wirken der Urteilskraft seines Vorbilds mittels seines eigenen Urteilsvermögens
nachzuvollziehen sucht, hat zugleich auch einen Trainingseffekt. Sie schult sein
iudicium. Nicht das Gedächtnis, sondern die Urteilskraft ist das Verdauungsorgan,
das die Assimilation des Vorbilds, die Transformation der fremden in die eigene vis
orandi, bewerkstelligt.
Die intensiv betriebene Lektüre vorbildlicher Redetexte stellt also ihrerseits
bereits eine Form der Nachahmung dar. Dadurch, daß der Leser die Exempel der
Beredsamkeit immer wieder durchkostet, sie kritisch begutachtet und analysiert,
gleicht er sich ihnen in gewisser Weise an. Er übt seinen eigenen Kunstverstand,
indem er sich den fremden Kunstverstand bewußt macht, der in den Mustertext
eingegangen ist. Die innere, in der Zurückgezogenheit des privaten Studiums be-
triebene Aktivität der Reflexion und der Überlegung gewinnt somit gegenüber der
äußeren Tätigkeit des öffentlichen Deklamierens ein Übergewicht: Der Schüler der
Rhetorik lernt vor allem dadurch reden, daß er nachdenkt und liest, nicht mehr nur
dadurch, daß er redet.
Diese Tendenz zur Verinnerlichung von Übung und Nachahmung findet ihren
Niederschlag auch in den Ausführungen, die Quintilian - unmittelbar im Anschluß
an seine Erörterung der Lektüre - dem Problem der imitatio widmet. Denn dabei
richtet er seine Aufmerksamkeit nicht etwa auf die äußere Durchführung des imi-
tatorischen Akts, auf die Performanz einer Rede, in der eine Ähnlichkeit mit dem
Muster zur Geltung gelangt. Sein ganzes Interesse gilt vielmehr der kognitiven Akti-
vität des Schülers, die der Arbeit der Nachbildung vorangehen muß. Diese kognitive
Aktivität — die bewußt vollzogene Wahl eines Vorbilds aufgrund der klaren Einsicht
in seine Vorzüge - markiert die eigentliche imitatorische Leistung: »primum est ut
quod imitaturus est quisque intellegat, et quare bonum sit sciat.«59 Der angehende
Redner soll mit gründlichster Urteilskraft (»exactissimo iudicio«) prüfen, welche
Muster zur Nachahmung geeignet sind und was an ihnen der Nachbildung wert ist.60
Wer diese Prüfung unterläßt, sprich: wer sich seinem Muster gleich auf den ersten
Blick (»ad primum [...] aspectum«) hingibt, der mag zwar in seiner Nachbildung eine
äußerliche Übereinstimmung in puncto Wortwahl und Sprachrhythmus (»verbis
atque numeris«) erzielen, doch das, worauf es wirklich ankommt, das innere Vermö-

59
Ebd. X.2.18. (»Das erste also ist es, daß jeder eine klare Vorstellung von dem habe, was er
nachahmen will, und wisse, warum es gut ist.«).
60
Ebd. X.2.14.
224 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

gen des Ausdrucks und die Kraft der Erfindung (»vim dicendi atque inventionis«),
wird er unweigerlich verfehlen.61
Quintilian konstruiert eine signifikante Analogie, um diese unzureichende Form
der Nachahmung zu veranschaulichen: Eine imitatio, die nicht auf gründlicher
Einsicht in die Qualitäten des Musters beruht, gleicht jenen Bildern, von denen
Epikur sagt, daß sie der Oberfläche der Körper entströmen. Quintilian bezieht sich
hier auf die atomistische Wahrnehmungstheorie der epikureischen Philosophie.
Demzufolge lösen sich von den Gegenständen permanent kleine >Häutchen< ab (die
jeweils oberste Schicht der Atome), welche vom Auge aufgenommen werden und
auf diese Weise den Sinneseindruck hervorrufen. 62 Eine Nachbildung, die sich nicht
auf intensive Lektürearbeit stützt, bleibt mithin an der Oberfläche; sie dringt nicht
unter die Haut. Dort, im Innern, unter der Haut, ist die wahre Kraft der Beredsam-
keit zu finden. Quintilian vergleicht die Rede des vorbildlichen Rhetors mit dem
durchtrainierten Körper des Ring- oder Faustkämpfers. So charakterisiert er etwa
die Eloquenz des Demosthenes als sehnig und wie mit Muskeln gestrafft; Aischenes
dagegen scheint ihm nicht ganz so muskulös zu sein: »minus strictus est, carnis
tarnen plus habet, minus lacertorum.« 63 Die Metaphorik des athletischen Körpers
verweist zum einen auf die Kraft der Rede, die im Inneren, in den Muskeln und im
Blut konzentriert ist, zum anderen auf die treffsichere Anwendung dieser Kraft in der
Auseinandersetzung mit einem Gegner. Um sich das oratorische Vermögen des Vor-
bilds anzueignen, genügt es nach Ansicht Quintilians nicht, den Körper seiner Rede
von außen zu betrachten. Eine Rezeptionsform, die in Analogie zur epikureischen
Wahrnehmung, zur passiven Aufnahme von Oberflächenbildchen funktioniert, gilt
ihm als inakzeptabel. Der wahre Imitator muß vielmehr die Haut seines Vorbilds
durchstoßen; er muß sich der Kraft des Musters durch eine >kannibalische< Lektüre
bemächtigen.
Das maßgebliche Paradigma des Lesens ist also nicht, wie noch bei Piaton, die
visuelle und auditive Wahrnehmung des Theaterzuschauers, sondern der Vorgang
der Ingestion und der Digestion. Der platonische Dialogleser soll der Illusion erlie-
gen, dem Dialoggeschehen unmittelbar als Zuschauer beizuwohnen. Er wird über
die Künstlichkeit dieser Inszenierung und über seine eigene, aktive Beteiligung daran
hinweggetäuscht. Der Leser Quintilians hingegen wird dazu aufgefordert, die Tech-
niken der Vergegenwärtigung zu durchschauen, die der Rede den Anschein der Un-
mittelbarkeit und des Natürlichen verleihen. Er soll den Kunstverstand erfassen, der
hinter der Rede steht, und sich diesen durch einen wiederholt vollzogenen Akt der
Überlegung, durch das Training seiner Urteilskraft zu eigen machen. Der platonische
Dialogleser vermeint dasjenige passiv wahrzunehmen, an dessen Hervorbringung er

61 Ebd. X . 2 . 1 6 .
62 Vgl. Titus Lucretius Carus: D e rerum natura libri sex. Edited by Cyril Bailey. Oxford 1947.
Vol. 1. I V . 4 8 - 9 7 .
63 Quintilian: Institutio oratoria X. 1.77.
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 225

tatsächlich aktiv beteiligt ist; er ist sich seiner mimetischen Tätigkeit und des daraus
entspringen Habitualisierungseffekts nicht bewußt. Bei Quintilian dagegen ist die
an die Lektüre gekoppelte Nachahmung eine methodisch und reflektiert durchge-
führte Übung, eine Übung des Reflexionsvermögens. Die Übungsaktivität steht
voll unter des Kontrolle des Lesers. Lektüre und imitatio sind keine Instrumente
einer psychischen Fremdsteuerung; sie stellen vielmehr bewußt zu handhabende
Verfahrensweisen — >Selbsttechniken<- dar, mit deren Hilfe der Adept der Rhetorik
formend auf seine mens einzuwirken vermag.

3. Die Rede - ein dissimuliertes Schreiben:


Quintilians Konzeption der Schreibübung

Die Lektüreübung markiert eine Verinnerlichung der oratorischen Praxis — der an-
gehende Rhetor kann sich nun auch dadurch im Reden üben, daß er liest. Doch der
Primat des äußerlichen, mündlichen Vortrags gerät in der Instituio oratoria zugleich
von einer anderen Seite her unter Druck. Wie Quintilian das audire durch das legere
ersetzt, so verdrängt er das dicere durch das scribere. Ein wesentlicher Bestandteil
der Ausbildung zum Rhetor sind seiner Ansicht nach die Schreibübungen. Auch
sie stellen keine Innovation der kaiserzeitlichen Rhetorik dar, wenngleich ihre Ge-
schichte nicht ganz so weit zurückreicht wie diejenige der Lektüreübung. Während
die systematisch betriebene Lektüre von Musterreden ihre Ursprünge in der rhetori-
schen paideia sophistischer und isokratischer Prägung hat, ist die zu Übungszwecken
unternommene schriftliche Abfassung von Texten für die klassische Periode des
griechischen Altertums nicht unmittelbar bezeugt. Sie taucht nachweisbar erst im
hellenistischen Zeitalter auf, und zwar in Gestalt der sogenannten progymnasmata,
einer »gestufte[n] Reihe von Vorübungen zu einzelnen Teilen und Elementen einer
Rede«.64 Obwohl die progymnasmata rhetorische Fähigkeiten vermitteln sollen, sind
sie kein Bestandteil der eigentlichen rhetorischen Unterweisung. Sie haben ihren
Platz im Rahmen des Grammatikunterrichts, der im dreigliedrigen hellenistischen
Schulsystem die Zwischenposition zwischen dem Elementarunterricht und der
rhetorischen Ausbildung einnimmt und dem Schüler die Kenntnis der griechischen
Sprache und Literatur nahebringen soll.65 Die progymnasmata bilden eine Art Pro-
pädeutik der Redekunst; sie bereiten den Schüler auf den Unterricht beim Rhetor
vor.
Die eigentliche rhetorische Unterweisung ruht im hellenistischen Zeitalter auf
drei Säulen: der zu einem umfassenden Regelsystem ausgearbeiteten Kunstlehre,

64 M. Kraus: Exercitatio. Sp. 74.


65 Zur Herausbildung eines dreistufigen Schulsystems im Hellenismus vgl. H.-I. Marrou: Histoire
de l'education dans l'antiquite. S. 139—309. Zu den progymnasmata als einem Bestandteil des
Grammatikunterrichts vgl. ebd. S. 238f., S. 273-278.
226 Vom somatischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

der Lektüre von Mustertexten und der praktischen Übung im Deklamieren, dem
Vortrag von fiktiven Beratungs- und Gerichtsreden.66 Der hellenistische Rhetorik-
schüler übt sich demnach vor allem durch legere und dicere. Im ersten vorchristlichen
Jahrhundert mehren sich jedoch die Anzeichen dafür, daß die schriftliche Kompo-
sitionsübung Einzug in die eigentliche Domäne des Rhetorikunterrichts hält und
dem dicere zumindest gleichberechtigt an die Seite tritt. So wendet sich etwa Cicero
scharf gegen das in manchen Rhetorikschulen praktizierte Verfahren, den Schüler aus
dem Stegreif deklamieren zu lassen. Er attackiert das dieser Praxis zugrundeliegende
pädagogische Prinzip - die Ansicht nämlich, man könne sich durch Reden zum
Redner bilden (»dicendo homines, ut dicant, efficere solere«) — und setzt ihm sein
eigenes Programm rhetorischer institutio entgegen: »Stilus optimus et praestantissi-
mus dicendi effector ac magister« - nicht indem er redet, sondern indem er schreibt,
erwirbt der Adept der Rhetorik seine Befähigung.67

Das schützende Gehäuse der Schrift

Quintilian zitiert diese Äußerung seines Leitbilds Cicero und stellt sie seinen
Ausführungen über den Sinn und Nutzen der rhetorischen Schreibübung voran.68
Zwar betrachtet er die Fähigkeit, aus dem Stegreif zu reden, als die Krone der Be-
redsamkeit. Doch um diese Fähigkeit zu erlangen, gibt es seiner Auffassung nach
für den angehenden Redner nur einen Weg: Er muß sein Ausdrucksvermögen durch
gründliche und fleißige Arbeit mit dem Schreibstift schulen.69 Der künftige Rhetor
wird dazu aufgefordert, einen Kursus von Schreibübungen zu absolvieren, der nicht
nur Elemente aus dem Repertoire derprogymnasmata, sondern auch die schriftliche
Ausarbeitung von Deklamationen umfaßt.70
Quintilian beschäftigt sich eingehend mit der Frage, wie der angehende Redner
bei seinen Schreibübungen verfahren, an welchem Ort er sie vollziehen und welcher
Materialien er sich dabei bedienen soll. Alle diese scheinbar äußerlichen Faktoren
tragen dazu bei, den Endzweck der Schreibübung zu erreichen. Dieser besteht wie
im Falle der Lektüreübung darin, das Zentralorgan der rednerischen Fertigkeit, die
Urteilskraft, auszubilden und zu festigen. Die Verwendung der Schrift soll den Rhe-
torikschüler vielmehr dazu veranlassen, bei der Produktion seiner eigenen Reden mit
Überlegung zu verfahren und von seinem Urteilsvermögen Gebrauch zu machen.
Denn indem er das, was er sich ausdenkt, niederschreibt, anstatt es unmittelbar
vorzutragen, tritt er zu seiner Rede in Distanz. Der Redner vergegenständlicht seine

66 Vgl. G. Kennedy: T h e Art o f Persuasion in Greece. S. 2 7 1 .


67 Vgl. Marcus Tullius Cicero: De oratore libri tres. Edited by Augustus S. Wilkins. Amsterdam
1962 (Ndr. der Ausg. Oxford 1892). I.149f.
68 Quintilian: Institutio oratoria X.3.1.
69 Ebd. X . 3 . 2 , X.7.7.
70 Vgl. ebd. X . 5 .
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 227

Tätigkeit - die Rede löst sich von ihm ab, die energeia verwandelt sich in ein ergon.
Diese Distanz bringt das Reflexionsvermögen ins Spiel, und zwar nicht erst dann,
wenn der Übende sein Werk vollendet und seine Rede vollständig aufgezeichnet
hat, sondern bereits im Vollzug der Kompositions- und Schreibtätigkeit. Da die
Hand, die der Wachstafel Schriftzeichen einprägt, langsamer ist als das gedanken-
und wörtererzeugende Vermögen, bremst sie den Fluß der Rede ab und gibt so dem
consilium die Gelegenheit, bei der Wahl der Ausdrücke sorgfältiger vorzugehen und
den Kompositionsvorgang unter strengere rationale Kontrolle zu bringen: »Nam in
stilo quidem quamlibet properato dat aliquam cogitationi moram non consequens
celeritatem eius manus«.71 Die Verzögerung, die durch das Schreiben hervorgerufen
wird, nimmt dem kreativen Vorgang seine unbeherrschbare Spontaneität; sie kühlt
die Hitze des Ausdenkens ab (»calor [...] cogitationis, qui scribendi mora refrixit«).72
Was eigenhändig aufgezeichnet wird, ist nach Ansicht Quintilians allein aus diesem
Grunde schon besser durchdacht als jede spontan hervorgebrachte Äußerung. Ist
die Rede aber einmal niedergeschrieben, so bietet sich die Möglichkeit, auf die
bereits in der Lektüreübung applizierten Techniken der repetitio und tractatio zu-
rückzugreifen, das Geschriebene also immer wieder vorzunehmen, zu überprüfen
und zu korrigieren. Kein Wort soll in der Form stehen bleiben, die es bei der ersten
Niederschrift besitzt.73
Langsam und stockend verfährt also nicht nur der Schreiber bei seiner mühsamen
Handarbeit. Das Prinzip des Aufschubs (»mora«), der Verzögerung und der Unter-
brechung, das Quintilian mit der Schrift assoziiert, soll auf das Ganze der oratori-
schen Kompositionstätigkeit übertragen werden. Der angehende Rhetor, der sich
schreibend in der Produktion von Reden übt, wird dazu aufgefordert, langsam und
mit Umsicht vorzugehen; er soll immer wieder innehalten, um sich vom Redefluß
nicht forttreiben zu lassen und die Herrschaft über seinen Diskurs zu bewahren; er
soll immer wieder auf das bereits Geschriebene zurückgreifen, um es mit frischem
Blick und mit größerer Objektivität zu beurteilen. Mißtraue deinen Einfallen;
mißtraue allem, was sich in deinem Geist an Gedanken und Ausdrücken unmittel-
bar und mit spontaner Leichtigkeit einstellt - so lautet die Devise, die Quintilian
dem Schüler der Rhetorik einschärft. Denn nicht nur sind die Eingebungen des
Ungeübten - insbesondere dann, wenn es ihm an natürlicher Begabung fehlt — oft
fehlerhaft und unpassend. Die Liebe, die jeder Schöpfer seinen Hervorbringungen
gegenüber empfindet, trübt zudem sein Urteilsvermögen und muß daher durch
verstärkte kritische Selbstkontrolle bekämpft werden: »omnia enim nostra dum

71 Ebd. X.3.19. (»Denn mag der Stift, wenn m a n schreibt, auch noch so fliegen, so bietet doch die
Hand, die der Schnelligkeit des Gedankens nicht folgen kann, eine gewisse Ruhepause.«).
72 Ebd. X.3.6.
73 Ebd. X.3.5.
228 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

nascuntur placent: alioqui nec scriberentur. Sed redeamus ad iudicium et retractemus


suspectam facilitatem.« 74
Quintilian verfolgt mit der Schreibübung den Zweck, dem Adepten der Rhetorik
die souveräne Kontrolle über seine eigene Rede zu sichern. Die Aufgabe der rheto-
rischen institutio erschöpft sich nicht darin, die vis orandi des zukünftigen Redners
zu entfesseln. Darüber hinaus muß sie ihn lehren, die Macht der Rede, die in seine
Hände gelegt wird, zu beherrschen und verantwortungsbewußt mit ihr umzugehen.
Die Problematik der Sprachgewalt ist unmittelbar auch ein ethisches Problem. 75 Die
Herrschaft über die Rede erweist sich als eine Modalität der Selbstbeherrschung, der
vernunftgesteuerten Kontrolle über die eigenen Leidenschaften. Der Redner hat
seinen Diskurs in der Gewalt, wenn er sich selbst in der Gewalt hat. Das primäre
Ziel der Schreibübung besteht daher darin, der Urteilskraft des angehenden Redners
zur Autonomie zu verhelfen und in sich zu festigen. Wer sich in seinem Urteil leicht
von außen beeinflussen läßt, dem entgleitet die Kontrolle über seine Rede. Wie der
ungeübte Hörer (im Gegensatz zum Leser) dazu neigt, sich von den Beifalls- oder
Mißfallensbekundungen seiner Mithörer mitreißen zu lassen und das Verdikt seines
eigenen iudicium zu ignorieren, so steht auch der angehende Redner, dem es noch
an Selbstsicherheit mangelt, in der Gefahr, allzu sehr auf die Reaktionen seiner
Zuhörerschaft zu achten, sich an der Meinung der anderen zu orientieren und der
Ablenkung durch äußere Umstände zu erliegen. Ehe der Schüler der Rhetorik vor
einem Publikum deklamiert, muß er sich erst einmal ein sicheres Urteil zulegen.
Aus diesem Grunde verlangt Quintilian, daß der Übende eigenhändig zum stilus
greift und seine Rede nicht etwa einem Schreiber diktiert. 76 Denn der Stenograph
stellt sozusagen eine reduzierte Form des Publikums dar; er bringt das Urteil der
anderen - wenngleich in rudimentärer Form - zur Geltung. Der Rhetorikschüler,
der einem anderen diktiert, anstatt selbst zu schreiben, begibt sich der reflexiven
Kontrolle über seine Rede. Die Anwesenheit des anderen ist eine potentielle Quelle
der Scham: Der Diktierende schämt sich, seine Rede zu unterbrechen. Um sich keine
Blöße zu geben und den Anschein der Zungenfertigkeit zu erwecken, vermeidet er
es, innezuhalten oder sich gar zu korrigieren. In dem Bestreben, die Rede im Fluß
zu halten, äußert der Diktierende nicht nur Unreflektiertes und vom Zufall Ein-
gegebenes, sondern auch gänzlich Unpassendes und Unverständliches (»non rudia
tantum et fortuita, sed inpropria«).77 Nicht er beherrscht seine Rede, sondern die
Rede beherrscht ihn und treibt ihn mit sich fort; nicht er hat die Redesituation und

74 Ebd. X . 3 . 7 . (»Denn alles Eigene gefällt uns, während es entsteht; sonst würde es ja gar nicht
erst niedergeschrieben. Wir wollen aber [deshalb] zur Beurteilung darauf zurückkommen und
wieder vornehmen, was so verdächtig leicht fiel.«).
75 Zur moralischen Dimension der wahren Beredsamkeit und zum Idealbild des »vir bonus
dicendi peritus« vgl. ebd. XII. 1.
76 Ebd. X . 3 . 1 8 - 2 1 .
77 Ebd. X . 3 . 2 0 .
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 229

sein >Publikum< unter Kontrolle, sondern er ist ein Spielball der Umstände und ein
Sklave der Erwartungen, die er seinem Zuhörer unterstellt.
Daher, so Quintilian, soll der Übende das Geschäft des Schreibens selbst über-
nehmen und zu diesem Zweck einen abgeschiedenen Ort aufsuchen, an dem kein
anderer, keine fremde Urteilsinstanz zugegen ist (»secretum [...] atque liberum arbi-
tris locum«); nach Möglichkeit soll er sich gar in sein privates Schlafgemach (»clusum
cubiculum«) zurückziehen und die Stille der Nacht zur konzentrierten Arbeit am
Redetext nutzen.78 Quintilian fordert den Übenden dazu auf, sich ganz gegenüber
allen äußeren Einflüssen und Störfaktoren abzudichten, damit sein eigenes iudicium
ungehindert in Aktion treten kann. In der Abgeschiedenheit der Kammer ist der
Schreibende mit seiner Rede allein. Die Vergegenständlichung der Rede durch die
Schrift ermöglicht es ihm, seinerseits die Position des anderen einzunehmen und sich
selbst gegenüber als Urteilender aufzutreten. Schreibend macht er sich vom Einfluß
der anderen und der Außenwelt frei, indem er die Fähigkeit erwirbt, seine eigene
Rede distanziert wie das Produkt eines Fremden zu betrachten. Wer sich auf diese
Weise kontinuierlich im Schreiben übt, stabilisiert die Position des verinnerlichten
anderen. Er prägt sein iudicium zu einer festen Haltung aus und verleiht seinem con-
silium eine dynamische Stärke, die sich gegenüber äußeren Einflüssen zu behaupten
vermag. Mit der Zeit, so erklärt Quintilian, erwirbt der Übende eine mentale Kraft,
die es ihm erlaubt, dem Andrang widriger Umstände und fremder Einflüsterungen
zu widerstehen. Sobald der angehende Redner über diese Kraft verfügt, soll er sich
zum Zwecke der Übung nicht mehr in die Einsamkeit zurückziehen, sondern es
sich zur Gewohnheit machen, den äußeren Hindernissen offensiv entgegenzutreten
- »incommodis repugnandum, et hic faciendus usus, ut omnia quae impedient vin-
cat intentio: quam si tota mente in opus ipsum derexeris, nihil eorum quae oculis vel
auribus incursant ad animum pervienet.«79 Das von Quintilian angestrebte Resultat
der Schreibübung ist ein unbeirrbares iudicium, eine innere Kraft, eine Anspannung
und Konzentration der Seele. Der Redner, der über eine solche Kraft verfügt, muß
sich nicht mehr in eine Kammer einschließen. Sein animus stellt nun selbst ein sol-
ches clusum cubiculum dar, das gegen störende Einwirkungen immun ist.

Schreibübung und Improvisation


Wenn die Schreibübung dafür zu sorgen hat, daß Überlegung und Reflexion an die
Stelle der spontanen Regungen des Rhetorikschülers treten, wenn sie zudem den
geistigen Innenraum der mens stärken und gegenüber äußeren Einflüssen abschirmen

78 Ebd. X.3.22, X.3.25.


75 Ebd. X.3.28. (»[E]s gilt, gegen die Störungen anzukämpfen und es sich zur Gewohnheit
zu machen, daß der angespannte Wille alle Hindernisse besiegt; wenn man sich mit voller
geistiger Kraft nur auf die Aufgabe konzentriert, wird nichts von dem, was uns vor die Augen
oder Ohren kommt, in unser Inneres gelangen.«).
230 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

soll, dann stellt sich die Frage, welchen Beitrag diese Übung dazu leisten kann, das
Endziel der rhetorischen institutio zu erreichen, das heißt: den angehenden Rhetor mit
der Fähigkeit zu begaben, über jeden beliebigen Gegenstand kopiös, kunstgerecht und
wirkungsvoll aus dem Stegreif zu reden. Die Schreibübung scheint, zumindest was die
Fertigkeit der Improvisation anbetrifft, eher kontraproduktiv zu sein. Der Improvisator
muß spontan agieren können, während die Schreibübung den Redner lehrt, seinen
Einfallen zu mißtrauen. Der Schreibende soll langsam und bedächtig vorgehen; er
soll sich durch äußere Umstände nicht ablenken und durch die Meinung anderer in
seinem Urteil nicht beirren lassen. Die Schreibübung dient dazu, seinem indicium
eine »constantia«, eine feste Beständigkeit zu verleihen.80 Der Stegreifredner hingegen
muß in der Lage sein, sich schnell und flexibel auf die pragmatischen Erfordernisse
des je individuellen Redeanlasses einzustellen; er muß folglich ein wachsames Auge
auf die situativen Bedingungen werfen und ein Sensorium für die Erwartungen seines
Publikums besitzen. Sein Blick richtet sich offenbar eher nach außen und nicht, wie
im Falle des Schreibenden, auf die Innendimension seiner mens.
Es erscheint also geradezu widersinnig, dem Rhetor die Fähigkeit der Improvisati-
on dadurch vermitteln zu wollen, daß man ihn zum Schreiben animiert. Doch eben
dies liegt in der Absicht Quintilians. Er gibt allerdings zu, daß seine Vorgehensweise
ein gewisses Risiko in sich birgt. Denn der Rhetorikschüler, der sich allzu sehr auf
die spezifischen Bedingungen schriftstellerischer Komposition einläßt, gerät schnell
in die Gefahr, in einen übertriebenen Pedantismus zu verfallen: Auf der mühsamen
Suche nach dem glanzvollen Ausdruck und dem originellen Gedanken bremst er den
Redefluß so sehr ab, daß er den Kontext seines Diskurses ganz aus den Augen verliert
und sich schließlich darauf beschränkt, einzelne Passagen stilistisch auf Hochglanz
zu bringen. Seine Rede ist kein integrales, kraftvoll wirkendes Ganzes mehr, sondern
eine Aggregation >schöner Stellenc »non continua sed composita est.«81 Der Rhetor
verfolgt in diesem Fall vorrangig eine ästhetische, nicht aber eine pragmatische und
wirkungsbezogene Strategie.
Quintilian will dieser Gefahr jedoch auf zweierlei Weise entgegenwirken. Der
pedantischen Wortklauberei kann zum einen dadurch vorgebeugt werden, daß
man den angehenden Redner dazu veranlaßt, viel und regelmäßig zu schreiben.
Wer häufig schreibt und vieles schriftlich ausarbeitet, schult nicht nur seine Hand,
sondern auch sein consilium und sein iudicium. Wie der handwerkliche Umgang
mit dem technischen Apparat der Schrift — mit Griffel und Wachstafel, Papyrus und
Schreibrohr - durch fleißige Übung zur virtuosen Geschicklichkeit gesteigert werden
kann, so ist es auch möglich, die geistigen Organe, die am Schreibprozeß beteiligt
sind, zu trainieren und in ihrer Leistungsfähigkeit zu optimieren. Der Vielschreiber
gewinnt eine routinierte Sicherheit im Komponieren; er sucht schließlich nicht mehr

80 Ebd. X.3.2.
81 Ebd. X.7.14.
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 231

ängstlich und vorsichtig abwägend nach den geeigneten Gedanken und Worten,
sondern seine Urteilskraft arbeitet mit der Leichtigkeit und Geschwindigkeit eines
natürlichen Instinkts — die passenden Ideen und Ausdrücke, von denen er sich mit-
tels Lektüre eine copia angeeignet hat, stellen sich mit der Zeit wie von selbst ein.82
Langsam und bedächtig soll der Schüler nur zu Beginn seiner Übungsaktivitäten
vorgehen. Am Ende steht im Idealfall eine Geläufigkeit des Schreibens, die der Ge-
läufigkeit der natürlichen, gesprochenen Rede in nichts nachsteht, sich von ihr aber
darin unterscheidet, daß sie auf Überlegung und Kunstverstand beruht. Die Rede,
die anfangs durch den Gebrauch der Schrift gezielt zum Stocken gebracht wurde,
gerät auf dem Wege des Vielschreibens wieder in Fluß.
Bezeichnenderweise empfiehlt Quintilian dem fortgeschrittenen Redeschüler,
bei seinen Schreibübungen Wachstafeln anstelle von Volumina aus Papyrus zu
verwenden. Nicht nur läßt sich das in Wachs Geschriebene problemlos wieder
auslöschen, erleichtert mithin den Vorgang der Selbstkorrektur. Die Benutzung
des stilus hat einen weiteren Vorteil: Bei der Beschriftung von Papyrus benötigt
der Schreiber Tinte, muß den Schreibvorgang also immer wieder unterbrechen,
um das Schreibrohr aufzufüllen, und hemmt auf diese Weise den Schwung seiner
Gedanken (»cogitationis impetum«).83 Wer in Wachs schreibt, kann sich hingegen
ungehindert der Schubkraft einer geschulten cogitatio überlassen. Bei dem geübten
Schreiber kommt es zu einer Konvergenz von Reden und Schreiben: Er schreibt mit
der flüssigen Geläufigkeit der gesprochenen Rede, während sein mündlicher Vortrag
zugleich die Färbung des schriftlich Ausgearbeiteten (»scriptorum colorem«)und
gründlich Überdachten aufweist.84
Neben dem Vielschreiben gibt es laut Quintilian ein weiteres Mittel, mit dessen
Hilfe das Wirken von iudicium und consilium beschleunigt werden kann. Um zu
verhindern, daß die auf Seiten des Übenden freigesetzte Überlegung zur fruchtlosen
Grübelei entartet und daß somit der Kontext der Rede — ihr innerer Zusammen-
halt wie auch ihr pragmatischer Bezug auf die Wirklichkeit - vernachlässigt wird,
weist Quintilian den Adepten der Rhetorik an, sich diesen Bezug während des
Schreibens bewußt zu machen. Handelt es sich beispielsweise bei dem Übungstext,
den der Schüler abfaßt, um eine Gerichtsrede, so soll er nicht, in Nachdenken
versunken, an die Decke starren und auf Eingebungen warten — auf großartige
Ideen, für die dann ein entsprechend glanzvoller Ausdruck gesucht werden muß. 85
Die Rede, die auf diese Weise entsteht, ist ein bloßes Flickwerk; sie gleicht den
hypomnemata der Schuljungen, in die sie ohne Rücksicht auf den Zusammenhang
musterhafte Formulierungen und Sentenzen eintragen: »Unde fit ut dissoluta et ex
diversis congesta oratio cohaerere non possit, similisque sit commentariis puero-

82 Ebd. X.3.9.
83 Ebd. X.3.31.
84 Ebd.X.7.7.
85 Ebd. X.3.15, II. 11.4.
232 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

rum«. 86 Quintilian rät dem Rhetorikschüler, anders, nämlich mit Methode (»ratio«)
vorzugehen: Er soll bei der Komposition der Übungsrede genau ins Auge fassen,
wie die Umstände des Falls beschaffen sind und was es mit der Person auf sich hat,
die er zu verteidigen hat; er soll sich weiterhin eine konkrete Vorstellung von den
Adressaten seiner Rede machen und sich die Erwartungshaltung vergegenwärtigen,
die bei ihnen vorausgesetzt werden muß - die Vorurteile, die sie hegen, die Leiden-
schaften, die sie ergriffen haben könnten. 87 Mit einem Wort: Quintilian fordert den
Rhetorikschüler dazu auf, den Realkontext zu fingieren, der in der Übungssituati-
on des Schreibenden fehlt. Dies kann mit Hilfe von sogenannten »visiones« oder
»φαντασίαι« geschehen, Vorstellungsbildern, die derartig lebendig sind, daß sie die
leibhaftige Präsenz des Vorgestellten vorzutäuschen vermögen. 88
Der Schüler soll mithin die rhetorischen Kunstmittel der Vergegenwärtigung
auf sich selbst anwenden, um die Schreibübung den Bedingungen der Realität
anzugleichen. Die Elemente des Realkontexts, die dem Redner bei seinem Vortrag
wie von alleine in die Augen fallen (»in oculos incurrunt«), die ihm die Natur selbst
sozusagen vorschreibt (»natura ipsa praescribit«),89 muß sich der Redenschreiber vor
Augen stellen. Er muß die >Natur< der realen Redesituation mit artifiziellen Mitteln
fingieren. Geht es bei der Schreibübung anfangs darum, den Schüler von dem Druck
zu entlasten, der in der realen Redesituation auf ihn einwirkt, und sein iudicium
von Fremdeinflüssen zu befreien, so wird der Fortgeschrittene dazu aufgefordert,
sich selbst beim Abfassen seines Textes künstlich unter Druck zu setzen und somit
zu gewährleisten, daß seine Rede in sich zusammenhängt und kontinuierlich fließt,
anstatt in einzelne Schaustücke zu zerfallen. Indem der Übende einen Realkontext
für seine Rede fingiert, renaturalisiert er sozusagen seinen Diskurs.
Wohlgemerkt: Er soll sich einen Realkontext vorstellen. Quintilian attackiert
die in den Rhetorikschulen seit dem hellenistischen Zeitalter gängige Praxis, De-
klamationsübungen anhand frei erfundener, zum Teil abenteuerlich verworrener
und gänzlich irrealer Fälle durchzuführen. 90 Als »εϋφαντασίωτος« gilt ihm nicht
derjenige, der ausschweifende und bizarre Phantasiegebilde herzustellen vermag,
sondern derjenige, der mit Hilfe von naturnahen Vorstellungsbildern die Illusion
der Wirklichkeit zu erzeugen vermag - »qui sibi res voces actus secundum verum
optime finget«.91 Quintilian verweist den angehenden Rhetor an die Wirklichkeit,
wie sie in der >natürlichen< Redesituation manifest wird, aber eben nicht an die
Wirklichkeit selbst, sondern an ihr fiktives Doppel - eine künstliche Natur und
eine naturalisierte Kunst.

86
Ebd. II. 11.7.
87
Ebd. X.3.15.
88
Ebd. VL2.29.
89
Ebd. X.3.15f.
50
Zur Kritik an der Wirklichkeitsferne der Deklamationen vgl. ebd. II.8.
91
Ebd. VI.2.30.
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 233

D u r c h fleißiges Vielschreiben u n d d u r c h das K u n s t m i t t e l der autosuggestiven


V e r g e g e n w ä r t i g u n g v o n R e d e k o n t e x t e n , m i t dessen H i l f e d i e e r k a l t e t e E r f i n -
d u n g s k r a f t wieder aufgeheizt wird, verleiht der R h e t o r i k s c h ü l e r seinem D i s k u r s
eine facilitas, eine Leichtigkeit, die seine E n t s t e h u n g aus sorgfältiger Ü b e r l e g u n g
u n d b e w u ß t e r W a h l vergessen läßt. D e r a n g e h e n d e R h e t o r schreibt schließlich
m i t der gleichen Geschwindigkeit u n d Geläufigkeit, m i t der er >natürlicherweise!
redet. Sein Diskurs g e w i n n t das A n s e h e n einer s p o n t a n e n H e r v o r b r i n g u n g . D i e
z u n ä c h s t w i d e r s i n n i g e r s c h e i n e n d e B e h a u p t u n g Q u i n t i l i a n s , d a ß die F ä h i g k e i t
der Improvisation die g r ö ß t e F r u c h t (»maximus [...] fructus«) aller r h e t o r i s c h e n
Studien, insbesondere aber ein Resultat intensiv betriebener Ü b u n g im S c h r e i b e n
sei, 92 g e w i n n t n u n eine gewisse Plausibilität. D i e e x t e m p o r i e r t e R e d e e n t s p r i n g t
nicht einer s p o n t a n e n E i n g e b u n g ; sie ist kein oratorisches >Naturprodukt<, das aus
der u n m i t t e l b a r e n K o n f r o n t a t i o n des Redners m i t der > W i r k l i c h k e i t selbst< h e r -
vorgeht. V i e l m e h r ist sie ein beschleunigtes Schreiben, eine akzelerierte T ä t i g k e i t
der schriftlichen K o m p o s i t i o n .
D e n Ü b e r g a n g von der schriftlichen Kompositionsarbeit zur Stegreifrede, v o m
äußerlich sichtbaren z u m innerlichen, dissimulierten Schreiben, markiert die cogita-
tio. D a r u n t e r versteht Q u i n t i l i a n die Fähigkeit des Rhetors, eine Rede in G e d a n k e n
vollständig d u r c h z u k o m p o n i e r e n , also nicht b l o ß einen groben Plan zu e n t w e r f e n ,
sondern die ganze Rede in allen ihren Bestandteilen u n d bis in einzelne Formulie-
r u n g e n hinein im I n n e n r a u m der mens fertig auszuarbeiten: » N e q u e vero r e r u m
o r d i n e m m o d o [...] intra se ipsa disponit, sed verba etiam copulat, t o t a m q u e ita
contexit orationem ut ei nihil praeter m a n u m desit«. 93 Die cogitatio ist ein innerliches
Schreiben, ein Schreiben o h n e Stift. D e r Redner, der diese Fähigkeit b e h e r r s c h t ,
fixiert seinen Text nicht auf Wachstafeln, u m i h n nach vollendeter K o m p o s i t i o n s -
arbeit zu m e m o r i e r e n , s o n d e r n er schreibt ihn u n m i t t e l b a r s e i n e m G e d ä c h t n i s
ein. 9 4 Er gelangt s o m i t zu einer Synthese von D e n k e n u n d Schreiben — cogitare ist
bei i h m u n m i t t e l b a r auch scribere-, das scribere ist zu e i n e m rein m e n t a l e n V o r g a n g
verinnerlicht w o r d e n .
D e r Improvisator unterscheidet sich n u n v o m Kogitator lediglich darin, d a ß er
diesem inneren Vorgang d u r c h seine S t i m m e A u s d r u c k verleiht. Sein Schreiben-
D e n k e n spielt sich vor einem P u b l i k u m ab. W ä h r e n d der Kogitator das Resultat
des inneren Schreibvorgangs in seiner memoria d e p o n i e r t u n d d o r t bei späterer
Gelegenheit wieder a b r u f t , setzt der Improvisator sein D e n k e n - S c h r e i b e n direkt
in m ü n d l i c h e Rede u m . M e h r n o c h : Selbst dieser letzte Rest an U n m i t t e l b a r k e i t

52
Ebd. X.7.1, X.7.7.
93
Ebd. X.6.2. (»Ja, nicht bloß die Reihenfolge der Dinge [...] legt sie [sc. die cogitatio] in seinem
Inneren fest, sondern sie stellt auch schon Wortverbindungen her und knüpfe das Gewebe
der Rede schon so dicht, daß ihr nur noch die Hand zur Niederschrift fehlt«. [Ubersetzung
modifiziert]).
94
Zum Zusammenspiel von cogitatio und memoria vgl. ebd. X.6.3.
234 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

erweist sich bei genauer Betrachtung als bloßer Schein. Denn auch der Stegreifredner
läßt seine cogitatio nicht unmittelbar verlauten, sondern er bedient sich dabei eines
graphischen Mediums: »[D]um alia dicimus, quae dicturi sumus intuenda sunt: ita
cum semper cogitatio ultra eat, id quod est longius quaerit, quidquid autem repperit
quodam modo apud memoriam deponit, quod illa quasi media quaedam manus
acceptum ab inventione tradit elocutioni.«' 5 Die Stegreifrede ist keine spontane
Erfindung, die direkt in der Rede zum Ausdruck gelangt. Die Erfindung ist vom
Ausdruck vielmehr durch ein zeitliches Intervall getrennt. Der Improvisator hat die
gegenwärtige Situation immer schon hinter sich gelassen. Während er spricht, eilt
seine cogitatio voraus, komponiert die Rede und schreibt sie seiner memoria ein. Der
Vortrag der improvisierten Rede markiert mithin nicht den ungeteilten, originären
Akt der Hervorbringung von Diskurs, sondern der Redner reproduziert den Inhalt
seines Gedächtnisses. Im Grunde redet er nicht, er liest etwas vor - er vokalisiert, was
er in seiner memoria geschrieben findet. Nur scheinbar ist die Improvisation also eine
Rede, die »ex tempore«, als ein Kind der Zeit, aus dem gegenwärtigen Augenblick
heraus geboren wird. Was der Stegreifredner gegenwärtig spricht, ist für ihn schon
Vergangenheit. Die Improvisation beruht auf einer stark beschleunigten cogitatio.
Sie drängt die beiden voneinander getrennten Vorgänge des inneren Schreibens und
der Vokalisierung des Geschriebenen auf einen engen Raum zusammen, so daß der
täuschende Eindruck entsteht, als träte der Diskurs unmittelbar aus der Seele des
Sprechenden hervor. Tatsächlich aber verfährt der Improvisator nicht anders als der
Rhetorikschüler, der seine Rede zuerst schriftlich ausarbeitet und dann auswendig
lernt, um sie zu einem späteren Zeitpunkt aus dem Gedächtnis zu rezitieren.' 6

Schrift als Instrument rhetorischer Askese

Die improvisierte Rede ist also in Wahrheit eine geschriebene Rede. Die enge
Verwandtschaft zwischen der Improvisation und der schriftlichen Abfassung von
Redetexten tritt auch noch auf einer anderen Ebene der rhetorischen Praxis zutage.

95
Ebd. XI.2.3. (»[W]ährend wir das eine sagen, müssen wir schon im Blick haben, was wir sagen
wollen; während so die Gedankenarbeit immer schon weiterläuft, gilt ihr Suchen dem, was
erst später kommt, alles aber, was sie gefunden hat, gibt sie gleichsam dem Gedächtnis zur
Verwahrung, weil dieses wie die H a n d eines Mittelsmanns das, was es von der Auffindung der
Gedanken anvertraut bekommt, an die Gestaltung des Ausdrucks weitergibt.«) — Vgl. auch
ebd. X.7.8.
%
Zur verborgenen Schriftlichkeit der improvisierten Rede bei Quintilian vgl. auch Terence
Cave: T h e Cornucopian Text. S. 132—134: »If [...] the deployment of copia depends on
the voice and its instantaneous bid for presence, it depends also - by an inverse movement
- on the silent, hidden circuits of cogitatio, of memory, or of writing. For we find [...] that
extemporization is in Quintilian's text grounded no less in writing than in memory. [...]
However it is approached, Quintilian's theory presents the orator's speech-act as being an
imitation of writing: it masquerades as living utterance, as a natural fruition of the seeds
of discourse planted in all men, but the matrix from which it emerges is an anti-nature, a
well-rehearsed script.«
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 235

Quintilian empfiehlt dem Rhetor, der sich als Stegreifredner betätigen will, zur Stei-
gerung seiner Redekraft die Technik des Vor-Augen-Stellens anzuwenden und sich
mittels täuschender Vorstellungsbilder selbst zu affizieren. Ehe der Improvisator zum
Vortrag ansetzt, soll er sich - wie der Autor, der sich an die schriftliche Abfassung
einer Rede begibt - den Kontext seines Diskurses bewußt vergegenwärtigen:
Quare capiendae sunt illae de quibus dixi rerum imagines, quas vocari φαντασίας indicavimus,
omniaque de quibus dicturi erimus, personae, quaestiones, spes, metus, habenda in oculis, in
adfectus recipienda: pectus est enim quod disertos facit, et vis mentis. [...] Tum intendendus
animus non in aliquam rem unam sed in plures simul continuas, ut, si per aliquam rectam
viam mittamus oculos, simul omnia quae sunt in ea circaque intuemur, non ultimum tan tum
videmus, sed usque ad ultimum. 97

Der Ratschlag, den Quintilian dem Improvisator erteilt, erscheint paradox. Warum
soll der Rhetor, dem der Realkontext seiner Rede doch direkt vor Augen steht, diesen
durch ein imaginäres Konstrukt ersetzen? Weshalb soll er anstelle der wirklichen Per-
sonen - des Klägers, des Beklagten, des Richters und des Publikums —, die während
seines Vortrags zugegen sind und deren Reaktionen auf seine Ausführungen er un-
mittelbar wahrzunehmen vermag, mit bloßen Vorstellungsbildern Vorlieb nehmen?
Aus welchem Grund soll er sich künstlich in Erregung versetzen, wo doch die reale
Redesituation im Antagonismus der beteiligten Parteien, in der Erwartungshaltung
des Publikums und in der Unvorhersehbarkeit des Ablaufs mehr als genug an Erre-
gungspotential bereithält? Diese Fragen stellen sich mit um so größerer Dringlich-
keit, als der fingierte Kontext ja nicht bloß eine Steigerung der Realität bedeutet,
sondern den Blick des Redners auf die wirklichen Gegebenheiten verstellt. Indem
der Improvisator die wandelbare Realität durch fixe Vorstellungsbilder substituiert,
beraubt er sich der Möglichkeit, schnell und flexibel auf plötzliche Veränderungen
— einen Stimmungsumschwung im Publikum etwa - zu reagieren. 98
Tatsächlich soll er dies nach Ansicht Quintilians aber auch gar nicht unbedingt
können. Ein indicium, das sich von äußeren Faktoren abhängig macht und der
leisesten Veränderung in der Redesituation Rechnung trägt, ist dem Verfasser der
Institutio oratoria verdächtig. Die virtuose Flexibilität der Urteilskraft ist ein Zeichen
des Wankelmuts und der mangelnden Charakterfestigkeit, die sich negativ auf die
Verfaßtheit der Rede auswirkt. Auch vom Stegreifredner erwartet Quintilian in erster

97 Quintilian: Institutio oratoria X.7.15f. (»Deshalb gilt es, diese anschaulichen Vorstellungen
von den Gegenständen, die ich gerade genannt habe, und die, wie wir gezeigt haben, φαντασίαι
[Vorstellungen] heißen, zu erfassen und alles, worüber wir gerade reden wollen, die Personen,
die Fragen, um die es geht, die Hoffnungen und Befürchtungen, leibhaftig vor den Augen zu
haben und ins Gefühl aufzunehmen. Unser Inneres ist es nämlich, was beredt macht, und die
geistigen Kräfte in uns. [...] Dann gilt es, die ganze Spannkraft unseres Geistes einzusetzen,
nicht um einen einzelnen, sondern um mehrere Gegenstände zugleich in ihrem Zusammen-
hang zu erfassen, wie wir, wenn wir unsere Augen eine gerade Straße entlang gleiten lassen,
zugleich alles im Blick haben, was auf ihr und um sie her ist, und nicht nur das Letzte sehen,
sondern bis zum Letzten.«).
98 Vgl. ebd. X.3.3.
236 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Linie, daß er in seinem Urteilsverhalten eine gewisse constantia an den Tag legt. Er
fordert ihn deshalb dazu auf, den Weg, den die improvisierte Rede beschreiten soll,
im voraus festzulegen - »[n]ota sit primum dicendi via« - und sich von diesem im
Laufe seines Vortrags nicht abbringen zu lassen." Für alle Stegreifredner gilt laut
Quintilian die Devise, daß sie sich, während ihre Rede den vorgezeichneten Weg
verfolgt, weder umschauen noch durch spontane Einfälle irritieren lassen dürfen, die
ihre Aufmerksamkeit auf Abseitiges lenken könnten: »nec circumspectabunt nec of-
ferentibus se aliunde sensibus turbabuntur«.100 Nur so ist gewährleistet, daß die Rede
einen inneren Zusammenhalt gewinnt und sich mit jenem einheitlichen Schwung
— »continuo impetu« — vorwärtsbewegt, der die Hörer mitzureißen vermag.101
Quintilian verlangt somit vom Improvisator, daß er sich in seinem Redeverhalten
diszipliniert und eine Askese der Diskursproduktion betreibt, ohne die sich die ei-
gentliche vis orandi nicht erringen läßt. Die Technik der Fingierung von Kontexten
ist ein wichtiger Bestandteil dieser Askese. Indem der Redner den realen durch einen
vorgestellten Kontext ersetzt, errichtet er eine Art Schutzschild, der ihn gegenüber
äußeren Einflüssen und Störfaktoren abschirmt. Dieser Schild ermöglicht es seinem
iudicium, sich aus seiner Abhängigkeit von den Stimmungsschwankungen des
Publikums zu befreien und in seinem Wirken eine Festigkeit und Stetigkeit auszu-
prägen, die der Rede allererst ihre ziel- und wirkungsorientierte Dynamik verleiht.
Der fingierte Kontext verhilft der Urteilskraft des Redners zu ihrer constantia. Denn
anders als die reale Redesituation untersteht dieses fiktive Konstrukt der Kontrolle
des Redners. Dadurch, daß der Rhetor den Realkontext in Vorstellungsbilder auflöst,
macht er ihn in gewissem Maße beherrschbar. Der affektive Druck, den der Improvi-
sator mit Hilfe dieser Bilder auf sich selbst ausübt, läßt sich dosieren, wohingegen der
Stegreifredner, der sich ohne den Schutzschirm der Imagination direkt dem Einfluß
der Hörerschaft und der äußeren Umstände aussetzt, ständig in der Gefahr schwebt,
von unkontrollierbaren Affekten ergriffen und fortgetrieben zu werden.
Das Innere {pectus), aus dem die wahre Beredsamkeit hervorgeht, ist also gerade
nicht der natürliche Quellpunkt spontaner Seelenregungen, sondern ein Kunstpro-
dukt, ein Effekt der imaginären Einklammerung des Realkontexts einerseits, ein
Resultat der Selbstdisziplinierung und der Askese andererseits - ein Produkt der
schriftlichen Übung mithin, als deren »Frucht« das Redevermögen des Improvisators
anzusehen ist. Die Fähigkeit der Improvisation, die laut Quintilian den Gipfel der
rhetorischen Kunst darstellt, gelangt in einem imaginären Raum zur Entfaltung,
der durch die Schrift eröffnet wird. In diesem Raum konstituiert sich ein ethisch-
rhetorisches Subjekt, das den Machtapparat der Rede insoweit beherrscht, als es sich
selbst zu beherrschen in der Lage ist. Die Schrift erlaubt es dem angehenden Rhetor,

99
Ebd. X.7.5.
,0
° Ebd. X.7.6.
101
Ebd. X.7.I4.
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 237

sowohl der eigenen Rede als auch dem Realkontext gegenüber in Distanz zu treten
und somit einen Innenbereich der mens auszugrenzen, der sich der unmittelbaren
Beeinflussung durch andere entzieht. Schreibend dichtet der Rhetor seine Rede
gegen die Außenwelt ab, verleiht ihr Stetigkeit und Zusammenhang, erlangt somit
die Kontrolle über seinen Diskurs wie auch über seine Affekte und bildet dabei einen
stabilen Habitus, eine constantia des Urteilens und der Überlegung aus.

4 . Die Lektüreübung im Grenzbereich von rhetorischer institutio und


philosophischer Charakterbildung: Ciceros De oratore

Die Lektüre- und Schreibübungen spielen im Rahmen der rhetorischen institutio


eine ganz entscheidende Rolle. Das indicium des angehenden Rhetors, das die Macht
der Rede zu entbinden vermag, wird durch die systematisch betriebene Lektüre von
Mustertexten gebildet und gefestigt. Pectus und vis mentis, die inneren Quellen der
Beredsamkeit, verdanken ihre Existenz der Schreibtätigkeit des Rhetorikschülers.
Das ethisch-rhetorische Subjekt, das Quintilian im Anschluß an das catonische Ide-
albild des vir bonus dicendiperitus konzipiert, konstituiert sich in erster Linie durch
die intensiv betriebene exercitatio im Lesen und Schreiben.
Es wäre folglich zu erwarten, daß der Verfasser der Institutio oratoria dem beson-
deren Stellenwert, den er der Übung zuerkennt, durch die Anlage und Form seines
Lehrbuchs Rechnung trägt. Die herkömmlichen Handbücher der Redekunst, wie
sie zum Beispiel in Gestalt der Rhetorica ad Herennium oder des ciceronianischen
Jugendwerks De inventione erhalten sind, verweisen allenfalls beiläufig auf die Not-
wendigkeit und den Nutzen der exercitatio. Die Verfasser beschränken sich zumeist
darauf, die Kunstlehre der Rhetorik (doctrina), gegliedert in ihre fünf partitiones,
mehr oder weniger systematisch darzulegen und dabei die wichtigsten Lehrinhalte
in die Form von Regeln (praecepta) zu kleiden, die der Schüler auswendig zu lernen
hat.102 Quintilian spart nicht mit Kritik an der pädagogischen Anschauung, die
diesen Handbüchern zugrunde liegt. Er wehrt sich gegen die Vorstellung, daß es
möglich sei, die Verfertigung einer Rede so durch Anweisungen lehren, wie man die
Zubereitung von Speisen durch Küchenrezepte anzuleiten pflegt.103 Im Gegenteil,
der Adept der Rhetorik, der bei der Anfertigung seiner Reden ganz auf die in den
Lehrbüchern enthaltenen Vorschriften vertraut, der die Regeln mithin als unfehlbare
»leges immutabili« auffaßt und sich ihnen vorbehaltlos unterwirft, läßt seine Urteils-
kraft und sein consilium verkümmern.104 Doch eben diese Fähigkeiten sind für den

102 Zur formalen Anlage und zur Methodik der rhetorischen Lehrbücher vgl. Manfred Fuhrmann:
Die antike Rhetorik. Eine Einführung. München und Zürich 1984. S. 75f.
103 Quintilian: Institutio oratoria II. 13.1.
104 Ebd. II. 13.1.
238 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Redner von größtem Wert, denn die Präzepte der Redekunst stellen laut Quintilian
keine allgemein gültigen, a priori festgelegten Gesetze dar, sondern bloße Faustregeln
und Erfahrungswerte, die dem Rhetor eine ungefähre Orientierung bieten sollen,
deren Anwendung mithin Klugheit und Überlegung erfordert. Da die theoretischen
Vorschriften ohnehin nur ein Derivat der praktischen Erfahrung sind, kommt der
Erfahrung auch im Rahmen der institutio eine klare Vorrangstellung zu: »nam in
omnibus fere minus valent praecepta quam experimenta.«105
Wie aber läßt sich der Vorrang von Erfahrung und Übung in einem Lehrbuch
der Rhetorik zur Geltung bringen? Diese Frage hat im Falle der Institutio oratoria
ihre besondere Berechtigung, denn Quintilian selbst steckt sich das hohe Ziel, dem
angehenden Rhetor mit Hilfe seines Lehrbuchs nicht nur die theoretischen Grund-
lagen der Kunst (»scientia«), sondern auch die praktische oratorische Befähigung
(»facundiam, vires«) zu vermitteln.106 Gemessen an der ehrgeizigen Zielsetzung ihres
Verfassers macht die Institutio oratoria jedoch einen recht konventionellen Eindruck.
Über weite Strecken bietet sie nichts anderes als eine schulmäßige Exposition der
rhetorischen Kunstlehre, die — was den Formalismus des Systems, die analytische
Differenzierung der Begriffe und die Vielzahl der Regeln anbetrifft - durchaus
mit ihren Vorläufern aus hellenistischer Zeit konkurrieren kann. Zwar behauptet
Quintilian, daß die Art und Weise, wie er die Kunstregeln präsentiert, dem System-
geist der üblichen Lehrbücher widerspreche: Anstatt die Totalität des überlieferten
Kunstwissens aufzubereiten und zu ordnen, habe er aus der Fülle der Präzepte die
wahrhaft nützlichen ausgewählt; in dieser Wahl spiegele sich die reiche persönliche
Erfahrung wider, die er im Laufe vieler Jahre als Redner und als Rhetoriklehrer
gewonnen habe.' 07
Quintilian erhebt also den Anspruch, mittels der Auslese von Präzepten ein Por-
trätbild seines individuellen iudicium zu zeichnen. Sein Lehrbuch ist demnach keine
objektive Darstellung des Regelsystems, sondern ein Abdruck seines persönlichen, auf
praktischer Erfahrung beruhenden Kunstverstands. Helmut Rahn geht gar so weit, von
einer »Verwandlung des traditionellen systematischen Lehrbuchs ins Persönlich-Erleb-
nishafte« zu sprechen.108 Tatsächlich vermag Quintilian diesen Anspruch in der Insti-
tutio oratoria jedoch nicht einzulösen. Die Synthese des Lehrhaft-Präzeptiven mit dem
Persönlich-Erlebnishaften gelingt ihm nicht. Letzteres blitzt allenfalls punktuell auf,
so etwa in den Proömien zum vierten und sechsten Buch, während die eigentliche
Präsentation der Kunstdoktrin von der Bezugnahme auf individuelle Erfahrung weit-
gehend frei bleibt. Die Form der Institutio wird somit weder der Priorität gerecht, die

105 Ebd. II.5.15.


106 Ebd. I. Prohoemium 23.
107 Vgl. ebd. I. Prohoemium 2; VIII. Prohoemium 3; VIII Prohoemium 12.
108 Helmut Rahn: Nachwort. In: Marcus Fabius Quintiiianus: Ausbildung des Redners. Zwölf
Bücher. Hg. und übersetzt von Helmut Rahn. Bd. 2. Darmstadt '1995. S. 805-839, hier:
S. 836.
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 239

Quintilian der Übung gegenüber der doctrina einräumt, noch der besonderen Rolle,
die dabei dem Lesen und dem Schreiben zukommt.
Das ist um so bemerkenswerter, als sich der Verfasser der Institutio immer wieder
auf die Autorität eines Vorbilds beruft, dem es auf beispielhafte Weise gelungen sei,
die Beschränkungen des konventionellen Lehrbuchformats zu durchbrechen. Cicero
nämlich gilt Quintilian nicht nur als ein unerreichtes Muster römischer Beredsam-
keit. Exemplarische Verbindlichkeit besitzen in seinen Augen auch die theoretischen
Überlegungen des großen Rhetors, insbesondere aber sein Bestreben, die Rhetorik
mit der Philosophie zusammenzuführen und auf eine ethische Basis zu stellen.
Cicero entwickelt diese Konzeption in seiner Schrift De oratore. In De oratore
wird, worauf der Verfasser explizit hinweist,"" nichts unerwähnt gelassen, was zu den
traditionellen Lehrinhalten der Redekunst gehört; von der inventio bis hin zur actio
werden alle o f f i c i a der Rhetorik einer Betrachtung unterzogen. Cicero präsentiert die-
se Inhalte jedoch nicht in der Gestalt, die konventionellerweise mit ihnen assoziiert
wird, vielmehr wählt er die Form des philosophischen Dialogs, und zwar in seiner
aristotelischen Variante, welche den bei Piaton vorherrschenden lebendigen Wechsel
von Frage und Antwort durch eine Folge von zusammenhängenden Lehrvorträgen
ersetzt.110 Diese Form erlaubt es Cicero, die Darlegung der rhetorischen Doktrin mit
ihrer praktischen Anwendung zu kombinieren. Er läßt zwei historische Gestalten
auftreten, deren Ruhm gleichermaßen auf ihre politischen und rhetorischen Fähig-
keiten zurückzuführen ist: Lucius Licinius Crassus und Marcus Antonius dozieren
in De oratore über die Redekunst, und sie geben zugleich mit ihren Vorträgen
praktische Probestücke ihrer Beredsamkeit zum besten. Da weder die rhetorische
Schule noch das Forum, sondern die Muße eines Landaufenthalts in Tusculum
den fiktiven Rahmen für das Gespräch liefert, wird den Protagonisten zudem die
Lizenz gewährt, ihre Ausführungen über die Redekunst philosophisch zu vertiefen
und auf die gesellschaftliche sowie die individualethische Funktion der Rhetorik
zu reflektieren. Die Dialogform ermöglicht es Cicero, sich von der herkömmlichen
Verfahrensweise rhetorischer Wissensvermittlung zu entfernen und dabei gleichzeitig
zwei vermeintlich entgegengesetzte Richtungen einzuschlagen: zum einen die einer
größeren Praxisnähe (zwei hervorragende Redner führen ihren Kunstverstand in actu
vor), zum anderen die einer gründlicheren theoretischen Fundierung der Rhetorik.
Diese beiden Linien treffen sich jedoch in einer spezifischen Konzeption der Übung,
die, wie im folgenden aufgezeigt werden soll, nicht nur einen wichtigen Gegenstand
der Diskussion zwischen Crassus und Antonius bildet, sondern darüber hinaus die
Schreibweise von De oratore und die daran gekoppelte Strategie der Rezeptionssteu-
erung bestimmt.

I0 ' Cicero: De oratore 11.11.


Vgl. M. Fuhrmann: Die antike Rhetorik. S. 52.
240 Vom somatischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Ciceros Konzept von Ü b u n g u n d imitatio

Cicero kritisiert in De oratore zwei Erscheinungsformen der Rhetorik, die sich auf
je verschiedene Weise einer reduktionistischen Vorgehensweise schuldig machen.
Auf der einen Seite wendet er sich gegen einen naiven Empirismus, wie er in den
konservativen Kreisen der römischen Bildungselite anzutreffen ist. Die Anhänger
dieser Richtung sind der Ansicht, daß die rhetorische Ausbildung auf theoretischen
Unterricht ganz verzichten, der Redner seine Fertigkeit mithin allein durch prakti-
sche Übung erlangen könne; diese Einstellung ist mit einem Ressentiment gegenüber
dem vermeintlichen Intellektualismus der Griechen und der Furcht vor kultureller
Überfremdung verbunden. Auf der anderen Seite distanziert sich Cicero vom Sy-
stemdenken der griechischen Schulrhetorik, das die theoretische ars zum Selbstzweck
erhebt und von der rhetorischen Praxis abkoppelt. Eine von der Praxis abgehobene
Theorie ist ihm genauso ein Dorn im Auge wie eine Praxis, die der theoretischen
Führung entbehrt. Dem Dialog De oratore liegt folglich das Bestreben zugrunde, die
rhetorische Praxis mit der Theorie, den römischen Pragmatismus mit griechischer
Reflexion zu vermitteln. 1 "
Eine solche Vermittlung geschieht im Rahmen des Gesprächs auf paradigmatische
Weise dadurch, daß die unterschiedlichen Positionen, die von den Protagonisten
Crassus und Antonius vertreten werden, schließlich zu einem gewissen Ausgleich
gelangen. Denn Antonius geriert sich anfangs ganz als der römische Empiriker:
natura und exercitatio, Begabung und Übung, gelten ihm sehr viel mehr als die Be-
kanntschaft mit der Kunstlehre. Er bestreitet, in die Feinheiten der rhetorischen ars
eingeweiht zu sein, und gibt vor, von griechischer Philosophie nichts zu wissen.112
Crassus hingegen tritt wortgewaltig für das Ideal des doctus orator ein. Ein Redner,
der über kein ebenso breites wie gründliches Sach- und Fachwissen verfügt, ist sei-
ner Ansicht nach nicht dazu fähig, hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der
Rhetorik zu erbringen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird allerdings deutlich,
daß die Ansichten der beiden Protagonisten sich keineswegs so unvereinbar ge-
genüberstehen, wie es zunächst erscheint. Denn es stellt sich heraus, daß Antonius
seine Ahnungslosigkeit nur vorgetäuscht hat und sich in der rhetorischen doctrina
tatsächlich bestens auskennt; ja, er gibt schließlich sogar zu, in der griechischen,
insbesondere der peripatetischen Philosophie bewandert zu sein.113 Auch Crassus

111
D a ß die Schrift De oratore dem Ziel verpflichtet ist, griechische Theorie mit römischem
Pragmatismus zu vereinen, ist seit langem eine communis opinio der Cicero-Forschung. Vgl.
Matthias Geizer: Cicero. Ein biographischer Versuch. Wiesbaden 1969. S. 187; M. Fuhrmann:
Die antike Rhetorik. S. 52f.
112
Zu Ciceros Bemühen, Antonius als einen »Praktiker und Verleugner jeglicher rhetorischen
Technik« zu charakterisieren vgl. auch Rolf Dieter Meyer: Literarische Fiktion und historischer
Gehalt in Ciceros De oratore. Crassus, Antonius und ihre Gesprächspartner. Stuttgart 1970.
S. 115-117.
113
Cicero: De oratore II.152f„ II.362f.
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 241

mildert seinen Standpunkt ab. Er erklärt, daß er unter dem Kunstwissen nicht
eine systematische scientia der Rhetorik versteht, sondern eine mehr oder weniger
geordnete Zusammenstellung von Stilmitteln, die sich in der praktischen Erfahrung
hervorragender Redner bewährt haben. 114 Antonius und Crassus stimmen in ihrer
Einschätzung der rhetorischen doctrina letztlich überein: Beide sind der Ansicht,
daß nur ein solches Kunstwissen für den Redner von Wert ist, das aus der genauen
Beobachtung der rhetorischen Praxis hervorgeht. 115
Die wechselseitige Annäherung der von Crassus und Antonius vertretenen Stand-
punkte macht sich auch in einer weiteren Hinsicht bemerkbar. Beide befürworten
einerseits eine Pragmatisierung der Kunstlehre; beide tendieren aber andererseits
auch dazu, die rhetorische Übung zu entpragmatisieren. Die griechische Art, die
Doktrin der Redekunst zu unterrichten, ist ihnen zu theoretisch. Die römische Art,
sich im Reden zu üben, ist ihnen zu praktisch, zu unreflektiert.
Erwartungsgemäß ist es Antonius, der die besondere Bedeutung der Übung fiir die
Ausbildung des Redners hervorhebt. Zunächst erteilt er dem Adepten der Rhetorik den
Rat, das Forum als seine Schule zu betrachten und sich unter den Rednern, die dort
aktiv sind, ein Vorbild zur Nachahmung auszuwählen.116 Antonius hat offenkundig
die altrömische Institution des tirocinium fori im Sinn, jene einjährige Lehrzeit, die
der Heranwachsende vor seinem offiziellen Eintritt in das öffentliche Leben unter
der Anleitung eines erfahrenen Redners und Politikers auf dem Forum zu verbringen
hatte und die ihm die Gelegenheit bot, einen unmittelbaren Einblick in die praktische
Tätigkeit des Rhetors zu gewinnen.117 Es scheint folglich so, als verfechte Antonius eine
dezidiert pragmatische, am Paradigma der handwerklichen Ausbildung ausgerichtete
Konzeption der rhetorischen Übung, die den persönlichen Umgang zwischen Lehrer
und Schüler voraussetzt. Thomas Greene sieht sich in diesem Zusammenhang denn
auch dazu veranlaßt, von einer ciceronianischen Wiederbelebung des »direct contact of
Isocratean pedagogy« und von dem Versuch zu sprechen, das Modell der »unmediated,
Isocratean imitation« auf römische Verhältnisse zu übertragen." 8
Doch zum einen ist das tirocinium fori eine genuin römische, keine griechische
Einrichtung. Zum anderen spricht sich Antonius sehr deutlich dafür aus, in die
unmittelbare Lehrer-Schüler-Beziehung, die das tirocinium fori in seiner traditio-
nellen Gestalt kennzeichnet, ein Moment der Vermittlung und der reflexiven Di-
stanz einzubringen. Er hält es für unbedingt notwendig, daß der Schüler die Reden

114
Ebd. 1.107-109.
1,5
Ebd. 1.147 (Crassus), 1.208 (Antonius), 11.32 (Antonius), 11.232 (Crassus).
116
Ebd. II.89f.
117
Zur Institution des tirocinium fori vgl. Johannes Regner: Tirocinium fori. In: Paulys Real-
enzyklopädie der classischen Altertumswissenschaften. Neue Bearbeitung unter Mitwirkung
zahlreicher Fachgenossen hg. von Georg Wissowa. Stuttgart 1893ff. 2. Reihe. 12. Halbband.
Sp. 1450-1453; Stanley F. Bonner: Education in Ancient Rome. From the Elder Cato to the
Younger Pliny. London 1977. S. 84f.
118
Th. Greene: The Light in Troy. S. 62, S. 65.
242 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

seines Vorbilds einer sorgfältigen, kritischen Betrachtung unterzieht, ehe er sie zum
Gegenstand der Nachahmung macht, daß er den wahren Vorzügen des Musters
auf den Grund geht, anstatt unüberlegt seine auffälligen, eben deshalb jedoch oft
fehlerhaften Eigenheiten zu kopieren. Bei seinen Nachahmungsversuchen soll sich
der Schüler diese Vorzüge unter höchster seelischer Anspannung (»tota mente [...]
atque omni animo«) vor Augen halten." 9 Denn die imitatio ist laut Antonius kein
unbewußter Vorgang, bei dem man sich dem Vorbild durch die schiere Gewohnheit
des Zusammenlebens angleicht, sondern ein reflektierter, willentlich vollzogener
Akt. Sie ist mithin eine geistige, keine rein praktische Übung und sollte folglich
eher in der Abgeschiedenheit des Studierzimmers als auf dem Forum durchgeführt
werden. Mit einem Wort: Antonius konzipiert die imitatio als eine Lektüre- und
Schreibübung. Bei aller altrömischen Patina, die er zu evozieren sucht, verleiht er
dem tirocinium fori somit doch einen neuen, griechisch-akademischen Anstrich.120
Nicht durch Reden, sondern durch fleißiges Schreiben soll sich der Heranwachsende
zum Rhetor bilden: »Hanc igitur similitudinem qui imitatione adsequi volet, cum
exercitationibus crebris atque magnis tum scribendo maxime persequatur«.'21
Antonius befindet sich somit ganz auf einer Linie mit seinem Gegenspieler Cras-
sus, der dem Adepten der Rhetorik empfiehlt, bei seinen Übungen nicht aus dem
Stegreif zu sprechen, sondern sich Zeit zum Überlegen zu nehmen (»sumpto spatio
ad cogitandum«), am besten aber zu schreiben, denn der Schreibstift sei der »optimus
et praestantissimus dicendi effector ac magister«.122 Auch Crassus favorisiert eine
Übung, die mehr ist als der Erwerb einer praktischen Routine - eine Übung, die das
Urteilsvermögen des Heranwachsenden zur Entfaltung bringt.
Doch die Übereinstimmung zwischen den vermeintlichen Antagonisten geht
noch weiter. Beide haben nämlich ähnliche Vorstellungen, was die inhaltliche Aus-
gestaltung der - schriftlich zu absolvierenden — Deklamationsübungen anbetrifft.
Sie lehnen die in den hellenistischen Rhetorikschulen eingeführte Unterscheidung
zwischen hypothesis und thesis (quaestio finita und quaestio infinita) ab.123 Unter einer
quaestio finita versteht man eine Streitfrage oder einen Streitfall, der an konkrete

Cicero: D e oratore 11.89.


120 Bezeichnenderweise verweist Antonius a u f die griechische und nicht a u f die römische G e -
schichte der Beredsamkeit, um den auf willentlicher, überlegt vollzogener imitatio basierenden
Prozeß der Traditionsbildung und der Entstehung von Epochenstilen zu veranschaulichen.
D i e römische Tradition ist laut Antonius als Paradigma nicht geeignet, weil die lateinischen
Rhetoren ihre Reden nicht schriftlich fixiert haben, ein Urteil über sie daher nicht möglich
ist (11.92). T h o m a s Greene bezeichnet diese Begründung als »more than a little disingeneous«
( T h e Light in Troy. S. 6 5 ) . Das von Antonius vorgetragene Argument ist aber keineswegs
unaufrichtig, sondern durchaus nachvollziehbar: D i e durch Schrift eröffnete Distanz zum
Vorbild ist eine Voraussetzung für die Erkenntnis seiner stilistischen Vorzüge und somit auch
für die Praxis der bewußten, stilbildenden N a c h a h m u n g . Antonius koppelt die Existenz von
Epochenstilen an die schriftstellerische Aktivität der Rhetoren.
121 Cicero: D e oratore 11.96.
122 Ebd. 1.150.
123 Ebd. 11.133, I I I . 1 0 9 .
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 243

situative Bedingungen, Zeitumstände und Personen gebunden ist, wohingegen die


quaestio infinita ein allgemeines, grundsätzliches Problem zur Debatte stellt, ohne
auf bestimmte Personen oder Umstände einzugehen. 124 Crassus und Antonius sind
sich darin einig, daß der Adept der Rhetorik sein Redevermögen nicht anhand von
quaestiones finitae schulen dürfe. 125 In ihren Augen leistet eine Übung, die sich auf
die Erörterung konkreter Einzelfälle beschränkt, einem engstirnigen, pedantischen
Denken Vorschub. Das gilt insbesondere dann, wenn der angehende Rhetor — wie
in der hellenistischen Schulpraxis durchaus üblich - zu diesem Zweck mit Aufstel-
lungen spezifischer Beweismittel und Argumente ausgestattet wird, so daß er seinen
Argumentationsgang nicht selbständig entwickeln muß, sondern lediglich von vor-
gefertigten Materialien Gebrauch macht. Antonius und Crassus fordern den Schüler
der Rhetorik dazu auf, ein anspruchsvolleres Übungsprogramm zu absolvieren. Der
angehende Redner soll es sich in seinen Deklamationen zur Gewohnheit machen,
den besonderen Kasus auf allgemeine Fragestellungen zurückzuführen. Die quaestio
finita soll auf eine quaestio infinita hin überstiegen, der allgemeine Kern, der in jedem
konkreten Problemfall steckt, soll aus seiner Verflechtung in die partikulare Situation
herausgelöst und zum eigentlichen Gegenstand der Übungsrede erhoben werden.
Für den Übenden kommt es darauf an, die Haarspalterei einer kasuistischen Vorge-
hensweise zu vermeiden und sich statt dessen der allgemein-theoretischen Erörterung
prinzipieller Fragen zu befleißigen. Den Deklamationen soll ein bedeutender Gehalt
verliehen werden. 126
Das von Antonius und Crassus vorgetragene Übungskonzept steht somit in enger
Beziehung zu den Leitbildern des doctus orator und der philosophisch fundierten
Rhetorik, die im Laufe des Gesprächs immer wieder evoziert werden. Denn nur
derjenige vermag den besonderen Fall als Sprungbrett für eine Rede über allgemeine
und bedeutende Gegenstände zu nutzen, der eine entsprechende Allgemeinbildung
und ein philosophisches Problembewußtsein besitzt. Indem Antonius und Crassus
die Deklamation auf die Erörterung von quaestiones infinitae festlegen, nähern sie die

124
Diese Unterscheidung geht auf den hellenistischen Rhetoriker Hermagoras von Temnos
zurück. Vgl. G. Kennedy: The Art of Persuasion in Greece. S. 305f.
125
Cicero: De oratore II.133fF. (Antonius), III.120fF. (Crassus).
126
Dadurch, daß der Adept der Rhetorik in seinen Deklamationen von der Diskussion des Ein-
zelfalls zur Behandlung bedeutender Themen fortschreitet, schult er nicht nur sein iudicium
und sein consilium, schärft er nicht nur sein Bewußtsein für übergreifende Problemzusam-
menhänge. Er stärkt zugleich auch sein Ausdrucksvermögen und verleiht seiner Rede eine
dynamische Wirksamkeit. Denn um wirkungsvoll zu reden, so argumentiert Crassus, muß
man sich bedeutenden, allgemein interessierenden Gegenständen zuwenden. Eine bedeutende
res läßt sich sehr viel leichter amplifizieren als eine partikulare causa. Sie führt wie von selbst
auf weiterführende Gedanken, aber auch auf die passenden verba, auf den mitreißenden
und glanzvollen sprachlichen Ausdruck, der dem sachlichen Gehalt angemessen ist (III. 120,
III. 125). Der Weg von der quaestto finita zur quaestio infinita führt zugleich zum Erwerb einer
copia dicendi. — Dazu und zu Ciceros »Kernthese« von der Selbsterzeugung der Worte durch die
Sachen vgl. Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft.
Frankfurt a. M. 1976. S. 66f„ S. 80-83.
244 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

rhetorische institutio der philosophischen paideia an. Erneut zeichnet sich somit eine
deutliche Tendenz zur Entpragmatisierung und >Vergeistigung< der exercitatio ab.
Auch wenn der Schüler sich praktisch übt, so entfernen sich doch die Inhalte seiner
Übungsreden von der praktischen Wirklichkeit, mit der es der Rhetor im Alltags-
geschäft zu tun hat. Allerdings entfernen sie sich gerade nicht in Richtung auf jene
phantastischen und abenteuerlichen Fallkonstruktionen, die den Deklamationen der
hellenistischen Rhetorikschule ein mitunter romanhaftes Ansehen verleihen. Der
Übende wird vielmehr dazu ermuntert, einen Abstand gegenüber dem Konkreten
der Wirklichkeit, gegenüber ihren Singularitäten und Kontingenzen zu etablieren
und sie in einer verallgemeinernden Reflexion aufzuheben. Wie im Falle der imitatio
dient auch hier die Schrift als ein wichtiges Hilfsmittel, um die erforderliche reflexive
Distanz zu generieren.
Antonius und Crassus kämpfen gleichzeitig an zwei verschiedenen Fronten. Ei-
nerseits beanstanden sie die Theorielastigkeit und Praxisferne der Kunstdoktrin, die
in den griechischen Rhetorikschulen gelehrt wird, andererseits mißfällt ihnen die
Fixierung auf praktische Übung und die Abstinenz von theoretischer Reflexion, die
sie als charakteristisch für die römische Rednerausbildung ansehen.127 Antonius und
Crassus suchen einen Mittelweg, der praktische Erfahrung mit theoretischer Refle-
xion verbindet. Sie finden diesen Mittelweg in einer bestimmten Form der imitatio
und der rhetorischen Übung. Das praktische Beispiel soll die theoretische Doktrin
ersetzen und in ihrer Anwendung vorführen. Es erzeugt die Nähe des Anschauli-
chen; aber die Schriftform, die dem Muster verliehen wird, generiert zugleich einen
Abstand, der die kritische Begutachtung der Vorlage ermöglicht. Auch der Inhalt der
Übungsreden, die von Antonius und Crassus geforderte Erörterung von quaestiones
infinitae, trägt dazu bei, einen reflexiven Abstand zum Unmittelbar-Konkreten der
Wirklichkeit zu etablieren. Die in De oratore propagierte Form der Übung ist eine
Reflexion auf die Praxis, die zu einer reflektiert vollzogenen Praxis überleiten soll. Sie
stellt mithin den Punkt dar, an dem theoretisches Denken griechischer Provenienz

127 Die von Crassus und Antonius in De oratore vorgetragene Kritik am römischen Pragmatis-
mus hat einen ernsten politischen Hintergrund. Ciceros Crassus-Figur verweist explizit auf
das Edikt, das der historische Crassus in seiner Eigenschaft als Zensor im Jahre 92 v. Chr.
erließ, um dem Treiben der lateinischen Rhetoriklehrer ein Ende zu setzen. In De oratore
rechtfertigt Crassus das Edikt mit dem Argument, daß die lateinischen Lehrmeister — anders
als die griechischen - weder Fachwissen (»doctrinam«) noch Allgemeinbildung (»scientiam«)
vermittelt, sondern sich darauf beschränkt hätten, ihren Schülern durch intensive Übung
im Deklamieren und in der Stegreifrede eine virtuose Redegewandtheit anzutrainieren.
Der lateinische Rhetorikunterricht habe die Übung des Verstandes der Übung der Zunge
(»exercitationem linguae«) aufgeopfert; seiner Theoriescheu und seiner einseitigen Fixierung
auf praktische Übung sei es zuzuschreiben, daß er sich zu einer Schule der Unverschämtheit
(»impudentiae ludus«) entwickelt habe, die man nicht länger habe dulden dürfen. (De oratore
III.93f.) - Zum historischen Stellenwert des von Crassus erlassenen Edikts vgl. G. Kennedy:
T h e Art of Rhetoric in the Roman World. Princeton 1972. S. 9 0 - 9 6 ; R. D. Meyer: Literarische
Fiktion und historischer Gehalt in Ciceros De oratore. S. 7 0 - 7 3 .
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 245

und römischer Pragmatismus zusammentreffen. Die Schreibübung als Synthese von


theoretischer Reflexion und rhetorischer Praxis bildet aber nicht bloß einen wich-
tigen Gegenstand der Auseinandersetzung, die in De oratore geführt wird. Darüber
hinaus gibt sich der Text selbst als Beispiel für eine solche Übung zu erkennen. In
den Proömien, die den drei Büchern von De oratore vorangestellt sind, signalisiert
Cicero dem Leser, daß er in seiner Dialogschrift die geforderte Synthese von Theorie
und Praxis zugleich auch paradigmatisch umzusetzen gedenkt. Das Nachdenken
über die Eigenschaften, die den idealen Redner auszeichnen, soll sich im Medium
exemplarischer Reden vollziehen, die diese Eigenschaften veranschaulichen.
Cicero will der Kunstfertigkeit der meisterhaften Redner Antonius und Crassus,
bei denen er selbst als junger Mann in die Lehre gegangen war, mit seiner Schrift
ein Denkmal setzen. Er macht es sich zur Aufgabe, ihren verblassenden Ruhm dem
Vergessen zu entreißen und die lebendige Erinnerung an die Macht ihrer Rede un-
sterblich zu machen.128 Die Gefahr des Vergessens ist deshalb besonders groß, weil
die beiden Redner, die doch angeblich den Nutzen des Schreibstifts für den Rhetor
so sehr zu schätzen wußten, keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen haben. 129
Ihre Redekunst hat bislang nur im Gedächtnis derer überleben können, die sie
haben reden hören. Der Verzicht auf die schriftliche Fixierung ihrer Reden hat dazu
geführt, daß Antonius und Crassus nicht traditions- und stilbildend wirksam wer-
den konnten. Denn wo keine schriftlichen Muster vorliegen, dort ist nach Ciceros
Ansicht eine echte, aus gründlicher Einsicht in die wahren Qualitäten der Vorbilder
hervorgehende imitatio nur schwer möglich. Ciceros Text soll diese Lücke füllen.
Alle diejenigen, die Antonius oder Crassus nie auf dem Forum erleben konnten,
sollen sich mit Hilfe der in De oratore schriftlich dargebotenen Exempel eine genaue
Vorstellung von ihrer überlegenen Beredsamkeit machen können.
Cicero erhebt somit für seine imitatio den Anspruch, daß sie die verlorenen Ori-
ginale der beiden verstorbenen Rhetoren zu supplementieren vermag. Er bezeichnet
es als sein besonderes Anliegen, den persönlichen Redestil der beiden Meister — die
klare Nüchternheit des einen, die prachtvolle Ausdrucksfülle des anderen — zu
reproduzieren.130 Cicero ist nicht daran interessiert, ein genaues Abbild der histori-
schen Wirklichkeit herzustellen. Im Gegenteil, er betont, daß er an dem Gespräch,
das in De oratore wiedergegeben wird, selbst gar nicht teilgenommen hat. Vielmehr
habe ihm Gaius Aurelius Cotta, ein Zeuge der Unterredung, die Grundzüge der

128 Cicero: De oratore II.7f.


125 Ebd. II.8. - R. D. Meyer, der die Quellen des De oratore einer genauen Analyse unterzieht,
bestätigt, daß Cicero im Falle des Crassus und des Antonius auf keinerlei schriftliche Überlie-
ferung zurückgreifen konnte. Vgl. R. D. Meyer: Literarische Fiktion und historischer Gehalt
in Ciceros De oratore. S. I4f.
130 Ebd. III. 16. - Cicero gehört zu den wenigen antiken Autoren, die die Existenz von persönli-
chen, je nach der Individualität des Rhetors differierenden Redestilen nicht bloß zugestehen,
sondern als Kennzeichen echter vis dicendi hochzuschätzen wissen. Vgl. ebd. III.34: »quot ora-
tores, totidem [...] genera dicendi«. Vgl. auch M. Fuhrmann: Die antike Rhetorik. S. 58f.
246 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Auseinandersetzung (»locos ac sententias huius disputationis«) mitgeteilt; diese res


habe er dann - aufgrund seiner genauen Kenntnis der für Crassus und Antonius je
spezifischen Eigenheiten - in passende verba gekleidet.131 Paradoxerweise ist es also
gerade die Abwesenheit Ciceros, die dafür bürgen soll, daß in seiner Darstellung des
Gesprächs die wahren Qualitäten der musterhaften Redner sichtbar werden. Die
Erinnerung daran, wie es wirklich war, kann seinem Bemühen nicht in die Quere
kommen, ein authentisches Bild der Charaktere und ihres oratorischen Verhaltens
zu zeichnen. Die mittelbare, distanzierte Beziehung, die Cicero zu dem von ihm
dargestellten Gespräch unterhält, eröffnet ihm die Möglichkeit, eine andere, allge-
meinere Wahrheit zur Geltung zu bringen als diejenige der historischen Fakten. De
oratore ist das somit Produkt einer imitatio-Übung, wie sie innerhalb des Dialogs
von Antonius und Crassus propagiert wird: Cicero bildet die Reden seiner Vorbilder
nicht äußerlich ab, sondern er bildet sie aus seinem eigenen Redevermögen heraus
nach. Er demonstriert auf diese Weise seine - durch gründliche und reflektierte
Beobachtung der Vorbilder erworbene — Fähigkeit, mit demselben Kunstverstand
zu reden wie sie. Während die loci und sententiae des Gesprächs (vorgeblich) einer
fremden Quelle entstammen, reklamiert Cicero die Urheberschaft der verba fur sich.
Diese verba sind also beides zugleich: eine treffende, das wahre Wesen der Vorbilder
erfassende imitatio und eine Demonstration des virtuosen Redevermögens, das den
Imitator auszeichnet. Cicero stilisiert nicht nur Antonius und Crassus, sondern auch
sich selbst zu einem nachahmenswerten Muster der Redekunst. Er präsentiert dieses
Muster in schriftlicher Form und fordert den Leser somit zu einem gründlichen
Studium, zu einer ebenso gewissenhaft vollzogenen Arbeit der imitatio auf, wie er
selbst sie in Gestalt seines Textes vorführt.
Es bietet sich an, die Proömien des De oratore mit der Vorrede zu Piatons The-
aitetos-Dialog zu vergleichen.132 In beiden Fällen nämlich zeichnet die Vorrede den
Vorgang der Verschriftlichung eines ursprünglich mündlichen Diskurses nach; in
beiden Fällen hat das Proömium den Zweck, das Verhältnis des Schreibers zu seiner
mündlichen Vorlage und seinen Status als >Autor< zu klären; in beiden Fällen schließ-
lich wird der Versuch unternommen, das Rezeptionsverhalten des Lesers zu steuern
und einen Prozeß der Traditionsbildung in Gang zu setzen. Eukleides, der von Piaton
vorgeschobene > Verfassen des Theaitetos, ähnelt Cicero darin, daß auch er an dem
Gespräch nicht teilgenommen hat, welches er - im Anschluß an den Bericht des
Sokrates - niederschreibt und aus dem diegetischen in den dialogisch-mimetischen
Modus transponiert. Doch anders als der Verfasser des De oratore setzt der Verfasser

131 Cicero: De oratore III. 16.


132 Zwar ist De oratore seiner äußeren Form nach dem Vorbild der exoterischen Schriften des
Aristoteles verpflichtet, doch hält sich Cicero auch den platonischen Dialog immer wieder
als Muster vor Augen: vgl. 1.28 (Evokation des platonischen Phaidros als eines Vorbilds für
die philosophische Erörterung der Rhetorik), III. 15 (Hinweis auf die Meisterschaft Piatons
in der dialogischen Darstellung der Sokrates-Figur).
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 247

des Theaitetos alles daran, seine mimetische Aktivität zu verschleiern. Wie Eukleides
die Kunst, die er bei der Niederschrift des Textes aufwendet, vor sich selbst zu ver-
bergen sucht, um sich auf diese Weise in den Glauben zu wiegen, die sokratischen
logoi in ihrer authentischen Form vor Augen zu haben, so verbirgt auch Piaton seine
Autorschaft vor dem Dialogleser, damit dieser der Illusion erliegt, dem dargestellten
Gespräch als Zeuge beizuwohnen und die Stimme des Sokrates unmittelbar zu ver-
nehmen. Piaton versteckt sich und seine literarischen Kunstmittel hinter Eukleides,
erzeugt also den täuschenden Eindruck, als sei der Verfasser des geschriebenen Di-
alogs ein neutrales Glied in einer Uberlieferungskette, welche die sokratischen logoi
in unveränderter Form von ihrem Urheber an den Leser weiterreicht.
Cicero dagegen nutzt die Proömien des De oratore, nicht um seine Kunst zu ver-
bergen, sondern um explizit auf sie hinzuweisen. Er exponiert sich als den Urheber
der verba, die im dargestellten Gespräch geäußert werden, und stellt sich somit als
einen Virtuosen der imitatio dar. Cicero macht seinen Text als das Produkt eines
bewußt und kunstgerecht vollzogenen Akts der Nachahmung kenntlich. Ohne
diesen bewußten Willen zur Nachahmung wären die Vorbilder der Redekunst dem
Vergessen ausgeliefert. Während Piaton suggeriert, daß die sokratischen logoi sich wie
von selbst in unverfälschter Reinheit tradieren,133 versucht Cicero aufzuzeigen, daß
Traditionsbildung eine voluntative, auf Wahl und Entscheidung beruhende Tätigkeit
darstellt.134 Das Denkmal, das Cicero seinen Lehrern und sich selbst in De oratore
errichtet, soll den Leser des Gesprächs dazu animieren, auf ähnliche Weise mimetisch
aktiv zu werden. Er soll sich nicht der Illusion der Gegenwart ausliefern, die durch
die dramatische Form des Dialogs generiert wird, sondern das schriftliche Monu-
ment der Redekunst intensiv studieren, um dem Kunstverstand auf den Grund zu
gehen, den der Verfasser darin investiert hat. Wo der platonische Dialogleser dazu
veranlaßt wird, sich selbst zu täuschen und sich unbewußt mimetisch zu betätigen,
da fordert Cicero den Rezipienten dazu auf, den Text kritisch zu durchleuchten,
sich seine Qualitäten bewußt zu machen und sie in einem willentlichen Akt der
Imitation zu reproduzieren. Der Leser soll sich darin üben, die Vorbilder Antonius
und Crassus nachzuahmen - vor allem aber das Muster Cicero, der in De oratore
demonstriert, wie man diese Vorbilder erfolgreich imitiert. Die Proömien weisen
den Text als Übungsvorlage aus.

Rhetorische Übung als philosophisches Therapeutikum


Doch Cicero begnügt sich nicht damit, Musterstücke der Beredsamkeit zu präsen-
tieren, die sich der Leser durch Studium und Nachahmung zu eigen machen kann.

133 Zu Piatons Konzeption der »tradition absolue« vgl. P. Loraux: L'art platonicien d'avoir l'air
d'ecrire.
134 Zur voluntativen Komponente der imitatio bei Cicero vgl. auch T h . Greene: T h e Light in
Troy. S. 64.
248 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Ein Hauptanliegen seiner Schrift besteht ja darin, den Nachweis zu erbringen, daß
wahre Eloquenz nur aus einer umfassenden Bildung des Redners hervorgehen kann.
Cicero ist daher bemüht, das theoretische Wissen aufzudecken, das dem praktischen
Redevermögen seiner Vorbilder zugrunde liegt. Er will dem verbreiteten Vorurteil
entgegentreten, Antonius und Crassus hätten weder über ein gründliches rheto-
risches Fach- noch über ein philosophisches Allgemeinwissen verfügt. 135 Auf den
ersten Blick scheint es nicht weiter schwierig zu sein, dieses Vorurteil zu entkräften:
D a die Redekunst das T h e m a des Gesprächs bildet, bietet sich den Dialogpartnern
die Gelegenheit, ihre diesbezüglichen Wissensschätze auszubreiten. D o c h Cicero
stellt einen hohen Anspruch an die Art und Weise, wie diese Kenntnisse zu vermit-
teln sind. Antonius und Crassus sollen kein trockenes Lehrbuchwissen präsentieren,
sondern sie sollen die theoretischen Kenntnisse, die sie darlegen, zugleich in ihrer
Darlegung praktisch zur Anwendung bringen; sie sollen in rhetorisch versierter
Form über die Rhetorik reden. Der theoretische Diskurs über die Rhetorik kann in
den Beiträgen der Gesprächsteilnehmer aber nur deshalb mit einer praktischen De-
monstration hoher Redekunst verknüpft werden, weil Antonius und Crassus davon
absehen, das kleinteilige, kasuistisch aufgezogene Regelwissen der Kunstdoktrin zu
explizieren. Nur indem sie es vermeiden, sich auf pedantische Begriffserläuterungen
einzulassen, nur indem sie den Diskurs auf eine allgemeinere Ebene verlagern und
die grundsätzliche Problematik der Rhetorik in ihrem Verhältnis zur Philosophie,
in ihrer spannungsreichen Position zwischen griechischer Theorie und römischer
Pragmatik erörtern, kurz: nur indem sie die Frage nach dem rhetorischen Wissen
als quaestio infinita behandeln, kann es ihnen gelingen, den systemlogisch zerstük-
kelten Diskurs der Kunstlehre durch einen kontinuierlichen Redefluß zu ersetzen
und mit rhetorischer Verve über die Rhetorik zu sprechen. Antonius und Crassus
bekunden ihren souveränen rhetorischen Kunstverstand dadurch, daß sie nicht in
der engstirnigen Manier eines Schulmeisters, sondern aus der distanzierten, das
Ganze überblickenden Perspektive des Philosophen an die Erörterung der Redekunst
herangehen. Sie führen somit in praktischer Anwendung vor, was sie zugleich pro-
grammatisch als eine Grundvoraussetzung der Eloquenz deklarieren: die Fähigkeit
nämlich, konkrete Fragestellungen auf allgemeine Gesichtspunkte zurückzuführen.
Diese Fähigkeit setzt ein bestimmtes Wissen voraus — kein kleinliches Regelwissen,
sondern ein philosophisches Grundlagen- und ein topisches Allgemeinwissen. D a ß
Antonius und Crassus ein solches Wissen besitzen und wie sie davon Gebrauch ma-
chen, versucht Cicero in De oratore aufzuzeigen. Er offeriert mit seiner Dialogschrift
also nicht nur das Musterbeispiel einer imitatio-Übung; der Text stellt zudem eine
exemplarische Übung im Umgang mit quaestiones infinitae dar.
Das gilt nicht allein für die Protagonisten des Gesprächs; auch Cicero selbst will
als Verfasser des Textes demonstrieren, wie man der Rede durch die philosophische

135 Cicero: De oratore II.4, II.7.


Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 249

Vertiefung ihres Sachgehalts zu größerer Durchschlagskraft verhelfen kann. Denn


Cicero gibt sich in den Proömien des De oratore als der eigentliche Urheber der
Vorträge zu erkennen, die in der Dialogschrift verzeichnet sind. Die Abfassung
und Niederschrift des Gesprächs markiert einen ersten Schritt in Richtung auf
Verallgemeinerung und philosophische Vertiefung, wie Cicero dem Leser gleich am
Eingang seines Textes signalisiert. Die Proömien sind an Ciceros Bruder Quintus
adressiert. Cicero erinnert seinen Bruder zunächst an die vielen Diskussionen, die
sie untereinander über den Gegenstand der Redekunst zu führen pflegten. Quintus
vertrat dabei gewöhnlich einen pragmatischen Standpunkt, der demjenigen des
Antonius ähnlich war, während Cicero - ganz wie sein Vorbild Crassus - für das
Ideal des doctus orator eintrat.136 Cicero macht somit deutlich, daß das eigentliche
Urbild der Auseinandersetzung, die in De oratore vorgeführt wird, nicht in der durch
Cotta bezeugten Unterredung zu suchen ist, die im Jahre 91 v. Chr. im Landhaus des
Crassus stattgefunden haben soll. Diese Unterredung bildet vielmehr ein Szenarium,
das es ihm ermöglicht, die Diskussionen mit seinem Bruder in idealisierter Form zu
reproduzieren. Der fiktive Gesprächsrahmen erlaubt es, die konkreten quaestiones
finitae, die den Ausgangspunkt der Debatten unter den Brüdern bildeten, hinter sich
zu lassen und in die abstraktere Sphäre der quaestiones infinitae zu transponieren.
Die Reden des Crassus und des Antonius dienen als Spiegel, in denen Cicero seine
Auffassung der Rhetorik und die Ansichten seines Bruders zur Darstellung bringen
kann. Mit Hilfe dieses Spiegels versucht er, seine Anschauungen zu läutern und
zu vertiefen, ihre Bedeutsamkeit zu steigern und ihnen das Gewicht anerkannter
Autoritäten zu verleihen. Cicero löst seine Meinung aus ihrer Verflechtung in die
Partikularitäten einer allzu konkreten Wirklichkeit. Er konstruiert in De oratore
einen der Realität enthobenen Raum, der es ihm ermöglicht, das rhetorische Wissen
zu verallgemeinern und in philosophische Fragestellungen einzubinden.
Der Verfasser von De oratore stellt also nicht bloß die programmatische Forde-
rung nach philosophischer Fundierung der Redekunst auf; er setzt diese Forderung
zugleich auch auf verschiedene Strukturebenen seiner Dialogschrift exemplarisch in
die Praxis um. Der besondere Stellenwert, den Cicero der thesis oder quaestio infinita
im Rahmen der rhetorischen Übung einräumt, ist ein Indiz für sein Bestreben, die
Redekunst der Philosophie anzunähern. Tatsächlich markiert die Erörterung von
quaestiones infinitae den Grenzbereich zwischen rhetorischer und philosophischer
exercitatio.137 Dient die rhetorische Behandlung philosophischer Probleme beim an-

136 Ebd. 1.5.


137 Die Übungsform der thesis entstammt ursprünglich d e m philosophischen Schulbetrieb. Sie
wurde in hellenistischer Zeit — möglicherweise durch Hermagoras von Temnos — in den
Rhetorikunterricht übernommen, spielte dort aber gegenüber der hypothesis beziehungsweise
der qmestio finita i m m e r nur eine untergeordnete Rolle. (G. Kennedy: T h e Art of Persuasion
in Greece. S. 305f.) Cicero unternimmt den Versuch, die Hierarchie der Ubungsformen im
Rhetorikunterricht umzukehren u n d diesem eine philosophische, allgemein-theoretische
Ausrichtung zu verleihen. Vgl. dazu auch L. Bornscheuer: Topik. S. 66f.
250 Vom sokratiscben Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

gehenden Redner der Ausbildung und Stärkung seiner vis orandi, so erfüllt sie beim
fertig ausgebildeten Rhetor zusätzlich die Funktion eines philosophischen Therapeu-
tikums. Denn auch nach Abschluß seiner Ausbildung soll der Redner nach Ansicht
Ciceros seine Übungsaktivitäten fortsetzen. Die Stunden der Muße soll er insbe-
sondere dazu nutzen, über bedeutende Themen und Streitfragen zu deklamieren.
Diese Übung für Fortgeschrittene wird nicht nur durch die Reden veranschaulicht,
mit denen Antonius und Crassus in De oratore die Zeit während ihres erholsamen
Landaufenthalts in Tusculum ausfüllen. Cicero selbst liefert dafür Beispiele aus sei-
ner eigenen Übungspraxis, wobei er den therapeutischen Wert der Deklamationen
hervorhebt. In einem Brief an seinen Freund Titus Pomponius Atticus aus dem Jahre
49 v. Chr. legt er dar, wie er die Zeit der politischen Untätigkeit zu verbringen pflegt,
die ihm aufgrund des Bürgerkriegs und der dadurch hervorgerufenen Obstruktion
des republikanischen Lebens in übergroßem Maße zuteil wird:
sed tarnen, ne me totum aegritudini dedam, sumpsi mihi quasdam tamquam θέσε«;, quae et
πολιτικαί sunt et temporum horum, ut et abducam animum ab querelis et in eo ipso de quo
agitur exercear. eae sunt huius modi: Ei μενετέον έν τί] πατρίδι τ υ ρ α ν ν ο υ μ έ ν η ς αυτής, ε ϊ
παντί τ ρ ό π ψ τυ ραννίδος κατάλυσιν πραγματευτέον, καν μ έ λ λ η δια τοΰτο π ε ρ ί τών ολων
ή πόλις κινδυνεύσειν. ει ε ύ λ α β η τ έ ο ν τον καταλύοντα μ ή αύτός α'ίρηται. [...] In his ego me
consultationibus exercens et disserens in utramque partem tum Graece tum Latine et abduco
parumper a n i m u m a molestiis et τών προϋργου τ ι delibero,'38

Die Problemfälle, die Cicero seinen privaten Deklamationsübungen zugrunde legt, be-
ziehen sich auf die aktuelle politische Situation, sprich: auf den drohenden Untergang
der römischen Republik und die Gefahr einer Diktatur durch Gaius Iulius Caesar. Die-
se Situation bekümmert den überzeugten Republikaner und bewirkt eine tiefgreifende
Depression (»aegritudo«). Doch indem Cicero von den konkreten Umständen der
gegenwärtigen Lage abstrahiert und diese auf die allgemeine, ethisch-philosophische
Problematik der Tyrannenherrschaft bezieht, indem er also die ihn bedrängenden
quaestionesfinitae auf quaestiones infinitae zurückfuhrt, gewinnt er einen gewissen Ab-
stand zu den politischen Realitäten und vermindert den Druck, der auf ihm lastet.
Bezeichnenderweise formuliert er die zu erörternden theseis in griechischer, nicht
in lateinischer Sprache. Er markiert so die Distanz, die er gegenüber der römischen

138 Cicero: Epistulae ad Atticum. H g . von D. R. Shackleton Bailey. Stuttgart 1987 (Bibliotheca
Teubneriana). Bd. 2. 9 . 4 . 1 - 3 . ( » U m mich jedoch nicht ganz und gar d e m Trübsinn hinzuge-
ben, habe ich mir selbst sozusagen eine Reihe von T h e m e n gestellt, politische und aktuelle,
um mich von d e m ewigen Gejammere abzulenken und mich mit den aktuellen Fragen
vertraut zu machen. Es handelt sich um folgende T h e m e n : Soll man im Vaterland bleiben,
wenn es von einem Tyrannen beherrscht wird? Soll man mit allen Mitteln auf die Beseitigung
derTyrannis hinarbeiten, auch wenn dabei wahrscheinlich die Existenz des Staates auf dem
Spiel steht? Oder muß der, der die Tyrannis beseitigen will, sich in acht nehmen, daß er
nicht selbst auf den Thron gehoben wird? [...] Indem ich mich mit solchen Überlegungen
beschäftige und das Für und Wider erörtere, bald griechisch, bald lateinisch, lenke ich mich
für eine Weile von allem Verdruß ab und erwäge gleichzeitig, was mir förderlich ist.« [Marcus
Tullius Cicero: Atticus-Briefe. Lateinisch-deutsch. H g . von Helmut Kasten. München 1959.
S. 545.]).
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 251

Gegenwart zu etablieren sucht, und bekundet seine Intention, die Problemlage,


in der er gefangen ist, von außen, durch das verfremdende Medium griechischer
Grundlagenreflexion hindurch, zu betrachten. Der reflexive Abstand zur politischen
Wirklichkeit ermöglicht einen spielerischen, experimentellen Umgang mit den
Problemen: Cicero deklamiert in verschiedenen Sprachen und argumentiert dabei
in entgegengesetzte Richtungen (»in utramque partem«), er probiert also unter-
schiedliche Ansichten aus und geht alternative Lösungsmöglichkeiten durch. Das
intellektuelle Spiel ist jedoch kein Selbstzweck. Die Verlagerung der anstehenden
Probleme auf eine allgemeine Ebene und das Abwägen von Alternativen sollen dem
Übenden letztlich dazu verhelfen, seine Ansichten zu klären und seinen Standpunkt
zu festigen. Die konzeptuelle und rhetorisch-sprachliche Bewältigung der Übungs-
fragen trägt somit zur Bewältigung der psychischen Krise bei, der Cicero ausgesetzt
ist. Die Deklamation stellt eine Art Selbsttherapie dar, ein Verfahren zur Beruhigung
der Seele und zur Bekämpfung der lähmenden aegritudo. Cicero vollzieht einen
gleitenden Übergang von der rhetorischen Übung zur ethischen Selbsttechnik, von
der gymnastischen Erprobung seines Redevermögens zur philosophischen Stärkung
seiner Seelen- und Geisteshaltung.
Dieser gleitende Übergang kennzeichnet nicht nur die privaten Deklamationen
Ciceros, sondern auch die philosophischen Erörterungen, die er in schriftlicher Form
der Öffentlichkeit preisgibt. Im Proömium zu den Tusculanae disputationes teilt Cicero
seinen Lesern mit, daß die große ethische Dialogschrift, die sie in Händen halten, aus
einer rhetorischen Übung hervorgegangen sei, die er gemeinsam mit Freunden zum
Zwecke der Erholung und der Zerstreuung absolviert habe.139 Die philosophischen
Werke Ciceros sind demnach im Grunde nichts anderes als schriftlich ausgearbeitete
Deklamationsübungen. Der Dialogautor Cicero unterscheidet sich von seinem
Vorläufer Piaton dadurch, daß er nicht versucht, den rhetorischen Charakter seiner
philosophischen exercitationes zu verbergen. Im Gegenteil: Wie er in De oratore fur die
Annäherung der Rhetorik an die Philosophie plädiert, so betont er in seinen philoso-
phischen Schriften die Notwendigkeit, den Einsichten der Vernunft durch rhetorische
Kunstmittel Nachdruck zu verleihen. Therapeutische Wirksamkeit kann die philoso-
phische Grundlagenreflexion demnach allein durch die Unterstützung der Redekunst
gewinnen. In Defirtibus bonorum et malorum etwa kritisiert Cicero die philosophische
Praxis der Stoiker, die zwar zu wahren Einsichten gelangten, deren Erörterungen
aber allzu spitzfindig seien. Ihr Sprachstil sei der von Leuten, die Dornen ausziehen
(»spinas vellentium«) oder Knochen bloßlegen (»ossa nudantium«), so daß auch dieje-
nigen, die der stoischen Lehre ihre intellektuelle Zustimmung nicht versagten, daraus
keine Konsequenzen fur ihre Lebensführung zögen und ihre innere Einstellung nicht

139 Cicero: Tusculanae disputationes. Hg. von Max Pohlenz. Stuttgart 1982 (Bibliotheca Teub-
neriana; Ndr. der Ausg. Leipzig 1918). 1.7.
252 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

änderten: »Pungunt enim quasi aculeis interrogatiunculis angustis, quibus etiam qui
adsentiuntur nihil commutantur animo et idem abeunt qui venerant.«' 40
Dem einseitigen Intellektualismus der Stoiker stellt Cicero das Beispiel der
Peripatetiker und Akademiker gegenüber. Die Vertreter dieser beiden Philosophen-
schulen besitzen für ihn deshalb eine Vorbildfunktion, weil sie dem sprachlichen
Ausdruck die gleiche Aufmerksamkeit widmen wie der logischen Analyse. Laut
Cicero begreifen sie die Rhetorik als eine notwendige Ergänzung der Dialektik:
Vernunfteinsicht und Redevermögen - »ratio et oratio« - müssen zusammenarbei-
ten, um die Wahrheit in der Seele des Individuums zu verankern und therapeutisch
zur Wirkung zu bringen. 141 Erhabene Wahrheiten und tiefe Einsichten erfordern
eine angemessene, das heißt: glanzvolle und eindrückliche sprachliche Darstellung,
damit sie den Rezipienten zur Aufgabe seiner Vorurteile und Irrtümer bewegen und
zu einem wirklichen Wandel in seiner Seelenhaltung veranlassen können. Daher, so
Cicero, ist es bei Peripatetikern und Akademikern üblich, daß die Adepten der Phi-
losophie nicht nur ein dialektisches, sondern auch ein rhetorisches Training absolvie-
ren, und zwar in Form einer »dicendi exercitatio duplex«, einer zweifachen Übung,
die das eine Mal von quaestiones finitae, das andere Mal von quaestiones infinitae
ihren Ausgang nimmt. 142 Dieses Training führt zum Erwerb einer »dicendi copia«,
mit deren Hilfe der Philosoph sowohl auf die Seelen anderer als auch auf die eigene
Seele Einfluß zu nehmen vermag — letzteres wiederum im Rahmen einer rhetorischen
Übung, einer autosuggestiven Deklamation über ethische Problemstellungen, die auf
die dialektisch ermittelten Grundsätze der jeweiligen Schule zurückgreift und dann
ihrerseits (wie im Falle der Tusculanae disputationes) die Gestalt eines ausgewachsenen
philosophischen >Werks< annehmen kann. 143
Cicero weist der Deklamationsübung somit den Status eines Bindeglieds zwi-
schen Philosophie und Rhetorik zu. Sie erfüllt im Rahmen der philosophischen
paideia die Funktion, den abstrakten dialektischen Lehrinhalten lebenspraktische
Wirksamkeit zu verleihen. Im Kontext der rhetorischen institutio hat sie umgekehrt
die Aufgabe, die fallspezifische Ausrichtung der Rede zu brechen, sie auf die Ebene
allgemeingültiger Wahrheiten zu verlagern und auf diese Weise ein Moment der

140
Cicero: De finibus bonorum et malorum libri quinque. Edited by Leighton Durham Rey-
nolds. Oxford 1998. IV.6f. - Der Verzicht auf rhetorische Mittel, die dem angehenden Phi-
losophen die Aneignung der Wahrheit erleichtern sollen, entspringt bei den Stoikern jedoch
einem psychagogischen Kalkül. Aus stoischer Perspektive sind derartige Aneignungshilfen
kontraproduktiv - sie schläfern den Geist des Rezipienten ein, anstatt ihn zu eigenständiger
Denkarbeit und Applikationstätigkeit zu animieren. Siehe dazu Kapitel VI der vorliegenden
Untersuchung.
141
Ebd. IV. 10. - Die Formel ratio et oratio begegnet in einem ähnlichen Problemzusammenhang
auch in Tusuculanae disputationes IV.60: Damit die Einsichten der Philosophie ihre heilsame
Wirkung auf die von Leidenschaften erregte Seele ausüben können, müssen Vernunft und
Redekraft, logische Analyse und rhetorische Überzeugungsmittel zusammenfinden.
142
Cicero: De finibus bonorum et malorum IV.6.
143
Ebd.
Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung 253

theoretischen Reflexion zur Entfaltung zu bringen. Die rhetorisch-philosophische


Übung okkupiert ein mittleres Terrain zwischen Theorie und Praxis. Sie nähert die
Theorie der Praxis an, aber sie wahrt zugleich einen reflexiven Abstand gegenüber
der Lebenspraxis, der es dem Übenden ermöglicht, die Kontrolle über seinen Diskurs
zu erlangen und ihn der Direktive seiner ratio zu unterstellen. Die Übung ist kein
unverbindliches Spiel, denn sie dient der Selbstdisziplinierung des Übenden - sie
soll den Anweisungen der theoretischen Vernunft gerade eine verbindliche Geltung
verschaffen. Diese Geltung kann sie aber nur in einem Bereich erwerben, der sich
von der unmittelbaren Lebenspraxis abhebt — dort, wo der Redner nicht redet,
sondern liest oder schreibt; wo das ethische Subjekt nicht wirklich handelt, sondern
sein Handeln mimetisch inszeniert. Cicero wie auch Isokrates und Quintilian,
die alle drei für die Synthese von rhetorischer und sittlich-philosophischer paideia
eintreten, stimmen mit Aristoteles darin überein, daß sich das Subjekt nicht allein
durch theoretische Einsicht konstituiert. Es bedarf vielmehr der Übung, welche die
Vernunfteinsicht in eine Handlungsdisposition transformiert. Doch während Ari-
stoteles an dem Prinzip des learning by doing festhält, macht sich bei den Vertretern
der rhetorischen Tradition die Tendenz bemerkbar, die Übung aus dem Bereich der
Lebenspraxis auszugliedern. Das Subjekt konstituiert sich durch Übung, aber diese
Übung findet immer häufiger in der Zurückgezogenheit der Studierstube oder gar
im clusum cubiculum einer mentalen Innerlichkeit statt. Die Übung dient immer
weniger der Vorbereitung auf die Lebenspraxis; sie verliert ihren rein instrumenteilen
Charakter und etabliert sich als eigenständige Sphäre geistiger Aktivität, in der das
Subjekt seine Vernunftbestimmung verwirklichen soll.
VI. Verinnerlichung der dialektischen Struktur:
Schrift als Instrument der Selbstdisziplinierung
in der kaiserlichen Philosophie

Michel Foucault weist auf eine auffällige Tendenz hin, die sich in den Philosophen-
schulen des Hellenismus ankündigt, um in der ethischen Selbsttechnologie der
römischen Kaiserzeit vollends zum Durchbruch zu gelangen: das Verschwinden der
Dialektik, »the disappearance of the dialectical structure«. 1 Dieses Verschwinden
markiert zunächst einmal einen Wandel in der pädagogischen Verfahrensweise. Als
kennzeichnend für das Verhältnis zwischen Lehrer und Zögling gilt im philosophi-
schen Schulbetrieb der Kaiserzeit nicht mehr die dialogische Interaktion, wie sie in
den platonischen Gesprächen exemplarisch vorgeführt wird. Laut Foucault wird dem
Adepten der Philosophie nicht die Bereitschaft zur aktiven Teilnahme am Gespräch,
sondern die Fähigkeit abverlangt, dem Vortrag des Lehrers aufmerksam und diszipli-
niert zuzuhören. Eine neue Spielart der philosophischen paideia bildet sich heraus
- »a new pedagogical game where the master/teacher speaks and doesn't ask questions
and the disciple doesn't answer but must listen and keep silent.«2
Dieser neuen pädagogischen Methode korrespondiert nach Ansicht Foucaults
ein Wandel in der Struktur des ethischen Selbstverhältnisses, eine Transformation
der Beziehung, die das Subjekt zur Wahrheit der Natur- und Seinsordnung wie
auch zur Wahrheit seiner selbst unterhält. Während der platonische Dialog dem
Ziel verpflichtet sei, die in der Seele des Subjekts verborgene Wahrheit aufzudecken,
lokalisiere die kaiserzeitliche Philosophie sie an ganz anderer Stelle: »For the Stoics,
truth is not in oneself but in the logoi, the teaching of the teachers.«3 Der platonische
Dialog führt den angehenden Philosophen demnach ins Innere seiner selbst, um
ihm dort die Wahrheit zu enthüllen. Der Adept der stoischen Philosophie dagegen
nimmt sie von außen in Empfang. Das Hören oder Lesen der von den Lehrern über-
lieferten logoi markiert für ihn den ersten Schritt auf dem Weg zur Appropriation
der Wahrheit. Denn das aufmerksame Zuhören genügt nicht, um das Wissen in ein
gesichertes Besitztum der Seele zu verwandeln. Laut Foucault steht der angehende
Philosoph vor der Notwendigkeit, eine Askese der Wahrheit zu betreiben. Er muß
die von außen aufgenommenen logoi durch Meditation verinnerlichen. Zu diesem
Zweck soll er sogenannte hypomnemata oder commentarii anlegen, Notizhefte, in die

1
Michel Foucault: Technologies of the Self. S. 33.
2
Ebd. S. 32.
3
Ebd. S. 35.
256 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

er das Gehörte und Gelesene eintragen kann.4 Die Hefte haben nicht die Funktion,
das Gedächtnis des Schülers zu entlasten oder gar zu ersetzen; im Gegenteil, sie bil-
den einen »cadre pour des exercices«, eine Meditationsvorlage: Der Philosoph wird
dazu angewiesen, sich seine Notizen immer wieder vorzunehmen und gründlich
durchzugehen, um den Gedächtniseindruck aufzufrischen und den logoi in der Seele
eine stets aktuelle Präsenz zu verschaffen.5 Das aufmerksame Hören findet somit
im Schreiben und in der meditativen Lektüre eine notwendige Ergänzung.6 Durch
Hören, Lesen und Schreiben eignet sich der Schüler die Wahrheiten an und befe-
stigt sie in seinem Gedächtnis. Während der platonische Dialog dazu dient, einen
anamnetischen Prozeß in Gang zu setzen und die im Subjekt verschüttete Wahrheit
an den Tag zu bringen, entwickelt die kaiserzeitliche Philosophie mnemonische
Verfahrensweisen, die umgekehrt dazu dienen, die Wahrheit in der Seele des Subjekts
einzupflanzen und zu verwurzeln. Die für das Subjekt konstitutive Gedächtnisarbeit
hat nicht mehr die Gestalt der anamnesis, sie realisiert sich vielmehr »sous la forme
d'exercices progressifs de memorisation«.7
Foucault führt die Gegenüberstellung von platonischer Dialektik und kaiser-
zeitlichen Selbsttechniken noch weiter aus. Er behauptet, daß die Einheit von
Selbst- und Wahrheitsprüfung, die im sokratischen elenchos postuliert wird, sich
aber schon im platonischen Alkibiades-OlAog als fragil erweist,8 in der philo-
sophischen paideia der Kaiserzeit endgültig auseinanderbricht. Die Aneignung
der Wahrheit durch Hören, Lesen und Schreiben erfolgt nunmehr unabhängig
von einer Uberprüfung des Selbst. Die Praxis der Selbstprüfung koppelt sich in
Gestalt spezifischer Techniken introspektiver Analyse von den Verfahrensweisen
der Wahrheitsgewinnung ab.9 Diese Abtrennung der Wahrheitsaneignung von der
Selbstprüfung steht im Zeichen des Bemühens, das philosophische Wissen zu prag-
matisieren. Während der platonische Dialog auf die Enthüllung einer metaphy-
sischen Wahrheit abzielt, verleihen die kaiserzeitlichen Appropriationstechniken
dem Wissen eine praktikable Form: »One memorizes what one has heard, converting
the statements one hears into rules of conduct.«10 Die theoretische Einsicht in die
Naturordnung wird in praktische Verhaltensregeln umgemünzt; aus Wissenssätzen
werden Handlungsanweisungen. Auch die Techniken der philosophischen Selbst-
prüfung, die sich in der Kaiserzeit herausbilden, sind laut Foucault praktisch aus-
gerichtet. Das Exerzitium der abendlichen Gewissenserforschung etwa, von dem

4 Ebd. S. 3 6 1 ; ders.: L'icriture de soi. S. 418f.


5 M . Foucault: L'ecriture de soi. S. 4 1 9 .
6 M . Foucault: L'hermeneutique du sujet. Cours au College de France. S. 3 3 3 : »[A]pres avoir
done entendu la chose, sous son aspect ä la fois de verite dite et de prescription donnee, il
faut aussitöt faire marcher une memorisation.«
7 M . Foucault: L'hermeneutique du sujet. S. 3 6 0 .
8 Siehe oben, Kapitel II.3 dieser Untersuchung.
' Michel Foucault: Technologies o f the Self. S. 32f.
10 Ebd. S. 3 5 .
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 257

Seneca in De ira berichtet,11 dient nicht der Aufdeckung der wesentlichen Wahrheit
des Selbst, sondern der Regulierung des moralischen Verhaltens: »[I]n Stoicism it's
not the deciphering of the self, not the means to disclose secrecy, which is important;
it's the memory of what you've done and what you've had to do.«12 Das Individuum
vergegenwärtigt sich sein Handeln und untersucht, ob es sich regelkonform verhal-
ten hat, genauer: ob sein Handeln im Sinne des sittlichen Endziels — der Autonomie
und Seelenruhe des Subjekts — als zweckmäßig angesehen werden kann. 13 Dabei ruft
es sich die ethischen Prinzipien erneut in sein Gedächtnis. Die Gewissenserforschung
ist zugleich auch eine mnemonische Übung.
Foucault deutet das Verschwinden der Dialektik und die Ausdifferenzierung
spezifischer Aneignungs- und Selbstprüfungsverfahren mithin als Zeichen für die zu-
nehmende »Technisierung« des ethischen Selbstverhältnisses. Steht die Selbstsorge bei
Piaton noch im Zeichen der Selbst- und Seinserkenntnis, so löst sie sich im Hellenis-
mus und in der Kaiserzeit von der Metaphysik ab und gewinnt ein rein praktisches
Ansehen. Der Wechsel vom Dialog zum Hören ist in dieser Hinsicht symptomatisch:
Folgt man der Auffassung Foucaults, so ist es in der Kaiserzeit nicht mehr wichtig,
daß der Adept der Philosophie eine eigenständige Erkenntnisleistung vollbringt und
sich - wie im platonischen Dialog — aktiv an der Enthüllung der Wahrheit beteiligt.
Wichtig ist vielmehr, daß er die Wahrheit, die er zunächst passiv in Empfang nimmt,
einer praktischen Verwertung zufuhrt; wichtig ist, was er als handelndes Subjekt und
im kreativen Umgang mit seinem Selbst aus der Wahrheit macht
Es lohnt sich, dem Hinweis Foucaults auf den Niedergang der Dialektik ein
wenig gründlicher nachzugehen.15 Dabei ist aber eine gewisse Vorsicht geboten.

11 L. Annaeus Seneca: De ira. In: ders.: Philosophische Schriften. Lateinisch und Deutsch. Hg.
und übersetzt von Manfred Rosenbach. Bd. 1. Darmstadt 5 1995. III.36.
12 M. Foucault: Technologies of the Self. S. 35.
" Laut Foucault unterscheidet sich die stoische Selbstprüfung in dieser Hinsicht nicht bloß von
der platonischen Selbsteinkehr, sondern auch von der christlichen Gewissenserforschung:
Das Paradigma des stoischen Selbstprüfers ist nicht der Richter, der schuldhaftes Verhalten
aufdeckt und Sühne einfordert, sondern der Handwerker oder der Administrator, der Fehler
und Versäumnisse in der Ausführung eines Plans sichtbar macht und daraus Konsequenzen
für die künftige Praxis zieht. Vgl. ebd. S. 33f.; vgl. auch ders.: Le souci de soi. S. 77—79;
ders.: Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia. 6 Vorlesungen, gehalten
im Herbst 1983 an der Universität Berkeley/Kalifornien. Hg. Von Joseph Pearson. Aus dem
Englischen übersetzt von Mira Koller. Berlin 1996. S. 175.
14 M. Foucault: L'hermeneutique du sujet. Cours au College de France. S. 332f.
15 Foucault steht mit diesem Hinweis natürlich nicht alleine da. Der Niedergang der Dialektik
findet vor allem bei denjenigen Beachtung, die nicht nur den Inhalten, sondern auch den
Vermittlungsformen der Philosophie ihre Aufmerksamkeit schenken. So zeigt Martha C.
Nussbaum auf, daß dialektische Argumentationsmuster in der hellenistischen Ethik zugunsten
rhetorischer und literarischer Darstellungsformen zurücktreten; die Philosophen trauen der
Dialektik nicht mehr zu, nachhaltige therapeutische Effekte zu erzielen (vgl. M . C. Nuss-
baum: The Therapy of Desire. S. 34f. und passim). Pierre Hadot legt dar, daß die dialektische
Methode der Unterweisung in der Kaiserzeit durch exegetische Verfahrenstechniken abgelöst
wird - Philosophieren bedeutet nun vor allem die Auslegung und Kommentierung von au-
258 Vom somatischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Denn Foucault verfährt bei seiner Gegenüberstellung von platonischem Dialog


und kaiserzeitlichen Applikationsverfahren allzu schematisch. Er zeichnet den
Kontrast zwischen lebendiger Wechselrede und stummem Zuhören, anamnetischer
Selbsteinkehr und mnemotechnischer Aneignung der Wahrheit, theoretischer
Erkenntnis und praktischer Selbstsorge in plakativen Farben, um die Philosophie
Epiktets, Senecas und Plutarchs als Paradebeispiel einer ethischen Selbsttechnologie
zu profilieren, die sich von der Bindung an Wissen und Erkenntnis frei zu machen
versteht. Eine differenziertere Analyse, wie sie hier unternommen wird, vermag
jedoch einerseits aufzuzeigen, daß die Philosophie sich schon in der klassischen
Antike dazu genötigt sieht, spezielle Verfahren zur Aneignung der Wahrheit aus-
zubilden. Andererseits macht sie sichtbar, daß die Dialektik nicht einfach spurlos
aus dem Kontext der ethischen Selbsttechniken verschwindet. Der Dialog wird im
kaiserzeitlichen Schulbetrieb nicht durch die Praxis des Hörens verdrängt, sondern
diese nimmt jenen in verwandelter Gestalt in sich auf. Das dialogische Wechsel-
spiel von Frage und Antwort wird verinnerlicht. Der Schüler ist kein gehorsamer
Empfänger fertiger Wahrheiten, vielmehr wird er dazu aufgefordert, das Gehörte
sorgfältig auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen und es - in Form einer
kritischen Selbstbefragung — auf seine eigene Person anzuwenden. Entgegen der
Annahme Foucaults unternimmt auch die kaiserzeitliche Ethik den Versuch, die
Vorgänge der Wahrheitsaneignung und der Selbstprüfung miteinander zu ver-
knüpfen. Das Individuum wird dazu ermuntert, diese Vorgänge in seine eigene
Regie zu nehmen und sich von der Anleitung durch den Dialogpartner oder Lehrer
unabhängig zu machen. Die Wahrheit wird dem angehenden Philosophen nicht
durch die psychagogische Vermittlungsleistung des Gesprächsführers appliziert, er
appliziert sie sich vielmehr selbst in Form eines inneren Gesprächs, einer reflexiven
Rückwendung auf seine eigene Person.
Foucault hat somit zwar Recht, wenn er die Aneignung der Wahrheit als den
entscheidenden Faktor für die Konstitution des kaiserzeitlichen Moralsubjekts
deklariert. Er hat ebenso Recht, wenn er in diesem Zusammenhang die wachsende
Bedeutung des Lesens und des Schreibens herausstellt. Er irrt jedoch dort, wo er die
Appropriation der Wahrheit auf eine Reihe von mnemotechnischen Übungen redu-
ziert und der Selbstprüfung ihre Beziehung auf das kosmologische Wissen abspricht.
Insbesondere aber übersieht Foucault die bedeutende Rolle, die der Urteilskraft im
Rahmen der ethischen Selbstkonstitution zukommt. Die philosophische paideia
der Kaiserzeit ähnelt in dieser Beziehung der rhetorischen institutio. Der angehende
Redner soll seinem Gedächtnis ja nicht wahllos eine Fülle von Argumenten und Aus-
drücken einverleiben, er soll das, was die autoritativen Muster darbieten, nicht ohne

toritativen Texten (vgl. P. Hadot: Qu'est-ce que la philosophic antique? S. 2 3 2 - 2 3 7 ) . Beide


Forscher machen deutlich, daß das Schwinden der Dialektik mit der Aufwertung von Schrift
und Lektüre als Instrumenten der ethischen Selbstformung verbunden ist.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 259

Überlegung in sich aufnehmen. Es gilt vielmehr, eine copia cum iudicio zu erwerben
und sich das Nachahmenswerte durch den Gebrauch des Urteilsvermögens zu eigen
zu machen. Was dem Redner recht ist, das ist dem Philosophen — insbesondere dem
Philosophen stoischer Provenienz — mehr als billig. Auch bei ihm ist die Aneignung
der Wahrheit keine bloße Gymnastik des Gedächtnisses, sondern eine Leistung der
Urteilskraft; auch bei ihm ist das praktische Handeln keine bloße Anwendung von
Regeln und Präzepten, sondern geht aus der Reflexion auf die Grundprinzipien
seiner Kunst hervor.

1. Der neue Abstand zum Lehrer: Epiktets Kritik


an der sokratischen Methode

Epiktets elenktisches Experiment


Der stoische Philosoph Epiktet erörtert in einer seiner Diatriben die Vor- und Nach-
teile der dialektischen Unterweisung. 16 Er wendet sich zunächst selbstkritisch gegen
die »Vertreter unserer Schule« und wirft ihnen vor, die Kunst der Gesprächsführung
zu vernachlässigen. Epiktet hält den Stoikern das Beispiel des Sokrates vor Augen.
Er verweist auf die im Gorgias-Dialog erläuterte Methode des elenchos, mit deren
Hilfe es Sokrates gelinge, seinen Gesprächspartner unmittelbar zum Zeugen der
Wahrheit zu machen, ihm gewisse Einsichten nicht bloß darzulegen, sondern ihn
zum eigenständigen Vollzug der Erkenntnistätigkeit zu motivieren. Epiktet führt
die außerordentliche Wirkung der sokratischen Philosophie auf das psychagogische
Vermögen des attischen Denkers zurück — auf seine Bereitschaft, sich der Vorstel-
lungswelt des unwissenden Gesprächspartners so weit wie möglich anzunähern;
auf seine Fähigkeit, ihn der Wahrheit behutsam und ohne Anwendung von Zwang
entgegenzuführen. Diese Fähigkeit spricht Epiktet den Angehörigen seiner eigenen
Schule ab. Der stoische Philosoph ist zwar versiert im Disput mit seinesgleichen.
»Durch solche Fragen hingegen, die der Ungelehrte nach seinen eigenen Vorstellun-
gen verstehen, bejahen oder verneinen könnte, durch solche wissen wir ihn nicht zu
leiten. Wir tun demzufolge sehr wohl, daß wir unser Unvermögen hierin erkennen,
und sind klug, wenn wir uns eines solchen Geschäftes enthalten.« 17
Trotz der Bewunderung, die Epiktet dem attischen Philosophen entgegenbringt,
fordert er seine Anhänger also nicht dazu auf, die sokratische Vorgehensweise nach-
zuahmen. Er registriert die Unfähigkeit der Stoiker, ihren Diskurs der Fassungskraft

16
Epictetus: I Ιερί τοΰ διαλέγεσθαι (Vom Disputieren). In: ders.: Entretiens. Texte etabli et traduit
par Joseph Souilhe. 4 vols. Paris 1948ff. Vol. 2. S. 45^18 (II. 12). - Die deutsche Übersetzung
der Schriften Epiktets wird nach der folgenden Ausgabe zitiert: Epiktet: Was von ihm erhalten
ist. Nach den Aufzeichnungen Arrians. Neubearbeitung der Ubersetzung von J. G. Schulthess
von R. Mücke. Heidelberg o. J. [1924].
17
Epictetus: Diatriben II.12.1 lf.
260 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

des Unwissenden anzupassen, findet sich aber überraschend schnell damit ab. Der
sokratische Dialog ist als Muster für die stoische Praxis der Seelenführung offenbar
wenig geeignet. Die Reverenz, die Sokrates erwiesen wird, ist nur eine vordergrün-
dige; sie kann nicht verbergen, daß Epiktet grundsätzliche Bedenken gegenüber der
dialektischen Methode hegt.
Tatsächlich bezeichnet er das dialogische Philosophieren wenig später als »ein
H a n d w e r k , das sich heutzutage, u n d besonders in R o m nicht gar sicher treiben
läßt.« 18 Die dialektische Vorgehensweise, so behauptet Epiktet, ist unzeitgemäß. In
dieser Aussage bekundet sich ein Bewußtsein für die veränderten kulturellen u n d
gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die philosophische Lebenskunst in der
römischen Kaiserzeit betrieben wird. Doch nicht allein die historischen Umstände
sind dafür verantwortlich, daß die stoische Ethik von der sokratischen M e t h o d e
keinen Gebrauch machen kann. Epiktet erachtet die Methode selbst als unzulänglich
u n d fehlerhaft. Das geht aus einem kleinen Modelldialog hervor, den er inszeniert,
um seine Schwierigkeiten mit der sokratischen Spielart der Dialektik zu demons-
trieren. Der Modelldialog folgt dem f ü r Sokrates charakteristischen Muster des
elenktischen Begegnungsgesprächs: Epiktet berichtet, wie er die erstbeste Person, die
er auf der Straße trifft, in ein Gespräch verwickelt und dabei versucht, ihre Ansichten
zu eruieren und ihre Lebensweise zu überprüfen. So knapp die dialogische Insze-
nierung auch ausfällt, sie weist doch unverkennbare Parallelen zum platonischen
Alkibiades-OiiAog auf. Auch Epiktet will seinen Gesprächspartner dazu bewegen,
von der Sorge u m gleichgültige Dinge abzulassen u n d sich der Selbstsorge zuzu-
wenden; auch er operiert dabei mit der Unterscheidung zwischen Sein und Haben,
zwischen dem wahren Selbst der Seele u n d dem äußerlichen Besitz, der das Selbst
von der Pflege seines eigentlichen Wesens ablenkt. D e m sokratischen Beispiel Folge
leistend vermeidet es Epiktet, seinen Dialogpartner unvermittelt mit der Diagnose
seines defizienten Seelenzustandes zu konfrontieren. Er versucht vielmehr, ihn durch
einfühlsame Fragen sukzessive auf die Einsicht in seine Unwissenheit hinzuführen
und ihm diese dann direkt fühlbar zu machen. Das Ergebnis seiner Bemühungen ist
jedoch nicht die Selbsterkenntnis des Geprüften und die damit verknüpfte Konver-
sion zur philosophischen Lebensweise. Im Gegenteil, je näher Epiktet der Wahrheit
k o m m t , desto stärker wird der Widerstand, den ihm sein Gegenüber entgegensetzt,
desto heftiger wird sein Unwille, schließlich gar sein Zorn. Epiktet m u ß den Dialog
am Ende sogar abbrechen, u m zu verhindern, daß der Befragte handgreiflich wird
und ihm »ein paar Maulschellen« versetzt. 19
Epiktets burlesker Modelldialog demonstriert das Scheitern der sokratischen
Methode. Der Philosoph, der sich ihrer bedient, bewirkt das Gegenteil dessen, was
er beabsichtigt. Anstatt die Seele des Geprüften von schädlichen Leidenschaften zu

18
Ebd. 11.12.17.
" Ebd. 11.12.24.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 261

heilen, versetzt er sie in einen affektiven Taumel. Die blinde Wut des Befragten,
in die Epiktet seine dialogische Inszenierung am Ende einmünden läßt, parodiert
den Zustand heilsamer Verwirrung, den Sokrates zu erzielen sucht, indem er
seinen Gesprächspartner in die Aporie führt. Sokrates will damit erreichen, daß
der Befragte seine Unwissenheit nicht bloß als abstraktes Faktum zur Kenntnis
nimmt, sondern an sich selbst erfährt. Nach sokratischer Ansicht kann nur eine
derart intensive Erfahrung den Dialogpartner dazu veranlassen, die notwendigen
praktischen Konsequenzen aus der Einsicht in seinen Seelenzustand zu ziehen.
Der Zustand der Verwirrung markiert den Extrempunkt unmittelbarer Nähe zur
Wahrheit, in die der Dialogpartner mit Hilfe der dialektischen Methode gebracht
werden soll. Im sokratischen Gespräch ist alles daraufhin angelegt, eine solche Nähe
zu erzeugen — sowohl im Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, als auch in der
Beziehung des Erkennenden zur Wahrheit seiner selbst. Epiktet hingegen hält diese
Nähe offenkundig für kontraproduktiv. 20 Sein Modelldialog führt vor Augen, daß
der Philosoph, der sich der Vorstellungswelt seines Schülers annähert, keinen be-
stimmenden Einfluß auf die Seele des Gesprächspartners gewinnt, sondern sich im
Gegenteil der Gefahr aussetzt, die Kontrolle über seinen Diskurs zu verlieren. Die
Unfähigkeit der Stoiker, ihre Rede der Fassungskraft der Ungelehrten anzupassen,
erscheint Epiktet daher nicht unbedingt als ein beklagenswertes Manko. Sie ist eher
zu begrüßen. Denn es ist seiner Ansicht nach nicht die Aufgabe des Philosophen,
sich auf den unwissenden Schüler zuzubewegen. Vielmehr soll der Schüler von sich
aus Anstrengungen unternehmen, um die Distanz zu überwinden, die ihn vom
Wissensstand seines Lehrers und von der Wahrheit trennt. Epiktet fordert den
Philosophen dazu auf, immer einen gewissen Abstand zur Vorstellungswelt seiner
Schüler zu wahren. Dieser Abstand sichert dem Lehrer die rationale Herrschaft über
den Diskurs. Zugleich bildet er aber auch die Voraussetzung dafür, daß der Schüler
seiner eigenen Vernunft zu einer Position der Stärke und der Autonomie verhilft,
seine Leidenschaften in den Griff bekommt und sich der Fremdbestimmung durch
die Meinungen anderer entledigt.

20 Epiktets Kritik an der sokratischen Methode ist freilich im platonischen Alkiiiades-D'ialog


bereits angelegt. Die genaue Analyse macht sichtbar, daß es nicht die dialektischen, sondern
die rhetorischen Mittel sind, die Alkibiades schließlich zur Umkehr bewegen. Während die
Wahrheit, die direkt an ihm selbst in Erscheinung tritt, wirkungslos verpufft, vermögen ihn
die unter großem rhetorischen Kunstaufwand gezeichneten Abbilder dieser Wahrheit — die
beschämende Darstellung seiner Ignoranz in der Königsrede und das Paradeigma des Au-
genspiegels - von der Notwendigkeit zu überzeugen, sein Leben zu reformieren. Allerdings
dienen auch diese rhetorischen Tableaus dem Zweck, die unmittelbare Nähe der Wahrheit
zu suggerieren: Das Paradeigma des Augenspiegels etwa soll Alkibiades die Möglichkeit
vortäuschen, sein wahres Selbst unmittelbar in der Person des Gesprächsführers anschauen
zu können. Epiktet dagegen sieht gerade diese intime Nähe zwischen Lehrer und Schüler als
problematisch an.
262 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

H ö r e n u n d Schweigen

Wie sich die Wahrung eines Abstands zwischen Lehrer und Schüler auf die Praxis der
philosophischen Unterweisung konkret auswirkt und welche Vermittlungsform an
die Stelle des sokratischen Gesprächs treten soll, erläutert Epiktet in einer anderen
Diatribe. 21 Den Anlaß seiner Ausführungen bildet die Beschwerde eines Schülers.
Der Schüler vermißt die unmittelbare Zuwendung seines Lehrers; er wünscht, daß
Epiktet sich auf seine individuelle Situation einlasse und mit ihm ein persönliches
Gespräch führe - ein Gespräch nach dem Muster des platonischen Dialogs. Der
junge Mann fühlt sich durch die Vorträge, die Epiktet vor dem Plenum seiner An-
hängerschaft abhält, nicht angesprochen. Dem Lehrvortrag, der sich unterschiedslos
an alle Hörer richtet, vermag der Schüler nichts abzugewinnen, was der Förderung
seines persönlichen Seelenheils dienlich ist. Seine Kritik richtet sich mithin gegen
die Form der Unterweisung, die der stoische Philosoph seinen Schülern angedeihen
läßt.
Epiktet weist diese Kritik zurück. Er macht deutlich, daß der Schüler selbst größ-
tenteils für die Förderung verantwortlich ist, die er durch die Reden des Lehrers er-
fährt. Wenn ein Hörer sich durch einen Vortrag nicht angesprochen fühlt, so ist das
nicht unbedingt auf das Unvermögen des Redners zurückzuführen. Die Fähigkeit,
philosophische Sachverhalte verständlich und wirkungsvoll darzulegen, muß frucht-
los bleiben, wenn ihr auf Seiten des Hörers nicht die Fähigkeit korrespondiert, den
dargestellten Sachverhalt zu verstehen und auf die eigene Person zu beziehen: »Wenn
es also Geschicklichkeit erfordert zu reden [λέγειν], wie sichs gehört, siehst du da
wohl, daß es auch Geschicklichkeit erfordert, mit Nutzen zuzuhören [άκούειν]?«22
Es gibt folglich so etwas wie eine Kunst des Hörens. Diese Kunst besteht zum
einen in der Fähigkeit, dem Vortrag mit wachem Geist zu folgen und die darin
erörterten Probleme intellektuell nachzuvollziehen. Sie verlangt vom Hörer somit
den selbsttätigen Gebrauch seines Vernunftvermögens. Zum anderen umfaßt sie
die Bereitschaft des Rezipienten, das Gehörte auf seine persönliche Lebenssituation
anzuwenden und es auf diese Weise ethisch nutzbar zu machen. Epiktet fordert von
seinen Schülern zwar nicht, daß sie die Kunst des Hörens bereits vollkommen be-
herrschen, wenn sie bei ihm in die Lehre eintreten. Er erwartet aber sehr wohl, »daß
einer, der Philosophen hören will, notwendig schon irgendwelche Übung im Zuhö-
ren [τριβής περί τό άκούειν] gehabt haben sollte.«23 Mehr noch: Die Vortragsform,
derer sich Epiktet im philosophischen Unterricht bedient, ist darauf ausgerichtet,
die angehenden Philosophen in der Kunst des Hörens zu schulen. Er vermeidet es
bewußt, seine Rede dem Fassungsvermögen der Zuhörer anzupassen und sich an

Epictetus: Diatriben 11.24 (Πρός τινα των ούκ ήζιωμένων ΰ π ' αύτοΰ / An einen, der von
ihm nicht für wert geachtet wurde, seinen Vortrag zu hören).
Ebd. 11.24.8.
Ebd. 11.24.10.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 263

ihren individuellen Bedürfnissen auszurichten. Auf diese Weise will er sie zu einem
aktiven Hören erziehen. Anstatt dem Schüler — wie im sokratischen Gespräch — die
Arbeit der Applikation so weit wie möglich abzunehmen, stellt Epiktet ihn vor die
Notwendigkeit, sich das Gehörte selbsttätig zu applizieren. Der Adept der Philoso-
phie wird nicht mehr unmittelbar und persönlich angesprochen, der Hörer selbst hat
vielmehr einen Teil der Verantwortung dafür zu tragen, daß die vermittelte Wahrheit
persönliche Relevanz und appellative Kraft gewinnt.
Epiktet legt seinen Schülern die Verpflichtung auf, sich im aufmerksamen
Zuhören zu üben. Er weigert sich, den philosophischen Anfänger bei der Hand
zu nehmen und ihn durch einen Parcours individuell zugeschnittener Fragen zu
geleiten. Gleichwohl kann von einem gänzlichen Verschwinden der dialektischen
Struktur keine Rede sein. Das gilt zunächst einmal in einem äußerlichen Sinne:
Die dialogische Interaktion zwischen Lehrer und Schüler bildet auch weiterhin
einen Bestandteil der philosophischen paideia. Die Diatriben sind ja nichts anderes
als solche Gespräche, die Epiktet im Rahmen des Unterrichts mit seinen Hörern
geführt und die einer von ihnen, Arrian von Nikomedeia, in hypomnematischer
Form aufgezeichnet hat. 24
Allerdings steht der Dialog nicht mehr im Mittelpunkt der philosophischen
Unterweisung. Die Hauptrolle spielt vielmehr der systematische Lehrvortrag, der
zumeist der Auslegung der von den Schulgründern überlieferten Schriften gewidmet
ist. Die Ausführungen des Lehrers können, müssen aber nicht unbedingt zu einer
freieren Diskussion überleiten — »[ils peuvent] aussi s'achever par un moment de libre
discussion entre les auditeurs et le philosophe.«25 Dem Vortrag wird gegenüber dem
Gespräch, dem Hören gegenüber dem Diskutieren eine Priorität eingeräumt. Das
macht Epiktet auch jenem Schüler deutlich, der sich von seinem Lehrer vernachlässigt
fühlt und eine persönlich adressierte Ansprache einfordert. Ehe der Lehrer sich darauf
einläßt, mit einem Hörer zu diskutieren, muß sich dieser - so erklärt Epiktet — einer
solchen individuellen Zuwendung würdig erweisen. In gewissem Sinne kommt es zu
einer Umkehrung der Verhältnisse: Der Schüler wird nicht durch den Dialog zu einer
ernsthaften Beschäftigung mit der Philosophie hingeführt, sondern der Dialog ist die
Belohnung für sein ernsthaftes Bemühen um philosophische Erkenntnis und ihre
Umsetzung in Lebenspraxis. Nicht der Lehrer soll im Schüler die Lust zur Philosophie
erwecken, vielmehr soll der Schüler im Lehrer den Wunsch wachrufen, sich näher mit
ihm zu beschäftigen und sich ihm persönlich zuzuwenden - »[w]ie anständiges Futter
einem Schafe Lust macht, sobald es dasselbe erblickt, während es, wenn man ihm
Steine oder Brot vorlegt, nicht die geringste verspürt«.26

24
Vgl. Arrians Epistel an Lucius Gellius, die den Diatriben als Proömium vorangestellt ist
(Entretiens. Vol. 1. S. 4).
25
P. Hadot: La citadelle interieure. S. 78f.
26
Epictetus: Diatriben 11.24.16.
264 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Epiktet bringt seinen Widerwillen gegen solche Schüler zum Ausdruck, die sich
passiv wie leblose Gegenstände verhalten und nur darauf warten, von ihren Lehrern
unterhalten und mit leicht verdaulichem Wissensstoff versorgt zu werden. Er ist
erst dann dazu bereit, sich intensiver um ein Individuum zu kümmern, wenn dieses
von sich aus aktiv geworden ist und seinen aufrichtigen Willen unter Beweis gestellt
hat, philosophisches Wissen zu erwerben und seinen Lebenswandel zu reformieren.
Eine solche geistige Aktivität wird laut Epiktet aber gerade nicht dadurch manifest,
daß der Schüler redet, sich lebhaft an der Diskussion beteiligt und dabei mit klugen
Beiträgen glänzt. Sie gibt sich vielmehr durch eine bestimmte Art und Weise des
Zuhörens zu erkennen. Nicht die Rede des Disputanten, sondern die Miene und
Haltung des schweigenden Hörers gilt Epiktet als der maßgebliche Indikator für
den Seelenzustand des Schülers.27 Denn anders als das Reden liefert das Schweigen
zugleich auch einen Hinweis auf die sittliche Verfassung des Individuums. Immer
wieder schärft Epiktet seinen Hörern ein, daß nicht derjenige als Philosoph an-
zusehen ist, der die Schriften des Kleanthes oder Zenon richtig auszulegen und
wortgewandt zu erklären versteht, sondern derjenige, der sein Verhalten gemäß der
erlangten Einsicht reguliert.28 Wer zuhört und schweigt, anstatt seine Erkenntnisse
durch Wortmeldungen und Redebeiträge kund zu tun, zeigt somit an, daß er sein
Wissen nicht erworben hat, um damit zu glänzen, sondern um den Zustand der
Seelenruhe zu erreichen. Der angehende Philosoph soll von seinem Wissen nicht
durch Reden, sondern durch sittliches Handeln Gebrauch machen. Das Schweigen
markiert folglich nicht allein die innere Aktivität der Wissensaneignung; es stellt
zudem bereits eine Form der Anwendung dieses Wissens dar - das Zuhören ist in
gewisser Weise schon eine Spielart des ethischen Handelns.
Denn nach stoischem Verständnis ist das sittliche Tun ein inneres Tun. Es be-
zeichnet den richtigen Gebrauch der Vorstellungen.29 Derjenige macht den rechten
Gebrauch von seinen Vorstellungen und Gedanken, der sich nicht zu einem vor-

27
Ebd. II.24.28f.
28
Vgl. etwa Epictetus: Diatriben 1.4 (Περί π ρ ο κ ο π ή ς / Vom Fortschreiten), II.9 ("Οτι ού
δ υ ν ά μ ε ν ο ι τ η ν ά ν θ ρ ώ π ο υ έ π α γ γ ε λ ί α ν πληρώσαι τήν φιλοσόφου προσλαμβάνομεν / D a ß
wir uns den Philosophen-Titel anmaßen, ehe wir die Bestimmung des Menschen erfüllen).
29
Vgl. Epictetus: Diatriben 1.1.7. — Z u m stoischen Handlungsbegriff vgl. M. Forschner: Die
stoische Ethik. S. 66, S. 116f. Forschner legt dar, daß der Habitus nach stoischer Ansicht
nicht, wie bei Aristoteles, eine gewohnheitsmäßige Handlungsdisposition, eine dynamis,
darstellt, die der Aktualisierung im konkreten Handlungsvollzug bedarf. Vielmehr konzipiert
die stoische Philosophie den Habitus selbst als eine energeia — der Habitus ist ein aktuelles
inneres Handeln, eine Tätigkeit des Bewußtseins, das permanent damit beschäftigt ist, die
Vorstellungen zu prüfen und zu beurteilen. Das Urteil markiert die eigentliche Handlung.
Vgl. dazu Epictetus: Diatriben 11.18.14-18: Derjenige, dereinem schönen Mädchen begegnet
und dabei denkt: »Glücklich ist der M a n n , der mit ihr schlafen kann«, ist auch schon selbst
der Ehebrecher. Das Fehlurteil, das den unzüchtigen Gedanken auslöst, ist die eigentliche
unsittliche Handlung; die wachsame Haltung, die ein solches Fehlurteil verhindert und die
dafür Sorge trägt, daß das Mädchen als das erkannt wird, was es eigentlich ist (nämlich ein
gleichgültiger Gegenstand), stellt den aktuellen Vollzug tugendhaften Handelns dar.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 265

schnellen Urteil über ihre Inhalte hinreißen läßt und somit ein übereiltes Handeln
vermeidet. 30 Tugendhaftes Handeln manifestiert sich oft also gerade durch das
Unterlassen von Handlung, sofern diesem äußerlichen Nichtstun nämlich eine in-
nere Aktivität zugrunde liegt - der kritisch-reflektierende Umgang mit den eigenen
Vorstellungen. Von daher erklärt sich der Vorzug, den Epiktet dem schweigenden
gegenüber dem redenden Schüler erteilt. An bestimmten äußeren Zeichen (Haltung,
Miene, Gebärden) vermag der Lehrer abzulesen, ob es sich dabei um die richtige,
aktive Form des Schweigens handelt oder bloß um den Ausdruck einer verwerflichen
Geistesträgheit.31 Das richtige Schweigen ist ein Indiz der Selbstdisziplin und der
reflexiven Kontrolle über die Bewußtseinstätigkeit. Der Schüler hingegen, der gerne
und viel spricht, signalisiert eben dadurch, daß er seine Rede nicht in der Gewalt
und sich das Gehörte nicht gründlich angeeignet hat. Er macht sich eines übereil-
ten diskursiven Handelns schuldig; er gibt, wie Epiktet mit Hilfe eines drastischen
Vergleichs darlegt, Halbverdautes in erbrochener Form von sich und demonstriert
so seine mangelnde Eignung für die philosophische Lebensweise.32 Epiktet hält es
für sinnlos, mit solchen Kandidaten in ein Gespräch einzutreten: Nur mit dem sollte
man reden, der zuzuhören und zu schweigen gelernt hat.
»Wenn du also gern einen Philosophen hören möchtest,« in diesem Ratschlag
faßt Epiktet seine Ausführungen über Vortrag und Dialog zusammen, »so sage
nicht zu ihm: >Redest du nicht zu mir?< sondern zeige dich nur würdig und fähig zu
hören, so wirst du sehen, wie du seine Rede beeinflussen wirst.«33 Demnach vermag
der Schüler zwar nicht durch sein Reden, wohl aber durch die besondere Art seines
Schweigens auf den Diskurs des Lehrers einzuwirken. Die Vortragssituation, in der
ein aktiver Spender einem passiven Empfänger von Wahrheiten gegenüberzustehen
und die somit eine hierarchische Beziehung zu etablieren scheint, besitzt laut Epiktet
eine untergründige dialogische Struktur. Der Vortragende spult nicht einfach ein
im vorhinein präpariertes Lehrpensum ab, ohne auf das Verhalten seiner Zuhörer
zu achten. Im Idealfall trägt er den Reaktionen seiner Zuhörer mit der gleichen
kritischen Aufmerksamkeit Rechnung, mit der diese seine Rede verfolgen und auf
ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen. Je nachdem, wie das Schweigen der Hörer be-
schaffen ist, richtet der Lehrer seine Rede ein. Er paßt sich zwar nicht bedingungslos
dem Bildungshorizont seiner Hörer an, aber er reguliert den Abstand, den sie durch
eigenständige Reflexions- und Applikationsarbeit zu überwinden haben.
Das dialektische Wechselverhältnis wird im stoischen Unterricht somit nicht
vollständig eliminiert, sondern auf eine andere Ebene verlagert. Zum einen ist die

30
Zenon sieht in der Unvorzeitigkeit und Unübereiltheit die wesentlichen Vorzüge der tugend-
haften Seele. Vgl. Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. In der
Übersetzung von O t t o Apelt unter Mitarbeit von Hans Günter Zekl neu hg. von Klaus Reich.
2 Bde. Hamburg 3 1990. Bd. 2. S. 30 (VII.46).
31
M. Foucault: L'herrnencutique du sujet. Cours au College de France. S. 328f.
32
Epictetus: Diatriben III.21.lf.
33
Epictetus: Diatriben 11.24.29.
266 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Beziehung zwischen dem Vortragenden und dem Hörer durch eine dynamische In-
teraktion gekennzeichnet, einen stummen, aber effektiven Austausch von Signalen,
der — wie die Diatriben dokumentieren - gegen Ende des Vortrags zu einem wirkli-
chen Gespräch überleiten kann. Diese stumme Kommunikation markiert jedoch nur
einen ersten Schritt auf dem Wege zur Verinnerlichung der dialektischen Struktur.
Zum anderen nämlich soll der Hörer den Austausch zwischen Lehrer und Schüler
internalisieren und dazu animiert werden, ein fortlaufendes inneres Gespräch mit
sich selbst zu führen. Der Adept der Philosophie, der sich im aufmerksamen Hören
übt, wird mit der Zeit - so jedenfalls lautet die Hoffnung Epiktets - »selbst [s]ein
eigener Lehrer und Schüler werden«.34

2. Der neue Abstand zum Selbst:


Plutarch und die Kunst des Hörens

H ö r e n als Selbstprüfung

Es ist vor allem dieser zweite Aspekt des Hörens, dem sich Plutarch in seiner dem
stoischen Denken in vielerlei Hinsicht verpflichteten Abhandlung über das Hören
(Περι του άκούειν) zuwendet. 35 Zwar findet auch der erste Aspekt bei ihm seine
Berücksichtigung: Plutarch weigert sich, die Vortragssituation als statisch und
steril aufzufassen. Der Vortrag ist seiner Ansicht nach keine autoritäre Kommu-
nikationsform, bei der die Informationen nur in einer Richtung fließen. Plutarch
faßt die Interaktion zwischen Vortragendem und Hörer in das prägnante Bild des
Ballspiels, das einerseits den (im Vergleich zur Gesprächssituation vergrößerten)
Abstand der beiden an der Kommunikation beteiligten Partner, andererseits aber
auch die Notwendigkeit eines Zusammenwirkens über den Abstand hinweg ver-
anschaulicht: Das Spiel kann nur funktionieren, wenn sich der Werfer auf den
Fänger, der Fänger auf den Werfer einstellt; zudem hat jeder Spieler abwechselnd
die Funktion des Werfers und diejenige des Fängers zu übernehmen. 36 Plutarchs
eigentliches Interesse gilt jedoch nicht diesem Wechselspiel zweier gleichwertiger
Partner, sondern richtet sich fast ausschließlich auf die innere Aktivität des Hörers,
die er einer genauen Analyse unterzieht. So groß ist die Bedeutung, die er der Tä-
tigkeit des Hörens zuerkennt, daß er die von ihm selbst verwendete Metapher des
Ballspiels Lügen straft. Von der Gleichwertigkeit der Partner kann schließlich keine

34
Ebd. IV.6.11.
35
Hier zitiert nach: Plutarch's Moralia in Fifteen Volumes. Volume I: 1A-86A. With an Eng-
lish Translation by Frank Cole Babitt. London and Cambridge/Massachusetts 1960 (The
Loeb Classical Library; Ndr. der Ausgabe von 1927). S. 2 0 4 - 2 5 9 ( 3 7 C ^ 8 D ) . Die deutsche
Ubersetzung entnehme ich der folgenden Ausgabe: Plutarch's moralische Schriften. Bd. 1.
Übersetzt von Johann Christian Bahr. Stuttgart 1828. S. 107-136.
36
Ebd. 45E.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 267

Rede mehr sein; es ist der Hörer, nicht der Redner, der in der Vortragssituation die
Hauptrolle zu übernehmen hat.
Wie Epiktet weist auch Plutarch dem Schweigen eine Schlüsselfunktion für die
Kunst des Hörens zu. Er vermeidet es aber, den Hörer auf die Rolle des Schweigen-
den festzulegen. Der Hörer soll dem Vortrag nicht bloß in stummer Ergebenheit
lauschen; ihm wird vielmehr durchaus das Recht zuerkannt, auf die Rede seines
Lehrers zu replizieren. Plutarch hat offenbar eine Form der Unterweisung im Sinn,
wie sie in den exoterischen Schriften des Aristoteles und in den philosophischen
Dialogen Ciceros dargestellt wird. Dort kommt es, im Unterschied zu den pla-
tonischen Gesprächen, nicht zu einer lebhaften Wechselrede in Gestalt pointiert
gestellter Fragen und ebenso knapp ausfallender Antworten, sondern der Lehrer
hält einen ausführlichen Vortrag und bietet seinen Hörern im Anschluß daran die
Gelegenheit, ihre Meinung zu dem behandelten Thema zu äußern. Diese Beiträge
können dann ihrerseits die Form einer längeren Rede annehmen. Der aristotelische
und ciceronianische Typus des Dialogs dokumentiert mithin die Aufwertung des
Hörens. Der Gesprächspartner ist zwar auch und immer noch ein Antwortender; in
erster Linie aber ist er Hörer.
Plutarch trägt dieser Entwicklung dadurch Rechnung, daß er versucht, das
Antworten mit dem Schweigen zu verkoppeln. Er fordert den Hörer dazu auf, das
Schweigen zu einem integralen Bestandteil seiner Replik zu machen: »In allen Fällen
wird daher Schweigen für den Jüngling der sicherste Schmuck seyn, besonders wenn
er über die Rede eines Andern nicht in Unruhe geräth und ihn bei jedem Worte
nicht gleich anbellt, sondern, auch wenn ihm die Rede nicht allzu sehr gefällt, an
sich hält und wartet, bis der Andere aufgehört hat zu reden, und auch dann, wenn
Dieser geendet, nicht gleich mit seinen Einwürfen sich vordrängt, sondern [·•·]
eine Zeitlang hingehen läßt«.37 Plutarch legt großen Wert darauf, daß ein Intervall
des Schweigens der Replik des Hörers vorangeht. Indem der Hörer seine Antwort
hinauszögert, eröffnet er eine Distanz zur Rede des Vortragenden und zu seiner
eigenen Rede. Er verschafft sich Raum, um über das Gehörte und das Zu-Sagende
nachzudenken, und vermeidet so eine übereilte Reaktion. Der Diskurs wird künst-
lich zum Stocken gebracht, damit die Affekte — die verletzte Eigenliebe oder der
Neid - die Wahrnehmung des Hörenden nicht verzerren; damit sie ihm nicht eine
Antwort diktieren, die weder der im Vortrag behandelten Sache noch der Person des
Vortragenden angemessen ist. Das Intervall des Schweigens bringt die Reflexions-
und Urteilskraft des Hörers zur Geltung. Es erlaubt ihm, den Vortrag mit größerer
Unvoreingenommenheit zu betrachten, seine Aussagen auf ihre Richtigkeit hin zu
überprüfen und sich dadurch die darin enthaltenen Wahrheiten ganz zu eigen zu
machen: »Wer sich [...] gewöhnt hat, gelassen und mit Ehrerbietung zuzuhören,
pflegt die nützliche Rede anzunehmen und zu bewahren, die unnütze und falsche

37
Ebd. 3 9 B C (Übersetzung modifiziert).
268 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

aber besser zu durchschauen und zu fassen; so zeigt er sich als Freund der Wahrheit
und nicht des Streites«.38
Plutarchs Anweisung an den Hörer, sich vom Vortrag des Lehrers durch ein
Intervall des Schweigens zu distanzieren, erfüllt somit eine ähnliche Funktion wie
die Aufrichtigkeitsregel, deren Einhaltung Sokrates seinen Gesprächspartnern abver-
langt. Diese Regel dient dem Zweck, das Abgleiten des Dialogs in den eristischen
Disput zu verhindern und den Gesprächspartner dazu zu veranlassen, nicht den Sieg
im Rededuell zu suchen, sondern sich an der Prüfung der Wahrheit zu beteiligen.
Die Prüfung der Wahrheit ist bei Sokrates unmittelbar mit der Prüfung der Person
des Dialogpartners verbunden. Wahrheits- und Selbstprüfung sind im sokratischen
elenchos eins.39
Auch Plutarch fordert den Hörer dazu auf, sich als »ein sorgfältiger und strenger
Prüfer der Wahrheit« zu betätigen. 40 Denn die Gefahr, die dem Hörer droht, ist eine
doppelte: Einerseits gilt es zu verhüten, daß er den Vortragenden als Konkurrenten
im Kampf um öffentliche Anerkennung ansieht, sich von den Leidenschaften des
Stolzes und des Geltungsbedürfnisses forttreiben und zu einem übereilten, durch
Ressentiment getrübten Urteil über das Gehörte hinreißen läßt. Umgekehrt muß
andererseits verhindert werden, daß der Hörer sich der Autorität des Vortragenden
vorbehaltlos unterwirft und das Gehörte nur deshalb für wahr hält, weil es von
einer Lehrperson geäußert und in ansprechender rhetorischer Form vermittelt wird.
Plutarch animiert den Hörer daher dazu, sowohl sich selbst als auch der Person
des Lehrers gegenüber eine kritisch-distanzierte, prüfende Haltung einzunehmen.
Die Wahrheit, derer sich der Hörer versichern soll, befindet sich zwar nicht, wie im
sokratischen elenchos, in der Seele des Schülers, sondern wird durch den Vortrag des
Lehrers vermittelt. Der Schüler muß sie also allererst in ein geistiges Besitztum ver-
wandeln. Gleichwohl hält Plutarch daran fest, daß die Prüfung und Aneignung der
Wahrheit mit einer Selbstprüfung des Hörers einhergehen muß. Die Dissoziation
von Wahrheits- und Selbstprüfung, die Foucault konstatieren zu können glaubt, soll
gerade vermieden werden. Mehr noch: Plutarch ist bemüht, die Selbstprüfung als eine
unabdingbare Komponente der Hörtätigkeit zu erweisen. Er zeigt eine ganze Reihe
verschiedener Formen auf, die diese Verbindung annehmen kann. Gelangt der Hörer
aufgrund seiner kritischen Aufmerksamkeit etwa zu der Einsicht, daß der Vortrag
des Lehrers fehlerhaft und unschlüssig ist, so darf er sich nicht damit begnügen, die
Rede zu verurteilen, sondern muß den Blick auf sich selbst zurückwenden: »Darum
muß man die Fehler des Redners auch auf sich anwenden und erwägen, ob man
nicht, ohne es zu wissen, selbst solche Fehler begehe.«41 Auch wenn es darum geht,

" Ebd. 39CD.


39
Vgl. dazu Kapitel II.2 dieser Untersuchung.
40
Plutarch: Περί τοΰ άκούειν 41ΑΒ (Übersetzung modifiziert).
41
Ebd. 40C.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 269

das Gesamturteil über einen Vortrag zu fällen, k o m m t der Hörer nicht u m h i n , sich
selbst einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen. Denn die Qualität einer Rede
bemißt sich nach den Veränderungen, die sie in der Seele des Rezipienten hervor-
ruft. Fühlt sich der Hörer durch den Vortrag innerlich gestärkt u n d erhoben, so ist
die Rede im ganzen als gut zu erachten. 4 2 Die kritische Prüfung der Rede wird mit
der kritischen Selbstprüfung in eins gesetzt. Der angehende Philosoph, so fordert
Plutarch, soll es sich zur Regel machen, seine Seele im Anschluß an das Hören von
Vorlesungen - etwa auf d e m Heimweg vom Hörsaal - einer gründlichen Inspektion
zu unterziehen. 4 3
A m deutlichsten wird der von Plutarch postulierte Z u s a m m e n h a n g zwischen
Wahrheitsaneignung und Introspektion aber dann, w e n n der Lehrer einen parä-
netischen Vortrag hält, das heißt: seinem Schüler die U n v o l l k o m m e n h e i t seines
Seelenzustandes vor Augen führt, ihn auf den Widerspruch zwischen seiner philo-
sophischen Rede und seinem unphilosophischen Lebenswandel hinweist und zur
Korrektur seiner Schwächen ermahnt. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als
mache der paränetische Appell an den Hörer den Prozeß der kritischen Wahrheits-
aneignung und der Selbstanalyse überflüssig: Da die Rede des Lehrers die für den
angehenden Philosophen charakteristischen Unzulänglichkeiten konkret benennt,
m u ß der Hörer kein ausführliches Selbststudium betreiben, u m Aufschluß über
seinen Zustand zu gewinnen. Der Vortragende n i m m t ihm sozusagen die Arbeit
der Applikation ab. Doch Plutarch zeigt auf, daß dieser Schein trügt. Gerade die
Rede, die den Hörer unmittelbar mit seinen Fehlern konfrontiert, stellt ihn vor
hohe Anforderungen; sie verlangt von ihm in besonderem M a ß e die Anstrengung
der Applikation. Plutarch verdeutlicht dies, indem er beispielhaft vorführt, wie un-
disziplinierte Hörer typischerweise auf einen paränetischen Vortrag reagieren. Zwei
verschiedene Verhaltensweisen sind denkbar: In dem einen Falle reagiert der Schüler
unempfindlich auf die Ermahnungen des Lehrers; er begegnet ihnen mit Gleichgül-
tigkeit und läßt sie an sich abprallen. 4 4 In dem anderen Falle reagiert der Schüler
mit übergroßer Empfindlichkeit; er n i m m t sich die Kritik so sehr zu Herzen, daß
sie ihn innerlich lahmt und schließlich dazu veranlaßt, die schmerzliche Wahrheit
zu verdrängen. 4 5 Der eine etabliert eine allzu große Distanz zur Rede seines Lehrers
und läßt sie gar nicht erst an sich herankommen. Der andere hingegen verhält sich
vollkommen unreflektiert und vermag überhaupt keinen Abstand zu d e m Gehörten
aufzubauen. Er identifiziert sich rückhaltlos mit der Rede des Lehrers u n d fühlt sich
daher von ihr erdrückt. Laut Plutarch steuert der geübte Hörer einen Mittelweg zwi-
schen diesen beiden Extremen an. 4 6 Er stellt sich der Kritik, die der Lehrer in seinem

42 Ebd. 42B.
43 Ebd.
44 Ebd. 46D.
45 Ebd. 46EF.
46 Ebd. 47A.
270 Vom somatischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Vortrag äußert. Er prüft, inwieweit sie berechtigt ist, indem er das Gehörte mit den
Ergebnissen seiner eigenen introspektiven Analyse vergleicht. Die Kritik wird weder
mit kühler Indifferenz verworfen noch vorbehaltlos übernommen. Der Hörer macht
sie sich vielmehr dadurch zu eigen, daß er seinerseits kritisch-reflektierend verfährt
- kritisch gegenüber der Rede seines Lehrers und ebenso kritisch sich selbst gegen-
über. Ist die Kritik des Lehrers berechtigt, so löst sie auf Seiten des aufmerksamen
Hörers Betroffenheit aus. Diese hat jedoch keine lähmende Wirkung: »[Er muß] den
Schmerz fühlen, doch ohne sich darüber abzuhärmen und muthlos zu werden«. 47
Der Hörer entgeht der lähmenden Wirkung der Selbstkritik, da er auch der Kritik
gegenüber einen reflexiven Abstand zu wahren versteht. Diese Distanz ist eine ope-
rative Distanz. Sie erlaubt es ihm, kontrolliert mit der Kritik umzugehen und sie in
zwcckorientiertes Handeln, in eine Praxis der Selbstkorrektur umzusetzen.
Plutarch unternimmt den Versuch, einige wichtige Elemente der dialektischen
Struktur in seine Konzeption des Hörens zu integrieren. Insbesondere ist er bestrebt,
jene Einheit von Wahrheits- und Selbstprüfung zu etablieren, die auch Sokrates in
seinem elenchos herzustellen suchte. Die Technik des Hörens unterscheidet sich
jedoch in einer Beziehung sehr deutlich von der dialektischen Verfahrensweise des
sokratischen Typs. Im sokratischen Dialog wirken Lehrer und Schüler zwar zusam-
men, um die Wahrheit zu ermitteln. Dabei übernimmt der Lehrer aber die Führung
- er stellt die Fragen, er dirigiert das Gespräch. Die Rollen sind eindeutig definiert:
Der Lehrer ist im sokratischen elenchos der Prüfer, der Schüler ist der Prüfling. In der
von Plutarch beschriebenen Vortragssituation hingegen ist es weniger klar, wer die
Führungsrolle innehat. Die Initiative geht zwar vom Lehrer aus, der den Schüler mit
seinem Vortrag zur Aktivität intensiven Hörens animiert. Doch die eigentliche Prü-
fungstätigkeit hat der Schüler selbst zu vollziehen. Der Schüler übernimmt zugleich
die Rolle des Prüfers und diejenige des zu Prüfenden. Die dialektische Struktur wird
somit verinnerlicht: Der Vortrag des Lehrers fungiert als äußerer Anstoß zu einem
inneren Gespräch, zur Selbstprüfung und zum Selbstdenken des Schülers.
Plutarch unterscheidet zwischen dem aktiven Hörer, der sich selbst zu führen
versucht, und dem passiven Gesprächsteilnehmer, der auf fremde Hilfe vertraut und
sich führen läßt. Er kennzeichnet den letzteren gleichnishaft als einen Jungvogel, der
mit vorverdauter Nahrung gefüttert wird. 48 Der Lehrer, der seinem Zögling durch
dialektische Führung allzu sehr entgegenkommt, ähnelt mithin dem Muttertier, das
den Inhalt seines Magens hervorwürgt, um dem Zögling die Arbeit der Assimilation
abzunehmen. Plutarch fordert den angehenden Philosophen dazu auf, diese Arbeit
selbst zu leisten. Der Schüler soll nicht unmittelbar auf den Lehrer, sondern auf die
Stimme seiner eigenen Vernunft hören. Das aufmerksame Zuhören ist für ihn eine
Übung im autonomen Verstandesgebrauch.

47
Ebd.
48
Ebd. 48A.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 271

Plutarch erteilt diese Anweisung zum Selbstdenken nicht nur explizit in seinen
Ausführungen über das aktive Hören, sondern auch implizit vermittels der Rahmen-
handlung, in die er seine Abhandlung einbettet. Wie aus dem (fiktiven?) Brief her-
vorgeht, den er seinem Traktat als Proömium voranstellt, ist die Theorie des Hörens
an Nicander, einen befreundeten jungen Mann adressiert, der im Begriff steht, die
toga virilis anzulegen und die Schwelle zwischen Jugend und Mannesalter zu über-
schreiten. Mit diesem Schritt, so erklärt Plutarch, unterwirft sich Nicander einem
neuen Herrscher: Gehorsam schuldet er nun nicht mehr den Eltern und Erziehern,
sondern seiner eigenen Vernunft. 49 Genau in dem Moment, da dieser Wechsel voll-
zogen wird, läßt ihm Plutarch seine Abhandlung über das Hören zukommen. Er
signalisiert somit, daß das Hören ein geeignetes Mittel darstellt, um der Vernunft
in der Seele des jungen Mannes zur Herrschaft zu verhelfen. Bezeichnenderweise
erteilt Plutarch seinem Schützling diese Lehre in schriftlicher Form - er übersendet
ihm eine Epistel, anstatt ihn durch einen mündlichen Vortrag zu unterweisen. 50
Nicander soll dadurch hören lernen, daß er liest. Das ist weniger widersinnig, als es
zunächst erscheinen mag. Denn durch die schriftliche Form etabliert Plutarch jenen
Abstand zwischen Lehrer und Schüler, erzeugt er jenes Intervall des Schweigens,
das es dem jungen Mann ermöglicht, sein eigenes Urteils- und Reflexionsvermö-
gen ins Spiel zu bringen. Nicander soll die Anleitung zum richtigen Hören nicht
gedankenlos umsetzen. Plutarch vermittelt seine Konzeption des Hörens zwar in
der pragmatischen Gestalt konkreter Ratschläge und Präzepte; er präsentiert keine
deduktiven Beweisführungen oder logischen Analysen. Durch die distanzierende
Verwendung des Mediums Schrift bemüht er sich gleichwohl darum, seinen Diskurs
ein Stück weit zu entpragmatisieren. Auf diese Weise regt er Nicander dazu an, über
die Anleitung zum Hören nachzudenken, sie zu einem Gegenstand der Überlegung
zu machen, ehe er sie befolgt." Doch eben darin besteht die Pointe des Verfahrens,
dessen sich Plutarch bedient: Dadurch, daß Nicander auf die Anleitung des Lehrers
reflektiert, anstatt sie unmittelbar umzusetzen, befolgt er sie auch schon. Plutarch
verschafft seinen Worten Einfluß auf die Schülerseele, indem er sie dem kritischen
Urteil desselben ausliefert.

D e r Freund: A n s t o ß zur Selbstprüfung

Laut Plutarch muß sich der Hörer - anders als der Befragte im sokratischen elenchos
— nicht mehr unmittelbar einer Prüfung durch seinen Lehrer unterziehen. Die Rede

49 Ebd. 3 7 D E .
50 Ebd. 3 7 C : »Den Vortrag, den ich über das Hören gehalten, sende ich dir, mein Nikander, in
einer Abschrift zu, damit du nun selbst lernest, Ermahnungen Anderer auf eine gehörige Weise
anzuhören, nachdem du der Aufsicht Anderer entlassen bist und das Männerkleid angelegt
hast.«
51 Ebd. 3 8 D : »[Ich halte] es für gut, mit sich selbst [...] darüber sich zu besprechen, wie man
hören soll.«
272 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

des Lehrers soll den Schüler vielmehr dazu veranlassen, eine innere Zwiesprache
zu halten und das Geschäft der Selbst- und Wahrheitsprüfung in seine eigene
Regie zu nehmen. Die dialektische Beziehung zwischen Prüfer und Prüfling wird
internalisiert. Obwohl Plutarch kein erklärter Anhänger der stoischen Philosophie
ist, verfolgt er doch ein ähnliches pädagogisches Ziel wie der Stoiker Epiktet: Der
angehende Philosoph soll dazu befähigt werden, sein eigener Lehrer und Schüler zu
sein. Mehr noch: Die stoischepaideia will erreichen, daß das Individuum die innere
Aktivität der Selbstprüfung auf Dauer stellt. Kennzeichnend für die Lebensweise
des Philosophen ist demnach die Haltung der prosoche, der permanent gespannten
Aufmerksamkeit gegenüber der eigenen inneren Vorstellungstätigkeit.52 Nach Mög-
lichkeit soll alles, was das Individuum denkt, fühlt oder tut, unter der Kontrolle
seines kritischen Bewußtseins stehen; unablässig soll es damit beschäftigt sein, sich
zu beobachten, um seiner Seele eine beständige, der vernünftigen Naturordnung
entsprechende Form zu geben.
Bei dieser inneren Kontrolltätigkeit kommt das Subjekt jedoch nicht ganz ohne
äußeren Beistand aus. Der innere Prüfer des Bewußtseins vermag die äußere Instanz
des Lehrers oder Seelenführers letztlich nicht vollkommen zu ersetzen. Zwar stellt
der Diskurs des Lehrers nur den Anstoß dar, der den Schüler zum Vollzug seiner
Prüfungstätigkeit animiert. Doch ohne diesen Anstoß von außen kommt die innere
Aktivität zum Erliegen. Die dialektische Struktur geht nicht vollkommen im Selbst-
gespräch des angehenden Philosophen auf, sondern bleibt auch äußerlich in rudi-
mentärer Gestalt erhalten. Das läßt sich anhand eines weiteren Texts aus Plutarchs
Moralia demonstrieren. Seine Schrift über die Zähmung des Zorns (Περί άοργησίας)
ist - so scheint es jedenfalls zunächst - in Dialogform abgefaßt. Der Text gibt das
Gespräch zwischen zwei Freunden wieder, die einander nach einer einjährigen Zeit
der Trennung wiederbegegnet sind. Die Protagonisten des Dialogs, Sextius Sulla
und Minicius Fundanus, sind historische Gestalten, Zeitgenossen Plutarchs, die der
höheren römischen Gesellschaftsschicht entstammen. Sulla eröffnet das Gespräch
mit einem breit ausgeführten Vergleich, der den Nutzen der Freundschaft für die
Praxis der Selbstprüfung veranschaulicht:
Die Maler haben guten Grund, ihre Arbeiten [έργα], ehe sie sie vollendet haben, von Zeit
zu Zeit prüfend zu betrachten; sie entfernen sie aus dem Blick, um danach ein frisches Urteil
fällen zu können [δτι την οψιν αύτών άφιοτάντες τη πολλάκις κρίσει ττοιοΰσι καινήν],
bei dem man die kleinsten Abweichungen sieht, die bei anhaltender Betrachtung nicht zu
bemerken sind. Da nun ein Mensch nicht aus sich heraustreten und das Bewußstsein seiner
selbst eine Weile unterbrechen kann, sind wir schlechtere Richter über uns selbst als über
andere. Indessen bleibt uns ein Mittel: wir können unsere Freunde besuchen und uns deren
Prüfung unterziehen. Die sollen dabei nicht sagen, ob wir schnell gealtert sind, ob wir an

52 Zur stoischen Haltung der prosoche vgl. M. C. Nussbaum: The Therapy of Desire. S. 327f.; P.
Hadot: Exercices spirituels et philosophic antique. S. 3 0 - 3 2 ; ders.: Qu'est-ce que la philosophic
antique? S. 2l4f.; M. Foucault: Le souci de soi. S. 80f.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 273

Körpergewicht zu- oder abgenommen haben, sondern sie sollen sagen, ob die Zeit dem Herzen
oder der Gesinnung Gutes hinzugefügt oder wenigstens Böses hinweggenommen hat. 5 3

Sulla vergleicht die Aktivität der Selbstbetrachtung, die das Moralsubjekt vollzieht,
um sein Denken und Handeln zu kontrollieren, mit der Werktätigkeit eines Künst-
lers. Er verweist auf die von Malern praktizierte Verfahrensweise, den künstlerischen
Produktionsvorgang von Zeit zu Zeit zu unterbrechen, von der Staffelet zurückzutre-
ten und das Geleistete aus der Distanz kritisch zu begutachten. Diese Möglichkeit,
so behauptet Sulla, ist dem Betrachter seiner selbst verwehrt.
Sullas Behauptung ist zunächst nicht ganz einleuchtend. Denn ist es für den
Betrachter seiner selbst nicht gerade kennzeichnend, daß er eine distanzierte Position
seinem eigenen Tun gegenüber okkupiert? Ahnelt er in dieser Beziehung nicht dem
Maler, der Abstand zu seinem Werk zu gewinnen sucht, um sein Schaffen zu kontrol-
lieren? Der Unterschied zwischen dem Selbstbetrachter und dem Maler scheint allein
darin zu bestehen, daß der letztere den Standpunkt kritischer Reflexion nur perio-
disch einzunehmen vermag, während der erstere ihn kontinuierlich besetzt hält: Das
Moralsubjekt muß seinen Seelenregungen gegenüber ständig auf der Hut sein, um
den Ausbruch von Leidenschaften schon im Ansatz zu verhindern. Doch eben diese
Kontinuität markiert laut Sulla das Problem. Wer ununterbrochen ein und derselben
Tätigkeit nachgeht, gerät in die Gefahr, einer gewissen Art von Betriebsblindheit
zu erliegen. Der unablässige Umgang des Selbstbetrachters mit ein und demselben
Gegenstand - eben seinem Selbst — erzeugt eine Vertrautheit, welche die raison d'etre
dieser Tätigkeit - die verfremdende Distanzierung des Selbst — unterminiert. Die
Wachsamkeit des Bewußtseins, die gedankenloses, gewohnheitsmäßiges Handeln
unterbinden soll, wird ihrerseits zu einer Art von Routine. Zudem agiert der Selbst-
betrachter gerade dann, wenn er dem nach innen gewendeten Blick eine möglichst
große Intensität zu verleihen sucht, wenn er sich ganz in die Betrachtung des Selbst
versenkt, mit einer gewissen Befangenheit, ja Verbohrtheit, die ihn Wichtiges überse-
hen läßt. In dieser Hinsicht gleicht er tatsächlich eher dem Maler, der von der Arbeit
an seinem Gemälde absorbiert wird, als dem distanzierten Bildbetrachter.
Die Analogie zwischen dem Selbstbeobachter und dem Maler führt aber noch
weiter: Beide schauen nicht bloß, sondern sie bringen auch etwas hervor, sie sind
werktätig. Sulla weist mit seinem Vergleich auch auf den poietischen Aspekt der
Selbstbeobachtung hin. Wie der Maler an seinem Bild, so arbeitet der Selbstbetrach-
ter an der Korrektur und Formung seiner eigenen Persönlichkeit. Der Beobachter
seiner selbst registriert nicht bloß, was in seiner Seele vor sich geht. Indem er seine

Plutarch: Περί άοργησίας. In: Plutarch's Moralia in Fifteen Volumes. Volume VI: 439A-523B.
With an English Translation by W. C. Helmbold. London and Cambridge/MA 1957 (The
Loeb Classical Library ; Ndr. der Ausg. von 1939). S. 9 2 - 1 5 9 ( 4 5 2 F ^ 6 4 D ) , hier: 453F. - Die
deutsche Übersetzung entnehme ich - leicht modifiziert — der folgenden Ausgabe: Plutarch:
Von der Ruhe des Gemütes und andere philosophische Schriften. Ubertragen und eingeleitet
von Bruno Snell. Zürich 1948. S. 2 8 ^ i 5 .
274 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

eigene Seelenaktivität beobachtet, wirkt er vielmehr verändernd auf sie ein, verleiht
er ihr Beständigkeit u n d feste Gestalt. D a d u r c h , daß er die seelischen Vorgänge
genau verfolgt u n d betrachtet, diszipliniert er seine Seele und formt sie um. Dieses
Zugleich von Sehen und Gestalten subvertiert die innere Distanz, die der Selbstbe-
obachter aufrechtzuerhalten sucht. Der Akt des Beobachtens greift immer schon auf
die Tätigkeit über, die beobachtet wird. Trotz aller Bemühungen u m Distanzierung
kann sich die betrachtende Instanz nie ganz von dem Gegenstand der Betrachtung
ablösen. Der Beobachter seiner selbst gleicht somit dem Künstler, der in der Arbeit
an seinem Werk aufgeht. Doch anders als der Künstler vermag er nicht einfach von
dem in der Entstehung begriffenen Produkt zurückzutreten, u m seine Befangenheit
abzustreifen. D a der Beobachter selbst das Werk ist, an dem er arbeitet, bedarf
er dazu des Beistands durch einen anderen. Der Freund, so erklärt Sulla, vermag
den fehlenden Abstand zu supplementieren, der erforderlich ist, um das Werk des
Selbstgestalters als Ganzes in den Blick zu bekommen. Die Außensicht des Freundes
soll das M o m e n t der objektivierenden Distanz wieder zur Geltung bringen, die dem
Selbstbeobachter während des Vollzugs seiner Tätigkeit immer wieder abhanden
kommt.
Sulla bietet sich seinem Freund Fundanus als Hilfsorgan der Selbsterkenntnis
an. Seine einjährige Abwesenheit ist die Gewähr dafür, daß er sich dem Seelenleben
seines Partners mit einem frischen, unbefangenen Blick zuwenden kann. Fundanus
geht denn auch bereitwillig auf das Anerbieten Sullas ein. Es wäre folglich zu erwar-
ten, daß Sulla sein Versprechen einlöst u n d sich im weiteren Verlauf des Dialogs als
Seelenprüfer betätigt - daß er Fundanus mit gezielten Fragen zu Leibe rückt, u m
Näheres über seine derzeitige Gefühlslage, seine Ansichten und seine charakterli-
che Verfassung in Erfahrung zu bringen. Die einleitende Unterhaltung zwischen
Sulla u n d Fundanus scheint die Weichen für die D u r c h f ü h r u n g eines elenchos zu
stellen. Doch das angekündigte Prüfungsgespräch findet nicht statt. Sulla begnügt
sich vielmehr damit, in ganz allgemeiner Form den Eindruck wiederzugeben, den
Fundanus nach einer längeren Zeit der Trennung auf ihn macht. Er beschreibt in
groben Zügen die Veränderungen, die ihm am Verhalten des Freundes aufgefallen
sind, u n d stützt sich dabei nicht nur auf seine eigenen Beobachtungen, sondern auch
auf das Zeugnis eines gemeinsamen Bekannten: Fundanus, so lautet der Befund, hat
an Selbstbeherrschung gewonnen; er scheint sein aufbrausendes Temperament n u n
besser im Griff haben, denn von den häufigen Zornesausbrüchen, die ihn ehedem
zu plagen pflegten, ist kaum noch etwas zu spüren. 54 M e h r als diese oberflächliche,
in wenige Sätze gefaßte Charakterskizze hat Sulla nicht zu bieten. Seine Rede bleibt
jedoch nicht ohne Wirkung, denn Fundanus fühlt sich durch sie dazu aufgefordert,
über die Transformation seines Charakters umständlich Rechenschaft zu geben. Er
legt ausführlich dar, auf welche Weise er zu der Einsicht in den Hauptdefekt seines

54
Περί άοργησίας 453BC.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 275

Charakters, die Neigung zum Zorn, gekommen ist, wie er sich dazu durchgerungen
hat, diesen Fehler zu bekämpfen, welcher Mittel er sich dabei bedient, was für Fort-
schritte er dabei erzielt hat und wie sein gegenwärtiger Seelenzustand aussieht.
Es ist also Fundanus und nicht Sulla, der sich schließlich als Seelenprüfer betä-
tigt. Die einleitende Unterhaltung unter Freunden führt nicht auf ein elenktisches
Gespräch, sondern auf einen diegetischen Monolog, in dem sich Fundanus Klarheit
über die Entwicklung seiner Persönlichkeit zu verschaffen sucht. Seine Vorgehens-
weise scheint die Überlegungen Sullas zur Problematik der Selbsterkenntnis Lügen zu
strafen. Offenkundig gibt es eben doch eine Alternative zur dialogischen Prüfungs-
technik; offenkundig ist es dem ethischen Subjekt eben doch möglich, den Vorgang
der ethischen Selbstgestaltung aus eigener Kraft zu objektivieren. Indem Fundanus
den bisherigen Verlauf seiner Selbsttherapie Revue passieren läßt und in eine narra-
tive Form kleidet, verfährt er wie der Maler, der seine Arbeit unterbricht und von
der Staffelei zurücktritt: Er hält in seiner Beobachtungs- und Gestaltungstätigkeit
inne, wendet den Blick von der Gegenwart auf das bislang Geleistete zurück und
löst sich in Gestalt eines narrativen ergon von sich selbst ab. Retrospektion tritt an
die Stelle der Introspektion. Als Erzähler seiner eigenen Seelengeschichte verschafft
sich Fundanus den Uberblick, der es ihm erlaubt, ein (vorläufiges) Urteil über sich
selbst zu fällen und seinen aktuellen Standpunkt zu bestimmen. Die Möglichkeit,
die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik zwar andeutet, aber dann doch verwirft,
wird von Plutarchs Fundanus-Figur realisiert: das Selbst in Gestalt eines mythos zu
vergegenständlichen, um seinen ethischen Wert zu bestimmen.
Es hat somit den Anschein, als mache die in narrativer Form unternommene
Selbstanalyse die Beihilfe des Freundes überflüssig. Als Erzähler der Geschichte
seiner Seele scheint sich der Selbstbetrachter aus seiner Abhängigkeit vom Blick des
anderen befreien zu können. Doch dieser Eindruck täuscht. Die Selbsterkenntnis des
Moralsubjekts ist auch weiterhin durch einen anderen vermittelt, wenngleich diese
Vermittlungsleistung auf ein Minimum reduziert wird. Um sich vom Blick des ande-
ren zu befreien, muß sich der Selbstbetrachter diesen Blick allererst aneignen. Denn
erst nachdem Sulla seinen Freund Fundanus auf seinen Charakterwandel hingewiesen
und ihn mit einem Bild seines gegenwärtigen Zustands konfrontiert hat, zeigt sich
dieser dazu in der Lage, sein Selbst in ähnlicher Weise distanziert zu betrachten und
zum Gegenstand einer Geschichte zu machen. Fundanus übernimmt die Außensicht
auf seine Seele, die ihm durch das summarische Urteil seines Freundes vorgegeben
wurde. Erst urteilt der andere, dann greift das Individuum die Perspektive des an-
deren auf und legt sie seiner Selbstbetrachtung zugrunde. Indem Fundanus die Ge-
schichte seiner Therapie erzählt, übernimmt er das Bild seiner selbst, das Sulla ihm
präsentiert hat. Die Tatsache, daß dieses Bild zunächst skizzenhaft, allgemein und
oberflächlich erscheint, hindert ihn nicht an der Ausführung seines Vorhabens. Im
Gegenteil, die Oberflächlichkeit und Äußerlichkeit des Blicks ist die Voraussetzung
dafür, daß der Selbstbetrachter seine Befangenheit verliert. Nur weil Sulla darauf ver-
zichtet, in die Tiefe zu gehen, kann er überhaupt zu einem globalen Urteil gelangen.
276 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Es ist ja gerade die Intensität und Gründlichkeit der introspektiven Aktivität, die den
Selbstbetrachter daran hindert, einen souveränen Uberblick zu gewinnen.
Die Skizzenhaftigkeit des von Sulla dargebotenen Bildes hat darüber hinaus einen
weiteren Vorzug. Sie ist paränetisch wirksam, denn sie animiert Fundanus zur Eigen-
tätigkeit. Sulla zeichnet einen bloßen Umriß, den sein Freund dann ausfüllen muß.
Er nimmt Fundanus die eigentliche Arbeit der Selbstanalyse nicht ab, sondern regt
ihn dazu an, diese von sich aus zu leisten. Wie ernst Fundanus seine Aufgabe nimmt,
wird äußerlich schon daran sichtbar, daß der diegetische Monolog mehr als neun
Zehntel des gesamten Textumfangs ausmacht, der dialogische Anteil der Selbstana-
lyse mithin auf einen kleinen, wenn auch unabdingbaren Rest zusammenschrumpft.
Die skizzenhafte Zustandsbeschreibung, die Sulla seinem Freund präsentiert, ist
nicht mehr als ein Anstoß zur Selbsterkenntnis, doch dieser Anstoß ist notwendig.
Er markiert eine heilsame Unterbrechung; er reißt Fundanus aus seiner Selbstversun-
kenheit heraus und befähigt ihn dazu, jenen Abstand zu sich selbst zu etablieren, der
ihm ein adäquates Urteil über seine charakterliche Verfassung ermöglicht.
Der Freund fungiert in Περί άοργησίας nicht als Spiegel des Selbst, sondern als
Anstoß zur Selbstbespiegelung. Es ist signifikant, daß Plutarch trotz seiner Affini-
täten zur akademischen Philosophie nicht auf die Spiegelmetapher zurückgreift, um
die psychagogische Leistung des Freundes und Gesprächspartners zu veranschauli-
chen. Die Metapher des Spiegels verheißt die Möglichkeit, die Wahrheit des Selbst
unmittelbar in der Person des anderen wahrnehmen zu können. Im platonischen
Alkibiades-Dialog instituiert sich Sokrates mit Hilfe des Spiegel-Vergleichs als Pa-
radeigma des »Selbst selbst«. Das Paradeigma erzeugt den Anschein unmittelbarer
Präsenz: Alkibiades ist schließlich davon überzeugt, daß sein wahres Wesen ihm
verkörpert in der Person des Gesprächs- und Seelenführers direkt vor Augen steht.
Mittels der paradeigmatischen Rede nimmt der Lehrer seinem Schüler die Arbeit
der Applikation ab, genauer: er verschleiert diese geistige Arbeit - der Schüler glaubt
zu sehen, was er denkend erschließt.55 Auch bei Aristoteles steht das Verhältnis zum
anderen im Zeichen unmittelbarer Präsenz. Das Moralsubjekt bedarf des Freundes,
um ein Bewußtsein seines sittlichen Werts zu erlangen. Da die wahre Freundschaft
auf der Ähnlichkeit der Charaktere beruht, die durch dauerhaftes Zusammenleben
und Zusammenwirken noch gesteigert wird, da der Freund mithin so etwas wie ein
»zweites Selbst« darstellt, vermag die Praxis des einen die Praxis des anderen direkt
abzubilden. Das Moralsubjekt erkennt die Handlung des Freundes unmittelbar als
seine eigene an, als Ausdruck seines eigenen Charakters. 56 Folglich braucht das Indi-
viduum das Bild, das ihm der andere präsentiert, nicht in einem gesonderten Schritt
der Applikation auf seine Person zurückzubeziehen; es muß weder reflektieren noch
vergleichen, sondern kann das Handeln des Freundes als direkte Widerspiegelung

55
Vgl. dazu Kapitel II.5 dieser Untersuchung.
56
Vgl. Kapitel IV.4 dieser Untersuchung.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 277

seines eigenen Handelns auffassen. Das aristotelische Moralsubjekt identifiziert sich


unmittelbar mit dem Handeln seines Partners.
Bei Plutarch dagegen ist das Bild, das der Freund dem Moralsubjekt darbietet,
durch ein Moment der Verfremdung und der Distanz gekennzeichnet. Die Konfron-
tation mit diesem Bild setzt einen Prozeß der Aneignung und der Reflexion in Gang.
Das Moralsubjekt identifiziert sich nicht unmittelbar mit seinem Freund, sondern
es läßt sich durch diesen zur Arbeit der Selbstanalyse anregen. Der Freund ist kein
zweites Selbst, er ist vielmehr ein anderer und soll dies auch bleiben, denn gerade
das Moment der Alterität ist für die Selbsterkenntnis fruchtbar. Das Moralsubjekt
soll sich den äußerlichen, distanzierten Blick des Freundes zu eigen machen; es soll
sich selbst mit den Augen des anderen betrachten. Die dauerhafte Anwesenheit des
Freundes ist daher gar nicht erwünscht. Das Zusammenleben mit dem Partner,
das Aristoteles als Kennzeichen der wahren philia betrachtet, hindert den Freund
nach Ansicht Plutarchs daran, seine Funktion als Hilfsorgan der Selbsterkenntnis
zu erfüllen. Die Vertrautheit, die durch ständiges Zusammensein entsteht, führt
dazu, daß der Blick des Freundes abstumpft und das von ihm präsentierte Bild seine
anregende Fremdheit verliert. Wenn das Moralsubjekt unter der ununterbrochenen
Aufsicht eines Freundes steht, wird es zudem dazu verleitet, die Aufsicht über sich
selbst zu vernachlässigen.
Plutarch favorisiert daher eine Freundschaft aus der Distanz, eine Freundschaft,
die sich in Form intermittierender, periodisch wiederkehrender Begegnungen rea-
lisiert. Er beschränkt die Rolle des Freundes darauf, dem Partner von Zeit zu Zeit
einen Anstoß zu geben, ihn aus seiner Selbstversunkenheit herauszureißen und seine
innere Anspannung zu erneuern. Der Freund verkörpert das Prinzip des Intervalls
und der Unterbrechung, das dem Moralsubjekt zu einem totalisierenden Blick auf
sein Selbst und zur Aufrechterhaltung der Kontrolle über seine Vorstellungstätigkeit
verhelfen kann. Die dialektische Struktur überlebt in Gestalt dieses Prinzips. Die
hybride Form, die Plutarch der Abhandlung Περί άοργησίας verleiht, dokumentiert
das Zusammenspiel von dialogischem Anstoß und narrativer Selbstanalyse. Sie führt
zugleich vor Augen, daß das ethische Subjekt der Kaiserzeit die dialektische Struktur
nicht ganz zu verinnerlichen vermag: Es kann das innere Selbstgespräch nur dadurch
in Gang halten, daß es immer wieder aus sich selbst heraustritt und mit einem an-
deren Zwiesprache führt.

3. Der neue Abstand zum Freund: Der Brief als


pädagogisches Instrument in Senecas Epistulae morales

Durch die Kunst des Hörens, die Epiktet und Plutarch ihren Schülern nahezubrin-
gen versuchen, wird die dialektische Struktur der philosophischen Unterweisung
internalisiert. Der Hörer nimmt die Wahrheiten, die ihm der Philosoph in Form
eines Lehrvortrags übermittelt, nicht bloß passiv auf, um sie in seinem Gedächtnis
278 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

zu deponieren. Das Hören markiert vielmehr eine intensive mentale Aktivität. Der
Schüler wird dazu aufgefordert, von seinem eigenen Urteilsvermögen Gebrauch zu
machen und die Argumente des Lehrers auf ihre Stichhaltigkeit hin zu untersuchen.
Darüber hinaus soll er die Einsichten, die er durch das aufmerksame, kritische Zu-
hören gewinnt, zum Zwecke der Selbsterkenntnis nutzen. Anstatt sich durch seinen
philosophischen Mentor befragen und prüfen zu lassen, dient dem Hörer die Rede
des Lehrers als Anstoß zur Selbstbefragung und zur Selbstprüfung. Das Gespräch
zwischen Lehrer und Schüler wird durch ein Selbstgespräch ersetzt, das der Hörer
auf Veranlassung der Lehrerworte führt. Um den angehenden Philosophen zu einer
solchen eigenständigen geistigen Aktivität zu animieren, schränkt der Lehrer seine
psychagogische Hilfestellung ein. Er vermeidet es, seinen Diskurs dem Wissensstand
des Schülers ganz anzupassen; er reduziert seine Aneignungshilfen, so daß der Hörer
dazu genötigt wird, sich die Wahrheiten selbsttätig zu applizieren. Der Lehrer geht
zum Schüler auf Distanz. Dieser wird seinerseits dazu eingeladen, einen Abstand
zum Diskurs des Lehrers zu etablieren, ein Intervall, das es ihm erlaubt, das Gesagte
objektiv einzuschätzen. Die größere Distanz zwischen dem Adepten der Philosophie
und seinem Seelenführer kommt schließlich auch darin zum Ausdruck, daß die
direkte und dauerhafte Anwesenheit des Lehrers oder Freundes für die Arbeit der
ethischen Selbstformung nicht mehr unbedingt erforderlich ist: Es genügt, wenn
die Partner einander in gewissen zeitlichen Abständen begegnen, um der Tätigkeit
der Selbstdisziplinierung durch eine heilsame Unterbrechung neuen Schwung zu
verleihen, den introspektiven Blick zu schärfen und die mentale Spannung aufzu-
frischen. Der angehende Philosoph soll in die Lage versetzt werden, sein eigener
Seelenführer zu sein. Der Stärkung der inneren Führungsinstanz korrespondiert die
reduzierte Präsenz des äußeren Führers — er muß nicht mehr immer und nicht mehr
unmittelbar anwesend sein.
Von der distanzierten, zeitlich befristeten Anwesenheit des Lehrers zur Mittel-
barkeit des geschriebenen Lehrerworts, vom Hören zum Lesen, ist es mithin nur
ein kleiner Schritt: Der Abstand, den der Hörer gegenüber dem Vortragenden
etablieren soll, ist von vorneherein gegeben, wenn sich dieser in schriftlicher Form
äußert. Bezeichnenderweise führt Plutarch seinen Schüler Nicander mittels eines
geschriebenen Vortrags in die Kunst des Hörens ein. In dem Moment, da Nicander
die toga virilis anlegen und den Gehorsam gegenüber den Anweisungen des Lehrers
durch den Gehorsam gegenüber den Anweisungen seiner eigenen Vernunft ersetzen
soll, zieht sich Plutarch zurück und beschränkt sich darauf, seinen Zögling aus
der Ferne, in epistolarischer Form, zu unterrichten. Plutarch suggeriert somit eine
Analogie zwischen dem aufmerksamen Zuhören und der privaten Lektüre, zwischen
dem Lehrvortrag, den sich der Hörer durch kritische Reflexion zu eigen machen soll,
und der schriftlichen Unterweisung per Brief.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 279

Briefliche Unterweisung vs. contubernium


Der Schritt vom Hören zum Lesen, vom Lehrvortrag zur brieflichen Kommunika-
tion, den Plutarch nur andeutet, wird von Seneca in den Epistulae morales bewußt
vollzogen. Seneca bringt die distanzierende Wirkung der Schrift in den Epistulae
systematisch zum Einsatz. Er unternimmt den Versuch, seinen Freund Lucilius aus
der Ferne, allein durch Briefe, in die philosophische Lebenskunst stoischer Prägung
einzuweisen. Seneca verwendet die epistolarische Darstellungsform nicht allein
deshalb, weil sich auf diese Weise der vertrauliche Umgang zwischen Freunden
auch über eine große räumliche Entfernung hinweg aufrechterhalten läßt. Die
Entfernung ist vielmehr die Voraussetzung dafür, daß Lucilius als ethisches Subjekt
die erforderliche Selbständigkeit gewinnen und sich aus der Abhängigkeit von
seinem Lehrer lösen kann. Seneca macht das Intervall und die Unterbrechung, die
für das aufmerksame Hören von großer Bedeutung sind, zu einem Strukturprinzip
der philosophischen paideia, die er seinem Freund zuteil werden läßt. Die in einer
Folge von Briefen vorgetragene Unterweisung stellt einen Diskurs dar, der sich selbst
immer wieder unterbricht und dem Adressaten somit die Gelegenheit bietet, beim
>Hören< innezuhalten, das >Gesagte< kritisch zu durchleuchten und auf seine eigene
Person zu beziehen. Die in periodischen Abständen einlaufenden Briefe bewirken
zudem eine heilsame Unterbrechung der vom Adressaten betriebenen Aktivität der
ethischen Selbstdisziplinierung: Der Seelenführer bringt sich und seine Lehren in
Erinnerung, ohne die Eigentätigkeit des Schülers durch seine übermächtige und
permanente Präsenz zu ersticken. Die Briefe sind Anstöße von außen, die den
Adressaten zur Beschäftigung mit seinem Selbst und zum inneren Dialog motivie-
ren. Der Übergang vom Hören zur Brieflektüre markiert mithin, wie im folgenden
gezeigt werden soll, einen weiteren Schritt auf dem Wege zur Internalisierung der
dialektischen Struktur.
Freilich weiht Seneca seinen Freund nicht von Beginn an in sein pädagogisches
Unterfangen ein. Im Gegenteil, er scheint zunächst daran zu zweifeln, ob der Un-
terricht aus der Ferne sich überhaupt realisieren läßt. Der Wunsch nach schriftli-
cher Belehrung geht von Lucilius aus. Seneca kommt diesem Wunsch anfangs nur
widerstrebend nach. Statt dessen preist er die Vorteile an, die der lebendige Vortrag
(»viva vox«) gegenüber der geschriebenen Rede besitzt.57 Ja, er zeichnet das Idealbild
einer philosophischen paideia, welche die Vermittlungsdienste der Rede fast ganz
zu entbehren vermag: Der Schüler muß sich demnach nicht einmal mehr als Hörer
betätigen, er übernimmt vielmehr die Rolle eines Augenzeugen. Denn der wahre
Philosoph, so erklärt Seneca, ist nicht derjenige, der die Regeln philosophischer

57 L. Annaeus Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 6.5. — Die deutsche Übersetzung der Zitate
entnehme ich der folgenden Ausgabe: L. Annaeus Seneca: An Lucilius. Briefe über Ethik.
In: ders.: Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch. Hg. und übersetzt von Manfred
Rosenbach. Bd. 3 (Darmstadt "1995) und Bd. 4 (Darmstadt 2 1995).
280 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Lebensführung lehrt und erklärt, sondern derjenige, der sie praktisch umsetzt und
nach ihnen lebt: »non praeceptor veri sed testis est.« 58 Ein solches Zeugnis der
Wahrheit — dies versucht Seneca seinem Freund zunächst einzureden - ist zugleich
die wirksamste Form der Belehrung. Wer das contubernium mit einem Philosophen
pflegt, der erwirbt nicht bloß abstrakte philosophische Kenntnisse, ihm wird zudem
die Anwendung dieser Kenntnisse vor Augen gefuhrt. 59 Die Lehre, die der Philosoph
durch das konkrete Beispiel seiner Lebenspraxis zu erteilen vermag, ist ebenso kurz
wie überzeugend, denn sie kommt ohne Worte aus, sie bietet dem Schüler die Sache
selbst, nicht ihr bloßes Abbild dar, und sie lädt ihn unmittelbar zur Nachahmung
und zum Mithandeln ein. 60 In diesem Sinne will Seneca seinen Freund dazu überre-
den, auf schriftliche Mitteilungen zu verzichten und in eine philosophische Lebens-
gemeinschaft mit ihm einzutreten. Er plädiert für eine philosophische Freundschaft
nach aristotelischem Muster.
Doch dieses Plädoyer ist nur ein Strohfeuer, das Seneca am Eingang seines Brief-
werks entzündet, um - mittels des Kontrasts — die spezifischen Qualitäten seiner ei-
genen, auf schriftlicher Kommunikation beruhenden Vorgehensweise zu beleuchten.
Das Plädoyer des Briefschreibers - dies wird in den Epistulae sehr schnell deutlich
- ist nicht ernst gemeint. Es widerspricht seiner eigenen Praxis; es widerspricht
zudem einigen Grundgedanken der stoischen Ethik. Das Modell des contubernium
und der unmittelbaren Zeugenschaft läßt sich insbesondere mit der stoischen Hand-
lungskonzeption nur schwer vereinbaren. Sittliche Praxis realisiert sich nach stoischer
Vorstellung in Gestalt einer seelischen Einstellung, einer Bewußtseinshaltung. Der
stoische Philosoph versteht unter Handlung primär eine innere Aktivität. Das
ethische Subjekt wirkt nicht auf die Außenwelt ein, es riagiert vielmehr auf äußere
Impulse, und zwar nach Möglichkeit dadurch, daß es (äußerlich betrachtet) nichts
tut, sich ruhig verhält, sich durch die Ereignisse nicht aus der Fassung bringen läßt. 61
Handeln bezeichnet eine spezifische Form des Umgangs mit den Vorstellungen,
welche die Vorgänge und Dinge der Außenwelt repräsentieren — eine innere Aktivität
der Reflexion und des Urteilens, der diese Repräsentationen unterzogen und mittels
derer sie auf ihren wahren Gehalt reduziert werden sollen. Da sich das Handeln
im seelischen Innenraum des Subjekts abspielt, ist es unmöglich, den angehenden
Philosophen zum Augenzeugen der sittlichen Praxis seines Lehrers zu machen. Das,
was die moralische Qualität vorbildlichen Handelns eigentlich ausmacht, entzieht
sich der unmittelbaren Beobachtung des Schülers - es sei denn, der Lehrer macht
ihm die secreta seiner Psyche dadurch zugänglich, daß er sie verbalisiert. Dann aber
ist der Schüler kein Augenzeuge mehr, sondern ein Hörer oder Leser: Der Diskurs
des Philosophen muß zwischen der Wahrheit und dem Hörer ins Mittel treten.

58
Ad Lucilium epistulae morales 20.9.
59
Ebd. 20.6.
60
Ebd. 6.5.
61
Vgl. M. Forschner: Die stoische Ethik. S. 1 lOf.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 281

Gleich im Anschluß an sein Plädoyer für das contubernium weist Seneca seinen
Freund auf den mentalen Charakter sittlichen Handelns und die sich daraus erge-
bende Diskursivität des Lehrer-Exempels hin. Er fordert Lucilius dazu auf, seinem
Beispiel zu folgen und sich aus dem Bereich äußerlichen Handelns - geschäftlicher
Aktivitäten, politischen Engagements und gesellschaftlichen Umgangs - so weit
wie möglich zurückzuziehen: »Recede in te ipse quantum potes«.62 Lucilius wendet
dagegen ein, daß der Rückzug aus der Welt ihn zur Untätigkeit verdamme, seinem
sittlichen Charakter mithin schädlich sei.63 Seneca entlarvt diese Auffassung als einen
Irrtum: Wahres Handeln dürfe nicht mit der Betriebsamkeit des Weltmenschen
verwechselt werden. Wer sich in das secretum seines Geistes zurückzieht, ist nicht
etwa untätig. Der Abstand, den er gegenüber der Welt gewinnt, erlaubt es ihm viel-
mehr, die Dinge in ihrem wahren Wert zu erkennen und ihnen mit der richtigen
moralischen Einstellung zu begegnen. Die distanzierte Betrachtung der Welt ist die
korrekte Form sittlichen Handelns. Darüber hinaus, so erklärt Seneca, füllt der in der
Zurückgezogenheit Lebende die vermeintliche Zeit der Muße durch eine intensive
geistige Aktivität aus: Er studiert die Schriften der Philosophen und verfaßt heilsame
Ermahnungen (»salutares admonitiones«) - er liest und schreibt. 64
Die innere Aktivität distanzierter Selbst- und Weltbetrachtung hängt also eng mit
der Tätigkeit des Lesens und Schreibens zusammen. Das Lesen oder Schreiben stellt
eine der Möglichkeiten dar, sich der Welt gegenüber als distanzierter Beobachter und
somit als (innerlich) handelndes Subjekt zu verhalten. Der Gegensatz, den Seneca im
sechsten Brief zwischen dem Studieren und dem Handeln, dem theoretischen Präzep-
tor und dem praktischen Zeugen der Wahrheit konstruiert, wird sogleich wieder aus
den Angeln gehoben: Auch, ja gerade der Leser oder Schreiber ist ein Handelnder; auch
er kann als Zeuge der Wahrheit fungieren. Allerdings gilt dies nicht für jeden beliebigen
Leser oder Schreiber: Seneca entwickelt eine spezifisch philosophische Ethik des Lesens
und Schreibens, die er in seinen Epistulae morales umzusetzen versucht. Er will Lucilius
richtig handeln lehren, indem er ihn richtig lesen lehrt.
Die Unvereinbarkeit der stoischen Handlungskonzeption mit dem pädagogischen
Modell unmittelbarer Zeugenschaft ist nicht der einzige Grund dafür, daß Seneca
der schriftlichen Unterweisung gegenüber dem contubernium den Vorzug gibt. Das
ethische Subjekt soll nicht nur der Welt, sondern auch sich selbst gegenüber eine
Distanz aufbauen. Das Ziel der ethischen paideia besteht darin, das Individuum zu
einem unnachgiebigen Beobachter und Prüfer seiner selbst auszubilden. Laut Seneca
sollen wir so leben, als stünden wir immer unter Beobachtung. Wir sollen uns ein
moralisches Vorbild wählen, das als innerer Zeuge dient, das wir uns unablässig vor
Augen zu halten und vor dem wir jede Handlung, jeden Gedanken und jedes Gefühl

62
Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 7.8.
63
Ebd. 8.1.
64
Ebd. 8.If.
282 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

zu rechtfertigen haben. 65 Das Vorbild jedoch, das uns direkt vor Augen steht, müssen
wir uns nicht vor Augen halten. Die Absenz des Lehrers ist somit die Voraussetzung
dafür, daß der Schüler sein Vorbild verinnerlicht und somit als Wächter seiner
selbst aktiv wird. Seneca macht kein Hehl daraus, daß der Freundschaft zwischen
Abwesenden aus diesem Grunde der Vorrang gegenüber dem contubernium gebührt.
Die körperliche Anwesenheit des Freundes, so erklärt er, hat zur Folge, daß man
weniger an ihn denkt; doch ein Freund, an den man nicht denkt, ist nicht wirklich
anwesend. 66 Das Denken an ihn markiert seine eigentliche, seelische Präsenz, und
diese gewinnt paradoxerweise gerade dann Dauer und Beständigkeit, wenn die
Freunde durch großen räumlichen Abstand voneinander getrennt sind. Als wahrer
Freund und Lehrer ist nicht derjenige anzusehen, mit dem man unter einem Dach
zusammenlebt, sondern derjenige, der in unserer Seele seine permanente Wohnstatt
findet: »Amicus animo possidendus est; hic autem numquam abest; quemcumque
vult cotidie videt.« 67
Der Freund, den das Individuum auf diese Weise zu einem Teil seiner selbst
macht, hat die Funktion eines Maßstabs. 68 Mit seiner Hilfe vermag es sein eigenes
Verhalten zu beurteilen. An den Freund oder Lehrer denken heißt: sich an ihm
messen, sich mit ihm vergleichen, sich selbst im Hinblick auf ihn prüfen. Vorbild ist
der Freund also nicht in dem Sinne, daß sein Handeln unmittelbar zur Nachahmung
einlädt. Ebensowenig ist er als ein Spiegel im Sinne des Aristoteles aufzufassen - als
ein zweites Selbst, dessen Wahrnehmung dem Individuum aufgrund seiner Wesens-
gleichheit ein adäquates Bewußtsein seines moralischen Werts vermittelt. Auch in
seiner internalisierten Form erweist der Freund seinen Nutzen vielmehr aufgrund
seiner Alterität: Er ist ein innerer anderer, der es dem Individuum erlaubt, zu sich
selbst in Distanz zu treten.
Die Kommunikation durch Briefe ist somit keine Verlegenheitslösung. Das in
epistolarischer Form geführte Gespräch ist kein bloßer Ersatz für die eigentlich zu
bevorzugende Unmittelbarkeit mündlicher Unterweisung, sondern eine bewußt
gewählte und gezielt zum Einsatz gebrachte Verfahrensweise. Seneca belehrt seinen
Schüler Lucilius durch eine Folge von Briefen, um ihn zur Verinnerlichung der
Lehrer-Schüler-Beziehung zu bewegen. Die Flexibilität der Briefform — ihr Status als
persönliche, individuell adressierte Mitteilung einerseits, ihre Offenheit für diverse,
auch abstrakt-theoretische Inhalte andererseits — ermöglicht es Seneca, den Abstand
zu seinem Partner variabel zu handhaben, ihn sukzessive und vorsichtig zu vergrö-
ßern, so daß die Instanz des inneren Zeugen in der Psyche des Schülers langsam
aufgebaut und gefestigt werden kann. Da das Lesen seinerseits eine wichtige Spielart

65 Ebd. 11.9f., 32.1, 83.lf.


60 Ebd. 55.9f.
67 Ebd. 55.11.
68 Ebd. 11.10.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 283

der moralischen Tätigkeit darstellt, ist es nicht nur Mittel, sondern auch Zweck:
Lucilius konstituiert sich als Moralsubjekt, indem er richtig lesen lernt.

P r o p ä d e u t i k des Lesens

Seneca ist von vorneherein bemüht, einen Zusammenhang zwischen der moralischen
Erziehung seines Freundes und dem Lesenlernen herzustellen. Einer der ersten Brie-
fe, die er an Lucilius richtet, enthält eine Anweisung zur richtigen Lektüre. Seneca
warnt seinen Partner davor, bei der Auswahl des Lesestoffs ziellos und unsystematisch
zu verfahren. Insbesondere hält er das Viellesen für verderblich, das d e m bloßen
Zeitvertreib und der Zerstreuung dient. Er fordert Lucilius dazu auf, sich a u f die
Lektüre weniger, anerkannter Autoren zu beschränken und diese u m so gründlicher
zu studieren. 69 Solange er die dazu nötige Konzentration noch nicht aufzubringen
vermag, soll er zumindest dafür Sorge tragen, daß er jeden Tag aus der Vielzahl der
kursorisch zur Kenntnis genommenen Texte eine Kleinigkeit herausgreift, die er sich
ganz zu eigen macht - einen hilfreichen Gedanken etwa oder eine heilsame Lehre,
die es nicht bloß zu kosten, sondern zu verdauen und zu verarbeiten gilt: »cum multa
percurreris, u n u m excerpe quod illo die concoquas.« 7 0
Seneca begnügt sich nicht damit, seinem Freund Anweisungen zu geben, sondern
er führt dieses Lektüreverfahren beispielhaft vor. Er präsentiert eine Sentenz aus d e m
Korpus epikureischer Schriften, die ihm bei seinem täglichen Studium aufgrund ih-
rer treffenden Formulierung u n d ihrer erbaulichen W i r k u n g aufgefallen ist. Sie dient
ihm als Ausgangspunkt für eine kurze kontemplative Betrachtung. 71 Dieses Procedere
macht er sich in den folgenden dreißig Briefen zur Regel: Jeder Epistel ist als Zugabe
eine Lesefrucht des Briefschreibers beigefugt, ein nützliches Präzept oder ein sinn-
fälliger Spruch, der mit einer knappen Erläuterung ausgestattet ist. Manchmal steht
dieser Spruch in einer inhaltlichen Beziehung zum eigentlichen T h e m a der Epistel
und faßt die diesbezüglichen Ausführungen in einer prägnanten Formel zusammen.
Meistens jedoch handelt es sich um einen isolierten Gedanken, den der Briefschreiber
seinen Ausführungen als Postscriptum anhängt, der dem Briefleser mithin u m so
deutlicher ins Auge fällt. Seneca selbst übernimmt also fur seinen Schüler die Arbeit
der Aneignung des Gelesenen. Er stellt Lucilius die Resultate seiner Studien in kon-
zentrierter und eingängiger Form zur Verfügung. Die sorgfältige sprachlich-rhetori-
sche Ausgestaltung der Sinnsprüche trägt das Ihrige dazu bei, den Briefempfänger
zur bereitwilligen Aufnahme des Wissenskonzentrats zu bewegen. 7 2

® Ebd. 2.2f. - Vgl. auch die ähnliche Anweisung Quintilians: Institutio oratoria. X . 1 . 2 0 .
70 Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 2.4.
71 Ebd. 2.5.
72 Vgl. Ilsetraut Hadot: Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung. Berlin

1969. S. 20: Der Belehrung mittels Sentenzen ist durch die rhetorisch ausgefeilte Art der
Vermittlung »schon eine Hilfe zur Aneignung immanent.«
284 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Die vom Briefschreiber geleistete Hilfestellung zur Aneignung des Wissens


beschränkt sich aber nicht auf die Mitteilung einzelner Merksätze und der daran
geknüpften Kurzmeditationen. Senecas Fürsorge geht noch weiter. Er läßt Lucilius
seine commentarii zukommen, die Exzerpte und Notizen, die er während seiner
Lektürearbeit angefertigt hat.73 Ja, er übersendet sogar die von ihm gelesenen Bücher,
die mit notae, mit Anmerkungen und Lesezeichen, versehen sind, so daß sein Freund
die wichtigen Stellen gleich finden kann, ohne den ganzen Text durcharbeiten zu
müssen.74 In gewisser Weise handelt Seneca somit seiner eigenen pädagogischen Ma-
xime zuwider: Er fordert Lucilius dazu auf, das Gelesene zu >verdauen<, es sich durch
selbständig vollzogene Meditationstätigkeit anzueignen, aber er nimmt ihm diese
Tätigkeit ab, er präsentiert ihm vorgekaute und vorverdaute Kost. Seneca scheut
offenkundig davor zurück, seinen Freund ins kalte Wasser zu werfen. Er will ihn
langsam und vorsichtig an den Punkt führen, an dem er sich von der Vormundschaft
seines Lehrers befreien und als autonomer Leser aktiv werden kann.
Bei aller Fürsorge, die Seneca dem Anfänger angedeihen läßt, bei all seinem Be-
streben, dem Schüler entgegenzukommen und ihm die ersten Schritte auf dem Weg
der Charakterbildung zu erleichtern, verliert der Briefschreiber das eigentliche Ziel
der philosophischenpaideia doch nicht aus den Augen. Er nimmt Lucilius einen Teil
der Applikationsarbeit ab, liefert ihm aber zugleich einen Anreiz zu eigenständiger
geistiger Tätigkeit. Es fällt auf, daß die Sprüche, die Seneca seinem Freund darbietet,
nicht den Schriften der Stoiker entnommen sind. Die überwiegende Mehrzahl der
dicta stammt aus der Feder Epikurs oder seiner Anhänger. Der Rekurs auf Epikur
hat zunächst einmal praktische Gründe. Gnomen und Sentenzen, Florilegien und
Brevarien stellen ein wichtiges Instrument der epikureischen paideia dar. Den Schü-
lern der epikureischen Philosophie wird die Doktrin ihres Meisters in Gestalt kurzer,
summarischer Abrisse und einprägsamer Lehrsätze (kyriai doxai) vermittelt.75 Seneca
findet in den Schriften der Epikureer somit ein reichhaltiges Arsenal an prägnanten
Sinnsprüchen vor. Gleichwohl mutet es seltsam an, daß er seinen Freund ausgerech-
net mit epikureischen Lehrsätzen konfrontiert, um ihn in die stoische Philosophie
einzuführen. Der Hinweis auf eklektizistische Tendenzen, die für die Philosophie
und Literatur der Kaiserzeit insgesamt charakteristisch sind, ist als Erklärung un-
zureichend, denn Seneca verfährt nur in den ersten drei von zwanzig Büchern der
Epistulae in der besagten Weise synkretistisch; ab dem vierten Buch stellt er diese
Praxis abrupt ein. Sein Rückgriff auf epikureische Sentenzen scheint folglich einem
bewußten psychagogischen Kalkül zu entspringen.

73 Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 39.If.


74 Ebd. 6.5: »Mittam itaque ipsos tibi libros, et ne multum operae inpendas dum passim profutura
sectaris, inponam notas, ut ad ipsa protinus quae probo et miror accedas.«
75 Zu den Lektürepraktiken der Epikureer und zum Stellenwert der Lektüre im Kontext der
epikureischen paideia vgl. M. C. Nussbaum: The Therapy of Desire. S. 129—135; Μ. Erler:
Philologia Medicans. S. 285f.; P. Hadot: Qu'est-ce que la philosophic antique? S. 191 f.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 285

Durch die Darbietung sinnfälliger Sprüche und Präzepte leistet Seneca seinem
Freund eine weitgehende Aneignungshilfe. Doch indem er die Sentenzen unver-
mittelt aus dem fremdartigen Kontext des epikureischen Denkens in seinen eigenen
Diskurs verpflanzt, bringt er ein Moment der Alterität zur Geltung, das Lucilius
daran hindert, die Wahrheiten gedankenlos zu affirmieren. Seneca verfremdet die
Lehrinhalte, die er vermittelt, um bei seinem Partner Unruhe hervorzurufen und
einen Reflexionsprozeß in Gang zu setzen. Die sinnfälligen Sprüche verlieren etwas
von ihrer Eingängigkeit und Selbstverständlichkeit; Lucilius soll sich darüber Gedan-
ken machen, was er da überhaupt als Leser in sich aufnimmt. Dieses Kalkül scheint
auch tatsächlich aufzugehen. Lucilius sieht sich schließlich zu der Frage veranlaßt,
warurrt Seneca seinen Briefen nur epikureische Sprüche und nicht auch »die Worte
der Unsrigen« (»voces nostrorum«) beifügt. 76 Er problematisiert die Vorgehensweise
seines Lehrers, gewinnt ihm gegenüber einen gewissen Abstand, ist also nicht mehr
vorbehaltlos dazu bereit, die in Spruchform vermittelte Lehre zu akzeptieren.
Dieser Anflug eines kritischen Bewußtseins ist Seneca willkommen. Er hat of-
fenbar nur darauf gewartet, daß die ersten Anzeichen reflexiver Eigentätigkeit bei
seinem Schüler in Erscheinung treten. Sie sind das Signal dafür, daß der Prozeß der
philosophischen paideia in eine neue Phase eintreten kann. Seneca nutzt die sich
bietende Gelegenheit daher sogleich aus, um seinen Freund mit den Besonderheiten
der stoischen Lektüre- und Schreibpraktiken vertraut zu machen. Erst jetzt erfüllt
Lucilius die Voraussetzungen, um als stoischer (und nicht bloß als epikureischer)
Leser tätig werden zu können. Der 33. Brief markiert einen Wendepunkt im Rahmen
der Epistulae morales. Er enthält einen kritischen Rückblick auf die psychagogische
Verfahrensweise, die Seneca in den ersten drei Büchern seines Briefwerks angewendet
hat, vor allem aber eine systematische Explikation des Zusammenhangs zwischen
stoischer Schreib- und Lektüretechnik einerseits, moralischer Charakterbildung
andererseits. Im 33. Brief legt Seneca sein Programm der Selbstkonstitution durch
Lektüre sowie seine Konzeption einer ecriture de soi dar und bereitet auf diese Weise
die Transformation seiner eigenen epistolarischen Schreibweise vor, wie sie in den
folgenden Briefen manifest wird.77

Stoische Praktiken des Lesens u n d Schreibens: Ep. 3 3

Lucilius wünscht, von seinem Lehrer mit Sentenzen stoischer Provenienz versorgt zu
werden. Doch Seneca lehnt es ab, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Er weist Lucilius

76
Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 33.1.
77
Vgl. M. Foucault: L'ecriture de soi; Foucault bezieht sich in seiner Abhandlung fast aus-
schließlich auf die Epistulae morales, verfehlt aber, wie im folgenden gezeigt werden soll, die
Konzeption Senecas in einigen wesentlichen Aspekten. Zur Kritik an Foucaults Darstellung
der ecriture de soi vgl. auch P. Hadot: Überlegungen zum Begriff der »Selbstkultur«. In: Spiele
der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Hg. von Francjois Ewald und Bernhard Waldenfels.
Frankfurt a. M. 1991. S. 219-228, hier: S. 223-226.
286 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

d a r a u f hin, daß eingängige Merksätze, die a u f g r u n d ihrer Sinnfälligkeit und ihrer


prägnanten Formulierung aus d e m Redekontext hervorstechen, in den Schriften
der Stoiker nicht zu finden seien. Darin erkennt er jedoch keinen Mangel, sondern
einen entscheidenden Vorzug der stoischen Schreibweise. Bei den Stoikern sind es
nicht bloß vereinzelte, aus d e m Werkganzen herausragende dicta, denen heilsame
Belehrung zu entnehmen ist. Vielmehr ist bei ihnen das jeweilige Werk in seiner
Totalität, sind alle seine Bestandteile gleichermaßen gehaltvoll und belehrend: »totus
contextus illorum virilis est.« 7 8 D i e Schriften der Epikureer bieten d e m Leser nach
Ansicht Senecas nur punktuell u n d sporadisch wertvolle Einsichten an. Sie haben
— sowohl was den Argumentationsgang als auch was die Stilhaltung anbetrifft - ein
ungleichmäßiges, inkonsistentes Ansehen. D i e stoischen Schriften hingegen sind
Texte - Kontexte — in einem emphatischen Sinne des Wortes. D i e dicta, die von
ihnen präsentiert werden, stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bil-
den ein fortlaufendes Ganzes: »perpetua et inter se contexta sunt.« 7 9 Die Texte der
Stoiker zeichnen sich laut Seneca durch die Stringenz des Argumentationsgangs, die
von A n f a n g bis E n d e durchgehaltene Konzentration a u f Sachgehalte und den daraus
resultierenden inneren Z u s a m m e n h a n g ihrer Bestandteile aus. Während die epiku-
reischen Schriften oft nicht mehr als eine Aggregation isolierter Gedanken, eine lose
Assoziation von vorformulierten Mustersätzen, von »excerpta et repetita« darstellen,
liegt den Werken der Stoiker eine dicht geknüpfte gedankliche und sprachliche Tex-
tur zugrunde: »continuum est a p u d nostros q u i d q u i d a p u d alios excerpitur.« 8 0
Kontinuität u n d Z u s a m m e n h a n g gelten Seneca aber nicht nur als S y m p t o m e fiir
die philosophische und literarische Q u a l i t ä t der stoischen Schriften. Sie haben dar-
über hinaus eine ethische Funktion. Ein Text, der aus heterogenen Materialien be-
steht, der vorgefertigte Bestandteile der Rede nur locker miteinander verbindet oder
der gar in sich widersprüchlich ist, indiziert nicht nur einen intellektuellen, sondern
auch einen moralischen Defekt seines Autors. D e n n Seneca definiert die »virtus« des
philosophischen Lebenskünstlers als »iudicium verum et i m m o t u m « , »immutabile
c e r t u m q u e iudicium« oder »inflexibile iudicium«: als ein Reflexionsvermögen, das
stets mit sich selbst übereinstimmt und sich bei seinen Urteilen immer an ein und
demselben Maßstab orientiert. 81 Der Tugendhafte ist in jeder Situation derselbe, weil
er auf der G r u n d l a g e seiner Einsicht in die N a t u r o r d n u n g einen das Ganze seines
Lebens betreffenden Beschluß gefaßt hat und alles, was ihm begegnet, im Hinblick
d a r a u f beurteilt. 8 2 Ein inkonsistenter Text läßt d a r a u f schließen, daß sein Verfasser

78 Seneca: A d Lucilium epistulae morales 33.1.


79 Ebd. 3 3 . 6 .
80 Ebd. 33.3.
81 Ebd. 7 1 . 3 2 , 9 5 . 5 7 , 95.62. - Z u r stoischen Konzeption d e r T u g e n d als »rational consistency«
vgl. die von Α. A. L o n g und D . N . Sedley gesammelten Belegstellen in: T h e Hellenistic
Philosophers. Bd. 1. S. 3 8 3 .
82 Seneca: A d Lucilium epistulae morales 20.6. - Vgl. zu diesem Grundprinzip der stoischen
Moralphilosophie auch M . Forschner: D i e stoische Ethik. S. 186.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 287

eine solche Entscheidung entweder überhaupt nicht getroffen oder nicht hinrei-
chend verinnerlicht hat, wohingegen ein in sich schlüssiges, zusammenhängendes
Werk sich als das Produkt eines nach unveränderlichen Prinzipien operierenden,
sich selbst treu bleibenden iudicium zu erkennen gibt und auf einen gefestigten,
tugendhaften Charakter verweist. Zwar fordert Seneca seinen Schüler immer wieder
dazu auf, Proben seiner Tugend durch Taten und Charakterstärke anstatt durch
schöne Reden oder literarische Werke abzulegen. 83 Zugleich jedoch konzipiert und
praktiziert er eine spezifische Form des Schreibens, die ihrerseits als moralische Tä-
tigkeit aufgefaßt werden kann und somit die Tugend des Schreibenden unter Beweis
zu stellen vermag. »[C]oncordet sermo cum vita«, so lautet die Devise, die Seneca
seinem Freund einschärft. 84 Um zu überprüfen, ob der Diskurs, den der Philosoph
führt, mit seiner Lebenspraxis übereinstimmt, ist es aber nicht erforderlich, in ein
contubernium mit ihm einzutreten und sein Leben zu beobachten. Vielmehr vermag
der Diskurs selbst darüber Aufschluß zu geben: Die Kohärenz des Diskurses ist ein
Zeichen dafür, daß der Sprecher mit sich selbst übereinstimmt und daß er dasjenige
auch tut, wovon er spricht — ja, daß er es tut, indem er spricht.
Seneca erklärt die Inkonsistenz, die er in den Schriften eines Hermachos oder Me-
trodoros zu finden glaubt, durch die autoritäre Struktur der epikureischen paideia.
Die Epikureer leben sozusagen unter einem König (»sub rege«): Was auch immer
ein epikureischer Philosoph äußert, kann nur dadurch gerechtfertigt und begründet
werden, daß es auf die Autorität des Einen, des Schulgründers nämlich, zurückge-
führt wird (»ad unum refertur«). 85 Was zählt, ist nicht der autonome Gebrauch der
eigenen Vernunft, sondern die bedingungslose Unterwerfung unter die Doktrin des
Meisters.86 Wer von dieser Doktrin abweicht, der macht sich - wie der epikureische
Schriftsteller Philodemus drastisch formuliert — des Vatermords schuldig. 87 N u n
sollte man meinen, daß die Hörigkeit gegenüber den Worten des Schulgründers der
Konsistenz des Diskurses nicht abträglich, sondern eher förderlich ist. Wenn nur
solche Äußerungen erlaubt sind, die der Lehre des Meisters entsprechen, dann muß
der daraus resultierende Diskurs eine homogene Beschaffenheit besitzen - Abwei-
chungen und Unregelmäßigkeiten sind scheinbar von vorneherein ausgeschlossen.
Doch Seneca entlarvt diese Erwägung als trügerisch. Die Ubereinstimmung des
Diskurses mit sich selbst ergibt sich nicht automatisch dadurch, daß der Verfasser
sich um Übereinstimmung mit einer externen Autorität bemüht. Der Diskurs, so
argumentiert Seneca, kann eine wirkliche Kohärenz nur dann gewinnen, wenn der
Sprecher diese Autorität ganz verinnerlicht und sie zur Grundlage seiner eigenen

83
Vgl. etwa Ad Lucilium epistulae morales 20.1, 26.6, 75.7.
84
Ebd. 75.4.
85
Ebd. 33.4.
86
Zur Bedeutung des Gehorsams in der epikureischen Psychagogik vgl. M. C. Nussbaum: T h e
Therapy of Desire. S. 130f.
87
Zitiert nach M. Erler: Philologia Medicans. S. 288.
288 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Urteilstätigkeit macht. Epikur erhebt zwar die Natur zum kanon, zum Richtmaß
menschlichen Tuns,88 aber er erlaubt seinen Anhängern nicht, dieses Richtmaß selb-
ständig anzuwenden, sondern verpflichtet sie auf den Gehorsam gegenüber dem äu-
ßeren Kanon seiner dogmatischen Schriften.89 Seneca hingegen verweist den Adep-
ten der Philosophie auf ein inneres Naturprinzip. Er sieht in den Verbindungslinien,
die den Zusammenhalt zwischen den einzelnen Elementen des Diskurses stiften und
sie in ein Werkganzes integrieren, das Produkt des ingenium, jener Vernunftanlage
mithin, die jedem Individuum von Natur aus verliehen ist: »per lineamenta sua
ingenii opus nectitur«.90 Ein Verfasser, der sich dieser Anlage nicht bedienen darf,
ist dazu verdammt, den Diskurs seiner Vorgänger zu wiederholen, ohne seiner Rede
ein einheitliches Gepräge geben zu können. Die Sentenzen und Brevarien, die von
den Epikureern so sehr geschätzt werden, sind auf eine solche Wiederholung hin
angelegt. Sie sprechen das Gedächtnis an, nicht den Verstand. Laut Seneca bildet
das Gedächtnis den Fokus der epikureischen Lektüre- und Schreibpraktiken:91 Das
Gedächtnis ist das Organ, das die Aneignung des Diskurses bewirken soll.92 Michel
Foucaults These, daß die kaiserzeitlichen Selbsttechniken eine invertierte Form der
platonischen anamnesis betreiben und sich »sous la forme d'exercices progressifs
de memorisation« realisieren, scheint in der epikureischen Praxis ihre Bestätigung
zu finden.93 Doch Seneca verfolgt gerade die Absicht, die Unzulänglichkeit des
Gedächtnisses als Instrument der Wissensaneignung zu erweisen: »aliud autem est
meminisse, aliud scire.«94
Nicht das Gedächtnis, sondern ingenium und iudicium sind nach stoischem Ver-
ständnis die Organe, die für die >Verdauung< und Aneignung fremder Rede zuständig
sind. Die Bildlichkeit der Digestion und der Assimilation, die Seneca im zweiten
Brief zur Veranschaulichung des Lektürevorgangs einführt, ist im 33. Brief zwar nur
andeutungsweise präsent, wird im 84. Brief aber noch einmal aufgegriffen und ent-
faltet. Dort assoziiert der Briefschreiber das Gedächtnis mit einem Diskurs, der sich im
Zustand der Desintegration befindet: Was in der memoria deponiert werden soll, muß
in kleinere Bestandteile - in einzelne Merksätze und isolierte Sinneinheiten - zerlegt

88 Vgl. M. C. Nussbaum: The Therapy of Desire. S. 105f.; M. Hauskeller: Geschichte der Ethik.
Bd. l . S . 155f.
85 Den von Epikur selbst eingeleiteten Prozeß der Kanonisierung seiner Schriften beschreibt M.
Erler: Philologia Medicans. S. 2 8 7 - 2 8 9 .
90 Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 33.5.
91 Ebd. 33.8. - Senecas Verdikt wird durch die Forschung bestätigt. In The Therapy of Desire
beschreibt Martha C. Nussbaum »certain practices associated with arguing that mark off the
Epicurean school from all the other schools of the day.« »Memorization« stellt die wichtigste
dieser Praktiken dar; »emphasis on memory and repetition« ist ihrer Ansicht nach der auffäl-
ligste Zug der epikureischen paideia (S. 132f.).
92 Vgl. M. C . Nussbaum: The Therapy of Desire. S. 132: »[M]emory is the student's way of
taking the teaching inside himself or herself, so that it will »become powerful· and can help
her in the confrontation with error.«
93 M. Foucault: L'hermeneutique du sujet. S. 361.
94 Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 33.8.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 289

werden.95 Diese Desintegration markiert aber gerade nicht die >Verdauung< der durch
Lektüre aufgenommenen geistigen Nahrung. Seneca differenziert zwischen der Tätig-
keit des Zergliedems, die das Individuum betreiben muß, um einen Text zu memorie-
ren, und der eigentlichen Aktivität der Aneignung. Mehr noch: Die Einspeisung des
Diskurses in die memoria und der Vorgang der >Verdauung« schließen sich wechselseitig
aus. Wir sollen die gelesenen Texte >verdauen<, damit sie nicht bloß vom Gedächtnis
festgehalten werden, sondern in das höhere Vermögen des Ingenium eingehen: »Con-
coquamus illa; alioqui in memoriam ibunt, non in ingenium.«96 Das im Gedächtnis
gespeicherte Wissen besitzt noch die Form distinkter diskursiver Entitäten, die nicht
miteinander zusammenhängen. Erst dann, wenn der Verstand dieses Wissen bearbeitet,
werden die Einheiten aufgelöst und in einen neuen Zusammenhang integriert. Die Di-
gestion des Gelesenen ist eine Aufgabe des Urteilsvermögens, das die aufgenommenen
Wahrheiten kritisch überprüft, sie ablehnt oder ihnen zustimmt, um sie schließlich in
einer neuen Einheit aufgehen zu lassen: »Adsentiamur illis fideliter et nostra faciamus,
ut unum quiddam fiat ex multis, sicut unus numerus fit ex singulis«.97

Kein Lesen ohne Schreiben


Doch was für eine Einheit ist hier gemeint? Wo ist sie zu lokalisieren? Hat der
contextus, der aus der Verdauungsarbeit hervorgeht, seinen Sitz in der Psyche des In-
dividuums, oder handelt es sich dabei um ein opus, ein literarisches Werk? Die Her-
stellung dieser neuen Einheit impliziert jedenfalls den Gebrauch des Schreibstifts.
Das Individuum eignet sich das Gelesene dadurch an, daß es schreibt: »quidquid
lectione collectum est stilus redigat in corpus«.98 Das Ziel dieser Kombination von
Lesen und Schreiben besteht darin, die von außen aufgenommenen Wahrheiten in
einen habituellen Besitz des Individuums zu überführen, ihnen die ungegenständli-
che Form einer Wissens- oder Bewußtseinshaltung zu verleihen. Das Subjekt soll mit
dem Wissen zur Einheit verschmelzen. Folgt man Michel Foucault, so verweist das
corpus, das durch das Lesen und Schreiben hervorgebracht werden soll, daher nicht
auf ein neues literarisches Werk, sondern auf das Subjekt selbst, das sich durch die
Praxis des Lesens und Schreibens allererst als Einheit konstituiert:
[L'unification] n est pas operee dans l'art de composer un ensemble; eile doit s'etablir dans le
scripteur l u i - m e m e comme le resultat des hupomnemata, de leur constitution (et done dans

" Ebd. 84.5.


96 Ebd. 84.7.
97 Ebd. 84.7. Seneca rekurriert hier auf einen für die stoische Urteilslehre zentralen Begriff - den
Begriff der inneren Z u s t i m m u n g . Das Individuum urteilt, indem es seinen Vorstellungen
die Z u s t i m m u n g erteilt oder verweigert. Vgl. A. A. Long / D. N. Sedley: T h e Hellenistic
Philosophers. Bd. 1. S. 2 5 0 : »Impressions can be false or true. A n y impression is a rational
activity, which represents the object of the impression in the form of a putative j u d g e m e n t
[ . . . ] . Impressions are entertained by the mind like competent or incompetent messengers,
and the faculty of assent has the function of judging the value of their reports.«
" Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 84.2.
290 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

le geste meme d'ecrire), de leur consultation (et done dans leur lecture et relecture). [...] Le
röle de l'ecriture est de constituer, avec tout ce que la lecture a constitue, un >corps< [...]. Et
ce corps, il faut le comprendre non pas comme un corps de doctrine, mais bien - en suivant
la metaphore si souvent evoquee de la digestion - comme le corps meme de celui qui, en
transcrivant ses lectures, se les a approprie et a fait sienne leur verite [ . . . ] . "

Es trifft zwar zu, daß das Lesen und Schreiben der Herstellung eines neuen Selbst
dienen soll. Gleichwohl verfehlt Foucault in dieser Äußerung die Pointe des von
Seneca propagierten Verfahrens. Denn laut Foucault basiert die Verdauungsarbeit,
die das ethische Subjekt zu leisten hat, auf der Abfassung von hypomnemata oder
commentarii. Zum einen reduziert er den digestiven Prozeß somit auf die mnemo-
nische Aneignung des Diskurses; er vernachlässigt also die Rolle, die das ingenium
und das indicium dabei zu spielen haben. Zum anderen koppelt er die Konstitution
des Moralsubjekts ausgerechnet an jene disparate und heterogene Form der ecriture,
in der Seneca ein Indiz für die mangelnde Charakterfestigkeit des Schreibenden
erkennt und von der er sich im 3 3 . Brief explizit distanziert: »turpe est enim [...] ex
commentario sapere«, so lautet sein Urteil. 100
Das corpus, in welches das Gelesene mit Hilfe des Schreibstifts überführt werden
soll, ist eben nicht nur das Selbst des Schreibenden, sondern auch ein literarisches
Werk. Das Individuum konstituiert sich als Wissens- und Moralsubjekt, indem es
das Gelesene in einen neuen Text einfließen läßt, und zwar in einen solchen, der
sich durch den integralen Zusammenhang seiner Teile auszeichnet und somit das
Abbild eines aktiv wirksamen, mit sich selbst übereinstimmenden iudicium darbietet.
Die Aneignung des Diskurses beschränkt sich nicht auf das Festhalten des Schon-
Gesagten. Sie ist vielmehr immer mit der Produktion eines neuen Diskurses, mit
einem neuen Sagen verknüpft: »Dicat ista, non teneat«. 101 Der fremde Diskurs ist
erst dann ganz >verdaut<, wenn er in den contextus eines selbsterzeugten Diskurses
integriert wurde, wo er nicht mehr als Fremdkörper identifizierbar ist. Die stoische
Lektüre ist eine kreative Tätigkeit. Nur derjenige liest richtig, der zugleich auch
schreibt - der aber nicht bloß commentarii, sondern opera verfaßt, da nur das zu-
sammenhängende Ganze eines Werkes die Beständigkeit und Stärke des auktorialen
iudicium sichtbar machen kann. Stoische Leser, so behauptet Seneca, sind immer
auch Autoren, während die Epikureer - »numquam auetores, semper interpretes,
sub aliena umbra latentes« - als subalterne Nachbeter unantastbarer Lehrerworte in
Erscheinung treten. 102
Wohlgemerkt: Das eigentliche Ziel der Lektüre- und Schreibtätigkeit ist nicht die
Herstellung eines literarischen Werks, sondern die eines neuen Selbst, einer neuen
Bewußtseinshaltung. Doch die Herstellung des Selbst ist in irreduzibler Weise an die

99 M . Foucault: L'ecriture de soi. S. 4 2 2 .


,c0 Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 3 3 . 7 .
101 Ebd.
102 Ebd. 3 3 . 8 .
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 291

Herstellung des Werks gekoppelt. Das Individuum kann der Wahrheit nur dadurch
die ungegenständliche Form der Bewußtseinshaltung verleihen, daß es sie zugleich
in gegenständlicher Werkgestalt aus sich herausstellt. Es etabliert die neue Bewußt-
seinshaltung, indem es sie zugleich objektiviert. Das Moralsubjekt macht sich das
Wirken seines indicium und somit seinen sittlichen Wert anhand des opus, das es
produziert, bewußt. Während Piaton und Aristoteles eine derartige Selbstvergegen-
ständlichung mit der Gefahr des Selbstverlusts assoziieren u n d das Moralsubjekt
deshalb an den lebendigen Spiegel des Freundes verweisen, postuliert Seneca nicht
bloß die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit, das Selbst in Form eines
schriftlichen opus zu entäußern.
Dieses Lektüre- und Schreibverhalten besitzt unmittelbar eine ethische D i m e n -
sion. Denn Seneca ist davon überzeugt, daß der derjenige, der sich davor fürchtet,
durch eigenständige Diskursproduktion aus dem Schatten seiner Lehrer hervor-
zutreten, es auch nicht wagen wird, dasjenige zu tun, wovon er spricht. 1 0 3 D e r
Nachbeter fremder Rede spricht, anstatt zu handeln. Der Diskurs, den der stoische
Leser im Zuge seiner geistigen Verdauungsaktivität hervorbringt, ist hingegen selbst
bereits eine Art von sittlichem Tun. Der Stoiker spricht nicht nur über moralische
Gegenstände, sondern er praktiziert die Moral, indem er spricht. Eine bestimmte
Art zu reden — ein kohärenter, dem autonomen Verdikt des auktorialen indicium
gehorchender Diskurs — ist unmittelbar als sittliche Aktivität anzusehen. Die sittli-
che Praxis wandert somit in den ethischen Diskurs ein. Angesichts der von Seneca
vorgetragenen Lektürekonzeption ist es durchaus statthaft, von einer Literarisierung
der Ethik zu sprechen, wenn man sich nur davor hütet, darunter einseitig einen spie-
lerischen, ästhetisierenden, synkretistischen Umgang mit dem überlieferten Wissen
zu begreifen. 104 Zwar fordert Seneca seinen Schüler dazu auf, sich von seinem Lehrer
unabhängig zu machen, doch diese Autonomie markiert gerade nicht die Freiheit
des Spiels, sondern die Verpflichtung des Leser-Autors, auf die Stimme des inneren
Lehrers der Vernunft zu hören. Seneca propagiert eine Askese der Diskursprodukti-
on, ein ethisches Schreiben: Der Leser-Autor hat jedes Wort, das er artikuliert, selbst
zu verantworten. Die Rede gewinnt einen irreduziblen Bezug auf die Persönlichkeit
ihres Urhebers. Sie bringt den Charakter des Redenden zum Ausdruck. Dieses selbst-
verantwortliche Sprechen steht im Kontrast zur Unverbindlichkeit der zitierenden
Rede, die im Namen eines anderen artikuliert wird. Seneca verlangt vom stoischen
Leser-Autor, daß er mit seinem Selbst für seine Rede einsteht, und umgekehrt: daß
er ein solche Rede produziert, die ganz für sein Selbst einzustehen vermag.
Seneca konfrontiert seinen Korrespondenzpartner im 33. Brief also mit einer
höchst anspruchsvollen Konzeption der Lektüre und des Schreibens. Die stoische
Schreibtechnik ist nicht, wie Foucault behauptet, »un art de la verite disparate«;

103
Vgl. ebd.: »Omnes itaque istos [...] numquam ausos aliquando facere quod diu didicerant.«
104
Diesen Fehler begeht etwa H. Pfeiffer: Selbstkultur und Selbsterhaltung. S. 122.
292 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

sie gehorcht nicht dem Prinzip der »verite locale de la sentence«, fordert den Leser
mithin auch nicht zu einer fragmentarisierenden Lektüre heraus. 105 Im Gegenteil,
da die Stoiker sich in besonderer Weise um die Kohärenz und Konsistenz ihrer Texte
bemühen, müssen diese im Ganzen gelesen und mit kritischer Aufmerksamkeit
durchleuchtet werden. Die Lektüre von Auszügen ist allenfalls etwas für Anfänger.
Für den Fortgeschrittenen gilt dagegen die Lektüreanweisung: »depone istam spem
posse te summatim degustare ingenia maximorum virorum: tota tibi inspicienda
sunt, tota tractanda«.' 06 Um unter Beweis zu stellen, daß er sich die in den Büchern
übermittelten Lehren auch wirklich zu eigen gemacht hat, gibt es für den stoischen
Leser nur ein Mittel - er muß das erworbene Wissen anwenden, das aber heißt laut
Seneca: er muß selbst schreiben, er muß einen Diskurs produzieren, der sich sei-
nerseits durch seinen inneren Zusammenhalt auszeichnet. Dabei kommt es weniger
darauf an, welche dogmatischen Inhalte er behandelt, als vielmehr darauf, wie er
kompositorisch mit ihnen umgeht. Senecas Vorgehensweise ist in dieser Hinsicht
paradox: Einerseits schärft er Lucilius immer wieder ein, sein Augenmerk nicht auf
den stilistischen Wortschmuck, sondern auf den intellektuellen und moralischen
Gehalt der Rede zu richten. Andererseits nimmt er selbst den intellektuellen Gehalt
der Briefe, die ihm sein Schüler übersendet, nur beiläufig zur Kenntnis. Er achtet
darauf, ob Lucilius sachbezogen schreibt - was er im einzelnen über die Sache zu
sagen hat, ist demgegenüber sekundär.
Denn auch die sachbezogene Schreibweise markiert eine spezifische Stilhaltung,
und für diese interessiert sich der Psychagoge mehr als für die Gegenstände, über
die sich sein Schützling ausläßt. Symptomatisch ist etwa die Art und Weise, wie
Seneca auf die Übersendung eines von Lucilius verfaßten Buches reagiert. In seiner
Antwort geht Seneca mit keinem Wort auf den Inhalt dieser Schrift ein. Statt dessen
analysiert er die Stilhaltung des Verfassers. Er hebt lobend hervor, daß Lucilius sich
nicht nur punktuell zu einer kraft- und gehaltvollen Darstellung zu erheben vermag,
sondern sich kontinuierlich auf einer solchen Höhe hält: »nunc non fuit impetus
sed tenor. Compositio virilis et sancta«. 107 Daß Seneca hier den Begriff tenor ver-
wendet, um auf die Konsistenz des von Lucilius komponierten Textes zu verweisen,
ist bezeichnend. Tenor ist ein Fachterminus der stoischen Ethik - ein Synonym für
habitus, eine Ubersetzung der griechischen Ausdrücke hexis und diathesis, welche
die angespannte, konzentrierte Bewußtseinshaltung des sich selbst genügenden
Moralsubjekts bezeichnen. 108 Wenn Seneca dem Buch seines Schülers einen tenor

105 Μ . Foucault: L'ecriture de soi. S. 4 2 1 .


106 Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 33.5· (Hervorhebungen von mir, Ch. M . ) (»Laß fahren
diese Hoffnung, du könntest im Uberblick kosten das geistige Schaffen der bedeutendsten
Männer: als Ganzes mußt du es zur Kenntnis nehmen, du mußt dich mit ihm als Ganzem
befassen.«).
107 Ebd. 46.2.
108 Vgl. etwa ebd. 2 0 . 3 , wo Seneca den Begriff tenor in diesem Sinne gebraucht. - Zur stoischen
Konzeption von hexis und diathesis vgl. M . Forschner: Die stoische Ethik. S. 63f., S. 66.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 293

attestiert, liest er es folglich als ein Abbild der gefestigten Seelenverfassung seines Au-
tors. Die Stilhaltung korrespondiert der Seelenhaltung. Seneca verlangt von Lucilius
keine Bekenntnisse, denn die Schreibweise des angehenden Philosophen gibt ihm
hinreichenden Aufschluß über seinen inneren Zustand. Das gilt nicht nur für das
Buch, das Lucilius seinem Lehrer zur Begutachtung übersendet, das gilt auch und
gerade für seine Briefe. Seneca verzichtet darauf, zu untersuchen, ob die Aussagen,
die Lucilius in seinen Briefen macht, mit der stoischen Doktrin übereinstimmen
- es kommt in den Epistulae morales nur sehr selten vor, daß der Seelenführer ei-
nen dogmatischen Irrtum seines Schützlings moniert. Er überprüft vielmehr den
Schreibstil, an dem sich ablesen läßt, ob das indicium seines Freundes mit sich selbst
übereinstimmt und die erforderliche Beständigkeit erlangt hat.109 Literarische und
moralische Kritik fallen in eins.

Epistolare Selbstgespräche: Der Brief als M e d i u m der Introspektion

Im 33. Brief macht Seneca seinen Freund Lucilius mit den stoischen Schreib- und
Lektüretechniken vertraut. Doch welche praktischen Konsequenzen zieht der Psych-
agoge aus der theoretischen Erörterung der Lektüreproblematik — insbesondere für
seine eigene epistolarische Schreibweise? Ist die Briefform überhaupt dazu geeignet,
den Korrespondenzpartner zu einem richtigen Lektüre- und Schreibverhalten zu
erziehen?
Daß Seneca eine solche Erziehung im Sinn hat, wird sehr schnell deutlich. In den
Briefen, die auf die 33. Epistel folgen, ändert sich nämlich seine Schreibweise. Seneca
verfolgt eine neue psychagogische Strategie. Es fällt zunächst einmal auf, daß die
Briefe erheblich an Umfang gewinnen. Der Briefschreiber nimmt sich nun sehr viel
mehr Zeit, um komplexe Sachfragen zu erörtern. Einige Briefe - etwa die 66. Epistel,
die der stoischen Güterlehre gewidmet ist, oder die 94. und 95. Epistel, in denen die
Wechselbeziehung zwischen Dogma und Paränese untersucht wird - schwellen zu re-
gelrechten Abhandlungen an. In ihrer Beschränkung auf ein bestimmtes Thema und
in ihrem systematischen Aufbau weisen sie eine derart geschlossene Form auf, daß sie
auch als selbständige philosophische Publikationen bestehen könnten. Andere Briefe
dagegen sind weniger sach- als personenbezogen. In ihnen berichtet Seneca über sein
Alltagsleben, über die Erfolge und Mißerfolge, die ihm bei dem Versuch unterlaufen,
seine Lebensführung an philosophischen Prinzipien auszurichten.

"" Vgl. etwa Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 59.1 - 6 : Seneca unterzieht einen Brief seines
Freundes einer ausführlichen Stilanalyse; er gelangt dabei zu dem Ergebnis, daß die knappe
und sachgerechte Ausdrucksweise, derer sich Lucilius befleißigt, als Abbild einer Seele zu
deuten ist, der nichts Uberflüssiges anhängt. Seneca betrachtet den Brief als Spiegel der Seele.
Tatsächlich ist er einer der Urheber dieses epistolographischen Topos, der für die Briefliteratur
bis in die Neuzeit hinein prägend ist. Vgl. dazu Wolfgang G. Müller: Der Brief als Spiegel der
Seele. Zur Geschichte eines Topos der Epistolartheorie von der Antike bis Samuel Richardson.
In: Antike und Abendland 26 (1980). S. 138-157.
294 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

So unterschiedlich diese Brieftypen auch sein mögen, ihnen beiden ist gemein-
sam, daß sie sich nicht mehr direkt an den Erwartungen und Bedürfnissen des
Briefadressaten orientieren. Der Briefschreiber richtet seine Aufmerksamkeit auf
den Problemfall, mit dem er sich auseinandersetzt, oder auf seine eigene Person,
nicht jedoch auf die Belange des Adressaten. Die größere Distanz, die Seneca auf
diese Weise seinem Freund gegenüber aufbaut, kommt auch darin zum Ausdruck,
daß er nun davon absieht, seine Briefe mit prägnanten Sprüchen und Sentenzen
zu garnieren. Der Briefschreiber hält sich damit zurück, seinem Leser rhetorische
Aneignungshilfen zu geben.
Diese Zurückhaltung bleibt natürlich nicht unbemerkt. Lucilius beschwert sich
schließlich über die mangelnde Sorgfalt der sprachlichen Gestaltung und die sich
darin bekundende Indifferenz gegenüber dem Adressaten, die er aus den Briefen sei-
nes Lehrers herauszulesen glaubt. 110 Seneca rechtfertigt seine Vorgehensweise damit,
daß er in seiner Korrespondenz jene ungezwungene, ungekünstelte Stilhaltung zur
Geltung bringen möchte, wie sie gewöhnlich im vertraulichen Gespräch zwischen
Freunden gepflegt wird. 111 Er will so schreiben, als sei er mit seinem Freund in einer
mündlichen Unterhaltung begriffen: »Qualis sermo meus esset si una desideremus
aut ambularemus, inlaboratus et facilis, tales esse epistulas meas volo, quae nihil
habent accersitum nec fictum.«112
Senecas Rechtfertigungsversuch macht stutzen. Er soll erklären, warum er sich nicht
stärker auf den Adressaten einläßt, und er begründet seine Zurückhaltung damit, daß
er sich als Briefschreiber wie ein Gesprächsteilnehmer verhalten will. Diese Argumen-
tation erscheint zunächst widersinnig, zeichnen sich doch gerade die Äußerungen, die
im Rahmen eines Dialogs getätigt werden, durch ihren intensiven Adressatenbezug aus
- man denke nur an die Art und Weise, wie sich Sokrates mit seinen Fragen auf die be-
sondere Situation seines jeweiligen Gesprächspartners einzustellen versteht. Seneca hat
aber offenkundig eine ganz andere Form von Gespräch im Sinn. Er denkt nicht an den
schulmäßigen Dialog, sondern an das vertrauliche Gespräch unter Freunden. Dieses
impliziert für Seneca nicht die Notwendigkeit, sich der Gedanken- und Gefühlswelt
des Partners anzupassen, sondern die Erlaubnis, ja die Verpflichtung, seine eigenen Ge-
danken und Gefühle unverstellt zum Ausdruck zu bringen. »Haec sit propositi nostri
summa: quod sentimus loquamur, quod loquimur sentiamus«, so lautet das Prinzip,
das Seneca dem epistolarischen Dialog mit Lucilius zugrunde legt. 113 Die Rede des

Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 7 5 . 1 .


111 D a ß der Briefwechsel die Mimesis eines vertraulichen Gesprächs darstellt, ist schon zu Zeiten
Senecas ein alter Topos der Epistolographie. Zur antiken Verbreitung dieses Topos vgl. Klaus
Thraede: Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik. München 1970. S. 27—74.
112 Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 75.1. (»Wie mein Stil beschaffen wäre, wenn wir
zusammensäßen oder spazierengingen, nämlich ungezwungen und salopp, so sollen meine
Briefe sein, wünsche ich, die nichts Gesuchtes enthalten und Gekünsteltes.«).
113 Ebd. 7 5 . 4 . (»Das sei unserer Absicht Inbegriff: Was wir empfinden, wollen wir aussprechen,
was wir aussprechen, wollen wir empfinden.«).
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 295

Briefschreibers ist eine aufrichtige Rede. Ihr Fokus liegt in der Person des Sprechers,
nicht in derjenigen des Adressaten. Das bedeutet nicht unbedingt, daß die Person des
Sprechers direkt zum Gegenstand der Rede gemacht werden muß. Den Gegenstand
der Rede bildet oft eine konkrete Sachfrage. Aber die Erörterung der Sache bringt
das Selbst des Erörternden mit ins Spiel. Da der Briefschreiber sich nicht an den
Erwartungen seines Adressaten orientieren, seine Aufmerksamkeit mithin nicht auf
die verba, die möglichst wirkungsvolle Formulierung seiner Vorstellungen richten
muß, kann er sich ganz auf die res, auf den gedanklichen Gehalt seines Diskurses,
konzentrieren. Seine Rede wendet sich nach innen — sie zielt auf Gehalte statt auf
Worte, auf den Sprecher statt auf den Angesprochenen. Im Idealfall, so Seneca, streift
sie alles Äußerliche ab, ist sie weniger Rede als schieres Nachdenken, weniger ein
Abbild von Gedanken und Gegenständen als der aktive Vollzug der Denkbewegung
selbst. Der Briefverfasser schreibt dann nicht, sondern er denkt oder fühlt, und er
appliziert das Gedachte zugleich auf seine eigene Person: »Quaere quid scribas, non
quemadmodum; et hoc ipsum non ut scribas sed ut sentias, ut ilia quae senseris
magis adplices tibi et velut signes.«114 Die sachbezogene Rede, die der Briefschreiber
produziert, ist zugleich eine selbstbezügliche Rede, eine Rede, die es dem ingeniutn
des Schreibenden erlaubt, kontinuierlich bei der Sache und somit bei sich selbst zu
bleiben. Die Ungezwungenheit, die diese Rede charakterisiert, darf folglich nicht,
wie Lucilius dies tut, mit Nachlässigkeit oder Unaufmerksamkeit verwechselt wer-
den. Im Gegenteil, die Rede entspringt einer Psyche, die sich selbst beobachtet und
kontrolliert. Das informelle, vertrauliche Gespräch, das Seneca in seinen Briefen zu
führen sucht, ist in erster Linie ein Selbstgespräch, ein Dialog, den sein ingenium
im Zuge der konzentrierten Erörterung von Sachfragen mit sich selbst und in sich
selbst austrägt.
Tatsächlich macht sich die für die kaiserzeitliche Philosophie kennzeichnende
Tendenz zur Internalisierung der dialektischen Struktur auch in den Epistulae
morales deutlich bemerkbar. Der äußere Dialog zwischen Lehrer und Schüler, der
sich in Form eines Briefwechsels realisiert, wird immer mehr durch das Gespräch
in den Hintergrund gedrängt, das Seneca in seinen Episteln mit sich selbst zu
führen versucht. Von einem wirklichen dialogischen Austausch zwischen den
Korrespondenzpartnern kann hier keine Rede sein. Ein solcher Austausch setzt die
Bereitschaft der Briefschreiber voraus, sich intensiv mit den Äußerungen des jeweils
anderen auseinanderzusetzen und auf diese zu replizieren. Seneca geht jedoch nur
vordergründig auf die Briefe ein, die ihm Lucilius übersendet. Er interessiert sich
zwar für die Schreibweise seines Schützlings, die er als Indikator seines Seelenzu-
stands betrachtet. Eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung mit den Ideen,
die Lucilius in seinen Briefen artikuliert, findet aber nicht statt. Nur selten zitiert

114 Ebd. 115.1. (»Frage, was du schreiben kannst, nicht, wie-, und eben das nicht, damit du
schreibst, sondern nachdenkst, damit du deine Gedanken dir zu eigen machst und sie gleichsam
siegelst.«).
296 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Seneca aus den Briefen seines Freundes oder rekapituliert dessen Anschauungen. Die
Diskussion der Sachfragen geschieht in den Epistulae morales also nicht in Form einer
Wechselrede, bei der der eine direkt auf die Aussage des anderen Bezug nimmt. Die
Rede des einen dient dem anderen vielmehr als Anstoß dazu, die Sachfrage mit sich
selbst zu erörtern. Der fehlende Austausch zwischen den Partnern bekundet sich
auch darin, daß die Themen, die von Seneca behandelt werden, von Brief zu Brief
wechseln, jeder Brief mithin als ein kleiner, in sich abgeschlossener Essay angesehen
werden kann. Die einzelnen Episteln sind nicht als partielle Beiträge zu einer über-
greifenden Diskussion anzusehen. Mehr noch: Den Epistulae morales liegt zwar ein
Briefwechsel zugrunde, die Antwortbriefe des Lucilius haben aber keinen Eingang in
die publizierte Sammlung gefunden. Senecas Episteln können also für sich alleine
bestehen; die Repliken seines Korrespondenzpartners tragen nichts Substantielles zu
der Diskussion bei, die in den Briefen des Lehrers geführt wird.
Seneca übernimmt als Briefschreiber folglich nicht die Rolle des sokratischen
Fragenstellers, der den Antworten des Gesprächspartners große Beachtung schenkt.
Er verhält sich eher wie der Vortragende, der seinen Rezipienten zum konzentrierten
Zuhören und zu der damit verbundenen inneren Tätigkeit anleiten will. Seneca
nimmt seinem Korrespondenzpartner die Aufgabe des Antwortens in gewissem
Maße sogar ab. Anstatt auf die Antwortbriefe des Lucilius einzugehen, inszeniert
er in seinen Briefen imaginäre Gespräche, in denen er seinem Freund Antworten
und Einwände in den Mund legt. Der Briefschreiber verleiht seinen Erörterungen
auf diese Weise eine dialektische Struktur. Er konstruiert eine Lucilius-Figur, die
sich durch Zwischenfragen und kritische Kommentare an der Diskussion beteiligt.
Immer wieder unterbricht Seneca seine Ausführungen, um sich diesem Lucilius
zuzuwenden und ihn zu Wort kommen zu lassen, doch es handelt sich dabei um
eine fiktionale Gestalt. Sie hat eine doppelte Aufgabe zu erfüllen. Zum einen dient
sie der Rezeptionssteuerung: Sie gibt dem Briefempfänger die Rolle des wachsamen,
kritischen Lesers vor, der seinen Lehrer nicht einfach beim Wort nimmt, sondern
sich als Prüfer der Wahrheit betätigt. Denn die Äußerungen, die Seneca seiner Lucili-
us-Figur zuschreibt, sind keine naiven Verständnisfragen, sondern scharfsinnige und
sachdienliche Bemerkungen, die zur Vertiefung seiner Überlegungen führen.
Zum anderen hat die fingierte Dialogizität der Briefe die Funktion, dem Diskurs
eine reflexive Dimension zu verleihen. Mit ihrer Hilfe überwacht und kontrolliert
Seneca seine eigene Rede. Er äußert sich, und er stellt seine Äußerungen zugleich
auf den Prüfstand, indem er sie quasi von außen, aus der (imaginären) Perspektive
eines anderen beleuchtet. Der Diskurs wendet sich auf diese Weise kritisch auf
sich selbst zurück; er hält Zwiesprache mit sich selbst. Die Einwürfe des fiktiven
Gesprächspartners unterbrechen den Redefluß und schaffen Anhaltspunkte für die
Reflexion. Seneca vergleicht die ungegliederte Rede, die keine solchen Anhaltspunkte
besitzt, mit der scriptio continua der Griechen, die ein verwirrendes, diffuses Erschei-
nungsbild darbietet, und stellt ihr die römische Praxis der Interpunktion entgegen:
»nos etiam cum scribimus interpungere adsuevimus. [...] Romanus sermo magis se
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 297

circumspicit et aestimat praebetque aestimandum.« 115 Seneca vertritt das Ideal der
>interpunktierten< Rede — einer Rede, die immer wieder innehält, um das Gesagte
zu überprüfen und zu hinterfragen, und die eben dadurch, daß sie auf sich selbst
reflektiert, auch den Hörer zum Nachdenken bewegt. Die interpunktierte Rede ist
keine disparate Rede, die in ihre einzelnen Bestandteile zerfällt. Im Gegenteil, indem
Seneca die Einwürfe seines Adressaten antizipiert und beantwortet, verleiht er seinem
Diskurs logische Konsistenz und Zusammenhang. Eine Rede, die sich immer wieder
überprüft, wehrt die Gefahr ab, in Widerspruch zu sich selbst zu geraten. Sie ist
Ausdruck eines inflexibile iudicium.
Das Gespräch, das Seneca mit Lucilius führt, ist also eigentlich ein Selbstge-
spräch. Der Freund, mit dem er sich in seinen Briefen unterhält, ist eine fiktive Figur,
eine imaginäre Projektion. Wenn der Briefschreiber sich an eine Person namens Lu-
cilius wendet, darf sich der Briefempfänger folglich nicht unmittelbar angesprochen
fühlen. Diesen Fehler begeht Lucilius in einem frühen Stadium des Briefwechsels,
wie aus der 27. Epistel hervorgeht. Lucilius hat sich nämlich eine Scheltrede Senecas
allzu sehr zu Herzen genommen und seiner Betroffenheit darüber Ausdruck verlie-
hen, woraufhin sein Lehrer ihm zu verstehen gibt, daß die mahnenden Worte nur
scheinbar an den Briefempfänger gerichtet waren, sich in Wirklichkeit aber auf den
Briefschreiber selbst bezogen. 116 Wenn Seneca in seinen Episteln mit Lucilius spricht
— diese Lehre soll der Korrespondenzpartner aus seinem Mißverständnis ziehen —,
spricht er tatsächlich in erster Linie mit sich selbst: »Sic itaque me audi tamquam me-
cum loquar; in secretum te meum admitto et te adhibito mecum exigo.«117 Lucilius
wird dazu angewiesen, die Briefe seines Lehrers so zu lesen, als gewähre ihm dieser
Zutritt zum secretum seiner Seele und als werde er dort Zeuge einer Unterredung, die
der Briefschreiber mit sich selbst führt. Der Briefleser soll die distanzierte Position
des Zuhörers übernehmen, doch das bedeutet nicht, daß er sich mit der Rolle des
passiven Konsumenten bescheiden darf. Vielmehr hat er den unmittelbaren Bezug
der Rede auf seine Person, den ihm der Brieftext vorenthält, von sich aus herzustel-
len. Die Rede richtet sich zwar nicht direkt an ihn, aber er wird dazu aufgerufen, sie
auf sich selbst zu applizieren. Was der Briefschreiber im Selbstgespräch äußert, das
soll der Leser in einem Akt der Reflexion auf seine Person übertragen. »Haec mecum
loquor,« mit diesen Worten beschließt Seneca eine Meditation auf den Tod, »sed
tecum quoque me locutum puta.« 118 Lucilius soll sich denken, daß das, was Seneca
in meditativer Einkehr artikuliert, auch zu ihm gesprochen sei. Der Akzent liegt auf
dem Wörtchen »puta«: Lucilius wird dazu aufgefordert, eigenständige Denkarbeit

115
Ebd. 40.11. (»W;> sind, auch wenn wir schreiben, die Satzglieder abzusetzen gewöhnt. [...]
Die römische Redeweise überprüft sich genauer, sie erwägt und gibt zu erwägen.«).
116
Ebd. 27.1.
117
Ebd. (»So also höre mich an, als ob ich mit mir spräche: in meine Abgeschiedenheit lasse ich
dich ein, und in deiner Gegenwart gehe ich streng mit mir zu Rate.«).
118
Ebd. 26.7.
298 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

zu leisten; er soll das Gesagte zu sich selbst sagen und somit das Selbstgespräch des
Briefschreibers in ein Selbstgespräch des Lesers transformieren.
Auf diese Arbeit des Denkens, Ubertragens und Anverwandelns hat es Seneca
abgesehen. Psychagogisch wirksam ist nicht die Rede, die der Lehrer unmittelbar
an die Adresse des Schülers richtet. Denn der adressatenbezogene Diskurs, der mit
Aneignungshilfen operiert, wird, wie Seneca im 33. Brief verdeutlicht, eben auf-
grund dieser Hilfestellung nicht richtig angeeignet; er wird lediglich memoriert und
leistet somit der mechanischen Reproduktion und der bloßen Zitation Vorschub.
Wirksam ist vielmehr die Rede, die der Schüler - dem Beispiel des Lehrers Folge
leistend — zum Ausgangspunkt eines inneren Dialogs macht. Daher ersetzt Seneca in
den Epistulae morales die direkte Apostrophe des Lesers, die in den Briefen der ersten
drei Bücher noch vorherrscht, sukzessive durch die Selbstanrede des Schreibers.
Anstatt die Uberzeugungen des Freundes zu prüfen und ihm ein Spiegelbild seines
derzeitigen Seelenzustands zu präsentieren, stellt Seneca sich in seinen Briefen selbst
dar, bespiegelt er sich selbst. Er offenbart Lucilius sein secretum - die verborgene Welt
seiner Gedanken und Gefühle,119 aber auch den privaten Bereich seiner Alltagsver-
richtungen, von denen er in den Epistulae mit fur antike Verhältnisse ungewohnter
Ausführlichkeit berichtet. Seneca prüft nicht den Freund, sondern offeriert sich
selbst als Muster und Maßstab, der es Lucilius erlaubt, sich mit seinem Lehrer zu
vergleichen und sich somit selbst zu prüfen. Wie Seneca den Adressaten seiner Briefe
als fiktiven Gesprächspartner und als reflexive Kontrollinstanz verinnerlicht, so soll
auch Lucilius seinen Lehrer verinnerlichen, um sich in allem, was er denkt oder tut,
an diesem inneren Zeugen zu messen. Der epistolarische Dialog zwischen Seneca
und Lucilius bildet den äußeren Rahmen für das Gespräch, welches das Individu-
um - angeregt durch die brieflichen Mitteilungen - mit sich selbst unterhält. Die
Mitteilungen des Freundes sind nicht mehr Bestandteile einer Wechselrede, sondern
Anregungen zum Selbstgespräch. Die Rolle des Freundes beschränkt sich letztlich
auf diejenige des Anstoßgebers.
Doch dieser Anstoß ist unverzichtbar. Denn der habitus der Tugend ist nach
stoischer Auffassung keine feste Disposition (dynamis), sondern eine Tätigkeit (ener-
geid) — eine innere Aktivität des Urteilens und Reflektierens, dem die Vorstellungen
unterworfen werden. Weil das Individuum permanent in dieser Tätigkeit begriffen
ist, läuft es - wie Plutarch anhand seines Maler-Gleichnisses demonstriert - Gefahr,
in einen routinierten Trott zu verfallen und in seiner Aufmerksamkeit zu erlahmen.
Daher kann auch das fertig ausgebildete Moralsubjekt nicht auf die Motivations-
hilfe verzichten, die ihm ein anderer von außen her zuteil werden läßt; daher sind
paränetische, aufmunternde Diskurselemente nicht allein für den Anfänger, sondern

115 »Par la missive,« so beschreibt Foucault die Vorgehensweise Senecas, »on s'ouvre au regard des
autres et on löge le correspondant ä la place du dieu interieur.« (L'ecriture de soi. S. 426.).
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 299

auch für den Fortgeschrittenen heilsam. 120 Der Anstoß von außen soll das Individu-
um aus seiner Befangenheit herausreißen, ohne es ganz von sich selbst abzulenken.
Der andere darf sich dem Moralsubjekt folglich nicht aufdrängen. Vielmehr muß er
seine Anwesenheit in reduzierter Form zur Geltung bringen - in Gestalt eines bloßen
Anstoßes eben, eines Impulses, der das Individuum in dem Maße von sich abzieht,
wie er es wieder auf sich zurückführt. Ein Mittel, um die Präsenz des anderen auf
einen bloßen Anstoß zu reduzieren, ist die Schrift. Tatsächlich markiert die Lektüre
fur Seneca die paradigmatische Form des heilsamen äußeren Anstoßes. Das Lesen gilt
ihm als ein unverzichtbares Element der ethischen Lebenskunst, da es ihn aus seiner
Selbstbefangenheit und Selbstzufriedenheit zu befreien vermag: »Sunt autem, ut existi-
mo, [lectiones] necessariae, [...] ne sim me uno contentus«. 121 Die Lektüre bezieht das
Subjekt auf anderes, ohne den Selbstbezug zu suspendieren. Sie erneuert die Distanz,
die das Individuum sich selbst gegenüber einnehmen soll, und löst es doch nicht ganz
von sich ab. Bei der Lektüre erholt sich der abgespannte Geist von den Mühen medi-
tativer Betrachtung, setzt diese Aktivität aber zugleich auch in gewisser Weise fort: »Alit
lectio ingenium et studio fatigatum, non sine studio tarnen, reficit.«122
Das Lesen kann diese erfrischende Wirkung aber nur dann entfalten, wenn es nicht
als dauerhafte Tätigkeit betrieben wird. Wer die Lektüre von Büchern zu seiner Haupt-
beschäftigung macht, läßt sich zu sehr durch äußere Anreize vereinnahmen und findet
nicht mehr zu sich selbst zurück. Ein heilsames Gegengewicht zum Lesen bildet daher
das Schreiben. Indem es schreibt, macht sich das Individuum das Gelesene zu eigen
und kehrt wieder in das secretum seiner Seele ein. Durch die Lektüre lockert es die allzu
starke Fixierung auf sein Selbst und verleiht seiner Tätigkeit neuen Schwung; durch das
Schreiben sammelt es sich aus der Zerstreuung und konzentriert sich wieder auf die
innere Aktivität der Reflexion: »Nec scribere tantum nec tantum legere debemus: altera
res contristabit vires et exhauriet (de stilo dico), altera solvet ac diluet. Invicem hoc et
illo commeandum est et alterum altero temperandum«. 123 Im Wechsel von Lesen und
Schreiben, von Selbstentäußerung und Selbsteinkehr verleiht das Individuum seinem
habitus die notwendige Spannkraft. Der habitus des stoischen Moralsubjekts bildet und
erhält sich im Umgang mit dem Medium Schrift.

120 In ep. 9 4 verteidigt Seneca den Nutzen der Paränese, entwickelt dabei aber ein neues Konzept
der präzeptiven Unterweisung. Die Paränese soll dem Individuum nicht einfach vorschrei-
ben, was es in einer bestimmten Situation zu tun hat, soll ihm also nicht die Denkarbeit der
Applikation abnehmen, sondern sie fungiert als Erinnerungshilfe: Sie soll ein Wissen, über
welches das Individuum bereits verfügt, auffrischen; sie dient als Anstoß zur Aktualisierung
des sittlichen Bewußtseins. Vgl. Ad Lucilium epistulae morales 94.24f.
121 Ebd. 84.1.
122 Ebd.
123 Ebd. 84.2. (»Wir dürfen weder nur schreiben noch nur lesen: das eine wird die Kräfte verzehren
und erschöpfen, die Schriftstellerei meine ich, das andere sie auflösen und verströmen lassen.
Im Wechsel muß man sich hierhin und dorthin begeben und das eine mit dem anderen im
rechten Verhältnis mischen.«).
300 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

6. Ein Selbstgespräch in schriftlicher Form:


Marc Aurels TA ΕΙΣ ΕΑΥΤΟΝ

Das Gespräch, das Seneca in den Epistulae morales inszeniert, ist in Wirklichkeit ein
Selbstgespräch. Wenn er dabei seinen Schüler anredet und ermahnt, so richtet sich
diese Äußerung eigentlich an ihn selbst. Der epistolare Diskurs ist somit nicht unmit-
telbar an Lucilius adressiert. Dieser wird vielmehr dazu aufgefordert, die Überlegun-
gen seines Lehrers in einem gesonderten Akt der Applikation auf seine eigene Person
zu übertragen (»ex alio in se transferre«).124 Die Briefe fungieren als Anregungen zu
einem Dialog, den Lucilius mit sich selbst und nicht bloß mit seinem Lehrer zu fuh-
ren hat. Dementsprechend liest Seneca die Antwortbriefe seines Freundes auch nicht
als Beiträge zu einer übergreifenden Diskussion, sondern als Charakterbilder und als
Denkanstöße, die ihn seinerseits zu meditativer Einkehr veranlassen. Der Austausch
brieflicher Mitteilungen dient der wechselseitigen Motivierung zum Selbstgespräch.
Doch die Anrede der eigenen Person ist noch immer an die Adressierung eines an-
deren gekoppelt. Um die Zwiesprache mit dem Selbst in Gang zu setzen, muß das
Individuum den Umweg über den anderen gehen, wenngleich dieser nur mehr in der
reduzierten Form des schriftlichen Anstoßes oder des fiktiven Konstrukts in Erschei-
nung tritt. Die dialektische Struktur wird bei Seneca zwar weitgehend verinnerlicht,
der äußere Gesprächsrahmen bleibt jedoch in rudimentärer Form erhalten.
Für die vollständige Internalisierung der dialektischen Struktur gibt es im Korpus
der heidnisch-antiken Literatur ein singuläres, darum aber nicht minder aussage-
kräftiges Textzeugnis: die Aufzeichnungen des römischen Kaisers Marcus Aurelius
Antoninus. Die Tendenz zur Emanzipation des Selbstgesprächs, die sich bei Epiktet
und Seneca abzeichnet, gelangt bei Marc Aurel vollends zum Durchbruch. Bezeich-
nenderweise steht auch er fest auf dem Boden der stoischen Philosophie. Mehr
noch: Er orientiert sich insbesondere an der psychagogisch ausgerichteten Spielart
stoischen Philosophierens, wie sie in den Schriften Epiktets und Senecas manifest
wird. Immer wieder rekurriert Marc Aurel in seinen Aufzeichnungen auf Gedanken
und Äußerungen dieser beiden Verfasser. Dem griechischen Sklaven-Philosophen er-
weist er zudem auch dadurch seine Reverenz, daß er die erste Bekanntschaft mit den
Diatriben als ein prägendes Element seiner eigenen Bildungsgeschichte schildert.125
Die Aufzeichnungen des römischen Kaisers stellen eine Auseinandersetzung mit den
Autoritäten Seneca und Epiktet dar, welche die Form einer schriftlich geführten
Zwiesprache des Lesers mit sich selbst annimmt.

124
Ebd. 95.67.
125
Marc Aurel berichtet im siebten Abschnitt des ersten Buches seiner Aufzeichnungen von seiner
Epiktet-Lektüre. Zur literarischen Beziehung zwischen Marc Aurel und Epiktet im allgemeinen
und zu den Anleihen im besonderen, die der Kaiser bei dem stoischen Philosophen gemacht
hat, vgl. P. Hadot: La citadelle interieure. S. 74—84. - Den Einfluß Senecas auf Marc Aurel
untersucht Hans Rudolf Neuenschwander: Mark Aurels Beziehungen zu Poseidonius und
Seneca. Bern und Stuttgart 1951, insbesondere S. 7—11.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 301

Die Aufzeichnungen Marc Aurels: Hypomnemata oder Selbstgespräch?

D i e Editio princeps der Aufzeichnungen - im Jahre 1 5 5 9 bei Andreas Gesner in Z ü -


rich erschienen - beruht auf einer heute verschollenen Handschrift, dem C o d e x Pala-
tinum, der mit der Uberschrift »Μάρκου Άντωνίνου αύτοκράτορος τ ω ν είς έ α υ τ ό ν
βιβλίον α« (»Das erste der von Kaiser Marcus A n t o n i n u s für sich selbst verfaßten
Bücher«) versehen war. 126 Es ist zwar zweifelhaft, ob diese Titelgebung a u f die Antike
zurückgeht oder eine spätere Hinzufugung darstellt. D i e einzige vollständig erhaltene
Handschrift der Aufzeichnungen, der C o d e x Vaticanus aus dem 14. Jahrhundert,
enthält keinerlei Hinweis a u f einen Werktitel. 1 2 7 Immerhin gibt es aber einen Beleg
aus dem frühen 10. Jahrhundert, der eine ähnliche Formulierung wie die im C o d e x
Palatinum gewählte enthält: D e r byzantinische B i s c h o f Arethas, der behauptet, eine
alte Handschrift der Aufzeichnungen zu besitzen, 128 bezieht sich auf die Ansichten
M a r c Aurels, die dieser »in den für ihn selbst verfaßten ethischen Schriften« (»έν
τοις είς έ α υ τ ό ν Ή θ ι κ ο ί ς « ) geäußert habe. 1 2 9 W ä h r e n d moderne Herausgeber der
Aufzeichnungen durch die Wahl von Titeln wie Selbstbetrachtungen, Pensees oder Me-
ditations bestimmte formale und inhaltliche Aspekte des Textes beleuchten und dabei
zugleich eine Verbindung zu möglichen neuzeitlichen Vergleichsobjekten herstellen
(Pascal, Descartes), 1 3 0 beschreibt die überlieferte Formel »τών εις ε α υ τ ό ν βιβλίον«
die Zweckbestimmung der Aufzeichnungen: M a r c Aurel hat den Text demnach für
sich selbst, zu seinem persönlichen Gebrauch geschrieben.
D i e Formel scheint somit einen Hinweis a u f die Textsorte zu bieten, der die
Aufzeichnungen zuzuordnen sind. Texte, die nicht für die Publikation, sondern für
»private« Verwendungszwecke b e s t i m m t sind, werden in der Antike als hypomnemata
bezeichnet. D i e etymologische Bedeutung des N o m e n s to hypomnema lautet: das
Denkmal, die Erinnerungshilfe. Hypomnemata sind also Notizbücher, die als G e -
dächtnisstütze fungieren. Sie enthalten Lesefrüchte und Zitate, Gedanken, die m a n
in Vorträgen oder im Gespräch gehört hat, Überlegungen, die man selbst angestellt

126 Zur Überlieferungsgeschichte der Aufzeichnungen Marc Aurels vgl. Willy Theiler: Textüber-
lieferung und Ausgaben Marc Aurels. In: Kaiser Marc Aurel: TA ΕΙΣ ΕΑΥΤΟΝ / Wege zu
sich selbst. Hg. und übertragen von Willy Theiler. Zürich 1951. S. 297-299; P. Hadot: La
citadelle interieure. S. 35—37.
127 P. Hadot: La citadelle interieure. S. 38.
128 Arethas: Brief an Demetrios, zit. nach P. Hadot: La citadelle interieure. S. 36.
129 Arethas: Scholia in Lucanium, zit. nach R. B. Rutherford: The Meditations of Marcus Aurelius.
Α Study. Oxford 1989. S. 9.
130 Vgl. im deutschsprachigen Bereich etwa Marc Aurel: Selbstbetrachtungen. Übertragen und mit
einer Einleitung versehen von W. Capelle. Stuttgart l2 1973; Marc Aurel: Selbstbetrachtungen.
Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Albert Wittstock. Stuttgart 1997. - Für
Frankreich vgl. Marc Aurele: Pensees. Edition et traduction par A.-I. Trannoy. Paris 1925
u.ö. - Im englischsprachigen Raum hat sich seit dem Erscheinen der populären Übersetzung
von Jeremy Collier (1701) für die Aufzeichnungen Marc Aurels der Titel Meditations einge-
bürgert. Diese Bezeichnung wird auch von Herausgebern verwendet, die wissenschaftlichen
Ansprüchen genügen wollen: The Meditations of the Emperor Μ. Antoninus. Edited with
translation and commentary by A. L. H. Farquharson. Oxford 1944.
302 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

hat, Entwürfe und Ideen für künftige Arbeiten, kurz: eine Sammlung von Gehörtem,
Gelesenem und selbst Erdachtem, das für künftigen Gebrauch - sei es im Kontext
literarischer Komposition, sei es im Rahmen der Arbeit ethischer Selbstdisziplinie-
rung — aufbewahrt und bereit gehalten werden soll.13'
Auf den ersten Blick hat es also den Anschein, als stellten die Aufzeichnungen
Marc Aurels ein typisches Beispiel für die hypomnematische Schreibweise dar.
Uber weite Strecken präsentiert der Text eine ungeordnete Abfolge von ethischen
Lebensregeln, Maximen und knappen philosophischen Reflexionen. Unter diesen
kommt der Erörterung von sogenannten dogmata ein besonderer Stellenwert zu. Als
Dogmen werden die Grundprinzipien der stoischen Philosophie bezeichnet, die ein
bestimmtes praktisches Verhalten begründen und rechtfertigen sollen.132 Marc Aurel
löst die Dogmen aus dem systematischen Zusammenhang der stoischen Doktrin her-
aus und hält sie in Gestalt isolierter Lehrsätze fest. Er scheint seinen Notizbüchern
also tatsächlich die Funktion eines Schatzhauses zuzuweisen, das wertvolle ethische
Wahrheiten zum Zwecke des Wiederlesens und der späteren praktischen Anwendung
- als ein »cadre pour des exercices«, als Übungs-, Meditations- und Kompositions-
vorlage mithin - versammelt und konserviert. 133
Bei näherer Betrachtung werden jedoch eine Reihe von Eigentümlichkeiten
sichtbar, die sich mit dieser herkömmlichen Intention hypomnematischen Schrei-
bens nicht ohne weiteres vereinbaren lassen. Es fällt zunächst auf, daß Marc Aurel
in exzessiver Weise von dem Darstellungsmittel der Wiederholung Gebrauch macht.
Die Zahl der Dogmen, die in seine Aufzeichnungen Eingang finden, ist sehr be-
grenzt. Doch diese wenigen Grundprinzipien werden immer wieder aufgegriffen,
neu formuliert und variiert.134 Ginge es dem Kaiser nur darum, ethisches Wissen
für künftigen Gebrauch bereit zu stellen und aufzuspeichern, so müßte man seine
Vorgehensweise als unökonomisch abqualifizieren. Ähnliches gilt für die sprach-
liche Form, die er seinen Notizen verleiht. Diese zeichnen sich vor allem durch
ihre Kürze aus. Die Kürze der einzelnen Reflexionen ist aber gerade nicht auf die
kompositorische Nachlässigkeit desjenigen zurückzuführen, der sich lediglich eine
Gedächtnishilfe anfertigt, der die bewahrenswerten logoi folglich nur vorläufig, skiz-
zenhaft und stichwortartig fixiert, um sie einer späteren rhetorischen Ausarbeitung
und Amplifikation in neuen Gebrauchskontexten vorzubehalten. Im Gegenteil, bei
Marc Aurel ist die Kürze der Äußerungen das Resultat eines bewußten Stilwillens,
eines deutlich erkennbaren Bemühens um Prägnanz, aphoristische Schärfe und über-

1,1
Zur Textsorte der hypomnemata vgl. M. Foucault: L'ecriture de soi. S. 418f.; ders.: O n the
Genealogy of Ethics. S. 243f.; P. Hadot: La citadelle interieure. S. 4 5 - 4 9 .
132
Zur Rolle der Dogmen im Rahmen der stoischen paideia vgl. Seneca: Ad Lucilium epistulae
morales 95. — Z u m Stellenwert der Dogmen in den Autzeichnungen Marc Aurels vgl. P. Hadot:
La citadelle interieure. S. 51—59.
133
M. Foucault: L'ecriture de soi. S. 419.
134
Zu Wiederholung und Variation als Darstellungsprinzipien der Aufzeichnungen vgl. R. B.
Rutherford: T h e Meditations of Marcus Aurelius. S. 126-137.
Verinnertichung der dialektischen Struktur 303

zeugende Eingängigkeit. Der Kaiser formuliert seine Reflexionen zumeist mit großer
rhetorischer Sorgfalt. 135 Es erscheint unangemessen, eine solche Sorgfalt an Notizen
zu wenden, die eine bloße Materialsammlung darstellen. Marc Aurel selbst gibt denn
auch mehr als einmal zu verstehen, daß er mit seinen Aufzeichnungen höhere Ziele
verfolgt als die Anhäufung von Material oder die Anfertigung von Gedächtnishilfen.
Ihm kommt es nicht darauf an, sich Stoff für künftige Reflexionsarbeit zu verschaf-
fen, seine Absicht besteht vielmehr darin, diese Arbeit jetzt, in dem Moment, da er
schreibt, endlich in Angriff zu nehmen:
Irre nicht mehr ab; denn weder wirst du deine Aufzeichnungen [υπομνηματώ] lesen [άναγι-
νώσκειν] noch die Taten der alten Römer und Griechen und die Exzerpte aus den Büchern
[έκ των συγγραμμάτων έκλογάς], die du dir fürs Alter beiseite gelegt hast. Beeil dich also bitte
und laß von leeren Hoffnungen ab und hilf dir selber [σαυτώ βοήθει], wenn dir an dir etwas
liegt, solange es möglich ist.' 3 6

Wer sich damit begnügt, hypomnemata niederzuschreiben, irrt insofern vom Weg
sittlicher Vervollkommnung ab, als er die Gegenwart zugunsten einer stets unge-
wissen, unverfügbaren Zukunft verspielt. Die Anfertigung von hypomnemata ist
für Marc Aurel gleichbedeutend mit dem Aufschub der wahren Aktivität ethischer
Selbstgestaltung. Der Text, der diese kritische Überlegung zum Ausdruck bringt, muß
also - will er sich nicht selbst widersprechen - mehr sein als eine hypomnematische
Notiz; er darf seinerseits nicht bloß für einen künftigen Gebrauch bestimmt sein.
Die Aktivität der Selbstformung darf nicht erst mit der Lektüre der Aufzeichnungen
einsetzen. Indem der Kaiser seine Überlegung formuliert und niederschreibt, sucht er
vielmehr disziplinierend und gestaltend auf sein Selbst einzuwirken. Der Schreiber
dieser Zeilen erstellt keine hypomnematische Ü b u n g s z w ^ f , sondern er vollzieht eint
geistige Übung. Er bereitet das ethische Wissen nicht für eine spätere Nutzung zu,
sondern er nutzt es, er wendet es aktualisierend auf seine eigene Person an. 137 Marc
Aurel befolgt somit die Anweisung, die Seneca seinem Schüler Lucilius erteilt: Der
Kaiser macht sich die Wahrheiten der stoischen Doktrin dadurch zu eigen, daß er
ihnen eine neue sprachliche Form gibt, daß er sie mit seinen eigenen Worten und
durch den selbständigen Gebrauch seines Vernunftvermögens neu hervorbringt.

135 R. B. Rutherford und R Hadot weisen mit Nachdruck auf die Sorgfalt der sprachlichen Ge-
staltung hin, die Marc Aurel seinen Aufzeichnungen angedeihen läßt. Vgl. R. B. Rutherford:
T h e Meditations o f Marcus Aurelius. S. 12f., S. 3 9 ^ ί 4 und passim; P. Hadot: La citadelle
interieure. S. 4 9 , S. 2 7 5 - 2 7 8 .
136 Kaiser Marc Aurel: TA ΕΙΣ ΕΑΥΤΟΝ / Wege zu sich selbst. Hg. und übertragen von Willy
Theiler. Zürich 1951. III.14. - In ähnlicher Weise äußert sich Marc Aurel ebd. II.3, II.4,
III.1, III.4.
137 Vgl. P. Hadot: Überlegungen zum Begriff der »Selbstkultur«. S. 223f.; vgl. auch ders.: La
citadelle interieure. S. 66: »Les Pensees ne sont pas faites pour etre relues. C e qui compte,
c'est de formuler ä nouveau, c'est l'acte d'ecrire, de se parier ä soi-meme, dans l'instant, dans
tel instant precis, oü Ton a besoin d'ecrire; c'est aussi l'acte de composer avec le plus grand
soin, de chercher la version qui, sur le moment, produira le plus grand effet, en attendant de
se faner presque instantanement, ä peine ecrite.«
304 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Dieses Bestreben Marc Aurels, die Wahrheiten der Philosophie im Schreibakt


selbst zur Wirkung zu bringen, bedingt eine weitere Eigentümlichkeit seiner
Aufzeichnungen, durch die sie sich von herkömmlichen hypomnemata abheben:
Der Kaiser verleiht seinem Text eine dialogische Struktur. Nicht nur in der soeben
zitierten Äußerung, sondern in der überwiegenden Mehrzahl seiner Notate richtet
der Kaiser seine Rede an ein Du, und dieses Du ist er selbst. Marc Aurel will den
ethischen Wahrheiten dadurch Einfluß auf seine eigene Psyche verschaffen, daß er
sie zum Gegenstand eines hortativen Selbstgesprächs macht. Das erklärt auch die
große Sorgfalt, die er der rhetorischen Ausgestaltung seiner Aufzeichnungen zukom-
men läßt. Der Kaiser unternimmt den Versuch, sich selbst zu einer philosophischen
Lebensweise zu überreden. Die im Codex Palatinum und durch Bischof Arethusa
überlieferte Formel »των είς έαυτόν βιβλίον« muß also in einem emphatischen
Sinne verstanden werden: Es handelt sich bei den Aufzeichnungen nicht bloß um
eine Schrift, die Marc Aurel fiir sich selbst, für seinen persönlichen Gebrauch anfer-
tigt, sondern um einen Text, den er an sich selbst adressiert.
Die Tatsache, daß Marc Aurel in TA ΕΙΣ EA YTON ein Zwiegespräch mit sich
selbst führt, gilt in der neueren kulturgeschichtlichen Forschung als das hervorste-
chende, historisch signifikante Charakteristikum der Aufzeichnungen. Georg Misch
etwa argumentiert, daß bei Epiktet und Seneca zwischen dem an ein Publikum
gerichteten Du der Diatribe und dem Du der Selbstansprache noch ein fließender
Ubergang bestehe, wohingegen in Marc Aurels Werk der Zusammenhang des Selbst-
gesprächs mit dem äußeren Adressatenbezug aufgehoben werde: Die Aufzeichnungen
gelten Misch als eines der frühesten Zeugnisse für eine >reine<, unmittelbare Form
der Selbstbetrachtung; er weist ihnen daher im Rahmen der (Vor-)Geschichte der
abendländischen Autobiographie eine Schlüsselposition zu.138 Auch R. B. Rutherford
hebt hervor: »the Meditations are not aimed at an outside audience.«139 Der in den
Aufzeichnungen betriebene rhetorische Aufwand sei ein Instrument der ethischen
Selbsttherapie, die Marc Aurel in Gestalt eines inneren Gesprächs zu verwirklichen
suche: »Marcus tends to be talking to and at himself. The object of this address is
moral enlightenment.« 140 Pierre Hadot schließt sich dieser Auffassung an, geht aber
insofern noch einen Schritt weiter, als er eine Verbindung zwischen der dialogischen
Struktur der Aufzeichnungen und der stoischen Konzeption der inneren Zustim-
mung konstruiert. Die Zustimmung, die das Urteilsvermögen des Individuums den
von ihm wahrgenommenen Gegenständen erteilt oder vorenthält, markiert demnach
eine Form der inneren Rede.141 Jede Seele führt folglich — ob sie sich dessen bewußt

138
Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. 1.2: Das Altertum. Zweite Hälfte. Frankfurt
a. M. 3 1950. S. 452, S. 457.
139
R. B. Rutherford: The Meditations of Marcus Aurelius. S. 10.
,40
Ebd. S. 13.
"" Nach stoischem Verständnis unterzieht die Vernunft des Individuums die Vorstellungsbilder,
die das Wahrnehmungsvermögen von den äußeren Gegenständen liefert, einer Bewertung und
Beurteilung. Die Vernunft kann den Vorstellungen zustimmen (sie als wahr und zutreffend
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 305

wird oder nicht — unablässig so etwas wie ein Gespräch mit sich selbst. Laut Hadot
versucht M a r c Aurel, seine innere Rede mittels der in den Aufzeichnungen doku-
mentierten Selbstansprache unter die Kontrolle seines Bewußtseins zu bringen, seine
Zustimmung zu disziplinieren und sie der Anleitung durch die Grundprinzipien der
stoischen Philosophie zu unterstellen. 142
Den von Misch, Rutherford und Hadot vorgetragenen Interpretationen liegt das
Bestreben zugrunde, den besonderen Status des Selbstgesprächs in den Aufzeich-
nungen M a r c Aurels herauszuarbeiten und dieses zugleich auf bereits bestehende
Darstellungsmuster zurückzuführen. Einerseits wird hervorgehoben, daß TA ΕΙΣ
EA YTON eines der g a n z w e n i g e n antiken Textzeugnisse darstellt, in d e n e n die
Selbstansprache sich von der Ansprache eines anderen loslöst. Andererseits wird der
Versuch unternommen, diese Form der Selbstansprache in ältere Traditionszusam-
menhänge einzubinden, ihre Besonderheit also wieder zu relativieren. Rutherford
glaubt, eine Tradition der »self-analysis in soliloquy« identifizieren zu können, die
bis auf Piaton zurückgeht. 1 4 3 Auch Hadot lokalisiert die Ursprünge der meditativen
Selbstansprache in der platonischen Philosophie. 144 Misch steht diesen Bemühungen
in nichts nach: Er verweist darauf, daß schon »Plato das Denken geradezu als ein Ge-
spräch der Seele mit sich selbst definiert« habe. 145 Tatsächlich setzt Piaton im Theaitetos
das Denken mit einer Rede gleich, »welche die Seele bei sich selbst durchgeht über
dasjenige, was sie erforschen will.« Die denkende Seele, so Piaton, tut nichts anderes
»als sich unterreden, indem sie sich selbst antwortet, bejaht und verneint«; das Denken
ist mithin »eine gesprochene Rede, nicht zu einem andern und mit der Stimme, son-
dern stillschweigend zu sich selbst.« 146 Das stoische Konzept der inneren Rede, die laut
Hadot in den Aufzeichnungen Marc Aurels auf paradigmatische Weise sichtbar wird,
scheint sich also am platonischen Modell der denkenden Seele zu orientieren.
Doch dieser Schein trügt. Denn das Selbstgespräch besitzt bei Piaton einen ganz
anderen Status als in den Reflexionen M a r c Aurels oder in den psychagogischen
Schriften Senecas und Epiktets. Im Unterschied zur inneren Rede der Stoiker ist
das Selbstgespräch der platonischen Seele mit einem M a k e l behaftet. Die denkende

beurteilen) oder aber die Z u s t i m m u n g verweigern (Urteilsenthaltung). Aus den Fehlurteilen


der Vernunft (voreilige Z u s t i m m u n g ) gehen die Affekte u n d die Krankheiten der Seele
hervor. Die stoische Philosophie bestimmt die Z u s t i m m u n g als eine Form der Rede. Vgl.
Diogenes Laertius: Leben und M e i n u n g e n berühmter Philosophen. Bd. 2. S. 31 (VII.49):
»[D]er Vorstellung k o m m t der Vorrang zu, dann folgt der Verstand, der als ein Vermögen der
Aussprache dasjenige, wozu er durch die Vorstellung angeregt wird, durch das W o r t kundgibt.«
- Zur stoischen Konzeption der Z u s t i m m u n g vgl. A. A. Long / D. N. Sedley: T h e Hellenistic
Philosophers. Bd. 1. S. 2 5 0 f „ S. 256f.
142 P. Hadot: La citadelle interieure. S. 65f., S. 119f. und pass.
143 R. B. Rutherford: T h e Meditations of Marcus Aurelius. S. 14f.
144 P. Hadot: Exercices spirituels et philosophic antique. S. 3 2 - 3 4 .
145 G. Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. 1.2. S. 4 5 1 .
146 Piaton: Theaitetos 1 8 9 e - 1 9 0 a . - Vgl. auch ders.: Sophistes 263e: »Also Gedanken und Rede
sind dasselbe, nur d a ß das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, was ohne S t i m m e vor
sich geht, von uns ist Gedanke genannt worden.«
306 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Seele befragt sich und antwortet, übernimmt also die beiden Rollen, die im sokrati-
schen Gespräch auf zwei verschiedene Personen verteilt sind. Der sokradsche Dialog
führt den Befragten zu einem Wissen, das dieser zwar je schon besitzt, das sich
aber in einem Zustand der Latenz befindet. Das Gespräch kann nur funktionieren,
weil der Fragende einen Wissensvorsprung hat: Er kennt das latente Wissen seines
Dialogpartners.' 47 Der Seele, die sich selbst befragt, fehlt dieser Wissensvorsprung.
Ihre Fragen können sie daher nicht weiterführen. Die denkende Seele vermag den
äußeren Dialogpartner nicht adäquat zu ersetzen. Folglich hat die innere Rede bei
Piaton, wie Jacques Derrida treffend formuliert, den Status eines ν logos deficitaire«,
eines »dialogue ampute«.148 Bezeichnenderweise vergleicht Piaton die denkende Seele
mit einem Buch.149 Dieser Vergleich ist vor dem Hintergrund seiner Schriftkritik
zu betrachten. Wie die geschriebene Rede nur ein unzulängliches Substitut für das
gesprochene Wort darstellt, so ist der innere Diskurs des Denkenden als ein mangel-
haftes Surrogat des vollwertigen dialektischen Gesprächs anzusehen. 150 Um diesen
Mangel zu beheben, gibt es nur ein Mittel: Die stumme, innere Rede muß stimmhaft
werden und nach außen treten. Erst wenn die innere Rede an einen anderen adres-
siert wird, gerät das Denken in Bewegung. Aus platonischer Perspektive gilt es also,
die Selbstansprache in einen Dialog mit dem anderen zu überführen.
Die stoische Philosophie verfährt umgekehrt. Ihr Ziel besteht darin, das Indivi-
duum aus seiner Abhängigkeit vom anderen zu befreien und den äußeren Dialog
durch ein Selbstgespräch der Seele zu ersetzen. Die Schrift bezeichnet in diesem Zu-
sammenhang keine defizitäre, leblose Form der Rede, die das Denken lähmt und an
der vollen Entfaltung seiner Möglichkeiten hindert. Im Gegenteil, die Schrift ist ein
wertvolles Hilfsmittel, das es dem stoischen Moralsubjekt erlaubt, sich vom anderen
loszulösen, den inneren Diskurs ins Leben zu rufen und aufrecht zu erhalten. Marc
Aurel fordert sich in seinen Aufzeichnungen immer wieder dazu auf, den Rückzug aus
der Außenwelt anzutreten (anachorein) und in seine Seele einzukehren, um sich dort,
im inneren Gespräch, der philosophischen Grundwahrheiten zu vergewissern: »Denn
in keinen ruhigeren und sorgenfreieren Ort zieht sich der Mensch zurück [αναχωρεί]
als in seine Seele, besonders wenn einer im Inneren derartige Leitsätze besitzt, über
die er sich nur zu bücken braucht [έγκύψας], um gleich im vollen Wohlbefinden
zu sein.«151 Marc Aurel assoziiert die Gefahr der Ablenkung, die von der Außenwelt
ausgeht, zwar auch mit der Lektüre von Büchern.152 Die Abkehr von der Außenwelt

147
Vgl. G. Vlastos: The Socratic Elenchus. S. 55f.
148
J. Derrida: La double seance. In: ders.: La dissemination. S. 199—317, hier: S. 210.
"" Piaton: Philebos 38e-39e.
150
Vgl. J. Derrida : La double seance. S. 210: »Notre äme ressemble alors ä un livre, certes (et le
livre n'est ainsi qu'une espece du genre >dialogue<), mais surtout parce que cette conversation
reduite ou murmuree reste un faux dialogue, un entretien mineur, equivalent ä une perte de
voix.«
151
Kaiser Marc Aurel: TA E l l ΕΑΥΤΟΝ IV.3.
152
Vgl. ebd. 11.3,111.14.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 307

markiert deshalb aber nicht eine generelle Abkehr von der Schrift. D e r Anachoret,
der sich seiner Seele zuwendet u n d sich über die darin enthaltenen W a h r h e i t e n
bückt, beugt sich zugleich über sein Schreibpult u n d über die geschriebene Rede, die
er gerade verfaßt. W i e Seneca sammelt sich auch M a r c Aurel dadurch aus der Zer-
streuung, daß er schreibt. U m mit sich selbst zu sprechen, greift er zum Schreibstift.
E r aktualisiert die D o g m e n , indem er sie zu Papier bringt. W e n n Misch, Rutherford
und Hadot die innere Rede Marc Aurels a u f die platonische Konzeption des D e n k e n s
zurückfuhren, so verfolgen sie die Absicht, den Selbstbetrachtungen des römischen
Kaiser-Philosophen die Qualität der Unmittelbarkeit zu vindizieren: D i e denkende
Seele spricht unmittelbar zu sich selbst. 1 5 3 D o c h gerade die Gegenüberstellung mit
Piaton läßt erkennen, daß auch M a r c Aurel keinen direkten Z u g a n g z u m Selbst
besitzt. W i r d dem platonischen Subjekt der Zugang zum Innenraum der Seele durch
den Gesprächspartner und seine mäeutischen Fragen vermittelt, so wird diese Ver-
mittlungsleistung im Falle Marc Aurels durch die Schrift übernommen. D i e Schrift:
ersetzt den anderen. Zugriff a u f sein inneres Selbst gewinnt M a r c Aurel nur über den
Umweg der schriftlichen Entäußerung. D i e Selbstansprache ist zugleich Selbstver-
schriftlichung. M i t Hilfe der Schrift erzeugt der Kaiser einen Abstand zur Außenwelt
und konstituiert somit allererst den Innenraum, in den er sich zurückzieht.

S e l b s t r e f o r m d u r c h S e l b s t v e r s c h r i f t l i c h u n g : D i e F u n k t i o n des
L e b e n s r ü c k b l i c k s in d e n A u f z e i c h n u n g e n M a r c Aurels

N e b e n der dominierenden Rolle des Selbstgesprächs weisen die Aufzeichnungen


M a r c Aurels eine weitere Besonderheit auf, die ihre Ausnahmestellung innerhalb
der antiken Literatur zu bestätigen scheint. Unter den zwölf Büchern, in die sich
das Werk gliedert, sticht das erste B u c h sowohl in inhaltlicher als auch in formaler
Hinsicht hervor. W ä h r e n d der Kaiser in den B ü c h e r n II bis X I I die D o g m e n der
stoischen Philosophie rekapituliert, u m sie in Gestalt von Selbstermahnungen oder
Denkübungen a u f seine eigene Person zu beziehen, während also der größte Teil des
Werks der aktualisierenden Anwendung philosophischen Wissens verpflichtet ist,
präsentiert B u c h I eine Art von Lebensrückblick. N i c h t der gegenwärtige Vollzug
philosophischer Reflexion, sondern die Vergangenheit - der Weg, der den Kaiser zur
Philosophie geführt hat - steht im Blickpunkt des ersten Buches.
Es enthält siebzehn Abschnitte unterschiedlicher Länge. D i e ersten sechzehn
davon sind jeweils einer Person gewidmet; im siebzehnten Abschnitt richtet M a r c
Aurel seine Aufmerksamkeit auf die Götter. D i e erwähnten Personen zeichnen sich
dadurch aus, daß sie einen Beitrag zur geistigen und moralischen Bildung des Kaisers

153 Signifikanterweise differenziert Hadot nicht zwischen dem Schreibakt und dem Akt der
phonischen Verbalisierung. O b Marc Aurel die Dogmen niederschreibt oder sie laut spricht,
macht seiner Ansicht nach keinen Unterschied aus: »Ce qui compte, c'est de formuler ä
nouveau, c'est l'acte d'ecrire, de se parier ä soi-meme«. (La citadelle intdricure. S. 66.).
308 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

geleistet haben. Der Verfasser setzt mit seinem Rückblick bei seinen leiblichen Ver-
wandten ein (Großvater, Vater, Mutter), wendet sich dann schwerpunktmäßig seinen
Lehrern und Erziehern zu, die alle — vom Zeichenlehrer bis hin zum philosophischen
Mentor - im einzelnen berücksichtigt werden, und bedenkt schließlich seinen Ad-
optivvater, den Kaiser Antoninus Pius, mit einer ausführlichen Würdigung. Jeder
Abschnitt beginnt mit der gleichen knappen Formel: »Παρά τοϋ πάππου«, »Παρά
της μητρός« (»Von meinem Großvater«, »Von meiner Mutter«) etc. Im Anschluß
daran zählt Marc Aurel die Eigenschaften, Tugenden, Lehren und Erkenntnisse
auf, die er der jeweiligen Person zu verdanken hat. Bezeichnenderweise schließt er
dabei alles dasjenige aus der Betrachtung aus, was sein Dasein als Staatsmann und
Feldherrn anbetrifft. Sein politischer und militärischer Werdegang findet keinerlei
Berücksichtigung. Vielmehr konzentriert er sich ganz auf die Elemente, die er als
konstitutiv für seinen moralischen Charakter ansieht.
Das erste Buch der Aufzeichnungen stellt somit das früheste erhaltene Beispiel
eines autobiographischen Textes dar, der nicht — wie etwa die Commenlarii oder Res
gestae eines Caesar, Sulla und Augustus - das öffentliche Wirken der Persönlichkeit
zum Gegenstand hat, sondern das innere Selbst der Seele zur Darstellung bringt. 154
Mehr noch: Marc Aurel scheint dieses Selbst unter dem Gesichtspunkt seines Wer-
dens zu betrachten. Aus der Bilanz der Güter, die ihm seine Verwandten und Lehrer
haben zuteil werden lassen, treten die Konturen eines sittlichen Bildungsprozesses
hervor. Für Georg Misch markiert Buch I daher einen »Knotenpunkt der Entwick-
lung« autobiographischen Schreibens. 155 Er deutet den Text als eine individuelle
»Bildungsgeschichte«, in der man den »der Autobiographie zugrunde liegenden
Prozeß der Erinnerung unmittelbar am Werk sehen« könne. 156 Laut Misch ist Buch I
mithin ein ferner Vorläufer des neuzeitlichen Typus der narrativen Selbstdarstellung,
sprich: der rückblickenden Erzählung der eigenen Lebensgeschichte.
Doch der Hinweis auf die moderne Konzeption der autobiographischen Erinne-
rung fuhrt ebenso in die Irre wie die Anspielung auf das neuhumanistische Bildungs-
konzept. Marc Aurel thematisiert zwar in Buch I seinen moralischen Bildungsgang,
aber er erzählt keine Geschichte. Er registriert die einzelnen Bildungselemente, ohne
sie in einen lebensgeschichtlichen Kontext einzubetten, ohne sie in Raum und Zeit
zu lokalisieren.157 Die Bildungserfahrungen werden in Form isolierter Elemente und
Faktoren festgehalten und einer spezifischen Person als Verursacher zugeschrieben.
Marc Aurel erzeugt keine narrative Synthese, er fertigt vielmehr eine Art Schuldbuch
an, eine moralische Erbschaftsaufstellung. 158

154 Vgl. G. Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. 1.2. S. 4 8 3 ; R. B. Rutherford: T h e Me-
ditations o f Marcus Aurelius. S. 50f.
155 G. Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. 1.2. S. 4 8 3 .
156 Ebd. S. 4 8 8 .
157 R. B. Rutherford: T h e Meditations of Marcus Aurelius. S. 92f.
158 R Hadot: La citadelle interieure. S. 2 9 9 .
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 309

Widersteht man der Versuchung, Buch I im Lichte neuzeitlicher Gattungskon-


ventionen zu betrachten, so gewinnt der Text ein höchst befremdliches Ansehen.
Fremd wirkt er aber nicht nur auf den modernen Leser, fremd wirkt er auch in
seinem eigenen geschichtlichen Kontext. »There is quite simply nothing else like
Book I o f the Meditations in the whole o f classical literature«, so lautet das Resümee
des Altphilologen R. Β. Rutherford. Auf ihn macht Buch I sogar im Rahmen der
Aufzeichnungen selbst den Eindruck eines Fremdkörpers — »its links with the rest o f
the work have never been very satisfactorily established.« 159 Hadot spitzt das Urteil
Rutherfords noch weiter zu: »Cet actuel livre I, qui a une tres forte unite, aussi bien
dans son style que dans sa structure generale, semble etranger au projet litteraire des
Pensees proprement dites (livres II—XII).« 160 Tatsächlich tut sich die philologische
und kulturgeschichtliche Forschung schwer damit zu erklären, wie Buch I mit
dem Rest der Aufzeichnungen zusammenhängt. Die Unterschiede hinsichtlich des
Darstellungsgegenstandes und der Darstellungsintention erscheinen einigen Inter-
preten derart gravierend, daß sie sich weigern, Buch I überhaupt als einen regulären
Bestandteil der Aufzeichnungen anzuerkennen. Sie sehen darin ein eigenständiges
Werk, das Marc Aurel kurz vor seinem Tod verfaßt habe und das entweder durch ihn
selbst oder durch einen späteren Herausgeber nachträglich den bereits abgeschlosse-
nen Meditationen vorangestellt worden sei.161 Dem ersten Buch könne allenfalls der
Status eines Proömiums zugebilligt werden, aber auch als solches wirke es innerhalb
des Werkganzen auf merkwürdige Weise dysfunktional, zumal der Wechsel vom
Lebensrückblick in Buch I zum Vollzug der Meditationstätigkeit in Buch II abrupt
und ohne ein erklärendes, hinführendes Wort erfolge. Einige Forscher ziehen aus
diesen Schwierigkeiten radikale Konsequenzen und versuchen gar nicht erst, eine
Beziehung zwischen Buch I und dem Rest der Aufzeichnungen herzustellen. Pierre
Hadot etwa behandelt Buch I als ein für sich bestehendes autobiographisches Werk,
das insofern auf die Confessiones des Augustinus vorausweist, als Marc Aurel darin
den Göttern und seinen Lehrern Dank erweist, zugleich aber auch seine eigenen

159 R. B. Rutherford: The Meditations of Marcus Aurelius. S. 48.


160 P. Hadot: La citadelle interieure. S. 280.
161 Vgl. W. Theiler: Anmerkungen zum Werk Marc Aurels. In: Marc Aurel: TA ΕΙΣ ΕΑΥΤΟΝ /
Wege zu sich selbst. S. 307; R. D. Anderson / P. J. Parsons / R. G. Μ. Nisbet: Elegiacs by Gallus
from Qasr Ibrim. In: Journal of Roman Studies 69 (1979). S. 125-155, hier: S. 150; P. Hadot:
La citadelle interieure. S. 279f. — Die Forscher stützen ihre Hypothese zum einen auf die Beo-
bachtung, daß Marc Aurel in den Äußerungen, die er in Buch I über Verwandte, Lehrer und
Freunde, insbesondere aber über seine Gemahlin Faustina tätigt, die Imperfektform benutzt, so
als wären sie bereits tot. Da Faustina im Jahre 176 verstorben ist, spreche dies für einen späten
Abfassungszeitpunkt. Zum anderen verweisen sie auf den Vermerk, mit dem der Kaiser das erste
Buch beschließt: »Tä έν Κουάδοις προς τώ Γρανούα a« (»Geschrieben im Land der Quaden,
Buch I«), Dieser Vermerk sei nicht als subscriptio zum heutigen Buch I, sondern als Überschrift
zum heutigen Buch II zu verstehen, das man folglich als die eigentliche, ursprüngliche Eröffnung
des Meditationswerks ansehen müsse. - Zur Kritik an dieser Hypothese und an den Argumenten,
die sie stützen sollen, vgl. R. B. Rutherford: The Meditations of Marcus Aurelius. S. 46.
310 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

Fehler und Unzulänglichkeiten eingesteht. Buch I - so lautet die problematische


Deutung Hadots — kann als des Kaisers Bekenntnisschrift aufgefaßt werden.162
Die Vermutung drängt sich auf, daß dem von Teilen der Forschung vorgetragenen
Wunsch, Buch I zu isolieren und als eigenständigen Text zu betrachten, ein modernisie-
render Werkbegriff zugrunde liegt, der den Aufzeichnungen Marc Aurels nicht gerecht
wird. Das neuzeitliche Konzept des organischen, in sich vollendeten Werkes läßt sich
nicht ohne weiteres auf antike Textzeugnisse anwenden. Abwegig ist dies insbesondere
dann, wenn der fragliche Text keine ästhetische Wirkung erzielen soll, sondern in
einem ethischen Funktionszusammenhang steht. Marc Aurel verfaßt seine Notizen ja
nicht für die literarisch interessierte Öffentlichkeit. Vielmehr schreibt er, um - durch
den Schreibakt selbst — therapeutisch auf seine eigene Person einzuwirken.163 Der Text
ist Instrument und kein Selbstzweck. Es ist verwunderlich, daß ausgerechnet Hadot,
der die ethische Zweckbestimmung der Aufzeichnungen so deutlich wie kein anderer
herausgearbeitet hat, das Konzept der organischen Werkform in Anschlag bringt, um
Buch I aus dem Funktionszusammenhang des meditativen Selbstgesprächs herauszu-
lösen. Anstatt, wie er es tut, den Bruch zwischen Buch I und Buch II bis XII als Indiz
für die Nicht-Zusammengehörigkeit der Teile zu deuten, ist es angezeigt, die Frage
nach der Funktion dieses Bruchs zu stellen: Kommt ihm im Rahmen der ethischen
Selbsttherapie eine bestimmte Aufgabe zu? Wirkt Marc Aurel vielleicht bewußt darauf
hin, einen Bruch zu vollziehen, um seine ethische Zielsetzung zu erreichen?
Diese Fragen lassen sich nur dann beantworten, wenn man auf Buch I dieselben
Analysekriterien anwendet wie auf Buch II bis X I I . Es gilt also nicht nur zu unter-
suchen, was in Buch I auf welche Weise dargestellt wird, sondern es muß ermittelt
werden, welche Wirkung der Kaiser mittels seiner Darstellung auf sich selber aus-
zuüben gedenkt. Leistet Buch I einen Beitrag zur Einrichtung des therapeutischen
Selbstgesprächs, das Marc Aurel in Buch II bis X I I führt? Ist das Schreiben von
Buch I in irgendeiner Form für das Moralsubjekt konstitutiv, das in den späteren
Büchern in Erscheinung tritt? Diese Fragen sollen der folgenden Analyse von Buch
I die Richtung weisen.
Marc Aurel verzeichnet in Buch I nicht wahllos Einflüsse verschiedenster Art,
von denen er glaubt, daß er durch sie in der Entwicklung seiner Persönlichkeit
befördert wurde. Ihn interessieren allein solche Faktoren, die zur Ausbildung seines
moralischen Charakters beigetragen und ihn mit der philosophischen Lebensform
vertraut gemacht haben. So erwähnt er zwar das erzieherische Wirken seines Zei-

162 P. Hadot: La citadelle intirieure. S. 2 9 5 .


163 Ähnliches gilt auch fur Seneca. Zwar fordert er Lucilius in den Epistulae morales dazu auf, keine
commentarii, sondern opera zu verfassen. Aber die Verfertigung des opus ist kein Selbstzweck,
sondern ein Instrument, mit dessen Hilfe das Individuum sich die von anderen formulierten
Wahrheiten ganz zu eigen macht und sein iudictum diszipliniert. Die Integrität des opus
befriedigt keine ästhetischen Bedürfnisse, vielmehr verweist sie auf die constantia seines
Verfassers.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 311

chenlehrers Diognetos, geht jedoch mit keinem Wort darauf ein, daß er von ihm
in die Kunst des Malens eingeführt wurde. Statt dessen hält er fest, daß Diognetos
ihn gelehrt habe, »das freie Wort zu ertragen«, daß er ihm den Glauben an Zauberer
und Wundertäter ausgetrieben u n d die erste Bekanntschaft mit der Philosophie
vermittelt habe. 1 6 4 Desgleichen gedenkt der Kaiser seines Rhetoriklehrers Fronto.
Von der rhetorischen Unterweisung ist dabei aber überhaupt keine Rede. A u f den
Einfluß Frontos fuhrt Marc Aurel vielmehr - auf durchaus zweideutige Weise — seine
Kenntnisse über und seinen Abscheu gegen »tyrannische Mißgunst, Hinterhältigkeit
und Heuchelei« zurück. 1 6 5
Der Kaiser verfährt bei seiner Zusammenstellung der maßgeblichen Bildungs-
faktoren also äußerst selektiv. Unter den Faktoren, die er einmal ausgewählt u n d
der schriftlichen Fixierung für würdig befunden hat, n i m m t er jedoch keine weitere
Gewichtung vor. Die diversen Bildungseinflüsse werden in distanzierter, nüchtern
registrierender Form als einander gleichwertige Elemente aufgelistet. M a r c Aurel
vermeidet es, einzelne Erfahrungen hervorzuheben und als besonders bedeutsam
für seine Entwicklung zu deklarieren. Folgt man seiner bilanzierenden Darstellung,
so hat es in seinem geistigen Werdegang keine herausragenden Schlüsselerlebnisse,
keine Zäsuren oder Wendepunkte gegeben. Das ist insofern bemerkenswert, als die
Forschung immer wieder den Versuch unternommen hat, derartige Schlüsselerleb-
nisse ausfindig zu machen. So berichtet der junge Marc Aurel in einem Brief, der
an seinen Lehrer Fronto adressiert ist, über die Lektüre der Schriften des stoischen
Philosophen Ariston, die ihn von seinen rhetorischen Studien abgehalten habe. Die
Forschung sieht in diesem Brief ein Zeugnis für die Abkehr des künftigen Kaisers
vom rhetorischen Erziehungsideal u n d für seine Konversion zur philosophischen
Lebensform. 1 6 6 Im ersten Buch der Aufzeichnungen wird die Ariston-Lektüre aller-
dings mit Schweigen übergangen; sie zählt offenbar nicht zu den Bildungseinflüssen,
die Marc Aurel für erwähnenswert hält. Statt dessen erinnert er in Buch I an seine
Lektüre der Diatriben Epiktets, mit denen ihn sein Lehrer Rusticus vertraut ge-
macht habe; ihm verdanke er zudem die Einsicht, der »Verbesserung u n d Pflege des
Charakters zu bedürfen«. 1 6 7 Auch hinter diesem Hinweis wittern einige Interpreten
ein Konversionserlebnis. R. B. Rutherford konzediert zwar, daß es sich dabei u m
»a tantalisingly brief reference« handelt. Gleichwohl veranlassen ihn M a r c Aurels
knappe Ausführungen über Rusticus zu dem Kommentar: »This clearly marks a key
point in his life, and once again autobiography is cast in a literary and philosophic
mould.« 1 6 8 Doch die Wahrnehmung eines biographischen Wendepunkts entspringt

164 Marc Aurel: TA ΕΙΣ ΕΑΥΤΟΝ 1.6.


165 Ebd. 1.11.
166 Vgl. R. B. Rutherford: The Meditations of Marcus Aurelius. S. 105f.; P. Hadot: La citadelle
Interieure. S. 2 4 - 2 7 .
167 Marc Aurel: TA ΕΙΣ ΕΑΥΤΟΝ 1.7.
168 R. Β. Rutherford: The Meditations of Marcus Aurelius. S. 104.
312 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

einzig und allein dem Wunschdenken des Interpreten, der dem nackten Verzeichnis
der Bildungseinflüsse eine möglichst prägnante Sinnstruktur zu unterlegen sucht.
Kennzeichnend für Buch I ist gerade die Absenz einer solchen Struktur. Marc Aurel
gießt die Daten seines Bildungsgangs eben nicht in die narrative Hohlform des
Konversionsschemas.169 Er erzählt keine Bekehrungsgeschichte; er erzählt — darauf
macht Rutherford selbst an anderer Stelle aufmerksam —170 überhaupt nicht, viel-
mehr verfertigt er eine summarische Aufstellung.
Die Pointe seines bilanzierenden Rückblicks besteht darin, daß die eigentliche
Konversion, die eigentliche Hinwendung zur Philosophie, als noch ausstehend
markiert wird. Sie ist kein Datum der Vergangenheit, sondern ein Desiderat, das es
furderhin zu verwirklichen gilt. Immer wieder ermahnt sich Marc Aurel in seinen
Aufzeichnungen dazu, die praktische Umsetzung der philosophischen Prinzipien
nicht länger aufzuschieben, das ethische Wissen nicht für späteren Gebrauch zu
horten, sondern es endlich anzuwenden, das seelische Leitvermögen der Vernunft
{hegemonikon) mithin nicht mehr brachliegen zu lassen, es vielmehr seiner eigent-
lichen Bestimmung zuzuführen. 171 Buch I ist nichts anderes als eine solche Ermah-
nung, eine ebenso großangelegte wie nachdrückliche Aufforderung zur Umkehr, die
der Verfasser an sich selbst richtet. Der Kaiser macht eine Bestandsaufnahme der
empfangenen Bildungsgüter, um zu ermitteln, wo er in seiner geistig-moralischen
Entwicklung steht und über welche Ressourcen er verfügt. Diese Selbstanalyse ist
kein Selbstzweck. Mit ihrer Hilfe fuhrt sich Marc Aurel vor Augen, daß seine Er-
zieher ihn mit allen Kenntnissen und Eigenschaften ausgestattet haben, deren es zu
einer philosophischen Lebensführung bedarf. Im letzten Abschnitt des ersten Buches
geht Marc Aurel noch einen Schritt weiter: Er interpretiert die Fürsorge seiner Lehrer
als Teil eines providentiellen Heilsplans. Demnach ist es den Göttern zu verdanken,
daß er zum richtigen Zeitpunkt dem Einfluß der richtigen Personen ausgesetzt war;
die Vorsehung (pronoia) hat ihn - vermittelt durch das Wirken seiner Erzieher, aber
auch durch direkte Intervention — mit dem erforderlichen Wissens- und Erfahrungs-
schatz versehen, »so daß, soweit es auf die Götter und die Einwirkungen von dort
drüben, die Unterstützungen und Eingebungen ankommt, nichts mich hindert,
nunmehr nach der Natur zu leben, daß ich aber aus eigener Schuld und weil ich
die Mahnungen und geradezu Belehrungen von selten der Götter nicht beachte,
noch davon entfernt bin.«172 Die göttliche Allnatur selbst hat mithin dafür gesorgt,
daß der Kaiser über alles verfügt, was er braucht, um ein naturgemäßes Dasein zu
verwirklichen.

169
Z u m antiken Vorstellungskomplex der philosophischen Konversion vgl. das Kapitel »Con-
version to Philosophy« in A. D. Nock: Conversion. T h e Old and the New in Religion from
Alexander the Great to Augustine of Hippo. Oxford 1933. S. 164-186; vgl. auch P. Hadot:
Exercices spirituels et philosophie antique. S. 175—182.
170
R. B. Rutherford: The Meditations of Marcus Aurelius. S. 92f.
171
Vgl. Marc Aurel: ΤΑ ΕΙΣ ΕΑΥΤΟΝ ΙΙ.4, III. 1, ΙΙΙ.4, IV. 13.
172
Ebd. 1.17.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 313

Marc Aurel zwingt sich diese Einsicht mittels seiner Bilanz auf. Angesichts der
Fülle von geistigen Gütern, die ihm von Seiten der Erzieher und der Götter zuteil
wurde, kann es fiir ihn keine Ausflucht mehr geben. Er hat, was er braucht; nun
ist er selbst dafür verantwortlich, etwas daraus zu machen — »hilf dir selber [σαυτφ
βοήθει], wenn dir an dir etwas liegt, solange es möglich ist.«173 Erzieher und Götter
haben das Ihrige geleistet; es liegt aber allein in seiner Hand, ob er aus den Gaben
auch praktischen Nutzen zieht. Marc Aurel vergegenwärtigt sich in Buch I die ihm
zugesprochenen Bildungsgüter, um sich selbst zur Umkehr zu nötigen. Er macht
sich bewußt, daß ihm nichts zu einer naturgemäßen Existenz fehlt — mit Ausnahme
des Willens, eine solche zu fuhren. Die Bilanz dient als Instrument, um auf seinen
Willen einzuwirken und eine Entscheidung zu provozieren.
Der Lebensrückblick in Buch I hat also eine protreptische Funktion. Mit seiner
Hilfe animiert sich Marc Aurel dazu, die noch unvollendete, ausstehende Konversion
zur Philosophie endgültig zu vollziehen. Die eigentliche lebensgeschichtliche Zäsur
wird durch kein äußeres Schlüsselereignis hervorgerufen - etwa durch die Begegnung
mit einer einflußreichen Persönlichkeit oder durch die Lektüre eines bedeutenden
Werks. Vielmehr kann sie allein durch den Kaiser vollbracht werden. Marc Aurel
erzählt in den Aufzeichnungen nicht von einem zurückliegenden Konversionserleb-
nis. Er nimmt die Konversion in seine eigene Regie, er setzt sie selbst in Szene. Der
Bruch, der zwischen Buch I und den davon gänzlich verschiedenen Büchern II bis
XII erkennbar ist, markiert diesen Akt der Umkehr und der Selbsteinkehr, den Über-
gang von der theoretischen Bildung zur ethischen Praxis. In Buch I führt sich Marc
Aurel die Notwendigkeit vor Augen, sein Wissen in Gebrauch zu nehmen; in Buch
II bis XII wendet er sein Wissen an, indem er es einem meditativen Selbstgespräch
zugrunde legt und somit der Disziplinierung seiner inneren Rede dienstbar macht.
Es ist also wenig sinnvoll, Buch I als ein eigenständiges Werk zu behandeln, das
in keiner näheren Beziehung zu den Büchern II bis XII steht. Im Gegenteil - trotz,
ja aufgrund seiner besonderen Form und seines außergewöhnlichen Inhalts scheint
Buch I im Rahmen der Aufzeichnungen eine notwendige Aufgabe zu erfüllen. In
ihm schafft Marc Aurel die Voraussetzungen für die meditative Selbsteinkehr, die
er in den Büchern II bis XII vollzieht. Mittels seiner Lebensbilanz erkämpft sich
der Kaiser eine Position, aus der heraus er in der Folge als Gestalter seines eigenen
Charakters agieren kann. Auch das erste Buch der Aufzeichnungen bezeugt somit die
fortschreitende Internalisierung der dialektischen Struktur, die für die stoische Ethik
der römischen Kaiserzeit insgesamt kennzeichnend ist. Bei Epiktet, Plutarch und
Seneca erfährt die innere Rede zwar eine erhebliche Aufwertung: Der äußere Dialog
zwischen Lehrer und Schüler fungiert nur noch als Anreiz zum Selbstgespräch. Aber
die Instanz des anderen (der Gesprächspartner) wird weiterhin — wenn auch in redu-
zierter Form - benötigt: als Anstoßgeber, der das Individuum aus seiner Befangenheit

173
Ebd. III. 14.
314 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

herausreißt und auf sich selbst zurückfuhrt, als belebendes Element, das der inneren
Aktivität des Subjekts durch heilsame Unterbrechungen einen neuen impetus zu
verleihen vermag. Marc Aurel unternimmt in Buch I den Versuch, diese Rolle des An-
stoßgebers selbst auszufüllen. Die Instanz des anderen wird somit ganz verinnerlicht;
das Individuum muß nun auch noch für den paränetischen impetus aufkommen, der
ihn zum Rückzug in das secretum seiner Seele antreibt. Wie der Maler im Gleichnis
Plutarchs unterbricht Marc Aurel die seelische Aktivität, die ihn absorbiert, tritt von
seinem Selbst zurück, versucht das Ganze seiner Existenz in den Blick zu bekommen
und seiner Willenskraft auf diese Weise den Impuls zu geben, dessen sie bedarf, um
die erstrebte Selbsteinkehr zu realisieren. Buch I stellt eine Art Weckruf dar, den
das Leitvermögen der Vernunft an sich selber richtet. Denn laut Marc Aurel ist »das
Leitvermögen [ήγεμονικόν] [...] das, was sich selbst aufweckt [έαυτό έγεΐρον] und
wandelt und sich zu dem macht, zu dem es sich auch machen will«.174
Der Kaiser bemüht sich in Buch I darum, sein Leitvermögen in diesem Sinne zu
ermächtigen. Auf den ersten Blick erscheint seine Vorgehensweise paradox: Seine Ver-
nunft soll sich ihrer Autonomie ausgerechnet dadurch versichern, daß er sich die Ver-
bindlichkeiten vor Augen fuhrt, die er gegenüber seinen Lehrern und der Vorsehung
eingegangen ist. Seine Bestandsaufnahme hält ja fest, was er von anderen erhalten hat,
scheint also eher aufzuzeigen, was diese aus ihm gemacht haben. Tatsächlich aber fuhrt
ihn die Bilanz zu der Einsicht, daß die empfangenen Güter noch gar nicht wirklich die
seinigen sind. Sie stellen ein totes Besitztum dar, solange er sich nicht dazu durchringt,
sie zu gebrauchen und sich dabei seines eigenen Leitvermögens zu bedienen. Mittels
seiner Bilanz macht sich der Kaiser klar, daß sein Bildungsgang in einer wesentlichen
Hinsicht unvollkommen ist: Es fehlt der entschiedene Wille zur Umkehr. Die Erkennt-
nis der Abhängigkeit von seinen Lehrern, die aus der Aufstellung in Buch I hervorgeht,
ist mit der Einsicht in die Autonomie seines Willens verknüpft und weist ihm somit
den Weg, der ihn aus heteronomer Verstrickung herauszuführen vermag. Letztlich
kann nur er selbst sich zu dem machen, was die anderen aus ihm machen wollten.
Die Bilanz der Bildungsgüter, die Marc Aurel in Buch I erstellt, ist die Voraus-
setzung dafür, daß er sie in einem Akt der Umkehr ganz in seinen Besitz überführen
und sich aus der Abhängigkeit von anderen befreien kann. Indem er anerkennt, was
er anderen schuldig ist, begleicht er diese Schuld, löst er sich mithin von der Ver-
gangenheit ab. Sein Bestreben, das Vergangene abzustreifen und sich einen festen
Standpunkt in der Gegenwart zu verschaffen, wird in Buch I vor allem dadurch
manifest, daß er seine Bildungserlebnisse kühl und distanziert verzeichnet, anstatt
sie mit narrativen Mitteln zu vergegenwärtigen. In der Forschungsliteratur wird
wiederholt darauf hingewiesen, daß Marc Aurel in seinem Lebensrückblick so über
seine Verwandten, Lehrer und Freunde spricht, als seien sie bereits verstorben. 175

174
Ebd.VI.8.
175
Vgl. W. Theiler: Anmerkungen zum Werk Marc Aurels. S. 307; P. Hadot: La citadelle Inte-
rieure. S. 280.
Verinnerlichung der dialektischen Struktur 315

Es wäre verfehlt, den Kaiser hierin beim Wort zu nehmen und seine Redeweise als
Beleg fur den späten Abfassungszeitpunkt des ersten Buches anzusehen. 176 Es handelt
sich vielmehr um ein rhetorisches Darstellungsmittel, mit dessen Hilfe der Verfasser
zu seinen Lehrern auf Distanz geht. Marc Aurel vermeidet es, Personen und Ereig-
nisse in seiner Erinnerung oder in der retrospektiven Darstellung Wiederaufleben
zu lassen. Im Gegenteil, er reduziert die Vergangenheit auf ein nacktes Gerüst von
Daten und Fakten.
Nur einmal droht die Distanz, die er mit Hilfe seiner autobiographischen Inven-
tur gegenüber seinen Erziehern herstellt, zu kollabieren: Im sechzehnten Abschnitt
bricht sich die Bewunderung für den Adoptivvater Antoninus Pius Bahn. Das nüch-
terne Verzeichnis von Bildungseinflüssen verwandelt sich unter der Hand in das an-
schauliche, lebendige Porträt einer musterhaften Persönlichkeit, so daß dieses Kapitel
schließlich drei- bis viermal so umfangreich ausfällt wie die anderen Abschnitte des
ersten Buches.177 Doch als wolle er diesen Lapsus sogleich wieder korrigieren, reißt
Marc Aurel im siebzehnten Abschnitt einen um so größeren Abstand auf - dadurch
nämlich, daß er sich die überzeitliche Perspektive der Götter zu eigen macht und
seinen Bildungsgang als Teil des von Vernunftgesetzen geregelten Naturgeschehens
betrachtet. Aus dieser Perspektive erscheint Antoninus Pius wie alle anderen Lehrer
des Kaisers als ein bloßes Instrument der Vorsehung, die ihren Schützling mit dem
Rüstzeug für ein naturgemäßes Leben auszustatten sucht.
Die Distanz, die sich Marc Aurel somit gegenüber seinen Erziehern und seiner
eigenen Vergangenheit verschafft, ermöglicht es ihm, seinerseits die Position des
Lehrers einzunehmen — des Lehrers, der sich selbst zu unterweisen und anzuleiten
versteht. In Buch I befreit er sich aus seiner Abhängigkeit von Lehrern und Erzie-
hern, aus seiner Hörigkeit gegenüber dem Leitvermögen anderer; in Buch II bis
XII schreitet er als autonomes Vernunftsubjekt voran, das sich — ganz wie Epiktet
dies in den Diatriben verlangt — darum bemüht, zugleich sein eigener Lehrer und
Schüler zu sein.178 Die Ermahnungen, die er dabei an sich selbst adressiert, spricht
er von jener überlegenen Warte des universalen logos aus, zu der er sich im ersten
Buch der Aufzeichnungen aufschwingt. In Buch I irschreibt er sich die Position des
anderen; in Buch II bis XII schreibt er als dieser andere. In beiden Fällen ist der Akt
der Selbstermächtigung und der Selbstdistanzierung an den Gebrauch des Mediums
Schrift gebunden. Denn die geschriebene Rede ist, wie der Philosoph Seneca nicht
anders als der Rhetor Quintilian dekretiert, diejenige Form der Rede, die sich selbst

176
Siehe oben, Kapitel VI, Anm. 161.
177
Vgl. G. Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. 1.1. S. 484; R. B. Rutherford: T h e Medita-
tions of Marcus Aurelius. S. 91f.
178
Soweit ich sehe, ist Rutherford der einzige unter den Interpreten Marc Aurels, der diesen
Zusammenhang zwischen Buch I und dem Rest der Aufzeichnungen zumindest erahnt:
»There is in general a clear connection between Book I and the rest of the work: Marcus in
Book II - XII performs for himself many of the tasks of instruction and criticism which his
tutors had performed for him in the past.« (The Meditations of Marcus Aurelius. S. 53.).
316 Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers

zu beobachten und zu kontrollieren vermag. Wer schreibt, gewinnt Abstand zu seiner


eigenen Rede, okkupiert zugleich den Standpunkt des Redenden und des kritischen
Hörers, ist also zugleich Selbst und anderer.
Folgt man den historischen Rekonstruktionsversuchen Michel Foucaults, so un-
terzieht das frühe Christentum die antike Selbsttechnologie einer radikalen Um-
gestaltung. Laut Foucault steht die frühchristliche Moral der antiken Ethik in drei
Punkten diametral entgegen. 1 Der erste Unterschied betrifft die ethische Substanz,
also den Teil des Selbst, auf den das Individuum mit Hilfe der asketischen Prakti-
ken verändernd und disziplinierend einzuwirken versucht. Nach Ansicht Foucaults
konzipiert die antike Ethik das Begehren als eine zwar zum Exzeß neigende, grund-
sätzlich aber durch die Vernunft beherrschbare Naturkraft. 2 Die christliche Moral
dagegen stellt die Beherrschbarkeit des Begehrens in Frage. Sie führt die exzessive
Kraft des Verlangens auf den adamitischen Sündenfall und die Erbsünde zurück.
Der Mensch wird für seinen Ungehorsam gegenüber Gott dadurch bestraft, daß sein
eigenes Begehren ihm den Gehorsam verweigert. Das Begehren entzieht sich seiner
rationalen Kontrolle; es wird zu einer gefährlichen Macht, die in den verborgenen
Tiefen der Seele wirksam ist. 3
Der zweite Unterschied betrifft den moralischen Code und die Art und Weise,
wie die Individuen damit umgehen: Weil die christliche Kultur im Begehren eine
bedrohliche Macht erkennt, bildet sie als Gegengewalt ein rigides Moralgesetz aus,
das sich auf entsprechend starke Autoritäts- und Strafinstanzen stützt. Das Indivi-
duum konstituiert sich folglich dadurch als Moralsubjekt, daß es sich dem Gesetz
unterwirft und den Autoritäten unbedingten Gehorsam leistet. 4 In der heidnischen
Antike ist der moralische C o d e laut Foucault dagegen nur schwach ausgeprägt.
Wichtig für das ethische Selbstverhältnis des Individuums ist nicht die Tatsache, daß
es die Normen befolgt, sondern die Art und Weise, wie es dies tut: Es soll klug und
geschickt von den normativen Vorgaben Gebrauch machen, um seinem Verhalten
eine sichtbare Form zu verleihen. 5
Die ethische Arbeit an sich selbst, die das antike Moralsubjekt zu leisten hat,
besteht daher - und damit wird der dritte grundlegende Unterschied benannt

' Zum folgenden vgl. M. Foucault: Le souci de soi. S. 272f.


2 M. Foucault: L'usage des plaisirs. S. 50. S. 59f.
3 Ebd. S. 155; ders.: Sexualite et solitude. In: ders.: Dits et ecrits. Bd. 4. S. 168-178, hier:
S. 174-176.
4 M. Foucault: L'usage des plaisirs. S. 105f.

5 Ebd. S. 64, S. 72f.


320 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

- in einer nach ästhetischen Gesichtspunkten erfolgenden Gestaltung der eigenen


E x i s t e n z , w o h i n g e g e n d e m christlichen M o r a l s u b j e k t die Pflicht obliegt, seine
Seele zu durchleuchten, u m dem heimlichen W i r k e n des sündhaften Begehrens
nachzuspüren. 6 Das christliche Moralsubjekt wird dazu genötigt, eine permanente
Arbeit der Selbstentzifferung zu leisten; es soll in seinem Herzen lesen, damit es
der göttlichen oder teuflischen H e r k u n f t seiner G e d a n k e n und Gefühle a u f den
G r u n d gehen kann. 7 Das Christentum ersetzt somit die antike Ästhetik der Existenz
durch eine Hermeneutik des Selbst. 8 Es unterwirft die Individuen einem Regime
der Wahrheit - nicht der metaphysischen Wahrheit einer ideellen Seinsordnung,
sondern der psychologischen Wahrheit seiner selbst. D i e Beichte, das Bekenntnis
u n d das Geständnis - das sind die Instrumente, derer sich die christliche Moral
bedient, um dieser Wahrheit zur Herrschaft über die Individuen zu verhelfen. 9 Laut
Foucault etabliert sie einen »lien [...] fondamental entre la sexualite, la subjectivite
et l'obligation de verite«. 10
D e n Kern der christlichen Selbsthermeneutik bildet also eine spezifische K o n -
zeption des Begehrens. Foucault e n t n i m m t diese Konzeption der augustinischen
Theologie. D i e den Willen seiner Freiheit beraubende Aufsässigkeit der Begierden,
die in uns allen die Revolte des ersten M e n s c h e n gegen G o t t reproduziert, ver-
weist a u f die Konzeption der poena reciproca, die Augustinus i m 14. Buch seiner
Civitas Dei entwickelt." Augustinus verschafft der christlichen Selbsthermeneutik
eine theoretische und anthropologische Basis. Es liegt daher nahe, den Verfasser der
Confessiones auch als Kronzeugen für die Praxis der Selbstentzifferung anzuführen.
D o c h Foucault zeigt auffälligerweise kaum Interesse an der Bekenntnisschrift des
Kirchenvaters. Statt dessen richtet er sein Augenmerk a u f einen ganz anderen Be-
reich der frühchristlichen Kultur. Nicht das Bekenntniswerk Augustins, sondern die
monastische Lebensform gilt ihm als beispielhaft für die neue selbsthermeneutische
Praxis. Besondere Beachtung schenkt er einem bedeutenden Zeitgenossen Augustins,
d e m Theologen Johannes Cassianus. Cassianus leistete einen entscheidenden Beitrag
dazu, daß das orientalische M ö n c h t u m , das er in Ägypten studiert hatte, auch im
Westen des römischen Reiches F u ß zu fassen vermochte. 1 2 Foucault liest Cassians
Instituta coenobitorum (vor 4 2 6 ) und seine Collationespatrum (vor 4 2 9 ) als Grundle-
gung der monastischen Lebensform und zugleich auch der christlichen Selbstherme-

6 M. Foucault: Le souci de soi. S. 274.


7 M. Foucault: L'usage des plaisirs. S. 102f.
8 M. Foucault: Sexualite et solitude. S. 176; ders.: Technologies of the Self. S. 46f.
5 Μ. Foucault: Du gouvernement des vivants. In: ders.: Dits et ecrits. Bd. 4. S. 125-129.
10 M. Foucault: Sexualiti et solitude. S. 172.
" Foucault nimmt in seiner Abhandlung »Sexualite et solitude« von 1981 explizit auf die in
De civitate Dei entwickelte Konzeption des Begehrens Bezug. Vgl. ebd. S. 174-176. Doch
auch dort, wo Foucault den Namen Augustinus nicht nennt, ist es unübersehbar, daß er
die christliche Erfahrung des Fleisches vor dem Hintergrund der spezifisch augustinischen
Theologie des Sündenfalls deutet.
12 Zu Cassianus vgl. Jean-Claude Guy: Jean Cassien. Vie et doctrine spirituelle. Paris 1961.
321

neutik. 1 3 D i e mönchische Existenz, wie sie Cassianus konzipiert, verwirklicht seiner


Auffassung nach in idealer Weise das Zusammenspiel der verschiedenen E l e m e n t e ,
die für die christliche Moral charakteristisch sind. D e m M ö n c h s t h e o l o g e n gelingt es
demnach, den Gehorsam, die Praxis der Selbstprüfung und das Ritual des Geständ-
nisses dergestalt miteinander zu verknüpfen, daß daraus eine neue, effektive F o r m
der Machtausübung entsteht:

L'obiissance inconditionnee, l'examen ininterrompu et l'aveu exhaustif forment done un


ensemble dont chaque il^ment implique les deux autres; la manifestation verbale de la v^rit^
qui se cache au fond de soi-meme apparait comme une piece indispensable au gouvernement
des hommes les uns par les autres, tel qu'il a έίέ mis en ceuvre dans les institutions monasti-
ques [...] ä partir du I V siecle. Mais il faut souligner que cette manifestation n'a pas pour fin
d'itablir la maitrise souveraine de soi sur soi; ce qu'on attend, au contraire, e'est l'humilite et
la mortification, le detachement ä l'egard de soi et la constitution d'un rapport ä soi qui tend
ä la destruction de la forme du soi.14

D i e im monastischen Kontext zur Anwendung gelangenden asketischen Praktiken


haben laut Foucault nicht m e h r den Zweck, das Individuum zur Herrschaft über
sich selbst zu verhelfen. Sie zielen vielmehr darauf ab, es der pastoralen Autorität zu
unterwerfen. Sie sind Instrumente einer neuen Form von M a c h t , der Pastoralmacht,
welche die Individuen beherrscht, indem sie sie an die Wahrheit ihrer selbst fesselt.
Foucault sieht in dieser Machttechnologie einen Vorläufer jener alle Lebensbereiche
infiltrierenden Disziplinarmacht, die der neuzeitliche Staat schließlich in eine poli-
tische Form gießt. 1 3
F o u c a u l t b e v o r z u g t C a s s i a n u s g e g e n ü b e r A u g u s t i n u s , weil das W e r k des
M ö n c h s t h e o l o g e n ihm besser dazu geeignet erscheint, die Selbsthermeneutik als
eine pastorale M a c h t t e c h n i k zu beschreiben. Es ist freilich nicht unproblematisch,
die monastische Lebensform zum Idealtypus der christlichen Selbsthermeneutik zu
deklarieren. D e n n gerade das frühe M ö n c h t u m unterhält n o c h enge Beziehungen
zur antiken Selbsttechnologie. Jean Leclercq und Pierre H a d o t etwa weisen darauf
hin, daß das antike Konzept der philosophischen Selbstsorge mitsamt der daran
gekoppelten Askesevorschriften im frühen C h r i s t e n t u m nirgendwo so stark rezi-
piert wurde wie in den M ö n c h s g e m e i n s c h a f t e n . 1 6 Laut H a d o t kann die von den
M ö n c h e n praktizierte Technik der introspektiven Prüfung gar direkt auf die stoische

13 Foucault beschäftigt sich in den folgenden Abhandlungen näher mit der Mönchstheologie
Cassians: Du gouvernement des vivants. In: ders.: Dits et ecrits. Bd. 4. S. 125-129; >Omnes et
singulatimc Vers une critique dela raison politique, ebd. S. 134—161; Sexualitö et solitude, ebd.
S. 168-178; Le combat de la chastete, ebd. S. 295-308. Alle diese Arbeiten sind Vorstudien
zu dem unvollendet gebliebenen vierten Band der Histoire de la sexualitt, den Foucault unter
dem Titel Les aveux de la chair zu publizieren beabsichtigte. In Les aveux de la chair sollte die
Analyse der monastischen Lebensform eine zentrale Position einnehmen.
14 M. Foucault: Du gouvernement des vivants. S. 129.

" M. Foucault: The Subject and Power. S. 214.


16 Jean Leclercq: Pour l'histoire de l'expression >philosophie chretienne<. In: Melanges de Science

Religieuse 9 (1952). S. 221—226; P. Hadot: Exercices spirituels et philosophie antique. S. 62f.


322 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Haltung der prosoche zurückgeführt werden: »Cette prosoche, cette attention ä soi-
m e m e , attitude fondamentale du philosophe, va devenir l'attitude fondamentale
du moine.« 1 7 D i e für die kaiserzeitliche Philosophie kennzeichnende Tendenz zur
Verinnerlichung der dialektischen Struktur findet in der frühchristlichen M ö n c h -
saskese ihre Fortsetzung. Die Selbstprüfung des M ö n c h s zielt zunächst nicht darauf
ab, ihn der pastoralen Autorität zu unterwerfen; sie dient auch nicht dem Zweck,
sein Selbst zu eliminieren. Vielmehr soll sie ihm die Kontrolle über seine Gedanken
u n d Gefühle verschaffen. D i e antike Leitvorstellung der Selbstherrschaft besitzt
auch, j a gerade im monastischen K o n t e x t vorerst noch ihre Gültigkeit. D e r von
Augustinus so heftig bekämpfte Pelagianismus, der unter dem Einfluß des Stoizismus
die Fähigkeit des Menschen postuliert, das Heil aus eigener Kraft zu erwerben, und
deshalb sowohl die Erbsünde als auch die Notwendigkeit der Gnade in Abrede stellt,
gewinnt seine Anhänger bezeichnenderweise vor allem in Mönchszirkeln, wo er sich
noch lange Zeit zu behaupten vermag. 1 8 Cassianus selbst gilt als der Begründer des
sogenannten Semipelagianismus, der im Jahre 5 2 9 auf der Synode von Orange als
Irrlehre verurteilt wurde. Er leugnet zwar nicht die Existenz der Erbsünde, aber er
erkennt dem Menschen einen freien Willen zu, mit dessen Hilfe er die moralische
Vervollkommnung seiner Seele bewerkstelligen k ö n n e . "
Das frühchristliche M ö n c h t u m erweist sich also nicht unbedingt als geeignet,
u m die innovative Praxis der Selbsthermeneutik zu exemplifizieren. I m Gegenteil:
I n d e m Foucault den monastischen Techniken der Introspektion und des Geständ-
nisses Modellcharakter zuschreibt, leistet er einem Mißverständnis der christlichen
Selbsthermeneutik Vorschub. Z u m einen verdunkelt er die engen Verbindungen, die
zwischen der philosophischen Selbstsorge und den frühchristlichen Praktiken der
Askese bestehen. Z u m anderen verstellt er den Blick a u f das spezifische, innovative
M o m e n t der Selbsthermeneutik, das eben nicht im Kontext der Mönchsaskese, son-
dern im Kontext der augustinischen Sündenfalltheologie und der darauf basierenden
Bekenntnispraxis zutage tritt.
I m folgenden soll daher der Versuch u n t e r n o m m e n werden, die christlichen
Praktiken der Selbsthermeneutik a m Beispiel der augustinischen Schriften zu re-
konstruieren. 2 0 Augustinus ist aus zwei Gründen besonders gut dazu geeignet, die

17 Ebd. S. 64.
18 Zur Entstehung und Verbreitung des Pelagianismus vgl. Peter Brown: Religion and Society
in the Age of St. Augustine. London 1972. S. 183-226.
15 Cassianus entwickelt seine diesbezüglichen Vorstellungen im 13. Buch der Collationes, und
zwar im Kontext seiner Kritik an der Gnadenlehre Augustins. Vgl. Johannes Cassianus: Colla-
tiones XXIIII. Hg. von Michael Petschenig. Wien 2004 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum
Latinorum. Bd. 13). S. 361—396. — Zum Semipelagianismus vgl. Gerhard Ludwig Müller:
Semipelagianismus. In: Lexikon fur Theologie und Kirche. Begründet von Michael Buchberger,
hg. von Walter Kasper. Freiburg i. Br., Rom und Wien 3 2000. Bd. 8. Sp. 4 5 1 ^ 5 3 .
20 Die Schriften Augustins werden - sofern sie dort bereits erschienen sind - nach der kritischen
Werkausgabe zitiert, die einen Bestandteil des Corpus Christianorum, Series Latina (CCSL),
bildet. Im einzelnen sind zu nennen:
323

Herausbildung des neuen Typus der Subjektkonstitution zu veranschaulichen:

1. Augustinus schafft mit seiner Theologie des Sündenfalls, der Erbsünde und der parti-
kularen Providenz nicht nur den theoretischen Erklärungsrahmen für die christliche
Praxis der Selbsthermeneutik. Darüber hinaus verknüpft er sein Konzept der Sünde
mit zeichentheoretischen Erwägungen. Der Sündenfall, der dem Menschen die
Herrschaft über seinen Willen raubt, stellt ihn zugleich auch vor die Notwendigkeit,
zum Zwecke der Kommunikation auf sprachliche Zeichen zu rekurrieren. Der Sün-
denfall ist ein Fall in die Sprache und in die Mittelbarkeit der Zeichen. Termini wie
Selbstentzifferung oder Selbstlektüre, die Foucault unreflektiert als Metaphern für
den neuen hermeneutischen rapport a soi verwendet, besitzen somit bei Augustinus
eine konkrete semiotische Grundlage. Die zeichentheoretische Fundierung der an
das Sündenfall-Theologem gekoppelten negativen Anthropologie erlaubt es, eine
Beziehung zwischen der selbsthermeneutischen Praxis des Sünders und den spezifisch
christlichen Lektüreverfahren herzustellen.

2. Das Frühwerk Augustins, das dem Konzept der philosophischen Selbstsorge noch
in vielerlei Hinsicht verhaftet ist, bietet die Gelegenheit, den Ubergang von der
antiken Selbsttechnologie zur christlichen Selbsthermeneutik nachzuzeichnen. Es
läßt sich zeigen, daß Augustinus in seinen frühen Schriften die für die kaiserzeitliche
Philosophie charakteristische Tendenz zur Verinnerlichung der Dialektik aufgreift

- Confessionum libri XIII. In: Aurelii Augustini Opera. Bd. I. Hg. von Luc Verheijen. Turnhout
1981 ( C C S L . Bd. 27).
- Contra academicos libri tres. Hg. von W . M . Green. In: Aurelii Augustini Opera. Bd. II.2.
Turnhout 1970 ( C C S L . Bd. 29). S. 2 - 6 1 .
- De catechizandis rudibus. H g . von I. B. Bauer. In: Aurelii Augustini Opera. Bd. XIII.2.
Turnhout 1969 ( C C S L . Bd. 46). S. 1 1 7 - 1 6 8 .
- De civitate Dei. In: Aurelii Augustini Opera. Bd. XIV. 1 und 2. Hg. von B. Dombart und
A. Kalb. Turnhout 1955 ( C C S L . Bd. 4 7 und 48).
- De doctrina christiana. H g . von Joseph M a r t i n . In: Aurelii Augustini Opera. Bd. IV. 1.
Turnhout 1962 ( C C S L . Bd. 32). S. 1 - 1 6 7 .
- De magistro Über unus. H g . von Klaus-Detlef Daur. In: Aurelii Augustini Opera. Bd. II.2.
Turnhout 1970 ( C C S L . Bd. 29). S. 1 5 7 - 2 0 3 .
- De ordine libri duo. H g . von W. M . Green. In: Aurelii Augustini Opera. Bd. II.2. Turnhout
1970 ( C C S L . Bd. 29). S. 8 8 - 1 3 7 .
- De trinitate. In: Aurelii Augustini Opera. Bd. XVI. 1 und 2. H g . von W. J. M o u n t a i n und
F. Glorie. Turnhout 1968 ( C C S L . Bd. 50 und 50 A).
- De vera religione. H g . von K.-D. Daur. In: Aurelii Augustini Opera. Bd. IV. 1. Turnhout
1962 ( C C S L . Bd. 32). S. 1 8 7 - 2 5 2 .
- Retractationum libri II. H g . von Almut Mutzenbacher. In: Aurelii Augustini Opera. Bd.
XVII. Turnhout 1984 ( C C S L . Bd. 57). S. 1 - 2 1 5 .
Die Soliloquia und der Genesis-Kommentar De Genest ad litteram — beide noch nicht im Rahmen
des C C S L erschienen - werden nach den folgenden Ausgaben zitiert:
- Soliloquia. In: Aurelius Augustinus: Selbstgespräche. Uber die Unsterblichkeit der Seele.
Lateinisch und deutsch. Gestaltung des lateinischen Textes von Harald Fuchs, Einführung,
Übertragung, Erläuterungen und A n m e r k u n g e n von Hanspeter Müller. M ü n c h e n u n d
Zürich 1986 ( S a m m l u n g Tusculum). S. 7—152.
- De Genesi ad litteram libri duodeeim. Traduction, introduction et notes par P. Agaesse et Α.
Solignac. In: CEuvres de Saint Augustin. Vols. 48 et 4 9 . Bruges et Paris 1972 (Bibliotheque
Augustinienne).
324 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

und radikalisiert. Dabei verstrickt er sich jedoch in Widersprüche, die ihn schließlich
dazu veranlassen, einen Paradigmenwechsel zu vollziehen und die mit dialektischen
Mitteln zu erzielende Schau der göttlichen Wahrheit durch eine Praxis der Wahr-
heitsentzifferung zu ersetzen. Schon im Frühwerk Augustins zeichnet sich mithin
eine Abkehr vom Paradigma der Schau zum Paradigma der Lektüre ab.

Die folgende Analyse wendet sich also zunächst dem Frühwerk Augustins zu - ins-
besondere seiner Dialogschrift De ordine und dem Selbstgespräch der Soliloquia.
Im Anschluß daran gilt es, die hermeneutischen Prinzipien des Kirchenvaters zu
explizieren und auf ihre Relevanz für den neuen christlichen Typus der Subjekt-
konstitution hin zu untersuchen. In einem dritten Schritt soll schließlich geprüft
werden, wie der Verfasser der Confessiones die Lektüreverfahren in ein innovatives
autobiographisches Schreibverfahren überführt. Das von Augustinus konzipierte
hermeneutische Selbstverhältnis impliziert zwar die Ausbildung eines bestimmten
Alteritätsverhältnisses, doch diese Beziehung zum anderen darf nicht bloß, wie bei
Foucault, als unbedingter Gehorsam oder rückhaltlose Unterwerfung unter eine
pastorale Autorität beschrieben werden. Augustinus bemüht sich vielmehr darum,
die väterliche Autorität des Seelenführers mütterlich umzukodieren. Bei diesen
Bemühungen spielt eine besondere Art des Umgangs mit dem Medium Schrift eine
herausragende Rolle. Augustinus schafft in seinen Bekenntnissen die Voraussetzun-
gen für eine spezifisch literarische Form der Subjektkonstitution. Die augustinische
ecriture des Bekenntnisses, nicht die antike Ethik, bildet den Anknüpfungspunkt
fur die neuzeitliche Ästhetisierung des Selbstverhältnisses. Der von Foucault aufge-
stellte Gegensatz zwischen dem >sanften< Wahrheitsdiskurs der antiken Ethik und
der >harten< Doktrin der christlichen Moral läßt sich, wie zu zeigen sein wird, nicht
aufrechterhalten.
VII. Das Scheitern der Dialektik:
Augustins philosophisches Frühwerk

1. Die Unordnung des Gesprächs: Zufälle und Einfalle


in Augustins Dialogschrift De ordine

Ordo rerum und or do studiorum

Augustins philosophisches Frühwerk ist kurz nach seiner Bekehrung zum christlichen
Glauben entstanden, während seines Aufenthalts in Cassiciacum, einem kleinen Ort
in der Nähe des Comer Sees. Die Abfassung der Texte fällt in den kurzen Zeitraum
zwischen September 386 und März 387. Die Dialogschriften Contra Academicos, De
beata vita und De ordine sowie die Soliloquia sind der literarische Ertrag eines Expe-
riments. Denn Augustinus hatte sich in die ländliche Einsamkeit von Cassiciacum
zurückgezogen, um Philosophie nicht bloß zu studieren, sondern auch zu leben. Er
war der Kopf einer kleinen philosophischen Lebensgemeinschaft, die im Hause des
Verecundus, eines befreundeten Rhetorikprofessors, Unterschlupf gefunden hatte.1
Zu ihr zählten unter anderem Augustins Mutter Monnica, sein Sohn Adeodatus,
sein Freund Alypius sowie seine Schüler Licentius und Trygetius.
Die in Cassiciacum verfaßten Texte sind keine theoretischen Abhandlungen.
Vielmehr dokumentieren sie das Leben der philosophischen Kommune — die
gemeinsamen Gespräche, das Lektürepensum, das von den Teilnehmern absolviert
wurde, die Meditationen, die ein jeder für sich durchführte, aber auch die gewöhn-
lichen Verrichtungen des Alltags. Gleichwohl wäre es falsch, den Dialogen von
Cassiciacum den Charakter authentischer Zeugnisse zuzuschreiben. Die Texte sind
stark stilisiert; ihr Verfasser versucht bewußt, an bestehende literarische Traditionen
anzuknüpfen. So stellt er seiner Schrift De ordine in Anlehnung an das Muster des
ciceronianischen Dialogs eine längere Vorrede voran, die in das Gesprächsthema
einführt.2 Sie ist an seinen Freund Zenobius adressiert, einen angesehenen Mailän-
der Bürger, der der Philosophie, insbesondere aber dem neoplatonischen Denken

1 Zu den Umständen des Aufenthalts in Cassiciacum vgl. Peter Brown: Augustine of Hippo. A
Biography. Berkeley and Los Angeles 1967. S. 110,115-127. Zum Projekt der philosophischen
Lebensgemeinschaft und zu dem daran gekoppelten Bildungsprogramm vgl. Ragnar Holte:
Beatitude et sagesse. S. Augustin et le probleme de la fin de l'homme dans la philosophic
ancienne. Paris 1962. S. 7 3 - 1 9 0 .
2 De ordine 1.1.1-1.2.5.
326 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

zugetan war.3 Zenobius verfolgte das Projekt der philosophischen Lebens- und Stu-
diengemeinschaft:, das unter der Führung Augustins in Cassiciacum realisiert werden
sollte, mit wohlwollender Teilnahme. Da er zudem schon einmal mit Augustinus über
das Wesen der Ordnung diskutiert hatte, da er sogar als Verfasser eines Gedichts zu
diesem Thema hervorgetreten war,4 durfte die philosophische Kommune von Cassi-
ciacum die Erwartung hegen, daß er sich besonders für die Frage interessierte, die sie
zu einer Reihe von Gesprächen veranlaßt hatte: wie es nämlich dem einzelnen Men-
schen gelingen kann, Einsicht in die umfassende, alles durchwaltende Seinsordnung,
den »ord[o] rerum«, zu gewinnen. 5 Im Proömium zu De ordine skizziert Augustinus
dieses Problem und zieht zugleich ein knappes Fazit der Unterredungen, über deren
Verlauf er seinem abwesenden Freund in der Folge ausfuhrlich berichtet.
Augustinus leitet seinen Bericht mit einer Überlegung ein, die, wie er sagt, von
vielen Menschen angestellt wird: Große Bereiche des Lebens werden vom Zufall
beherrscht. Die ordnende Hand der göttlichen Vorsehung scheint bei weitem nicht
überallhin durchzudringen: Allzu auffällig ist die unter den Menschen herrschende
Ungerechtigkeit - das Unglück, das den Tugendhaften trifft, das Glück, das dem
Schurken unverdienterweise zuteil wird. Allzu deutlich treten auch in der Natur
Disharmonien und Unregelmäßigkeiten in Erscheinung - die trockene Hitze etwa,
unter der eine Region zu leiden hat, während man sich andernorts über Kälte und
Feuchtigkeit beklagt.6 Doch Augustinus beeilt sich, seinem Freund zu versichern,
daß dieser Eindruck einer dem Spiel des Zufalls preisgegebenen Welt ein Trugbild
darstellt. Er beruht auf einer fehlerhaften Wahrnehmung der Wirklichkeit. Tat-
sächlich, so Augustinus, gibt es in der Welt nichts, aber auch gar nichts, was sich
der Herrschaft der Ordnung entzieht. Der Eindruck des Sinnwidrigen, Häßlichen
oder Ungerechten entsteht nur dann, wenn man seine Wahrnehmung selektiv auf
bestimmte Ausschnitte des Weltgeschehens beschränkt. Nur das erscheint kontin-
gent, was isoliert als einzelnes Phänomen betrachtet und nicht als Teil eines größe-
ren Ganzen aufgefaßt wird. Wer in allem nur das Wirken eines blinden Zufalls zu
sehen glaubt, gleicht laut Augustinus dem Kurzsichtigen, der seinen Blick bei der
Betrachtung eines Mosaiks immer nur auf einzelne Steine richtet und somit nicht
gewahr wird, daß diese Elemente in ihrem Zusammenspiel eine geordnete Struktur
ergeben.7 Den ordo rerum kann das Individuum demnach nur dadurch erfassen, daß
es seine partielle Sichtweise aufgibt und sich zur Schau größerer Zusammenhänge,
idealiter zur Schau des ganzen Universums erhebt.

3
Zu Augustins Mailänder Freundeskreis und dessen neoplatonischen Affinitäten vgl. Peter
Brown: Augustine of Hippo. S. 90f.
4
Vgl. De ordine 1.7.20.
5
Ebd. 1.1.1.
6
Ebd. 1.1.1,11.5.l4f.
7
Ebd. 1.1.2. - In seinen späteren Schriften zieht Augustinus gerne das Paradigma der metrisch
gebundenen Rede heran, um die Problematik der Wahrnehmung von Ordnung zu veran-
schaulichen. Vgl. etwa De vera religione XXII.42; Confessiones III.7.13f.
Das Scheitern der Dialektik 327

Um einen solchen Standpunkt des Überblicks einnehmen zu können, muß der


Betrachter jedoch zwei Voraussetzungen erfüllen: Er bedarf der Einsamkeit und der
wissenschaftlichen Bildung, der solitudo und der eruditio.8 Die Forderung nach Ein-
samkeit besagt zunächst einmal, daß der Betrachter sich aus der lebenspraktischen
Verstrickung in das Weltgeschehen lösen und zu denjenigen Seinsbereichen in Distanz
treten soll, deren Ordnung er wahrzunehmen sucht. Solange er selbst die Position
eines Steinchens im Mosaik innehat, kann er die Struktur des Ganzen nicht erfassen;
er muß also Abstand gewinnen, er muß gleichsam aus dem Bild heraustreten, das er
betrachten will.9 Augustinus geht jedoch noch einen Schritt weiter und verleiht der von
ihm geforderten kontemplativen Einsamkeit einen dezidiert neoplatonischen Akzent.
Als Bedingung der Welt- und Gotteserkenntnis gilt ihm die Selbsterkenntnis; Selbst-
erkenntnis erfordert aber eine Wendung nach innen, eine geistige Sammlung: »Qui
tarnen ut se noscat, magna opus habet consuetudine recedendi a sensibus et animum
in se ipsum colligendi atque in se ipso retinendi.«10 Da die göttliche Ordnung sich
im Bereich der sinnlichen Gegebenheiten in zerstreuter Form darbietet, als zeitliches
Nacheinander und räumliches Nebeneinander vielfältiger Einzelerscheinungen,
wird das Individuum dazu ermahnt, sich von der Außenwelt abzukehren und seine
Konzentration auf die intelligiblen Gehalte zu richten, die nur in seinem Inneren
geschaut werden können. Es soll den Einheitsgrund der Dinge in seinem eigenen
Denken finden." Indem der Betrachter sich aus der Zerstreuung an die Fülle der
sinnlichen Formen sammelt, begreift er sich selbst als Vernunftwesen und wird mit
der synthetisierenden Kraft seiner Ratio bekannt gemacht — mit ihrer Fähigkeit, die
Vielfalt der Erscheinungen auf immer höhere Einheiten zurückzuführen.12
Die Forderung nach Einsamkeit und innerer Einkehr hängt folglich eng mit der
Forderung nach Bildung zusammen. Unter eruditio versteht Augustinus nicht eine
umfassende, enzyklopädische Gelehrsamkeit. Wer nach bloßem Vielwissen strebt,
erliegt seiner Auffassung nach nur wieder der Gefahr der Zerstreuung und verfällt
dem Verdikt der Neugier, die Wissen um des Wissens willen begehrt.13 Augustinus

8 De ordine 1.1.3.
9 Mit dieser Forderung bewegt sich Augustinus noch ganz im Rahmen der antiken Philosophie.
Er postuliert die Notwendigkeit einer radikalen >Umlenkung< der Seele - einer philosophi-
schen Konversion, die den Bruch des Individuums mit seinen bisherigen Lebensgewohnheiten
impliziert. Zum antiken Konzept der philosophischen conversio vgl. A. D. Nock: Conversion.
S. 175-182.
10 De ordine 1.1.3.
" Vgl. Kurt Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken. Stuttgart 2 1994. S. 70f.
12 De ordine 1.2.3,11.11.30.
13 Augustinus spricht die Gefahr der curiositas in De ordine explizit an. Vgl. ebd. II.5.17. — Zur
Verengung des enzyklopädischen Bildungskanons bei Augustinus vgl. Henri-Irenee Marrou:
Augustinus und das Ende der antiken Bildung. Aus dem Französischen übersetzt von Lore
Wirth-Poelchau. Paderborn, München, Wien, Zürich 1982. S. 202f. — Den neoplatoni-
schen Hintergrund dieses Bildungsprogramms (Abkoppelung der Selbsterkenntnis von der
Welterkenntnis) und die damit zusammenhängende Neubewertung der curiositas beleuchtet
H. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. S. 3 1 9 - 3 7 6 .
328 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

hingegen richtet sein Bildungsprogramm an dem Ziel aus, Einsicht in jene höchste,
übergreifende Ordnung zu erlangen, welche die verschiedenen Wissensgebiete zur
Einheit verbindet. Es geht ihm nicht um den Erwerb von einzelnen Kenntnissen,
sondern um die Schulung des Vernunftvermögens. Der Geist des Individuums soll
durch den Umgang mit intellektuellen Gegenständen zur Entfaltung gebracht und
gereinigt werden.14
Um Einsicht in den ordo rerum zu gewinnen, muß sich das Individuum mithin
einem ordo studiorum oder ordo disciplinae unterwerfen. Ein systematisch aufge-
bauter Studiengang, der den Lernenden von niederen zu höheren, von einfachen
zu komplexeren Formen des Wissens geleitet, soll seine Fertigkeit ausbilden, das
Vielfältige zur Einheit zu verknüpfen, und ihn schließlich dazu befähigen, den Ein-
heitsgrund selbst, das göttliche Eine zu schauen. Nur der wird zum göttlichen Quell
der Ordnung vordringen, der sich selbst an die Ordnung hält und einen Kursus von
sorgfältig aufeinander abgestimmten Studien durchläuft.15 Allein die Befolgung des
ordo studiorum kann die Erkenntnis des ordo rerum gewährleisten. Die beglückende
Schau der universalen Ordnung - so lautet die Einsicht, die Augustinus seinem
Freund als Resultat der Gespräche von Cassiciacum präsentiert - steht am Ende eines
langen, mühsamen Bildungsweges. Der Dialogverfasser beschließt seine Vorrede
daher mit der an Zenobius gerichteten Ermahnung, sich aus dem weltlichen Treiben
zurückzuziehen und nach eruditio zu streben.16
Augustinus weckt in der Vorrede zu De ordine den Eindruck, als stehe er fest auf
dem Boden der neoplatonischen Doktrin. Er scheint zudem einige Grundannahmen
der antiken Metaphysik bestätigen zu wollen. Die Seinsordnung, die er propagiert,
ist teleologisch strukturiert: Der Mensch ist dazu bestimmt, die universale Ordnung
zu erkennen; er erlangt diese Erkenntnis dadurch, daß er sich der Ordnung fugt und
die ihm darin vorbestimmte Stelle einnimmt. Die Beziehung des Menschen zum
ordo ist ontologisch abgesichert. Das Individuum schaut das Göttliche, indem es
das, was an ihm selbst göttlicher Natur ist, zur Entfaltung bringt. Es liegt folglich
in der Macht des einzelnen, Gott zu wissen und zu besitzen; es steht ihm frei, sich
dem Göttlichen durch Askese und Bildung ähnlich zu machenDas Individuum

14 Vgl. D e ordine 1.2.4 : »[A]ssequeris ergo ista, mihi crede, cum eruditioni operam dederis, qua
purgatur et excolitur animus nullo modo ante idoneus, cui divina semina committantur.«
(»Glaube mir also, du wirst dies alles begreifen, wenn du nach Bildung strebst. Durch sie wird
der Geist gereinigt und zur Entfaltung gebracht; vorher ist er zum Verstehen nicht geeignet, er,
dem göttlicher Same anvertraut ist.« [Die deutsche Ubersetzung der Zitate entnehme ich der
folgenden Ausgabe: Aurelius Augustinus: Philosophische Frühdialoge. Gegen die Akademiker.
Über das Glück. Uber die Ordnung. Hg. von Carl Andresen, eingeleitet und erläutert von
Bernd Reiner Voss, Ingeborg Schwarz-Kirchenbauer, Willi Schwarz und Ekkehard Mühlenberg.
Zürich und München 1972. S. 2 4 3 - 3 3 3 . ] ) .
15 Ebd. 1.9.27, II.7.24.
16 Ebd. 1.2.4.
17 Vgl. Plotin: Enneaden 1.6.9 (»Über das Schöne«). In: Plotins Schriften. Übersetzt von Richard
Harder. Bd. 1. Hamburg 1956. S. 2 4 £ : »Man muß nämlich das Sehende dem Gesehenen
verwandt und ähnlich machen, wenn man sich auf die Schau richtet; kein Auge könnte je
Das Scheitern der Dialektik 329

kann die beata vita, die in der intellektuellen Schau des Einen besteht,18 aufgrund
seiner eigenen moralischen und geistigen Anstrengungen realisieren. Augustinus
stellt sich ganz in die Tradition der antiken Philosophie, indem er das Glück des
Individuums als machbar deklariert - als das Produkt einer Selbsttechnologie, die
darauf abzielt, das Subjekt so weit wie möglich gegen die Einwirkungen des Zufalls
zu immunisieren.
In der Vorrede zu De ordine suggeriert Augustinus, daß diese Prinzipien antiker
Lebenskunst durch das in Cassiciacum geführte Gespräch konfirmiert worden seien.
Unterzieht man das Gespräch einer gründlichen Betrachtung, so ergibt sich jedoch
ein ganz anderes Bild. Die optimistische Gewißheit, die Augustinus im Proömion
zur Schau stellt, erweist sich als rhetorische Camouflage, hinter der sich eine tiefe
Verunsicherung verbirgt. Tatsächlich werden die antiken Strategien der Kontingenz-
bewältigung im Laufe des Gesprächs in Frage gestellt. Die neoplatonische Glücks-
verheißung geht keineswegs unangefochten als Siegerin aus der Auseinandersetzung
hervor, die Augustinus in seiner Dialogschrift aufzeichnet. In den Äußerungen seiner
Gesprächspartner — nicht nur in dem, was sie sagen, sondern auch in der Art und
Weise, wie sie es sagen - kündigt sich vielmehr eine neue Auffassung von Glück und
Zufall an, eine neue, dezidiert christliche Form der Beziehung zwischen dem ein-
zelnen Menschen und der göttlichen Ordnung und somit auch ein neuer Typus des
ethischen Selbstverhältnisses. Damit geraten zudem die psychagogischen Verfahrens-
weisen und die Darstellungsformen unter Druck, die bislang für die Konstitution
des Subjekts von Bedeutung waren: Dialektik und Dialog werden in De ordine als
Techniken der Subjektivierung in eine Krise geführt, während am Horizont bereits
die narratio, die rückblickende Erzählung, als innovatives Darstellungsmuster und
als potentielles Konstituens des Selbst in Erscheinung tritt. Die Krise der antiken
Darstellungsformen verweist zugleich auf den veränderten Stellenwert, der dem
Medium Schrift im Kontext der Subjektproblematik zukommt. Die vordergründige
Inszenierung, die Augustinus in seiner Vorrede darbietet, kann den Konflikt zwi-
schen antiken und christlichen Formen des Selbstverhältnisses, wie er im Gespräch
selbst zum Ausbruch gelangt, letztlich nicht überdecken.

die Sonne sehen, wäre es nicht sonnenhaft; so sieht auch keine Seele das Schöne, welche
nicht schön geworden ist. Es werde also einer zuerst ganz gottähnlich und ganz schön, wer
Gott und das Schöne schauen will.« - Vgl. auch die Ausführungen von Andrew Louth (The
Origins of the Christian Mystical Tradition. Oxford 1981) über die (neo-)platonischen
Wurzeln der christlichen Mystik: Die spezifisch neoplatonische Spielart der Mystik (Plotin,
Origenes, Evagrius) postuliert eine ontologische Verwandtschaft zwischen der menschlichen
Seele und Gott (»kinship with the divine«, S. xiv); indem die Seele Einsicht in die göttliche
Ordnung gewinnt, aktualisiert sie diese Verwandtschaft (»it [sc. knowledge] implies identity
with, participation in, that which is known«, S. 2); Selbsterkenntnis ist daher unmittelbar
mit Gotteserkenntnis verknüpft (S. 25).
18 Das Wesen des Glücks behandelt Augustinus in seiner Dialogschrift De beata vita, die un-
mittelbar vor De ordine entstanden ist.
330 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Gestörte O r d n u n g e n

Das Gespräch über die Ordnung wird bezeichnenderweise durch einen Zufall in
Gang gesetzt, der sich dem ordo rerum nicht zu fugen scheint. Augustinus berichtet,
wie seine Aufmerksamkeit eines Nachts, während er, seiner Gewohnheit entspre-
chend, wach liegt und die Ruhe zum Nachdenken nutzt, plötzlich durch ein Geräusch
in Anspruch genommen wird, das von der zum Badehaus führenden Wasserleitung
herrührt. Das Wasser macht sich durch sein Rauschen vernehmbar, das in unregelmä-
ßigen Abständen anschwillt und dann ebenso unvermittelt wieder abnimmt. 19 Diese
Unregelmäßigkeit zieht Augustinus in den Bann: Er denkt über die mögliche Ursache
der rätselhaften Erscheinung nach. Eine Unruhe erfaßt ihn; das irreguläre Geräusch
stört seinen Ordnungssinn. 20 Der nächtliche Vorfall ist somit weniger trivial, als es
zunächst erscheinen mag. Er fuhrt geradewegs auf die Frage, wie weit die göttliche
Ordnungsmacht reicht und ob sie auch die scheinbar banalen Vorgänge umfaßt.
Aus neoplatonischer Perspektive ist das Gefühl der Haltlosigkeit, von dem Augu-
stinus heimgesucht wird, freilich nicht schwer zu erklären. Es fällt nämlich auf, daß
der Wachende genau in dem Moment Probleme hat, den Ordnungszusammenhang
der Dinge wahrzunehmen, da er sich durch ein Phänomen der Außenwelt ablen-
ken und aus seiner kontemplativen Aktivität herausreißen läßt. Er findet für das
Geräusch keine Erklärung, weil er selbst sich nicht an die Ordnung hält und auf
sinnliche Einzelerscheinungen achtet, anstatt sich mit geistigen Gegenständen zu be-
schäftigen. Tatsächlich gibt Augustinus zu verstehen, daß er schon vor dem Eintreten
der Störung nicht ganz bei der Sache war: Im Bett liegend, dachte er über Fragen
nach, die ihm, er weiß nicht woher, in den Sinn kamen — »quae in mentem nescio
unde veniebant«. 21 Augustinus war offenbar unkonzentriert; sein Nachdenken verlief
in ungeordneten, erratischen Bahnen. Die Dispersion seiner Gedanken machte ihn
für äußere Störungen anfällig. Die mangelnde Ordnung seines Denkens schlug sich
in der Unfähigkeit nieder, das Geräusch als natürliche Erscheinung aufzufassen und
auf den ordo rerum zurückzuführen.
Das neoplatonische Erklärungsmuster wird an dieser Stelle zwar evoziert, es greift
jedoch ins Leere. Denn Augustinus wird seine Verwirrung gerade nicht dadurch
los, daß er den Vorfall zum Anlaß nimmt, über das grundsätzliche Problem der
Ordnung zu meditieren, daß er sich also von der sinnlichen Außenwelt ab- und der

" De ordine 1.3.6.


20 Als Paradigma für Ordnungsstrukturen, die im Nacheinander der Zeit erkennbar werden, gilt
Augustinus die metrisch gebundene, nach den Regeln der Kunst rhythmisierte Rede (siehe
oben, Kapitel VII, Anm. 7). Das diffuse, in unregelmäßigen Abständen an- und abschwellende
Rauschen steht in scharfem Kontrast zur Lautfolge des Verses, die einem festen Gliederungs-
schema unterliegt. Das Rauschen versinnbildlicht den Verlust von Ordnungsstrukturen — das
artikulierte Nacheinander der verständlichen Rede wird zum undifferenzierten, asemantischen
Klangstrom.
21 De ordine 1.3.6.
Das Scheitern der Dialektik 331

geistigen Innenwelt wieder zuwendet. Vielmehr k o m m t ihm ein weiterer äußerer


Zufall zu Hilfe. Er teilt das Schlafgemach mit seinen beiden Schülern Licentius und
Trygetius. 22 Ein Klopfen, durch das Licentius eine Schar lästiger M ä u s e zu vertrei-
ben sucht, signalisiert Augustinus, daß auch sein Hausgenosse noch wach ist. Er
zögert daher nicht, den jungen M a n n auf das merkwürdige Rauschen hinzuweisen
und ihn u m eine Erklärung zu bitten. Die Antwort, die ihm Licentius bereitwillig
erteilt, setzt Augustinus in Erstaunen. Nicht nur weiß der junge M a n n unverzüglich
einen möglichen G r u n d für das periodische An- und Abschwellen des Rauschens
anzugeben (das herbstliche Laub, so sinniert Licentius, hat die Wasserleitung ver-
stopft; die aufgestaute Wassermasse sorgt ab und an dafür, daß das Hindernis wieder
beseitigt wird, wobei dann das auffällige Geräusch entsteht). Darüber hinaus erkennt
Licentius in der Aufeinanderfolge der beiden Zufälle eine Disposition der Vorsehung
- sie soll die kleine Studiengemeinschaft zur Reflexion auf den ordnungsgemäßen
Zusammenhang der Dinge animieren. Vor allem aber wartet er mit einer These auf,
die das Wesen der O r d n u n g in einer apodiktischen Formulierung zu erfassen sucht:
Nichts, so erklärt er, auch nicht die trivialste Erscheinung, spielt sich außerhalb der
göttlichen O r d n u n g ab. 2 3
Augustinus reagiert auf diese Einlassungen seines Schülers mit gemischten Ge-
fühlen. Einerseits ist er froh darüber, daß sein Erklärungsnotstand behoben und
der beängstigende Z u s t a n d der Orientierungslosigkeit überwunden werden kann.
Noch mehr erfreut ihn die Tatsache, daß die Überlegungen seines Schülers von ei-
nem wahrhaft philosophischen Geist durchdrungen sind. D o c h der philosophische
Tiefsinn, der aus den Worten des Licentius spricht, erregt zugleich von neuem seine
Unruhe. Augustinus ist verstört, weil sein Schüler so plötzlich zu Erkenntnissen
gelangt ist, die durch keinerlei Unterricht vorbereitet wurden - »quod rem tantam
et tarn subito heri paene ad ista conversus adulescentis animus concepisset nulla
u m q u a m de his rebus inter nos antea quaestione agitata«. 24 Wie kann es sein, so fragt
sich Augustinus, daß ein junger M a n n , der kaum über wissenschaftliche Bildung
verfügt, derart mühelos Einblick in den ordo rerum gewinnt - ein junger M a n n ,
der tags zuvor noch keinerlei philosophische Ambitionen hegte und seine Zeit statt
dessen darauf verschwendete, ein Gedicht über die Liebe zwischen Pyramos u n d
Thisbe anzufertigen? 25 Licentius ist Augustinus zwar dabei behilflich, seinen Lapsus

22 Licentius ist der Sohn von Augustins Freund und Gönner Romanianus. Trygetius hat gerade
seinen Militärdienst absolviert und will eigentlich, wie auch Licentius, bei Augustinus Rhetorik
studieren. Letzterer bemüht sich aber darum, den beiden jungen Männern die rhetorische
Laufbahn abspenstig zu machen und sie für die Philosophie zu begeistern. Vgl. R Brown:
Augustine of Hippo. S. 118f.
23 De ordine 1.3.7,1.5.14,1.3.8.
24 Ebd. 1.3.8. (»weil der Geist dieses jungen Menschen eine so große Sache so plötzlich erfaßt
hatte, während er sich gestern solchen Dingen noch kaum zugewandt hatte und wir auch
früher dieses Problem nie mit einer Frage angerührt hatten.«).
25 Ebd.
332 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

zu bewältigen und wieder zum ordo zurückzufinden, aber eben diese Hilfe markiert
ihrerseits eine Störung der Ordnung. Eigentlich müßte der Lehrer den Schüler,
nicht aber der Schüler den Lehrer zur Erkenntnis des ordo führen. Während der
nächtliche Zwischenfall den in den Wissenschaften bewanderten Lehrer aus dem
Konzept bringt, veranlaßt er den unerfahrenen Anfänger dazu, mit traumwandle-
rischer Sicherheit über das Wesen der Ordnung zu dozieren. Licentius' plötzliche
Hellsicht stellt den ordo studiorum auf den Kopf, wonach der Einblick in den
Gesamtzusammenhang der Dinge nur das Resultat langwieriger Studien und einer
rigorosen Askese sein kann.
Die Freude, die Augustinus angesichts der Äußerungen seines Schülers emp-
findet, ist daher mit sorgenvoller Skepsis gepaart. Unter den Prämissen der neo-
platonischen Philosophie kann es sich bei der Erkenntnis des Anfängers, die dieser
auf nicht-regulärem Wege - sozusagen am ordo studiorum vorbei - gewonnen hat,
um kein authentisches Wissen handeln. Aus der Perspektive Augustins gibt es also
nur zwei Möglichkeiten: Entweder Licentius redet über etwas, wovon er eigentlich
nichts versteht; er gibt demnach spontan seine Einfälle zum Besten, die nur zufällig
das Wahre treffen. In diesem Falle droht dem jungen Mann die Gefahr des Hoch-
muts, die ihm den einzigen legitimen Weg zur Wahrheit versperrt - den Weg des
Studiums und der Askese. Oder aber Licentius spricht tatsächlich aufgrund einer
authentischen Einsicht in den universalen Ordnungszusammenhang. In diesem Falle
wird die neoplatonische, intellektualistische Ordnungskonzeption in Frage gestellt,
der sich Augustinus verpflichtet fühlt, insbesondere das Wechselverhältnis von ordo
verum und ordo studiorum. Mehr noch: Wenn auch der Ungebildete in den Besitz der
Wahrheit gelangen kann, dann bestehen ernsthafte Zweifel an der philosophischen
Machbarkeit des Glücks. Augustinus hat folglich allen Grund dazu, das Wissen
seines Schülers auf die Probe zu stellen. Er packt denn auch die Gelegenheit gleich
beim Schöpfe und fordert Licentius noch in der Nacht dazu auf, seine These über die
Allgegenwart der Ordnung zu verteidigen: »Sed pervellem adesses huic sententiae;
nam earn labefactare temptabo.«26
Zunächst sieht es ganz danach aus, als beabsichtige Augustinus, ein Gespräch
nach sokratischem Muster zu führen.27 Er will seinen Schüler offenbar einem elen-
chos unterziehen. Es geht ihm dabei nicht allein um die von Licentius vorgetragene
These, an deren objektiver Richtigkeit er im übrigen nicht bezweifelt. Auch Augus-
tinus glaubt ja daran, daß die Gesamtheit des Seins von der göttlichen Ordnung
beherrscht wird. Vielmehr soll Licentius von der Illusion befreit werden, bereits im

26 Ebd. (»Aber ich will, daß du diese Ansicht verteidigst; denn ich werde versuchen, sie zu
erschüttern.«).
27 Den starken sokratischen Einschlag, der die Gespräche von Cassiciacum im Unterschied zur
zeitgenössischen christlichen Dialogliteratur kennzeichnet, betont Manfred Hoffmann: Der
Dialog bei den christlichen Schriftstellern der ersten vier Jahrhunderte. Berlin 1966. S. 140f.
und passim.
Das Scheitern der Dialektik 333

festen Besitz der Wahrheit zu stehen. Es gilt, ihn davon zu überzeugen, daß die au-
ßerhalb des ordo studiorum gewonnene Erkenntnis — auch dann, wenn sie das Wahre
trifft - nur ein Scheinwissen darstellt, das unter stärkerem Druck nicht standzuhal-
ten vermag. Gelingt es, den jungen Mann in Widersprüche zu verstricken, so wird er
- dies jedenfalls hofft Augustinus - die Notwendigkeit einsehen, seine auf intuitivem
Wege gewonnenen Kenntnisse durch ein systematisches Studium zu vertiefen.28
Aus diesem Grunde übernimmt Augustinus den Part des advocatus diaboli und
greift die These seines Schülers an. Doch dabei ist ihm vorerst kein Erfolg beschie-
den. Auch durch die verfänglichste aller Fragen - die Theodizee-Frage, die nach
der Vereinbarkeit des Bösen mit der universal gültigen göttlichen Ordnung forscht
- läßt sich Licentius nicht einschüchtern.29 Augustins Fragen bringen den jungen
Mann nicht in Verlegenheit, im Gegenteil, er wird durch sie zu neuen Einfällen
inspiriert. Der nächtliche Vorfall scheint sein Inneres machtvoll in Bewegung gesetzt
zu haben. Durch die Fragen seines Lehrers eher beflügelt als gebändigt, spricht er wie
ein Verzückter; seine Äußerungen sind sprunghaft und impulsiv. Auf die Frage nach
dem Bösen etwa reagiert er zunächst mit Schweigen, dann jedoch bricht es aus ihm
hervor - »subito ille quasi mente quadam correptus exclamat: Ο si possem dicere
quod volo! rogo, ubiubi estis, verba, succurrite. Et bona et mala in ordine sunt.«30
Wenn Licentius in seinem ekstatischen Redefluß hin und wieder innehalten muß,
so nicht deshalb, weil es ihm an Einsicht mangelt, sondern allein aus dem Grund,
daß er keine angemessenen Worte für die erhabenen Wahrheiten findet, die er in
seinem Inneren schaut.31 Augustinus hingegen ergeht es nicht anders als seinem
zweiten Schüler Trygetius, der sich - durch den Disput aus dem Schlaf gerissen
- nun ebenfalls an dem Gespräch beteiligt: Er fühlt sich durch die kühnen, mit-
unter rätselhaften Aussagen des Licentius vor den Kopf gestoßen, ja überrumpelt.
Die Eingebungen des jungen Mannes bringen Augustinus schließlich derart aus der
Fassung, daß er nicht mehr weiß, was er fragen soll. Er verstummt. Es kommt also
erneut zu einer Vertauschung der Rollen. Der Lehrer, nicht der Schüler, sieht sich
in Verlegenheit gesetzt. Der Schüler, nicht der Lehrer, bestimmt die Richtung des
Gesprächs. Licentius übernimmt von Augustinus am Ende gar das Amt des Fragen-
stellers: »Nihilne mihi,« so fordert er den sprachlosen, düpierten Lehrer heraus, »vel
tu, qui conpulisti ad ista, respondes?«32

28 Ebd. 1.7.20.
29 Ebd. 1.6.15.
30 Ebd. 1.6.16. (»Plötzlich ruft er wie in Verzückung aus: >Wenn ich doch sagen könnte, was ich
will! Ich flehe euch an, Worte, wo ihr auch sein möget, kommt mir zu Hilfe! Innerhalb der
Ordnung befindet sich sowohl Gutes wie Übles.«<).
" Vgl. ebd. 1.7.18: »At ille ingemescens difficultate verborum nec omnino quaerens, quid
responderet, sed quem ad modum quod respondendum erat promeret«.
32 Ebd. 1.7.19.
334 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Das Schreiben: Eine ordnungspolitische M a ß n a h m e

Augustinus scheitert zunächst mit seinem Vorhaben, Licentius einer elenktischen


Befragung zu unterziehen. Es gelingt ihm nicht, das Gespräch unter seine Kontrolle
zu bringen. Er sieht schließlich nur noch einen Ausweg, um seine Autorität als Lehrer
und den Respekt vor dem or do studiorum zu wahren: Er bricht die Diskussion ab
und vertagt sie auf einen späteren Zeitpunkt.
Doch worauf ist das Versagen des Gesprächsführers zurückzuführen? Offenbar
hat er sich in der Wahl der passenden dialektischen Methode geirrt. Der somati-
sche elenchos scheint in seiner klassischen Form nicht dazu geeignet zu sein, einen
inspirierten Dialogpartner zur Räson zu bringen. Licentius hat sich den Fragen
seines Lehrers nicht ernsthaft gestellt, sondern sie als Katalysatoren fur seine Geis-
tesblitze genutzt. Anstatt die Einwände Augustins aufzugreifen und sein eigenes
Denken kritisch zu überprüfen, hat er sie als Sprungbrett für neue Gedankenflüge
mißbraucht. Freilich leistet der elenchos einem solchen Mißbrauch Vorschub. Laut
Sokrates soll der Befragte nicht lange grübeln; vielmehr soll er - gemäß der Auf-
richtigkeitsregel - möglichst spontan diejenige Antwort geben, die seiner inneren
Uberzeugung entspricht. Die Grübelei wird im sokratischen Dialog als Einfallstor
für sophistische Verstellungskünste abgelehnt. Sokrates versteht es, die Spontaneität
des Denkens, die er auf Seiten des Befragten wachruft, zu lenken und zu beherrschen.
Die Spontaneität, mit der Augustinus als Gesprächsführer konfrontiert wird, besitzt
dagegen eine ganz andere Qualität. Mit dialektischen Mitteln allein läßt sie sich
nicht mehr zügeln. Sie markiert das eigentliche Problem, das der Durchsetzung des
ordo im Wege steht. Augustinus sieht es daher als seine vordringliche Aufgabe an,
Licentius dazu zu bewegen, seinen eigenen Einfällen zu mißtrauen. Es gilt, jenes für
die kaiserzeitliche Philosophie kennzeichnende Moment der Mittelbarkeit und der
Reflexion zur Geltung zu bringen, das Sokrates aus seinem Modell der unmittelbaren
Lehrer-Schüler-Beziehung gerade fernzuhalten sucht.
Unter dieser Voraussetzung ist die Unterbrechung des Dialogs, die der Gesprächs-
führer anordnet, vielleicht doch mehr als eine Verlegenheitslösung. Augustinus trägt
in auffälliger Weise dafür Sorge, daß das Gespräch nicht gleich am folgenden Tag
fortgesetzt wird. Er zögert die Wiederaufnahme der Diskussion bewußt hinaus,
damit sich die erhitzten Gemüter abkühlen können, vor allem aber damit Licentius
Abstand zu seinen Einfällen zu gewinnen und Zeit zum Nachdenken zu finden
vermag. Augustinus macht sich das Prinzip des Aufschubs zu eigen. Es ist sicherlich
kein Zufall, daß dieser Aufschub an den Gebrauch des Mediums Schrift gekoppelt
ist. Die Zeit der Unterbrechung soll nämlich dazu genutzt werden, das nächtliche
Gespräch schriftlich zu fixieren.33 Am Nachmittag des folgenden Tages begibt
sich Augustinus gemeinsam mit seinen Schülern daran, die bislang im Gespräch

33 Ebd. 1.7.20.
Das Scheitern der Dialektik 335

gewonnenen Einsichten zusammenzufassen und niederzuschreiben. 3 4 Auch dies


trägt dazu bei, eine reflexive Distanz zum Gesagten aufzubauen. Zugleich wird den
Diskutanten noch einmal das Außerordentliche, Irreguläre der nächtlichen Unter-
redung bewußt gemacht. Denn eigentlich gehört es zu den festen Gepflogenheiten
des kleinen, unter Augustins Führung stehenden Studienkreises, daß die Debatten,
die aus dem gemeinsamen Lehrbetrieb hervorgehen, unmittelbar mitstenographiert
werden. Die Diskussionen werden üblicherweise von einem Schreiber protokolliert
und nicht erst nachträglich aus dem Gedächtnis zu Papier gebracht. 35 Die philoso-
phischen Frühschriften Augustins - Contra academicos-, De beata vita und De ordine
- verdanken dieser Einrichtung ihre Existenz.
Das nächtliche Gespräch, das den ersten Teil von De ordine bildet, fällt mithin
nicht bloß dadurch aus d e m Rahmen, daß es zu ungewöhnlicher Zeit u n d an
einem sonderbaren O r t stattfindet. Außergewöhnlich ist auch das Fehlen eines
Stenographen, das dazu führt, daß der dialogische Austausch in einer Sphäre reiner
Mündlichkeit abläuft. Augustinus suggeriert somit einen Zusammenhang zwischen
dem Scheitern der elenktischen Befragung und dem Verzicht auf Schreiberdienste.
Die spontane, unvorbereitete Durchführung des elenchos markiert sozusagen einen
Rückfall hinter die Errungenschaften der kaiserzeitlichen Philosophie, die das Me-
dium Schrift als Instrument zur Disziplinierung des Denkens zu nutzen weiß. Nach
dem Fehlschlag der nächtlichen Befragung sieht Augustinus ein, daß er unbedacht
handelte, als er ein Gespräch über die O r d n u n g vom Zaun brach, ohne sich dabei
der ordnenden H a n d des Schreibers zu versichern.
In den Dialogen von Cassiciacum, vor allem aber in De ordine fehlt es nicht an
Hinweisen auf die herausragende Bedeutung des Gesprächsprotokolls. Augustinus
erinnert die Dialogteilnehmer immer wieder daran, daß ihre Äußerungen mitge-
schrieben werden. Die Mitschrift der Gespräche dient mithin nicht allein dazu, das
Gedächtnis der Beteiligten zu entlasten, die Resultate der Diskussionen zu sichern
und die abwesenden Freunde über den Fortgang der in Cassiciacum betriebenen Stu-
dien auf dem Laufenden zu halten. Die Gesprächsprotokolle erfüllen zwar auch, aber
nicht nur eine hypomnematische Funktion. 36 Augustinus erhofft sich von der Prä-
senz des Schreibers vielmehr positive Auswirkungen auf die Gesprächskultur und auf
den Gang der Erörterung. In dem Bewußtsein, daß ihre Worte festgehalten werden,
sollen die Dialogteilnehmer mit mehr Umsicht und Überlegung argumentieren.
Die Anwesenheit des Schreibers fungiert zunächst einmal in einem ganz banalen
Sinne als eine Bremse des Diskurses. Sie nötigt die Dialogteilnehmer dazu, das
Sprechtempo zu drosseln. 37 Der Sprecher darf nicht schneller reden, als der Proto-

34
Ebd. 1.8.26.
35
Ebd. 1.2.5.
36
Zur hypomnematischen Funktion der Mitschrift als Gedächtnisstütze u n d Stoffsammlung
vgl. ebd. 1.2.5,1.7.20, 1.9.27.
37
Vgl. Contra academicos III.7.15.
336 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

kollant zu schreiben vermag. Der Schreiber trägt somit dazu bei, daß der Sprecher
die Herrschaft über seinen Diskurs bewahrt und sich nicht von seinem eigenen
Redefluß mitreißen läßt. 38 Die Mitschrift bringt zudem das Prinzip der Verknap-
pung zur Geltung. Mehrfach wird im Laufe des Gesprächs daraufhingewiesen, daß
die Zahl der Schreibtafeln, die der Protokollant für sein Stenogramm verwendet,
begrenzt ist. 39 Die Schreibmaterialien sind kostbar; es ist also notwendig, sparsam
damit umzugehen. Darin liegt für die Gesprächsteilnehmer ein Anreiz, sich kurz zu
fassen, nur das Wesentliche anzusprechen und stets bei der Sache zu bleiben. Die
Knappheit der Ressourcen soll mithin der Gefahr vorbeugen, daß die Unterredung
ausufert und vom Thema abschweift. 40
Schließlich erinnert die Präsenz des Schreibers die Dialogteilnehmer daran, daß
sie - trotz der ländlichen Abgeschiedenheit, in der sie sich befinden - nicht wirklich
unter sich sind. Die Mitschrift ermöglicht es, andere — Zenobius etwa, den Experten
in Sachen Ordnung - an ihrer geistigen Aktivität teilhaben zu lassen und ihnen
diese zur Beurteilung vorzulegen. Darüber hinaus verfolgt Augustinus die Absicht,
die Dialogmitschriften zu veröffentlichen und einem weiteren Kreis fachkundiger
Leser zugänglich zu machen. Er teilt seinen Schülern dieses Vorhaben mit, so daß
sie sich der Tatsache bewußt sind, als Dialogteilnehmer vor einem größeren, kriti-
schen Publikum zu agieren. 41 Der Schreiber ist der Repräsentant dieser potentiellen
Adressaten. Er sorgt dafür, daß das Publikum für die Gesprächsteilnehmer mehr als
eine abstrakte Vorstellung ist. Der Protokollant bringt den kritischen Blick der Leser
antizipatorisch im Gespräch selbst zur Geltung. Er animiert die Sprecher somit dazu,
diesen Blick zu verinnerlichen und die eigene Auffassung im Lichte des öffentlichen
Urteils zu prüfen.
Die Anwesenheit des Protokollanten trägt also auf vielerlei Weise dazu bei, den
Diskutanten eine reflexive Haltung aufzudrängen. Sie ist daraufhin angelegt, den
Gesprächsteilnehmern die Unschuld spontanen Denkens zu rauben. 42 Aus der Pers-
pektive Augustins erscheint es daher durchaus denkbar, daß Licentius seinen Einfal-
len während des nächtlichen Gesprächs vor allem deshalb freien Lauf lassen konnte,
weil die Kontrollinstanz des Schreibers fehlte. Die Schrift bietet sich als Mittel an,

38 Die bremsende und somit zur Selbstprüfung animierende Funktion des Schreibens betont
auch Quintilian: Institutio oratoria X . 3 . 1 9 . Siehe oben, S. 226ff.
39 D e ordine 1.10.30, 1.11.33.
40 Ebd. 1.2.5.
41 Ebd. 1 . 2 . 5 , 1 . 5 . 1 4 .
42 Vgl. ebd. 1.9.27: Die Tatsache, daß neben dem Experten Zenobius auch Alypius und Nebridius,
zwei wichtige Mitglieder der philosophischen Studiengemeinschaft, zeitweilig abwesend sind
und sich an dem Gespräch über die Ordnung nicht beteiligen können, wird von Augustinus
positiv bewertet. Licentius und Trygetius, die Unerfahrensten unter den Gruppenmitgliedern,
sind auf diese Weise dazu genötigt, sich eigenständig um die Erkenntnis der Ordnung zu
bemühen. Sie werden dabei - darauf zählt Augustinus - mit um so größerer Sorgfalt vorge-
hen, als sie sich dessen bewußt sind, daß die Abwesenden die Gesprächsprotokolle bei ihrer
Rückkehr einer genauen Betrachtung unterziehen werden.
Das Scheitern der Dialektik 337

u m die disruptive Kraft der Spontaneität zu bändigen. Der Schreiber soll Augustinus
dabei helfen, seine angeschlagene Autorität als Gesprächsführer wiederherzustellen
und den ordo disputationis durchzusetzen.
D a s Gespräch über die O r d n u n g findet erst nach einer eintägigen Pause seine
Fortsetzung. Diesmal zeigt sich Augustinus fest dazu entschlossen, die F ü h r u n g
über das Gespräch zu behaupten u n d dabei nichts d e m Zufall zu überlassen. Er
hat den weiteren Verlauf der U n t e r s u c h u n g genau vorausgeplant u n d geht mit
methodischer Strenge vor. Ein Schreiber ist zugegen, der das Gespräch protokollie-
ren soll. Augustinus eröffnet die Diskussion nicht abrupt mit einer Frage, sondern
hält zunächst eine kurze paränetische Ansprache, in der er die alles überstrahlende
Würde der göttlichen O r d n u n g hervorhebt und seine Gesprächspartner eindring-
lich dazu ermahnt, sich diesem bedeutenden Gegenstand mit dem gebotenen Ernst
anzunähern. Licentius und Trygetius werden somit sorgfältig auf die bevorstehende
Diskussion eingestimmt. Augustinus beginnt erst dann mit der Befragung, als er sich
davon überzeugt hat, daß seine Schüler innerlich dazu bereit u n d ganz bei der Sache
sind. An den Mienen und Gesten der jungen Männer — ihrem Schweigen u n d der
Anspannung ihrer Glieder — meint der Gesprächsführer ablesen zu können, daß die
Paränese ihre Wirkung nicht verfehlt hat. 4 3 Die Regungslosigkeit der Körper scheint
zu indizieren, daß Licentius und Trygetius sich von der Sinnenwelt abgekehrt und
ihre Aufmerksamkeit ganz auf den geistigen Gegenstand gerichtet haben, den es zu
ergründen gilt. Die Vorzeichen für eine ergiebige dialektische Untersuchung stehen
also gut. Die erste Frage, die Augustinus formuliert, führt die in seiner Ansprache
bereits angelegte Tendenz zur Konzentration fort. Sie n i m m t den Kern der Sache
zielgenau ins Visier. A u g u s t i n u s fordert Licentius nämlich dazu auf, alle seine
geistigen Kräfte zu bündeln und in einer Definition zusammenzufassen, was die
O r d n u n g sei: »collige in te quidquid virium potes, elima quidquid habes acuminis
et ordo iste quid sit definitione conplectere.« 4 4 Trotz der sorgfältigen Vorbereitung
wirkt diese Frage auf den jungen M a n n zunächst wie eine kalte Dusche (»quasi aqua
frigida adspersus«). D o c h er vermag sich schnell wieder zu fassen. Er kehrt für kurze
Zeit schweigend in sich selbst ein, u m zu überlegen, und wartet dann tatsächlich
mit einer Definition auf, die Augustinus für geeignet hält, der weiteren Diskussion
als Grundlage zu dienen: » O r d o est, inquit, per quem aguntur omnia, quae deus
constituit.« 4 5
Augustinus scheint mit seiner neuen Strategie der Gesprächsführung zu reüssie-
ren. Offenbar gelingt es ihm nun, das Gespräch von unkontrollierbaren Einflüssen

Ebd. 1.10.28: »Hic, ubi eos silentio vultu oculis suspensione atque immobilitate m e m b r o r u m
et rei magnitudine satis c o m m o t o s et audiendi desiderio inflammatos esse conspexi [...].«
- Augustinus verfährt hier folglich so, wie es Epiktet in seinen A u s f ü h r u n g e n über die Kunst
des Hörens und die Kunst des Schweigens v o m philosophischen Lehrer verlangt.
Ebd.
Ebd.
338 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

- äußeren Zufällen einerseits, spontanen Einfallen andererseits — freizuhalten und Li-


centius zu einer umsichtigen Vorgehensweise zu bewegen. Doch dieser Erfolg ist nur
von kurzer Dauer. Sobald der Definitionsversuch des jungen Mannes zur Diskussion
gestellt wird, läuft das Gespräch wieder aus dem Ruder. Auch die Anwesenheit des
Schreibers kann dies nicht verhindern. Im Gegenteil, das Gesprächsprotokoll und
die Aussicht auf dessen Veröffentlichung tragen dazu bei, daß die Diskussion unter
den beiden jungen Männern in einen Streit ausartet, der sie ganz vom Thema der
Ordnung abbringt und den ordo disputationis zunichte macht. In dem Bemühen, die
Definition seines Mitschülers zu widerlegen, trägt Trygetius ein Argument vor, das
die Gottesnatur Christi in Frage stellt. Daraufhin von Licentius zur Rede gestellt,
nimmt er, peinlich berührt, seine häretische Äußerung zurück und wünscht, daß der
Protokollant die entsprechende Passage aus der Mitschrift tilgt. Licentius aber be-
harrt darauf, daß der Lapsus seines Kontrahenten im Protokoll vermerkt bleibe. Der
kleinliche Streit erzürnt den Gesprächsführer. Er hält seinen Schülern eine Strafpre-
digt und wirft ihnen vor, nur um des Ruhmes (»gloriandi causa«), nicht aber um der
Sache willen zu diskutieren.46 Daraufhin ist Licentius an der Reihe, Schamgefühle zu
empfinden. Er verlangt nun seinerseits, den Disput aus der Mitschrift zu streichen,
und gibt damit zu erkennen, daß er die Strafpredigt seines Lehrers nicht begriffen
hat. Augustins Reaktion fällt dementsprechend heftig aus. Mit drastischen Worten
führt er seinen Schülern ihre Verfehlung vor Augen. Nach diesen leidenschaftlichen
Entgleisungen ist an eine sachliche Diskussion natürlich nicht mehr zu denken.
Sogar der Gesprächsführer erweist sich als unfähig, die dazu erforderliche Konzen-
tration aufzubringen. Er läßt sich durch das plötzliche Erscheinen seiner Mutter
dazu hinreißen, das Gespräch auf ein ganz anderes Thema zu leiten. Nachdem er
seiner Nachlässigkeit gewahr geworden ist, sieht er sich schließlich dazu genötigt,
die Diskussion erneut ergebnislos abzubrechen.
Auch der zweite Versuch, Ordnung in das Gespräch über die Ordnung zu bringen,
schlägt also fehl. Es zeigt sich, daß das Instrument der Mitschrift kein Allheilmittel
ist. Die Anwesenheit des Schreibers nimmt Licentius und Trygetius zwar ihre Un-
befangenheit: sie reflektieren nun, ehe sie etwas sagen. Doch der Spiegel, dessen sie
sich dabei bedienen, ist nicht der durch die Vernunft vorgegebene innere Maßstab
der Wahrheit, sondern das äußerliche Kriterium des Ruhms. Als Verbindung zur
Außenwelt verleitet der Schreiber die Gesprächsteilnehmer dazu, ihr Heil in der
Anerkennung durch andere und nicht in der Erkenntnis der Wahrheit zu suchen.
Die Mitschrift trägt somit das Ihrige dazu bei, daß das Gespräch zu einem eristischen
Wettkampf verkommt. Sie konterkariert die Bemühungen des Gesprächsführers,
die jungen Männer von den Erscheinungen der Außenwelt abzuziehen und auf
geistige Gegenstände auszurichten. Die Anwesenheit des Schreibers wirkt sich
nicht disziplinierend auf den Gesprächsverlauf aus, sondern verstärkt eher noch die

46
Ebd. 1.10.29.
Das Scheitern der Dialektik 339

zentripetalen, der inneren Einkehr widerstrebenden Kräfte, die durch die dialogi-
sche Interaktion entfesselt werden. 47 In der Tat drängt sich nach dem abermaligen
Scheitern Augustins die Vermutung auf, daß die Gesprächsform als solche seinem
Vorhaben entgegensteht, das Denken der jungen Leute zu ordnen und zur Einsicht
in den ordo verum zu befähigen. Es fällt auf, daß die Konzentration der Gesprächsteil-
nehmer genau in dem Moment zusammenbricht, da Licentius seine durch stumme
Meditation gewonnene Definition zur Debatte stellt. Unter dem äußeren Druck, der
durch die kritischen Einwände der Gesprächspartner und die antizipierte Reaktion
der Leser erzeugt wird, identifiziert er sich rückhaltlos mit seinen Ideen und sucht
nach Schwachpunkten in den Argumenten der anderen, anstatt ihre Einwände auf-
zugreifen und der Vertiefung seiner eigenen Erkenntnisse dienstbar zu machen. Die
Gesprächssituation verleitet ihn dazu, Partei zu ergreifen, sich eine partielle Ansicht
ganz zu eigen zu machen, so daß der Angriff auf diese Ansicht zugleich auch als
Angriff auf die Person aufgefaßt wird, die sie vertritt. 48 Das Aufeinandertreffen un-
terschiedlicher Standpunkte in der Diskussion scheint der Ausbildung einer selbst-
kritischen Haltung hinderlich zu sein, die es dem Individuum ermöglichen würde,
seine partielle Einsicht auf die Schau des Ganzen hin zu übersteigen. Der äußere
Dialog erstickt das innere Gespräch der Seele, von dem sich Augustinus erhofft, daß
es das Individuum dazu befähigt, seinen begrenzten Standpunkt zu überwinden und
übergreifende Zusammenhänge, letztlich gar den Gesamtzusammenhang des ordo
rerum wahrzunehmen.
Auch der Gesprächsführer ist gegen solche Parteilichkeit nicht immun. Die
Unbotmäßigkeit seiner Schüler bedroht Augustinus in seinem Selbstverständnis als
Lehrer und als Vertreter des ordo studiorum. Er identifiziert sich mit dieser Ordnung.
In seinem Bemühen, seine streitenden Schüler zur Ordnung zu rufen, steigert er sich
in eine heftige Erregung hinein, so daß er schließlich nicht nur die Kontrolle über
das Gespräch, sondern auch die Gewalt über sich selbst verliert. Er wird zu einem
leidenschaftlichen Parteigänger der Ordnung und verliert sie eben deshalb aus dem
Blick. Der unglückliche Verlauf, den das Gespräch über die Ordnung bei seiner
Wiederaufnahme nimmt, bestätigt somit den Verdacht, den bereits das Scheitern
der nächtlichen Unterhaltung nährte: Die Dialogform scheint mit einem geordneten
Zugang zum Wissen nicht vereinbar zu sein.
Augustinus sieht sich folglich dazu genötigt, seine Vorgehensweise zu modifi-
zieren. Dieser Wandel in der Strategie der Gesprächsführung wird von ihm weder
angekündigt noch kommentiert. So unscheinbar er zunächst auch sein mag, er hat

47
Aus ähnlichen Gründen votiert daher bereits Quintilian für das Selberschreiben und gegen
die Verwendung von Stenographen. Vgl. Institutio oratoria X . 3 . 1 8 - 3 1 . Vgl. dazu Kapitel V.3
dieser Untersuchung.
48
Der sokratische elenchos leistet dieser Verquickung von Person und Ansicht Vorschub: Sokrates
beschäftigt sich nie mit einem abstrakten Wissen. Vielmehr prüft er mit dem Wissen immer zu-
gleich auch die Person, die sich als wissend ausgibt. Vgl. Kapitel II.2 dieser Untersuchung.
340 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

gravierende Konsequenzen — nicht nur für den weiteren Verlauf der Erörterung, son-
dern auch für die literarische Form, die Augustinus seinen philosophischen Schriften
von nun an zu verleihen gedenkt: Im dritten Teil des Dialogs über die Ordnung
werden die Weichen für einen neuen Typus des philosophischen Gesprächs gestellt,
wie er paradigmatisch in den Soliloquia verwirklicht ist, der letzten der in Cassi-
ciacum verfaßten Schriften Augustins. Der dritte Teil von De ordine markiert den
Ubergang von der dialogischen Interaktion zum Selbstgespräch. Augustinus vollzieht
somit im kleinen die Entwicklung nach, die für die hellenistische und spätantike
Philosophie im großen kennzeichnend ist: die Ablösung des Dialogs durch das
Soliloquium. Doch damit nicht genug: Die eigentliche Komplexität von De ordine
erweist sich darin, daß der Text den Paradigmenwechsel, den der Gesprächsführer
am Schluß sogar programmatisch verkündet, zugleich auch relativiert. Einerseits
wird das soliloquium als Lösung der Probleme angeboten, die der elenchos aufwirft.
Andererseits wird durch die narrative Uberformung des Gesprächs, die De ordine
gegenüber der platonischen, mimetisch-dramatisierenden Dialogform auszeichnet,
eine alternative Lösung angedeutet — eine Lösung, die bereits auf die Confessiones
vorausweist. Soliloquium oder narratio: Vor diese Alternative sieht sich Augustinus
nach dem Scheitern seiner elenktischen Versuche gestellt. Den beiden Darstellungs-
modi korrespondieren zwei unterschiedliche Formen des Selbstverhältnisses, deren
spannungsvolles Nebeneinander die Schwellensituation Augustins zwischen Antike
und Christentum charakterisiert.

Gespräch unter Abwesenden


Zu Beginn des dritten Gesprächstages, der das ganze zweite Buch von De ordine
ausfüllt, betätigt sich Augustinus zwar noch einmal als Elenktiker. In typisch
sokratischer Manier verknüpft er die Untersuchung der Sache - hier: der Frage
nach der Erkennbarkeit des ordo rerum — mit der Prüfung der Person, die vorgibt,
ein Wissen von der Sache zu besitzen. Doch nachdem der Dialog wieder in Gang
gekommen und Licentius dazu veranlaßt worden ist, seine These zu rekapitulieren,
verschiebt sich das Interesse des Gesprächsführers von der Person auf die Sache.
Diese Verlagerung des Schwerpunktes zeigt sich vor allem darin, daß Augustinus
selbst nun sehr viel ausführlicher zu Wort kommt. Er beschränkt sich nicht mehr
darauf, die Rolle des Fragers zu spielen. Vielmehr tritt er seinerseits immer promi-
nenter als Diskutant in Erscheinung und trägt schließlich maßgeblich dazu bei, eine
Antwort auf die anstehende Sachfrage zu formulieren. Er gibt mithin die ironische
Zurückhaltung auf, die der sokratische Gesprächsfuhrer hinsichtlich seines eigenen
Wissens zu wahren pflegt. Licentius nimmt diese Veränderungen wahr und reagiert
darauf in einer merkwürdigen, nicht vorhersehbaren Weise: Er steigt zeitweilig ganz
aus der Diskussion aus. Anstatt die Blöße, die sich der Gesprächsführer mit seinen
ausführlichen Wortbeiträgen gibt, zu einem Gegenangriff zu nutzen, zieht sich der
junge Mann nun völlig aus der dialogischen Interaktion zurück. Schweigend hängt
Das Scheitern der Dialektik 341

er seinen eigenen Gedanken nach, ohne den Äußerungen der anderen auch nur die
geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
Der Rückzug des jungen Mannes bleibt natürlich nicht unbemerkt. Augustinus
stellt wiederholt fest, daß sein Schüler, während die anderen diskutieren, gänzlich
abwesend ist (»Licentio prorsus absente«) und sich dem Gesprächskreis entfremdet hat
(»alienus ab hoc sermone«).49 Erstaunlicherweise unternimmt er jedoch nichts, um den
jungen Mann in die Diskussionsrunde zu reintegrieren. Der Gesprächsfuhrer kümmert
sich nicht um Licentius. Statt dessen konzentriert er sich darauf, die Erörterung des
sachlichen Problems weiterzutreiben und zu einem handfesten Ergebnis zu fuhren. Erst
nachdem eine wichtige Einsicht gesichert ist - die Erkenntnis nämlich, daß der Ein-
druck von Chaos und Unordnung auf die Unfähigkeit des Betrachters zurückzufuhren
ist, sich von der Wahrnehmung des Ausschnitts zur Schau des Ganzen zu erheben —,
erst nachdem also die Sache geklärt worden ist, kümmert sich Augustinus wieder um
die Person seines Schülers und versucht, ihn erneut ins Gespräch zu ziehen.
Weshalb läßt Augustinus den jungen Mann gewähren? Warum schreitet er nicht
sofort ein, sobald er seine Unaufmerksamkeit bemerkt? Es gehört doch, wie er nicht
müde wird zu betonen, zu seinen vordringlichsten pädagogischen Aufgaben, seine
Schüler zur vollen Konzentration auf die in Frage stehende Sache zu bewegen. Was
veranlaßt ihn also nun plötzlich dazu, die geistige Abwesenheit des jungen Mannes
zu dulden? Augustinus liefert zwar keine systematische Begründung für sein Verhal-
ten, aber der Wiedereinstieg des Schülers in das Gespräch bietet ihm Gelegenheit,
einige signifikante Andeutungen in diese Richtung zu machen. Als Licentius schließ-
lich seine Bereitschaft erklärt, sich wieder den Fragen seines Lehrers zu stellen, hat
er zunächst Schwierigkeiten, Anschluß an die Diskussion zu finden. Die Frage, mit
der ihn Augustinus konfrontiert, verwirrt ihn. Daher bittet er den Gesprächsführer,
seine Frage zu wiederholen:
Atque ille post aliquantum silentium petit, ut a me hoc ipsum rursus interrogaretur; cui loco
superius a Trygetio fuisse responsum non omnino animum adverterat. Tum ego: Quid, inquam,
vel cur tibi repetam? actum, aiunt, ne agas. Quare moneo potius, ut ea, quae supra dicta sunt,
vel legere cures, si audire nequivisti. Quam quidem absentiam a sermone nostro animi tui non
aegre tuli diuque ita esse pertuli, ut neque ilia impedirem, quae tecum internus remotusque a
nobis pro te agebas, et ea persequerer, quae te amittere stilus iste non sineret. 50

Augustinus sieht keine Veranlassung, seine Frage zu wiederholen, ebensowenig wie er


es fiir nötig hält, Licentius über das, was er während seiner geistigen Absenz versäumt

49
De ordine II.3.10, II.5.17; vgl. auch ebd. II.4.11, II.7.21.
50
Ebd. II.7.21 (»Nach kurzem Schweigen bat Licentius, daß ich ihm meine Frage noch einmal
stellen sollte; er hatte überhaupt nicht gemerkt, daß Trygetius schon früher hierauf eine
Antwort gegeben hatte. Ich sagte zu ihm: Warum soll ich es dir wiederholen? »Was gemacht
ist, sagt man, braucht nicht noch einmal gemacht zu werden.< Ich rate dir vielmehr, unsere
früheren Ausführungen nachzulesen, wenn du sie nicht mitbekommen hast. Ich nehme es dir
nicht übel, daß du in Gedanken abgeschweift bist. Ich habe es so lange hingenommen, um
dich nicht zu stören, während du still bei dir selbst nachdachtest. Außerdem wollte ich meine
eigenen Gedanken weiterverfolgen; unsere Mitschrift verhütet ja, daß dir etwas entgeht.«).
342 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

hat, in Kenntnis zu setzen. Der junge Mann hat ja die Möglichkeit, das Versäumte
im Gesprächsprotokoll nachzulesen.51 Augustinus begründet seine duldsame Hal-
tung also mit der Existenz des Protokolls. Das bedeutet aber, daß die Mitschrift des
Gesprächs eine ganz andere Funktion erfüllt als ursprünglich vorgesehen. Sie dient
nun dazu, den Gesprächsführer zu entlasten. Die Mitschrift entbindet ihn von
der Verpflichtung, seine Äußerungen genau auf die Person des Gesprächspartners
abzustimmen und sich seiner AufFassungskraft anzupassen - etwa dadurch, daß er
bestimmte Fragen oder Aussagen wiederholt, erläutert oder veranschaulicht. Wenn
der Gesprächspartner dem Gedankengang nicht zu folgen vermag, steht ihm die
Möglichkeit offen, ihn sich nachträglich, durch sorgfältiges Studium der Mitschrift,
zu eigen machen.
Augustinus invertiert mithin die Schriftkritik, die Sokrates im platonischen
Phaidros artikuliert. Laut Sokrates besteht der Vorteil der mündlichen gegenüber
der schriftlichen Mitteilung darin, daß der Sprecher seinem logos jederzeit zu Hilfe
kommen kann (boethein), falls der Hörer ihn nicht versteht. 52 In der mündlichen
Gesprächssituation kann der Lehrer jederzeit sicherstellen, daß sein logos unmittelbar
Eingang in die Seele des Schülers findet. Augustinus erkennt umgekehrt den Nutzen
des schriftlichen Protokolls darin, daß es den Sprecher von der Aufgabe befreit, seiner
Rede Hilfe zu leisten. Er empfindet diese Aufgabe als eine Störung, die ihn davon
abhält, seine Gedanken konsequent und konzentriert zu Ende zu denken. Das bereits
Gesagte zu wiederholen: Das, so insinuiert Augustinus, ist die Aufgabe der geschrie-
benen Rede. Die Existenz des Protokolls erlaubt es somit dem Gesprächsführer,
seine Aufmerksamkeit von der Person des Schülers ganz auf die zu erörternde Sache
zu verlagern. Es ist bezeichnend, daß die erste zusammenhängende Darstellung des
ordo rerum, die Augustinus im Rahmen des Gesprächs präsentiert, ausgerechnet in
jene Diskussionsphase fällt, in der Licentius seinen eigenen Gedanken nachhängt.
Die Frage, wie der ordo rerum erkannt werden kann, findet erst in dem Moment eine
Antwort, da Augustinus sich nicht mehr auf das Seelenheil seines Schülers, sondern
allein auf den Gegenstand der Ordnung konzentriert. 53
Diese Tendenz, den Adressatenbezug der Rede zu lockern, setzt sich, von kurzen
Unterbrechungen abgesehen, bis in die Schlußpassagen des Dialogs fort, ja, sie

51 Vgl. auch ebd. II.5.17 (»Iam nobis Licentius etiam verba reddantur, qui tarn diu nescio qua
cura occupatus alien us ab hoc sermone fuit, ut eum ista non aliter quam eos qui non assunt
familiares nostras c red am esse lecturum.« [»Jetzt soll auch Licentius wieder etwas beitragen, der
sich schon so lange, mit was weiß ich für Sachen beschäftigt, von diesem Gespräch abgewandt
hat, so daß er unsere letzten Ausführungen wohl genauso wie unsere abwesenden Freunde
lesen müßte.«]).
52 Piaton: Phaidros 275d-277a. — Zum Zusammenhang zwischen Schriftkritik und Dialogform
bei Piaton vgl. Kapitel III dieser Untersuchung.
53 Auch hierin reproduziert De ordine eine Tendenz, die für die Philosophie der Kaiserzeit und
der Spätantike insgesamt charakteristisch ist. Vgl. die Lockerung des Adressatenbezugs und die
damit einhergehende Systematisierung des Lehrvortrags in der ethischen paideia der Stoiker
(Kapitel VI dieser Untersuchung).
Das Scheitern der Dialektik 343

gewinnt gar noch an Stärke. Die Gesprächsbeiträge, die Augustinus im dritten Teil
von De ordine liefert, werden immer umfangreicher und theoretischer, die übrigen
Diskutanten halten sich mit ihren Äußerungen immer mehr zurück, bis der Dialog
schließlich umkippt und in eine lange, monologische Ansprache des Gesprächs-
führers einmündet, die dieser vor einer ehrfürchtig schweigenden Zuhörerschaft
zum besten gibt. Die fortlaufende Rede, die der systematischen Untersuchung eines
sachlichen Problems gewidmet ist, stellt den Zielpunkt dar, den Augustinus mit
dem Wechsel seiner dialektischen Methode letztlich avisiert. Sein Schlußvortrag,
der die dialogischen Anteile des zweiten Buches an Umfang weit übertrifft, enthält
eine ausführliche, klar gegliederte Darstellung des ordo studiorum. Die Mitschrift
verhilft Augustinus somit doch noch dazu, die Kontrolle über das Gespräch zu
erlangen und es einer Ordnung zu unterwerfen, aber sie hilft ihm allein unter der
Bedingung, daß der Dialog dem Monolog weicht. Im Grunde kontrolliert und
ordnet Augustinus lediglich den von ihm selbst produzierten Diskurs. Was im
Inneren der schweigenden Zuhörer vorgeht, entzieht sich seinem Zugriff. Nur als
Gliederungsprinzip seines eigenen Vortrags kann Augustinus den ordo disputationis
schließlich zur Geltung bringen.
Der Gesprächsführer duldet die zeitweilige Absenz seines Schülers also deshalb,
weil sie ihm den Freiraum eröffnet, den er braucht, um sich intensiv mit dem sach-
lichen Problem der Ordnung beschäftigen zu können. Doch es gibt noch andere
Gründe für seine Nachsicht. Er will einerseits nicht gestört werden; er will den
jungen Mann aber andererseits auch nicht stören: »ut neque ilia impedirem quae
tecum internus remotusque a nobis pro te agebas«.54 Augustinus deutet das plötz-
liche Verstummen seines Schülers nicht als Zeichen der Zerstreuung, sondern als
ein Indiz dafür, daß der junge Mann sich der Kontemplation befleißigt. Licentius
verfolgt zwar nicht mehr den Gang der Erörterung. Das bedeutet aber keineswegs,
daß er das Interesse am Gesprächsgegenstand verloren hat und sich nun in seinen
Träumereien anderen, angenehmeren Dingen zuwendet — etwa seinem Gedicht über
Pyramos und Thisbe. Sein Schweigen weist vielmehr daraufhin, daß er in sich selbst
eingekehrt ist, um über das Erörterte nachzudenken. Sein Verhalten ist demjenigen
des Gesprächsführers analog: Beide treten aus der dialogischen Interaktion heraus,
um ihre Aufmerksamkeit ganz der Sache widmen zu können. Augustinus sieht in
der vermeintlichen Zerstreutheit des jungen Mannes folglich so etwas wie einen
pädagogischen Erfolg, den er nicht durch aufdringliche Fragen gefährden möchte.
Erstmals, so scheint es, reagiert Licentius nicht mehr spontan und unbedacht auf
die Äußerungen seiner Gesprächspartner; erstmals mißbraucht er sie nicht als Kata-
lysatoren für seine Gedankenblitze; erstmals nimmt er sich die Zeit zu sorgfältiger
Überlegung und stellt seine Gedanken in Frage, anstatt sich unmittelbar mit seinen
Einfallen zu identifizieren.

54 De ordine II.7.21.
344 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

So jedenfalls interpretiert Augustinus das Verhalten seines Schülers. Daß er


mit seiner Deutung richtig liegt, wird offenbar, sobald er Licentius wieder ins
Gespräch zu ziehen vermag. Denn es gelingt ihm nun innerhalb kürzester Zeit,
den jungen Mann zum Eingeständnis seines Unwissens zu bewegen. Was zuvor
durch umständliche elenktische Fragemanöver nicht zu erreichen war, wird nun
im Handumdrehen bewerkstelligt. Eine einzige Frage - die erneut gestellte Theo-
dizee-Frage nämlich — genügt, um den jungen Mann zu verwirren und seine These
zu erschüttern. 55 Die unbefangene Selbstsicherheit des Inspirierten ist Licentius
abhanden gekommen. An die Stelle unmittelbarer, blitzartiger Schau treten Re-
flexion und Selbstzweifel. Es ist erstaunlich, wie gering der Widerstand ist, den er
den Argumenten seines Lehrers entgegensetzt. Er fällt aus dem einen Extrem in
das andere. Setzte er bislang ein allzu großes Vertrauen in die Richtigkeit seiner
Einfälle, so begegnet er ihnen nun mit übertriebener Skepsis. Augustinus sieht
dieses Schwanken zwischen den Extremen als charakteristisch für den ungeordne-
ten, ungebildeten Geist an: Wer sich blindlings und ohne Methode — »temere ac
sine ordine disciplinarum« - daran begibt, die höchsten Dinge zu erforschen, setzt
sich der doppelten Gefahr der Leichtgläubigkeit und der Ungläubigkeit aus, wird
entweder »credulu[s]« oder »incredulu[sj«. 56 Die unsystematische, richtungslose
Grübelei macht Licentius zu einem Ungläubigen, nachdem er zuvor der Leicht-
gläubigkeit verfallen war. Damit kehrt er in gewisser Weise an den Ausgangspunkt
des Gesprächs zurück, weist doch Trygetius gleich zu Beginn darauf hin, daß sein
Mitschüler, ehe er von nächtlichen Eingebungen heimgesucht wurde, ein Sym-
pathisant der akademischen Skepsis war. 57 Der pädagogische Fortschritt, den der
Gesprächsführer im dritten Teil des Dialogs erzielt, kann somit allenfalls als Teiler-
folg gewertet werden. Er weiß, daß noch viel zu tun bleibt, um das kontemplative
Selbstgespräch, das bei seinem Schüler in Gang gekommen ist, in eine dem ordo
rerum zuträgliche Form zu bringen.

Die Desintegration des Gesprächs:


Soliloquium u n d narratio als Alternativen
Augustinus ist mit seinem Vorhaben gescheitert, das ungeordnete Denken seines
Schülers Licentius dadurch zu ordnen, daß er den jungen Mann einer elenktischen
Befragung unterzieht. Die regellose Spontaneität seiner Einfälle wird durch die

55 Ebd. II.7.22f.
56 Ebd. II.5.17.
57 Ebd. 1.4.10. — Diese Affinität zum Skeptizismus widerspricht keineswegs den poetischen
Neigungen des Licentius, auf die Augustinus mehrfach anspielt. Die Gedankenfiguren des
Skeptizismus leisten einer proto-ästhetischen Haltung vielmehr Vorschub. Zur Homologie
zwischen Skepsis und Poesie vgl. Verena Olejniczak Lobsien: Skeptische Phantasie. Eine andere
Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur. München 1999. S. 20f., S. 44-A7.
Das Scheitern der Dialektik 345

Befragung nur noch potenziert. Das Heilmittel der Schrift, dessen sich Augus-
tinus bedient, um die aus den Fugen geratene Diskussion zu bändigen, bringt
die dialogische Interaktion schließlich ganz zum Erliegen. Die Anwesenheit des
Schreibers wirkt sich nicht, wie eigentlich geplant, stabilisierend auf die gemein-
same Diskussion aus. Sie trägt vielmehr dazu bei, daß die Gesprächsgemeinschaft
auseinanderbricht. Die Dialogteilnehmer reden am Ende nicht mehr miteinander,
sondern die Gesprächsbeiträge kapseln sich monologisch ab. »Hic ego, cum omnes
cernerem studiosissime ac pro suis quemque viribus deum quaerere sed ipsum, de
quo agebamus, ordinem non tenere, quo ad illius ineffabilis maiestatis intellegen-
tiam pervenitur«, so resümiert Augustinus den Gesprächsverlauf des dritten Tages,
ehe er zu seinem Schlußvortrag ansetzt. 58 Ein jeder hat für sich alleine nach der
Wahrheit geforscht: Die bloße Tatsache, daß seine Schüler sich aus dem gemein-
samen Gespräch zurückgezogen und sich mehr mit sich selbst als mit den anderen
unterhalten haben, ist nicht dazu angetan, das Mißfallen Augustins zu erregen. Im
Gegenteil, die Selbsteinkehr gilt ihm ja als die entscheidende Voraussetzung für die
Erkenntnis der Wahrheit. Was er moniert, ist vielmehr die mangelnde Ordnung,
die diese Rückzugsbewegung charakterisiert. Licentius wird zwar schließlich dazu
veranlaßt, gründlicher nachzudenken und seine früheren Einfalle in Frage zu stel-
len, aber er geht dabei regellos und unmethodisch vor, so daß ihm letztlich nicht die
Wahrheit, sondern lediglich ungläubige Zweifel zuteil werden. Das unterscheidet
die Selbsteinkehr des jungen Mannes von derjenigen seines Lehrers. Augustins
Selbstgesprächs das im monologischen Schlußvortrag seinen Niederschlag findet,
zeichnet sich dadurch aus, daß es dialektischen Prinzipien gehorcht, systematisch
aufgebaut ist und zu konkreten, methodisch abgesicherten Ergebnissen gelangt. Au-
gustinus demonstriert seinen Schülern mit seiner Ansprache den ordo disputationis,
den ihr Denken vermissen läßt.
Im dritten Teil von De ordine vollzieht sich die endgültige Desintegration der
Gesprächsform, die schon zuvor nur mit Mühe aufrechterhalten werden konnte.
Ein dialogischer Austausch findet kaum noch statt; die Diskussion weicht dem
Selbstgespräch, das auf der Schülerseite aufgrund seiner Regellosigkeit zum Scheitern
verurteilt ist, während es auf der Lehrerseite, bedingt durch die Stringenz der Gedan-
kenführung, positive Resultate zeitigt. Aus der Perspektive Augustins ist damit der
praktische Beweis für die Notwendigkeit von solitudo und eruditio erbracht. Aus dem
Scheitern der dialogischen Interaktion zieht er die Konsequenz, daß die Wahrheit
nur auf dem Wege einer inneren Einkehr erlangt werden kann, die sich an die vor-
gegebene Ordnung hält, das heißt: auf dem Wege eines methodisch durchgeführten
Selbstgesprächs, das wiederum eine entsprechende Schulung des Individuums vor-

58 D e ordine II.8.24. (»Ich fand, daß alle sehr leidenschaftlich und jeder nach seinen eigenen
Kräften fur sich alleine nach Gott fragte, daß sich aber alle nicht an die Ordnung selbst hielten,
die wir untersuchten und durch die man zur Einsicht in die unaussprechliche Majestät Gottes
gelangen kann.« [Ubersetzung modifiziert]).
346 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

aussetzt. Dies ist das Thema der großen Ansprache, mit der Augustinus den Dialog
De ordine beschließt. Er entwickelt darin ein pädagogisches Konzept, das ganz darauf
ausgerichtet ist, das Individuum zur Durchführung eines solchen Selbstgespräches zu
befähigen. Die Selbsteinkehr ist nicht jedermann und nicht zu jeder Zeit möglich.
Sie bedarf vielmehr einer sorgfältigen Vorbereitung; sie markiert den Endpunkt eines
langwierigen Bildungsweges. 59 Augustins Bildungskonzept basiert auf der Annahme,
daß die menschliche Vernunft das Vermögen darstellt, die Vielfalt der Erscheinungen
zur Einheit zu verbinden. 60 Um diese Fähigkeit auszubilden, soll sich das Individuum
zunächst in der Erkenntnis einfacher, überschaubarer Gegenstände üben, ehe es dazu
übergeht, größere, komplexere Einheiten aufzufassen. Dementsprechend hat der Ler-
nende ein Curriculum zu durchlaufen, das ihn von den elementaren, dem Sinnlichen
noch verhafteten Disziplinen der Grammatik und der Literatur zu den anspruchs-
volleren, rein intelligiblen Wissensformen der Logik und der Mathematik hinführt.
Zugleich soll er die vielfältigen Beziehungen wahrnehmen, die zwischen den ein-
zelnen Disziplinen bestehen und diese als Teile eines umfassenden Wissenssystems
ausweisen. Das Individuum wird somit dazu angeleitet, sich von der Erkenntnis in
Teilbereichen zur Schau übergreifender Zusammenhänge zu erheben. Erst ganz am
Ende dieses Bildungsprozesses - wenn die Vernunft sich gründlich darin geübt hat,
das Zusammenhängende im Disparaten, das Eine im Verschiedenen wahrzunehmen
- ist die Seele dazu reif, in sich selbst einzukehren. Laut Augustinus darf nur die gut
ausgebildete Seele (»anima bene erudita«) die innere Einkehr vollziehen, denn nur sie
vermag dabei in der gehörigen Ordnung zu verfahren, so daß sie zu einer adäquaten
Erkenntnis ihrer eigenen Natur gelangen kann - zur Erkenntnis ihrer selbst als eines
Vernunftwesens, das dazu bestimmt ist, Einsicht in das Eine (Gott) zu gewinnen. 61
Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis - das sind die beiden höchsten Formen des
Wissens, in denen der von Augustinus propagierte ordo studiorum kulminiert.
Augustinus hebt diese entscheidende Phase des Bildungsgangs in seiner Darstel-
lung des ordo studiorum dadurch besonders hervor, daß er die Seele als sprechende
Figur auftreten läßt. Die Prosopopöie der Seele ist jedoch mehr als ein rhetorisches
Stilmittel. Mit ihrer Hilfe macht Augustinus vielmehr deutlich, daß die innere
Einkehr die Form eines Selbstgesprächs annehmen soll. Er führt exemplarisch vor
Augen, wie die Seele durch eine schulmäßig durchgeführte Befragung ihrer selbst
zur Einsicht in ihr eigenes Wesen gelangen kann. 62 Das Selbstgespräch wird als das
Erkenntnismittel par excellence präsentiert. Augustinus gewährt in seiner Schlußrede
somit einen Ausblick auf die Darstellungsform, die das Lehrgespräch sokratisch-

59 Den Stellenwert dieses Bildungsprogramms im größeren Kontext der spätantiken und früh-
christlichen Pädagogik beleuchten H.-I. M a r r o u : Augustinus und das Ende der antiken
Bildung. S. 1 4 4 - 1 6 1 , S. 2 0 0 - 2 4 9 ; Rudolf Lorenz: Die Wissenschaftslehre Augustins. In:
Zeitschrift für Kirchengeschichte 6 7 ( 1 9 5 3 ) . S. 2 9 - 6 0 .
60 De ordine 11.11.30,11.18.48.
61 Ebd. 11.19.50.
62 Ebd. II. 18.48-11.19.50.
Das Scheitern der Dialektik 347

platonischer und ciceronianischer Spielart ablösen soll: das Soliloquium. Tatsächlich


orientiert sich Augustinus in seinen nach De ordine verfaßten Dialogschriften am
Modell des inneren Dialogs zwischen anima und ratio, wie er in den Soliloquia para-
digmatisch präsentiert wird. Von nun an werden in den Dialogen keine individuell
charakterisierten Personen mehr vorgeführt, vielmehr tritt eine anonyme Lehrer-
Instanz (Vernunft) einer ebenso gesichtslosen Schüler-Instanz (Seele) gegenüber. 63
Die äußeren Bedingungen des Gesprächs und die konkreten situativen Umstände
werden in der Darstellung nicht mehr berücksichtigt; eine Erzählerfigur, die sol-
ches vermitteln könnte, tritt nicht mehr in Erscheinung. 64 Der Dialog spielt sich
in einer abstrakten, zeitenthobenen Sphäre ab — in jenem geistigen Innenbereich,
der sich dem Individuum erst nach seinem Rückzug aus der Welt der sinnlichen
Erscheinungen erschließt. Da von allen Eigenheiten der Person wie auch von den
Besonderheiten der Zeit und des Orts abgesehen wird, kann sich die Erörterung ganz
auf die anstehende Sachfrage konzentrieren.
Diese neue Dialogform verhilft somit einer Tendenz zum Durchbruch, die sich
bereits im dritten Teil von De ordine ankündigt: der Tendenz zur Entpersönlichung
und Versachlichung des Gesprächs, zur Formalisierung und Verinnerlichung der
dialektischen Struktur. Augustinus richtet seine B e m ü h u n g e n n u n darauf, das
innere Gespräch der Seele zu regulieren. Das Individuum soll durch sein Bildungs-
programm dazu befähigt werden, sein eigenes Denken in den G r i f f zu bekommen.
Es gilt, das Glück, das in der Erkenntnis des Einen besteht, der intellektuellen
Verfügungsgewalt des Individuums zu unterstellen. D e r Ubergang v o m Dialog

63 In De quantitate animae, De libero arbitrio, De musica und De magistro werden die Namen
der Gesprächsteilnehmer nicht mitgeteilt. Die in modernen Textausgaben genannten Namen
sind Interpolationen der Herausgeber, die sich auf textexterne Informationen stützen. So er-
wähnt Augustinus in den Confessiones einmal, daß seine Schrift De magistro auf ein Gespräch
zurückgehe, das er mit seinem Sohn Adeodatus geführt habe. Im Dialog selbst wird darauf
jedoch mit keinem Wort hingewiesen — der Dialogverfasser bemüht sich im Gegenteil gerade
darum, alles Persönliche, Zeitbedingte und Idiosynkratische auszumerzen. Im Grunde, so
erklärt Bernd Reiner Voss, reproduzieren alle diese Dialoge das Modell des Zwiegesprächs
der Seele mit sich selbst: die unabhängig von äußeren Bedingungen, rein vom Gang der
Erörterung bestimmte Untersuchung eines sachlichen Problems. Vgl. B. R. Voss: Der Dialog
in der frühchristlichen Literatur. München 1970. S. 277-279.
M Voss (ebd. S. 197) teilt die Dialogschriften Augustins dementsprechend in zwei Klassen ein:
Auf der einen Seite stehen die in Cassiciacum entstandenen szenischen, erzählten Dialoge
(Contra academicos, De beata vita, De ordine), auf der anderen Seite die in Mailand, Rom
und Karthago geschriebenen nicht-szenischen, dramatischen Dialoge (De quantitate animae,
De libero arbitrio, De musica, De magistro). Die Soliloquia, die noch in Cassiciacum abgefaßt
wurden, nehmen eine Zwischenstellung ein (narrative Rudimente innerhalb einer vorwie-
gend dramatischen Struktur). - Auch Manfred Hoffmann (Der Dialog bei den christlichen
Schriftstellern der ersten vier Jahrhunderte. S. 136) meint im Frühwerk Augustins zwei deutlich
voneinander geschiedene Gruppen von Gesprächen ausmachen zu können. Hoffmann verrät
jedoch nicht, worin das Kriterium der Unterscheidung besteht, das es erlaubt, Contra acade-
micos, De beata vita, De ordine und Soliloquia von den übrigen Dialogtexten als eigenständige
Gruppe abzugrenzen. Immerhin weist er daraufhin, daß sich die Cassiciacum-Dialoge durch
die »breite Anlage der erzählerischen Rahmung« auszeichnen (S. 144).
348 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

zum Soliloquium, der im Schlußvortrag von De ordine vollzogen wird, steht somit
weiterhin im Zeichen der antiken Vorstellung von der Machbarkeit des Glücks. Die
beata vita erscheint als das Produkt einer intellektuellen Askese. Wer sein Denken
ordnet, fügt sich der universalen Ordnung ein, erfüllt seine Bestimmung und wird
glücklich. In gewisser Weise zeichnet Augustinus mit seinem Wechsel vom Dialog
zum Soliloquium also jenen Schritt nach, den die kaiserzeitliche Ethik gegenüber der
Philosophie der klassischen Antike vollzogen hatte: die Ablösung einer intersubjektiv
verbürgten Eudämonie (Dialog, Freundschaft) durch Strategien solitärer Glückssi-
cherung. Das Soliloquium markiert einen Weg zum Glück, den das Individuum
in einsamer Selbstgenügsamkeit zu gehen hat. Solitudo und eruditio·, so behauptet
Augustinus gegenüber seinem Freund Zenobius, sind die Bedingungen dafür, daß
das Individuum die Ordnung der Dinge erkennen und die ihm darin zukommende
Stelle einnehmen kann.
Durchsetzung eines rigorosen Bildungsprogramms, totale Abkehr von der Au-
ßenwelt, Einrichtung eines methodisch disziplinierten Selbstgesprächs: Das sind
die Konsequenzen, die Augustinus aus seinem Scheitern als Gesprächsführer ziehen
will, um den Anspruch des Individuums wahren zu können, Meister seines eigenen
Glücks zu sein. Diese radikale Lösung ist allerdings nicht die einzige Option, die in
De ordine angeboten wird. Zwar behält Augustinus sich das letzte Wort des Dialogs
vor: Seine lange Schlußrede drängt die dialogischen Partien des Gesprächs an den
Rand. Dennoch bleibt De ordine ein vielstimmiger Text, der abweichenden Ansich-
ten Raum gewährt.
Folgt man etwa der Auffassung des Licentius, so macht es keinen Sinn, hin-
sichtlich der dialogischen Passagen von Fehlschlägen zu reden. Nur weil der Lehrer
seine Vorstellung von Ordnung nicht durchzusetzen vermochte, bedeutet das
keineswegs, daß das Gespräch tatsächlich auch ungeordnet verlief und als bloße
Verirrung abgetan werden kann, die es durch andere Formen der Unterweisung
zu ersetzen gilt. Laut Licentius - und Augustinus stimmt ihm hierin zu — gibt
es ja nichts, was außerhalb der göttlichen Ordnung steht. Folglich muß man
annehmen, daß auch dem scheinbar chaotischen Gesprächsverlauf eine Ordnung
zugrunde liegt — eine Ordnung freilich, die nicht offen zutage liegt. Die zufälligen
und banalen Ereignisse, die das Gespräch in Gang bringen, die ungewöhnlichen
äußeren Umstände, unter den es abläuft, die Fragen des Lehrers, die den Schüler in
eine unkontrollierbare geistige Erregung versetzen, die kleinen Zwischenfälle und
Unterbrechungen, die den Dialog unvermittelt in eine andere Richtung lenken: all
dies hat aus der Sicht des Licentius einen ganz bestimmten Sinn und Zweck, der
für die am Dialoggeschehen beteiligten Personen allerdings nicht direkt erkennbar
ist. Das Gespräch unterliegt einer Ordnung, die den Teilnehmern verborgen bleibt.
Der Gesprächsführer steht zwar im Dienst dieser Ordnung, aber er darf sich nicht
zu der Ansicht versteigen, daß er den ordo beherrscht oder ihn gar kraft seines
überlegenen Wissens ins Werk setzt. Der Gesprächsführer täuscht sich, wenn er
glaubt, daß er derjenige ist, der das Gespräch führt. In Wirklichkeit ist auch er ein
Das Scheitern der Dialektik 349

Geführter. »Memento,« so ermahnt Licentius seinen Lehrer, »quam multa et quam


necessaria nobis abs te accipienda per occultissimum illum divinumque ordinem
etiam te nesciente subministrentur.« 65
Der Gesprächsführer lehrt demnach, ohne zu wissen, was er lehrt und wie er
lehrt. Er besitzt ebensowenig einen souveränen Überblick über den ordo wie der
Schüler, den er damit vertraut macht. Mehr noch: Nicht nur hat der Gesprächs-
führer keine Gewalt über das Dialoggeschehen, das nach einem geheimen Plan
abläuft. Auch seine eigenen Gedanken entziehen sich seiner Kontrolle. Das jedenfalls
behauptet Licentius. Seiner Ansicht nach ist der Gesprächsführer nicht einmal für
die Fragen verantwortlich, die er stellt: »Postremo tuus etiam ipse sermo«, so belehrt
er Augustinus, »te fortasse id non agente - non enim cuiquam in potestate est, quid
veniat in mentem - sie nescio quo modo circumagitur, ut me ipse doceat, quid tibi
debeam respondere.« 66 Der Denkende hat seine Gedanken nicht in der Gewalt.
Was dem Individuum in den Sinn kommt, das entstammt nicht seinem Eigenen, es
kommt vielmehr aus einer verborgenen, möglicherweise göttlichen Quelle. 6 7
Die Providenz lenkt folglich nicht allein die Ereignisse der Außenwelt, sie wirkt
auch unmittelbar auf die Vorgänge ein, die sich in der Seele des Individuums ab-
spielen. Der eigentliche Führer des Gesprächs - darauf läuft die Argumentation
des jungen Mannes hinaus - ist nicht Augustinus, sondern die geheime göttliche
Vorsehung. Die Absichten des menschlichen Lehrers - sein pädagogischer Plan, seine
Methode, sein im voraus festgelegter ordo disputationis — sind sekundär gegenüber
der höheren Ordnung, die sich gegen seinen Willen im Gespräch durchsetzt und
Licentius einen intuitiven Einblick in das göttliche Mysterium gewährt.
Allerdings erschließt sich das verborgene Wirken der Vorsehung den Betroffe-
nen in seiner ganzen Tragweite immer erst nachträglich. Der geheime Plan kann
für diejenigen, die unwissentlich an seiner Umsetzung mitwirken, nur aus einem
gewissen Abstand heraus sichtbar werden. Erst im Rückblick auf das Ganze der
Erörterung geben sich die einzelnen Elemente des Gesprächs als Konstituentien
einer geordneten Struktur zu erkennen. Vom Standpunkt des Licentius aus kommt
dem Gesprächsprotokoll daher eine ganz besondere Bedeutung zu. Die Mitschrift
ermöglicht es den Diskutanten, den Gesprächsverlauf retrospektiv, aus der Warte

65 De ordine 1.11.33. (»>Denk daran, wieviel Wichtiges die geheimnisvolle, göttliche Ordnung
uns schickt, was wir von dir lernen sollen, ohne daß du es merkst!««) Vgl. auch ebd. 1.5.14.
66 Ebd. 1.5.14. (»Schließlich wird auch dein Gesprächsbeitrag, vielleicht ohne deine Absicht
- denn liegt es in der eigenen Macht, was einem in den Sinn kommt? in eine solche Richtung
geführt, daß er selbst, auf geheimnisvolle Weise, mich lehrt, was ich dir antworten muß!«).
67 Diese Aussage des Licentius weist somit auf die Theorie der Illumination voraus, die Au-
gustinus in seiner Dialogschrift De magistro erstmals systematisch entfaltet. Demnach wird
jegliche Erkenntnis, die das Individuum gewinnt, durch Gott selbst gewirkt - durch Christus,
den inneren Lehrer, der im Herzen wohnt. Vgl. De magistro XI.38. - Zur augustinischen
Illuminationslehre vgl. K. Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken. S. 124f.; J. Rieck:
De magistro and Augustine's Illumination Theory. In: Reality 12 (1964). S. 95-115; Ulrich
Wienbruch: Erleuchtete Einsicht. Zur Erkenntnislehre Augustins. Bonn 1989.
350 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

des nicht unmittelbar Beteiligten, zu betrachten und auf versteckte Anzeichen einer
höheren Führung hin zu überprüfen. Was dem als Instrument der Vorsehung agie-
renden Dialogteilnehmer im Eifer des Gefechts notwendigerweise entgeht, kann sich
dem Blick des sorgfältig studierenden, distanziert abwägenden Lesers enthüllen. Für
Licentius vollzieht sich die innere Einkehr des Individuums nicht in Gestalt eines
Soliloquiums, sondern in Form einer Lektüre, die auf die Entzifferung verborgener
Sinnstrukturen abzielt. Die Ansichten des jungen Mannes markieren somit ein Ge-
gengewicht zu Augustins intellektualistischer Konzeption des or do studiorum. Wäh-
rend Augustinus dem Individuum zur Herrschaft über sein Denken verhelfen und
es im selbständigen Gebrauch seines rationalen Vermögens schulen will, dementiert
Licentius die Möglichkeit einer solchen Herrschaft: Kontrolle über seine Gedanken
kann das Subjekt immer erst im Nachhinein gewinnen.
Um so erstaunlicher ist es, daß Augustinus den Ansichten seines Gegenspielers
durch die literarische Form, die er der Dialogschrift De ordine verleiht, Rechnung
zu tragen scheint. Denn es handelt sich bei De ordine um einen erzählten Dialog.
Auf der Grundlage der Mitschriften erstattet Augustinus seinem Freund Zenobius
retrospektiv Bericht über die Diskussionen, die er mit seinen Schülern geführt hat.
Anders als in der platonischen Dialogform, die auf die dramatische Vergegenwär-
tigung des Gesprächsgeschehens abzielt und den Eindruck der Unmittelbarkeit zu
erzeugen sucht, anders auch als im Soliloquium, das sich in dieser Hinsicht an das
platonische Modell anlehnt, tritt in De ordine eine deutlich markierte Erzählerfigur
auf. Sie macht ihre vermittelnde Funktion immer wieder sichtbar, indem sie etwa die
Akteure des Gesprächs charakterisiert, ihre Aussagen kommentiert und beurteilt, ihr
nicht-verbales Verhalten (Gestik, Mimik) beschreibt und die situativen Umstände
der Auseinandersetzung beleuchtet. 68 Augustinus selbst taucht in De ordine somit
in zweifacher Gestalt auf: Einerseits ist er Akteur auf der Ebene des berichteten
Geschehens, in das er — trotz seiner herausgehobenen Position als Gesprächsfiihrer
— zutiefst verstrickt ist. Andererseits ist er Erzähler, dem das abgeschlossene Gespräch
in Gestalt des schriftlichen Protokolls vor Augen steht, so daß er es einer retrospekti-
ven Deutung unterziehen kann. Der Erzähler ist zugleich auch Leser - aufmerksamer
Leser der Mitschrift. Als Erzähler-Leser gewinnt Augustinus den Uberblick über das
Geschehen, der ihm als Gesprächsteilnehmer fehlt. Durch die narrative Überfor-
mung des Dialogs wird dieses Moment der nachträglichen Reflexion akzentuiert. Sie
dient zugleich auch der Rezeptionssteuerung. Während die platonische Dialogform
auf Seiten des Rezipienten die Illusion zu erzeugen sucht, er wohne dem dargestellten
Gespräch als Augen- und Ohrenzeuge direkt bei, während Piaton also den Leser

Zur szenischen Darstellungsform im Frühwerk Augustins und zur Rolle des Erzählers in De
ordine vgl. B. R. Voss: Der Dialog in der frühchristlichen Literatur. S. 215f., S. 224f. - Vgl.
auch U. Hoffmann: Der Dialog bei den christlichen Schriftstellern der ersten vier Jahrhunderte.
S. 144.
Das Scheitern der Dialektik 351

vergessen machen will, daß er liest,69 bringt die von Augustinus exponierte narrative
Mittelbarkeit dem Rezipienten seine Lektüretätigkeit zu Bewußtsein.
Die narrative Form, in die Augustinus seine Dialogschrift De ordine kleidet, steht
mithin in einer spannungsvollen Beziehung zu dem pädagogischen Programm, das
der Gesprächsführer in seiner Schlußansprache verkündet. Die Form dementiert,
was dem Individuum durch das Programm in Aussicht gestellt wird: die Möglichkeit
nämlich, sein eigenes Denken mit dialektischen Mitteln in den Griff zu bekommen
und sich so der höchsten Wahrheit zu bemächtigen. Augustinus zeichnet in der Figur
des Licentius nicht bloß einen hitzköpfigen jungen Mann, der seine unausgegorenen
Einfalle zum besten gibt. In den sprunghaft und unüberlegt vorgetragenen Ansichten
des Schülers deutet sich vielmehr eine neue Gotteskonzeption an - die Konzeption
eines allmächtigen, unberechenbaren, auf verborgene Weise wirkenden Gottes, der
sich dem Zugriff des Intellekts entzieht, da die ontologisch verbürgte Verwandtschaft
zwischen menschlichem und göttlichem Geist nicht mehr gegeben ist.70 Augustinus
selbst wird sich diese Konzeption später ganz zu eigen machen, sie zum Dogma
erheben und in ihren gnaden- und prädestinationstheologischen Konsequenzen
systematisch zur Entfaltung bringen. In De ordine jedoch ist seine Haltung noch
ambivalent. In der Figur des Licentius und durch die narrative Uberformung des
Gesprächs kommt die neue Gottesvorstellung in Ansätzen zur Geltung. Zugleich
bietet Augustinus aber noch einmal alle Kräfte auf, um sie abzuwehren. Er empfin-
det sie als eine Provokation, die er dadurch aus der Welt zu schaffen versucht, daß
er die Anforderungen an die Pädagogik, die philosophische Selbsttechnologie und
die dialektische Methode rigoros verschärft. Das Skandalon eines unbeherrschbaren
Denkens soll durch die systematische Schulung des Intellekts und die radikale Ver-
innerlichung der Dialektik beseitigt werden.
Daher erteilt Augustinus der Form des erzählten Dialogs in seinem Schlußvortrag
eine Absage, um an ihrer Stelle das Soliloquium zu inthronisieren, das — so jedenfalls
sieht es das optimistische Programm des ordo studiorum vor — der anima bene erudita
die Möglichkeit eröffnet, die Früchte ihrer Bildungsanstrengungen zu ernten und
in den Genuß der beseligenden Wahrheit zu gelangen. In den Soliloquia, die unmit-
telbar nach der Abfassung von De ordine zu Papier gebracht werden, unternimmt
Augustinus den Versuch, dieses mit Aplomb angekündigte Programm in die Praxis
umzusetzen. Es stellt sich somit die Frage, ob er mit dem Vorhaben, die Spontane-
ität des Denkens dialektisch zu bändigen, Erfolg hat. Gelingt es Augustinus, das
disruptive Moment des spontanen Einfalls durch ein methodisch durchgeführtes

69
Vgl. Kapitel III.3 dieser Untersuchung.
70
Vgl. A. Louth: T h e Origins of the Christian Mystical Tradition. S. 76f.: Das Konzil von Nicäa
verhilft der Doktrin der creatio ex nihilo zum Durchbruch und mit ihr der Vorstellung von
einer zwischen Gott und Mensch bestehenden ontologischen Kluft, die durch menschliches
Handeln auf keine Weise überwunden, die vielmehr allein durch göttliches Gnadenwirken,
insbesondere aber durch die Menschwerdung Gottes in Christus überbrückt werden kann.
352 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Selbstgespräch zu eliminieren? Kann sich die antike Selbsttechnologie noch einmal


gegen das christliche Konzept eines unergründlichen, die menschlichen Belange bis
in tiefste Seelenschichten hinein bestimmenden Gottes durchsetzen? Diese Fragen
sollen der folgenden Analyse der Soliloquia die Richtung weisen.

2. Das Soliloquium·. Verbalisierung des Denkens,


Verschriftlichung der inneren Rede

Das Soliloquium u n d seine Vorläufer

Augustinus führt das Soliloquium in der programmatischen Schlußrede von De


ordine als ein neues Erkenntnisinstrument und eine neue Darstellungsform ein, der
im Kontext des individuellen Strebens nach Glück eine Schlüsselrolle zukommt.
Gleichwohl handelt es sich dabei nicht um eine radikale Innovation. Vielmehr setzt
Augustinus eine Tradition der dialogischen Innerlichkeit fort, die bereits in der
Philosophie der Kaiserzeit dominant in Erscheinung tritt, deren Wurzeln aber bis
in die klassische Antike zurückreichen. Einen wichtigen Anknüpfungspunkt bildet
etwa der von Piaton unternommene Versuch, das Denken als ein Selbstgespräch der
Seele zu bestimmen. 71 Allerdings ist das innere Gespräch der Seele nach platonischer
Vorstellung mit einem Makel behaftet. Verglichen mit dem lebendigen Austausch
zwischen Lehrer und Schüler stellt die Selbstbefragung eine unvollkommene, am-
putierte Form der dialogischen Interaktion dar, weshalb die denkende Seele auch
mit einem geschriebenen Buch verglichen wird: Die Rede des Denkenden, die sich
monologisch in sich selbst abschließt, hat etwas von der Totenstarre der Schrift. 72
Die platonische Schriftkritik färbt auf das Selbstgespräch ab.
Auch Augustinus erkennt eine Affinität zwischen dem Selbstgespräch und der
Schrift. Doch im Gegensatz zu Piaton bewertet er sie positiv, ja, er tritt explizit
dafür ein, die Durchführung des Selbstgesprächs an die Tätigkeit des Schreibens zu
koppeln: Das Individuum soll sein eigener Gesprächsprotokollant sein.73 In dieser
Hinsicht steht Augustinus der kaiserzeitlichen Auffassung des Selbstgesprächs sehr
viel näher als der platonischen. Wie Marc Aurel sieht auch der Verfasser der Solilo-
quia die Schrift als ein Instrument an, mit dessen Hilfe das Individuum seine innere
Rede unter Kontrolle zu bringen vermag. Tatsächlich rekurriert Augustinus explizit
auf die stoische Konzeption der assensio: Immer wieder warnt er sich selbst in den

71
Piaton: Theaitetos 189e; Sophistes 263e.
72
Piaton: Philebos 38e—39e. - Vgl. dazu J. Derrida: La double seance. S. 210.
73
Soliloquia 1.1.2. - Die deutsche Ubersetzung der Zitate entnehme ich der Ausgabe Aurelius
Augustinus: Selbstgespräche. Uber die Unsterblichkeit der Seele. Lateinisch und deutsch.
Gestaltung des lateinischen Textes von Harald Fuchs, Einführung, Übertragung, Erläute-
rungen und Anmerkungen von Hanspeter Müller. München und Zürich 1986 (Sammlung
Tusculum).
Das Scheitern der Dialektik 353

Soliloquia davor, den Vorstellungen und Gedanken, die in seiner Seele auftauchen,
voreilig zuzustimmen.74 Das Selbstgespräch und seine Verschriftlichung dienen
der Disziplinierung des eigenen Denkens; sie sollen die Gefahr abwehren, daß das
Individuum seine Einfalle ohne Nachprüfung für wahr hält.
Doch Augustinus geht zugleich auch über die stoische Variante des Selbstge-
sprächs hinaus. Denn zum einen ist das Soliloquium bei ihm nicht bloß eine Technik
der Selbstdisziplinierung, sondern ein Erkenntnisinstrument, welches das Indivi-
duum zur Einsicht in die höchsten Gegenstände (die Seele, Gott) befähigen soll.
Das Soliloquium markiert eine systematisch angelegte, methodische Untersuchung
dieser Gegenstände. Zum anderen hat das augustinische Soliloquium die Form eines
ausgearbeiteten Dialogs: Das Individuum befragt sich selbst und antwortet darauf;
es spaltet sich in zwei personae auf, von denen die eine die Rolle des Lehrers und
Gesprächsführers, die andere diejenige des Schülers übernimmt.
Darin unterscheiden sich die Soliloquia nicht nur von den Aufzeichnungen
Marc Aurels, der sich selbst anredet, aber nicht aus der Perspektive eines alter ego
repliziert, sondern auch von den epistolaren Selbstgesprächen eines Seneca. Im
übrigen besteht bei Augustinus ganz ähnlich wie bei seinem stoischen Vorläufer
eine enge Beziehung zwischen der Briefform und der Form des Soliloquiums.
Ein aufschlußreicher Beleg dafür liegt in Gestalt einer Epistel vor, die der junge
Augustinus an seinen Freund Nebridius adressiert hat. Darin berichtet er, wie er
gewöhnlich mit den Briefen seines Freundes umzugehen pflegt. Er begnügt sich
nämlich nicht damit, den Brief zu lesen. Die lectio geht vielmehr in ein meditatio
über. Vor dem Einschlafen, im Bette liegend, nimmt sich Augustinus das Schreiben
seines Freundes vor: »Legi enim litteras tuas ad lucernam jam coenatus; proxime
erat cubitio, sed non ita etiam dormitio«.75 Er vergegenwärtigt sich den Inhalt und
setzt sich kritisch mit den Ansichten des Absenders auseinander (Nebridius hatte
behauptet, daß es den Sterblichen verwehrt sei, den Zustand der beata vita bereits
in diesem Leben zu erreichen). Diese Auseinandersetzung hat die Form eines
Selbstgesprächs. Augustinus unterhält sich mit Augustinus: »quippe diu mecum
in lecto situs cogitavi, atque has loquelas habui, Augustinus ipse cum Augustino:
Nonne verum est quod Nebridio placet, beatos non esse?«76 In dem Bemühen, die
ganze Tragweite der Äußerungen seines Freundes zu erfassen, steht Augustinus sich
selbst Frage und Antwort. Er greift die Argumente des Nebridius auf, überprüft
sie, überprüft mit ihrer Hilfe aber auch sich selbst. Die Frageform erlaubt es ihm,
sich das Gelesene durch kritische Reflexion zu applizieren. Die physische Distanz,
welche die beiden Freunde voneinander trennt, wird, wie Brian Stock zutreffend

74 Vgl. etwa ebd. 1.29.6, II.5.3, II.27.6, I I . 3 3 . 7 .


75 Aurelius Augustinus: Epistola 3 (Nebridio respondet Augustinus immerito se ab ipso vocari
beatum). In: Sancti Aurelii Augustini, Hipponensis Episcopi, Opera Omnia. Bd. 2. Hg. von
J.-P. Migne. Paris 1 8 6 5 (Patrologia Latina. Bd. 33). S. 6 4 .
76 Ebd.
354 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

bemerkt, in eine innere, psychische Distanz transformiert - Augustinus redet mit


sich selbst wie mit einem anderen. 77 Diese innere Distanz markiert keine Spaltung
des Subjekts, vielmehr bringt sie sein wahres Selbst — seine kritische Vernunft
- allererst zur Geltung. Augustinus verhält sich als Briefleser so, wie Seneca es von
seinem Korrespondenzpartner Lucilius verlangt. Der Brief des anderen ist nur ein
äußerer Anstoß zur Durchführung eines Selbstgesprächs.
In den Soliloquia geht Augustinus aber insofern noch über das Modell Senecas
hinaus, als sich das Selbstgespräch vollkommen aus seinem Bezug auf einen äußeren
Adressaten löst. Die dialektische Struktur wird rückhaltlos verinnerlicht; der äußere
Dialog mit dem anderen dient nicht einmal mehr als Anstoß zur meditatio. Das
Selbstgespräch verdrängt den Dialog und setzt sich als autonome Textform durch.
Doch die Verselbständigung des Soliloquiums bringt zugleich eine Steigerung der
intrapsychischen Distanz mit sich, die schließlich gar die Spaltung des Subjekts zur
Folge hat. Das augustinische Soliloquium — dies soll im folgenden dargelegt werden
- stellt die Autonomie der Vernunft in Frage. Es weist auf eine neue Form von Sub-
jektivität voraus, die mit dialektischen Mitteln nicht zu bändigen ist.
Augustinus greift somit auf bereits existierende Ansätze zur Praxis des philoso-
phischen Selbstgesprächs zurück, doch er unterzieht sie einer derart weitgehenden
Umgestaltung, daß der von ihm erhobene Anspruch gerechtfertigt erscheint, eine
neue Dialogform begründet zu haben. Er verleiht diesem Anspruch zusätzlichen
Nachdruck, indem er ein neues Wort erfindet, um die besondere Spielart des
Selbstgesprächs zu bezeichnen, die er zu etablieren gedenkt. Augustinus hebt her-
vor, daß es sich bei dem Terminus soliloquium um einen Neologismus handelt. 78
Das Soliloquium ist die Rede, die das Individuum für sich allein hält und an sich
selbst richtet. Der erste Bestandteil des Kompositums verweist auf die Situation der
Abgeschiedenheit (solitudo), in die sich derjenige begeben muß, der einen Akt der
inneren Einkehr vollzieht. Der Terminus evoziert somit den Höhepunkt des ordo
studiorum — die Wendung nach innen, die zur Selbsterkenntnis und zur Erkenntnis
Gottes führen soll. Eben dies formuliert Augustinus zu Beginn der Soliloquia als sein
Erkenntnisziel: »Deum et animam scire cupio.«79
Der zweite Teil des Kompositums signalisiert, daß diese Selbsteinkehr an den Ge-
brauch der Sprache geknüpft ist. Der Weg nach innen fuhrt über die Sprache. Das ist
insofern bemerkenswert, als der Akt der Selbsteinkehr ja eigentlich den Eintritt in die
Sphäre rein geistiger, überzeitlicher Wesenheiten markieren soll. Die Sprache aber ist
dem Bereich des Materiellen und des Körperlichen verhaftet, unterliegt also der Tem-
poralität. Es stellt sich daher die Frage, warum Augustinus darauf beharrt, daß die Ein-
sicht in den ewigen, geistigen Einheitsgrund der Dinge durch ein Selbstgespräch^ durch

77
Brian Stock: Augustine the Reader. Meditation, Self-Knowledge, and the Ethics of Interpreta-
tion. Cambridge/MA and London 1996. S. 127f.
78
Soliloquia II. 14.lf.
75
Ebd. 1.7.1.
Das Scheitern der Dialektik 355

einen sprachlichen Vermittlungsprozeß mithin, erlangt werden soll. Fesselt die Sprache
das Individuum nicht an die Außenwelt, die es doch gerade zu überwinden gilt? Wäre
es nicht eher angezeigt, die Bindung des Denkens an die Sprache aufzulösen und eine
sprachlose Form der Kontemplation zu initiieren? Wieso verlangt Augustinus, daß das
Individuum bei seinem Abstieg in die Tiefen der Seele mit sich selbst spricht, anstatt
sich wortlos der Schau der spirituellen Realitäten hinzugeben? Um diese Fragen zu
beantworten, ist es notwendig, einen Seitenblick auf die sprach- und zeichentheoreti-
schen Konzepte zu werfen, die dem Frühwerk Augustins zugrunde liegen.80

Die augustinische Sprach- u n d Zeichentheorie

Augustinus wendet sich in seinen sprachphilosophischen Reflexionen gegen die


verbreitete Meinung, daß die sprachlichen Zeichen dazu da seien, einen Hörer
über einen bestimmten Gegenstand zu belehren.8' Der Kirchenvater verkehrt diese
populäre Ansicht in ihr Gegenteil: Es gibt nichts, so behauptet er, was allein durch
die Sprache gelernt werden kann. 82 Sprachliche Aussagen vermitteln kein Wissen.
Den Wörtern fehlt die eigenständige semantische Kraft; sie vermögen von sich
aus nichts mitzuteilen.83 Um sprachliche Zeichen zu verstehen, muß man das, was
sie bezeichnen, vielmehr bereits kennen. 84 Die sprachliche Äußerung dient somit
einem doppelten Zweck. Zum einen erfüllt sie eine kommemorative Funktion: Sie
vergegenwärtigt dem Individuum Dinge, die es schon weiß. Wird der Hörer hinge-
gen mit sprachlichen Zeichen konfrontiert, deren Bedeutung er noch nicht kennt,
so kommt ihnen eine admonitive Aufgabe zu: »admonent tantum, ut quaeramus
res, non exhibent, ut norimus« — sie fordern uns dazu auf, daß wir nach den noch
unbekannten Sachen suchen, sie bewirken aber nicht, daß wir sie auch einsehen.85
Erkenntnis entsteht allein durch die unmittelbare Schau der Dinge - durch sinnli-

80
Eine systematische Darlegung seiner Sprachtheorie bietet Augustinus in seiner Dialogschrift
De magistro aus dem Jahre 396. — Zu den semiotischen und sprachtheoretischen Vorstellungen
Augustins vgl. R. A. Markus: St. Augustine on Signs. In: Phronesis 2 (1957). S. 60-83; Ulrich
Duchrow: »Signum« und »superbia« beim jungen Augustin (386—390). In: Recherches augus-
tiniennes 7 (1961). S. 369-372; ders.: Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin.
Tübingen 1965; Marcia L. Colish: The Mirror of Language. A Study in the Medieval Theory
of Knowledge. New Haven and London 1968. S. 19-80; Cornelius P. Mayer: Die Zeichen
in der geistigen Entwicklung und in der Theologie des jungen Augustinus. Bd. 1. Würzburg
1969. Bd. 2: Die antimanichäische Epoche. Würzburg 1974; Tilman Borsche: Macht und
Ohnmacht der Wörter. Bemerkungen zu Augustins »De magistro«. In: Sprachphilosophie in
Antike und Mittelalter. Hg. von Burkhard Mojsisch. Amsterdam 1986. S. 121-161.
81
De magistro 1.1.
82
Ebd.X.33.
83
Jean-Pierre Schobinger: Augustins Einkehr als Wirkung seiner Lektüre. Die admonitio
verborum. In: Esoterik und Exoterik der Philosophie. Beiträge zu Geschichte und Sinn
philosophischer Selbstbestimmung. Hg. von Helmut Holzhey und Walther Ch. Zimmerli.
Basel und Stuttgart 1977. S. 70-100, hier: S. 70f.
8
" De magistro XI.36.
85
Ebd.
356 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

che Wahrnehmung, wenn es sich um materielle Gegenstände handelt, oder durch


geistiges Erfassen, wenn es um intelligible Objekte geht. Im Falle der letzteren - und
auf diese kommt es Augustinus überhaupt nur an - hat die admonitive Wirkung
des Sprachzeichens eine besondere Form. Da die intelligiblen Dinge nur im Inneren
geschaut werden können, stellt das sprachliche Zeichen eine admonitio zur Selbst-
einkehr dar. Es fordert das Individuum dazu auf, sich seinem Inneren zuzuwenden,
wo die Wahrheit selbst sich unvermittelt kundgibt.86
Im Kontrast etwa zur stoischen Zeichentheorie scheint Augustinus folglich eine
dezidiert sprachfeindliche Auffassung zu vertreten. Er betont die Kluft zwischen dem
Zeichen und seiner Bedeutung.87 Die Ebene der Signifikate besitzt in seinen Augen
eine unbezweifelbare Autonomie; ihnen kommt ein absoluter noetischer Primat ge-
genüber den Signifikanten zu.88 Die Selbsteinkehr scheint unter dieser Voraussetzung
nur als stumme Kontemplation, als Abkehr von der Sprache möglich zu sein. Die
kontemplative Hinwendung zu einer zeichenlos mit sich selbst identischen Wahr-
heit ist offenkundig mit der Vorstellung des Soliloquiums nicht vereinbar, bei dem
die denkende Seele von sprachlichen Zeichen Gebrauch macht. Das Individuum
- diese Konsequenz drängt sich auf - darf nicht sprechen, um Einsicht in die innere
Wahrheit zu gewinnen.
Es wäre jedoch voreilig, einen solchen Schluß zu ziehen.89 Augustinus huldigt in
seiner Sprachphilosophie zwar einem platonischen Logozentrismus, aber er bringt
zugleich auch ein Gegengewicht zur Geltung. Während er auf der einen Seite be-
hauptet, daß durch sprachliche Zeichen allein nichts gelernt werden könne, stellt
er auf der anderen Seite fest, daß ein Lernen ganz ohne Zeichen dem Menschen
nicht möglich sei. Der Mensch bedarf der admonitio durch äußerliche Zeichen, um
Einsicht in spirituelle Wahrheiten zu erlangen. Diese Abhängigkeit vom Zeichen ist
ein Indiz für die Schwäche und Begrenztheit des menschlichen Geistes, die auf den
biblischen Sündenfall zurückzuführen ist.90 In seinem frühen Genesis-Kommentar
deutet Augustinus den Sündenfall als den durch Hochmut verschuldeten Sturz des
Menschen aus der Sphäre unmittelbarer Erkenntnis und vollkommener Transparenz
der Seelen in eine Welt, in welcher der Zugang zum Wissen und zu den Seelen der
Mitmenschen nur über Zeichen erfolgen kann.91 Dieser Sturz impliziert zugleich

86 Ebd. XI.38, XII.40.


87 Zur Differenz zwischen der stoischen und der augustinischen Zeichenkonzeption vgl. U.
Duchrow: Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin. S. 59.
88 J.-P. Schobinger: Augustins Einkehr als Wirkung seiner Lektüre. S. 71.
89 In der Augustinus-Forschung wird eben dieser Fehler häufig begangen. Vgl. etwa K. Flasch:
Augustin. Einführung in sein Denken. S. 125: Augustins Sprachphilosophie »läßt jedes
menschliche Reden als im Prinzip entbehrlich erscheinen.« Zur Kritik an dieser einseitigen
Sichtweise siehe T. Borsche: Macht und Ohnmacht der Wörter. S. 148.
90 T. Borsche, Macht und Ohnmacht der Wörter. S. 148.
91 Vgl. Augustinus: De Genesi contra Manichaeos 11.32. — Vgl. hierzu U. Duchrow: »Signum«
und »superbia« beim jungen Augustin. S. 370f.; P. Brown: Augustine of Hippo. S. 261f.
Das Scheitern der Dialektik 357

den Verlust der spirituellen Autonomie. Denn der Geist des postlapsarischen Men-
schen ist aus eigener Kraft nicht mehr dazu fähig, sich den intelligiblen Dingen
zuzuwenden. Er benötigt einen äußeren Anstoß, der ihn daraufhinfuhrt. Eben diese
Funktion erfüllt das sprachliche Zeichen. Es lenkt die Aufmerksamkeit der Seele auf
die geistige Sache, die es repräsentiert: »auditis verbis ad ea feratur animus, quorum
ista sunt signa.«92
Das sprachliche Zeichen supplementiert den Mangel an geistiger Kraft, der die
Seele des gefallenen Menschen charakterisiert. Augustinus veranschaulicht die Un-
abdingbarkeit des Zeichens für die Aktivität der geistigen Sammlung am Beispiel
des Betens.93 Es scheint zunächst so, als könne der Betende das Hilfsmittel der Spra-
che entbehren. Da Gott im inneren Menschen, in der Abgeschiedenheit der Seele
wohnt (»in ipsis rationalis animae secretis«), nimmt er die intimsten Wünsche des
Individuums unmittelbar an ihrer Quelle wahr. Er liest sozusagen in seinem Herzen.
Es besteht für den Menschen daher keine Notwendigkeit, sich Gott mit tönenden
Worten (»sonantibus verbis«) mitzuteilen. Vielmehr scheint das Gebet seinen Zweck
zu erfüllen, wenn das Individuum sich in einem wortlosen Akt der Zuwendung ganz
auf die innere Präsenz Gottes konzentriert. Dem widerspricht jedoch die Tatsache,
daß Christus seinen Jüngern, als er sie das Beten lehrte, ganz bestimmte Worte
beibrachte (»verba quaedam docuit«).94 Zwar verweist Christus durch diese Worte
auf die geistigen Sachen, an die man beim Beten denken soll. Das heißt aber nicht,
daß das Beten eine reine, sprachlose Kontemplation der res darstellt. Im Gegenteil,
auch wenn wir beim Beten keinen Laut ertönen lassen, sollen wir innerlich sprechen
(»intus apud animum loqui«). Wir denken dabei jene bestimmten Wörter (»ipsa
verba cogitamus«) und vergegenwärtigen uns auf diese Weise die bezeichneten
Sachen. Das Gedächtnis wiederholt die Wörter, die ihm einwohnen (»cui verba
inhaerent«), und läßt dadurch die Sachen selbst in den Geist treten (»facit venire in
mentem res ipsas«).95
Das Beten ist also weder eine äußere, hörbare Verlautbarung der an Gott ge-
richteten Wünsche, noch eine rein spirituelle, wortlose Kontemplation. Augustinus
konzipiert das Gebet vielmehr als ein inneres Sprechen, ein Selbstgespräch, das sich
der Wörter bedient, um die Aufmerksamkeit der Seele auf die Sachen zu richten.
Die Seele denkt nicht unmittelbar die res, sondern sie denkt die Wörter, die sie auf
die Sachen leiten. Ohne die Vermittlung der Wörter kommt das Denken nicht an
die geistigen Realitäten heran. Ihm fehlt die Kraft, sich ohne äußeres Hilfsmittel auf
die Sachen zu konzentrieren und sie im Geist zusammenzuführen.
Diese postlapsarische Schwäche hat Auswirkungen auf die Funktionsweise des
menschlichen Gedächtnisses. Die memoria weist laut Augustinus eine Schichten-

92 De magistro VIII.22.
53 Ebd. 1.2.
94 Ebd. - Vgl. Mt. 6.9ff., Lk. 11,2ff.
95 De magistro 1.2.
358 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

struktur auf. Die Wörter sind dem menschlichen Individuum sehr viel leichter
zur Hand als die Sachen. Das Wortgedächtnis bildet mithin die obere Schicht der
memoria. Augustinus verwendet in diesem Zusammenhang die Bezeichnung inhae-
rere\ Die sinnlichen Wörter >inhärieren< dem Gedächtnis, sind ihm fest verhaftet,
während die geistigen Sachen rasch in tiefere Schichten der Seele absinken und sich
dort zerstreuen.96 Diese innere Zerstreuung der res ist ein deutliches Symptom fur die
Korruption der gefallenen menschlichen Seele. Die Seele ist unfähig, die Fülle der in
ihr enthaltenen res zu überschauen. Anders als Gott vermag sie die Totalität der intel-
ligiblen Dinge nicht simultan, sondern nur im zeitlichen Modus des Nacheinander
zu erfassen. Um Ordnung und Struktur in dieses Nacheinander zu bringen, muß
sich die Seele sprachlicher Zeichen bedienen. Sie kann ihre Aufmerksamkeit nicht
willkürlich auf beliebige Sachen richten. Dazu ist vielmehr eine admonitio erforder-
lich, die den Blick gezielt auf spezifische res lenkt. Es bedarf beim Beten also keiner
»tönenden Worte«, denn es soll ja nichts nach außen mitgeteilt werden. Wohl aber
ist es notwendig, das Gebet in Gestalt einer inneren Rede zu verbalisieren, denn ohne
Wörter kann sich das Individuum nicht sammeln, kann es keinen Zusammenhang
in sein Denken bringen, verliert es sich an die Fülle der Gedanken, die seine memoria
in undurchdringlicher Tiefe bar jeder Ordnung bevölkern.
Augustins Zeichenkonzeption hat ein ambivalentes Ansehen. Einerseits behaup-
tet er, daß der Mensch nur mit Hilfe sprachlicher Zeichen Zugang zur Welt der
intelligiblen Dinge gewinnen kann. Andererseits beharrt er aber darauf, daß die
Dinge gegenüber den Zeichen vollkommen autonom sind. Er verlangt daher von
den Zeichen, daß sie sich den bezeichneten Sachen subordinieren, ja, daß sie sich
ihnen gegenüber zum Verschwinden bringen. Augustinus dekretiert die Selbstaus-
löschung der Zeichen als ein semiotisches Naturgesetz. Seiner Ansicht nach existiert
eine Regel, die von Natur aus (»naturaliter«) uneingeschränkte Geltung besitzt:
»auditis signis ad res significatas feratur intentio« - wenn die Zeichen vernommen
sind, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Sachen selbst.97 Die Zeichen können
die Dinge demnach nicht ersetzen oder re-präsentieren. Sie bilden die Sachen nicht
ab, sind ihnen also in keiner Weise ähnlich. 98 Ihre Funktion erschöpft sich vielmehr
darin, den geistigen Blick des Individuums auf die res hinzulenken, die unmittelbar
präsent ist. Sie richten seine Aufmerksamkeit auf die Sache, indem sie ihre eigene

96
Die Zerstreuung der res in der memoria beschreibt Augustinus im zehnten Buch der Confes-
siones. Das r«-Gedächtnis ist unübersehbar und chaotisch. Vgl. hierzu auch Janet Coleman:
Ancient and Medieval Memories. Studies in the Reconstruction of the Past. Cambridge 1992.
S. 90.
97
De magistro VIII.24.
98
In dieser Beziehung setzt sich Augustinus deutlich von der platonischen Konzeption des
Sprachzeichens ab, wie sie im Kratylos präsentiert wird. Laut Piaton steht das Sprachzeichen
in einer mimetischen Beziehung zur bezeichneten Sache. Das augustinische Sprachzeichen
entspricht vielmehr dem platonischen Schriftzeichen, dem die Fähigkeit zur Vergegenwärtigung
der Wahrheit ja ebenfalls abgesprochen wird.
Das Scheitern der Dialektik 359

Präsenz reduzieren. Unter dieser Voraussetzung liegt es nahe, die menschliche Stim-
me als das >natürliche< Medium sprachlicher Signifilcation anzusehen: Das Zeichen,
das in Form artikulierter Laute dargeboten wird, löst sich, kaum ist es ausgesprochen,
wieder in nichts a u f . "
Interessanterweise macht sich Augustinus jedoch nicht zum Fürsprecher eines
derartigen Phonozentrismus. Einerseits sollen die Zeichen zwar ganz gegenüber der
bezeichneten Sache zurücktreten. Andererseits sollen sie aber eine beständige Form
besitzen, denn nur als feste Bestandteile der memoria bieten sie dem Individuum die
Möglichkeit, einen kontrollierten Zugriff auf die Sachen zu gewinnen; nur als fixe
Gedächtniszeichen können sie die Unbeständigkeit der menschlichen Aufmerksam-
keit kompensieren. Daher ist es nicht das gesprochene Wort, das von Augustinus
als Prototyp des Zeichens instituiert wird. Modellcharakter besitzt für ihn vielmehr
die deiktische Geste. Die sprachliche Äußerung funktioniert demzufolge wie der
Zeigefinger, der den Blick des Betrachters auf eine bestimmte Sache lenkt. Augus-
tinus führt ein Beispiel aus der Bibel an, um den von ihm postulierten deiktischen
Charakter des Sprachzeichens zu veranschaulichen. In der von Augustin verwendeten
lateinischen Übersetzung des Buches Daniel findet sich das rätselhafte Wort saraba-
ra}00 Es handelt sich dabei um die Transkription eines hebräischen Ausdrucks, den
Augustinus als Bezeichnung für eine spezifische Form der Kopfbedeckung deutet. 101
Wer diesen Ausdruck nicht kennt und ihn zum ersten Mal hört oder liest, wird, so
behauptet er, nicht in Erfahrung bringen, was für eine Sache sich dahinter verbirgt.
Wenn sich das gemeinte Objekt jedoch in meiner Gegenwart befindet und jemand
ruft: »Ecce sarabarae«, dann lerne ich die Sache, und zwar nicht durch die Wörter
allein, sondern dadurch, daß ich die Sache sehe, aber auch nicht durch das Sehen
allein, sondern dadurch, daß ich den Wörtern Glauben schenke, um aufzumerken
(»ut adtenderem«), das heißt: um mit dem Blick zu suchen, was ich sehen soll (»ut
aspectu quaererem, quid viderem«). 102
Die Wörter bewirken mithin ein Aufmerken. Sie haben zur Folge, daß der
Geist sich aus der Zerstreuung sammelt und etwas Bestimmtes anvisiert. D a s

59 Die Selbstauslöschung des sprachlichen Zeichens ist ein wesentliches Merkmal des Phonozen-
trismus. Vgl. Jacques Derrida: La voix et le phenomene. Introduction au probleme du signe
dans la phenomenologie de Husserl. Paris 1967. S. 86: »La >transcendance apparente« [...] de la
voix tient ä ce que le signifie, qui est toujours d'essence ideale, [...] est immediacement presente
a l'acte d'expression. Cette presence immediate tient a ce que le >corpsi phenomenologique
du signifiant semble s'efFacer dans le moment meme ou il est produit. II semble appartenir
d'ores et dejä ä l'element de l'idealit^.«
100 Die von Augustin verwendete Übersetzung lehnt sich wahrscheinlich an die Septuaginta an,
die die Lesart sarabara aufweist. Die Vulgata bietet die leicht modifizierte Form saraballa.
101 Vgl. Dan. 3.94. — Die Bedeutung des Ausdrucks sarabara ist in der patristischen Literatur
umstritten: Einige sehen darin den Namen für eine Kopf-, andere die Bezeichnung für eine
Fußbedeckung. Vgl. die diesbezügliche »note complementaire« von F. J. Thonnard in: CEuvres
de Saint Augustin. Vol. 6: Dialogues philosophiques III. Texte, traduction et notes par F. J.
Thonnard. Bruges et Paris 2 1952 (Biblioth£que Augustinienne). S. 486f.
102 De magistro X.35.
360 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Wort ecce ist das sprachliche Äquivalent für das weisende Ausstrecken des Fingers.
Dieses deiktische Zeichen repräsentiert keine Sache, es ist eher ein Zeichen für den
Verweisungsvorgang selbst (»ipsius demonstrationis signum«). 103 Das Wort ecce ist
eine reine Anzeige. Es sagt nichts über die Sache aus, auf die es verweist, tastet den
autonomen Status des Signifikats also in keiner Weise an. Charakteristisch für Au-
gustins Zeichenkonzeption ist aber nun, daß er die deiktische Funktion des Wortes
ecce auf das Nomen sarabara überträgt. Auch der Name, der die Sache bezeichnet,
ist in seinen Augen nichts anderes als ein Zeigen, das den Blick des Hörers auf die
Sache lenkt. Auch das Nomen, das in der antiken Sprachphilosophie gemeinhin als
der basale Bedeutungsträger angesehen wird, 104 funktioniert laut Augustinus wie
ein Zeigefinger: Der Name ist eine schiere Deixis, eine bloße admonitio, welche die
Präsenz der res ipsa in keiner Weise zu ersetzen vermag, sondern in ihrer Wirkung
darauf beschränkt ist, den Geist des Hörers zur konzentrierten Wahrnehmung der
Sache zu veranlassen. Augustinus verficht in seinem Frühwerk eine Theorie des
deiktischen Sprachzeichens.

Verbalisierung, Dialogisierung u n d Verschriftlichung


der inneren Rede

Der Seitenblick auf die frühe Sprachphilosophie Augustins macht sichtbar, warum
der Kirchenvater so großen Wert darauf legt, daß die innere Einkehr, die zur Selbst-
und Gotteserkenntnis fuhren soll, an den Gebrauch der Rede gekoppelt wird. Die
durch den Sündenfall bedingte Schwäche des menschlichen Geistes wirkt sich da-
hingehend aus, daß das Individuum sein eigenes Denken nicht in der Gewalt hat.
Nicht nur in der Außenwelt, die das Eine in das räumliche Neben- und zeitliche
Nacheinander einer unübersehbaren Vielfalt sinnlicher Erscheinungen auseinander-
legt, sondern auch im Inneren des Subjekts droht die Gefahr der Dispersion: Die
memoria ist ein Ort der Zerstreuung, an dem die geistigen res in ungeordneter und
verborgener Fülle darauf warten, an das Licht bewußter geistiger Wahrnehmung
geholt zu werden. Laut Augustinus vermag sich das Individuum allein mit Hilfe
der sprachlichen Zeichen aus dieser Zerstreuung zu sammeln. Die Sprache erlaubt
es ihm, seinen mentalen Blick gezielt auf bestimmte Gegenstände zu richten. Mit-
tels der Sprachzeichen kann es Ordnung und Zusammenhang in seine Gedanken
bringen. Um zu gewährleisten, daß die Einsicht in das Wahre kein Zufallsprodukt,
sondern das Resultat eines kontrollierten, methodisch vollzogenen Erkenntnispro-
zesses ist, muß das Individuum von der Sprache Gebrauch machen.
Daher konzipiert Augustinus die Selbsteinkehr als Selbstgespräch, als Soliloqui-
um. Bezeichnenderweise stellen die Eingebungen, die seinem Schüler Licentius in
De ordine zuteil werden, eine sprachlose Form der Erkenntnis dar. Mehrfach beklagt

103 Ebd. X.34.


104 T. Borsche: Macht und Ohnmacht der Wörter. S. 127f.
Das Scheitern der Dialektik 361

sich der junge Mann darüber, daß er das, was er innerlich geschaut hat, nicht adäquat
in Worte zu fassen vermag.105 Weil seine Einfalle nicht-verbal sind, entziehen sie sich
seiner Kontrolle: Sie sind unwillkürlich, sie treten plötzlich und unerwartet auf,
sie reißen das Subjekt mit sich (er ist ein »correptus«). Licentius gewinnt blitzartig
Einsicht in die Ordnung der Dinge, doch diese überwältigende Schau des Ganzen
ist diffus. Er erahnt die Zusammenhänge eher, als daß er sie durchschaut; er begreift
nicht wirklich, was er da sieht. Nach Ansicht seines Lehrers stellt Licentius den ordo
studiorum somit auf den Kopf. Auch Augustinus arbeitet ja daraufhin, eine Einsicht
in den ordo rerum zu erlangen, die alle Vermittlungsinstanzen hinter sich läßt: Der
Erkennende soll schließlich mit der göttlichen Wahrheit eins werden. Doch diese
Schau steht ganz am Ende eines mühsamen Weges der Erkenntnis, auf dem sich das
Individuum der Sprache bedienen muß, um zielgerichtet fortschreiten zu können.
Demjenigen, der diesen Weg geht, verheißt Augustinus den festen Besitz der Wahr-
heit, wohingegen der intuitiv verfahrende Charismatiker, wie Licentius ihn darstellt,
von der Wahrheit besessen wird, anstatt sie sich zu eigen zu machen.
Eine solche charismatische Unmittelbarkeit ist nach Ansicht Augustins mit
großen Risiken behaftet. Der Charismatiker neigt dazu, seine Einfalle ohne weiteres
Nachprüfen für wahr zu halten, so daß dem Irrtum und der Häresie Tür und Tor ge-
öffnet sind. Zudem ist er der Versuchung der superbia ausgesetzt. Leicht kann er dem
Wahn erliegen, über einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu verfugen. Aufgrund
dieses vermeintlichen Privilegs glaubt er dann, von den intellektuellen Mühen der
Wahrheitssuche befreit zu sein, die der Mensch durch den Sündenfall auf sich geladen
hat. Hochmut, der mit Trägheit gepaart ist: Laut Augustinus macht diese Kombination
dem Individuum den ruhigen, sicheren Besitz der Wahrheit so gut wie unmöglich.
Um derartige Gefahren abzuwehren, genügt es allerdings nicht, die Gedanken
zu verbalisieren, die sich während der kontemplativen Einkehr einstellen. Das
Individuum soll nicht bloß innerlich reden. Augustinus verlangt vielmehr, daß es
eine regelrechte Auseinandersetzung mit sich selbst führt, bei der es zugleich als
Fragender und als Antwortender agiert. Das Soliloquium ist kein innerer Mono-
log, sondern ein innerer Dialog. Augustinus hält den Gebrauch der Frageform im
Selbstgespräch deshalb für notwendig, weil man, wie er meint, mit ihrer Hilfe am
besten nach der Wahrheit forschen kann — »cum enim neque melius quaeri Veritas
possit quam interrogando et respondendo«.106 Indem das Individuum sich selbst als
Fragender gegenübertritt, zwingt es sich zum einen dazu, seine Gedanken kritisch
zu überprüfen: Es stellt sein Denken — ganz wörtlich — in Frage und beugt somit
dem Irrtum vor. Zum anderen hat die Frageform die Funktion, komplexe Zusam-
menhänge in überschaubare Teilaspekte zu unterteilen.107 An die Stelle der diffusen

105 De ordine 1.7.18,11.7.20.


106 Soliloquia II.14.2.
107 Zu dieser Funktion der Frageform vgl. De magistro XII.40.
362 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Wahrnehmung des Ganzen, die dem Charismatiker in einem kurzen Moment der
Eingebung geschenkt wird, soll die sukzessive, durch Fragen angeleitete Analyse
partieller Gesichtspunkte treten, die erst am Schluß des Erkenntniswegs wieder zu
einem Ganzen zusammengefügt werden. Von der Erkenntnis der Teile schreitet das
Individuum zur Erkenntnis des Ganzen fort, wobei es sich - ermöglicht durch die
>bremsende< Wirkung der Frageform — die Verpflichtung auferlegt, die jeweils näch-
ste Stufe immer erst dann zu erklimmen, wenn es in der Erkenntnis der vorherigen
unbezweifelbare Gewißheit gewonnen hat.108
Diese Vorteile der Frageform, so behauptet Augustinus, können nur im Selbst-
gespräch richtig zur Geltung kommen. Wie er aus leidvoller Erfahrung im Umgang
mit seinen Schülern weiß, wird das Individuum im Gespräch mit anderen durch
die Scham daran gehindert, seine eigenen Vorstellungen in Frage zu stellen, Fehler
einzugestehen und Selbstkorrekturen vorzunehmen. 109 Im Selbstgespräch hingegen
besteht keinerlei Veranlassung für Schamgefühle. Das Individuum steht nicht unter
fremder, sondern nur unter seiner eigenen Beobachtung; es kann daher ohne Scheu
auf bereits geäußerte Gedanken zurückkommen (»redire«), um sie zu relativieren,
zu präzisieren oder gar ganz zu verwerfen.110 Augustinus verleiht dieser kritischen
Distanz zu sich selbst in der Darstellungsform des Soliloquiums dadurch eine struk-
turelle Basis, daß er sich in zwei verschiedene Figuren aufspaltet: einen Fragenden
und einen Antwortenden, eine Lehrer- und eine Schülerinstanz. Letztere trägt den
Namen »Augustinus«. Sie zeichnet sich durch ihren unbändigen Erkenntnisdrang,
ihre unstillbare Sehnsucht nach der Vereinigung mit dem göttlichen Einen aus.
Erstere wird als »Ratio« tituliert. Mit Hilfe der Fragetechnik bemüht sie sich dar-
um, das Wahrheitsbegehren des Schülers zu zügeln, es in die richtigen Bahnen zu
lenken und ein übereiltes Fortschreiten auf dem Weg zur Erkenntnis zu vermeiden.
Indem Augustinus sein Vernunftvermögen objektiviert und als allegorische persona
von sich ablöst, nötigt er sich selbst zu größerer >Objektivität< im Denken, zu einer
>sachlichen<, sachorientierten und sachgerechten Vorgehensweise. Das künstliche
Arrangement des Gesprächs mit der Vernunft dient der Disziplinierung des Erkennt-
nisbegehrens - jener Wahrheitsliebe also, ohne die das Ziel der Schau des Einen nicht
realisiert werden kann, die aber in exzessiver, ungebändigter Form unweigerlich dazu
fuhrt, das Erkenntnisziel zu verfehlen.111
Augustinus knüpft die Dialogisierung der inneren Rede und die dadurch beding-
te Aufspaltung des Selbst an den Gebrauch des Mediums Schrift. Gleich zu Beginn
der Soliloquia wird auf die Notwendigkeit verwiesen, die Erörterung schriftlich

108
Diese Verfahrensweise ist kennzeichnend für alle nicht-szenischen Dialogschriften Augustins.
In De quantitate animi ist sie besonders deutlich ausgeprägt. Vgl. B. R. Voss: Der Dialog in
der frühchristlichen Literatur. S. 258f.
109
Soliloquia II. 14.2.
110
Ebd.
111
Zur Liebe als Voraussetzung der Wahrheitserkenntnis vgl. ebd. 1.12.7, I.22f.
Das Scheitern der Dialektik 363

festzuhalten. Allerdings hält es Augustinus diesmal für angebracht, auf die Dienste
eines Schreibers zu verzichten. Was im Soliloquium zur Sprache kommt, soll nicht
durch einen anderen protokolliert werden: »nec ista dictari debent; nam solitudinem
meram desiderant.« 112 Die Anwesenheit eines Schreibers zerstört die Einsamkeit,
die für die innere Einkehr erforderlich ist. Als Repräsentant der Außenwelt leistet
der Protokollant der Entstehung eben jener Schamgefühle Vorschub, die durch die
Form des Soliloquiums eliminiert werden sollen." 3 Daher bleibt dem Soliloquisten
nur eine Möglichkeit offen: Er muß das Amt des Protokollführers selbst überneh-
men und das innere Gespräch eigenhändig zu Papier bringen. Von der Mitschrift
des Gesprächs ganz abzusehen und sich allein auf das Gedächtnis zu verlassen, gilt
Augustinus nicht als akzeptable Alternative.114 Vielmehr legt er großen Wert darauf,
daß der Soliloquist sich das, was er mit sich selbst erörtert, zugleich in geschriebener
Form vor Augen stellt. Indem er seine Rede mittels der Schrift fixiert und objekti-
viert, verschafft er sich die Möglichkeit, jederzeit wieder darauf zurückzukommen
(redire), sie distanziert wie von außen zu betrachten und auf Schwachpunkte hin
zu untersuchen. Mehrfach wird »Augustinus« in den Soliloquia durch die »Ratio«
dazu aufgefordert, den bisherigen Gang der Erörterung und die dabei verwendeten
Argumente noch einmal gründlich zu überdenken. 115 »Augustinus« kann dabei aber
nur deshalb mit der gewünschten Strenge verfahren, weil das Gespräch in geschrie-
bener Form vorliegt: Das redire stellt eine Selbstlektüre dar. Als kritischer Leser des
Gesprächsprotokolls wechselt »Augustinus« in die Position der »Ratio« über. Diese
Möglichkeit ist in jedem Moment des Soliloquiums gegeben: Da die Erörterung
mitgeschrieben wird, kann der Soliloquist, wann immer er will, aus dem aktuellen
Vollzug des Denkens heraustreten und sich dem Gedachten aus der distanzierten
Position des nach-denkenden Lesers zuwenden. Das schriftliche Protokoll ermöglicht
es »Augustinus«, jederzeit den Standpunkt der »Ratio« einzunehmen.
Die Aufspaltung des Selbst in zwei verschiedene Sprecherinstanzen ist folg-
lich durch die Schriftform des Soliloquiums mitbedingt. Doch nicht nur das der
Sicherung des Wissens dienende redire, auch das auf den Erwerb neuen Wissens
zielende progredire wird durch den Gebrauch der Schrift ermöglicht. Die »Ratio«
verlangt von »Augustinus«, daß er selbst schreibt, damit er in seinem Denken zu
Neuem fortschreiten kann: »ut pergas ad alia«.116 Wer sich nur auf seine memoria
verläßt, verwendet einen Großteil seiner geistigen Energie darauf, das Erreichte zu
bewahren. Er klammert sich an das bereits Gedachte fest, identifiziert sich mit den

112
Ebd. 1.1.2.
113
Aus ähnlichen Gründen rät Quintilian dem Redner davon ab, bei der Komposition seinerTexte
auf Schreiberdienste zurückzugreifen. Vielmehr soll er seine Entwürfe selbst niederschreiben
und dabei ausgiebig von der Möglichkeit Gebrauch machen, seine Entwürfe zu korrigieren.
Vgl. dazu Kapitel V.3 dieser Untersuchung.
114
Soliloquia 1.1.2.
115
Vgl. etwa ebd. II.33.7.
1,6
Ebd. 1.1.1.
364 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Ansichten, die er für gesichert hält, anstatt zu anderem überzugehen. Das schrift-
liche Protokoll entlastet den Geist von der Aufgabe des Festhaltens und verschafft
ihm somit eine größere Beweglichkeit."7 Der Effekt, den Augustinus zu erzielen
sucht, indem er das Selbstgespräch an die Selbstverschriftlichung koppelt, ist eine
kontrollierte Dynamisierung des Denkens.118 Das Denken verbalisieren, die innere
Rede dialogisieren, den Dialog mit sich selbst aufschreiben: Das sind die Mittel,
derer sich der Soliloquist bedienen soll, um sich der Wahrheit zu bemächtigen und
die beata vita zu realisieren.

Dialektische Methode vs. disruptive Illumination


Zwar dominiert in den Soliloquia die dramatische Präsentationsform, doch ist dem
eigentlichen Gespräch eine kurze narrative Einleitung vorgeschaltet — eine rudi-
mentäre Rahmenerzählung, die nur einen einzigen Satz umfaßt. Diese Einleitung
erinnert an den Beginn der vorangehenden Dialogschrift De ordine. Hier wie dort
wird am Eingang des Gesprächs ein Individuum vorgeführt, das sich in die Einsam-
keit zurückgezogen hat und mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt ist. Hier wie
dort zeichnet sich dieses Nachdenken allerdings dadurch aus, daß ihm die Stetigkeit
fehlt. Das Individuum wandert von Vorstellung zu Vorstellung, ohne seine Gedan-
ken zu einer kohärenten Folge zu verknüpfen. »Volventi mihi multa ac varia mecum
diu, ac per mukös dies sedulo quaerenti memetipsum« — so beschreibt Augustinus
seine Situation zu Beginn der Soliloquia."9 Er charakterisiert sich selbst somit als
einen Suchenden - als einen Suchenden jedoch, der planlos und unsystematisch
verfährt. Das Vielerlei verschiedener Ideen, die ihm durch den Kopf gehen, ergibt
keinen sinnvollen Zusammenhang. Seine Gedanken sind disparat und verworren.
Augustinus ist unkonzentriert. Nicht die Fülle äußerer, sinnlicher Erscheinungen,
sondern die innere Vielfalt der Ideen zerstreut ihn. In De ordine wird Augustinus
durch einen Zufall - Licentius würde sagen: durch die Einwirkung der Vorsehung

117
Augustinus nimmt somit einen Standpunkt vorweg, der in der neueren Diskussion über den
Gegensatz zwischen Oralität und Schriftlichkeit vertreten wird: Demnach haben orale Kultu-
ren einen konservativen, rückwärtsgewandten Charakter, während der Gebrauch der Schrift
den intellektuellen Fortschritt und die geistige Innovation befördert. Vgl. Ε. A. Havelock:
Preface to Plato. S. 254-305; W. J. Ong: Orality and Literacy. T h e Technologizing of the
Word. S. 41 f.
118
Auch hierin invertiert Augustinus die platonische Schriftkritik. Piaton assoziiert die Schrift
mit der Unbeweglichkeit des Toten. Die Starre der Schrift färbt auf das Selbstgespräch der
denkenden Seele ab, die mit einem Buch verglichen wird: Wie dem Geschriebenen so fehlt auch
der einsamen Seele die Fähigkeit, von sich aus einen lebendigen Erkenntnisprozeß in Gang
zu bringen, der den Denkenden in seiner Einstellung verändert. Dazu bedarf es vielmehr des
Gesprächs mit einem anderen. Augustinus kehrt die Vorzeichen um: Nur das Selbstgespräch,
das sich auf das Hilfsmittel der Schrift stützt, vermag das Individuum aus der paralytischen
Identifikation mit seinen unreflektierten Ansichten zu befreien. Das Gespräch mit anderen
dagegen befördert das schamhafte und starrsinnige Festhalten an der Meinung, die einmal
als die eigene ausgegeben wurde.
1,9
Soliloquia 1.1.1.
Das Scheitern der Dialektik 365

- aus einem ähnlichen Zustand befreit: Ein ungewöhnliches Geräusch lenkt seine
vagabundierenden Vorstellungen in eine bestimmte Richtung und veranlaßt ihn
dazu, sein Denken zu ordnen. In den Soliloquia hingegen scheint Augustinus seinen
planlos umherschweifenden Geist aus eigener Kraft in den Griff zu bekommen. Kein
Freund, der ihn anspricht, kein Buch, das er liest, kein providentiell arrangiertes
Ereignis holt ihn aus der Zerstreuung zurück. Vielmehr ist er es ganz alleine, der
sich - im Wortsinne - zur Räson ruft.
Genauer: Seine Vernunft ruft ihn. Augustins Ratio setzt dem Vagabundieren der
Gedanken ein Ende, indem sie das Wort ergreift. Das Denken gewinnt Kohärenz
und Zielstrebigkeit, sobald es von der Sprache Gebrauch macht. Das erste Wort, das
die »Ratio« gegenüber »Augustinus« äußert, lautet signifikanterweise: »ecce«.120 Um
sich aus der inneren Dispersion zu sammeln, verwendet der Soliloquist also nicht
irgendein Wort, sondern das paradigmatische Wort schlechthin - das Wort, das
in der augustinischen Sprachtheorie für alle anderen Wörter Modell steht. Dieses
Wort dient zunächst einmal der admonitio. Mit seiner Hilfe will die »Ratio« Auf-
merksamkeit erregen. Das ecce erfüllt aber zugleich auch eine deiktische Funktion.
Es ist eine sprachliche Geste des Zeigens. Das ecce sagt nichts Bestimmtes über die
Wirklichkeit aus, sondern lenkt den geistigen Blick des Hörers auf einen Gegen-
stand, der unmittelbar präsent ist. Dieser Gegenstand ist die »Ratio« selbst. Sie gibt
durch ihren Ruf ihre Anwesenheit kund. Das ecce der Vernunft macht »Augustinus«
auf sich selbst aufmerksam — auf das wahre, innere Selbst seines höheren, rationalen
Seelenvermögens. Die »Ratio« zeigt ihm somit, was er zuvor, verloren im Vielerlei
seiner Gedanken, vergeblich suchte. »Augustinus« lernt sich selbst als Vernunftwesen
kennen, sobald er innerlich spricht, anstatt sich vom Strom seiner Gedanken treiben
zu lassen. Die planlose Suche findet in dem Moment ein Ziel, in dem das Denken
sagt, was es denkt. Das ecce, das diese Straffung des Denkens bewirkt, hat keine
äußere Veranlassung. Es scheint einem Akt reiner Selbstaffektion zu entspringen:
Die Vernunft des Soliloquisten entscheidet sich offenbar von sich aus dazu, sich zur
Ordnung zu rufen.
Der Prozeß der inneren Sammlung, der durch die verbale admonitio in Gang
gesetzt wird, findet seine Fortsetzung in einem Gebet. Ehe die »Ratio« sich dazu
anschickt, »Augustinus« einer systematischen Befragung zu unterziehen, fordert sie
ihn dazu auf, Gott für sein Vorhaben um Unterstützung zu bitten: »Ora salutem
et auxilium, quo ad concupita pervenias, et hoc ipsum litteris manda, ut prole tua
fias animosior.« 121 Vor dem Hintergrund der sprachphilosophischen Reflexionen
Augustins erscheint es durchaus folgerichtig, das ecce, das den Soliloquisten aus
der Zerstreuung zurückholt, durch ein Gebet zu ergänzen. In De magistro wird die

120
Ebd.
121
Ebd. 1.1.3. (»Bete um Gesundheit und Hilfe, die dir die Erfüllung deiner Wünsche ermög-
licht, und schreibe auch schon dieses Gebet nieder, auf daß dein Erzeugnis dir neuen Mut
gebe.«).
366 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Redeform des Gebets als das Beispiel par excellence sprachgestützter Kontempla-
tion präsentiert, als ein Muster dafür, wie das menschliche Individuum seine auf
den Sündenfall zurückgehende Geistesschwäche durch den Gebrauch sprachlicher
Zeichen kompensieren kann. Im Gebet erweist der Soliloquist somit nicht nur einer
höheren Macht seine Reverenz. Darüber hinaus bekommt er als Betender ein Gefühl
für seine eigene Macht - die Macht, die er über sich selbst und sein eigenes Denken
gewinnen kann, wenn er seine Gedanken verbalisiert. Das Gebet führt ihm seine
Fähigkeit vor Augen, sich innerlich zu sammeln und seine Vorstellungen auf geistige
Objekte zu konzentrieren. Damit ihm diese Fähigkeit auch tatsächlich bewußt wird,
soll »Augustinus« das Gebet nicht bloß sprechen, sondern zugleich auch aufschrei-
ben. In schriftlicher Form gibt sich das Gebet als Erzeugnis (proles) seiner geistigen
Kraft zu erkennen. Indem er das Gebet als Schriftwerk aus sich herausstellt, gewinnt
»Augustinus« eine Anschauung seines eigenen Geistesvermögens. Auf diese Weise
soll er sich den Mut und die Zuversicht verschaffen, die er für die Umsetzung seines
schwierigen Unterfangens braucht.
Um sicher zu gehen, daß dieser positive Effekt auch wirklich eintritt, läßt es die
»Ratio« nicht allein bei der Aufforderung zum Gebet bewenden. Nachdem »Au-
gustinus« sein Gebet formuliert und niedergeschrieben hat, verlangt die Vernunft
von ihm, daß er das darin Gesagte kurz zusammenfaßt: »Breviter ea collige.«' 22 Das
Gebet, das ein Produkt der inneren Sammlung darstellt, soll also seinerseits auf ein
geistiges Konzentrat reduziert werden. Zu diesem Zweck muß sich »Augustinus«
das Gesagte noch einmal zu Gemüte führen (seine Niederschrift lesen), wobei ihm
seine eigene Fähigkeit zu geistiger collectio gleich zweifach vor Augen tritt: in Gestalt
des Gebets, das er liest, und in Gestalt seiner Lektüretätigkeit, die auf eine noch
intensivere Form der Sammlung abzielt. »Augustinus«, der sich in seinem Gebet an
den Attributen der göttlichen Intelligenz berauscht, wird von der »Ratio« auf seine
persönliche Intelligenz und ihre Syntheseleistungen gestoßen.
Zu Beginn des Gesprächs absolviert der Soliloquist also eine Reihe von Kon-
zentrationsübungen. Sie dienen vor allem dazu, ihn mit seinen eigenen geistigen
Fähigkeiten vertraut zu machen. Im Gebet gewinnt er Klarheit über seine Erkennt-
nisziele und wird sich zugleich der Tatsache bewußt, daß er mit allem Notwendigen
ausgestattet ist, um diese Ziele zu erreichen. Paradoxerweise erzeugt das Gebet
mithin kein Gottvertrauen, sondern Selbstvertrauen - Vertrauen in die Fähigkeit
der Vernunft, sich der Wahrheit zu bemächtigen. In der Selbstansprache (ecce) und
im Gebet versichert sich der Soliloquist seines rationalen Vermögens. Zwar bittet er
um göttliche Hilfe, aber eben dadurch erfährt er, daß und wie er sich selbst zu helfen
vermag. Der Beginn des Soliloquiums steht somit ganz im Zeichen einer autarken
Vernunft. Ohne fremde Hilfe, allein auf Veranlassung seiner Ratio, ruft sich der Soli-
loquist aus der Zerstreuung zurück. Es handelt sich bei der inneren Einkehr offenbar

122 Ebd. 1.7.1.


Das Scheitern der Dialektik 367

um einen autonomen Akt, den das Individuum kraft seines rationalen Vermögens
vollzieht. Die Initiative zur systematischen Erforschung seiner Seele scheint nur von
ihm selbst auszugehen. Kein äußerer Lehrer, sondern der innere Lehrer der Vernunft
fordert ihn dazu auf.123
Dieses optimistische Bild, das der Soliloquist zu Beginn des Gesprächs zu zeich-
nen bemüht ist, wird jedoch durch einige Merkwürdigkeiten getrübt. Sie sind dazu
geeignet, den autonomen Status des Wahrheitssuchenden in Frage stellen. Auffällig
ist zunächst einmal die Plötzlichkeit, mit der sich die Vernunft dem Soliloquisten
offenbart. O h n e jede Vorbereitung unterbricht sie seine Grübelei; vollkommen
unvermittelt (»subito«) beginnt sie zu sprechen.' 24 Diese Sprunghaftigkeit paßt
schlecht zu der Forderung nach Stetigkeit im Denken, die von der Ratio selbst
erhoben wird. Sie ruft zudem beunruhigende Erinnerungen an die spontanen
Einfälle des Licentius wach. Verbunden mit dem Überraschungsmoment ist die
befremdliche Tatsache, daß der Soliloquist anfangs nicht zu erkennen vermag,
wer ihn da überhaupt anspricht. Die Herkunft der Stimme ist ihm unbegreiflich.
Er weiß nicht, ob er selbst oder ein anderer - »sive ego ipse sive alius quis« - das
Wort ergreift. 125 Offenbar ist der Soliloquist nicht dazu in der Lage, seine eigene
Vernunft zu identifizieren. Im ersten Moment wirkt sie auf ihn wie eine fremde
Gewalt, die unvermittelt über ihn hereinbricht. So ist es zwar seine Vernunft, die
aus eigenem Antrieb dafür sorgt, daß die planlose Grübelei beendet und durch eine
systematische Wahrheitssuche ersetzt wird. Doch dieser Antrieb entzieht sich der
Kontrolle des Soliloquisten. »Augustinus« kann nicht darüber bestimmen, wann
seine Ratio zu sprechen beginnt. Seine Vernunft ist autonom, aber diese Autonomie
ist nicht die seinige.
Eine dritte Besonderheit verstärkt den Eindruck des Fremdartigen, den die Ver-
nunft des Soliloquisten zu Beginn des Gesprächs hervorruft. Die Ansichten, die die
»Ratio« hinsichtlich der Erreichbarkeit der zu verfolgenden Erkenntnisziele äußert,
sind nämlich in sich widersprüchlich. Einerseits schärft die Vernunft »Augustinus«
immer wieder ein, daß ihm ein mühsamer Weg bevorsteht, ehe er in den Besitz
der gesuchten Wahrheit gelangen kann. Die erstrebte Einsicht ist demnach nur als
Endresultat einer langwierigen, systematischen Untersuchung denkbar. Wer auf
kürzerem Wege an die Wahrheit zu gelangen sucht, handelt auf gut Glück, liefert
sich also dem Wirken des Zufalls aus: »nam ordine quodam ad eam [sc. veritatem]
pervenire bonae disciplinae officium est,« so erklärt die Vernunft, »sine ordine autem

123
Ähnlich äußert sich Augustinus im Schlußvortrag von De ordine zur Selbsteinkehr der anima
bene erudita. Die Seele, die den ordo studiorum durchlaufen hat, wird durch keine äußeren
Faktoren dazu veranlaßt, sich selbst zum Gegenstand der Betrachtung zu machen; sie folgt
dabei keinen fremden Anweisungen. Vielmehr trifft sie zu einem bestimmten Zeitpunkt von
sich aus die Entscheidung, ihrem eigenen Wesen auf den Grund zu gehen. Vgl. De ordine
11.18.48.
124
Soliloquial.1.1.
125
Ebd.
368 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

vix credibilis felicitatis.«126 Andererseits erweckt die »Ratio« den Eindruck, als sei der
Soliloquist bereits im Besitz der gesuchten Wahrheit. Unmittelbar nachdem dieser
sich als einen planlos Suchenden charakterisiert hat, konfrontiert die Vernunft ihn
mit der folgenden Frage: »fac te invenisse aliquid: cui commendabis, ut pergas ad
alia?«127 Der Gebrauch der Vergangenheitsform macht stutzen. »Augustinus« soll
sich nicht vorstellen, wie er im Laufe einer Untersuchung bestimmte Entdeckungen
macht. Vielmehr soll er annehmen, er habe bereits etwas entdeckt, und es gehe nun
vor allem darum, einen sicheren Aufbewahrungsort für das Entdeckte zu finden.128
Die Wahrheit, die doch auf dem Wege der systematischen Analyse allererst ermittelt
werden soll, ist aus Sicht der »Ratio« in gewisser Weise schon da. Sie insinuiert,
daß sie das Gesuchte bereits kennt. Es drängt sich folglich die Vermutung auf, daß
hinter dem plötzlichen Auftreten der sprechenden Vernunft so etwas wie ein un-
willkürlicher Einfall steckt — eine Eingebung, die dem Soliloquisten blitzartig einen
Vorschein der gesuchten Wahrheit vermittelt. Ein derartiges Vorwissen ermöglicht es
der »Ratio« ja überhaupt, im Gespräch die Führer- und Lehrerrolle zu übernehmen:
Weil die Vernunft das Ergebnis der Untersuchung schon kennt, kann sie »Augusti-
nus« auf sicherem Wege dorthin geleiten.
Der Soliloquist muß mithin ein solches Vorwissen voraussetzen, doch wie er
dieses erlangt hat, verschweigt er. Die Illumination, die der dialektischen Wahr-
heitsermittlung zugrunde liegt, verrät sich gegen seinen Willen — eben durch die
genannten Merkwürdigkeiten: durch das unmotivierte Erscheinen der »Ratio«, ihre
unkontrollierbare Fremdheit, ihr rätselhaftes Mehr-Wissen. Tatsächlich scheint das
ganze Bestreben des Soliloquisten darauf gerichtet zu sein, den unerwarteten Glücks-
fall des illuminativen Fundes zu verbergen, der ihn von seiner planlosen Grübelei
erlöst hat. Er will die Wahrheit, die ihm auf >unordentliche< Weise zuteil wurde,
durch ein >ordentliches<, dialektisches Findeverfahren in Besitz nehmen. Das stren-
gen methodischen Prinzipien gehorchende Soliloquium soll den unwillkürlichen
Ursprung seines Wissens vergessen machen. Der Soliloquist will den glücklichen
Fund mit dialektischen Mitteln nach(er)finden und sich auf diese Weise zum Mei-
ster seines Glücks erheben. Das ganze Selbstgespräch stellt eigentlich nichts anderes
als den Versuch dar, der Kontingenz des Findens post factum eine rationale Form
zu verleihen und sie auf diese Weise zum Verschwinden zu bringen. Nachträglich

126
Ebd. 1.23.6. (»Denn in geordnetem Lehrgang zu ihr [sc. der Wahrheit] zu gelangen, ist das
Werk rechter Wissenschaft, ohne solchen Lehrgang hingegen ist der Erfolg ein kaum glaub-
licher Glücksfall.«).
127
Ebd. 1.1.1.
128
In eine ähnliche Richtung zielt der Ratschlag, den die »Ratio« ihrem Gesprächspartner wenig
später erteilt. Auf die Frage des Soliloquisten, wie er denn bei der Suche nach der Wahrheit
verfahren solle, antwortet die Vernunft: »quod invenis paucis conclusiunculis breviter collige.«
(Ebd. 1.1.3.) »Augustinus« will wissen, wie er die Wahrheit finden kann; die »Ratio« weist ihn
jedoch an, seine Funde in einigen knappen Sätzen zusammenzufassen, setzt mithin voraus,
daß die Wahrheit bereits gefunden wurde.
Das Scheitern der Dialektik 369

legt der Soliloquist die im Nu gewonnene Intuition des Ganzen in eine geordnete
Folge diskreter Erkenntnisschritte auseinander, um es sodann auf synthetischem
Wege - durch die collectio der partiellen Gewißheiten — wiederherzustellen. Das
synthetische Produkt soll die anfängliche Intuition auslöschen: Der Soliloquist de-
klariert dasjenige als Resultat des dialektischen Prozesses, was in Wirklichkeit seinen
kontingenten Ausgangspunkt markiert.
Gelingt es dem Soliloquisten, das disruptive Moment der Eingebung, die das
Gespräch in Gang setzt, mit dialektischen Mitteln zu bändigen? Hat er mit seinem
Vorhaben Erfolg, Anfang und Ende miteinander zu vertauschen, die Initialzündung
der unwillkürlichen Illumination im Resultat eines methodisch disziplinierten Er-
kenntnisprozesses aufgehen zu lassen? Um dieses Ziel zu erreichen, unterwirft sich
der Soliloquist einem rigiden ordo studiorum. Er greift das Konzept des geordneten
Bildungsgangs auf, das in der Schlußrede von De ordine programmatisch vorgestellt
wurde. Der Soliloquist erläutert dieses Konzept zunächst, bevor er sich daran begibt,
es in Form einer systematischen Selbstbefragung in die Tat umzusetzen.129 Der Weg,
der zur Einsicht in die Wahrheit führt, gliedert sich demnach in drei Abschnitte. In
der ersten Phase gilt es sicherzustellen, daß der Wahrheitssuchende über »oculi sani«,
über gesunde Erkenntnisorgane, verfügt. Unter Gesundheit versteht der Soliloquist
die Fähigkeit der Seele, sich aus ihrer Verstrickung in die materielle Welt zu lösen. In
der zweiten Phase bedient sich das Individuum seiner geistigen Augen zum Zwecke
der forschenden Betrachtung (»aspectus«). Diese Phase umfaßt die eigentliche Un-
tersuchung der zu erkennenden res, die zuerst in überschaubare Teilaspekte zerlegt
wird, ehe die in Teilbereichen gewonnenen Einsichten zu einer Totalansicht der in
Frage stehenden Sache synthetisiert werden. Das Resultat dieser Zusammenfassung
ist die »visio« der gesuchten Wahrheit: In der dritten Phase des ordo studiorum soll
das Nacheinander einzelner Erkenntnisschritte der Simultaneität der geistigen Schau
weichen, die das Ganze der Wahrheit unmittelbar erfaßt.
Sanitas, aspectus, visio: Diese drei Stufen muß der Wahrheitssuchende erklimmen,
damit er in den Genuß des Erstrebten gelangen kann. Um die Hindernisse aus
dem Weg zu räumen, mit denen er bei seinem Aufstieg konfrontiert wird, muß er
zudem über Glaube, Liebe und Hoffnung verfügen: über den festen Glauben an die
Wahrheit, die er einstweilen noch nicht sehen kann; über das liebende Verlangen,
das seine Suche antreibt; über die Hoffnung, die ihn an seinem Erfolg nicht zweifeln
läßt. Der Schritt, der vom aspectus zur visio überleitet, markiert mithin den Aufstieg
vom Glauben zum Wissen, von der entfernten Aussicht auf die Wahrheit zu ihrem
sicheren Besitz.
Da sich »Augustinus« der »Ratio« gegenüber dazu bereit erklärt, diesem ordo zu
folgen, dreht sich das Gespräch im ersten Buch der Soliloquia noch nicht um die
Erkenntnis von deus und anima, sondern um das Problem der geistigen Gesundheit.

129 Die folgende Skizze des ordo studiorum stützt sich auf Soliloquia 1.12.1—1.15.5.
370 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Die »Ratio« unterzieht den Wahrheitssuchenden einer Prüfung. Sie will herausfin-
den, ob »Augustinus« über oculi sani verfügt, das heißt: inwieweit sich seine Seele
der materiellen Welt entwöhnt hat und wie groß ihre Fähigkeit ist, sich auf geistige
Objekte zu konzentrieren. 130 Aus diesem Grunde stehen die Sachfragen, die im ersten
Buch erörtert werden, in keinem direkten Zusammenhang mit dem eigentlichen
Thema des Gesprächs. Die Diskussion dient vielmehr zunächst nur der Übung:
Die geistige Sehkraft des Wahrheitssuchenden soll gestärkt, seine seelischen Augen
sollen >gereinigt< werden. Das erste Buch der Soliloquia erfüllt den Zweck, die Seele
auf den Erkenntnisprozeß vorzubereiten. 131 Sie steht im Zeichen der intellektuellen
Askese. Die Wahrheitssuche selbst wird erst im zweiten Buch in Angriff genommen.
Buch II ist dem aspectus, der dialektischen Analyse der geistigen res, gewidmet, die
am Ende in ihrer Totalität geschaut werden soll. Allerdings nimmt der Soliloquist
den Übergang zur zweiten Stufe des ordo studiorum erst einmal zum Anlaß, seine
Erkenntnisziele zurückzustecken. Entgegen seiner Ankündigung geht es ihm nun
nicht mehr gleich darum, Gott und die Seele zu erkennen. Vielmehr will er sich vor-
erst damit begnügen, Einsicht in das Wesen der anima zu erlangen, und auch dabei
hat er nur einen begrenzten Aspekt im Visier: die Frage nach ihrer Unsterblichkeit.
Die »Ratio« unternimmt also in Buch II den Versuch, »Augustinus« die Un-
sterblichkeit der Seele zu demonstrieren. Sie bemüht sich um einen sorgfältigen
Aufbau ihrer Beweisführung. Zunächst will sie zeigen, daß die Wahrheit an sich
keinen zeitlichen Bedingungen unterliegt. Von dieser Einsicht aus soll dann auf die
Unsterblichkeit der Seele geschlossen werden, denn die Wahrheit, die sich durch ihre
Zeitenthobenheit auszeichnet, ist ja in der erkennenden Seele enthalten. Die »Ratio«
bemüht sich, ihre Demonstration in kleine Gedankenschritte aufzugliedern, die sie
in Form von Fragen präsentiert. Immer wieder verlangt sie von »Augustinus«, daß
er keiner ihrer Folgerungen zustimmt, ohne sie zuvor genau geprüft zu haben. Die
vielen, durch sorgfältige Prüfung gesicherten Einzelerkenntnisse sollen sich somit in
seinem Geist zu einer Gesamtansicht der res addieren. Doch der erste Versuch, »Au-
gustinus« von der Unsterblichkeit der Seele zu überzeugen, schlägt fehl. Der Befragte
kann den Schluß, den ihm die »Ratio« nahelegt, nicht nachvollziehen. Er fühlt sich
überrumpelt: »Nimis cito est, inquam. itaque facilius adducor, ut me temere aliquid
concessisse arbitrer quam ut iam securus de immortalitate animae fiam.«132 Offen-
kundig ist die »Ratio« in ihren Bemühungen um Sorgfalt und Gründlichkeit nicht
weit genug gegangen. »Augustinus« wirft ihr jedenfalls vor, die einzelnen Beweis-
schritte zu hastig vollzogen zu haben. Seiner Ansicht nach stellt sich der gewünschte

130 Der Selbstprüfung des Wahrheitssuchenden ist ein großer Teil des ersten Buches gewidmet:
Siehe ebd. 1.16.1-1.22.3.
131 Vgl. B. R. Voss: Der Dialog in der frühchristlichen Literatur. S. 2 3 9 .
132 Soliloquia II.4.3. (»Es ist allzu rasch gegangen, sage ich. Darum fühle ich mich eher geneigt,
zu glauben, ich hätte vorhin unüberlegt etwas zugestanden, als d a ß ich schon beruhigt würde
über die Unsterblichkeit der Seele.«).
Das Scheitern der Dialektik 371

Überblick über das Ganze am Ende deshalb nicht ein, weil ihm auf dem Weg dorthin
die Zeit nicht ausreichte, um die einzelnen Teile zu durchschauen.
Die »Ratio« nimmt sich diesen Vorwurf zu Herzen. Bei ihrem zweiten Versuch,
die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, verfährt sie geruhsamer und holt sehr viel
weiter aus. Sie geht das Problem nun über einen Umweg an, indem sie in einem
ersten Schritt das Verhältnis von Wahrheit und Täuschung erörtert, um sodann den
überzeitlichen Charakter der in der Seele enthaltenen Wahrheit am Beispiel des
dialektischen Wissens darzulegen. Aus dem Erörterten, so behauptet die »Ratio« im
Anschluß an ihre intrikaten Analysen, folge zwingend, daß die Seele unsterblich sei.
Doch »Augustinus« gibt sich mit dieser Auskunft nicht zufrieden. Er verlangt von der
»Ratio«, daß sie ihm nicht nur die durch Analyse gewonnenen partiellen Einsichten
präsentiere, sondern zugleich auch eine Syntheseleistung erbringe. Sie soll die Teile
wieder zu einem Ganzen zusammenfügen:
sed collige iam ipsam summam, oro te; videamus, quo tantis ambagibus pervenerimus. nec
me iam interroges volo. si enim ea breviter enumeraturus es, quae concessi, quonam rursus
responsio mea desideratur? an ut moras gaudiorum mihi frustra inferas, si quid boni forte
confecimus? 133

»Augustinus« wünscht, daß die »Ratio« den bisherigen Verlauf der Erörterung zu-
sammenfaßt. Die collectio soll den logischen Zusammenhang sichtbar machen, der
die einzelnen Beweisschritte miteinander verbindet. Der Soliloquist hofft, daß ihm
auf diese Weise die Möglichkeit eröffnet wird, den ganzen Beweisgang mit einem
geistigen Blick zu erfassen. Dieser totalisierende Blick verheißt beseligende Gewiß-
heit - Freude und Glück gesicherten Wissens. Der aspectus, der aus einer Folge von
kleinen Schritten besteht, soll mittels der verdichtenden >Sammlung< der partiellen
Einsichten in die visio überführt werden, die das Ganze simultan erfaßt.
Das Erkenntnisziel scheint also in greifbarer Nähe zu liegen; der Umschlag
der forschenden Betrachtung in die totalisierende Schau scheint unmittelbar
bevorzustehen. Die »Ratio« kommt der Forderung ihres Gesprächspartners daher
unverzüglich und gerne nach. Sie faßt ihre Demonstration der Unsterblichkeit, die
in ihrer umständlichen Weitschweifigkeit mehr als 35 Druckseiten umfaßt, auf einer
knappen halben Seite zusammen. 134 Die erhoffte Wirkung stellt sich allerdings nicht
ein. »Augustinus« zeigt sich von der Summe, die aus der Erörterung des Unsterb-
lichkeitsproblems gezogen wird, bitter enttäuscht. Die Beweisführung erzeugt in
ihrer konzentrierten Form keine Evidenz, sondern ruft nur wieder Zweifel hervor.
Die collectio offenbart nicht die Wahrheit in ihrer Totalität, sie macht vielmehr

133
Ebd. II.24.2. (»Doch fasse nun bitte das Wesentliche zusammen. Wir wollen sehen, wohin
wir auf diesem weiten Umweg gekommen sind. Und stelle nun keine Fragen mehr. Denn
wenn du selber kurz aufzählen wirst, was ich zugebilligt habe, wozu sollte dann nochmals
meine Antwort erforderlich sein? Etwa damit du mir nutzlos meine Freude verzögerst, wenn
wir vielleicht etwas Gutes erreicht haben?«).
134
Ebd. II.24.3.
372 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Lücken in der Beweiskette sichtbar, so daß »Augustinus« sich dazu genötigt


fühlt, neue Einwände zu erheben, die das Resultat der Demonstration in Frage
stellen. 135 Das Soliloquium ist somit an einem neuralgischen Punkt angelangt. Es
droht zu scheitern. Tatsächlich zieht der Soliloquist die Möglichkeit ernsthaft in
Erwägung, das Gespräch abzubrechen und sich anderswo - in den Schriften der
alten Philosophen oder bei erfahrenen Lehrern - nach stichhaltigen Beweisen für
die Unsterblichkeit der Seele umzusehen. 136 Was ihn jedoch davon abhält, sich um
Unterstützung von außerhalb zu bemühen, ist die fur ihn unerträgliche Vorstellung,
die eigene Seele von einem fremden Willen abhängig zu machen: »turpissimum est
[...] totum ipsum animum ex incerto arbitrio pendere deligatum«. 137 Die Furcht vor
dem Verlust der Autonomie veranlaßt den Soliloquisten dazu, seine Bemühungen
um selbständigen Wissenserwerb doch noch fortzusetzen. Die »Ratio« wird dazu
aufgefordert, einen dritten Anlauf zu unternehmen und dabei ihre Beweisführung
zu verbessern.
Noch einmal traktiert sie »Augustinus« mit ihren Fragen; noch einmal zieht sie
ihre Schlüsse; noch einmal faßt sie ihren Argumentationsgang zusammen - verge-
bens, wie sich letztlich herausstellt. Das Endresultat der Erörterung ruft auf Seiten
des Soliloquisten keine Überzeugung hervor, geschweige denn eine beglückende
visio. Der Soliloquist muß vielmehr dazu überredet werden, den Argumenten, die
ihm nicht unmittelbar einleuchten, zumindest Glauben zu schenken: »iamiam cre-
de rationibus tuis, crede veritati«, so beschwört ihn die »Ratio«.138 Eher halbherzig
bekennt sich »Augustinus« schließlich zu einem solchen Glauben: »recolere inci-
pio«, ein zögerliches Aufdämmern der Wahrheit vermag er immerhin aus der Ferne
wahrzunehmen. 135 Doch das eigentliche Ziel der dialektischen Untersuchung wird
dadurch gerade nicht erreicht. Sie sollte ja keinen Glauben, sondern ein Wissen,
eine unumstößliche Gewißheit erzeugen. 140 Nichts ungeprüft akzeptieren, nichts
auf Treu und Glauben übernehmen — so lautete die Devise, die von der »Ratio«
zu Beginn des Gesprächs ausgegeben worden war. Am Ende aber versucht sie
selbst, »Augustinus« zum Glauben an die Wahrheit zu bewegen. Die Einsicht, die
aus dem Zusammenspiel von dialektischer Analyse und Synthese hervorgeht, hält
nicht, was die »Ratio« von ihr versprach: Sie überzeugt nicht, sie beruhigt nicht, sie
beglückt nicht. Daher m u ß das Gespräch schließlich doch erfolglos abgebrochen
werden. Die Soliloquia stellen ein unvollendetes Fragment dar - »imperfectum

135
Ebd. II.25.2.
136
Ebd. II.26.2f..
137
Ebd. II.26.6.
138
Ebd. II.33.5. (Hervorhebung von mir, Ch. M.).
139
Ebd. II.33.6. - Augustinus bestimmt das aufdämmernde Wissen hier als Erinnerung (»reco-
lere«). Hanspeter Müller erkennt darin einen Anklang an die platonische Anamnesis-Lehre.
Vgl. H. Müller: Einführung. In: Aurelius Augustinus: Selbstgespräche. Von der Unsterblichkeit
der Seele. S. 207-249, hier: S. 220f.
H0
Soliloquia 1.8.4: »sed ego quid sciam quaero, non quid credam.«
Das Scheitern der Dialektik 373

remansit«.141 In den Retractationes, dem kritischen Rückblick auf sein schriftstel-


lerisches Wirken, bringt Augustinus das Scheitern der Selbstbefragung auf den
Punkt. Im zweiten Buch der Soliloquia, so heißt es da in lakonischer Kürze, dreht
sich die Untersuchung lange um die Unsterblichkeit der Seele und gelangt nicht
zum Ziel - »in secundo [libro] autem de immortalitate animae diu res agitur et
non peragitur.« I i ?

Innere Spaltung des Subjekts

Es gelingt dem Soliloquisten nicht, sich auf dem Wege der dialektischen Beweis-
führung zur Schau des Ganzen zu erheben. Die an Einzelaspekten gewonnenen
Teilerkenntnisse fügen sich in der synthetisierenden collectio ebensowenig zu einer
Totalansicht der Wahrheit zusammen, wie der Text der Soliloquia sich zu einem
homogenen Ganzen, einem in sich geschlossenen Werk rundet. Die Devise, deren
Befolgung die Herstellung von Totalität ermöglichen sollte, steht somit in Frage.
Bei den Stoikern besitzt diese Devise (»nichts ungeprüft übernehmen!«) noch eine
unbezweifelbare Geltung. Seneca etwa rekurriert auf die Metaphorik der Ingestion
und der Digestion, um ihre Wirkung zu veranschaulichen: Die Seele, die sich ihren
eigenen wie auch den fremden Gedanken gegenüber immer wachsam verhält und
sie nach einem unveränderlichen Maßstab beurteilt, gleicht einem Magen, der die
verschiedensten Nahrungsmittel in eine homogene körpereigene Substanz verwan-
delt und daraus neue Kraft bezieht. 143 Das Produkt dieser Wachsamkeit ist also
ein kraftvolles, integrales corpus, und zwar in einem zweifachen Sinne: Als corpus
ist zum einen die Person des Prüfenden anzusehen, die stets vollkommen mit sich
selbst übereinstimmt. Das Merkmal der Ganzheit kommt zum anderen den geistigen
Hervorbringungen dieser Person zu. Die Befolgung der Devise sichert somit nach
stoischer Auffassung die Integrität des Selbst und seiner Werke. Auch »Augustinus«
macht sich in den Soliloquia diese Devise zu eigen. Am Ende kann er sich nicht da-
ran erinnern, irgendein Argument der »Ratio« ohne gründliche Prüfung akzeptiert
zu haben. 144 Gleichwohl resultiert aus dieser kontinuierlichen Wachsamkeit kein
Ganzes. Aus seiner kritischen Selbstbefragung geht keine Totalität hervor — weder
das Ganze der Wahrheit, die sich der Schau erschließt, noch das Ganze eines in
sich geschlossenen geistigen Produkts. Der aspectus leitet nicht, wie erhofft, zur
visio über. Der Soliloquist scheitert folglich mit seinem Plan, den unwillkürlichen
Einfall, der das Gespräch auslöst, im Resultat der dialektischen Untersuchung zum
Verschwinden zu bringen. Die totalisierende Erfassung der Wahrheit scheint nur in
Form einer blitzartigen, unwillkürlichen Intuition möglich zu sein, als illuminativer

141
Augustinus: Retractationes 1.4.1.
142
Ebd.
143
Vgl. Seneca: Ad Lucilium epistulae morales. Ep. 84. — Vgl. dazu Kapitel VI.3 dieser Unter-
suchung.
144
Soliloquia II.24.2: »Nihil quidem me minus vigilanter interroganti tibi memini dedisse.«
374 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Vorschein des Ganzen, der sich mit den Mitteln der Dialektik nicht einholen läßt. Er
stellt im Kontext der dialektischen Untersuchung so etwas wie einen unverdaulichen
Fremdkörper dar, der dem corpus der Soliloquia seine Integrität raubt. Alle Bemü-
hungen des Soliloquisten, das fremdartige Moment der Eingebung zu assimilieren
und einen homogenen geistigen Innenraum zu schaffen, laufen ins Leere. Da sich
die ersehnte visio am Ende des Gesprächs nicht einstellt, sieht sich der Soliloquist
auf den illuminativen Anfang zurückverwiesen.
Die disruptive Kraft der Illumination läßt sich durch den ordo studiorum nicht
bändigen. Sie setzt sich schließlich doch gegen den von der Philosophie erhobenen
Anspruch durch, dem Individuum durch Disziplin und Methode zum Besitz der
Wahrheit verhelfen zu können. Sie erschüttert den Glauben an die intellektuelle
Autarkie des Subjekts und signalisiert somit die Heraufkunft einer neuen Form
von Selbstverhältnis, die den antiken Techniken der Subjektkonstitution keine
Handhabe mehr bietet. Der Soliloquist kann diese neue Kraft nicht beherrschen,
daher versucht er sie zu verschleiern, um zumindest den Schein rationaler Kontrolle
zu wahren. Doch die unberechenbare Kraft der Illumination macht sich immer
wieder bemerkbar — so etwa bei der Uberleitung vom ersten zum zweiten Buch der
Soliloquia. >Überleitung< ist vielleicht das falsche Wort, verweist es doch auf einen
kontrollierten Prozeß, der das Vorher nahtlos mit dem Nachher verbindet. Buch
II der Soliloquia schließt jedoch keineswegs bruchlos an Buch I an. Eine struktu-
relle Eigentümlichkeit des Textes besteht nämlich darin, daß das Ende des ersten
Gesprächstages nicht mit dem Schluß des ersten Buches koinzidiert. Am ersten
Gesprächstag prüft der Soliloquist seine geistige Gesundheit und übt sein rationales
Vermögen. Nachdem er auf diese Weise die erste Phase des ordo studiorum absolviert
hat, begibt er sich zur Ruhe, um Kräfte fur die entscheidende zweite Phase zu sam-
meln. Die nächtliche Unterbrechung markiert aber nicht den Abschluß des ersten
Buches. Vielmehr treffen die »Ratio« und »Augustinus« am folgenden Tag zu einem
Gespräch zusammen, das nach kurzer Zeit wieder beendet wird, und zwar ohne die
zweite Phase der Wahrheitssuche eröffnet zu haben. Erst mit dieser erneuten Un-
terbrechung findet Buch I seinen Abschluß. Die zweite Phase der Wahrheitssuche
beginnt dann mit Buch II. Die Nahtstelle zwischen Buch I und Buch II, zwischen
der ersten und der zweiten Stufe des ordo studiorum wird somit durch eine zweifa-
che Unterbrechung exponiert. Signifikanterweise wird dem Soliloquisten genau an
dieser Bruchstelle erneut eine Eingebung zuteil. Die Umstände dieser Illumination
gestalten sich folgendermaßen:
Nach den Prüfungen des ersten Tages und der anschließenden nächtlichen Ru-
hepause empfindet »Augustinus« das Bedürfnis, den Prozeß der Wahrheitssuche zu
beschleunigen. Er meint, seine geistige Gesundheit zur Genüge unter Beweis gestellt
zu haben, und fordert daher die »Ratio« dazu auf, die eigentliche Belehrung nicht
weiter hinauszuzögern. »Augustinus« will nun so schnell wie möglich zur Schau der
Wahrheit gelangen. Doch die »Ratio« weigert sich, diesem Verlangen nachzugeben.
Sie erinnert ihren Gesprächspartner an die jüngst vergangene Nacht, in der er von
Das Scheitern der Dialektik 375

erotischen Phantasien heimgesucht wurde.145 Der Soliloquist hat also während der
Gesprächspause einen Rückfall in die Sinnlichkeit erlitten.' 46 Seine geistige Gesund-
heit ist sehr viel weniger stabil, als nach den erfolgreich durchlaufenen Übungen
des Vortags zu erwarten war. Er ist noch lange nicht so weit, den schwierigen Weg
in das Innere seiner Seele antreten zu können. »Augustinus« beharrt gleichwohl
darauf, daß ihn die »Ratio« auf Abkürzungen (»per aliqua compendia«) zum Ziel
der Wahrheitssuche führen möge.147 Er ist in seinem unbändigen Begehren nach
Wahrheit offenkundig dazu entschlossen, sich über den ordo studiorum hinwegzu-
setzen. Die »Ratio« versucht im Gegenzug, ihren Partner hinzuhalten, indem sie das
erste Buch für beendet erklärt und eine weitere Gesprächspause anberaumt. Doch
»Augustinus« stellt sich stur: Er will das Buch nicht beenden, ehe er einen Blick auf
die Wahrheit geworfen hat. Die Vernunft reagiert auf dieses ungestüme Drängen
nicht etwa mit einer harschen Zurechtweisung. Ganz unvermittelt ändert sich ihr
Verhalten. Für einen kurzen Augenblick ist sie nicht die souveräne Dirigentin des
Gesprächs, sondern passives Medium einer göttlichen Eingebung: »Gerit tibi ille
medicus morem. nam nescio quis me quo te ducam fulgor invitat et tangit. itaque
accipe internus.« 148 Die Vernunft wird illuminiert. In einer blitzartigen Schau
gewinnt sie Einsicht in die gesuchte Wahrheit. Sie braucht diese Einsicht, denn
ohne sie kann sie das Gespräch nicht steuern. Nur aufgrund dieser Illumination
weiß die »Ratio«, wohin und auf welche Weise sie »Augustinus« in der zweiten
Phase des Erkenntnisprozesses führen soll. Die ordnungsgemäße Durchführung der
dialektischen Untersuchung hängt von diesem Wissen ab. Doch die Illumination
durchbricht den ordo studiorum, dessen Einhaltung sie zugleich auch ermöglicht.
Der Soliloquist schaut die Wahrheit, obwohl ihm die erforderliche geistige Gesund-
heit fehlt. Er ist dem Sinnlichen noch verhaftet, und dennoch wird ihm Erkenntnis
zuteil — als ein unverdientes, unmotiviertes Geschenk. Das Ordnungswidrige dieser
punktuellen Schau wird durch die strukturellen Verwerfungen des Textes akzentu-
iert: Eingekeilt zwischen zwei Gesprächsunterbrechungen, wirkt sie wie ein nicht
integrierbarer Fremdkörper. Weder läßt sie sich aus den Vorübungen des ersten
Buches ableiten, noch kann sie bruchlos in die dialektische Analyse des zweiten
Buches überführt werden.
Die Illumination, die den Soliloquisten an der Nahtstelle zwischen Gesund-
heitsprüfung und Beweisführung überfällt, durchkreuzt somit die (neo-)platonische
Konzeption des Wissenserwerbs. Diese Konzeption geht von einer fundamentalen
Verwandtschaft zwischen Gott und der menschlichen Seele aus: Um Gott und sich

145 Ebd. 1.25.4.


146 Vgl. B. R. Voss: Der Dialog in der frühchristlichen Literatur. S. 2 3 5 .
147 Soliloquia 1.26.3.
148 Ebd. 1.27.3. (»Jener Seelenarzt ist dir gewogen. Denn ich w e i ß nicht, was für ein Blitz mich
trifft und mir zeigt, w o h i n ich dich führen soll. N i m m daher meine Worte m i t großer Auf-
merksamkeit auf.« [Übersetzung modifiziert]).
376 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

selbst erkennen zu können, muß die Seele Gott ähnlich werden - sie muß ihre gött-
liche Geistnatur aktualisieren und sich von allem Sinnlichen und Materiellen reini-
gen. In den Soliloquia zeigt sich Gott jedoch auch der unreinen Seele. Die Seele steigt
nicht zu Gott auf, indem sie ihm ähnlich wird, sondern Gott steigt aus Erbarmen zu
einer Seele herab, die ihm unähnlich ist, und zwar tut er dies justament zu dem Zeit-
punkt, da die Seele durch den Rückfall in die materielle Welt mit ihrer Unähnlichkeit
konfrontiert wird. Die menschliche Seele kann die Kluft der Unähnlichkeit, die sie
von der göttlichen Wahrheit trennt, nicht mehr aus eigener Kraft überwinden.
Diese Verschiebung im Verhältnis zwischen Gott und Mensch kommt auch in
der Bildlichkeit zum Ausdruck, die der Soliloquist verwendet, um sein Verhältnis
zur Wahrheit zu beschreiben. Im ersten Buch, im Zuge des intellektuellen Trainings,
das »Augustinus« auf den dialektischen aspectus vorbereiten soll, macht die »Ratio«
wie selbstverständlich von der platonischen Licht-Metaphorik Gebrauch: »promit-
tit enim Ratio, quae tecum loquitur, ita se demonstraturam Deum tuae menti, ut
oculis sol demonstratur.« 149 Die »Ratio« ist sich ihrer Sache sehr sicher. Fast geht sie
so weit, »Augustinus« die Gottesschau zu garantieren. Der Vergleich zwischen Gott
und Sonne stützt diese Zuversicht, denn er dekretiert die prinzipielle Zugänglich-
keit, Verfügbarkeit und Verläßlichkeit der göttlichen Wahrheit. 150 Sie ist durch die
Seinsverwandtschaft zwischen Schauendem und Geschautem verbürgt: Der antiken
Sehstrahltheorie zufolge ist das Auge der Sonne wesenhaft ähnlich, denn es ist wie sie
eine Lichtquelle. 151 Im Übergang von Buch I zu Buch II modifiziert die »Ratio« die
Metaphorik, die sie zur Kennzeichnung der göttlichen Wahrheit verwendet. An die
Stelle der beständigen Lichtquelle tritt zum einen die punktuelle Erleuchtung, die
durch die Metapher des Blitzes (»fulgor«) bezeichnet wird. Das vom Blitz ausgehen-
de Licht soll der »Ratio« die dialektische Führungsarbeit ermöglichen, doch bietet
es, anders als die Sonne, keinen festen Orientierungspunkt. Die Lichtquelle selbst
bleibt verborgen. Da auch die systematische Untersuchung, die im zweiten Buch
unternommen wird, diese Lichtquelle nicht aufzudecken vermag, die beständige
Schau des göttlichen Lichts dem Soliloquisten mithin vorenthalten bleibt, muß er
sich letztlich mit der blitzartigen Enthüllung der Wahrheit zufrieden geben. Die
Metapher des Blitzes verweist auf die Notwendigkeit, neue Techniken des Umgangs
mit der Wahrheit zu entwickeln - Techniken, die ihrer Verborgenheit und der spe-
zifischen Temporalität ihrer Entbergung Rechnung tragen.
Die zweite Metapher, derer sich die »Ratio« bedient, um ihre Erleuchtung zu
beschreiben, wirft ähnliche Probleme auf. Sie bezeichnet die göttliche Wahrheit, die

14 ' Ebd. 1.12.1. (»Denn es verspricht die Vernunft, die mit dir redet, dir in deinem Geist Gott
so deutlich zu zeigen, wie sich den Augen die Sonne zeigt.«).
150 Dieser Vergleich geht auf Piaton zurück. Vgl. Piaton: Politeia 516ff. - Zur Licht-Metaphorik
bei Piaton und den Neo-Platonisten vgl. Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit.
S. 4 3 2 ^ 4 7 .
151 Vgl. dazu Kapitel II.5 dieser Untersuchung.
Das Scheitern der Dialektik 377

sich ihr punktuell offenbart, als einen Arzt, der um die Heilung der Seelen bemüht
ist. Zwar ist die Arzt-Metapher durch den Bildkomplex der geistigen Gesundheit
vorbereitet, der in den Soliloquia von Anfang an präsent ist. Mit ihr kommt jedoch
eine ganz neue Qualität ins Spiel. Denn durch sie wird die Quelle der Wahrheit
personalisiert. Im Kontrast zur (neo-) platonischen Sonne ist die Wahrheit nun keine
neutrale Instanz mehr, die sich dem wahrheitssuchenden Individuum gegenüber
gleichgültig verhält. Sie kümmert sich vielmehr um sein geistiges Wohlergehen
- sie hilft ihm bei der Suche; sie kommt ihm entgegen. Augustinus übernimmt
die medizinische Metaphorik aus der hellenistischen Philosophie. Doch bei den
Stoikern, Epikureern und Skeptikern hat der Philosoph die Rolle des Seelenarztes
inne, während der Wahrheit die Funktion des Pharmakons oder Therapeutikums
zugewiesen wird.'52 In den Soliloquia hingegen ist die höchste Wahrheit nicht nur die
Medizin, sondern zugleich auch der Arzt, der sie fachkundig verabreicht. Die Rolle
des Philosophen - und das heißt in diesem Falle: die Rolle der »Ratio«, die sich als
Seelenführerin und Seelenheilerin geriert - wird somit überflüssig. Tatsächlich weist
die Vernunft ihren Schützling »Augustinus« am Ende von Buch I daraufhin, daß nur
die Wahrheit selbst wissen kann, wann sie sich dem Wahrheitssuchenden offenbaren
muß, da nur sie zu erkennen vermag, wie es um seine geistige Gesundheit bestellt
ist.153 Die Gesundheitsprüfung, der sich der Soliloquist in Buch I unterzieht, verliert
also nachträglich ihren Sinn: Der Kranke kann von sich aus nicht ermessen, wie
krank er ist und welche Einsicht wann für seine Genesung förderlich ist. Als Arztin,
die in privilegierter Weise über diese Kenntnis verfügt, gewinnt die Wahrheit somit
zwar ein fürsorgliches Ansehen. Zugleich wird sie jedoch vollkommen unberechen-
bar. Der Wahrheitssuchende vermag nicht vorauszusehen, wann und wie sie sich
ihm zuwenden wird. Konsequenterweise verliert die »Ratio« an der neuralgischen
Nahtstelle die Zuversicht und die Selbstsicherheit, die sie als Übungsleiterin in Buch
I und als Beweisführerin in Buch II an den Tag legt. Sie kann »Augustinus« den Zu-
gang zur Wahrheit nicht mehr garantieren; sie wird durch die plötzliche Erleuchtung
genauso überrumpelt wie er.
Die Vernunft spielt in den Soliloquia somit eine ambivalente Rolle. Über weite
Strecken des Gesprächs behauptet sie unangefochten ihre Führungsposition. Sie
sorgt dafür, daß der ordo studiorum eingehalten wird; sie dirigiert das intellektuelle
Training ihres Gesprächspartners; sie prüft seine Gesundheit; sie versucht, ihn auf
dem Wege eines logischen Prinzipien gehorchenden Beweisverfahrens zur Schau der
Wahrheit anzuleiten. Das überlegene Wissen, das ihr diese Führungstätigkeit ermög-
licht, wird jedoch aus einer Quelle gespeist, die sich ihrer Verfügung entzieht. Die
Führungsinstanz der Vernunft unterliegt selber einer verborgenen Führung. Darin

152 Vgl. M . C . N u s s b a u m : T h e T h e r a p y o f Desire. S. 1 3 - 4 7 .


153 Soliloquia 1.25.2: »novit autem ilia pulchritudo, quando se ostendat. ipsa enim medici fungitur
munere meliusque intelligit, qui sint sani, q u a m iidem ipsi qui sanantur.«
378 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

gleicht sie dem Gesprächsführer von De ordine, der, wie ihm sein Schüler Licentius
klar macht, den Dialog, den er zu dirigieren glaubt, nicht wirklich in der Gewalt hat,
sondern seinerseits als Instrument einer höheren Ordnung fungiert, die sich gegen
seinen bewußten Willen durchsetzt. Die Führerin wird geführt: In den Soliloquia
tritt die »Ratio« ihrem Gesprächspartner mal wie eine eigenständige Lehrer-Figur
gegenüber, mal identifiziert sie sich mit ihm, dem Schüler, als sei sie ein integraler
Bestandteil seiner selbst. »[N]os autem« - mit dieser vereinnahmenden Geste grenzt
sie sich und »Augustinus« als hilflose Patienten von der allwissenden Instanz des
göttlichen Seelenarztes ab.154 Die »Ratio« ist also zugleich wissend und unwissend,
Führerin und Geführte, Lehrerin und Schülerin, Ich und andere. Bezeichnender-
weise kann der Soliloquist schon zu Beginn des Gesprächs nicht entscheiden, ob die
Stimme der Vernunft, die plötzlich zu ihm spricht, von ihm selbst oder anderswo
herrührt. Die »Ratio« ist in sich gespalten. Sie spaltet folglich auch das Subjekt, das
sich ihrer bedient, um zur Erkenntnis zu gelangen. Das Vernunftsubjekt ist sich selbst
nicht transparent. Seine Ratio besitzt eine Tiefendimension, die mit dialektischen
Mitteln nicht in den Griff zu bekommen ist. Sie entzieht sich der Einflußnahme
seines Willens. Bei der inneren Einkehr, die in den Soliloquia inszeniert wird, stößt
das Subjekt zwar tatsächlich, wie von der neoplatonischen Doktrin angekündigt, auf
den Einheitsgrund seines Denkens. Doch entgegen den Erwartungen manifestiert
sich dieser Grund nicht in Gestalt einer platonischen Sonne, die den Ideen-Kosmos
beleuchtet, sondern als etwas Dunkles und Unergründliches, als »occultissima
ratio«.155 Der Soliloquist wird mit einer inneren Wahrheit konfrontiert, die sich
durch systematische Selbstbefragung nicht aufklären läßt. Um diese Wahrheit zu
entschlüsseln, bedarf es anderer, nicht-dialektischer Verfahrensweisen.
Die Gespaltenheit der Vernunft, die in den Soliloquia in Erscheinung tritt, deutet
somit auf zwei große Themen der augustinischen Theologie voraus: auf die Erbsünde
und das Gnadenkonzept. Die Unfähigkeit der Ratio, sich selbst zu durchleuchten
und zu beherrschen, verweist auf die postlapsarische »dislocation of human cons-
ciousness«, auf den irreparablen Schaden, den sich die menschliche Seele durch den
Sündenfall zugezogen hat.156 Auf der anderen Seite kann die unberechenbare, den
dialektischen ordo durchbrechende Aktivität des göttlichen Arztes, die in den Tiefen
der Ratio wirksam wird, als Ausfluß der Gnade interpretiert werden. Die Illumina-
tion, die dem Unreinen unverdientermaßen zuteil wird, ist ein Gnadengeschenk. 157

154
Ebd.
155
De ordine II.7.24.
'5<; P. Brown: Augustine of Hippo. S. 261.
157
Kurt Flasch scheint mir daher fehlzugehen, wenn er behauptet, daß die augustinische Illu-
minationskonzeption in keinerlei Beziehung zu seiner späteren Gnadentheologie steht. Laut
Flasch spricht die Illuminationslehre dem Denken die intelligiblen Gehalte qua Denken zu.
Sie sind apriorisch im menschlichen Geist vorhanden und werden bei der Selbsteinkehr dort
vorgefunden — als problemlos wahrnehmbare Gegebenheiten. Meine Analyse der Soliloquia
stellt diese Sichtweise in Frage. Flasch unterstellt dem frühen Augustinus einen ungebroche-
Das Scheitern der Dialektik 379

Sei es als Folge des Sündenfalls, sei es als Indiz für die innere Wirksamkeit der gött-
lichen Gnade: Die Gespaltenheit der Ratio hindert das Subjekt daran, aus eigener
Kraft zur Einsicht in sein Wesen zu gelangen. Sie sprengt die Darstellungsform des
Soliloquiums.

Alternativen zur Dialektik:


Hermeneutisches Erraten u n d diegetischer Bericht

Augustinus erleidet mit seinem Vorhaben, die Spontaneität des Denkens dialektisch
zu disziplinieren, auf ganzer Linie Schiffbruch. Weder die Verfahrensweise der sok-
ratischen Prüfung, die in De ordine angewendet wird, noch die Form des Soliloqui-
ums vermag den gewünschten Erfolg herbeizuführen. Das disruptive Moment der
Illumination läßt sich auf diese Weise nicht unter Kontrolle bringen. Die Spaltung
der menschlichen Ratio, die ihr sprunghaftes Verhalten bedingt, erweist sich als
unheilbar. Augustinus kommt nicht umhin, methodische Konsequenzen aus dieser
Erkenntnis zu ziehen. Anstatt seine Aufgabe darin zu sehen, die intuitiven Sprünge
des Denkens zu beseitigen, faßt er die Möglichkeit ins Auge, sie als Wissensquelle
zu nutzen. Gibt es also eine Alternative zum dialektischen Verfahren, die dem spe-
zifischen Charakter der Illumination gerecht wird?
Augustinus stellt sich diese Frage nicht erst nach dem ergebnislosen Abbruch
der Selbstbefragung in den Soliloquia. Sie klingt bereits in De ordine an, insbeson-
dere in Gestalt der Kritik, die Licentius an der Gesprächsführung seines Lehrers
übt. Doch Augustinus beschränkt sich im Dialog über die Ordnung nicht darauf,
abweichenden Ansichten ein Forum zu bieten. Darüber hinaus unternimmt er den
Versuch, methodische Alternativen, die diesen Ansichten Rechnung tragen, zumin-
dest ansatzweise praktisch zu erproben. Das betrifft zum einen die Experimente mit
der narrativen Form, die in De ordine angestellt werden, zum anderen aber die Art
und Weise, wie der Gesprächsführer mit den Eingebungen seiner Schüler umgeht.
Zwar ist Augustinus im allgemeinen darum bemüht, sich an dialektische Prinzipien
zu halten. Mitunter weicht er jedoch vom Pfad schulmäßig betriebener Dialektik
ab. Diese Abweichungen weisen auf Verfahrenstechniken voraus, die in den späteren
Schriften Augustins - vor allem in den Confessiones - eine bedeutende Rolle spielen.
Obwohl die Soliloquia das autobiographische Ich stärker in den Blickpunkt rücken
als De ordine, knüpfen die Confessiones eher an die frühere Dialogschrift an. In den
Soliloquia präsentiert sich Augustinus als formaler Neuerer, seine Innovation erweist
sich aber als Irrweg. Den Neuerungen, die er auf diskrete Weise in De ordine lanciert,
ist hingegen eine erfolgreichere Zukunft beschieden.

nen Neoplatonismus. Tatsächlich aber werden die neoplatonischen Philosopheme in Texten


wie De ordine und Soliloquia problematisiert und dekonstruiert. Vgl. K. Flasch: Augustin.
Einführung in sein Denken. S. 306f.
380 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Die Erleuchtungen, die Licentius in De ordine zuteil werden, haben ein zweideu-
tiges Ansehen. Einerseits sind sie durch Totalität und Unmittelbarkeit gekennzeich-
net: Licentius schaut das Ganze, und er schaut es direkt, ohne sich der Vermittlung
durch Zeichen zu bedienen. Daher fällt es ihm so schwer, das innerlich Geschaute
dem äußerlichen Medium der Sprache anzuvertrauen: Er muß das, was er in der Si-
multaneität eines Augenblicks als zusammenhängende Totalität wahrgenommen hat,
in eine temporale Folge diskreter Zeichen übersetzen. Andererseits erfaßt Licentius
das Ganze eben nur für einen Augenblick, im flüchtigen Schein eines aufzuckenden
Blitzes. Seine Erkenntnis ist keine beständige Schau. Die Zeitlichkeit kommt also
de facto nicht erst in dem Moment ins Spiel, in dem er seine Eingebung verbali-
siert. Sie greift auf die durch Erleuchtung gewonnene Erkenntnis über. Weil alles so
schnell geht, weil die Eingebung derart flüchtig ist, wird der Erkenntnisapparat des
Illuminierten überfordert. Licentius erfaßt das Ganze, aber er erfaßt es nicht ganz.
Er erlangt totales Verständnis, aber er begreift nicht, was er da versteht.
Augustinus führt ein aufschlußreiches Beispiel an, um das Dilemma zu veran-
schaulichen, in dem sich der Erleuchtete befindet: Er vergleicht den Aufstieg zur
Wahrheit mit dem Lesenlernen.158 Demnach ähnelt derjenige, der erleuchtet wird,
einem Schüler, der im Elementarunterricht mit Silben und Wörtern konfrontiert
wird, obwohl er die einzelnen Buchstaben noch nicht kennt. Von zeichenloser
Unmittelbarkeit kann im Falle der Illumination also keine Rede sein. Das Beispiel
indiziert vielmehr, daß die Erleuchtung ihrerseits Zeichencharakter besitzt. Sie kor-
respondiert einer kryptischen Botschaft, die der Entschlüsselung bedarf. Um sie zu
entziffern, so argumentiert Augustinus, muß sie zuerst in ihre einzelnen Bestandteile
zerlegt werden, die sodann, nachdem man sie identifiziert hat, wieder zu einem
- nun verständlichen - Ganzen zusammenzusetzen sind. Das >Lektüreverfahren<, für
das Augustinus an dieser Stelle plädiert, ist mithin das Verfahren der dialektischen
Analyse und Synthese.159 Doch vor allem die letztere ist, wie Augustinus sowohl in
De ordine als auch in den Soliloquia schmerzhaft erfahren muß, außerordentlich
problematisch: Die durch Analyse gewonnenen Elemente wollen sich einfach nicht
wieder zu einem Ganzen zusammenfügen. Die dialektische collectio generiert keine
Totalität. Die Summe der gesicherten Teilerkenntnisse ist bei weitem nicht so ein-
leuchtend wie die anfängliche Intuition des Ganzen, auch wenn dieser ein Moment

158
De ordine II.7.24.
159
Auch Piaton greift in Polinkos (277e-278b) auf das Beispiel des Lesenlernens zurück, um zu
veranschaulichen, wie die dialektische Analyse und Synthese durch den Gebrauch von para-
deigmata befördert werden kann. Mit ihrer Hilfe kann die undeutliche Wahrnehmung eines
komplexen Gedankens in eine klare geistige Schau überführt werden. Den Fluchtpunkt der
Erörterung bildet bei Piaton ein Lesen, das in einem geistigen Sehen aufgeht. Die Möglichkeit,
mit dialektischen und paradeigmatischen Mitteln zur deutlichen geistigen Schau des Ganzen
zu gelangen, steht bei Augustinus jedoch in Frage. Das Lesen kann nicht mehr in ein Sehen
überführt werden; das Paradigma der geistigen Schau wird, wie im folgenden dargelegt werden
soll, durch das Paradigma der hermeneutischen Entzifferung ersetzt.
Das Scheitern der Dialektik 381

der Verblendung anhaftet. Es stellt sich daher die Frage, ob es eine Möglichkeit gibt,
die Erleuchtung in ein gründlicheres Verstehen zu überführen, ohne sie analytisch
zu zergliedern.
Eine solche Möglichkeit wird in De ordine tatsächlich angedeutet. Licentius
scheut vor den Fragen des Gesprächsführers zurück, denn diese gehen ins einzelne
und zerstückeln somit jene ganzheitliche Einsicht, die ihm in Gestalt der Illumi-
nation geschenkt wurde. Daher verlangt Licentius von Augustinus, daß er, anstatt
den Schüler durch Fragen zur Entäußerung seines intuitiven Wissens zu zwingen,
sich vielmehr umgekehrt in den Geist desselben hineinversetze: »Si possent [...]
mihi verba suppetere, dicerem quod tibi fortasse non displiceret. Sed peto perferas
infantiam meam resque ipsas, ut te decet, veloci mente praeripias.« 160 Licentius
wünscht, daß der Lehrer errät, was sein Schüler eigentlich sagen will, ohne es adäquat
in seiner Rede wiedergeben zu können. Er will, daß der Lehrer die Intuition des
Schülers seinerseits intuitiv erfaßt. Falls ihm dies gelingt, erübrigt sich die Fragerei,
die der Eingebung ihre Integrität raubt. Anstatt zu fragen, soll der Lehrer das, was
er der Rede seines Schülers durch intuitives Erraten entnehmen kann, seinerseits in
erklärende Worte fassen. Auf diese Weise wird dem Schüler die Möglichkeit eröffnet,
seine Eingebung, die er selbst nicht ganz durchschaut, anhand der Rede seines Leh-
rers besser zu verstehen. Im Verständnis seines Lehrers gelangt er zu einem besseren
Verständnis seiner selbst.
Licentius hat somit eine hermeneutische, nicht eine dialektische Form der Un-
terweisung im Visier. Er möchte, daß seine Äußerungen >gelesen< werden - so als
handele es sich dabei um eine geschriebene Rede. Er will die innerlich geschaute
Wahrheit nicht immer wieder in neuen Formulierungsversuchen umkreisen, sondern
ein für allemal in eine - wenngleich unzulängliche - sprachliche Aussage übertra-
gen, die der Hörer dann auf ihren verborgenen Wahrheitsgehalt hin zu übersteigen
hat. Licentius verhält sich so, wie die geschriebene Rede im platonischen Phaidros
geschildert wird: Er läßt sich nicht befragen, er antwortet immer nur ein und das-
selbe, ohne weiterführende Erläuterungen und Verstehenshilfen anzubieten, so daß
sein Gesprächspartner dazu genötigt wird, das Gemeinte durch einen intuitiven
Deutungssprung zu erschließen.
Augustinus kommt den Wünschen des Licentius in De ordine nicht nach. Er
tritt ihm gegenüber als strenger Dialektiker auf, der nicht dazu bereit ist, auf die
Anwendung der Fragetechnik zu verzichten. Eine Ausnahme macht er jedoch im
Umgang mit seinem anderen Schüler Trygetius. Auch Trygetius werden mitunter
Eingebungen zuteil. Ein besonders wichtiger Einfall kommt ihm am dritten Ge-
sprächstag. Der Dialog kreist um die eher nebensächliche Frage, inwiefern die Tor-

160
De ordine II.7.20. (»Wenn mir doch die Worte zur Verfügung stünden! Ich möchte nämlich
etwas sagen, was dir vielleicht gut gefiele. Ich bitte dich, meine sprachliche Unzulänglichkeit
zu ertragen und die Sachen unmittelbar, wie es deiner Geistesschärfe entspricht, zu ergreifen.«
[Ubersetzung modifiziert]).
382 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

heit mit dem ordo rerum vereinbar ist. Vollkommen unerwartet macht Trygetius eine
Bemerkung, die den Hauptgegenstand der Erörterung wieder ins Blickfeld rückt. Er
bekundet nämlich die Auffassung, daß so etwas wie Unordnung gar nicht existiere;
der Eindruck des Ungeordneten sei vielmehr auf die Wahrnehmungsschwäche des
Menschen zurückzufuhren. 161 Trygetius stößt also wie von ungefähr auf die zentrale
Einsicht des ganzen Dialogs. Augustinus hebt sie in seiner an Zenobius gerichteten
Einleitung noch einmal eigens hervor.162 Auffällig ist nicht nur, daß diese Einsicht
sich aus dem unmittelbaren Kontext der Diskussion nicht ableiten läßt: Sie ist kein
Produkt des geregelten dialektischen Verfahrens, sondern ein Zufallstreffer. Bemer-
kenswert ist darüber hinaus die Art und Weise, wie Augustinus auf die Eingebung
seines Schülers reagiert. Trygetius entschuldigt sich zunächst dafür, daß ihm die
Worte fehlen, um seinen Einfall deutlich zu machen. Wie Licentius wünscht auch er,
daß der Gesprächsfiihrer die tiefere Erkenntnis, die dunkel und verwickelt (»involu-
tum«) in seinen Worten verborgen ist, ans Licht holt, und zwar nicht durch prüfende
Fragen und analytische Zergliederung, sondern durch einfühlsame hermeneutische
Deutungsarbeit. 163 Erstaunlicherweise läßt sich Augustinus auf dieses Ansinnen ein.
Anstatt Trygetius mit Hilfe von Fragen zur Explikation seiner These zu nötigen, hält
er einen längeren Vortrag, in dem er die Einsicht seines Schülers erläutert und ihre
Implikationen entfaltet. 164 Augustinus fungiert als Mittler, der Trygetius den Sinn
seiner eigenen Rede aufschließt. Mehr noch: Die Illumination des Schülers wirkt
auch auf den Lehrer inspirierend. Er tritt ihr nicht als nüchterner, kritisch prüfender
Logiker gegenüber. Vielmehr läßt er sich von der Begeisterung seines Gesprächspart-
ners anstecken. Seine Rede, die der Erleuchtung des Trygetius auf den Grund gehen
will, besitzt ihrerseits eine illuminative Qualität. Augustinus äußert sich in seiner
Replik sehr viel ausführlicher, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Er wird durch
seinen eigenen Redefluß mitgerissen und auf neue Einfälle geführt, die er sogleich
mitteilt, ohne sie zuvor kritisch zu überprüfen. Er begegnet der Erleuchtung mit
einer Erleuchtung. »Quam magna [...], quam mira mihi per vos deus ille atque ipse
[...] rerum nescio quis occultus ordo responded", mit diesem ekstatischen Ausruf
eröffnet Augustinus seinen durch Trygetius inspirierten Vortrag. 165
Als Alternative zum Verfahren der dialektischen Analyse und Synthese zeichnet
sich in De ordine somit eine hermeneutische Vorgehensweise ab, die der Tatsache
Rechnung trägt, daß der Sprecher den Sinn seiner eigenen Rede nie ganz durch-
schaut, daß er nie ganz versteht, was er selbst sagt. Das betrifft nicht nur die Rede
des Schülers, sondern auch diejenige des Lehrers, der die Schülerrede interpretiert:
Die vertiefende Deutung, die er den Eingebungen seines Gesprächspartners gibt, hat

161 Ebd. II.4.11.


162 Ebd. 1.1.2.
Ebd. II.4.11.
164 Ebd. II.4.11-II.5.17.
165 Ebd. II.4.12.
Das Scheitern der Dialektik 383

ihrerseits den Charakter einer inspirierten Rede. Auch der Lehrer hat das, was er sagt,
nicht vollkommen im Griff; auch seine Rede bedarf der Interpretation. Was für die
Äußerungen der Gesprächsteilnehmer im einzelnen gilt, gilt ebenso für den Dialog
im ganzen: Der Gesprächsführer kann — woran Licentius ihn erinnert - lediglich in
begrenztem Maße auf den Verlauf der Diskussion Einfluß nehmen. Letztlich ist nicht
er es, der das Gespräch ordnet. In den unvorhersehbaren Wendungen, die der Dialog
nimmt, den äußeren Umständen, die ihn beeinflussen, den plötzlichen Einfallen, die
ihn in eine neue Richtung lenken, bringt sich vielmehr eine verborgene Ordnung
(ioccultus ordo) zur Geltung, die sich seiner Kontrolle entzieht. Die am Gespräch
Beteiligten können diese Ordnung nur nachträglich, aus einer gewissen zeitlichen
Distanz heraus wahrnehmen. Augustinus trägt dem mangelnden Uberblick des Ge-
sprächsführers dadurch Rechnung, daß er dem Dialog keine mimetische, sondern
eine diegetische Form verleiht. Als Erzähler hofft er den Überblick zu gewinnen, der
ihm als Gesprächsführer fehlt.
Die narrative Synthese wird in De ordine somit als Gegenmodell zur dialektischen
Synthese aufgeboten. Der Rückblick auf den Gesprächsverlauf spielt zwar auch im
Rahmen der dialektischen Verfahrensweise eine wichtige Rolle: Das dialektische
Procedere vollzieht sich im Wechsel von analytischer Zergliederung eines zunächst
nur unzulänglich erfaßten komplexen Phänomens und synthetisierender Zusam-
menfassung der dabei gewonnenen Teilerkenntnisse, die schließlich zur Schau des
Ganzen führen soll. Die dialektische collectio erfordert wie die narrative Synthese die
Mitwirkung des Gedächtnisses, funktioniert jedoch ganz anders als diese. Wenn der
Dialektiker sich erinnert, dann konzentriert er sich ganz auf die sachlichen Gehalte.
Erinnerung heißt für ihn: Reinigung der Erkenntnis von den Umständen ihrer Ent-
stehung, Loslösung derselben aus dem situativen Kontext des Gesprächs. Die dialek-
tische Synthese ist ein Verfahren der Abstraktion. Der Dialektiker rekapituliert nicht
das Wie des Gesprächsverlaufs, sondern das Was der dabei gewonnenen Resultate.
»Satis tu quidem memoriter omnia quae vellem recoluisti, et [...] multo evidentius
mihi nunc videntur ista distincta, quam cum ea inquirendo ac disserendo de nescio
quibus latebris ambo erueremus«, dieses Lob erteilt die Lehrer-Instanz in De magis-
tro ihrem Gesprächspartner, nachdem er die Ergebnisse der Erörterung resümiert
hat.166 Der dialektische Rückblick soll mithin dadurch Evidenz erzeugen,167 daß er

166 De magistro VIII.21. (»Du hast wirklich mit gutem Gedächtnis alles, was ich wollte, uns
noch einmal in Erinnerung gerufen, und mir erscheinen [...] jetzt diese Gegenstände viel
einleuchtender deutlich denn vorher, als wir beide sie durch Nachforschen und Erörtern aus
wer weiß welchen verborgenen Winkeln ans Licht zu bringen suchten.«).
167 Dieses Ziel wird übrigens nicht nur in den Soliloquia, sondern auch in De magistro verfehlt.
Nach der ersten Zusammenfassung des Erörterten verfugt der Gesprächführer über größeren
Durchblick, aber noch nicht über Gewißheit. Diese erhofft er sich von einer zweiten collectio,
die er diesmal selbst unternimmt. Das Ergebnis ist allerdings enttäuschend; die Zusammenfas-
sung erbringt lediglich eine »res tantilla«, ein dürftiges Resultat, das dem gewaltigen Aufwand
an dialektischer Akribie Hohn spricht. Vgl. ebd. X.31.
384 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

die Einzelerkenntnisse in distinkter, von akzidentellen Elementen befreiter Form


zusammenstellt. Das retrospektive Einsammeln der Erkenntnisse markiert zugleich
einen Akt der inneren Sammlung, der Loslösung von allem äußerlichen Beiwerk.
Das autobiographische Äquivalent dieses dialektischen Erinnerns ist der sum-
marische Lebensrückblick, wie ihn Marc Aurel seinen Aufzeichnungen voranstellt.
Marc Aurel erzählt keine Bildungsgeschichte; er legt nicht umständlich dar, wann,
wie und mit welchen Folgen er zu den Einsichten gelangt ist, die ihm die philoso-
phische Lebensweise ermöglichen. Der Kaiser schildert nicht die Entstehung seines
Wissens, sondern er registriert allein die Resultate seiner Bildungsbemühungen und
ordnet diese in Gestalt eines übersichtlichen Tableaus an. Das Tableau erlaubt es
ihm, seine Vergangenheit sozusagen mit einem Blick zu erfassen. Dadurch kann er
sein bisheriges Leben auf eine einfache paränetische Formel bringen, die da lautet:
>Ich bin aufgrund meines Bildungsganges fur die autarke Existenz des Philosophen
gerüstet, es darf mithin keine Ausflüchte mehr geben - ich muß diese Lebensweise
nun auch praktisch realisieren.^ 68
Reduktion des Erkenntnisweges auf ein Resultat, das sich mit einem geistigen
Blick erfassen läßt: Darin besteht das Ziel der dialektischen Erinnerung. Als Erzäh-
ler, der den Verlauf des Gesprächs De ordine wiedergibt, geht Augustinus jedoch
ganz anders vor. Er teilt nicht bloß die Resultate der Untersuchung mit, sondern er
berichtet minutiös über den Prozeß ihrer Entstehung. Die besonderen Umstände,
unter denen die Dialogteilnehmer zu ihren Einsichten gelangen, interessieren ihn
mindestens ebensosehr wie die Einsichten selbst. Im Gegensatz zur rein dramati-
schen Wiedergabe des Gesprächs, wie sie etwa in den Soliloquia praktiziert wird,
bietet die narrative Form die Möglichkeit, diese Umstände in ihrer ganzen Bandbrei-
te zu erfassen: Der Erzähler kann die Lokalitäten schildern, an denen das Gespräch
stattfindet; er kann die Ereignisse darlegen, die dem Gespräch vorangehen; er kann
die Teilnehmer charakterisieren, den Ton ihrer Stimme, ihre Mimik und Gestik
beschreiben. Er kann sogar — und auch von dieser Möglichkeit macht Augustinus
ausgiebig Gebrauch - Auskunft darüber erteilen, wie sich die langen Gesprächs-
pausen gestalten, in denen zwar keine Argumente ausgetauscht werden, aber doch
mancherlei geschieht, was sich auf den weiteren Verlauf der Erörterung auswirkt.
Der Erzähler ist so wenig auf die Resultate fixiert, daß er detailliert wiedergibt, wie
sich die Gesprächteilnehmer in Irrtümer verstricken, vom Thema abschweifen oder
über Trivialitäten in Streit geraten. Alles erscheint ihm berichtenswert: merkwürdige
Geräusche in der Wasserleitung, der Psalmengesang, den Licentius beim Verrichten
seiner Notdurft anstimmt, oder der Kampf zweier Hähne, denen die Diskutanten
auf dem Weg zum Badehaus begegnen. 169
Die Weitschweifigkeit des Erzählers hat durchaus Methode. Wenn es nichts gibt,
was sich außerhalb der göttlichen Ordnung abspielt, wenn diese Ordnung aus dem

168
Vgl. Kapitel VI.4 dieser Untersuchung.
De ordine 1.3.6, I.8.22f„ 1.8.25.
Das Scheitern der Dialektik 385

Verborgenen heraus wirkt und sich dem kontrollierten Zugriff der Gesprächteilneh-
mer entzieht, dann dürfen die vermeintlichen Nebensächlichkeiten nicht mißachtet
werden. Gerade im scheinbar Beiläufigen bekundet der occultus ordo seine Macht.
Was dem in der Situation Befangenen unwichtig erscheint, kann sich im Nachhinein
als bedeutsam herausstellen - als ein Zeichen, das auf die Wirksamkeit des ordo ver-
weist. Daher hält sich der Erzähler zurück, wenn es darum geht, das Wichtige vom
Unwichtigen zu scheiden. Am Ende des ersten Buches berichtet er beispielsweise
darüber, daß seine Mutter Monnica in die Runde der Diskutierenden eintritt und
sich nach dem Stand der Erörterung erkundigt.'70 Augustinus weist den Schreiber an,
ihr Hinzukommen und ihre Frage zu notieren. Monnica wehrt sich dagegen mit der
Begründung, daß es nicht üblich sei, Frauen in philosophische Gespräche einzufüh-
ren. Doch Augustinus läßt sich nicht von seinem üblichen Procedere (»more nostro«)
abbringen, alles, auch das scheinbar Banale und Abseitige, auch die Störungen und
Unterbrechungen, getreulich zu dokumentieren, denn das Unbedeutende könnte
sich retrospektiv als bedeutend erweisen.
Der Gesprächsführer betätigt sich somit vorerst schlichtweg als Sammler. Die
Tätigkeit des Sammeins, auf die er es abgesehen hat, ist eben keine innere Samm-
lung, keine Konzentration auf das Bedeutende, Innerliche, Geistige. Vielmehr wird
unterschiedslos alles in die künstliche memoria des schriftlichen Protokolls aufge-
nommen, um es später, aus gebührendem zeitlichen Abstand, auf seine Bedeutung
hin untersuchen zu können. In der Gesprächssituation selbst maßt sich Augustinus
kein Urteil darüber an, was als wichtig und was als unwichtig zu gelten hat. Die
Tatsache, daß er die Diskussion mitschreiben läßt, ist ein implizites Eingeständnis
ihrer Unabschließbarkeit und Unbeherrschbarkeit. Sie ist auf die spätere Lektüre
hin angelegt. Der Erzähler ist ihr erster Leser. Er redigiert die Gesprächsprotokolle
und bringt sie in eine narrative Form. Seine Bearbeitung der Mitschrift markiert
den Punkt, an dem äußerliches Sammeln in innere Sammlung umschlägt, an dem
mithin der Versuch unternommen wird, das verborgene Ordnungsmuster, das dem
Gespräch zugrunde liegt, sichtbar zu machen.
Doch auch als Erzähler, der den Gesprächsverlauf einer retrospektiven Deutung
unterwirft, geht Augustinus mit großer Zurückhaltung vor. Keineswegs nimmt er,
wie Bernd Reiner Voss behauptet, »>absolute< Bewertungen« vor; keineswegs bean-
sprucht er für seine Interpretation den »Rang objektiver Richtigkeit«.171 Vielmehr
kennzeichnet er seine Deutungsbemühungen als vorläufig. Es handelt sich um blo-
ße Deutungsansätze, denen keine Verbindlichkeit zugesprochen wird. Denn auch
der Erzähler scheut davor zurück, das vermeintlich Unwichtige auszusortieren. Er
berichtet über vieles, von dem er nicht weiß, ob es bedeutend oder unbedeutend
ist, ob sich das geheime Wirken des ordo darin manifestiert oder nicht. Im Zweifel

170 Ebd. 1.11.31.


171 B. R. Voss: Der Dialog in der frühchristlichen Literatur. S. 2 2 5 .
386 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

entscheidet er sich lieber dafür, ein beiläufiges Ereignis in seine Erzählung auf-
zunehmen, als etwas unter den Tisch fallen zu lassen, dem ein verborgener Sinn
innewohnen könnte.
Der Erzähler verzichtet darauf, eine totalisierende Perspektive einzunehmen. Er
delegiert einen Großteil der Deutungsarbeit an den Leser seines Berichts weiter.
Das unterscheidet das erzählte Gespräch augustinischer Prägung vom platonischen
Dialog, der den Leser aufgrund seiner dramatischen Form in die Position des Augen-
zeugen zu drängen und ihm die Illusion zu verschaffen sucht, dem Geschehen un-
mittelbar beizuwohnen. Piaton will das Lesen im Sehen aufgehen lassen. Augustinus
hingegen exponiert mit Hilfe der Erzählerinstanz die Mittelbarkeit des dargestellten
Geschehens. Der Erzähler nötigt den Lesern des Dialogs keine autoritative Deu-
tungsperspektive auf, er macht vielmehr die Deutungsbedürftigkeit der berichteten
Ereignisse sichtbar. Die zu keinem definitiven Ergebnis führenden Interpretations-
bemühungen des Erzählers machen dem Leser allererst bewußt, daß sich das Dar-
gestellte nicht von selbst versteht, sondern einen zeichenhaften Charakter besitzt.
Der Rezipient von De ordine wird dazu animiert, dem occultus ordo nachzuspüren,
auf den das erzählte Geschehen verweist. Er soll nicht sehen, sondern lesen.172 Die
narrative Synthese steht somit in einem scharfen Kontrast zu ihrem dialektischen
Widerpart. Sie markiert die Resultate, zu denen sie gelangt, als vorläufig und der
weiteren Deutung bedürftig. Auf diese Weise trägt sie dem postlapsarischen Faktum
Rechnung, daß keine menschliche Rede - auch nicht diejenige des rückblickenden
Erzählers - die Wahrheit, die sie vermittelt, vollkommen zu beherrschen vermag.

172
Ulrich Duchrow stellt in seiner Studie über das Sprachverständnis Augustins die problematische
Behauptung auf, daß der Kirchenvater die griechisch-antike Fixierung auf das Paradigma des
Visuellen nie überwunden habe, daß Erkenntnis für ihn immer gleichbedeutend mit Schau
gewesen sei. (U. Duchrow: Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin. S. 240f.)
Diese einseitige Auffassung ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß Duchrow die for-
malen Aspekte der augustinischen Schriften überhaupt nicht berücksichtigt. Eine Analyse,
die den Darstellungsstrategien des Kirchenvaters Beachtung schenkt, muß dagegen zu dem
Ergebnis gelangen, daß das griechische Paradigma der Schau schon im Frühwerk mit dem
christlichen Paradigma der Entzifferung in Konflikt gerät. Neben die dialektische Synthese
tritt die narrative Synthese, die nicht auf das Sehen, sondern auf das Lesen hin angelegt ist.
VIII. Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen:
Augustins karitative Hermeneutik der Mit-Teilung

Nicht erst in den nach 391 (dem Jahr seiner Priesterweihe) entstandenen theologi-
schen und konfessorischen Schriften Augustins, sondern bereits in seinem philoso-
phischen Frühwerk finden sich somit deutliche Hinweise auf jene neue, spezifisch
christliche Form des rapport h soi, die Michel Foucault den antiken Techniken der
Glückssicherung gegenüberstellt: auf eine hermeneutique du sujet. Das Individuum
wird sich selbst zu einem unauflöslichen Rätsel; es gewinnt eine verborgene Innen-
und Tiefendimension, die der Dechiffrierung bedarf. Foucault lokalisiert diese innere
Verborgenheit, die zu enthüllen dem Subjekt aufgegeben ist, in den Abgründen des
Begehrens: Die Arbeit der Selbstentzifferung ist dem christlichen Subjekt auferlegt,
da hinter jeder Vorstellung, die es hegt, die Versuchung der Konkupiszenz lauert;
jeder noch so harmlose Gedanke kann sich bei näherer Betrachtung als verkleideter
Abkömmling eines illegitimen Verlangens entpuppen. Das, was im Verborgenen
wirkt und der Aufdeckung harrt, ist demnach die bedrohliche Macht der Sexualität.
Foucault konzipiert die christliche Selbsthermeneutik als eine Hermeneutik des
sexuellen Begehrens.
Nun stellt die Sexualität im frühen Christentum tatsächlich einen Gegenstand
dar, der die besondere Aufmerksamkeit und Besorgnis der kirchlichen Autoritäten
erheischt. Nicht zuletzt Augustinus hat mit seiner Auslegung des Sündenfall-
Theologems maßgeblich dazu beigetragen, die Unbotmäßigkeit des sexuellen
Verlangens zum Insignium der conditio humana zu erheben.1 Gleichwohl bedeutet
die ausschließliche Konzentration auf den Gegenstandsbereich des Begehrens eine
unzulässige Einschränkung der selbsthermeneutischen Perspektive. Die Maskerade
des Verlangens ist bloß das auffälligste Symptom einer sehr viel tiefer reichenden
Störung, die nach christlicher Vorstellung den ganzen Menschen in Mitleidenschaft
zieht. Die selbsthermeneutische Einstellung umfaßt mehr als die Wachsamkeit der
Vernunft gegenüber der heimlichen Aktivität des Begehrens. Eine derartige Wach-
samkeit ist nichts Neues; sie begegnet im Kontext der antiken Selbsttechniken etwa
in Form der von den Stoikern propagierten Haltung der prosocbe. Neu ist vielmehr,
daß die Vernunft in sich selbst gespalten ist. Die Vernunft stößt in sich selbst auf

1 Vgl. hierzu Peter Brown: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese u n d Körper-
lichkeit im frühen Christentum. Aus d e m Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer. M ü n c h e n
1994; zu Augustinus siehe Kapitel 19, S. 3 9 5 - 4 3 7 .
388 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

verborgene Bereiche, auf eine occultissima ratio-, die sich der Kontrolle des Subjekts
entzieht. Dieser Kontrollverlust läßt sich weder mit Hilfe der dialektischen Methode
und noch durch den ordo studiorum kompensieren.
Die Dechiffrierungsbemühungen des Subjekts richten sich also auf die verborge-
ne Dimension der Ratio. Die Wahrheit, der das Individuum auf den Grund zu gehen
sucht, ist nicht bloß die beschränkte Wahrheit seines versteckten Begehrens, sondern
die Wahrheit schlechthin. Wahrheit — sei es die Wahrheit des Selbst, sei es diejenige
Gottes - ist dem Subjekt nicht ohne die Arbeit der Entzifferung, ohne Deutung
und Lektüre zugänglich. Aufgrund der Gespaltenheit seiner Vernunft ist ihm die
Möglichkeit unmittelbarer Selbst- und Gotteserkenntnis verwehrt. Diese Erkenntnis
kann es allein durch die Vermittlung von Zeichen erlangen, die der Interpretation
bedürfen. Das neoplatonische Ideal unmittelbarer Selbst- und Gotteserkenntnis, an
dem sich Augustinus weiterhin orientiert, gerät bereits in seinem philosophischen
Frühwerk unter Druck. Wenn das Individuum sich selbst opak erscheint, so ist dies
nach neoplatonischer Auffassung auf die Tatsache zurückzuführen, daß es sich an die
Außenwelt verloren hat, wo es der Zerstreuung durch die Vielfalt sinnlicher Erschei-
nungen zum Opfer gefallen ist. Das Dunkle verwandelt sich demnach in Klarheit,
sobald das Individuum sich sammelt und in sein inneres Selbst zurückkehrt, sich
aus der Verstrickung in zeitliche und sinnliche Verhältnisse löst und auf diese Weise
seine Geistnatur aktualisiert, die es mit dem Göttlichen in sprachloser Schau vereint.
Die Selbsteinkehr, die in den Soliloquia beschrieben wird, führt jedoch gerade nicht
auf eine solche Transparenz der Schau. Das Subjekt verbleibt im Bereich sprach-
lich vermittelten Denkens; es erlangt keine visio, sondern allenfalls eine flüchtige
Erleuchtung, einen bloßen Vorschein der Wahrheit, der seinerseits zeichenhaften
Charakter besitzt und nach vertiefender Deutung verlangt. Dem Individuum wird
ein Verstehen zuteil, das sich selbst nicht ganz durchschaut.
Die kontemplative Einkehr genügt sich folglich nicht mehr selbst. Um zu ver-
stehen, was es innerlich schaut, ist das Subjekt auf Hilfe von außen angewiesen. Da
sein eigenes Verstehen ihm dunkel bleibt, strebt es nach Beistand im Verstehen eines
anderen. Die selbsthermeneutische Wende, die sich im Frühwerk Augustins ankün-
digt, impliziert die Überwindung des neoplatonischen Solipsismus. Auch Foucault
hebt hervor, daß der hermeneutische rapport a soi, der sich im frühen Christentum
herausbildet, an die Entstehung eines neuen Typs von Alteritätsverhältnis gekoppelt
ist. Das von unbewußten Regungen angetriebene Subjekt kann sich aus eigener Kraft
nicht von der Selbsttäuschung befreien: »we are always in a self-illusion which hides
the secret.« Es kann dieser Täuschung nur dadurch entkommen, daß es sich einem
anderen mitteilt. »There is only one way: to tell all thoughts to our director, to be
obedient to our master in all things, to engage in the permanent verbalization of
all our thoughts.« 2 Laut Foucault gestaltet sich die Beziehung zum anderen, welche

2
Michel Foucault: Technologies of the Self. S. 46f.
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 389

die Selbstentzifferung ermöglicht, als ein Verhältnis bedingungsloser Unterwerfung.


Der andere, das ist die pastorale Autorität, die geistliche Obrigkeit, der Seelsorger,
dem man sich in rückhaltloser Aufrichtigkeit zu offenbaren hat. Doch wie die Kon-
zentration auf die Sexualität eine einseitige Verengung der selbsthermeneutischen
Perspektive indiziert, so auch die Gleichsetzung des Alteritätsverhältnisses mit der
Unterwerfung unter die pastorale Obrigkeit. Augustinus gründet die Beziehung zum
anderen, mit deren Hilfe das Subjekt zum Verstehen seiner selbst gelangen soll, nicht
auf das Prinzip des Gehorsams, sondern auf das Prinzip der Liebe. Die Caritas gilt
ihm als der hermeneutische Schlüssel, der den Zugang zur Wahrheit eröffnet. Die
liebende Zuwendung zum anderen, nicht die Unterwerfung unter seine Autorität,
bestimmt, wie zu zeigen sein wird, den spezifisch hermeneutischen Charakter der
Selbstlektüre, die Augustinus in seinen Schriften zur Katechese und zur Schriftaus-
legung programmatisch entwirft, in der autobiographischen Bekenntnisschrift aber
exemplarisch verwirklicht.
Freilich ist es nicht unproblematisch, die Wende zur Selbsthermeneutik bereits
für das Frühwerk Augustins zu veranschlagen. Diese Annahme verträgt sich schlecht
mit dem Bild, das die Augustinus-Forschung von der geistigen Entwicklung des
Kirchenvaters zu zeichnen gewohnt ist. Demzufolge hat Augustinus zunächst eine
philosophische Schaffensphase durchlaufen, ehe er sich die christliche Doktrin ganz
zu eigen machte. Die Schriften, die vor seiner Rückkehr nach Afrika entstanden sind,
stehen noch ganz im Zeichen des heidnisch-antiken Weisheits- und Glücksideals,
wohingegen sich genuin christliches Gedankengut nur langsam durchzusetzen ver-
mochte - deutlich erkennbar erst in den nach 391 publizierten Werken, als Augus-
tinus eine offizielle Funktion innerhalb der Institution der Kirche übernahm. 3
Die These, daß selbsthermeneutische Ansätze schon im Frühwerk zu finden sind,
gerät aber auch mit einer anderen Richtung der Augustinus-Forschung in Konflikt,
die allerdings die Annahme einer linearen geistigen Entwicklung nicht teilt. Einige
Autoren verweisen auf die starke Persistenz neoplatonischer Elemente in Augustins
Denken - eine Persistenz, die angeblich weit über das Jahr 391 hinausreicht. Ulrich
Duchrow etwa behauptet in seiner Untersuchung zum Sprachverständnis Augu-
stins, daß der Kirchenvater bis an sein Lebensende ein neoplatonischer Philosoph
geblieben sei, der am griechischen Ideal der sprachlosen Kontemplation festgehalten
habe. 4 Duchrow sieht in Augustinus den Advokaten einer radikalen, solipsistischen
Selbsteinkehr. Der Kirchenvater weise der sprachlichen Äußerung lediglich die
Bedeutung eines zufälligen, zweiten Schritts zu. Sie gebe das primär unmittelbar
Geschaute in zeichenhafter Abschattung kund, ohne das innere Geschehen zu

3 Dieses Entwicklungsschema liegt u.a. den Studien von Marrou (Augustinus und das Ende der
antiken Bildung), Brown {Augustine of Hippo) und Flasch (Augustin. Einführung in sein Denken)
zugrunde.
4 Vgl. die resümierenden Ausführungen in U. Duchrow: Sprachverständnis und biblisches
Hören bei Augustin. S. 240f.
390 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gtfallenen Willens

beeinträchtigen, aber auch ohne seinen wesentlichen Gehalt zu erfassen. Dadurch


werde der mitmenschliche Aspekt der Sprache entwertet und seiner letzten Notwen-
digkeit beraubt. 5 Selbst dort, wo Augustinus der seelischen Innenwelt explizit einen
verbalen Charakter attestiere (in seiner großen Abhandlung De trinitate etwa, in der
er das Konzept des verbum mentis einführt), sei dieses Innere letztlich unsprachlich,
nämlich von der sichtbaren Präsenz der Wahrheit aus gedacht. 6 Auch die Gnaden-
theologie des Kirchenvaters habe sich nicht nachhaltig auf seine sprachfeindliche
Grundeinstellung auswirken können, denn Augustinus deute das Gnadengeschehen
als ein rein innerliches, rein geistiges Handeln Gottes, das unabhängig von der
sprachlichen Verkündigung der Heilslehre erfolge. 7 Laut Duchrow kann von einer
selbsthermeneutischen Wende im Denken des Kirchenvaters also überhaupt keine
Rede sein.
So einseitig die Interpretation Duchrows auch sein mag, sie ist insofern hilfreich,
als sie auf den nicht zu leugnenden Fortbestand eines neoplatonischen Substrats
im augustinischen Denken aufmerksam macht und somit einer vereinfachenden
Auffassung der selbsthermeneutischen Wende vorbeugt. Diese Wende verweist
nicht auf das Nacheinander zweier unterschiedlicher, sauber voneinander getrennter
Entwicklungsphasen, sondern auf das spannungsvolle Nebeneinander gegenläufiger
Tendenzen. Wenngleich das Paradigma der Selbstentzifferung die Modellvorstellung
der kontemplativen Schau im augustinischen Denken zunehmend an den Rand
drängt, vermag es sie doch nie ganz aus dem Feld zu schlagen. Auch nach 391 fällt
Augustinus immer wieder in neoplatonische Argumentationsmuster zurück.
Wenn das entwicklungsgeschichtliche Schema also nicht dazu geeignet ist, den
Widerspruch zwischen Schau und Entzifferung aufzulösen, wie läßt sich das Ver-
hältnis der beiden Paradigmen dann adäquat erfassen? Augustinus selbst gibt dazu
in seiner Abhandlung De doctrina christiana, einer methodischen Anleitung zur
Schriftexegese, einen wertvollen Hinweis. Dort bezeichnet er den Wunsch, in eine
unmittelbare, rein geistige Beziehung zu Gott zu treten, als eine hochmütige und
gefährliche Versuchung. 8 Augustinus macht kein Hehl daraus, daß er selbst solchen
Anfechtungen ausgesetzt ist. Die solipsistische Selbsteinkehr neoplatonischer Prä-
gung markiert eine Versuchung, der er immer wieder erliegt, die er aber zugleich
auch systematisch zu bekämpfen sucht - nicht zuletzt dadurch, daß er das Konzept
der Selbsthermeneutik ausarbeitet und in den Zusammenhang seiner biblischen
Auslegungslehre integriert. Die solipsistische Selbsteinkehr stellt eine Versuchung
dar, weil sie das Risiko der Fehllektüre beinhaltet. Das Individuum, das sich ganz
in sich selbst einschließt, läuft Gefahr, die Vorläufigkeit und den Verweisungscha-

5
Ebd. S. 96, S. 147.
6
Ebd. S. 148.
7
Ebd. S. 187.
8
Vgl. Aurelius Augustinus: De doctrina christiana. Prooemium 6: »Caveamus tales temptationes
superbissimas et periculosissimas«.
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 391

rakter der Einsichten zu übersehen, die es durch einsames Nachdenken erlangt. Es


glaubt, die Wahrheit selbst zu erfassen, während ihm tatsächlich nur ein Vorschein
derselben zuteil wird. Die Unmittelbarkeit der Erkenntnis, die das Individuum
in solipsistischer Selbsteinkehr gewinnt, ist ein trügerischer Schein. Er leistet der
sündhaften superbia des Wahrheitssuchenden Vorschub: Der Wahrheitssuchende
erliegt der Illusion, ohne fremde Hilfe zur Selbst- und Gotteserkenntnis gelangen zu
können. Er hält sich als Erkenntnissubjekt für autark und übersieht die irreduzible
Fehlbarkeit seines kognitiven Vermögens, die auf den Sündenfall zurückzuführen ist.
U m die Gefahr hochmütiger Verblendung zu bannen und das Täuschungspotential
zu entschärfen, versucht Augustinus, das Prinzip der Caritas zur Geltung zu bringen.
Die solitäre Schau, so argumentiert er, genügt sich niemals selbst; sie ist stets nur
ein erster Schritt auf dem Weg zur vollkommenen Einsicht in die Wahrheit. Wirk-
liche Selbst- und Gotteserkenntnis kann das Individuum nur dadurch gewinnen,
daß es aus dem Inneren, in das es sich versenkt hat, wieder heraustritt und sich den
anderen öffnet. U m sich die Wahrheit ganz aneignen zu können, m u ß das Subjekt
seine Einsichten mitteilen - sie brüderlich mit anderen teilen. Augustinus knüpft die
Möglichkeit der innerlichen Selbstentzifferung an den Akt der Selbstdarstellung, die
nach außen gerichtet ist. Das Sich-selbst-Lesen bildet mit dem Sich-selbst-Schreiben
eine Einheit. Das Individuum kann sich selbst nur lesen, indem es sich den anderen
lesbar macht.
Die Confessiones sind das Produkt einer karitativen Selbsthermeneutik, deren
theoretische Implikationen Augustinus in seinen Schriften zur Katechese und zur
Bibelexegese entfaltet. U m der Analyse der Confessiones die Richtung zu weisen, ist es
daher erforderlich, diese Schriften - insbesondere die Abhandlungen De catechizMn-
dis rudibus und De doctrina christiana — einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.
Dabei soll der Frage nachgegangen werden, wie der Zusammenhang zwischen inne-
rem Verstehen und äußerer Mitteilung, zwischen (vermeintlich) sprachloser Schau
und verbalem Bekenntnis, beschaffen ist.

1. Der hermeneutische Schlüssel der Caritas·.


De catechizandis rudibus

D e n k e n u n d Sprechen

Die Niederschrift der Abhandlung De catechizandis rudibus läßt sich mit hoher
Wahrscheinlichkeit auf das Jahr 400 datieren. 9 Die Komposition des Textes fällt
somit in den Entstehungszeitraum der Confessiones, an denen Augustinus zwischen

5
Vgl. G. Gombes / J. Farges: Introduction. In: CEuvres de Saint Augustin. Vol. 11: Le magis-
tere chretien. Texte, traduction et notes par G. Gombes et M . Farges. Bruges et Paris 1949
(Bibliotheque Augustinienne). S. 9—16, hier: S. 9f.
392 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

397 und 401 gearbeitet hat. 10 Der Kirchenvater reagiert mit seinem kurzen Traktat
auf die Anfrage eines Freundes, des Diakons Deogratias von Karthago. Deogratias
hatte Augustinus um seine pädagogische Expertise gebeten. Er war an ihn mit der
Erwartung herangetreten, einen Leitfaden für die Katechese, die religiöse Unter-
weisung der Neubekehrten, zu erhalten. Augustinus kommt diesem Ansinnen
gerne nach, beschränkt seine Ratgebertätigkeit aber keineswegs darauf, technische
Anweisungen für den Religionsunterricht zu geben. Vielmehr bezieht er die Schwie-
rigkeiten, denen der Lehrer im Umgang mit den Katechumenen begegnet, auf ein
grundsätzliches Problem, das den Rahmen der pädagogischen Erörterung sprengt.
Er führt die Unzufriedenheit, die der Katechet angesichts seiner didaktischen
Leistung empfindet, auf das allgemeinere Ungenügen an der Leistungsfähigkeit der
menschlichen Sprache zurück. Das Problem der Lehre ist für ihn ein Problem der
sprachlichen Kommunikation, der Verbalisierung des Denkens. Wie kommt es, so
fragt er, daß uns ein Verdruß, ja ein Ekel (»taedium«) befällt, sobald wir das, was wir
durch inneres Nachdenken ermittelt haben, in äußere Worte kleiden müssen, um es
anderen mitzuteilen?11 Warum bereitet es uns mehr Freude, etwas still in unserem
Geiste zu schauen, als es sprachlich zu artikulieren? 12 Augustinus wittert hinter
dem Unbehagen, das die Lehrtätigkeit dem Katecheten bereitet, die Versuchung
der solipsistischen Selbsteinkehr. Die Freude, die von der einsamen Kontemplation
ausgeht, hat ihre Schattenseite, denn sie kann das Individuum davon abhalten, seine
karitativen Pflichten zu erfüllen.
Doch Augustinus begnügt sich nicht damit, Deogratias auf diese Versuchung
aufmerksam zu machen und ihn davor zu warnen, die unangenehme Lehrtätigkeit
über den Freuden der Selbsteinkehr zu vernachlässigen. Darüber hinaus unterzieht
er das Unbehagen, das mit dem Sprechen und Lehren verbunden zu sein scheint,
einer gründlichen Analyse. Er gelangt dabei zu dem Ergebnis, daß dieses Gefühl auf
einem Wahrnehmungsfehler des Sprechenden beruht. Augustinus dekonstruiert die
Opposition zwischen lustvoller Selbsteinkehr und schmerzhafter Selbstentäußerung,
von der seine Untersuchung ihren Ausgang nimmt. Die karitative Hinwendung
zum anderen ist am Ende keine bloße Pflicht, deren Erfüllung dem Anspruch des

10
Hinsichtlich der mutmaßlichen Entstehungszeit der Confessiones herrscht in der Forschung
weitgehend Einigkeit. Vgl. Erich Feldmann: Confessiones. In: Augustinus-Lexikon. Hg.
von Cornelius Mayer. Basel 1986ff. Bd. 1. Sp. 1134-1193, hier: Sp. 1184f. - Einen guten
Überblick über die mit der Frage der Datierung verbundenen Probleme bietet A. Solignac:
Introduction. In: CEuvres de Saint Augustin. Vol. 13: Les Confessions. Texte de 1 edition de
M. Skutella, introduction et notes par Α. Solignac, traduction de Ε. Trehorel et G. Bouissou.
Bruges et Paris 1962 (Biblioth£que Augustinienne). S. 9-270, hier: S. 45-54.
" De catechizandis rudibus II.3. - Die deutsche Ubersetzung der Zitate aus De catechizandis
rudbus entnehme ich der folgenden Ausgabe: Des Heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus
ausgewählte praktische Schriften homiletischen und kathechetischen Inhalts. Übersetzt von
S. Mitterer. Kempten und München 1925 (Bibliothek der Kirchenväter. 2. Reihe. Bd. 49).
S. 233-309.
12
De catechizandis rudibus X. 14.
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 393

Subjekts im Wege steht, sich der Wahrheit durch Introspektion zu bemächtigen.


Vielmehr stellt sie selbst ein Erkenntnisinstrument dar: Den eigentlichen Zugang zur
Wahrheit, so behauptet Augustinus, findet das Subjekt nur über die Liebe.
Augustinus führt den Verdruß, den das Individuum bei dem Versuch verspürt,
seine Gedanken in Worte zu fassen, auf die Wahrnehmung einer Diskrepanz zwi-
schen Denken und Sprechen zurück. Er gründet seine Überlegungen auf seine eigene
Erfahrung:
Nam et mihi prope semper sermo meus displicet. Melioris enim avidus sum, quo saepe fruor
interius, antequam eum explicare verbis sonantibus coepero: quod ubi minus quam mihi motus
est evaluero, contristor linguam meam cordi meo non potuisse sufficere. Totum enim quod
intelligo, volo ut qui me audit intelligat; et sentio me non ita loqui, ut hoc efficiam: maxime
quia ille intellectus quasi rapida coruscatione perfundit animum, illa autem locutio tarda et
longa est, longeque dissimilis [...]. 13

Aus der Perspektive desjenigen, der seine auf kontemplativem Wege gewonnenen
Einsichten verbalisieren will, besteht eine unüberwindliche Kluft zwischen dem
inneren Verstehen und der äußeren Rede. Die Sphäre der Gedanken ist offenbar
von der Sphäre der Wörter derart verschieden, daß eine Vermittlung unmöglich
erscheint. Die Rede ist ein Bestandteil der körperlichen Außenwelt; sie entfaltet sich
mühsam und auf langwierigen Umwegen in einer temporalen Abfolge sinnlicher
Zeichen - »longis et perplexis amfractibus procedat ex ore earn is«.14 Das Denken
hingegen ist eine Sache des Augenblicks. Der Geist erfaßt einen komplexen Zusam-
menhang im Nu; inneres Verstehen vollzieht sich in Form einer ebenso plötzlichen
wie flüchtigen Erleuchtung. Was der Geist simultan und als ein Ganzes zu gewahren
vermag, muß die Rede als Nacheinander partikularer Entitäten artikulieren. Sie ist
dem Verstehen gegenüber immer im Rückstand; sie hastet einer Wahrheit hinterher,
die sie stets nur unzulänglich wiederzugeben vermag. Der Ubergang vom Denken
zum Sprechen markiert daher einen Abstieg - einen Abstieg vom Gipfel (»a [...]
cacumine«) reiner geistiger Schau, der in die Niederungen einer vom Sinnlichen
affizierten und verdunkelten Wahrheit fuhrt. 15 Der Sprechende kann die Erkenntnis,
die er für einen kurzen Moment in unverhüllter Klarheit zu erfassen meinte, in seiner
eigenen Rede nicht wiedererkennen. Die Wahrnehmung dieser Unähnlichkeit ver-

" Ebd. II.3. (»Auch ich habe an meinem Vortrag fast immer Mißfallen. Ich wünsche mir immer
einen besseren, und oft ist er auch wirklich in meinem Geist so vorhanden, bevor ich ihn
in laute Worte zu kleiden beginne. Gelingt es mir dann nicht so gut als ich es eigentlich (in
meinem Innern) wüßte, dann bin ich darüber betrübt, daß meine Ausdrucksfähigkeit nicht
an meine Einsicht heranreichte. Denn ich möchte natürlich, es sollten auch meine Zuhörer
alles ganz so verstehen, wie ich es selbst [in mir] verstehe; und doch fühle ich, daß meine
Worte meiner Absicht nicht entsprechen. Dies kommt vor allem daher, daß das Verständnis
in der Seele gleichsam blitzartig aufleuchtet, die mündliche Darlegung aber im Gegenteil
dazu nur langsam erfolgen kann und dem Denken ganz unähnlich ist [...].« [Übersetzung
modifiziert]).
14
Ebd. X. 15.
15
Ebd.
394 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

leidet ihm das Geschäft der Mitteilung: »quia multum dissimiliter exit [intellectus],
taedet loqui, et Übet tacere«.16
Es hat somit den Anschein, als stehe Augustinus mit seiner Analyse der Unlust,
die den Lehrenden beim Sprechen zu überkommen pflegt, fest auf dem Boden der
neoplatonischen Doktrin. Die Erfahrungen, die er selbst als Katechet gemacht hat,
scheinen diese Doktrin zu bestätigen. Die Sprache ist als Instrument der Unterweisung
offenbar nicht viel wert. Da sie die inneren Vorgänge der Seele nur höchst unvollkom-
men zu repräsentieren vermag, lohnt es sich kaum, die Mühen auf sich zu nehmen, die
mit der Verbalisierung des Denkens verbunden sind. Es erscheint sinnvoller, auf den
Schüler in der Weise einzuwirken, daß er sich seinerseits in sein Inneres versenkt, um
die Wahrheit dort durch eigenes geistiges Anschauen unmittelbar zu erfassen.
Doch bezeichnenderweise wird diese radikale Lösung, die Augustinus in seiner
Schrift De magistro noch ernsthaft in Erwägung zieht,' 7 in De catechizandis rudi-
bus verworfen. Die Feststellung, daß zwischen Denken und Sprechen eine Kluft
besteht, ist nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Analyse des taedium, von dem
der Lehrende heimgesucht wird. In einem zweiten Schritt entlarvt Augustinus diese
Feststellung als das Produkt einer perspektivisch beschränkten Wahrnehmung. Es
scheint dem Lehrenden so, als existiere eine derartige Kluft, tatsächlich handelt es
sich dabei aber um eine Täuschung, die durch die solipsistische Abkapselung des
Denkenden bedingt ist. Die radikale Abkehr von der Außenwelt bewirkt eine Verzer-
rung seiner Selbstperzeption. Der Sprechende vermag seine eigene Rede nicht richtig
einzuschätzen. Was aus der Innenperspektive wie ein entferntes Abbild wirkt, das
keinerlei Ähnlichkeit mit der Wahrheit besitzt, macht auf den Außenstehenden einen
ganz anderen Eindruck. Um die Selbsttäuschung zu veranschaulichen, welcher der
Lehrende erliegt, beruft sich Augustinus erneut auf seine persönliche Erfahrung:
Sed mihi saepe indicat eorum Studium qui me audire cupiunt, non ita esse frigidum eloquium
meum, ut videtur mihi; et eos inde aliquid utile capere, ex eorum delectatione cognosco, me-
cumque ago sedulo, ut huic exhibendo ministerio non desim, in quo illos video bene accipere
quod exhibetur. Sic et tu, eo ipso quod ad te saepius adducuntur qui fide imbuendi sunt, debes
intelligere non ita displicere aliis sermonem tuum ut displicet tibi, nec infructuosum te debes
putare, quod ea quae cernis non explicas ita ut cupis; quando forte ut cupis nec cernere valeas.
Quis enim in hac vita nisi in aenigmate et per speculum videt?18

16
Ebd.
17
Vgl. De magistro XII.38.
18
De catechizandis rudibus II.4. (»Allein der Eifer, mit dem manche nach meinem Worte verlangen,
liefert mir dann doch oft wieder den Beweis, daß mein Vortrag nicht so ganz kalt läßt, wie es
mir wohl scheint, und daß meine Zuhörer daraus doch einigen Nutzen schöpfen, das erkenne
ich an dem Gefallen, den sie daran finden. Darum geht auch mein reges Streben dahin, es in
der Ausübung dieses Amtes nicht an mir selber fehlen zu lassen, da ich sehe, wie meine Zuhörer
das, was ich ihnen biete, so freudig aufnehmen. Aus dem gleichen Grund sollst auch du daraus,
daß man so häufig jemanden zur Einführung in den Glauben zu dir weist, entnehmen, daß dein
Vortrag anderen durchaus nicht so mißfällt wie dir selber. Hüte dich also davor, dich selbst fur
unfruchtbar zu halten, weil du das, was du innerlich schaust, nicht deinem Wunsch entsprechend
erklären kannst, denn vielleicht ist schon dein inneres Schauen nicht so, wie es sein sollte. Wer
nämlich schaut in diesem Leben anders als wie in Rätseln und wie durch einen Spiegel?«).
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 395

Im Vergleich zu dem Verständnis, das ihm in seinem geistigen Inneren zuteil wird,
erscheinen dem Lehrenden die Worte, die er äußert, schal und platt. Er hat das
Gefühl, daß nichts von der innerlich geschauten Wahrheit in seine Rede eingeht.
Die Reaktion seiner Schüler widerlegt aber diesen Eindruck. Die Schüler hören den
Vortrag des Lehrers mit Nutzen und mit Freude; sie lernen Dinge, die sie zuvor
nicht kannten. Folglich steht die Rede der inneren Wahrheit, die sie vermitteln soll,
doch nicht so fern, wie der Lehrer zunächst glaubte. Würde er sich stärker auf seine
Hörer einlassen, anstatt sich ganz mit seiner Innensicht zu identifizieren, so käme
er zu einem adäquateren Urteil über seinen Vortrag und über die Leistungsfähigkeit
der Sprache überhaupt.
Der Lehrer täuscht sich aber nicht nur hinsichtlich des Wahrheitsgehalts seiner
Rede. Er irrt sich auch, was den Status seines inneren Verstehens anbetrifft. Au-
gustinus erinnert Deogratias daran, daß der postlapsarische Mensch nicht allein in
seinem Sprechvermögen, sondern auch in seinem Denkvermögen beeinträchtigt
ist. Schon das innerliche Erfassen der Wahrheit ist nicht so beschaffen, wie man es
sich wünscht. Der Kontemplierende steht in keiner unmittelbaren Beziehung zum
Wahren, vielmehr schaut er, wie Augustinus unter Rekurs auf den Apostel Paulus
formuliert, 19 durch Spiegel und Rätsel. Was er innerlich einsieht, versteht sich eben
nicht von selbst. Die dabei gewonnene Erkenntnis ist stets nur vorläufig und bedarf
der vertiefenden Betrachtung. Der Lehrende, der eine abschreckende Diskrepanz
zwischen seinem Denken und Sprechen wahrnimmt, irrt sich somit in zweierlei
Beziehung: Die Rede, die seine Gedanken zum Ausdruck bringt, ist der Wahrheit
näher, das innere Verstehen, in dem er verharren will, ist von ihr weiter entfernt, als
er zu glauben bereit ist. Die Kluft, die das eine vom anderen trennt, stellt folglich
kein unüberwindliches Hindernis dar. Denken und Sprechen sind sich sehr viel
ähnlicher, als es dem in sein Inneres Versunkenen erscheinen mag.
Um Deogratias davon zu überzeugen, daß die Wahrnehmung der Diskrepanz
zwischen Denken und Sprechen auf einer Täuschung beruht, verweist ihn Augusti-
nus auf das Beispiel Christi. Gott selbst führt dem Menschen die Notwendigkeit vor
Augen, sich der Wahrheit in sprachlicher Form zu entäußern. W i e sich Gott durch
die Menschwerdung seines Sohnes und in den menschlichen Worten der Heiligen
Schrift aus Liebe herabgelassen hat, damit ihn die Menschen verstehen, so soll sich
der menschliche Lehrer gegenüber seinem Nächsten öffnen, um ihn an seinem
Denken teilhaben zu lassen. Die menschliche Sprache ist durch das göttliche Vorbild
als Kommunikations- und Erkenntnismittel gerechtfertigt. 20 Wenn Gott selbst sich
nicht zu schade ist, die Sprache als Vehikel seiner Heilswahrheit zu benutzen, dann

19 1 Kor. 13.12.
20 Marcia L. Colish (The Mirror of Language. S. 33) sieht daher in der Inkarnation das Schlüs-
selkonzept der augustinischen Sprachphilosophie: »Rightly ordered speech, according to
Augustine, is a consequence of the Incarnation. The key to the linguistic epistemology which
he posits is Christ, Whom he sees as the verbal and actual reconciliation of God and man.«
396 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gtfallenen Willens

steht es dem Menschen in keiner Weise an, sich geringschätzig über dieses Medium
hinwegzusetzen. Augustinus etabliert somit eine Analogie zwischen der Inkarnation
und der menschlichen Rede, doch er hebt diese Analogie sogleich wieder aus den
Angeln, da sie ihm in gewisser Weise blasphemisch erscheint. Von einer wirklichen
Herablassung kann nämlich nur in Bezug auf Gott, nicht aber in Bezug auf den
Menschen die Rede sein:
Quantumvis enim differat articulata vox nostra ab intellegentiae nostrae vivacitate, longe
differentior est mortalitas carnis ab aequalitate dei. Et tarnen cum in eadem forma esset, se-
metipsum exinanivit formam servi accipiens etc. usque ad mortem crucis. Q u a m ob causam,
nisi quia factus est infirmis infirmus, ut infirmos lucrificaret?21

Laut Augustinus ist der Abstand, der die menschliche von der göttlichen Natur
trennt, unendlich viel größer als die Differenz, die das menschliche Denken vom
menschlichen Sprechen scheidet. Zwischen G o t t und dem Menschen klafft ein
ontologischer Abgrund; die eigentliche Diskrepanz ist hier anzusiedeln, nicht aber
in der Beziehung zwischen äußerem Wort und innerem Verstehen.
Augustinus knüpft mit diesen Überlegungen an eine Tradition theologischen
Denkens an, die auf das erste Konzil von Nicäa (325) zurückgeht. 22 Das Konzil
verhalf der Doktrin der creatio ex nihilo zum Durchbruch. Sie postuliert einen
absoluten Gegensatz zwischen dem sich selbst genügenden Schöpfergott und der
von ihm aus dem Nichts geschaffenen Weltordnung, zu der nicht nur der Körper,
sondern auch die Seele des Menschen gehört. Die Seele ist wie der Körper eine bloße
Kreatur; aufgrund ihrer Kreatürlichkeit ist sie dem Körper sehr viel näher verwandt
als dem göttlichen Schöpfungsprinzip. 23 Die im platonischen Denken behauptete
Gottähnlichkeit der menschlichen Seele wird durch die Doktrin der creatio ex nihilo
mithin ebenso sehr in Frage gestellt wie die Annahme einer ontologischen Kluft, die
das Körperliche rigoros vom Seelischen abhebt. Körper und Seele sind mit ein und
demselben Makel der Kreatürlichkeit behaftet. Folglich ist es unstatthaft, zwischen
den geistigen Vorstellungen der Seele und den sinnlichen Zeichen der Rede eine
künstliche Scheidewand zu errichten. Um diese eingebildete Wand niederzureißen,
soll der Mensch dem göttlichen Beispiel folgen, wobei die imitatio Dei hier in einem
übertragenen Sinne verstanden werden muß: Gott im eigentlichen Sinne nachzu-
ahmen, ist dem Menschen verwehrt. Doch wenn der Schöpfergott selbst sich dazu

21
De catechizandis rudibus X.15. (»Mag immerhin unsere sprachliche Darstellung noch weit
hinter der Lebhaftigkeit unserer geistigen Auffassung zurückstehen, so ist doch unser sterbli-
ches Fleisch noch unendlich weiter entfernt von der Gleichheit mit Gott. Und doch hat sich
Christus, obwohl er auch in der Gestalt Gottes war, selbst entäußere, indem er Knechtsgestalt
annahm usw. [und gehorsam war] bis zum Tode am Kreuz [Phil. 2,6ff.]. Aus welchem Grunde
tat er dies, als nur deshalb, weil er schwach wurde für die Schwachen, um die Schwachen für
sich zu gewinnen [1. Kor. 9, 22].«).
22
Zur post-nicäanischen Theologie und ihren Auswirkungen auf den christlichen Piatonismus
vgl. Andrew Louth: The Origins of the Christian Mystical Tradition. S. 76f. - Die folgenden
Ausführungen sind der aufschlußreichen Darstellung Louths verpflichtet.
23
Ebd. S. 77.
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 397

herabläßt, den unendlichen Abstand, der ihn von seiner Kreatur trennt, mit den
Mitteln der Sprache zu überbrücken, dann ist der Mensch erst recht dazu aufgerufen,
die sehr viel geringere Distanz zu überwinden, die zwischen seinem unvollkomme-
nen Denken und seinem nicht minder fehlbaren Sprechen besteht.
Augustinus gibt sich also alle erdenkliche Mühe, u m den vermeintlichen Gegen-
satz zwischen kontemplativer Schau und sprachlicher Mitteilung zu entschärfen. Er
führt diese aberrante Opposition auf die fehlerhafte Selbstwahrnehmung derjenigen
zurück, die in ihrem Streben nach unmittelbarer Gotteserkenntnis den intersubjek-
tiven Charakter der Heilswahrheit aus den Augen verloren haben und deshalb die
von ihnen eingenommene Innenperspektive verabsolutieren. D e n Verfechtern einer
solchen übertriebenen Form der Selbsteinkehr hält Augustinus entgegen, daß die
Vermittlung zwischen Denken und Sprechen - allem Anschein zum Trotz — nicht
nur möglich, sondern auch geboten ist. Z u diesem Zweck verweist er auf die Mittler-
instanz par excellence, auf Jesus Christus. Tatsächlich führt ihn die genaue Untersu-
chung der Vorgänge, die sich bei der Verbalisierung des inneren Verstehens abspielen,
zu der Einsicht, daß Gedanken und Worte beim Sprechen keineswegs unvermittelt
aufeinanderstoßen. Wie Christus durch sein zeitliches Erlösungswerk u n d durch
das sprachliche Zeugnis der Heiligen Schrift zwischen G o t t und den Menschen ins
Mittel tritt, so gibt es in der menschlichen Seele eine vermittelnde Instanz, die den
Übergang vom Denken zum Sprechen ermöglicht. D i e These von der unversöhnli-
chen Opposition zwischen geistigem Verstehen und sinnlicher Rede vermag der psy-
chologischen Analyse nicht standzuhalten. Augustinus identifiziert das Gedächtnis
als die seelische Instanz, die zwischen Denken und Sprechen vermittelt:

[ Q J u i a [ille intellectus rapidus] vestigia q u a e d a m miro m o d o impressit memoriae, perdurant


illa cum syllabarum morulis; atque ex eisdem vestigiis sonantia signa peragimus, quae lingua
dicitur vel Latina, vel Graeca, vel Hebraea, vel alia quaelibet, sive cogitentur haec signa sive
etiam voce proferantur; c u m ilia vestigia nec Latina, nec Graeca vel Hebraea, nec cuiusque
alterius gentis sint propria, sed ita efficiantur in animo, ut vultus in corpore. 2 4

D a s intellektuelle Verstehen vollzieht sich in Gestalt einer blitzartigen Erleuch-


tung. O h n e die Unterstützung durch das Gedächtnis wäre es nicht möglich, das
Verstehen in Sprache zu transponieren, denn die Rede entfaltet sich sukzessive in
der Zeit, wohingegen die geistige Einsicht sich sogleich wieder in die Tiefen der
Seele zurückzieht - »iam se ilia in secreta sua condidit«. 2 5 D o c h das Gedächtnis, das

24 D e catechizandis rudibus II.3. (»Indessen hinterläßt jenes schnelle innere Erfassen doch in
wundersamer Weise gewisse Spuren im Gedächtnis, und eben diese Eindrücke dauern fort,
während die Silben ausgesprochen werden, und aus ihnen entwickeln wir jene T ö n e und
Bezeichnungen, die m a n Sprache nennt, sei es nun die lateinische oder die griechische oder
die hebräische oder irgendeine andere; dabei ist es ganz gleich, o b diese Bezeichnungen bloß
gedacht oder auch durch die S t i m m e geäußert werden; d e n n die bezeichneten Spuren selbst
sind weder lateinisch noch griechisch noch hebräisch noch irgendeinem Volke eigentümlich,
sondern sie sind für den Geist, was die Gesichtszüge für den Körper sind.« [Ubersetzung
modifiziert]).
25 Ebd.
398 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

gewisse Abdrücke oder Spuren (vestigia) dieser Einsicht aufbewahrt, verleiht dem
Verstehen eine künstliche Dauer, so daß dem Sprecher die Gelegenheit geboten
wird, die passenden Worte für seine Erkenntnis zu finden. Eine ähnliche Leistung
erbringt das Gedächtnis beim Verstehen von gesprochener Rede. Zwar erstreckt sich
die Rede - anders als die punktuelle Erleuchtung - über einen längeren Zeitraum, sie
besteht aber aus einer Kette von Lauten, wobei einer den anderen verdrängt und ins
Nichts stößt, von denen mithin jeder einzelne genauso flüchtig ist wie das geistige
Verstehen. Würde das Gedächtnis die verfliegenden Laute nicht festhalten, würde
es die Folge der Sprachzeichen nicht in eine künstliche Simultaneität bannen, so
wäre es unmöglich, der Rede eine Bedeutung zu entnehmen.26 Nur mit Hilfe des
Gedächtnisses kann das schiere Nacheinander asemantischer Laute in eine sinnvolle
Äußerung verwandelt werden.
Dem Gedächtnis kommt somit eine Schlüsselrolle für das Verstehen zu. Es setzt
das Verstehen in Sprache und die Sprache in Verstehen um, und zwar mit Hilfe der
vestigia, die es zu erstellen und zu konservieren vermag. Auch die memoria operiert
also mit Zeichen, doch unterscheiden sich die Gedächtniszeichen von den Zeichen
der gesprochenen Rede durch ihre größere Beständigkeit. Die beiden Pole der Op-
position, das rein geistige Verstehen und die sinnliche Wortsprache, sind sich auf
überraschende Weise ähnlich: Beide zeichnen sich durch ihre extreme Flüchtigkeit
aus; beide sind der Zeit verfallen. Ein gewisses Maß an Festigkeit und Sicherheit
ist nur in der Mitte zwischen den Polen zu finden - in der memoria. Augustinus
wertet diese vermittelnde Instanz gegenüber den Polen der Opposition massiv auf
- ohne sie ist die geistige Aktivität des Verstehens gar nicht denkbar. Es stellt sich
somit heraus, daß die kontemplative Einkehr gar nicht als unmittelbare Schau einer
zeichenlosen Wahrheit beschrieben werden kann, sondern als Tätigkeit der inneren
Lektüre, als Gedächtnismeditation: Der Nachdenkende entziffert die Spuren, die
das illuminative Verstehen in seiner memoria hinterlassen hat, ein Verstehen, das die
Wahrheit seinerseits nur als zeichenhaften Vorschein zu erfassen vermag — wie im
Spiegel und als Rätsel.
Das Individuum, das in sich selbst einkehrt, schaut die Wahrheit nicht, es betä-
tigt sich vielmehr als Leser. Die Schriftzeichen, die es in seiner memoria entziffert,
besitzen allerdings eine ganz besondere Qualität. Augustinus vergleicht die vestigia
des Verstehens, die das Gedächtnis aufbewahrt, mit der mimischen Ausdrucks-
sprache des menschlichen Gesichts. Diese Ausdruckssprache unterscheidet sich in
mehrerlei Hinsicht von der Wortsprache, derer sich die Menschen zum Zwecke
der Kommunikation bedienen. Eine erste Differenz betrifft eben diesen Aspekt der
Zweckgerichtetheit: Die Zeichen der Wortsprache sind gegebene Zeichen (signa

26 Vgl. M. L. Colish: The Mirror of Language. S. 52: »The memory creates a kind of artificial
simultaneity. [...] Through the memory, sounds which have already ceased to reverberate in
time can still be retained in the present consciousness of the mind. Were it not for this func-
tion of memory, the receptive powers of the mind would be crippled.«
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 399

data); sie entspringen der bewußten Intention des Sprechers, seine Gedanken oder
Gefühle einem anderen mitzuteilen. Der Gesichtsausdruck dagegen gehört - wie die
Fußspur eines Lebewesens (»vestigium transeuntis animantis«) oder der das Feuer
indizierende Rauch - in die Klasse der natürlichen Zeichen (signa naturalia), die
auf etwas verweisen, ohne daß ihnen der Wunsch nach Mitteilung zugrunde liegt
(»sine voluntate atque ullo appetitu significandi«): Die Mimik des Zornigen gibt
seinen Gemütszustand zu erkennen, auch wenn er keinerlei Absicht hegt, diesen
nach außen hin kundzugeben. 27 Darüber hinaus steht das mimische Zeichen in
einer notwendigen, unwandelbar festen Beziehung zu dem Gegenstand, den es
bezeichnet, während das Wortzeichen auf einer Konvention beruht. Der Gesichts-
ausdruck ist daher, anders als das gesprochene Wort, universal verständlich: Wer die
Silbenfolge »iratus sum« verlautbart, wird nur von den Sprechern der lateinischen
Sprache verstanden; der Gesichtsausdruck des Zornigen dagegen enthüllt seine
Bedeutung jedem Betrachter, gleich welcher Sprachgruppe er auch angehört. 28
Um die natürliche Sprache des Gesichts zu entschlüsseln, bedarf es schließlich nur
eines einzigen Blicks - es handelt sich um einen integralen, simultan dargebotenen
Bedeutungskomplex, nicht, wie im Falle der Wortsprache, um eine Folge diskreter
Elemente, aus denen ein Bedeutungszusammenhang in mühseliger Synthesearbeit
allererst hergestellt werden muß.
Universalität, Simultaneität und Visualität: Das sind die Eigenschaften, die
Augustinus der mimischen Zeichensprache und — per analogiam - den vestigia des
Gedächtnisses zuerkennt. Denn die Gedächtniszeichen sind für die Seele, was die
Gesichtszüge für den Körper sind.29 Sie sind eine Art natürlicher Schrift der Seele.
Auch die Gedächtniszeichen stehen in einer engen, notwendigen Beziehung zu dem
Gegenstand, auf den sie verweisen; auch sie sind universal verständlich; auch sie er-
fordern keine aufwendige Deutungsarbeit. Wie ein Blick ins Gesicht genügt, um den
Gemütszustand des Zornigen zu ermitteln, so genügt die innere Wahrnehmung der
vestigia, um den Erkenntnisgehalt der Illumination zu vergegenwärtigen. Dadurch,
daß Augustinus die Gedächtniszeichen als natürliche Schriftzeichen bestimmt, un-
terstreicht er den vermittelnden Status der memoria·. Die vestigia besitzen, wie die
Wörter der gesprochenen Rede, Verweisungskraft, doch eignet ihnen gleichzeitig
etwas von der Unmittelbarkeit, die für das illuminative Verstehen charakteristisch
ist. Sie sind ein >Zwischending< - nicht ganz äußerliches Zeichen, aber auch nicht
ganz die bezeichnete Sache selbst.

27
De doctrina christiana II.2. — Zur Unterscheidung zwischen natürlichen und gegebenen
Zeichen vgl. ebd. II.2—3. Zwar tauchen die Termini signa data und signa naturalia in De
catechizandis rudibus nicht explizit auf, doch ist es offenkundig, daß Augustinus sich in seiner
Analyse der Gedächtniszeichen auf das in De doctrina christiana entwickelte Zeichenmodell
bezieht. Hier wie dort rekurriert er auf das Beispiel des Zornigen, um die Funktionsweise des
natürlichen Zeichens zu demonstrieren.
28
De catechizandis rudibus II.3.
29
Vgl. ebd.: »[Ilia vestigia] ita efficiantur in animo, ut vultus in corpore.«
400 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Freilich gefährdet diese Ambivalenz das Vermittlungswerk der vestigia in dem-


selben Maße, in dem sie es ermöglicht. Denn die natürlichen Zeichen der memoria
täuschen den Kontemplierenden über ihren eigenen Zeichencharakter und die
dadurch bedingte Vorläufigkeit der Erkenntnis hinweg. Das Gedächtnis vermittelt
zwischen Verstehen und Sprechen, indem es die flüchtige Erleuchtung in beständige
(Schrift-)Zeichen transformiert. Das Subjekt, das in sich selbst einkehrt, um diese
Zeichen zu entziffern, erliegt leicht der Illusion, die bezeichnete Sache selbst zu
schauen. Es liest, aber es meint zu sehen. Die Gedächtniszeichen gaukeln ihm eine
trügerische Stabilität vor. Sie lassen das Subjekt vergessen, daß die Erkenntnis, auf die
sie verweisen, ihrerseits nur vorläufig, unvollkommen und rätselhaft ist. Das Subjekt
glaubt, im Besitz der fertigen Wahrheit zu sein, während sein stets nur unvollkom-
menes Wissen tatsächlich das unablässige Bemühen um Verbesserung und Vertiefung
erfordert. Das Gedächtnis verleiht der Erkenntnis den Schein der Abgeschlossenheit
und Vollendung. Eben darin besteht die Versuchung, die mit der Selbsteinkehr
verbunden ist: Die memoria verwandelt das innere Verstehen, das auf ständigen
Fortschritt und unaufhörliche Überbietung hin angelegt ist (»boni proficiunt de die
in diem«, so erklärt Augustinus), 30 in einen Gegenstand selbstgenügsamen Genusses.
Die Kluft, die durch das vermittelnde Wirken des Gedächtnisses geschlossen werden
sollte, wird somit auf einer anderen Ebene — nämlich innerhalb der Sprache selbst
- wieder aufgerissen. Der Gegensatz zwischen zeichenlosem Denken und sinnlicher
Rede weicht der Opposition von natürlicher und konventioneller Zeichensprache,
von innerlicher memoriaAjekxxiK und äußerlichem Sprechen. Das Gedächtnis lockt
mit der Verheißung einer anderen, vollkommeneren Sprache, die in einer größeren
Nähe zur Wahrheit steht und diese in ihrer Totalität erfaßt. Die äußere Wortsprache
besitzt im Kontrast dazu ein gefährliches Ansehen. Wer sich ihrer bedient, setzt die
Erkenntnis, die er zu besitzen glaubt, aufs Spiel; die Kette diskreter Signifikanten
scheint die Wahrheit zu zerstückeln, deren sich der Leser der inneren memoria-
Zeichen in integraler Form erfreut. Das Gedächtnis vermag also zwar zwischen
Denken und Sprechen zu vermitteln. Es stellt aber zugleich eine Versuchung dar,
die das Subjekt zu solipsistischer Selbsteinkehr bewegen und zur Selbsttäuschung
hinsichtlich seines Erkenntnisstandes verleiten kann.

Selbstlektüre i m anderen; liebendes E n t g e g e n k o m m e n durch Erzählen

W i e kann man das Individuum vor dieser Versuchung bewahren? Mit welchen
Argumenten kann man es davon abhalten, sich ganz in sein Inneres zurückzuziehen
und die Mitteilung seiner Einsichten zu verweigern? Augustinus will seinem Freund
Deogratias deutlich machen, daß die Öffnung gegenüber dem anderen nicht bloß
eine karitative Pflicht darstellt, sondern dem Individuum darüber hinaus auch von

30 Ebd. II.4.
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 401

großem Nutzen ist: Was das Subjekt allein in seinem Inneren finden zu können
glaubt, läßt sich besser und richtiger durch die kommunikative Hinwendung zum
Nächsten verwirklichen. Das Hauptargument, das Augustinus ins Feld führt,
um seine These zu stützen, ist die fehlerhafte Selbsteinschätzung, der das in der
Introspektion befangene Subjekt zu erliegen pflegt. Der Lehrer, der seine in der
Innenschau gewonnenen Einsichten mitteilt, hält seinen Vortrag für dürftiger und
gehaltloser, als sie dem Hörer erscheint. Dieses Fehlurteil ist darauf zurückzuführen,
daß der Vortragende seine Aufmerksamkeit allein auf sich selbst, auf den Kontrast
zwischen seinem inneren Verstehen und seiner äußeren Rede richtet, anstatt sich
dem Hörer zuzuwenden und dessen Verstehensleistung in Rechnung zu stellen. Der
Vortragende, so lautet die von Augustinus erhobene Forderung, soll seine Aufmerk-
samkeit von seinem eigenen Inneren auf das Innere des Hörers, von seiner eigenen
Rede auf ihre Wirkung im Rezipienten verlagern. Er soll lernen, seine Rede mit
den Augen des anderen zu sehen. Denn solange der Lehrer seine Wahrnehmung
auf das eigene Denken und Sprechen beschränkt, wird das letztere für ihn immer
im Zeichen der Entäußerung, des Verlusts, der Fragmentierung und Verzeitlichung
stehen. Dabei übersieht er jedoch, daß der Rezipient die fragmentarische Rede
durch seine hermeneutische Tätigkeit wieder zu einem Ganzen restituiert. Die
memoria des Hörers verwandelt die Kette der Signifikanten wieder in ein Signifikat.
Augustinus fordert daher den Sprecher dazu auf, sich im Verstehen seines Hörers
zu verstehen. Er soll die Wahrheit nicht in den trügerischen Schriftzeichen seines
eigenen Gedächtnisses, sondern in der Seele des anderen lesen, der er sich in Liebe
öffnet:
Tantum enim valet animi compatientis affectus, ut cum illi afficiuntur nobis loquentibus, et
nos illis discentibus, habitemus in invicem; atque ita et illi quae audiunt quasi loquantur in
nobis, et nos in illis discamus quodam modo quae docemus."

Die Liebe, die den Sprecher mit dem Hörer verbindet, bewirkt eine chiastische
Vertauschung der Positionen. Sie ermöglicht es dem Lehrer, die Rede, die er äußert,
gleichzeitig im anderen zu hören oder zu lesen. Der Gegensatz zwischen Denken und
Reden kann auf diese Weise überwunden werden: Wer mit liebender Zuwendung
spricht, ist zugleich Sprecher und Hörer, erfaßt also die mitgeteilte Wahrheit in
demselben Moment als ein geistiges Ganzes (Verstehen), in dem er sie versinnlicht
und fragmentiert (Sprechen). Selbst solche Erkenntnisse, die zu unserem vertrauten
Besitzstand gehören, die uns mithin alt und abgegriffen erscheinen, gewinnen ein
anderes, neues Ansehen, sobald wir sie im Geist der Liebe artikulieren. Wir werden
dann den Eindruck gewinnen, als brächten wir diese Wahrheiten im Herzen unserer

31
Ebd. XII. 17. (»Denn so groß ist die Gemütsbewegung eines teilnehmenden Herzens, daß wir,
indem jene durch unsere Reden, wir aber durch ihr Lernen gerührt werden, gleichsam eines
im anderen wohnen und daß jene das, was sie hören, gleichsam in uns sprechen, während
wir das, was wir lehren, gewissermaßen in ihnen lernen.«).
402 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Hörer eben erst zur Welt: »copulatis cordi eorum etiam nobis nova videbuntur.« 32
Augustinus betrachtet die karitative Mitteilung somit als unabdingbares Hilfsmittel
gegen ein verfehltes Besitzdenken. Sie beugt der hochmütigen Ansicht vor, daß die
Wahrheit sich in ein individuelles Eigentum überfuhren läßt. Das Individuum ist
auf den anderen angewiesen, um die Wahrheit immer wieder neu und anders wahr-
zunehmen und sich seiner beschränkten Auffassungskraft bewußt zu werden.
Augustinus kennzeichnet das Begehren des Individuums, die Wahrheit unmittel-
bar in seinem Inneren zu erfassen, als gefährliche Versuchung. Er fordert das Subjekt
deshalb dazu auf, seine Einsichten zu entäußern und mitzuteilen, um die Wahrheit
nicht in ihm selbst, sondern in seinen Hörern zu lesen. Der Begriff der Lektüre ist in
diesem Zusammenhang keine bloße Metapher. Tatsächlich geht es Augustinus dar-
um, die gesprochene Rede in eine Art von Schrift zu transponieren. Der Sprecher und
sein Hörer sollen gerade nicht miteinander in ein Gespräch eintreten. Im Gegenteil,
Augustinus legt großen Wert darauf, daß der Katechet seinen Unterricht in Form
eines Lehrvortrags abhält: Er soll dem Katechumenen keine Fragen stellen, sondern
ihm die wichtigsten Wahrheiten der christlichen Religion in zusammenhängender
Folge präsentieren. 33 Vom Hörer wird folglich nicht verlangt, daß er sein Denken sei-
nerseits verbalisiert, daß er etwa im einzelnen darlegt, was er von der Rede des Lehrers
verstanden hat. Es genügt vielmehr, wenn er — sei es durch einen zustimmenden Laut
(nicht unbedingt durch ein Wort!), sei es, besser noch, mit den Mitteln von Kör-
persprache und Mimik - signalisiert, daß et verstanden hat: »voce aut aliquo motu
corporis [debet audienti] significare approbationem suam«. 34 Im Idealfall verdichtet
sich das Verstehen in einem solchen gestischen oder mimischen Zeichen, so daß der
Sprecher die Wahrheit, die er zu vermitteln sucht, im Gesicht seines Hörers zu lesen
vermag. Das äußere Gesicht des Hörers tritt somit an die Stelle der inneren memoria-
Zeichen, die laut Augustinus ja ihrerseits einen mimischen Charakter besitzen. Die
karitative Mitteilung stellt eine alternative Möglichkeit dar, der Wahrheit ins Gesicht
zu schauen. Im ausdrucksvollen Antlitz des Hörers soll die Wahrheit jene Fülle und
Integrität zurückgewinnen, die ihr im Durchgang durch die sequentielle Wortsprache
vorübergehend abhanden kommt. Der Hörer übersetzt die Wortzeichen, die ihm der
Sprecher präsentiert, in die natürlichen Schriftzeichen seines Gesichts.
Um sich im Hörer auf diese Weise lesbar zu machen, muß ihm der Sprecher je-
doch so weit wie möglich entgegenkommen. Es genügt nicht, daß er seine Gedanken
einfach nur mitteilt. Vielmehr hat er dafür Sorge zu tragen, daß ihn der Hörer auch
wirklich versteht. Augustinus verlangt daher vom Lehrer, daß er sich ganz auf seinen
Schüler einstellt. Auch in dieser Hinsicht soll er sich am Beispiel Christi orientieren.
Denn wie die Amme (»tanquam nutrix«), die ihrem Schützling gegenüber in kindli-
ches Brabbeln verfällt, hat sich Christus durch seine Menschwerdung klein gemacht,

32 Ebd.
33 Ebd. III.5.
34 Ebd. XIII. 18.
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 403

damit ihn die Kleinen verstehen. 35 Der menschliche Lehrer soll ähnlich verfahren:
Er soll sich in seinen Schüler hineinversetzen; er soll versuchen, mit den Augen des
anderen zu sehen. Nur so kann er sicher stellen, daß seine Rede Aufnahme findet;
nur so ist es möglich, auf selten des Hörers ein Verstehen zu bewirken, in dem der
Sprecher sich seinerseits verstehen kann. Ehe der Sprecher im Gesicht des Hörers zu
lesen vermag, muß er mithin in seiner Seele lesen. Er muß das Verstehen des Hörers
antizipieren, um dieses zu ermöglichen. Die Seele eines anderen — dies macht Au-
gustinus unmißverständlich klar - ist uns jedoch grundsätzlich verschlossen.36 Was
in der Seele unseres Nachbarn vorgeht, weiß nur dieser selbst.37 Der Sprecher ist
hierin folglich ganz auf sein Einfuhlungs- und Vorstellungsvermögen angewiesen.
Die Lektüre, der er seinen Hörer unterzieht, spielt sich in seiner Imagination ab.
Der Sprecher versucht sich vorzustellen, wie der Rezipient auf seine Rede reagieren
könnte, und richtet seinen Vortrag dementsprechend ein. Da der erste Schritt, das
erste, liebende Entgegenkommen, vom Lehrer ausgehen muß, kann dieser immer
nur mit einem vorweggenommenen Verstehen operieren. Der Hörer, in dem sich
der Sprecher liest, ist ein imaginäres Konstrukt. Zwar behauptet Augustinus, daß
es einen Unterschied macht, ob der Lehrer beim Abfassen seines Vortrags an einen
künftigen Leser denkt oder ob er den Vortrag in mündlicher Rede hält und seinen
Schüler persönlich vor Augen hat. 38 Doch seine Analyse erweist diese Unterschei-
dung als hinfällig. Auch dem mündlich Vortragenden ist der unmittelbare Zugang
zur Seele seines Hörers verwehrt; auch er kann sich seinen Hörer nur denken. Daher
hat Augustinus schließlich keine Skrupel, seinem Freund Deogratias zwei schriftlich
abgefaßte Musterkatechesen zu übermitteln, die an fiktive Hörer gerichtet sind. 39
Gerade dieses fiktive Moment besitzt exemplarischen Wert. Augustinus fordert den
Sprecher dazu auf, sich in seinem Hörer zu lesen, doch dieser Hörer ist letztlich nur
eine Fiktion. Der Lektüre des Gesichts, welche die Integrität der inneren Schau zu
restituieren scheint, liegt ein prekäres, unsicheres, stets nur vorläufiges Lesen in der
Seele des anderen zugrunde.
Da der Katechet sich durch verstehendes, sympathisierendes Entgegenkommen
mit dem Hörer verbinden muß, ist es keineswegs gleichgültig, in welcher Form er
seine Lehre zur Sprache bringt. Die Darstellungsform soll Ausdruck seiner liebenden
Herablassung sein. Ihr wird die Aufgabe zugewiesen, die Gegenliebe des Hörers

35
Ebd. X. 15.
" Vgl. ebd. XIII. 18: »quando quidem nobis non cernentibus animum eius incertum est, omnia
sermone tentanda sunt, quae ad eum excitandum et tanquam de latebris eruendum possint
valere.«
37
Diese Einsicht besitzt für Augustinus prinzipielle Bedeutung. Sie spielt im Rahmen seiner
Bekenntnis-Konzeption eine zentrale Rolle. Vgl. dazu Confessiones X. 1.1—X.5.7.
38
De catechizandis rudibus XV.23.
35
Augustinus bietet zunächst ein Beispiel für eine ausführliche, große Katechese an (XVI.24-
XXVl.50), dann präsentiert er eine exemplarische Kurzfassung (XXVI.51—XXVII.55). In
beiden Fällen stellt sich Augustinus einen Katechumenen vor, der über keine höhere Bildung
verfügt und aus einem städtischen Milieu stammt (XVI.24, XXVI.51).
404 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

zu erwecken und ihn für die mitgeteilte Wahrheit einzunehmen. Laut Augustinus
kann nur eine narrative Darstellungsform diese Funktion erfüllen. Der Katechet
soll die christlichen Glaubenswahrheiten nicht in Gestalt einer abstrakten Doktrin
vermitteln. Vielmehr soll er dem Katechumenen einen Uberblick über die Heils-
geschichte bieten. Dem Lehrer obliegt die Verpflichtung, in chronologischer Folge
über die wichtigsten Heilsgeschehnisse zu berichten. Seine narratio soll mit der
Schöpfungsgeschichte beginnen und bis zur kirchlichen Gegenwart hinführen. 40
Die Nacherzählung der biblischen Ereignisse hat zunächst einmal den Zweck, den
Katechumenen, der vielleicht durch eine Erleuchtung oder eine Traumvision zum
christlichen Glauben bekehrt wurde, auf den sicheren Weg der Heiligen Schriften
zu führen: »ad scripturarum solidiorem viam et oracula certiora transferenda est
eius intentio«. 41 Dem Schüler wird somit bedeutet, daß die Wahrheit nicht im In-
nenraum der Seele oder in der unmittelbaren Kommunikation mit Gott, sondern
in der biblischen Offenbarung zu finden ist. Anstatt ihn zur kontemplativen Schau
anzuleiten, wird er auf den Weg der Lektüre gewiesen.
Das heißt allerdings nicht, daß der Katechet als ein bloßes Sprachrohr der Schrift
fungieren soll. Die Katechese darf sich nicht darin erschöpfen, den Inhalt der Bibel
kommentarlos zu reproduzieren. 42 Augustinus verlangt vielmehr vom Lehrer, daß
er dem Schüler die tiefere Bedeutung des Heilsgeschehens aufschließt. Der Kate-
chet hat somit eine schwierige Gratwanderung zu vollführen. Einerseits soll er aus
der Fülle der biblischen Ereignisse die wichtigsten auswählen, ihre Ursachen und
inneren Zusammenhänge aufdecken, insbesondere aber den Endzweck der ganzen
heilsgeschichtlichen Veranstaltung sichtbar machen - die Liebe Gottes nämlich, die
ihren höchsten Ausdruck in der Menschwerdung Christi findet.43 Der Katechet soll
mithin nicht nur berichten, er soll auch eine kohärente Auslegung des Berichteten
liefern. Andererseits warnt ihn Augustinus davor, über dem Geschäft der Exegese den
Faden der Erzählung zu verlieren und sich in esoterische Deutungskonstruktionen
oder theologische Spekulationen zu versteigen.44 Die Deutung des Geschehens darf
das Geschehen nicht überlagern; der tiefere Sinn der Ereignisse darf sich gegen-
über den Ereignissen nicht verselbständigen. Der Katechet soll sich nicht darauf
beschränken, die abstrakten Resultate seiner exegetischen Tätigkeit mitzuteilen.
Die Inkarnation, die das Telos der Heilsgeschichte markiert, stellt zugleich auch das
Prinzip der katechetischen narratio dar: Es gilt, den geistigen Sinn des Geschehens in

40
De catechizandis rudibus III.5, VI.10.
41
Ebd. VI. 10.
42
Ebd. III. 5.
43
Vgl. ebd. VI. 10: »ita ut singularum rerum atque gestorum quae narramus causae rationesque
reddantur, quibus ea referamus ad illum finem dilectionis, unde neque agentis aliquid neque
loquentis oculus avertendus est.« - Zur Liebe als Endzweck der Heilsgeschichte und als
Schlüssel der Schriftexegese vgl. auch ebd. IV.7 und IV.8.
44
Vgl. ebd. VI. 10: »Non tarnen sic asseramus has causas, ut relicto narrationis tractu cor nostrum
et lingua in nodos difficilioris disputationis excurrat«.
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 405

enger Verbindung mit dem Geschehen selbst darzubieten; das narrativ vermittelte
Geschehen soll den Sinn gleichsam inkorporieren. Augustinus wendet sich somit
implizit gegen das allegorische Auslegungsverfahren, das die zeitlichen Ereignisse
der Heilsgeschichte als bloße Sinnbilder für überzeitliche Wahrheiten auffaßt und
die spirituelle Bedeutungsebene des Textes rigoros von der fleischlichen trennt. 45
Er sieht die Aufgabe des Katecheten vielmehr darin, eine innergeschichtliche
Spiritualität zur Geltung zu bringen. Daher fordert er den Lehrer dazu auf, in
seiner narratio auf die typologische anstelle der allegorischen Auslegungsmethode
zurückzugreifen. 46
Bezeichnenderweise veranschaulicht Augustinus seine Konzeption der kateche-
tischen Erzählung mit Hilfe eines solchen typologischen Vergleichs. Er interpretiert
die Geburt des alttestamentarischen Erzvaters Jakob als figura, als realprophetische
Vorausdeutung, die in der Menschwerdung Gottes ihre Erfüllung findet.47 Doch
die Geburt Jakobs weist nicht einfach nur auf das Kommen Christi voraus. Sie hat
darüber hinaus einen metafiguralen Status, denn sie illustriert den Mechanismus
der typologischen Zeichenrelation, ja mehr noch: Sie dient als Sinnbild für die Art
und Weise, wie sich Gott den Menschen mitteilt, wie sich mithin auch der Katechet
- dem Beispiel der göttlichen Herablassung nacheifernd - seinem Schüler mitteilen
sollte. Die Geburt des Erzvaters weist eine Besonderheit auf: Jakob hat den Leib
seiner Mutter nicht mit dem K o p f voran verlassen; das erste Glied, das aus dem
mütterlichen Körper herauskam, war vielmehr seine Hand, mit der er die Ferse
seines Zwillingsbruders Esau umfaßt hielt. 48 Wie Jakob seinem Kopf einen kleine-
ren Teil seines Körpers als Ankündigung vorausschickte, so hat auch Christus, das
Haupt der Kirche, sein Erscheinen durch geringere Glieder des kirchlichen Körpers
ankündigen lassen:
[I]ta et dominus Iesus Christus, etsi antequam appareret in carne et quodam modo ex utero
secreti sui ad hominum oculos mediator dei et hominum homo procederet [...], praemisit in
sanctis patriarchis et prophetis quandam partem corporis sui, qua velut manu se nasciturum

45 Die Ausführungen Augustins zur katechetischen narratio bestätigen eine generelle Tendenz,
die auch in den exegetischen Schriften des Kirchenvaters erkennbar wird: sein Abrücken von
der spiritualisierenden Allegorese origenistischer Prägung und seine Hinwendung zu einer
stärker am zeitlichen Ablauf interessierten typologischen Ausdeutung der Schrift, aber auch
zur Literalexegese. Diese Tendenz ist in der Forschung wiederholt beschrieben worden. Vgl.
Gerhard Strauss: Schriftgebrauch, Schriftauslegung und Schriftbeweis bei Augustin. Tübingen
1959. S. 9 0 - 1 0 9 ; Gerald Bonner: Augustine as Biblical Scholar. In: The Cambridge History
of the Bible. Vol. 1. Edited by P. R. Ackroyd and C. F. Evans. Cambridge 1970. S. 5 4 1 - 5 6 3 ,
hier: S. 5 5 1 - 5 5 4 ; K. Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken. S. 156-158.
46 Zum Gegensatz zwischen typologischer und allegorischer Exegese vgl. die klassische Studie
von Erich Auerbach: Figura. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie.
Bern und München 1967. S. 5 5 - 9 2 . Auerbach erhebt Augustinus zum Kronzeugen für die
Überwindung der auf Origenes und Philo von Alexandria zurückgehenden platonisierenden
Allegorese (ebd. S. 70f.).
47 De catechizandis rudibus III.6. — Vgl. auch ebd. XIX.33.
48 Gen. 25.25.
406 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

esse praenuntians, etiam populum süperbe praecendentem, vinculis legis tamquam digitis
quinque supplantaret [...]. 49

Augustinus interpretiert die Geburt Jakobs als - ihrerseits typologisch zu entschlüs-


selnde - Anweisung zur typologischen Deutung des Alten Testaments und seiner
Protagonisten. Darüber hinaus gewährt die Geburtsmetapher Einblick in den
Zusammenhang zwischen der Inkarnation und dem temporalen Status der göttli-
chen Wahrheit. Wenn die Figuren des Alten Testaments als Glieder des mystischen
Körpers Christi aufzufassen sind, dann erfährt die Geburt des Gottessohnes eine im-
mense zeitliche Ausdehnung. Die gesamte biblische Geschichte gewinnt das Ansehen
eines einzigen, langen Geburtsvorgangs. Die Ankunft Christi ist kein punktuelles
Ereignis mehr, sondern ein historischer Prozeß. Anstatt sich auf einmal kund zu
geben, tritt die göttliche Wahrheit sukzessive, in einzelnen Gliedern und Teilen in
Erscheinung. Dadurch, daß sie sich verzeitlicht und partikularisiert, paßt sie sich
dem begrenzten Auffassungsvermögen des Menschen an. Zudem befeuert sie auf
diese Weise seine Liebe. Die Ankündigungen (die Glieder), die in dem Maße auf das
Haupt verweisen, in dem sie seine Ankunft hinauszögern, erzeugen eine Erwartung,
die befriedigt sein will. Zugleich lassen sich die Glieder nur von diesem Endpunkt
her überhaupt als Ankündigungen identifizieren. Die Ankunft des Hauptes ist der
hermeneutische Schlüssel, der es erlaubt, die ganze biblische Geschichte als ein
einziges, ausgedehntes Ankommen zu lesen. Die göttliche Wahrheit unterzieht sich
einer rückhaltlosen Temporalisierung, indem sie sich nicht nur dazu herabläßt, zu
einem bestimmten historischen Zeitpunkt in die temporale Ordnung einzutreten,
sondern auch dieses Eintreten noch prozessualisiert, den Moment des Eintretens
aufspaltet in das spannungsvolle Nacheinander von Ankündigung und Ankunft,
Verheißung und Erfüllung.
Die temporale Struktur der Ankunft Christi besitzt fur Augustinus Modellcha-
rakter. Er weist den Katecheten an, dem göttlichen Beispiel Folge zu leisten. Der Ka-
techet soll die Schrift in seinem Lehrvortrag nicht auf ihren zeitlosen, allegorischen
Wahrheitsgehalt reduzieren; er soll seinen Schüler nicht mit den nackten Resultaten
seiner Deutungsarbeit konfrontieren. In dieser abstrakten Form bietet die Wahrheit
dem Katechumenen keinerlei Anknüpfungspunkte; sie wirkt abweisend und unver-
ständlich. Daher muß der Katechet seinem Schüler entgegenkommen, und zwar
dadurch, daß er die Wahrheit verzeitlicht. Augustinus verlangt vom Lehrer, daß er
die Deutung der biblischen Ereignisse in deren narrative Darstellung eingehen läßt.

49 D e catechizandis rudibus III.6. (»So war es auch bei [unserem] Herrn Jesus Christus: bevor
nämlich er, der Mittler zwischen Gott und den Menschen [1 Tim. 2.5], im Fleische erschien
und sozusagen aus dem Mutterschoße seines geheimnisvollen Wesens vor die Augen der
Menschen als Mensch hintrat [...], ließ er in den heiligen Patriarchen und Propheten gleichsam
einen Teil seines Leibes schon zum voraus erscheinen und wies dadurch wie mit der Hand
auf seine künftige Geburt hin, während er zugleich das übermütig einherschreitende Volk
mit den Banden des Gesetzes wie mit fünf Fingern umspannt hielt.«).
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 407

Er soll die Ereignisse in ihrer zeitlichen Folge erzählen, und zugleich soll er sie auf
das Endziel der Heilsgeschichte, das Kommen des Erlösers, beziehen, von dem her
sie ihren Sinn erhalten. Das Endziel, auf das sich die Erzählung schrittweise zube-
wegt, wird immer wieder antizipiert, zugleich aber immer wieder aufgeschoben.
Das deutende Erzählen oder erzählende Deuten, das sich in dem Intervall zwischen
Verheißung und Erfüllung einnistet, ist mithin dazu angetan, das teilnehmende Inter-
esse des Hörers zu erregen. Da der Katechet seinem Schüler keine fertigen Resultate
präsentiert, kann er ihn in den zeitlichen Prozeß hineinziehen, der die Wahrheit zur
Entfaltung bringt. Der Lehrer nimmt dem Schüler die Deutungsarbeit nicht ganz
ab, sondern läßt ihn daran partizipieren.
Es ist diese hermeneutische Koaktivität, diese durch das entgegenkommende
Verständnis des Lehrers induzierte Verstehenstätigkeit des Schülers, die es dem
Sprecher ermöglicht, sich in seinem Hörer zu lesen. Augustinus stellt in De cate-
chizandis rudibus die Weichen für eine Verbindung, die er in den Confessiones fest
etabliert: die Koppelung der durch den anderen vermittelten Selbstlektüre an die
Darstellungsform der narratio.

2. Aneignung durch Weggabe: De doctrina christiana

Kritik an der charismatischen Schriftauslegung

In De catechizandis rudibus legt Augustinus die Grundzüge seiner karitativen


Selbsthermeneutik dar. Er zeigt auf, wie das Subjekt der Gefahr der Selbsttäuschung
entgehen kann, die bei der kontemplativen Einkehr droht: dadurch nämlich, daß es
das innerlich Geschaute in sprachlicher Form mitteilt (mit anderen teilt) und dabei
in eine narrative Form bringt; dadurch, daß es das Geschaute in einem anderen
zu verstehen sucht, dem es sich verständlich macht. Nun könnte man einwenden,
daß die Katechese als ein Sonderfall der christlichen Unterweisung anzusehen ist,
aus dem sich keine allgemeingültigen Prinzipien ableiten lassen: Der Katechet hat
es mit einem Anfänger in Glaubenssachen zu tun, der einer besonders intensiven
Zuwendung bedarf. Von dieser ganz spezifischen Lehrer-Schüler-Beziehung auf
den gewöhnlichen Umgang zwischen mündigen Christen oder gar auf die Struktur
des subjektiven Selbstverhältnisses zu schließen, scheint nicht statthaft zu sein. Tat-
sächlich betrachtet Augustinus die Katechese aber nicht als Ausnahme. Was für die
Unterweisung des Neubekehrten gilt, das gilt ohne nennenswerte Abstriche auch für
die christliche Lehre (die doctrina christiana) überhaupt. In De catechizandis rudibus
stellt Augustinus keine Sonderregeln auf. Vielmehr versucht er, die als grundlegend
für die menschliche Handhabung der göttlichen Wahrheit erkannten Prinzipien auf
die Anfängerschulung anzuwenden.
Wie wichtig ihm diese Prinzipien sind, zeigt sich in der programmatischen Vor-
rede, die Augustinus seiner großen Abhandlung über den christlichen Unterricht
408 Vom philüsophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

voranschickt. Die Darstellung seiner karitativen Hermeneutik gewinnt im Prolog


zu De doctrina christiana deshalb ein besonders deutliches Profil, weil er sie mit einer
polemischen Attacke gegen die Verfechter der solipsistischen Einkehr verknüpft.
Anders als in De catechizandis rudibus setzt sich Augustinus im Prolog direkt mit
den Gegnern seines hermeneutischen Konzepts auseinander. Die Schärfe, mit der er
gegen die Advokaten einer rein introspektiven Gottesschau vorgeht, ist ein weiteres
Indiz dafür, daß er diese als eine Versuchung ansieht, die ihn persönlich anficht.
Der Eremit, der sich aus der christlichen Gemeinschaft zurückzieht, um in einsamer
Betrachtung die Früchte der göttlichen Weisheit zu genießen, verkörpert einen Teil
seiner selbst - jenes hochmütige, der Illusion der Autarkie erliegende Selbst, das in
der Tradition der antiken Glückslehren steht und dem es im Namen des christlichen
Liebesgebots zu entsagen gilt.
Der christliche Unterricht - dies wird gleich im ersten Satz des Prologs zu De
doctrina christiana klar gestellt - ist für Augustinus gleichbedeutend mit dem Studi-
um der Heiligen Schrift. Die Absicht, die er mit seiner Abhandlung verfolgt, besteht
daher konkret darin, seinen Mitchristen eine Anleitung zur Schriftauslegung - »prae-
cepta quaedam tractandarum scripturarum« - zu erteilen. 50 Die christliche Lehre ist
eine Deutungslehre. Im Mittelpunkt des christlichen Unterrichts steht die biblische
Offenbarung. Zwar schließt Augustinus die Möglichkeit nicht aus, daß das Indivi-
duum auch außerhalb der Bibel zur Einsicht in die Heilslehre gelangen kann - etwa
durch die direkte Einsprache Gottes in Traumvisionen und Illuminationen oder
durch Botschaften, die von Engeln übermittelt werden. Der übliche Weg, auf dem
sich die göttliche Wahrheit für die überwiegende Mehrheit der Christen erschließt,
besteht jedoch in der Lektüre der Heiligen Schrift. Alle anderen Zugangsweisen
werden mit dem Stigma des Außergewöhnlichen und Wunderbaren versehen. Sie
ziehen somit den Verdacht auf sich, dem Täuschungswerk des teuflischen Versuchers
zu entspringen.
Was die Priorität anbetrifft, die er der Bibel als Wahrheitsquelle zuerkennt, läßt
sich Augustinus auf keinerlei Diskussion ein. Diskussionswürdig erscheint ihm
allein die Frage, ob die Interpretation der Schrift in Regeln gefaßt werden kann. Ist
es möglich, die Bibelauslegung zu lehren? Kann man das Individuum darin schulen,
der Wahrheit der Schrift auf den Grund zu gehen? Wer diese Fragen verneint, erteilt
dem Projekt der doctrina christiana eine Absage. Ehe sich Augustinus daran begibt,
dieses Projekt zu realisieren, unternimmt er daher den Versuch, seinen potentiellen
Kritikern den W i n d aus den Segeln zu nehmen. Er setzt sich im Prolog mit denje-
nigen auseinander, die grundsätzliche Zweifel an der Lehrbarkeit der Schriftlektüre
hegen, ja, die dabei so weit gehen, daß sie dem Menschen die Fähigkeit überhaupt
absprechen, etwas durch andere Menschen zu lernen. 51 Es handelt sich bei den Geg-

50 De doctrina christiana. Prooemium 1.


51 In De magistro wird diese Auffassung noch von Augustinus selbst vertreten.
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 409

nern Augustins um Inspirierte oder um solche, die sich inspiriert dünken: 52 Sie hal-
ten die Auslegungsregeln für überflüssig, weil sie glauben, im Besitz einer göttlichen
Geistesgabe zu sein, die es ihnen ermöglicht, ohne jede menschliche Hilfe Einblick
in den tieferen Sinn der Schrift zu gewinnen. 53 Demgegenüber vertritt Augustinus
die Auffassung, daß das Individuum nicht nur des göttlichen, sondern auch des
menschlichen Beistands bedarf, um den Bedeutungsgehalt der Bibel aufzuschließen.
Wer die Bibel verstehen will, ist auf die hermeneutische Unterstützung seiner Mit-
menschen angewiesen. Im Prolog zu De doctrina christiana wird also nicht nur, wie
Peter Brunner auf überzeugende Weise darlegt, der Konflikt zwischen methodischer
und charismatischer Schriftauslegung ausgetragen.54 Zur Debatte steht außerdem
die augustinische Konzeption der karitativen Selbsthermeneutik — die Koppelung
des Selbstverstehens an das Verstehen des anderen.
Um die Haltlosigkeit der von seinen Gegenspielern verfochtenen Ansichten zu
demonstrieren, führt Augustinus eine ganze Reihe von Argumenten ins Feld. Er
weist zunächst auf die scheinbar banale Tatsache hin, daß auch der charismatisch
Begabte die Kenntnis der Buchstaben besitzen muß, damit er die Heilige Schrift
verstehen kann. 55 Das Beispiel des Eremiten Antonius, von dem Athanasius in seiner
Vita Antonii berichtet, daß er des Lesens unkundig gewesen sei und sich die Lehren
der Schrift allein durch aufmerksames Zuhören und einsame Meditation zu eigen
gemacht habe, wird zwar als ein mögliches Gegenargument ins Spiel gebracht, 56 ist
aber wenig aussagekräftig. Antonius hat zwar nicht gelesen, doch er hat die Worte der
Schrift aus dem Munde des Priesters gehört. 57 Das Bibelverständnis setzt also, wenn

52 U. Duchrow vermutet, daß Augustinus die Eremiten und Mönchskreise im Visier hat, von
denen in Johannes Cassians De institutione coenobitorum die Rede ist. Vgl. U. Duchrow: Zum
Prolog von Augustins De doctrina christiana. In: Vigiliae Christianae 17 (1963). S. 165—172,
hierS. 167f.
53 De doctrina christiana. Prooemium 2 und 4.
54 Vgl. Peter Brunner: Charismatische und methodische Schriftauslegung in Augustins Prolog
zu De doctrina christiana. In: Kerygma und Dogma 1 (1955). S. 56-69, S. 85-103.
55 De doctrina christiana. Prooemium 4f.
56 Ebd. Prooemium 4.
57 Vgl. Athanasius Alexandrinus: Vita S. Antonii. Versio Evagrii. In: Sancti Athanasii opera
omnia. Hg. von J.-P. Migne. Bd. 1. Paris 1857 (Patrologia Graeca. Bd. 26). S. 837-976,
hier: S. 839f. (§ 1): »Et cum jam puer esset, non se litteris erudiri, non ineptis se infantium
jungi passus est fabulis: sed omni desiderio flagrans, secundum quod scriptum est de Jacob,
innocenter habitabat domi: ad ecclesiam quoque cum parentibus saepe conveniens, nec
infantum lascivias, nec puerorum negligentiam sectabatur: sed tantum ea quae legebantur
auscultans, utilitatem praeceptorum vitae institutione servabat«. — Die Vita Antonii, die um
370 mehrfach aus dem Griechischen in das Lateinische übertragen wurde, wird hier und im
folgenden immer nach der Übersetzung des Evagrius von Antiochien zitiert, da Augustinus
selbst mit großer Wahrscheinlichkeit diese Textausgabe benutzt hat (vgl. dazu B. Stock: Au-
gustine the Reader. S. 100). Die Ubersetzung des Evagrius ist sowohl in der (hier zugrunde
gelegten) Sammlung der Patrologia Graeca als auch in der Sammlung der Patrologia Latina
(Bd. 73. S. 125-170) abgedruckt. Zu Augustins Rezeption der Vita Antonii vgl. K. Suso
Frank: Antonius Aegyptius Monachus. In: Augustinus-Lexikon. Hg. von Cornelius Mayer.
Basel 1986ff. Bd. 1. Sp. 381-383.
410 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

nicht die Kenntnis der Buchstaben, so doch zumindest diejenige der eigenen Mutter-
sprache voraus. W i e die Buchstaben läßt sich diese aber nur mit Hilfe anderer Men-
schen erlernen. Kein Mensch, so argumentiert Augustinus, hat sich je das Sprechen
oder Lesen von selbst beibringen können. Die Sprache stellt eine Gottesgabe dar, die
dem Individuum allein durch die Vermittlung seiner Mitmenschen zuteil wird. 58
Die Behauptung, daß menschliche Hilfe nichts zum Verständnis der Schrift bei-
tragen könne, erweist sich daher schon auf einer ganz basalen Ebene als unzutreffend.
Hinfällig ist damit auch die von den Charismatikern vertretene Auffassung, daß
Menschen von Menschen nichts zu lernen vermöchten. Vielmehr ist der Mensch
durch die Sprache notwendigerweise mit anderen Menschen verknüpft. 59 Indem
Gott sich der menschlichen Sprache bedient, um seine Heilswahrheit kundzugeben,
verweist er das Individuum, das sie erfassen will, auf diese ursprüngliche intersubjek-
tive Verknüpfung. Anders formuliert: Die biblische Offenbarung ist ein Instrument
der Caritas. Gott macht von der unvollkommenen Zeichensprache der Menschen
nicht nur deshalb Gebrauch, weil er sich ihnen durch liebevolles Entgegenkommen
begreiflich machen will. Er schaltet dadurch zugleich eine menschliche Vermittlungs-
instanz ein, so daß der Mensch dazu genötigt wird, die göttliche Wahrheit nicht
direkt von Gott selbst, sondern von seinesgleichen zu erlernen.
Dieses Arrangement dient der Verbreitung der Liebe. Denn nur dann, wenn die
Menschen voneinander lernen, kann die Liebe Eingang in ihre Seelen finden: »ipsa
Caritas, quae sibi homines invicem nodo unitatis adstringit, non haberet aditum
refundendorum et quasi miscendorum sibimet animorum, si homines per homines
nihil discerent.« 60 Augustinus argumentiert teleologisch - Gott kleidet seine Wahr-
heit in Menschensprache, um die Nächstenliebe zu befördern. Das verbale Statut der
göttlichen Offenbarung trägt dazu bei, daß die menschlichen Seelen sich füreinander
öffnen. Es liegt in der Konsequenz dieses providentiellen Arrangements, daß das
Individuum nicht nur in der Schrift, sondern auch in der Seele seines Mitmenschen
lesen muß, um ein Verständnis der Bibel zu erlangen. Die Hilfsbedürftigkeit des
Bibellesers ist zwar ein Insignium der »humana condicio«, der Schwäche der gefal-
lenen Kreatur. Doch die Angewiesenheit des Exegeten auf brüderliche Hilfe läßt
sich auch in einem positiven Licht betrachten. Indem Gott den Menschen mit der
Aufgabe der exegetischen Hilfeleistung betraut, macht er ihn zu seinem heiligen
Tempel: »Templum enim dei sanctum est«..fA Das schwache, korrupte Geschöpf ist

58 De doctrina christians. Prooemium 5. — Augustinus macht deutlich, daß die Gelegenheiten,


bei denen Gott sich unmittelbar als Sprachlehrer betätigt (so etwa das Pfingstereignis), seltene
und ungewöhnliche Ausnahmen darstellen. Vgl. ebd. Prooemium 5.
59 P. Brunner: Charismatische und methodische Schriftauslegung. S. 97.
60 De doctrina christiana. Prooemium 6. (»Die Liebe selbst, welche die Menschen durch das
Band der Einheit eng miteinander verknüpft, hätte keinen Zugang zu den Seelen, um sie
ineinander überfließen und sich vermischen zu lassen, wenn die Menschen nichts durch andere
Menschen lernten.« [Ubersetzung von mir, C h . M . ] ) .
61 Ebd. (mit Bezug auf 1 Kor. 3.17).
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 411

zugleich die kostbare Behausung, welche die göttliche Heilslehre beherbergt und an
die Menschen weitergibt. Wahrhaft korrupt wäre dagegen der Zustand eines Wesens,
das nicht einmal diese brüderliche Verstehenshilfe zu leisten vermöchte und somit
ganz auf die direkte Intervention des göttlichen Lehrers angewiesen wäre: »abiecta
esset humana condicio, si per homines hominibus deus verbum suum ministrare
nolle videretur.«62
Augustinus führt eine Reihe von Beispielen aus der Bibel an, um seine Ausfüh-
rungen zu beglaubigen. Als Kronzeuge dient ihm dabei der Apostel Paulus. Die
Erweckung vor Damaskus ist zwar auf eine unmittelbare Manifestation göttlicher
Macht zurückzuführen, doch die Pointe dieser Konversionsgeschichte besteht laut
Augustinus darin, daß Gott den Neubekehrten sogleich an einen Menschen wei-
terverweist, damit dieser ihn mit den Glaubensinhalten vertraut mache und ihm
das Sakrament der Taufe spende. 63 Die spirituelle Erleuchtung besitzt hier einen
ganz anderen Stellenwert als bei den Charismatikern, die der Verfasser des Prologs
zu widerlegen sucht. Bei den Charismatikern fungiert die Unterweisung durch den
menschlichen Lehrer - ähnliches gilt für die Lektüre der Schrift - als Anstoß zur
Selbsteinkehr. Demnach veranlaßt das Hören oder Lesen der menschlichen Worte
das geistbegabte Individuum dazu, sich still meditierend in das Innere seiner Seele
zurückzuziehen, wo ihm die Bedeutung des Gesagten durch göttliche Erleuchtung
aufgeschlossen wird. Im Falle der paulinischen Konversion, der Augustinus einen
paradigmatischen Status zuerkennt, liegen die Verhältnisse genau umgekehrt.
Paulus wird unvermutet eine Erleuchtung zuteil, doch diese ist nur der Anlaß für
eine gründliche Beschäftigung mit der christlichen Lehre, die unter menschlicher
Anleitung erfolgt. Die Illumination enthüllt ihm nicht die Bedeutung menschlicher
Worte, sondern im Gegenteil: Was die göttliche Illumination dem Bekehrten an
Unverständlichem und Überwältigendem vermittelt (Paulus wird durch das göttli-
che Licht geblendet!), bedarf der nachträglichen Erläuterung und Vertiefung durch
menschlichen Unterricht. Menschliche Worte erklären die göttliche Einwirkung,
während bei den Charismatikern die menschlichen Worte durch die göttliche In-
tervention transzendiert werden. Die paulinische Erweckung geht nicht unmittelbar
in Verstehen auf; sie verlangt vielmehr nach Deutung und Entzifferung. Diese her-
meneutische Arbeit kann der Bekehrte aber nur mit Hilfe eines anderen Menschen
vollbringen. Die Erleuchtung vor Damaskus enthüllt Paulus sein Inneres, doch sie
führt ihn wieder aus seinem Inneren heraus, in die Gemeinschaft mit anderen Men-
schen, denen er sich mitteilt. Die Charismatiker dagegen — so lautet jedenfalls der
Vorwurf, mit dem Augustinus seine Widersacher konfrontiert — neigen dazu, sich in
den sprachlosen Innenraum ihrer Seele einzuschließen. Da die Worte der menschli-
chen Sprache ihnen nur als Sprungbrett für die innere Erleuchtung dienen, geraten

62
Ebd.
63
Ebd. Prooemium 6.
412 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

sie leicht in die Versuchung, die Unterweisung durch kirchliche Autoritäten, ja sogar
die Heilige Schrift selbst für überflüssig zu halten. Der charismatische Dünkel führt
letztlich dazu, daß sie jegliche Form äußerer Belehrung verachten und nur noch auf
ihr Inneres fixiert sind — in gespannter Erwartung der nächsten Erleuchtung: »et
expect[ant] rapi usque in tertium caelum, [...] et ibi audire ineffabilia verba, quae non
licet homini loqui, aut ibi videre dominum Iesum Christum et ab illo potius quam
ab hominibus audire evangelium.«64
Die Anklage, die Augustinus gegenüber den Charismatikern erhebt, gipfelt in
der Vorhaltung, daß sie ihre Geistesgabe nicht als das ansehen, was sie eigentlich ist:
etwas Gegebenes, ein unverdientes Geschenk, das keinerlei Besitzansprüche begrün-
det. Laut Augustinus tendieren die Charismatiker dazu, die Wahrheiten, die ihnen
tief in ihrem Inneren offenbart werden, so zu behandeln, als wären sie ihr Eigentum.
Sie erwecken den Eindruck, als seien die Einsichten, zu denen sie gelangen, ihr per-
sönliches Verdienst, wo sie doch in Wirklichkeit allein der Güte Gottes entspringen.
Wenn die Charismatiker ihre Erkenntnisse mitteilen, dann sprechen sie mit dem
Selbstvertrauen von Leuten, die sich ihrer Sache absolut sicher sind. Sie stellen ihre
Einsichten nicht zur Diskussion, sondern sie verkünden sie als unbezweifelbare
Gewißheiten, denen nichts mehr hinzuzufügen ist. Sie verhalten sich so, als sei die
Wahrheit bereits ganz in ihrem Besitz, als könne die sprachliche Entäußerung ihr
Wissen in seinem Bestand nicht beeinträchtigen.
Es ist eben dieses Besitzdenken, dem sich Augustinus mit großer Vehemenz
widersetzt. Er hält den Charismatikern ein Wort des Evangelisten Johannes entge-
gen: »Quamquam nemo debet aliquid sie habere quasi suum proprium, nisi forte
mendacium.« 65 Wenn einer aus seinem Eigenen redet, dann lügt er. Die Wahrheit
gehört niemandem außer Gott. Um den verfehlten Umgang der Charismatiker mit
der göttlichen Wahrheit zu veranschaulichen, verweist Augustinus auf die biblische
Parabel von den Talenten:66 Er vergleicht seine Widersacher mit dem dritten Knecht,
der das ihm von seinem Herrn anvertraute Geld in der Erde vergräbt, anstatt damit
Zinsen zu erwirtschaften. Wer hat, dem wird gegeben, so lautet die Schlußfolgerung,
die Christus selbst in seiner Deutung der Parabel zieht.67 Augustinus verleiht dieser
Deutung eine eigentümliche Wendung. Für ihn gilt zugleich auch das Gegenteil:
Nur wer gibt, der wird haben. Da die Wahrheit eine göttliche Gabe ist, kann man
sie nur im Geben haben.68 Der Mensch kann sie sich nur auf einem Wege aneignen:

64 Ebd. Prooemium 5 (mit Bezug auf 2. Kor. 12. 2—4) (»Und sie warten darauf, daß sie in den
dritten Himmel entrückt werden, [...] und daß sie dort unerhörte Worte vernehmen, die
einem Menschen auszusprechen versagt sind, oder dort den Herrn Jesus Christus sehen und
das Evangelium unmittelbar von ihm hören statt von den Menschen.« [Ubersetzung von mir,
Ch. M.]).
65 Ebd. Prooemium 8 (mit Bezug auf Joh. 8.44).
66 Ebd. (mit Bezug auf Mt. 25.14-30).
67 Mt. 25.29.
68 Vgl. P. Brunner: Charismatische und methodische Schriftauslegung. S. 96.
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 413

dadurch, daß er sie an andere weitergibt, sie mitteilt, sie mit anderen teilt. Diese
Verpflichtung zur Weitergabe ist nicht etwa so zu verstehen, daß das Individuum
dazu aufgefordert wird, die fertigen Erkenntnisse, die es durch einsames Nachdenken
gewonnen hat, anderen gegenüber offen zu legen. Augustinus vertritt eine radikalere
Auffassung: Die Erkenntnisse sollen im Akt der Mitteilung allererst verfertigt wer-
den. Der Wahrheitssuchende wird dazu aufgefordert, seine unfertigen Erkenntnisse
zu entäußern, das Wissen, das er noch gar nicht sicher besitzt, preiszugeben, um es
sich auf diese Weise zu eigen zu machen. Der Erkenntnisakt findet erst im Vollzug
der Mitteilung seine Vollendung.

Verfertigung der Gedanken beim Schreiben

Augustinus gibt sich nicht damit zufrieden, den Charismatikern seine Vorstellungen
über den Zusammenhang zwischen Wahrheitserkenntnis und Mitteilung zu explizie-
ren. Darüber hinaus macht er deutlich, daß das von ihm vorgelegte Werk als Probe
aufs Exempel anzusehen ist. Er wendet die Theorie, die er im Prolog programmatisch
vorstellt, zugleich auch praktisch an. Am Eingang des ersten Buches von De doctrina
christiana gibt Augustinus seine Absicht kund, dem Publikum Gedanken und Ideen
mitzuteilen, die er noch nicht zu Ende gedacht hat. Er will mit der Veröffentlichung
seines Werkes nicht warten, bis er alles erforderliche Material beisammen hat. Er hofft
vielmehr, daß ihm das, was noch fehlt, im Prozeß der Entäußerung zuteil werden
wird. Er weiß, daß er mit dem Werk, das er in Angriff nimmt, eine große Last auf
sich lädt. Dadurch jedoch, daß er seine Überlegungen mitteilt, noch ehe er zu einem
abschließenden Ergebnis gelangt ist, verteilt er diese Last auf mehrere Schultern:
Magnum onus etarduum, et si ad sustinendum difficile, vereor, ne ad suspiciendum temerarium.
Ita sane si de nobis ipsis praesumeremus; nunc vero cum in illo sit spes peragendi huius operis,
a quo nobis in cogitatione multa de hac re iam tradita tenemus, non est metuendum, ne dare
desinat cetera, cum ea, quae data sunt, coeperimus impendere. Omnis enim res, quae dando
non deficit, dum habetur et non datur, nondum habetur, quomodo habenda est. [...] Sicut
ergo ille panis, dum frangeretur, adcrevit," sic ea, quae ad hoc opus adgrediendum iam domi-
nus praebuit, cum disputari coeperint, eo ipso suggerente multiplicabuntur, ut in hoc nostro
ministerio, non solum nullam patiamur inopiam, sed de mirabili abundantia gaudeamus. 70

69 Augustinus bezieht sich an dieser Stelle auf das Wunder der Brotvermehrung (Mt. 14.15-21).
70 De doctrina christiana 1.1.1-3. (»Es handelt sich um eine große und schwierige Aufgabe - eine
Aufgabe, die nicht leicht durchzuhalten ist, eine kühne Unternehmung, wie ich furchte. Gewiß
wäre sie eine solche, wenn ich mich dabei auf meine eigenen Kräfte verlassen würde. Doch da ich
meine Hoffnung, dieses Werk zu vollenden, ganz auf Gott gründe, von dem ich bereits durch
Nachdenken eine Menge an Material erhalten habe, fürchte ich nicht, daß er mir das Übrige
vorenthalten wird, wenn ich nur damit beginne, das, was mir gegeben wurde, weiterzugeben.
Alles nämlich, was nicht schwindet, wenn man es weggibt, ist solange kein wahrer Besitz, wie
man es besitzt und nicht weggibt. [...] Wie das Brot sich vermehrte, als es gebrochen wurde
[siehe Anm. 69], so wird sich, sobald die Diskussion über mein Werk einsetzt, auch das Material
vermehren, das Gott mir bereits gegeben hat, um dieses Werk zu beginnen — dergestalt, daß
ich in diesem meinem Dienst nicht nur keinen Mangel erleiden, sondern mich sogar einer
wunderbaren Fülle erfreuen werde.« [Ubersetzung von mir, Ch. M.]).
414 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Augustinus hofft dadurch, daß er sein unvollkommenes Wissen mit anderen teilt,
in den Genuß einer abundantia von Kenntnissen zu k o m m e n . Er versucht, seine
fragmentarischen Einsichten zu vervollständigen, indem er verbalisiert und weggibt,
was er durch Introspektion und stumme cogitatio erworben hat. Draußen sucht er
das Ganze, das er drinnen nicht zu finden vermag. Denn die durch den Sündenfall
bedingte Schwächung des menschlichen Erkenntnisapparats hat zur Folge, daß die
innere Einkehr immer nur zu einer partiellen Ansicht der Wahrheit führen kann.
Die Versuchung, der jeder Wahrheitssuchende, insbesondere aber der Charismatiker
ausgesetzt ist, besteht darin, diese intuitive Teilansicht absolut zu setzen u n d als
persönliches Eigentum zu behaupten. U m dieser Anfechtung vorzubeugen, tritt
Augustinus mit seinem Werk an die Öffentlichkeit, noch ehe er es zum Abschluß
gebracht hat. Es gibt handfeste Hinweise darauf, daß dies in einem ganz konkreten
Sinne zu verstehen ist. In den Retractationes erklärt Augustinus, daß er die Arbeit
an seiner Abhandlung für viele Jahre unterbrochen und erst in hohem Alter wieder
aufgenommen habe. 71 In der Forschungsliteratur zu De doctrina christiana herrscht
Einigkeit darüber, daß der Kirchenvater die ersten beiden Bücher sowie große Teile
des dritten Buches in den Jahren 395 bis 3 9 7 niedergeschrieben hat; die Vollendung
des Textes fällt dagegen in die Zeit zwischen 4 2 6 und 427. 7 2 Da ein auf das frühe
vierte Jahrhundert zu datierendes Manuskript überliefert ist, das - neben anderen
W e r k e n Augustins - nur den Prolog sowie die Bücher I und II von De doctrina
christiana enthält, 73 liegt die Annahme nahe, daß der Verfasser nicht erst das voll-
endete Werk, sondern bereits die fragmentarische Erstfassung publizierte und in
interessierten Kreisen zirkulieren ließ. 74 Es scheint mithin so, als habe Augustinus
den Versuch unternommen, seine Theorie der Wissensaneignung durch Wissensen-
täußerung zugleich auch in die Praxis umzusetzen. Die Entscheidung, ein Fragment
zu publizieren, ist jedenfalls eine denkbare Konsequenz dieser Theorie. 7 5
Was fur den Text der Abhandlung insgesamt gilt, das gilt erst recht für den Prolog,
der ihr vorangestellt ist. Auch im Prolog teilt Augustinus dem Leser keine gesicher-

71 Retractationes II.4.30.
72 Vgl. R. P. H. Green: Introduction. In: Aurelius Augustinus: De doctrina christiana. Edited
and translated by R. P. Η. Green. Oxford 1995. S. ix-xxiii, hier: S. xif.
73 Es handelt sich um den Codex Petersburg Q V. 1 . 3 . - Vgl. dazu William M. Green: A Fourth
Century Manuscript of Saint Augustine. In: Revue Benedictine 69 (1959). S. 191-197.
74 Diese Annahme wird von Joseph Martin und von W. M. Green vorgetragen. Vgl. J. Martin:
Abfassung, Veröffentlichung und Überlieferung von Augustins Schrift De doctrina christiana.
In: Traditio 18 (1962). S. 69-87, hier: S. 80; W. M. Green: A Fourth Century Manuscript
of Saint Augustine. S. 190: »We have here the first edition of the De doctrina christiana, as it
circulated in the years 396-426. [...] It was probably written early in this period, and probably
in Hippo.«
75 Augustinus ist nicht nur im Falle von De doctrina christiana so vorgegangen. Es handelt sich
um seine übliche Verfahrensweise. W. M. Green verweist auf »his practice (as in the City of
God) of publishing parts as the work progressed« (ebd. S. 193). Zu den Publikationsgepflo-
genheiten Augustins vgl. auch Harry Y. Gamble: Books and Readers in the Early Church. A
History of Early Christian Texts. New York and London 1995. S. 138-140.
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 415

ten Resultate mit, sondern läßt ihn am Vollzug seines Denkens teilhaben. Ulrich
Duchrow ist mit der Behauptung hervorgetreten, daß Augustinus den Prolog erst in
den Jahren 426/427 verfaßt habe, als er das fragmentarische Werk zu einem späten
Abschluß brachte.76 Duchrows Überlegungen vermögen jedoch nicht zu überzeugen.77
Zum einen nämlich hat er ein ganz besonderes Interesse daran, die Entstehung des
Prologs auf einen möglichst späten Zeitpunkt zu datieren. Eine frühere Entstehungs-
zeit würde seine Hauptthese gefährden, derzufolge das Denken des Kirchenvaters
auch nach seiner Priesterweihe und nach der Übernahme des Bischofsamtes einem
sprachfeindlichen Neoplatonismus verpflichtet blieb. Der hohe Stellenwert, der dem
Phänomen der sprachlichen Mitteilung in der Vorrede zu De doctrina christiana ein-
geräumt wird, stellt diese These in Frage. Duchrow vermag sie nur dadurch aufrecht-
zuerhalten, daß er den Prolog als ein Alterswerk deklariert, das mit den Schriften aus
der maßgeblichen mittleren Schafifensphase des Kirchenvaters in keiner Beziehung
steht.78 Zum anderen läßt sich die Deutung Duchrows nicht mit Inhalt und Form
des Prologs vereinbaren. Wenn Duchrow Recht hätte, dann müßte der Prolog eher
den Charakter eines Nachworts besitzen als den einer Vorrede. Der Prolog wäre keine
programmatische Vorschau auf eine noch ausstehende Untersuchung, sondern das
Resultat einer resümierenden Betrachtung, die der Verfasser in dem beruhigenden
Gefühl anstellen könnte, seine Aufgabe bereits erledigt zu haben. 79
Doch eben diese selbstgenügsame Haltung bildet den Gegenstand der Kritik, die
Augustinus in seiner Vorrede artikuliert. Mehr noch: Der Verfasser des Prologs gibt
deutlich zu verstehen, daß er am Anfang, nicht am Ende eines Erkenntnisprozesses
steht. Er hat den größten Teil der zu bewältigenden Wegstrecke noch vor sich: »hu-
ius viae, quam in hoc libro ingredi volumus, tale nobis occurrit exordium.« 80 Der
Gebrauch des Verbums occurrere läßt aufmerken. Augustinus bezeichnet den Prolog
als etwas, was ihm >unterlaufen< ist, ihm >entgegenkam<, seinen Weg kreuzte, und
zwar in dem Moment, da er mit der Arbeit an seinem Werk beginnen wollte. Die
Vorrede hat das Spontane, somit aber auch das Zufällige und Unkontrollierbare,
eines Einfalls. Augustinus spricht im Prolog folglich nicht aus Eigenem, nicht aus

76
U. Duchrow: Z u m Prolog von Augustins De doctrina christiana. S. 169-172.
77
Zur Kritik an der von Duchrow vertretenen Position vgl. R. P. H . Green: Introduction.
S. xiiif.; Cornelius Mayer: Res per signa: Der Grundgedanke des Prologs in Augustins Schrift
De doctrina christiana und das Problem seiner Datierung. In: Revue des Etudes augustiniennes
20 (1974). S. 100—112. Mayer führt eine Vielzahl von Zeugnissen aus Augustins Werken und
Briefen an, die ihn zu der Feststellung veranlassen: »Nun wissen wir, daß der Prolog mit nahezu
an Gewißheit grenzender Wahrscheinlichkeit damals verfaßt wurde, als Augustin kurz nach
der Übernahme der Leitung der Diözese De doctrina christiana unvollendet veröffentlichte.«
(Ebd. S. 107.)
78
Duchrow bewertet den Prolog zu De doctrina christiana als eine singulare Erscheinung im
CEuvre Augustins. Vgl. U. Duchrow: Sprachverständnis und biblisches Hören. S. 240.
79
Duchrow beruft sich auf die »Erfahrung [...], dass man Vorworte zum Schluss schreibt« (Zum
Prolog von Augustinus De doctrina christiana. S. 169). Er bezieht sich dabei wohl auf seine
eigene Erfahrung, die er in unhistorischer Weise auf Augustinus projiziert.
80
De doctrina christiana. Prooemium 9.
416 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

der gesicherten Position des Wissenden heraus. Vielmehr öffnet er sich fur das andere
und Unvorhersehbare. Als Einfall hat die Vorrede den Charakter des noch nicht bis
ins Letzte Durchdachten, des Vorläufigen und Unfertigen. Augustinus teilt sich im
Prolog seinen Lesern mit, obwohl er das, was er sagt, noch nicht ganz erfaßt hat,
genauer: weil er es nicht ganz erfaßt hat, denn dadurch, daß er es mitteilt, versucht
er ja gerade, das noch nicht ganz Begriffene zu begreifen. Er entäußert sich seines
Einfalls, um ihn sich zu eigen zu machen; er gibt, um zu haben. Indem er sich auf
diese Weise nach außen hin öffnet, schafft Augustinus die Voraussetzungen dafür,
daß ihm weitere Einfälle kommen, die dann ihrerseits durch Mitteilung angeeignet
werden müssen. Der Prolog markiert mithin kein abschließendes Resümee, keinen
Rückblick auf das Erreichte, sondern im Gegenteil: eine Entäußerung des Unferti-
gen, eine Öffnung gegenüber dem anderen, einen Ausblick auf das Erhoffte.
Augustinus erläutert im Prolog zu De doctrina christiana sein Konzept einer ka-
ritativen Hermeneutik. Dabei verweist er auf die Schwäche und Hilfsbedürftigkeit
des Menschen - auf seine Unfähigkeit, ohne die Unterstützung durch seinesgleichen
zu einem Verständnis der göttlichen Offenbarung zu gelangen. Er bezichtigt die
Charismatiker des Hochmuts, da sie sich weigern, menschliche Hilfe in Anspruch
zu nehmen - nicht zuletzt auch die Hilfe, die Augustinus der christlichen Gemein-
schaft in Gestalt seiner Abhandlung anbietet. Doch wie sieht diese Hilfe konkret aus?
Auf welche Weise will Augustinus seine Mitchristen auf ihrem Weg zur göttlichen
Wahrheit unterstützen? Der Verfasser des Prologs signalisiert, daß seine Hilfeleistung
über das übliche Maß weit hinausgeht. Er gibt sich nicht damit zufrieden, Exegese
zu betreiben; es genügt ihm nicht, seinen Mitchristen die Schrift zu erklären, deren
Verständnis ihnen ohne fremden Beistand verschlossen bliebe. Die doctrina christiana
soll keine inhaltliche Darstellung der christlichen Doktrin sein, kein erklärender oder
dogmatisierender Kommentar zur Heiligen Schrift. Augustins Ansinnen besteht
vielmehr darin, seinen Mitchristen eine Methode der Schriftauslegung an die Hand
zu geben, die es ihnen erlaubt, ihre eigenen Erklärungen zu finden.81 Augustinus ver-
gleicht sein Unterfangen mit der Vorgehensweise eines Lehrers, der seinen Schülern
nicht bloß Texte vorliest und sie so mit bestimmten Inhalten vertraut macht, sondern
der ihnen das Lesen beibringt, ihnen mithin die Fähigkeit vermittelt, sich beliebige
Inhalte durch selbständige Lektüre anzueignen.82 Die hermeneutischen Regeln, die
in De doctrina christiana vorgetragen werden, sollen es den Mitchristen ermöglichen,
sich von den Auslegungen anderer unabhängig zu machen und die Schrift durch ei-
gene Deutungstätigkeit aufzuschließen: »ut non solum legendo alios, qui divinarum
litterarum operta aperuerunt sed etiam ipsi aperiendo proficiant.«83

81 Im Prolog zu De doctrina christiana erfolgt, wie Peter Brunner darlegt, eine »Wende vom Was
zum Wie, vom materiellen Gehalt zur formalen Norm der Auslegung« (Charismatische und
methodische Schriftauslegung. S. 64f.).
82 De doctrina christiana. Prooemium 9.
83 Ebd. Prooemium 1.
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 417

Augustinus will seine Mitchristen offenbar zu autonomen Lesern erziehen, die


dazu in der Lage sind, die Wahrheit unmittelbar der Schrift zu entnehmen, anstatt
sich der Autorität bereits bestehender Deutungstraditionen zu unterwerfen.84 Die
Hilfe, die er zu leisten beabsichtigt, ist eine Hilfe zur Selbsthilfe. Nach all dem, was
Augustinus zuvor über die karitative Dimension des Schriftverstehens gesagt hat,
muß diese Feststellung überraschen. Der Verfasser des Prologs scheint sich selbst zu
widersprechen. Er wirft den Charismatikern vor, die irreduzible Hilfsbedürftigkeit
des Menschen zu ignorieren, doch die Regeln, mit denen er den christlichen Leser
ausstatten will, dienen offenkundig dem Zweck, menschlichen Beistand bei der
Schriftlektüre überflüssig zu machen. Er kritisiert den charismatischen Hang zum
Solipsismus, doch seine Methode animiert den Christen dazu, sich aus der Gemein-
schaft zurückzuziehen und intime Zwiesprache mit dem Buch zu halten. Augustinus
scheint sich in eine gefährliche Nähe zu seinen Widersachern zu begeben. Ist es
also angezeigt, von einem Rückfall sprechen? Erliegt Augustinus doch wieder der
charismatischen Versuchung, gegen die er sich mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen
bemühte?
Folgt man der Analyse Peter Brunners, so findet ein solcher Rückfall tatsächlich
statt. Nach Brunners Ansicht haben sich die Rollen zwischen Augustinus und den
Charismatikern am Ende des Prologs vertauscht. 85 Augustinus wird schließlich
wieder zu dem, was er eigentlich immer war: ein Verfechter der neoplatonischen
contemplatio, der Wort und Schrift hinter sich lassen will, um im unmittelbaren
Anrühren der Wahrheit das Heil zu erfahren. 86 Bei genauerem Hinsehen wird
freilich erkennbar, daß Augustinus nicht einfach auf die Position regrediert, die
er zwischenzeitlich bekämpft hat. Er bemüht sich vielmehr um eine Vermittlung
zwischen zwei gegensätzlichen Standpunkten. Keineswegs nimmt er am Ende
wieder eine rein charismatische Haltung ein. Der christliche Leser, den er zum
Leitbild erhebt, soll sich gerade nicht auf sein Charisma stützen, sondern auf die
hermeneutischen Regeln, die ihm Augustinus vorschreibt. Die Regeln ersetzen
das Charisma. Sie sollen verhindern, daß der Leser bei seiner Deutung willkürlich
verfährt und der Wahrheit der Schrift seine subjektive Sichtweise unterschiebt.
Sie sollen den Leser an einen Maßstab binden, der es ihm ermöglicht, die richtige
von der falschen, die dogmatisch korrekte von der häretischen Deutung zu unter-
scheiden. Die äußeren Hilfsinstanzen - die Priester, die das Gotteswort in ihren
Predigten auslegen, die von erfahrenen Exegeten verfaßten Bibelkommentare,
die kirchlichen Autoritäten, die die Glaubenslehre im Einklang mit der Schrift
kodifizieren - werden durch die hermeneutischen Regeln nicht einfach eliminiert.
Die Regeln nehmen diese Hilfsinstanzen vielmehr in sich auf. Sie repräsentieren
die Hilfe der anderen; sie sind ein Konzentrat der von ihnen vertretenen Werte

84 Vgl. P. Brunner: Charismatische und methodische Schriftauslegung. S. 67f.


85 Ebd. S. 100.
86 Ebd. S. 102.
418 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

und Einstellungen. Der Leser, der sich diesen Regeln unterwirft, ist daher nicht
wirklich auf sich alleine gestellt. Die Regeln erlauben es ihm, das Verstehen der
anderen zu antizipieren und mit ihnen in einen hermeneutischen Dialog zu treten,
ohne daß sie persönlich anwesend sein müssen. Die Regeln gestatten den Rückzug
ins Innere und öffnen dieses Innere zugleich auf die anderen hin. Sie bieten dem
Leser die Möglichkeit, sich wie ein Eremit von den Zerstreuungen des sozialen
Lebens fernzuhalten und dabei doch am Gemeinschafts- und Liebeswerk der
Bibelauslegung teilzuhaben. Der christliche Leser, wie ihn Augustinus im Prolog
zu De doctrina christiana konzipiert, vereinigt in sich die Vorzüge der eremitischen
und der sozialen Existenz.
Das augustinische Ideal des christlichen Lesers markiert also keinen Rückfall in
die überwunden geglaubte Position charismatischen Eremitentums. Der christliche
Leser nimmt vielmehr eine Mittelstellung zwischen zwei Extremen ein. Er verbindet
die einsame Kontemplation des Charismatikers mit der dialogischen Interaktion.
Der christliche Leser führt ein hermeneutisches Gespräch mit seinen Mitchristen,
aber es handelt sich dabei um ein imaginäres Gespräch, das in seiner Vorstellung
abläuft. Der andere, dem er sich mitteilt, ist ein fiktives Konstrukt. Auch der Ver-
fasser des Prologs zu De doctrina christiana führt ein solches Gespräch. Er gibt, um
zu haben; er entäußert sich seiner Gedanken, noch ehe er sie zuende gedacht hat,
damit sein Denken im Verstehen des anderen vervollständigt werden kann. Doch
er entäußert sich eben nicht ganz. Denn dieser andere existiert nur auf dem Papier.
Die Funktion des anderen wird im Prolog durch die Charismatiker ausgefüllt, mit
denen sich Augustinus polemisch auseinandersetzt. Der Verfasser der Vorrede kon-
struiert sich in Gestalt der Charismatiker einen Gegenspieler, den es zu widerlegen
und zu überzeugen gilt. Indem er den Gegenspieler zu überzeugen sucht, überzeugt
er sich selbst. Er versteht sich im Verstehen des anderen, aber dieses Verstehen ist ein
antizipiertes, imaginiertes Verstehen.
Die Vervollständigung der unfertigen Gedanken, die der Verfasser der Vorrede
preisgibt, findet also nicht erst in dem Moment statt, da reale Rezipienten auf seine
Aussagen reagieren. Die imaginäre Antizipation dieser Reaktionen ermöglicht es ihm
vielmehr, die Vervollständigung des Unvollständigen in den Schreibakt vorzuverle-
gen. In diesem Sinne äußert Augustinus gleich zu Beginn des Prologs die Hoffnung,
daß er noch während der Niederschrift der Abhandlung an das Material gelangen
werde, das ihm zur Vollendung seines Vorhabens fehlt: »Haec tradere institui volenti-
bus et valendbus discere, si dominus ac deus noster ea, quae de hac re cogitanti solet
suggerere, etiam scribenti mihi non deneget.« 87 Augustinus verfügt also über kein
fertig ausgearbeitetes Konzept, das nur noch zu Papier gebracht werden muß. Viel-

87 De doctrina christiana. Prooemium 1. (»Ich bin entschlossen, dies denjenigen mitzuteilen, die
den Wunsch und die Fähigkeit besitzen, etwas zu lernen — unter der Voraussetzung freilich,
daß unser Herr und Gott mir, während ich schreibe, die Gedanken nicht vorenthält, die er
mir gewöhnlich beim Nachdenken gewährt.« [Ubersetzung von mir, Ch. M.]).
Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen 419

mehr verfertigt er seine Gedanken beim Schreiben.88 Wohlgemerkt: beim Schreiben,


nicht beim Reden. 89 Augustinus gibt seine unfertigen Gedanken preis, um sie sich
anzueignen, doch der Anwesenheit eines Gesprächspartners bedarf es dabei nicht. Es
genügt, sich einen solchen zu denken. Der karitative Akt der Mitteilung fällt folglich
mit dem Schreibakt in eins. Das Medium Schrift ersetzt sozusagen den anderen, auf
den der Denkende zur Vervollständigung seiner Ideen angewiesen ist. Die Schrift
ermöglicht es ihm, sich seiner Gedanken zu entäußern und doch bei sich zu bleiben.
Als Schreibender vermag er die innere Einkehr mit der Hinwendung zum anderen
zu verknüpfen. Er kann sich im anderen verstehen, ohne den Innenraum des Selbst
verlassen zu müssen. Augustins karitative Selbsthermeneutik ist an den Gebrauch
des Mediums Schrift gebunden.

88
Vgl. auch De trinitate III. Prooemium: »Egoque ipse multa quae nesciebam scribendo me
didicisse confitear«.
85
Ich spiele hier auf den Titel des bekannten Aufsatzes von Heinrich von Kleist an: Ȇber die
allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«. Es wäre reizvoll, der in der Kleist-For-
schung noch nicht aufgeworfenen Frage nachzugehen, ob dieser Aufsatz in der von Augustinus
begründeten Tradition steht.
IX. D i e Confessiones als Paradigma der christlichen
Selbsthermeneutik

1. Die strukturelle Offenheit der Confessiones

Augustinus entwirft in seinen Schriften zum christlichen Unterricht und zur Exegese
eine karitative Hermeneutik, die das Erfassen der Wahrheit mit dem Akt der Mittei-
lung verknüpft. Seiner Ansicht nach kann sich das Individuum die Erkenntnisse, die
Gott dem Menschen in Form von Eingebungen oder auf dem Wege der biblischen
Offenbarung zukommen läßt, nur dadurch zu eigen machen, daß es sie an andere
weitergibt. Das Verständnis, das der einzelne durch Nachdenken oder durch die
Lektüre der Schrift gewinnt, vollendet sich erst in der sprachlichen Mitteilung, die ihn
mit seinen Mitmenschen verbindet. Das Individuum versteht sich ganz nur im (anti-
zipierten) Verstehen des anderen, dem es sich in liebevoller Hinwendung verständlich
macht. Diese Prinzipien gelten nicht nur für die Auslegung der Heiligen Schrift, sie
bestimmen auch die hermeneutische Beziehung, die das Subjekt sich selbst gegenüber
unterhält. U m Selbsterkenntnis zu erlangen, darf sich das Individuum nicht in sein
Inneres einschließen. Der charismatische Eremit, der behauptet, daß ihm solche
Erkenntnis unmittelbar durch Introspektion zuteil werde, steht in der Gefahr, der
superbia zu verfallen, der gefährlichsten Form von Selbsttäuschung. Die Wahrheit
seiner selbst kann das Subjekt nur dadurch entziffern, daß es sich ihrer entäußert.
Die Confessiones gehorchen den Imperativen dieser karitativen Selbsthermeneutik:
Das Bekenntnis, das Augustinus vor seinem Schöpfer und vor seinen Mitmenschen
ablegt, ist nicht bloß eine confessio laudis, eine Verherrlichung der Taten, die Gott
zur Rettung des geständigen Sünders vollbracht hat. 1 Es erfüllt darüber hinaus eine
selbsthermeneutische Funktion. Der Autobiograph kehrt sein Inneres nach außen,

1 Die ihrer Herkunft nach biblische Redeform der confessio laudis steht in einem engen Zusam-
menhang mit der confessio peccati. Das Sündenbekenntnis ist zugleich auch Gotteslob - je
größer die Sünden sind, deren sich das Individuum schuldig gemacht hat, desto eindrucksvoller
erscheint das unverdiente Gnadenwerk, das Gott an dem Sünder verrichtet. Diese Verbindung
von Gotteslob und Schuldgeständnis wird in der Forschung als bestimmend für Augustins
Konzeption der confessio angesehen. Sie geht davon aus, daß das Bekenntnis eine bereits be-
stehende Selbsterkenntnis artikuliert, verleugnet mithin die für diese Erkenntnis konstitutive
Funktion der verbalen Selbstentäußerung. Vgl. Josef Ratzinger: Originalität und Überlieferung
in Augustins Begriff der confessio. In: Revue des etudes augustiniennes 3 (1957). S. 3 7 5 - 3 9 2 ;
Klaus Grotz: Die Einheit der »Confessiones«. Tübingen 1970. S. 22—24, S. 79—93; P. Brown:
Augustine of Hippo. S. 175f.; Georg Pfligersdorfer: Augustins »Confessiones« und die Arten
der »confessio«. In: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 14 (1970). S. 15—28, hier: S. 19f.;
Cornelius Mayer: Confessio, confiteri. In: Augustinus-Lexikon. Bd. 1. Sp. 1122-1134. Zweifel
422 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

u m sich in seinen Lesern lesen zu können. Er teilt keine fertige Selbsterkenntnis


mit, sondern er verfertigt diese Erkenntnis im imaginären Dialog mit G o t t u n d
den Menschen, vor denen er sich enthüllt. 2 Die Ö f f n u n g gegenüber den anderen,
die Augustinus durch sein Bekenntnis vollzieht, bedingt zugleich die strukturelle
Offenheit des Textes, den er seinen Lesern präsentiert. Der Autobiograph markiert
seine D e u t u n g als vorläufig, da das Urteil, das er über sich selbst fällt, immer nur im
Vorgriff auf das Urteil seines menschlichen, vor allem aber seines göttlichen Lesers
erfolgen kann. Die Geschichte des Selbst, die Augustinus in den Confessiones erzählt,
darf ebensowenig einen definitiven Abschluß finden, wie es dem Bekenntnissubjekt
gestattet ist, sich ganz in sich selbst einzuschließen. Die Lebensgeschichte des Auto-
biographien rundet sich letztlich nicht zu einem Ganzen. Ihr Ende bleibt offen; sie
steht im Zeichen einer irreduziblen Vorläufigkeit und Ungewißheit.

D i e Confessiones in der
literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung

Ein Deutungsansatz, der den offenen Charakter der Confessiones betont, begibt sich
in Opposition zur communis opinio nicht nur der Augustinus-Forschung. In der
Literaturwissenschaft gilt das Bekenntniswerk - zumindest aber der narrative Teil,
der die Bücher I bis IX umfaßt - als Paradebeispiel eines geschlossenen Textes. Es
ist eben diese (vermeintliche) Geschlossenheit, die den Confessiones innerhalb des
literarischen Kanons eine herausgehobene Position gesichert hat, ja, die dafür ver-
antwortlich ist, daß sie das Ansehen einer Gründungsurkunde besitzen, von der die
Geschichte autobiographischen Schreibens ihren Ausgang nimmt. 3 Laut Roy Pascal

an der Relevanz der confessio laudis für Augustins Bekenntnisprojekt äußert Reinhart Herzog:
N o n in sua voce. Augustins Gespräch mit Gott in den Confessiones — Voraussetzungen und
Folgen. In: Das Gespräch. Hg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning. München 1984
(Poetik und Hermeneutik. Bd. 11). S. 2 1 3 - 2 5 1 , hier: S. 215f.
2
Die dialogische Dimension des Textes arbeitet R. Herzog in seiner Analyse der Confessiones
heraus (ebd.). Herzog vernachlässigt jedoch den antizipatorischen, fiktiven Charakter, den das
Gespräch mit Gott in den Confessiones besitzt: Augustinus fingiert sich seinen Gesprächspartner;
das Verstehen des anderen, in dem er sich zu verstehen sucht, ist immer nur ein imaginäres
Konstrukt.
3
Darstellungen der Geschichte autobiographischen Schreibens setzen üblicherweise mit ei-
ner Betrachtung der Confessiones ein. Sei es, daß sie auf der Basis eines essentialistischen
Subjektbegriffs operieren (wie beispielsweise Karl Joachim Weintraub: T h e Value of the
Individual: Self and Circumstance in Autobiography. Chicago and London 1978. S. 2 2 ^ i 8 ) ,
sei es, daß sie der poststrukturalistischen Kritik eines solchen Begriffs verpflichtet sind (wie
Linda Anderson: Autobiography. London and New York 2001. S. 18-27): Augustinus wird
in jedem Fall als Begründer einer »dominant tradition« (Anderson: Autobiography. S. 18)
angesehen, und dieser Status wird dadurch gerechtfertigt, daß es ihm gelungen sei, »that
proper form of autobiography« (Weintraub: T h e Value of the Individual. S. 45) zu finden, die
der totalisierenden Darstellung eines »unified seif« diene (Anderson: Autobiography. S. 20).
Einige weitere Belege: Anna Robeson Burr eröffnet ihren Überblick über die Geschichte der
Autobiographie mit der folgenden Aussage: »Augustin [wrote] the first complex, subjective
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 423

besteht der originäre autobiographische Impuls darin, daß das Individuum »sein
Leben als ein Ganzes zu sehen, unter den Zufällen des Lebens die eine unteilbare
Person aufzufinden« wünscht. 4 U m die Integrität des Lebens und der Person sichtbar
zu machen, bedarf es demnach einer Darstellung, die sich ihrerseits durch Ganzheit
und Geschlossenheit auszeichnet. Die Confessiones, so argumentiert Pascal, sind das
erste autobiographische Zeugnis, dem es aufgrund der Geschlossenheit seiner Form
gelingt, das Leben eines Individuums als ein kohärentes Ganzes darzustellen. 5 Ihr
kanonischer Rang erscheint gerechtfertigt, weil Augustinus das fundamentale Dar-
stellungsproblem der Autobiographie auf musterhafte Weise gelöst hat.
Die Lösung, die er für dieses Problem gefunden hat, besteht einer weit verbrei-
teten Ansicht nach konkret darin, daß er die Erfahrung der Konversion zum Dreh-
und Angelpunkt seiner Autobiographie erhoben hat. Die Szene im Mailänder Garten
firmiert sozusagen als Urszene autobiographischer Subjektkonstitution. Indem er die
Erfahrung der Konversion in das strukturelle Zentrum seiner Autobiographie stellt,
wird Augustinus zum Entdecker des Bauplans, der jeder narrativen Selbstdarstellung
zugrunde liegt: »every narrative of the self is the story of a conversion«, so erklärt
John Freccero, und Jill Robbins äußert sich nicht weniger apodiktisch: »the conversi-
on experience makes possible the first-person narrative; conversely, a formal require-

autobiography.« (A. R. Burr: The Autobiography. A Critical and Comparative Study. Boston
and New York 1909 [Ndr. 1973]. S. 37f.) Arthur Melville Clark bezeichnet die Confessiones als
»the first indubitable specimen [of autobiography].« (A. M. Clark: Autobiography. Its Genesis
and Its Phases. Edinburgh and London 1935 [Ndr. 1969]. S. 26.) Günter Niggl charakterisiert
die Bekenntnisse als »Beginn und erstefn] Höhepunkt der europäischen Autobiographie im
vollen Sinne des Wortes.« (G. Niggl: Autobiographie. In: Literaturlexikon. Hg. von Walther
Killy. Gütersloh und München 1988ff. Bd. 13. S. 58-65, hier: S. 60.) - Eine Ausnahme
unter den gattungsgeschichtlichen Untersuchungen bildet die Darstellung von Georg Misch,
für den die Confessiones nicht den Anfang, sondern das Ende einer Entwicklung markieren:
»So gilt die Autobiographie als eine wesentlich moderne Gattung, modern in dem Sinne, in
dem Augustin, obwohl er im 4. Jahrh. lebte, von führenden europäischen Historikern als der
>erste moderne Mensch< bezeichnet worden ist. Die weltliche Autobiographie, die seit der
Renaissance mit der religiösen wetteiferte, begreift sich dann als eine Säkularisation christlichen
Gutes. So überzeugend diese Ansicht auf den ersten Blick erscheinen mag, sie hält vor der
historischen Untersuchung nicht stand. In Wirklichkeit ist für alle wesentlichen Richtungen
der Selbstbiographie im griechisch-römischen Altertum der Grund gelegt worden, und das
Werk Augustins ist nicht ein Anfang, sondern eine Vollendung.« (G. Misch: Geschichte der
Autobiographie. Bd. I . l : Das Altertum. Erste Hälfte. Frankfurt a.M. 3 1949. S. 20.).
4 Roy Pascal: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Aus dem Englischen übersetzt von M.
Schaible, überarbeitet von Kurt Wölfel. Stuttgart 1965. S. 36. - Vgl. auch Georges Gusdorf:
Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie (1956). Aus dem Französischen übersetzt
von Ursula Christmann. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen
Gattung. Hg. von Günther Niggl. Darmstadt 2 1998. S. 121-147, hier: S. 130: Der Auto-
biograph bemüht sich »um eine ganzheitliche und zusammenhängende Darstellung seines
gesamten Lebens«; sein Bestreben ist daraufgerichtet, »sich in seiner Einheit und Identität im
Verlauf der Zeit wiederherzustellen.« Vgl. des weiteren Philippe Lejeune: L'autobiographie en
France. Paris 1971. S. 19: »Ecrire son autobiographie, c'est essayer de saisir sa personne dans
sa totaliti, dans un mouvement recapitulatif de synthase du moi.«
5 R. Pascal: Die Autobiographie. S. 23, S. 34f.
424 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

ment of a first-person narrative is a conversion experience.« 6 Diese Formulierungen


mögen überspitzt erscheinen, gleichwohl sind sie repräsentativ für die herrschende
Meinung innerhalb der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung. Die
Confessiones werden in erster Linie als Konversionsgeschichte gelesen. Die Konversi-
on erscheint demnach als das selbsthermeneutische Deutungsschema par excellence,
das von Augustinus erstmals konsequent zur Anwendung gebracht wird, das aber in
säkularisierter Form auch für die neuzeitliche Autobiographie noch Gültigkeit be-
sitzt. 7 Der Rekurs auf das Konversionsschema garantiert die formale Geschlossenheit
der autobiographischen Darstellung und die Integrität des dargestellten Subjekts.
Eine Interpretation der Confessiones, die auf der Offenheit des Textes beharrt, kommt
somit nicht umhin, das Deutungsschema der Konversion einer kritischen Analyse zu
unterziehen. Handelt es sich dabei wirklich, wie von der Autobiographieforschung
angenommen, um ein Instrument der narrativen Totalisierung?
U m diese Frage zu beantworten, gilt es zunächst einmal, sich das Darstellungspro-
blem zu vergegenwärtigen, mit dem - so jedenfalls argumentiert die ältere Forschung
- jeder Autobiograph konfrontiert ist. 8 Folgt man der Auffassung Roy Pascals, so

6 John Freccero: Autobiography and Narrative. In: Reconstructing Individualism: Autonomy,


Individuality, and the Self in Western Thought. Edited by Thomas C. Heller, Morton Sosna,
and David E. Wellbery. Stanford 1986. S. 16-29, hier: S. 17; Jill Robbins: Prodigal Son /
Elder Brother: Interpretation and Alterity in Augustine, Petrarch, Kafka, Levinas. Chicago
and London 1991. S. 24.
7 Jean Starobinski etwa geht davon aus, daß jeder Autobiograph einer besonderen Motivation
bedarf, um das Projekt der Selbstdarstellung in Angriff zu nehmen - einer »grundlegende[n]
Veränderung«, die in sein Leben eintritt und ihn zur Reflexion darauf nötigt. Diese Zäsur
im Lebensablauf, die den Anlaß und Ermöglichungsgrund der Selbstdarstellung bildet, ist
ein säkularer Abkömmling religiöser Erfahrungsmuster: »Bekehrung, Eintritt in ein neues
Leben, Einbruch der Gnade.« Vgl. J. Starobinski: Der Stil der Autobiographie (1970). Aus
dem Französischen übersetzt von Hildegard Heydenreich. In: Die Autobiographie. Zu Form
und Geschichte einer literarischen Gattung. S. 200-213, hier: S. 207.
8 Tatsächlich betrifft dieses Problem keineswegs jeden Autobiographen, sondern nur denjenigen,
der a) eine narrative Form der Vermittlung wählt und b) sich dabei dem Ideal der Einheit und
der Ganzheit verpflichtet fühlt, die er sowohl für seine Darstellung als auch für die dargestell-
te Person beansprucht. Die ältere Forschung, die eine enge Definition der Autobiographie
propagiert und darunter die retrospektive Prosaerzählung des eigenen Lebens versteht, weist
somit einem ganz bestimmten Darstellungsmuster allgemeine Geltung zu und universalisiert
eine historisch spezifische Form von Subjektivität. Zur Universalisierung des »unified subject«
durch die ältere Autobiographieforschung vgl. L. Anderson: Autobiography. S. 1-12. Die
vernachlässigte Traditionslinie nicht-narrativer Selbstdarstellung zeichnet Michel Beaujour
nach: Miroirs d'encre. Rhetorique de l'autoportrait. Paris 1980. Das alternative Konzept einer
>schwachen< nicht-einheitlichen Subjektivität entwickelt Jörg Dünne: Asketisches Schreiben.
Rousseau und Flaubert als Paradigmen literarischer Selbstpraxis in der Moderne. Tübingen
2003. Allerdings leitet Dünne - m.E. irrigerweise - das >schwache< Subjekt aus der antiken,
insbesondere der stoischen Tradition der askesis ab. Die Wurzeln schwachen, ästhetischer
Subjektivität scheinen mir eher in der negativen Anthropologie augustinischer Prägung
zu liegen. Siehe dazu Kapitel XI und XII dieser Untersuchung. - Zur großen historischen
Bandbreite autobiographischer Darstellungsformen vgl. zusammenfassend Christian Moser:
Autobiographie. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 13: Rezeptions- und
Wissenschaftsgeschichte A-F. In Verbindung mit Hubert Cancik und Helmut Schneider hg.
von Manfred Landfester. Stuttgart und Weimar 1999. Sp. 360-364.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 425

sieht sich der Verfasser einer Autobiographie vor die Aufgabe gestellt, einen Stand-
punkt zu finden, der ihn dazu befähigt, »sein Leben als eine Art Einheit zu sehen,
als etwas, das auf eine Ordnung zurückgeführt werden kann.« 9 Das Auffinden einer
solchen Position ist jedoch mit Schwierigkeiten verbunden. D a das Leben, das der
Autobiograph zu schildern versucht, sein eigenes ist, hat er es notwendigerweise
mit etwas zu tun, was noch unabgeschlossen und zur Zukunft hin offen ist, »so
daß die Sinngebung nur vorläufig sein kann.« 10 Der Akt der autobiographischen
Sinngebung ist selbst ein Teil des Lebens, das verstanden werden soll — »ein Teil
des Ganzen erhebt den Anspruch, das Ganze widerzuspiegeln«.' 1 Anders als in
der (Hetero-) Biographie kann in der Autobiographie das Ende, von dem aus das
Leben als abgeschlossene Einheit erkennbar wird, nicht der biologische Tod des
Protagonisten sein. Der biologische Lebensprozeß ist für den Autobiographen somit
»als totalisierendes Schema hinfällig«. 12 Es gibt für ihn keine natürliche, biologisch
vorgegebene Position, die es ihm erlaubt, sein Leben als Totalität zu erfassen. Es
bleibt dem Autobiographen daher keine andere Möglichkeit, als sich einen derar-
tigen Standpunkt mit künstlichen Mitteln zu schaffen. Er muß ein Ende fingieren,
das seinem Leben den Charakter eines abgeschlossenen Ganzen verleiht; er muß
einen künstlichen Schlußpunkt (und den ihm korrespondierenden Anfangspunkt)
setzen, damit er sein Leben zum Gegenstand einer >schlüssigen< Geschichte machen
kann. 13 Die Konversion ist ein solcher künstlicher Endpunkt. Sie markiert eine Art
Tod im Leben - einen künstlichen Tod, der dem natürlichen Tod insofern überlegen
ist, als ihm nichts Zufälliges anhaftet. Die Autobiographieforschung betrachtet die
Konversion als ein totalisierendes Deutungs- und Darstellungsschema, das es dem
Autobiographen ermöglicht, sein Leben noch im Leben selbst zu Ende zu bringen,
und zwar in Gestalt einer abgeschlossenen Erzählung. Der Autobiograph vermag die
offene Zukunft mit Hilfe des künstlichen Todes der Konversion in einer erfüllten
Gegenwart aufzuheben - in der fiktiven Zeitlosigkeit der Erzählgegenwart. 14 Er
stirbt in der Konversion als Protagonist seiner Lebensgeschichte, um als Erzähler und
Autor derselben wiedergeboren zu werden. »[Conversion] implies the death o f the
self as character and the resurrection o f the self as author«, auf diese griffige Formel
bringt John Freccero den Vorgang autobiographischer Subjektkonstitution, 15 den Jill
Robbins weniger prägnant, aber mit größerer Präzision folgendermaßen beschreibt:

5 R. Pascal: Die Autobiographie. S. 21.


10 Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie
der Goethezeit. Tübingen 1976. S. 69.
11 G. Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie. S. 140.
12 Ursula Link-Heer: Prousts A la recherche du temps perdu und die Form der Autobiographie.
Zum Verhältnis fiktionaler und pragmatischer Erzähltexte. Amsterdam 1988. S. 49.
13 Vgl. Geoffrey Galt Harpham: The Ascetic Imperative in Culture and Criticism. Chicago and
London 1987. S. 83: »All closure is Active with respect to man's life on earth«.
14 Vgl. K.-D. Müller: Autobiographie und Roman. S. 69.
15 J. Freccero: Autobiography and Narrative. S. 16f.
426 Vom phihsophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

»At the moment of conversion the sinner becomes the narrator, an >I< who is able to
tell the story of its self-loss and self-recovery.«16
Die lebensgeschichtliche Zäsur der Konversion hat also nicht nur eine theologi-
sche, sondern auch eine narratologische und hermeneutische Funktion. Aus theolo-
gischer Sicht bedeutet die Konversion den Einbruch der göttlichen Gnade, die das
menschliche Subjekt einer radikalen Transformation unterzieht: »In theological terms,
conversion is the separation of the self as sinner from the self as saint«.17 Den Prototyp
dieses Gnadengeschehens bildet die Wandlung des Saulus zum Paulus, wie sie in der
Apostelgeschichte überliefert ist.18 Im Zuge dieser Wandlung legt das Subjekt sein
altes, sündhaftes Selbst ab und tauscht es gegen ein neues, durch Gott gerechtfertigtes
Selbst ein. Sie gibt ihm zugleich den hermeneutischen Schlüssel an die Hand, der es
ihm erlaubt, sein Leben zu verstehen: »The partial view of the experiencing subject,
blinded by sin, is contrasted with the totalizing viewpoint of the converted narrator,
for whom every sinful moment prior to conversion can be understood as sin prior
to grace.«19 Die göttliche Gnade wird in der Konversion nicht bloß in dem Sinne
wirksam, daß sie das menschliche Subjekt von der Sünde befreit. Darüber hinaus
schenkt sie ihm ein umfassendes Wissen. Sie enthüllt ihm die Wahrheit seiner selbst.
In der Konversion wird dem Subjekt die Gnade gewährt, sich mit den Augen Gottes
zu betrachten. Aus dieser Perspektive gewinnt der Konvertierte »einen Überblick über
sein vergangenes Leben, den er früher nicht hatte und der dem Wissen Gottes auch
um seine Gegenwart und seine Zukunft vergleichbar ist.«20
Die totalisierende Perspektive, die der Erzähler der autobiographischen Konversi-
onsgeschichte den hier referierten Forschungsarbeiten zufolge einzunehmen sucht, ist
der totalisierende Standpunkt par excellence, die Position göttlicher Allwissenheit.21
Die Konversionsgeschichte zeigt demnach auf, wie das Subjekt zu einem anderen
wird, 22 mehr noch: wie ihm die Gnade zuteil wird, in die Position des ganz anderen
einzutreten, die ihm vollkommene Selbsterkenntnis ermöglicht. Die karitative Her-
meneutik der Mitteilung ist in diesem Kontext offenbar fehl am Platz. Da der Kon-
vertierte selbst zum anderen wird, dem sich das Wesen des Selbst enthüllt, besteht für
ihn keinerlei Notwendigkeit mehr, sich nach außen hin zu öffnen, um im Verstehen

16
J. Robbins: Prodigal Son / Elder Brother. S. 24.
17
J. Freccero: Autobiography and Narrative. S. 17.
18
Apg. 9 . 1 - 1 9 .
15
J. Robbins: Prodigal Son / Elder Brother. S. 24.
20
Susanne Lüdemann: Mythos und Selbstdarstellung. Zur Poetik der Psychoanalyse. Freiburg
i. Br. 1994. S. 39.
21
»Sich zu erkennen >wie er erkannt ist« - und damit endgültig auf die Seite Gottes hinüber-
zuwechseln — ist das eigentliche und im Grunde auch unverhohlene Sehnsuchtsmotiv der
Confessiones«. (ebd. S. 41).
22
Laut Susanne Craemer-Schröder unterscheidet dieses »Motiv des >Ein-anderer-Gewordenseins<«
die vormoderne Selbstdarstellung von der neuzeitlichen Autobiographie, der das »Motiv des
kontinuierlichen >Selbstwerdens<« zugrunde liegt. Vgl. S. Craemer-Schröder: Deklination des
Autobiographischen. Goethe, Stendhal, Kierkegaard. Berlin 1993. S. 9f.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 427

der anderen ein Verständnis des Selbst zu gewinnen. Der Konvertierte braucht die
anderen nicht, denn er ist sich selbst der andere. Das Deutungsschema der Konver-
sion läßt die Selbstentäußerung und die daran gekoppelte Aktivität des Sich-im-an-
deren-Lesens entbehrlich erscheinen. Genauer: Weil das Subjekt sich im Augenblick
der Konversion in Gott (mit den Augen Gottes) liest, weil es folglich in den absolut
sicheren Besitz der Wahrheit seiner selbst gelangt, ist es für den Konvertierten nicht
mehr erforderlich, sich das Geschaute durch Weitergabe anzueignen. Die Konversion
markiert eine Erleuchtung, einen punktuellen Akt der Selbstlektüre, der jedes weitere
Lesen überflüssig macht: »This moment of self-recognition, this self-reading, is a
reading to end all reading, is the end of reading«, so behauptet Jill Robbins.23

Konversion als Deutungsschema und als deutungsbedürftiges Ereignis


Die in der Autobiographieforschung dominierende Auffassung der Konversion als
eines totalisierenden Deutungsschemas wirft eine Reihe von Fragen auf. Wenn die
Konversion die Geburt eines neuen Menschen markiert und diesen mit vollkom-
mener Selbsterkenntnis ausstattet, was veranlaßt ihn dann überhaupt dazu, sich
noch einmal mit seinem alten Ich zu beschäftigen? Warum wendet er sich nach der
Konversion erneut einer Vergangenheit zu, die er doch angeblich mit göttlicher
Gnadenhilfe ganz von sich abgestreift hat? Tatsächlich bedeutet die Konversion für
das Subjekt ja gerade nicht, wie Robbins behauptet, das Ende jeglicher Lektüre-
und Mitteilungstätigkeit. Vielmehr setzt es die Aktivität der Selbstentzifferung und
Selbstentäußerung allererst in Gang. Es stellt sich somit die Frage, ob die Einsicht,
die dem Subjekt durch die Bekehrung vermittelt wird, tatsächlich derart umfassend
und erhellend ist, wie dies die Autobiographieforschung suggeriert. Einige ihrer
Vertreter haben sich wenigstens ansatzweise mit dieser Frage beschäftigt. Wenn
es zutrifft, daß der selbsthermeneutische Prozeß im Konversionsereignis zur Voll-
endung gelangt, so sinniert etwa Reinhart Herzog, dann müßte dieses eigentlich
»den narrativen Text überflüssig machen, >vernichten<.«24 Uberspitzt formuliert: Die
Konversion, die das autobiographische Erzählen ermöglicht, macht es zugleich ver-
zichtbar. »Aber«, so fährt Herzog mit Verwunderung fort, »Augustin hat die narratio
nicht gestrichen.«25 Für Herzog ist die Weigerung des Autobiographen, auf die an
sich entbehrliche Erzählung der Konversionsgeschichte zu verzichten, nur dadurch
zu erklären, daß der Verfasser der Confessiones vorrangig eine ästhetische, nicht aber
eine hermeneutische Zielsetzung verfolgt. Das hermeneutische Problem ist mit der
Konversion erledigt. Die Erzählung trägt folglich nichts dazu bei, das Selbstverständ-
nis des Autobiographen zu befördern. Durch sie kann er seine Mitmenschen jedoch

23 J. Robbins: Prodigal Son / Elder Brother. S. 46.


24 R. Herzog: Non in sua voce. S. 234.
25 Ebd.
428 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gtfallenen Willens

an der delectatio teilhaben lassen, welche die Betrachtung eines in sich vollendeten
Lebenslaufs, einer schlüssigen Geschichte gewährt. 26
Man kann die unterlassene Streichung der autobiographischen narratio freilich
auch ganz anders interpretieren. Es ist ebenso gut denkbar, daß Erzählung und
bekenntnishafte Entäußerung keinen verzichtbaren ästhetischen Luxus darstellen,
sondern eine hermeneutische Notwendigkeit, die in der Unzulänglichkeit der Kon-
version als totalisierendes Deutungsschema begründet ist. In diesem Falle wäre davon
auszugehen, daß die Konversion den selbsthermeneutischen Prozeß eben nicht zur
Vollendung bringt. Der Prozeß der Selbstentzifferung wird demzufolge durch die
Bekehrung nicht abgeschlossen, er wird durch sie initiiert. Die Konversion ist kein
Ereignis, das dem Subjekt schlagartig zur Klarheit über sich selbst verhilft. Es handelt
sich vielmehr um eine zutiefst verstörende Erfahrung, die das Selbstverständnis des
Betroffenen erschüttert. Sie stellt die Verständniskategorien in Frage, derer er sich
bislang bediente. Das Subjekt wird durch die umwälzende Erfahrung der Bekehrung
dazu genötigt, sein bisheriges Leben einer Revision zu unterziehen - die Vergangen-
heit im Lichte dieser Erfahrung neu zu deuten, aber auch umgekehrt: diese zunächst
unbegreifliche Erfahrung im Lichte des Vergangenen begreiflich zu machen. Denn
die Konversion, die als Deutungsschema fungieren soll, bedarf ihrerseits der Deu-
tung. Es sei daran erinnert, daß Augustinus die paulinische Bekehrung in De doctrina
christiana als ein Ereignis beschreibt, das nicht unmittelbar in Verstehen aufgeht:
Paulus wird an einen menschlichen Lehrer verwiesen, damit dieser ihn darüber
aufklärt, was ihm vor Damaskus widerfahren ist.27
Ähnliches gilt auch für den Verfasser der Confessiones. Seine Konversion versteht
sich nicht von selbst. Signifikanterweise wird Augustinus im Mailänder Garten keine
Erleuchtung zuteil. Gott offenbart sich ihm nicht unmittelbar in Form einer visio;
er gibt ihm seinen Willen vielmehr auf indirektem Wege kund. Gott verwendet
menschliche Zeichen, die entziffert werden müssen - die Kinderstimme, die vom
Nachbarhaus her erklingt; die Passage aus den Römerbriefen, die Augustinus zufällig
aufschlägt. Ehe der Autobiograph von der Konversion als Deutungsschema Gebrauch
machen kann, um seinem Leben einen Sinn zu geben, muß er sicher stellen, daß das,
was im Mailänder Garten geschieht, überhaupt eine Konversion darstellt. Dies aber
kann er nur vermöge einer Deutung der Geschehnisse leisten, welche per definitio-
nem keine absolute Sicherheit zu gewähren vermag. Augustinus muß das, was ihm
widerfährt, zunächst einmal als Bekehrungsereignis lesen. Er interpretiert das tolle, lege
als göttliche Weisung, aber diese Interpretation ist, wie er selbst zugesteht, nur eine
von mehreren Deutungsoptionen. 28 Augustinus entnimmt den Zeichen, die er im
Mailänder Garten empfängt, eine - wie er sagt - eindeutige göttliche Botschaft, doch

26
Ebd. S. 238f.
27
Vgl. Kapitel VIII.2 dieser Untersuchung.
28
Es besteht zum Beispiel die Möglichkeit, diese Worte als Teil eines Kinderspiels oder Kinderlieds
zu interpretieren. Vgl. Confessiones VIII. 12.29.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 429

o b es sich dabei wirklich u m eine göttliche Botschaft handelt, läßt sich gerade nicht
mit unmißverständlicher Sicherheit feststellen. Seine Interpretation der Mailänder
Geschehnisse führt auf keine Gewißheit. W i e jede Zeichendeutung begründet sie nur
ein vorläufiges, tentatives Wissen. D e n n o c h macht Augustinus dieses vorläufige W i s -
sen zur Grundlage seiner retrospektiven Selbstdeutung, die also ebenfalls unter einem
Vorbehalt steht und der letzten Sicherheit entbehrt. Zugleich dient die retrospektive
Selbstinterpretation dazu, seine D e u t u n g des Konversionsgeschehens zu erhärten — er
sucht in seiner Vergangenheit nach Zeichen, die seine Lesart des Gartenerlebnisses
bestätigen, nach Vorkommnissen, die auf die Bekehrung vorausweisen. Augustinus
konstruiert eine Vorgeschichte der Konversion. Er bemüht sich, im alten Leben des
noch nicht Konvertierten einen Vorschein des Neuen aufzuzeigen. D e r Autobiograph
will seine Deutung der Mailänder Geschehnisse plausibel machen, indem er sie als
Zielpunkt eines heilsgeschichtlichen Prozesses markiert, als Resultat einer providen-
tiellen Führung, die ihn während seines ganzen Lebens begleitet hat.
Tatsächlich wird das Mailänder Geschehen in den Confessiones durch eine Vielzahl
konversionsähnlicher Ereignisse präfiguriert. 2 ' Sie stellen einzelne Bekehrungsschrit-
te auf dem W e g zur vollständigen Umwandlung des Sünders dar. D i e Konversion
hat aus dieser Perspektive nicht mehr das Ansehen eines einmaligen, punktuellen
Ereignisses, das zu einer radikalen Transformation des Subjekts fuhrt und sein Leben
zweiteilt, sie erscheint vielmehr als ein sukzessiver Veränderungsvorgang, der die
Existenz des Individuums von Anfang an bestimmt. 3 0 D i e klare Abgrenzung zwi-
schen dem alten und dem neuen Selbst, zwischen sinner und saint erweist sich somit
als problematisch - das neue Selbst ist im alten i m m e r schon wirksam, das alte lebt
im neuen a u f bedrohliche Weise fort. Augustins Vorgehensweise ist paradox, aber
gerade in ihrer Paradoxie signifikant für die komplexe Darstellungsproblematik der
Autobiographie: In dem B e m ü h e n , seine D e u t u n g der Mailänder Ereignisse abzusi-
chern und sie als Konversion erkennbar zu machen, konstruiert er eine G e s c h i c h t e ,
welche die sinnstiftende Zäsur zwischen Vorher und Nachher aufweicht u n d somit
die neue Identität, die durch die Bekehrung gewonnen werden soll, unterminiert.
Was durch die typologisierende Streckung der Bekehrung a u f der einen Seite an
Deutungssicherheit gewonnen wird, geht a u f der anderen Seite wieder verloren, weil
die klare Unterscheidung zwischen alt und neu, auf der das hermeneutische S c h e m a
der Konversion beruht, nicht m e h r möglich ist.

29 Im einzelnen wären zu nennen: Die Konversion des Rhetorikers Augustin zur Philosophie,
die durch die Lektüre des ciceronianischen Hortensius ausgelöst wird; seine Konversion zum
Manichäismus; seine Konversion zum christlichen Neoplatonismus, die unter dem Einfluß
des Bischofs Ambrosius und der Platonicorum libri erfolgt.
30 Maggie Kilgour spricht in diesem Sinne von der »nebulousness of Augustine's protracted
conversion. It is hard to locate a single moment where a radical break occurrs.« (M. Kilgour:
From Communion to Cannibalism: An Anatomy of Metaphors of Incorporation. Princeton
1990. S. 59f.).
430 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Augustinus versucht, sein vergangenes Leben vom Schlüsselereignis der Kon-


version her zu verstehen, aber er bemüht sich zugleich auch darum, die Mailänder
Ereignisse aus seiner Lebensgeschichte abzuleiten und dadurch als Bekehrung lesbar
zu machen. Er ist in einem Zirkel gefangen: Das Ereignis, das ihm die Bedeutung
seines Lebens aufzuschließen vermag, bedarf seinerseits der Entschlüsselung. Die
Konversion soll ihn dazu befähigen, sein eigenes Leben wie einen Text zu lesen und
auf seine Bedeutung hin zu übersteigen, doch die Konversion ist selbst ein Teil des
Textes, den es zu lesen gilt, setzt also auf selten des Autobiographen die Fähigkeit
voraus, die sie ihm allererst verleihen soll. Eben darin besteht aber die Pointe der
augustinischen Bekehrungsgeschichte: Die Konversion wird durch die Lektüre von
Texten ausgelöst. 31 Es gibt für den Autobiographen daher kein Jenseits von Schrift
und Lektüre; er bleibt in den Text seines Lebens verstrickt, aus dem ihn die Bekeh-
rung doch eigentlich befreien sollte. Augustinus vermag nicht in die Sphäre reiner
Bedeutung und zeichenloser Schau vorzustoßen. Er kann sich immer nur im Bereich
einer vorläufigen Erkenntnis bewegen, die weiterer Lektüre bedarf. Der Standpunkt
göttlicher Allwissenheit bleibt ihm verschlossen. Entgegen der von Freccero, Robbins
und Lüdemann vertretenen Auffassung erfüllt das Deutungsschema der Konversion
bei Augustinus somit nicht die Funktion, das autobiographische Subjekt ganz auf
die Seite des anderen überwechseln zu lassen. Der Autobiograph ist als Hermeneut
seiner selbst eben nicht autark. Die Vorstellung einer solchen Autarkie schmeichelt
nach augustinischer Ansicht dem menschlichen Hochmut; sie ist eine Versuchung,
der es zu widerstehen gilt. Er beharrt deshalb darauf, daß das Subjekt auch nach der
Konversion auf den hermeneutischen Beistand anderer angewiesen ist. Das Deu-
tungsschema der Bekehrung macht die karitative Hermeneutik der Selbstentäuße-
rung keineswegs überflüssig. Da die Bekehrung nur zu vorläufigen Einsichten fuhrt,
hat der Autobiograph vielmehr allen Grund dazu, sein unvollständiges Selbstwissen
offen zu legen, um es durch brüderliches (Mit-)Teilen zu vervollständigen. Die Kon-
version findet ihre Vollendung erst in der Mit-Teilung, im Bekenntnis.

Die karitative Hermeneutik der Mit-Teilung bestimmt nicht nur die äußere Form
der augustinischen Autobiographie, ihren Bekenntnischarakter. Darüber hinaus
ist sie, wie die folgende Analyse der Confessiones zeigen soll, ein strukturbildendes
Element der autobiographischen narratio. Augustinus deutet seine Lebensgeschichte
als eine providentielle Anleitung zum richtigen Lesen, die sich dem Protagonisten
zu lesen gibt, die also nie den Bereich der deutungsbedürftigen Zeichen verläßt. Das
richtige Lesen - diese >Lektion< erteilt der göttliche Lehrer dem Autobiographen - ist
untrennbar mit der liebevollen Hinwendung zum anderen verbunden.

31 Und zwar nicht nur in der Mailänder Garten-Szene (Lektüre der Paulusbriefe), sondern schon
vorher (Hortensius-btktüTt, Lektüre der Platonicorum lihri), aber auch nachher (Psalmen-
Lektüre in Cassiciacum).
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 431

2. Schwierigkeiten mit dem Anfang

Augustins Confessiones gelten in der Autobiographieforschung als Prototyp der


Konversionsgeschichte und somit auch als Musterfall einer totalisierenden Selbst-
darstellung. Das Konversionserlebnis erscheint als Garant für Einheit und Ganzheit
- für die Geschlossenheit der Lebensgeschichte, die es zu erzählen ermöglicht; für
die Identität des Subjekts, dessen Konstitution in dieser Geschichte beschrieben
wird. Der Konvertierte befindet sich demnach ganz auf der sicheren Seite. Gott
hat ihn durch sein Gnadenwirken gerechtfertigt, so daß er von der Furcht vor
Strafe befreit ist. Er steht folglich in einer vertrauten Nähe zu seinem Schöpfer
und kann mit ihm in ein »gelöstes Gespräch« eintreten.32 Der Konvertierte leidet
nicht unter Glaubenszweifeln, da er im Besitz einer Heilsgewißheit ist, die ihm
Gott selbst unmittelbar hat zuteil werden lassen. Dieses Heilswissen erlaubt es ihm,
ein objektives, gerechtes Urteil über seine vergangenen Taten abzugeben und sein
Leben einer gültigen Deutung zu unterziehen.33 Die Sicherheit, die der Bekehrte
genießt, zeichnet ihn auch als Erzähler seiner Geschichte aus. Die Konversion
verschafft ihm einen »olympischen Erzählstandpunkt«, von dem aus er souverän
über den Stoff seines Lebens verfügen kann.34 Er vermag das Ganze seines Lebens
zu überblicken. Da er den Tod sozusagen bereits hinter sich hat, sind Anfang und
Ende gleichermaßen in seiner Gewalt. Der Konvertierte, der sich daran begibt, sein
Leben zu schildern, hat demzufolge keine schwerwiegenden Darstellungsprobleme
zu gewärtigen. Für ihn gilt in besonderem Maße, was laut Wilhelm Dilthey auf
jeden Autobiographen zutrifft: Die »nächsten Aufgaben für die Auffassung und
Darstellung des geschichtlichen Zusammenhangs [sind] hier schon durch das
Leben selber halb gelöst.«35
Es genügt, die ersten Sätze der Confessiones ein wenig genauer zu lesen, um
dieses Idealbild der Konversion und die daraus abgeleiteten narratologischen Kon-
sequenzen als haltlos zu erweisen. Denn der Autobiograph, der am Eingang des
Bekenntniswerks in Erscheinung tritt, ist sich seiner Sache keineswegs sicher. Der
erste Eindruck, den der Erzähler der Confessiones seinen Lesern vermittelt, ist nicht
der eines abgeklärten Souveräns, der seinen Stoff vollkommen beherrscht, sondern
der eines Suchenden, der nicht weiß, wie er sein Projekt überhaupt angehen soll.
Wenn sich die Autobiographie, wie in der Forschung immer wieder betont wird,
dadurch auszeichnet, daß in ihr vom vorausgesetzten Lebensende her erzählt wird,
und wenn diese Endlastigkeit sich dahingehend auswirkt, daß der Erzähler das am

32 R. Herzog: Non in sua voce. S. 213f.


" J. Freccero: Autobiography and Narrative. S. 20; J. Robbins: Prodigal Son / Elder Brother.
S. 24f.; S. Lüdemann: Mythos und Selbstdarstellung. S. 36.
34 S. Lüdemann: Mythos und Selbstdarstellung. S. 39.
35 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt

a. M. 1981. S. 246.
432 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Ende gewonnene Wissen auf die Anfänge zurückprojiziert, 36 dann verweist der
problematische Beginn der Confessiones auf einen ebenso problematischen Schluß
- auf eine Konversion, die durch Vorläufigkeit und Offenheit charakterisiert ist.
Und umgekehrt: Wenn die Bekehrung, die das Ende des Lebens und den Anfang des
Erzählens markiert, dem Subjekt keine Sicherheit zu verschaffen vermag, dann ist es
nur folgerichtig, daß auch der Eingang des Textes im Zeichen der Verunsicherung
steht. Tatsächlich hat der Erzähler der Confessiones große Probleme damit, den ge-
eigneten Anfang zu finden. Es fällt ihm schwer, seine Bekenntnisrede zu begründen;
er ist sich nicht im klaren darüber, auf welche Basis er seinen Diskurs stellen soll.
Augustinus verfugt - trotz der Konversion - über keinen festen Standpunkt. Er muß
sich einen solchen vielmehr allererst erschreiben.

Der unsichere G r u n d der Bekenntnisrede: Das P r o o e m i u m zu Buch I

»Magnus es, domine, et laudabilis valde« - das Proömium zum ersten Buch der
Bekenntnisse setzt mit einem Lobpreis Gottes ein.37 Ein solcher Beginn bietet sich
an, ja, er drängt sich geradezu auf. Denn was kann für den Bekehrten, der durch die
Gnade Gottes ein neues Leben empfangen hat, näher liegen als das Bedürfnis, dem
Spender dieser Gnade Dank und Ehre zu erweisen? Das Gotteslob stellt sozusagen
den natürlichen Eingang zur Bekenntniserzählung dar. Doch kaum hat Augustinus
damit begonnen, seinen Schöpfer für sein Gnadenwerk zu preisen, da bricht er
seine Lobrede auch schon wieder ab. Plötzlich kommt ihm der Verdacht, daß seine
Rede der Grundlage entbehrt. Er hat Zweifel, ob sie die Bedingungen erfüllt, die an
einen Lobpreis zu stellen sind. Muß dem Lob nicht vielleicht doch noch etwas an-
deres vorausgehen? Der Anfang des Bekenntnisdiskurses wirkt auf einmal gar nicht
mehr so selbstverständlich, wie er sich zunächst ausnahm. Das Gotteslob erscheint
fragwürdig; die confessio Liudis wird, wie Reinhart Herzogzutreffend bemerkt, 38 von
einer quaestio durchkreuzt:
Da mihi, domine, scire et intellegere, utrum sit prius invocare te an laudare te et scire te prius
sit an invocare te. Sed quis te invocat nesciens te? Aliud enim pro alio potest invocare nesciens.

36
Zur Endlastigkeit autobiographischen Erzahlens und der dadurch bedingten perspektivischen
Verzerrung vgl. G. Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie. S. 137-139;
R. Pascal: Die Autobiographie. S. 24f.; K.-D. Müller: Autobiographie und Roman. S. 55f;
U. Link-Heer: Prousts A la recherde du temps perdu und die Form der Autobiographie.
S. 49-51.
37
Confessiones 1.1.1. - Bei der Ubersetzung der Zitate ins Deutsche habe ich mich an der
folgenden Ausgabe orientiert: Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Mit einer Einleitung von
Kurt Flasch, übersetzt, mit Anmerkungen versehen und hg. von Kurt Flasch und Burkhard
Mojsisch. Stuttgart 1989. Zum Vergleich herangezogen wurde die folgende Ausgabe: Augus-
tinus: Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph
Bernhart, mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück. München 4 1980. Gelegentliche
Abweichungen von diesen Vorlagen werden als solche kenntlich gemacht.
38
R. Herzog: Non in sua voce. S. 216.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 433

An potius invocaris, ut sciaris? Quomodo autem invocabunt, in quem non crediderunt? Aut
quomodo credunt sine praedicante?39

Augustinus skizziert ein Bedingungsgefüge. Dem Lob muß die Anrufung vorausge-
hen; die Anrufung setzt ihrerseits voraus, daß der Bekennende zur Erkenntnis Gottes
gelangt ist. An dieser Stelle gerät Augustinus ins Stocken: Ist es notwendig, Gott zu
wissen, um ihn anrufen zu können, oder ruft man ihn an, um Erkenntnis von ihm
zu gewinnen? Diese Frage ist von entscheidender Bedeutung, denn Augustinus selbst
besitzt, wie er eingesteht, noch kein echtes Wissen von Gott; er hat lediglich eine
Vorstufe dieses Wissens erreicht, den Glauben. Wissen von Gott gewinnt man durch
die innere Schau; der Glaube hingegen wird durch die Verkündigung bewirkt, durch
das äußere Wort der Heiligen Schrift.40 Augustinus kann sich bei seiner Anrufung
nur auf den Glauben und die Verkündigung stützen. Für ihn ist die Anrufung ein
Mittel, um Gott zu suchen, um sich der noch ausstehenden Gotteserkenntnis anzu-
nähern: »Quaeram te, domine, invocans te et invocem te credens in te: praedicatus
enim es nobis.«41
Bei dem Versuch, seinen Bekenntnisdiskurs durch einen Lobpreis zu eröffnen,
muß Augustinus feststellen, daß ihm etwas Wichtiges fehlt: das innere Wissen von
Gott. Ihm fehlt somit die feste Basis, auf die er seine Rede gründen kann. Er spricht
zwar als Bekehrter, aber die Konversion hat ihm dieses Wissen offenbar nicht ver-
mitteln können. Er sieht sich daher genötigt, der Lobrede eine andere Redeform vor-
auszuschicken - die invocatio. Die Anrufung soll ihm dabei helfen, sich das fehlende
Wissen anzueignen. Während die praedicatio des Schriftwortes, die den Glauben
begründet, ein äußerliches, sinnliches Hören erfordert, kann das besagte Wissen
nur durch die inneren Ohren des Herzens (»aures cordis«) vernommen werden.42
Die invocatio soll Gott zu diesem inneren, unmittelbaren Sprechen veranlassen.
Das Anrufen ist, wie Augustinus mit Hilfe eines Wortspiels erläutert, ein In-mich-
Hineinrufen (in-vocatio). Der Mensch, der sich der invocatio bedient, versucht Gott
in seine Seele hineinzurufen, damit er ihn dort hören oder schauen kann: »in me
ipsum eum vocabo, cum invocabo eum«.43 Nach dem Fehlstart der confessio laudis
unternimmt Augustinus also einen zweiten Anlauf, um seinen Bekenntnisdiskurs

35 Confessiones 1.1.1. (»Gib mir, Herr, daß ich weiß und einsehe, was das erste ist - dich anrufen
oder dich loben, dich wissen oder dich anrufen. Aber wer kann dich anrufen, wenn er dich
nicht kennt? Wer dich nicht kennt, kann dich beim Anrufen mit etwas anderem verwechseln.
Oder ruft man dich nicht doch an, um dich zu erkennen? Aber wird jemand den anrufen,
an den er nicht glaubt? Oder wie kann jemand glauben, ohne daß jemand dich verkündigt?«
[Übersetzung modifiziert]).
40 Zu Augustins Konzeption des Glaubens als einer Vorstufe des Wissens und zur Schrift als
Quelle des Glaubens vgl. U. Duchrow: Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin.
S. 75-77; G. Strauss: Schriftgebrauch, Schriftauslegung und Schriftbeweis bei Augustin.
S. 31f.,S.42f.
41 Confessiones 1.1.1.
42 Ebd. 1.5.5.
43 Ebd. 1.2.2.
434 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

in Gang zu bringen: Er will den Lobpreis durch die Anrufung ersetzen und seinem
Sprechen auf diese Weise eine innere Grundlage verschaffen. Doch auch dieses Vor-
haben mißglückt. In dem Bestreben, seine invocatio zu artikulieren, wird Augustinus
von neuen Zweifeln heimgesucht. Er fragt sich, wie es denn überhaupt möglich sein
soll, daß Gott, der alles umfaßt, in der begrenzten Seele eines Menschen Platz findet.
Wie kann Gott die menschliche Seele erfüllen, da doch alles in ihm ist?44 Augustinus
umkreist dieses Problem mit immer neuen aporetischen Formulierungen, die zu
immer neuen Fragen hinsichtlich des unergründlichen göttlichen Wesens Anlaß ge-
ben. Die invocatio, die zu sicheren, inneren Erkenntnissen hinführen soll, entbindet
statt dessen eine ganze Flut von Zweifeln, die den Anrufenden mit sich reißen und
zum Selbstzweck werden, so daß er sein eigentliches Ziel zeitweilig aus den Augen
verliert. Augustinus delektiert sich an der Kette von Paradoxien, die ihn jedoch auf
dem Weg zur inneren Gotteserkenntnis keinen Schritt voranbringt. Schließlich hält
er abrupt inne, um den Sinn und Zweck seiner invocatio in Frage zu stellen: »Et quid
diximus, deus meus, vita mea, dulcedo mea sancta, aut quid dicit aliquis, cum de
te dicit?« 45 Die Anrufung hat ihren Zweck nicht erfüllt. Sie hat kein inneres Wissen
von Gott begründen können. Sie hat eine ohnmächtige, unsichere, haltlos in sich
kreisende Rede hervorgebracht, die nichts über Gott, sondern nur etwas über das
Nicht-Wissen des Redenden aussagt. Augustinus muß mithin auch den zweiten
Versuch, eine Basis für seine Lebensbeichte zu schaffen, ergebnislos abbrechen. Die
invocatio erweist sich als ungeeignet, den Bekenntnisdiskurs zu initiieren.
Nach diesem erneuten Fehlschlag scheint sich Augustinus in einer ausweglo-
sen Situation zu befinden. Das Projekt der Lebensbeichte steht in der Gefahr zu
scheitern, noch ehe es überhaupt in Gang gekommen ist - und das, obwohl das
Bekenntnissubjekt Bekehrung und Taufe bereits hinter sich hat. Doch entgegen der
in der Autobiographieforschung vorherrschenden Meinung ist die Konversion für
die Bekenntniserzählung eben nicht konstitutiv. Der Bekehrte ist nicht automatisch
auch Herr über die Rede, die es ihm erlaubt, das von Gott an ihm vollbrachte Gna-
denwerk zur Darstellung zu bringen. Zwei vergebliche Versuche haben Augustinus
davon überzeugt, daß sich der Anfang der Bekenntnisrede seiner Verfügungsgewalt
entzieht. Aus eigener Kraft ist er nicht dazu fähig, das, was ihm durch Gott wider-
fahren ist, zu verbalisieren. In einer verzweifelten Geste wendet er sich daher direkt
an seinen Schöpfer, damit dieser ihm aus Erbarmen zuteil werden läßt, was der
Bekehrte aus sich selbst heraus nicht zu leisten vermag: »Quid mihi es? Miserere, ut
loquar.« 46 Augustinus ist ganz auf die Gnadenhilfe Gottes angewiesen - nicht nur,
um sein altes, sündhaftes Selbst abzulegen, sondern auch, um dieses Erlösungswerk

« Ebd.
45 Ebd. 1.4.4. (»Aber was habe ich jetzt gesagt, mein Gott, mein Leben, meine heilige Wonne?
U n d was kann überhaupt ein Mensch von dir sagen, w e n n er von dir spricht?«).
46 Ebd. 1.5.5.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 435

in Worte zu fassen. Er hat keine Sprache, um zum Ausdruck zu bringen, was Gott
ihm bedeutet. Deshalb fordert er Gott dazu auf, ihm das, was er sagen will, aber
nicht sagen kann, vorzusprechen. Augustinus wünscht, daß Gott ihm sein Bekennt-
nis diktiert; die Bekenntnisrede soll, ja, sie kann nur von Gott selbst ihren Ausgang
nehmen: »Ei mihi! Die mihi per miserationes tuas, domine deus meus, quid sis mihi.
Die animae meae: Salus tua ego sum.«47
Diese Bitte markiert den Wendepunkt des Proömiums, den paradoxen, in sei-
ner Paradoxic aber höchst signifikanten Beginn der Bekenntnisrede. Denn indem
Augustinus seine Bitte äußert, wird sie ihm gewährt. Die Bitte ist zugleich auch
die Erfüllung des Wunsches, den sie artikuliert. Augustinus sehnt ein Gotteswort
herbei, das ihn aus seiner Sprachlosigkeit befreit. Der Satz, den er von Gott zu hö-
ren begehrt, damit er ihn im Bekenntnis nachsprechen kann (»salus tua ego sum«
— »ich bin dein Heil«), wird von Gott tatsächlich gesprochen. Denn dieser Satz steht
- mit identischem Wortlaut - in der Bibel; er ist Teil der göttlichen Offenbarung,
Gotteswort. 4 " Ohne sich dessen bewußt zu sein, hat Augustinus die Sprache, die
er sucht, und somit auch den Anfang seiner Bekenntnisrede bereits gefunden. Um
die schmerzhafte Sprachlosigkeit zu artikulieren, mit der sich der Bekennende kon-
frontiert sieht, macht er sich die fremde Rede des Psalmisten zu eigen.49 Die Bibel
hält also eine Sprache bereit, deren sich das Bekenntnissubjekt bedienen kann, um
sein Inneres auszudrücken; in der Bibel findet es zugleich auch das Heilsverspechen,
das es zu hören wünscht. Dieses Versprechen wird folglich nicht, wie Augustinus
zunächst gehofft hatte, unmittelbar durch das innere Ohr des Herzens vernommen.
Als biblisches Gotteswort kann das Heilsversprechen kein inneres Wissen begrün-
den; vielmehr muß es im Glauben ergriffen werden. Augustinus sieht nun ein, daß
es sich dabei nicht um eine Herzensstimme handelt, die sich direkt in Verstehen
umsetzt, sondern um eine äußere Stimme, der er >nachlaufen< muß: »Curram post
vocem hanc et apprehendam te.«50 >Nachlaufen< heißt hier: lesen, interpretieren, sich
das Verstandene applizieren. Das Bekenntnis ist an die Lektüre der Schrift gekoppelt.
Das Bekenntnissubjekt kann nur dadurch in seinem Herzen lesen, daß es zugleich

47 Ebd. (»Ach, sage mir in deiner ganzen Barmherzigkeit, mein Gott, wer du für mich bist! Sage
meiner Seele: >Ich bin deine Errettung!««).
48 Ps. 34.3 (bzw. 35.3).
49 Psalmenzitate durchziehen das ganze Proömium; sie sind, worauf R. Herzog hinweist, »kunst-
voll im Cento arrangiert« (Non in sua voce. S. 217). - Der Psalter hilft Augustinus aber nicht
nur aus der Verlegenheit, einen Anfang für seine Lebensbeichte zu finden; er ist darüber hinaus
für die Bekenntnisrede im ganzen konstitutiv. Zahllose Psalmenzitate bilden ein Geflecht, das
die Confessiones von Anfang bis Ende zusammenhält. Das Bekenntnissubjekt spricht gewis-
sermaßen mit der geliehenen Stimme des Psalmisten. Bezeichnenderweise sind die Psalmen
die erste biblische Schrift, die Augustinus nach seiner Konversion studiert (vgl. Confessiones
I X . 4 . 8 - I X . 4 . 1 1 ) . - Zur bedeutenden Rolle der Psalmenzitate in Augustins Confessiones vgl.
die verdienstvolle Studie von G. N. Knauer: Die Psalmenzitate in Augustins Konfessionen.
Göttingen 1955.
50 Confessiones 1.5.5.
436 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

auch in der Bibel liest. Die Hermeneutik des Selbst ist von der Hermeneutik der
Schrift nicht zu trennen.
Im Proömium zum ersten Buch der Confessiones inszeniert Augustinus die Suche
nach einer Sprache, die es ihm erlaubt, sein Bekenntnis abzulegen. Das Bekenntnis
beginnt mit dem Eingeständnis des Nicht-sagen-Könnens, mit dem Scheitern der
Bekenntnisrede. In dieser Situation der Sprachlosigkeit bittet Augustinus Gott um
Hilfe. Tatsächlich springt Gott in die Bresche, nicht jedoch, wie vom Bekenntnis-
subjekt erwünscht, mit einem unmittelbar zum Herzen gesprochenen inneren Wort,
sondern mit einem äußerlichen Schriftwort, das der Hörer interpretieren und auf
sich selbst applizieren muß. Das Bekenntnissubjekt ist kein Erleuchteter, der auf der
Basis eines unumstößlichen inneren Wissens spricht, sondern ein Glaubender, der
sich seiner selbst immer wieder neu durch die Lektüre der Schrift zu vergewissern
hat. Augustinus muß dem Gotteswort, das sein Bekenntnis stützt, >nachlaufen<,
das heißt: Seine Rede entfaltet sich im Vorgriff auf jene absolute Heilsgewißheit,
die ihm die Konversion gerade nicht vermittelt hat und die ihm nur in der unvoll-
kommenen Gestalt der biblischen Verheißungen zuteil wird. Augustinus begründet
seinen Bekenntnisdiskurs in der Vorläufigkeit des Glaubens, der aus der Schrift-
lektüre hervorgeht: »Credo, propter quod et loquor.«51 Der eigentliche Anfang der
Confessiones besteht in diesem Glaubensbekenntnis, in dieser confessio fidei. Der
Standpunkt, von dem aus das Bekenntnissubjekt spricht, ist nicht der olympische
Standpunkt des Wissenden, sondern der begrenzte, als fehlbar markierte Standpunkt
des Glaubenden.
»Credo, propter quod et loquor«: Bezeichnenderweise handelt es sich auch bei
diesem kurzen Glaubensbekenntnis um ein Bibelzitat, ein Zitat aus den Psalmen.52
Augustinus muß sich die Worte der Schrift leihen, um einen Anfang für seine Be-
kenntnisrede setzen zu können. Gott schenkt ihm diesen Anfang, indem er ihm die
Worte zur Verfügung stellt, die es ihm ermöglichen, seinen Glauben zu artikulieren
— indem er ihm in Gestalt des Psalmisten ein Muster präsentiert, an dem er sich
orientieren kann. 53 Augustins Bekenntnisrede ist somit von Beginn an die Rede
eines anderen — eine fremde Rede, deren Appropriation für ihn jedoch die einzige
Möglichkeit darstellt, sein Eigenes und Inneres auszudrücken.
Dieser Anfang im Zitat ist freilich nicht unproblematisch — insbesondere, was
das Verhältnis des Bekennenden zum menschlichen Leser der Confessiones anbetrifft.

51
Ebd. 1.5.6.
52
Ps. 115.10: »Credidi propter quod locutus sum, ego autem humiliatus sum nimis«.
53
Die Psalmen gelten in der Patristik als ein Modell der persönlichen Bekenntnisrede, in der jeder
christliche Leser sein inneres Selbst unmittelbar widergespiegelt finden kann. Vgl. Athanasius
Alexandrinus: Brief an Marcellin (zit. nach Bertrand de Margerie: Introduction ä l'histoire de
l'exegese. Bd. 1: Les peres grecs et orientaux. Paris 1980. S. 156): »Les Psaulmes, chose etrange!
[...] sont au lecteur comme un discours personnel, chacun les chante comme ecrits pour lui et
ne les prend et ne les parcourt pas comme dits par un autre ou ecrits sur un autre«.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 437

Wenn Augustinus auf die Worte eines anderen zurückgreifen muß, um etwas derart
Persönliches wie seinen Glauben kund zu geben, dann setzt er sich dem Verdacht aus,
daß er eine Glaubensstärke vortäuscht, die er gar nicht besitzt. Die Bekenntnisrede,
die lediglich das Bekenntnis eines anderen zitiert, wirkt unglaubwürdig und unauf-
richtig. Doch der Zweck des Proömiums zum ersten Buch besteht ja gerade darin,
dieses naive Vorurteil auszuräumen. Durch das zweimalige Scheitern seines Versuchs,
seine Bekenntnisrede unmittelbar aus Eigenem heraus zu begründen, fuhrt Augusti-
nus dem Leser die irreduzible Notwendigkeit vor Augen, sich der Rede eines anderen
zu bedienen. Wer ein aufrichtiges Bekenntnis ablegen will, ist auf fremden, göttlichen
wie auch menschlichen Beistand angewiesen, der ihm in Form von Mustern und
Vorbildern gewährt wird. Natürlich ist es immer möglich, ein solches Bekenntnis
als bloßes Zitat abzutun. Es gibt keine Gewähr dafür, daß das Bekenntnissubjekt die
Wahrheit spricht. Wie der Bekennende selbst, dem die unmittelbare, innere Gewiß-
heit fehlt und der daher aus dem Glauben heraus sprechen muß, ist auch der Leser der
confessio auf den Glauben verwiesen. Es gibt fur den Bekennenden keine Möglichkeit,
dem Leser die Wahrheit seiner Rede innerlich einsichtig zu machen; er kann nicht an-
ders, als mit geliehenen Worten sprechen. Der Leser wird daher niemals wissen, wie es
in der Seele des Bekennenden aussieht; er wird ihm immer nur glauben können, und
dazu bedarf es von seiner Seite aus einer inneren Bereitschaft, einer wohlwollenden
Voreinstellung - der Liebe. 54 Nicht nur für das Verhältnis des Bekennenden zu Gott,
sondern auch für sein Verhältnis zum Leser ist der Glaube mithin von entscheidender
Bedeutung. Augustinus siedelt sein Bekenntnis von Anfang an im Bereich des Glau-
bens an, einem Bereich, der durch die Mittelbarkeit, Vorläufigkeit und Deutungsbe-
dürftigkeit der durch ihn repräsentierten Inhalte gekennzeichnet ist.

Der fremde Beginn des eigenen Lebens: Darstellung der infantia


Die Schwierigkeiten, mit denen Augustinus bei dem Versuch konfrontiert wird,
einen Anfang fiir seine Lebensbeichte zu finden, setzen sich auch nach dem Proömi-
um fort. Im Proömium werden diese Schwierigkeiten auf einer theoretischen Ebene
erörtert. Sobald sich Augustinus jedoch daran begibt, seine Lebensgeschichte zu
erzählen, gewinnen sie ein ganz konkretes Ansehen. Das Problem, das sich dem Auto-

54 Augustinus verweist in den Confessiones immer wieder auf die Notwendigkeit, daß der Leser
ihm in Liebe entgegenkommen müsse, damit er das im Bekenntnis Gesagte glauben könne.
Besonders aufschlußreich ist in dieser Hinsicht das Proömium des zehnten Buches. Vgl. etwa
X.3.3: »Sed quia Caritas omnia credit, inter eos utique, quos conexos sibimet unum facit, ego
quoque, domine, etiam sie tibi confiteor, ut audiant homines, quibus demonstrare non possum,
an vera confitear; sed credunt mihi, quorum mihi aures Caritas aperit.« (»Aber weil die Liebe
alles glaubt, so will ich dir, Herr, wenigstens unter denen, die sie untereinander zur Einheit
verbindet, diese meine Bekenntnisse so ablegen, daß die Menschen mich hören können. Ich
kann ihnen nicht beweisen, daß ich Wahres bekenne; aber diejenigen werden mir glauben,
denen die Liebe die Ohren öffnet.«).
438 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

biographen nun stellt, lautet schlicht und einfach: Wann hat mein Leben begonnen?
Mit welchem Ereignis muß die Erzählung meines Lebens einsetzen? Im Proömium
bekundet der Autobiograph den Willen, sein Bekenntnis auf den Glauben zu grün-
den. Er will reden, obwohl er über kein festes Wissen verfugt. Der Anfang der narratio
bietet Augustinus die Gelegenheit, die Ernsthaftigkeit seiner Vorsätze unter Beweis
zu stellen. Denn gleich das erste Ereignis, von dem er zu berichten hat, entzieht sich
seinem Wissen. Augustinus muß gestehen, daß er dieses Ereignis nicht kennt:
Quid enim est quod volo dicere, domine, nisi quia nescio, unde venerim hue, in istam dico
vitam mortalem an mortem vitalem? Nescio. Et suseeperunt me consolationes miserationum
tuarum, sicut audivi a parentibus carnis meae, ex quo et in qua me formasti in tempore; non
enim ego memini. 55

Wie Augustinus im Proömium den >natürlichen< Anfang des Gotteslobs in Frage stellt,
so problematisiert er hier den >natürlichen< Anfang des Lebens - die Geburt. Er scheut
davor zurück, sein Leben mit der Geburt beginnen zu lassen. Es wäre unaufrichtig, ei-
nen solchen Anfang zu setzen, denn der Autobiograph weiß in Wirklichkeit nicht, wie
und wann er in dieses Leben eingetreten ist. Er weiß nur, daß bereits der Neugeborene
von der providentiellen Fürsorge Gottes umfangen war, daß Gott - vertreten durch
die Eltern und die Kindermädchen - dem hilflosen Menschenwesen von Beginn an
zur Seite stand. Aber auch dieses Wissen ist lediglich ein Wissen aus zweiter Hand:
Augustinus hat davon Kenntnis, weil seine Eltern es ihm erzählt haben. Er selbst kann
sich nicht daran erinnern, wie er sich ohnehin an nichts erinnern kann, was ihm wäh-
rend der ersten (?) Lebensphase der infantia widerfahren ist.56 Wenn aber nicht einmal
das markante Ereignis der Geburt durch die memoria bezeugt werden kann, ist es dann
nicht auch möglich, daß der Geburt noch andere Lebensphasen vorausgegangen sind,
von denen das Gedächtnis ebenso wenig bewahrt hat? Ist es dann überhaupt statthaft,
die Geburt als maßgebliche lebensgeschichtliche Zäsur anzusetzen? Darf man ihr das
Privileg des Lebensanfangs noch zuerkennen? Augustinus ist durchaus dazu bereit,
auch andere mögliche Lebensanfänge in Erwägung zu ziehen:
[D]ic mihi supplici tuo, deus, [...] utrum alicui iam aetati meae mortuae successerit infantia
mea. An illa est, quam egi intra viscera matris meae? Nam et de illa mihi nonnihil indicatum
est et praegnantes ipse vidi feminas. Quid ante hanc etiam, dulcedo mea, deus meus? Fuine
alieubi aut aliquis? Nam quis mihi dicat ista, non habeo; nec pater nec mater potuerunt nec
aliorum experimentum nec memoria mea. An inrides me ista quaerentem teque de hoc, quod
novi, laudari a me iubes et confiteri me tibi? 57

55 Confessiones 1.6.7. (»Denn was anderes will ich denn sagen, Herr, als daß ich nicht weiß, wie
ich hierhergekommen bin, ich meine: in dieses tödliche Leben, in diesen lebendigen Tod?
Ich weiß es nicht. Doch empfingen mich die Wohltaten deiner ganzen Barmherzigkeit, wie
mir die Eltern meines Fleisches erzählten, mein Vater, aus dem, und meine Mutter, in der du
mich gebildet hast zur festgesetzten Zeit; ich selbst erinnere mich ja nicht daran.«).
56 Vgl. ebd. 1.6.10: »Confiteor tibi, [...] laudem dicens tibi de primordiis et infantia mea, quae
non memini«.
57 Ebd. 1.6.9. (»Sage du mir, Gott, ich bitte dich inständig, [...] ob meiner Kindheit ein anderer,
bereits abgelaufener Lebensabschnitt vorausging. War es der, den ich im Leib meiner Mutter
zubrachte? Denn auch darüber wurde mir einiges erzählt, und schwangere Frauen habe ich
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 439

Augustinus desavouiert die Geburt als ein kontingentes lebensgeschichtliches Da-


tum. Die Geburt und die durch sie initiierte Lebensphase der infantia haben kein
größeres Anrecht auf den Titel des Lebensanfangs als der Zeugungsakt und die aus
ihm hervorgehende Lebensphase der intrauterinen Existenz. Für beide Lebensab-
schnitte gilt gleichermaßen, daß sie durch die Erinnerung des Autobiographen nicht
abgedeckt sind. In beiden Fällen sieht sich Augustinus auf die Zeugnisse anderer
verwiesen - sei es auf die Erzählungen seiner Eltern, sei es auf die Beobachtungen,
die er selbst an fremden Kleinkindern oder Schwangeren m a c h e n und d a n n per
analogiam auf seine eigene Person übertragen kann. Die Erzählung der Lebensge-
schichte mit der Geburt beginnen zu lassen, wäre also reine Willkür. Ein Anfang,
der derart willkürlich gesetzt wird, macht keinen Sinn. Doch eben darum geht es ja:
dem Leben einen Sinn abzutrotzen; die eigene Existenz vom signifikanten Ereignis
der Konversion her als sinnvoll geordneten Prozeß zu erweisen.
Versucht Augustinus zunächst, einen Anfang zu finden, der dem sinnstiftenden
Endpunkt der Konversion korrespondiert, der mithin genauso markant in Erschei-
nung tritt wie dieser, so läßt er doch schnell wieder von seinem Vorhaben ab. Als
Alternative zum kontingenten Ereignis der Geburt bietet sich die früheste Erin-
nerung des Autobiographen an: Die memoria soll über den Anfang der Erzählung
bestimmen. Augustinus fragt sich denn auch, ob es nicht sinnvoller wäre, nur das zu
bekennen, was er mit Sicherheit weiß, das heißt: woran er sich genau erinnern kann.
Der Autobiograph, der sich allein auf sein Gedächtnis stützt, macht sich von den
Zeugnissen anderer unabhängig und verläßt die Sphäre zweifelhafter Vermutungen
und Konjekturen. Die memoria verheißt die Möglichkeit, das Bekenntnis auf sicheres
Wissen zu gründen: W e n n das Bekenntnissubjekt schon keine innere Kenntnis von
Gott besitzt, so scheint es doch zumindest über unumstößliche Selbsterkenntnis zu
verfügen — über den Schatz seiner Erinnerungen. Auch die Autobiographieforschung
weist der Erinnerung ja einen privilegierten Status zu: Sie sieht in ihr das Instrument
par excellence der totalisierenden Selbstdarstellung. 58 Einmal mehr m u ß Augustinus
in diesem Zusammenhang als Kronzeuge für die Begründung einer Gattungstraditi-
on herhalten. »Für den Erzähler Augustin«, so behauptet etwa Susanne Lüdemann,
»wird [...] das Gedächtnis [..;] zu jenem ordnenden M e d i u m , mit dessen Hilfe er

selbst gesehen. Aber davor, meine Wonne, mein Gott, war ich da irgendwo und irgendwer?
Ich habe niemanden, der mir das sagen könnte. Das könnten weder Vater noch Mutter, weder
die Erfahrung mit anderen noch mein Gedächtnis. Oder lachst du mich aus, daß ich das von
dir wissen will, und befiehlst du mir, dich für das zu loben und in bezug auf das vor dir meine
Bekenntnisse abzulegen, was ich wissen kann?«).
58 Zur totalisierenden Funktion der Erinnerung in der Autobiographie vgl. W. Dilthey: Der
Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. S. 246—249; Georg Misch:
Geschichte der Autobiographie. Bd. 1.1. S. 14f.; R. Pascal: Die Autobiographie. S. 21, S. 36;
G. Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie. S. 130, S. 134; Bernd Neu-
mann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt a. Μ. 1970.
S. 60f.; K.-D. Müller: Autobiographie und Roman. S. 9-12, S. 71f.
440 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

im Rückblick auf die Vergangenheit die Kontingenz seines Daseins überwinden und
die Einheit [...] darin ausmachen kann.«59 Das Gedächtnis gibt demnach die Gren-
zen der Lebensgeschichte vor, und es trägt zugleich dafür Sorge, daß das, was sich
innerhalb dieser Grenzen abspielt, einen sinnvollen Zusammenhang markiert. 60 Um
den >natürlichen< Anfangspunkt für seine narratio zu finden, muß der Autobiograph,
wie es scheint, bloß seine memoria befragen.
Doch auch der vermeintlich >natürliche< Anfang, den ihm die Erinnerung diktiert,
wird von Augustinus in Frage gestellt. So groß die Bedeutung sein mag, die er der
memoria als konstitutives Moment seiner Lebensgeschichte zuerkennt, so sehr er auch
dazu neigt, seine Erzählung erst mit dem nächsten Lebensabschnitt - der pueritia, an
die er sich gut erinnern kann - beginnen zu lassen:61 Er scheut davor zurück, die Phase
der infantia ganz unter den Tisch fallen zu lassen. Dafür gibt es zwei wichtige Gründe.
Zum einen hat Augustinus nicht erst als puer, sondern schon als infam von Gott große
Wohltaten empfangen. Er würde seinem Schöpfer also einen Teil des ihm gebührenden
Lobes vorenthalten, wenn er dieses frühe Lebensalter mit Schweigen überginge.62
Z u m anderen — und auf diesen Punkt kommt es dem Bekennenden ganz
besonders an — ist davon auszugehen, daß bereits das Kleinkind sich versündigt
hat. 63 Diese Sünde muß zur Sprache gebracht werden. Augustinus beharrt dar-
auf, daß es so etwas wie kindliche Unschuld nicht geben kann. 64 Er vermag sich
zwar an die Sünden nicht zu erinnern, die er in diesem zarten Alter beging, doch
entnimmt er den Berichten seiner Eltern, wie verderbt er schon damals war. Vor
allem aber bieten ihm die Kleinkinder, denen er im Alltag begegnet, das sich stets
wiederholende Schauspiel der Gier, des Neids und der Bosheit. Aus seiner eigenen
Erfahrung weiß er das folgende zu berichten: »Vidi ego et expertus sum zelantem
parvulum: nondum loquebatur et intuebatur pallidus amaro aspectu conlactaneum
suum.« 65 Der Kleine, den Augustinus als Beispiel für infantile Sündhaftigkeit an-
führt, ist zwar nicht dazu in der Lage, sein korruptes Begehren in Worte zu fassen,

59
S. Lüdemann: Mythos und Selbstdarstellung. S. 38.
60
Vgl. W. Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. S. 246(.,
S. 248: »Er [sc. der Selbstbiograph] hat in der Erinnerung die Momente seines Lebens, die er
als bedeutsam erfuhr, herausgehoben und akzentuiert und die anderen in Vergessenheit geraten
lassen. [...] So sind die nächsten Aufgaben für die Auffassung und Darstellung geschichtlichen
Zusammenhangs hier schon durch das Leben selbst halb gelöst. Die Einheiten sind in den
Konzeptionen von Erlebnissen gebildet, in denen Gegenwärtiges und Vergangenes durch
eine gemeinsame Bedeutung zusammengehalten ist. [...] Indem wir zurückblicken in der
Erinnerung, erfassen wir den Zusammenhang der abgelaufenen Glieder des Lebensverlaufs
unter der Kategorie ihrer Bedeutung.«
61
Confessiones 1.8.13.
62
Vgl. ebd. 1.6.10.
63
Ebd. 1.7.11.
64
Vgl. ebd.: »Ita imbecillitas membrorum infantilium innocens est, non animus infantium.«
65
Ebd. (»Ich habe einen eifersüchtigen kleinen Jungen gesehen und genau beobachtet: Sprechen
konnte er noch nicht, aber bleich und mit bitterbösem Blick starrte er auf den Jungen, der
mit ihm gestillt wurde.«).
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 441

aber gewisse körperliche Signale (Gesichtsfarbe und Blick) ermöglichen es dem


Beobachter, die ihn beherrschenden Leidenschaften zu erraten. Augustinus schließt
von den Körperzeichen des kleinen Jungen auf seine sündhafte Disposition. Diese
Körperzeichen sind die einzigen Anhaltspunkte, die er hat. Denn die infantia ist das
Lebensalter, in dem das Kind noch nicht zu sprechen vermag.66 Augustinus weiß
aus den Erzählungen seiner Eltern, daß auch er in dieser Phase nur über wenige
und undeutliche Zeichen verfügte, um seine inneren Regungen kund zu tun. Er
mußte sich zu diesem Zweck mit unartikulierten Lauten und undifferenzierten
Bewegungen seiner Glieder behelfen. Diese Zeichen vermochten keine klare Vor-
stellung von den Gegenständen zu vermitteln, auf die sie verweisen sollten (»non
enim erant veresimilia«). Den Eltern fiel es dementsprechend schwer, sich ein Bild
vom Seelenzustand ihres Sprößlings zu machen: »nec ullo suo sensu valebant introire
in animam meam.«67 Die Schwierigkeiten der Eltern sind auch die Schwierigkeiten
des Bekenntnissubjekts: Der Autobiograph, der seine infantilen Sünden bekennen
will, steht zu seinem vergangenen Selbst in der gleichen Beziehung wie die Eltern
zu ihrem Säugling, wenn sie zu ergründen suchen, was die Schreie des Kleinen zu
bedeuten haben, oder wie Augustinus zu dem Jungen, dessen bleiche Gesichtsfarbe
ihm signifikant erscheint. Da der Bekennende sich nicht mehr erinnern kann, da er
also keinen direkten Zugang mehr zu seinem damaligen Seelenzustand besitzt, ist er
dazu genötigt, schwer verständliche Zeichen zu entzifFern. Das Kind, das er damals
war, ist ihm fremd geworden; seine Lesbarkeit steht in Frage.
Doch gerade diese erschwerte Lesbarkeit ist für den Zustand der Sünde überhaupt
charakteristisch. Das Dogma der Erbschuld, das den dunklen Hintergrund der augus-
tinischen Ausführungen zur infanüa bildet, besagt ja eben dies: Jeder Mensch trägt als
adamitische Erblast eine Schuld mit sich, über die er von sich aus nichts wissen kann;
er wird durch eine Sünde belastet, die begangen zu haben er sich nicht erinnert.68 Und
dennoch ist diese verborgene Sünde ein integraler Bestandteil seiner selbst, der sich
auf sein Wollen und Handeln auswirkt. Denn die Strafe, mit der Gott die Menschen
für die adamitische Ursünde geschlagen hat, besteht laut Augustinus genau darin, daß
ihnen ihr verderbliches Tun nicht bewußt wird.69 Die Ursünde wirkt in der Seele als
verborgene Kraft weiter. Sie macht sich indirekt dadurch bemerkbar, daß der Mensch
seinen Willen nicht mehr in der Gewalt hat. Der menschliche Wille hat eine opake

66 Der infans bezeichnet im Lateinischen ursprünglich einen puer, quifari nondum potest (The-
saurus linguae latinae. Bd. 7.1. Leipzig 1934. Sp. 1347); die infantia bezeichnet die imperitia
fandi (ebd. Sp. 1349).
67 Confessiones 1.6.8.
68 Die augustinische Erbsündenlehre, so erläutert Kurt Flasch, sieht »die Einheit des menschlichen

Bewußtseins als einen entbehrlichen Begleitumstand moralisch bewertbarer Handlungen« an


(K. Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken. S. 197).
" Vgl. Confessiones 1.18.27, II.2.2: Gott bestraft den Sünder dadurch für sein Vergehen, daß
er ihn mit Blindheit gegenüber seinen sündhaften Motiven schlägt.
442 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Tiefendimension gewonnen.70 Die Erbsünde legt ihren Schatten mithin auf jedes
Vergehen, dessen sich der Mensch schuldig macht - und zwar dadurch, daß sie ihn
dazu veranlaßt, sein korruptes Tun vor sich selbst zu verbergen.
Die Schuld, die der infam auf sich lädt, ist folglich repräsentativ für die mensch-
liche Sünde überhaupt. Die korrupte infantia spielt für die Lebensgeschichte des
Individuums eine ähnliche Rolle wie der adamitische Sündenfall für die Geschichte
der Menschheit. Deshalb ist das Fehlen der Erinnerung für das Bekenntnissubjekt kein
zureichender Grund dafür, die frühe Lebensphase aus seiner Erzählung auszublenden.
Im Gegenteil, gerade weil das korrupte Innenleben des Kleinkinds dem Autobiogra-
phen so fremd und verborgen erscheint, muß es zum Gegenstand seines Bekenntnisses
gemacht werden. Das ist ja genau das Kennzeichen der Sünde, daß sie sich derart
versteckt; darin besteht ja eben die Versuchung, derer sich Augustinus von Anfang an
erwehren muß: daß er etwas als nicht zu seinem Wesen gehörig verwirft, weil es das in-
tegrale, aber täuschende Bild stört, das er sich von sich selbst gemacht hat. Die infantia
ist wie die Erbsünde ein Fremdkörper im Selbst, das sich dieses trotz aller Widerstände
und Unsicherheiten zueignen muß. Die inneren Regungen des Kleinkinds liegen nicht
offen zutage. Um sie zu ermitteln, genügt es nicht, einen Blick auf die Inhalte der
memoria zu werfen. Die infantile Sünde verbirgt sich vielmehr hinter undeutlichen
Zeichen, in unscheinbaren Erzählungen, ja in Aussagen von derart unzuverlässigen
Zeugen, wie sie Frauen und Dienstboten nach antiker Auffassung darstellen.71 Sie
muß - wie jede Sünde - aus der Verborgenheit hervorgeholt werden.
Der zweifelhafte, unsichere Anfang der narratio, der sich der infantia des Au-
tobiographen zuwendet, markiert daher so etwas wie eine Urszene des Bekennens.
Bekennen muß man gerade das, was sich nicht unmittelbar in Wissen auflösen läßt,
was sich der Erinnerung nicht direkt darbietet. Nicht nur im Proömium, auch in
der narratio gründet Augustinus seine Bekenntnisrede somit auf die Vorläufigkeit des
Glaubens. Auch hier bewegt er sich in einem Bereich, der durch Deutungsbedürftig-
keit und Mittelbarkeit gekennzeichnet ist. Um seine ebenso rätselhafte wie korrupte
»infantia« bekennen zu können - »[h]anc ergo aetatem [...], quam me vixisse non
memini, de qua aliis credidi et quam me egisse ex aliis infantibus conieci« —,72 ist er
auf fremde und zweifelhafte Zeugnisse angewiesen, die der Entzifferung bedürfen.

70 Zu diesem Aspekt der augustinischen Theorie der Erbsünde vgl. die vorzüglichen Ausführungen
von Peter Brown: Die Keuschheit der Engel. S. 4 1 3 ^ 2 7 . — Augustinus selbst erörtert die
durch die Erbsünde bedingte Spaltung seines eigenen Willens ausführlich in: Confessiones
VIII.8.20-VIII. 11.27. Eine eingehende dogmatische Explikation seiner Erbsündenlehre bietet
er im 13. und 14. Buch von De civitate Dei.
71 Vgl. Confessiones 1.6.10: »dedisti ea homini ex aliis de se conicere et auctoritatibus etiam
muliercularum multa de se credere.«
72 Ebd. 1.7.12. (»[J]enes Lebensalter, das durchlebt zu haben ich mich nicht erinnere, in bezug auf
das ich den Aussagen anderer Glauben schenken mußte und das ich aus den Beobachtungen
an anderen Kleinkindern erschlossen habe«. [Ubersetzung modifiziert]).
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 443

Im Proömium initiiert Augustinus einen Bekenntnisdiskurs, der ohne unmit-


telbares Wissen von Gott auskommen muß. Für den Beginn der narratio ist ein
ähnlicher Mangel konstitutiv: Der Autobiograph hat kein unmittelbares Wissen von
sich selbst. Sein Inneres ist ihm nur auf dem Umweg über die Aussagen anderer und
durch die Vermittlung schwer verständlicher Zeichen zugänglich.

3. Mütterlicher Sprachunterricht: Paradigma für


das Wirken der Vorsehung (Buch I und II)

Ein alternativer Anfang: pueritia vs. infantia


Augustinus weiß also gute Gründe dafür anzugeben, daß er sich den Beginn seiner
Erzählung nicht durch die memoria vorgeben läßt, sondern auch die früheste Kindheit
in sein Bekenntnis einbezieht. Um so mehr muß es erstaunen, wenn der Autobiograph
im Anschluß an den Versuch, seine infantia zu rekonstruieren, die Absicht bekundet,
diese dunklen Anfänge aus seiner narratio auszugliedern. Augustinus weigert sich nun
plötzlich doch, die früheste Kindheit als Teil seines Lebens anzuerkennen:
Hanc ergo aetatem, domine, [...] pigec me adnumerare huic vitae meae, quam vivo in hoc
saeculo. Quantum enim attinet ad oblivionis meae tenebras, par illi est, quam vixi in matris
utero. Quod si et in iniquitate conceptus sum et in peccatis mater mea me in utero aluit, ubi,
oro te, deus meus, ubi, domine, ego, servus tuus, ubi aut quando innocens fui? Sed ecce omitto
illud tempus: et quid mihi iam cum eo est, cuius nulla vestigia recolo?73

Es scheint mithin so, als erliege Augustinus eben jener Versuchung, vor der er selbst
kurz zuvor noch gewarnt hat. Er verleugnet den fremden Ursprung seiner selbst, der
zugleich die verborgene Präsenz der Sünde indiziert. Zwar gibt er zu, daß bereits der
Säugling, ja sogar das ungeborene Kind der Sünde verfallen ist, aber er ist nicht dazu
bereit, diese Sünde als die seinige zu akzeptieren. Er bekennt sich nicht dazu; er geht
mit der Sünde des infam so um, als sei sie die eines anderen.
Augustinus handelt somit seinen eigenen besseren Einsichten zuwider. Er hat den
Bekenntnisdiskurs, den er zu begründen sucht, offenbar nicht ganz in seiner Gewalt.
Auch als Bekehrter ist er nicht davor gefeit, einen Rückfall in sündhafte Verblendung
zu erleiden. Dieser Rückfall scheint zudem der superbia zu entspringen. Denn da-
durch, daß der Autobiograph die infantia aus seiner Lebensbeschreibung ausstreicht,
entledigt er sich jenes Teils seiner selbst, der durch vollkommene Hilflosigkeit und

73
Ebd. (»Es widerstrebt mir, Herr, dieses Lebensalter [...] zu meinem irdischen Leben zu zählen.
Denn es liegt in der gleichen Finsternis des Vergessens wie mein Leben im Mutterschoß. Ich
wurde in Bosheit empfangen, und meine Mutter nährte mich in Sünden in ihrem Schoß. Wo
bitte, mein Gott, wo, Herr, war ich, dein Diener, wo oder wann war ich ohne Schuld? Doch
sieh, ich will diese Zeit übergehen. Was habe ich noch mit ihr zu schaffen, da ich gegenwärtig
von ihr keine Spur mehr in mir finde?« [Übersetzung modifiziert]).
444 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Der infans ist in jeder seiner Lebensäußerungen auf
fremde Hilfe angewiesen. Er ist kein eigenständiges, sondern ein relationales Wesen,
das sich noch nicht ganz vom Körper der Mutter abgelöst hat. Wie das ungeborene
Kind, mit dem es der Autobiograph assoziiert, ist der infans in gewisser Weise noch
ein Bestandteil der Mutter. Hinter dem Wunsch des Autobiographen, die Lebens-
phase der infanüa zu eliminieren, verbirgt sich mithin das hochmütige Verlangen des
Individuums nach einer autonomen Existenz. Der Autobiograph will das Skandalon
eines gänzlich heteronomen Daseins aus seiner Lebensgeschichte tilgen. Nachträglich
versucht er, sich aus der beschämenden Abhängigkeit von anderen zu befreien, die das
Lebensalter der infantia charakterisiert. Die Auslöschung der frühkindlichen Anfänge
gehorcht dem Verlangen, sich endgültig vom mütterlichen Körper abzulösen und
völlige Selbständigkeit zu gewinnen. Der Autobiograph will einen neuen, anderen
Anfang setzen, der ganz sein eigener ist und in dem er sich als selbständige, von den
anderen klar zu unterscheidende Person zu erkennen vermag.
Der alternative Beginn, der den dunklen, mütterlich kodierten Anfang der infan-
tia ersetzen soll, ist die Lebensphase d e r p u e r i t i a . Das Knabenalter besitzt gegenüber
der frühen Kindheit zunächst einmal den Vorteil, daß es durch die Erinnerung des
Autobiographen bezeugt wird: »memini hoc«, darauf weist er gleich eingangs hin. 74
Um seine pueritia schildern zu können, muß der Autobiograph also nicht auf fremde
Zeugnisse rekurrieren. Anstatt den Aussagen anderer Glauben schenken und einer
unsicheren Deutung unterziehen zu müssen, kann er sich auf sein eigenes, durch
die memoria verbürgtes Wissen stützen. Sein Gedächtnis macht ihn von anderen
unabhängig; der Erzähler der pueritia ist autonom.
Die Unabhängigkeit von anderen kennzeichnet aber nicht nur den Erzähler
des autobiographischen Berichts, sondern auch seinen Gegenstand. Im Übergang
von der frühen Kindheit zur Knabenzeit verwandelt sich der infans in einen puer
loquensP Der Knabe unterscheidet sich dadurch vom Kleinkind, daß er zu sprechen
versteht. Das Schlüsselereignis, das den »eigentlichem Beginn der Lebensgeschichte
markieren soll, ist folglich die Initiation des Kindes in die menschliche Wortsprache.
Von diesem Ereignis behauptet Augustinus, daß er selbst sein Urheber gewesen sei.
Der Autobiograph gibt vor, sich das Sprechen von alleine beigebracht zu haben. An
der Schwelle zur pueritia sei das Kind Augustinus nicht von anderen, von den Eltern
oder Kinderfrauen, in seine Muttersprache eingeführt worden, es habe sie auch nicht
- wie später in der Schule das Lesen und Schreiben - in einem methodisch geord-
neten Studiengang, sondern durch seine eigenen geistigen Bemühungen erlernt:
»Non enim docebant me maiores homines praebentes mihi verba certo aliquo ordine
doctrinae sicut paulo post litteras, sed ego ipse mente, quam dedisti mihi«. 76 Er habe,

74 Ebd. 1.8.13.
75 Ebd.
76 Ebd.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 445

so behauptet der Autobiograph, das Sprachverhalten der Erwachsenen aufmerksam


beobachtet, wodurch es ihm gelungen sei, die Funktion der Wörter im allgemeinen
zu ergründen und ihre Bedeutung im einzelnen zu ermitteln. 77
Augustinus präsentiert sich somit als ein Autodidakt der Sprache.78 Folglich hat
er den Übergang von der infantia zur pueritia aus eigener Kraft vollzogen. Der >ei-
gentliche< Anfang seiner Lebensgeschichte ist, wie es scheint, ganz allein sein Werk.
Er hat sich als Sprachwesen selbst hervorgebracht; er ist gewissermaßen der Schöpfer
seiner selbst. Während die infantia einen fremdbestimmten Anfang darstellt, den der
Autobiograph nicht in seiner Gewalt hat, unterliegt das Initialereignis des Sprach-
erwerbs ganz seiner Kontrolle. Der Knabe, der als Urheber seines eigenen Redever-
mögens figuriert, ist ein Wunsch- und Spiegelbild des Autobiographen, der sich in
ähnlicher Weise als Urheber seiner Bekenntnisrede zu instituieren sucht. Das Kind,
das sich selbst die Sprache gibt: Das ist zugleich auch der Autobiograph, der seinen
Bekenntnisdiskurs begründet, indem er den heteronomen Anfang der infantia durch
die Selbsturheberschaft des puer loquens substituiert. In dem Moment, in dem der
Protagonist der Autobiographie in den Besitz des sprachlichen Ausdrucksvermögens
gelangt, kommt auch der Autobiograph erst eigentlich zur Sprache und konstituiert
sich als Erzähler seiner Geschichte. Erst von diesem Zeitpunkt an kann der Erzähler
zusammenhängend und mit relativer Sicherheit über sich selbst reden. Augustinus
tritt hier erstmals als der idealtypische Selbstbiograph in Erscheinung, wie ihn die
literaturwissenschaftliche Autobiographieforschung konzipiert: als autonome Er-
zählerinstanz, die nicht aus der Vorläufigkeit des Glaubens heraus spricht, sondern
auf der Basis eines untrüglichen memoria- Wissens, und die von einem gesicherten
Endpunkt des Lebens aus einen korrespondierenden Anfangspunkt zu setzen ver-
mag. Nach dem doppelten Fehlstart der ambivalenten invocatio und des wieder
zurückgenommenen Eingeständnisses infantiler Sündhaftigkeit scheint Augustinus
mit diesem klar markierten Anfang nun doch einen Weg gefunden zu haben, eine
kohärente, geschlossene Lebensgeschichte zu konstruieren.
Der neue Anfang ist freilich eher dem heidnischen Leitbild des autonomen Ver-
nunftsubjekts verpflichtet als der christlichen Vorstellung des wesenhaft durch die
Erbschuld gezeichneten Menschen, der unfähig ist, sich aus eigener Kraft aus dem
Zustand sündhafter Verblendung zu befreien. Nach christlicher Auffassung stellt
die Auslöschung der infantia eine hochmütige Versuchung dar, eine widerrechtliche
Aneignung göttlicher Prärogative. Es stellt sich daher die Frage, ob Augustinus dieser
Versuchung wirklich nachgibt. Optiert er für eine >männliche< Form der Selbstur-
heberschaft und der Autonomie, anstatt die fremden, >weiblichen<, mit der Figur

77
Ebd.
78
Augustinus widerspricht hier somit der Aussage, die er im Prolog zu De doctrina christiana
macht. D o r t behauptet er, daß kein Mensch sich das Sprechen selbst beizubringen vermöge
(De doctrina christiana. Prooemium 9).
446 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

der Mutter assoziierten Ursprünge des Selbst zur Geltung zu bringen?79 Werden
die dunklen, fremdbestimmten Anfänge der infantia durch die eindeutige, klar zu
identifizierende Zäsur des puerilen Spracherwerbs verdrängt?

75
Die Confessiones gelten der Autobiographieforschung nicht nur als Gründungsurkunde der
Gattung, sondern auch als Prototyp einer spezifisch >männlichen< Form der Selbstdarstellung.
John Freccero etwa sieht in Augustinus den Initiator eines »male genre«. Seiner Ansicht nach
besteht ein Gegensatz zwischen der >männlichen< Konversionsgeschichte der Confessiones und
der >weiblichen< Spielart der spirituellen Autobiographie, wie sie durch Teresa von Avilas Libro
de su vida exemplifiziert wird: »[T]he contrast between the linear conversion story of Augustine
and the fragmentary, dispersed account of Teresas life may correspond to a distinction that
some have made between life stories told by men and those told by women. Male versions
seem to be linear, conflictual, and, in a word, oedipal, marked by a struggle for separation.
Female versions seem less obsessed with separation and struggle, less linear and more global in
their recounting of a life story.« (J. Freccero: Autobiography and Narrative. S. 18.) Vgl. auch
Mary Mason: T h e Other Voice: Autobiographies of Women Writers. In: Autobiography: Essays
Theoretical and Critical. Edited by James Olney. Princeton 1980. S. 2 0 7 - 2 3 5 , hier: S. 210:
»The dramatic structure of conversion that we find in Augustine's Confessions, where the self
is presented as the stage for a battle of opposing forces and where a climactic victory for one
force - spirit defeating flesh — completes the drama of the self, simply does not accord with
the deepest realities of women's experience and so is inappropriate as a model for women's life
writing. [...] [T]he self-discovery of female identity seems to acknowledge the real presence
and recognition of another consciousness, and the disclosure of female self is linked to the
identification of some >other<.« O b die Confessiones als Gründungsurkunde einer >männlichen<
Tradition der Selbstdarscellung anzusehen sind oder nicht, hängt also davon ab, wie man die
folgenden Fragen beantwortet: Leugnet Augustinus die subjektkonstitutive Funktion des an-
deren? Eliminiert er die anderen (mütterlichen) Ursprünge seiner selbst, oder bringt er sie in
seiner Selbstdarstellung nicht gerade zur Geltung — im Unterschied etwa zur stoischen ecriture
de soi, die darauf abzielt, das Selbst ganz aus heteronomen Bindungen zu befreien? Freccero
und Mason unterstellen Augustinus die Intention, das Subjekt vom anderen abzulösen und
auf sich selbst zu stellen. Allerdings deuten sie die Confessiones ausschließlich von ihrem Ende
(der Konversion) her, überlesen mithin die problematischen Anfänge der Lebensgeschichte, in
denen die konstitutive Funktion des anderen manifest wird. Es ist also durchaus möglich, daß
die Unterdrückung des anderen nicht (nur) dem Verfasser der Autobiographie, sondern (auch)
ihren Lesern anzulasten ist — dem Wunsch der Leser und Leserinnen, einen Gründungsheroen,
einen > Vater« der >männlichen< Selbstdarstellung zu instituieren, mit dem man sich identifizieren
oder von dem man sich distanzieren kann. In ihrem Bestreben, klare genealogische Verhältnisse
zu schaffen, läßt die Autobiographieforschung die Confessiones >männlicher< und >väterlicher<
erscheinen, als sie es tatsächlich sind. U m eine Korrektur dieser verzerrenden Sichtweise bemühen
sich Fran<joise Lionnet und Nancy K. Miller. Lionnet geht es um eine »feminist reappropria-
tion of the maternal elements of the Confessiones« (F. Lionnet: Autobiographical Voices: Race,
Gender, Self-Portraiture. Ithaca 1989. S. 19). Miller will aufzeigen, daß Augustinus in seiner
Autobiographie das Modell einer »identity through alterity« umzusetzen, die Selbstdarstellung
daher an die Darstellung der (mütterlichen) anderen zu koppeln sucht: »[I]n order to represent
himself completely, the son must represent his mother, his other, without omitting a word. It falls
to the son, to recreate the dead parent through writing; to give birth to the author of one's life,
and hence to authorize himself.« (Ν. K. Miller: Representing Others: Gender and the Subjects
of Autobiography. In: Differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 6 [1994], S. 1 - 2 7 ,
hier: S. 9, S. 11.) Lionnet und Miller verfolgen zwar die Absicht, die Präsenz der mütterlichen
anderen in den Confessiones sichtbar zu machen, doch auch sie legen den Hauptakzent ihrer
Analyse auf das Ende der Erzählung - auf den Bericht vom Tod der Mutter, mit dem Augustinus
den narrativen Teil seiner Selbstdarstellung abschließt. Die konstitutive Bedeutung der Mutter
für das autobiographische Subjekt kann jedoch nur dann adäquat erfaßt werden, wenn man die
Confessiones von ihrem Anfang her zu lesen versucht, einem in sich gespaltenen, verschobenen
Anfang, der der irreduziblen Heteronomie des Subjekts Rechnung trägt.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 447

Zwar stellt Augustinus den Spracherwerb als ein einschneidendes Ereignis dar, das
für die weitere Entwicklung des Knaben und des jungen Mannes von entscheidender
Bedeutung ist.80 Doch worin diese Bedeutung besteht, ist für den Autobiographen
alles andere als klar. Der Mangel an eindeutiger Klarheit wird schon allein dadurch
signalisiert, daß sich das Bekenntnissubjekt dazu genötigt sieht, das Ereignis mehr-
mals zu schildern. Der Spracherwerb wird im ersten Buch der Confessiones zwei Mal
aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt - so als fürchte der Autobiograph, der
Bedeutung des Ereignisses nicht gerecht werden zu können. 81 Die Doppelstruktu-
ren, die für den Beginn der Confessiones kennzeichnend sind, finden mithin in der
narratio ihre Fortsetzung. Auch der alternative, zweite Anfang der Lebensgeschichte
ist ein doppelter, in sich gespaltener Anfang. Bei näherer Betrachtung wird zudem
erkennbar, daß dieser zweite Anfang keineswegs, wie zunächst behauptet, im Zeichen
subjektiver Autonomie steht. Die Art und Weise, wie Augustinus den Spracherwerb
schildert, läuft seinen programmatischen Verlautbarungen zuwider. Er postuliert die
Selbsturheberschaft des sprechenden Subjekts, die Darstellung des Vorgangs stellt
dieses Postulat jedoch zugleich vehement in Frage. Tatsächlich ist der zweite Lebens-
beginn des Spracherwerbs nicht das >männliche< Gegenstück zu den >weiblichen<
Anfängen der infantia, sondern eine Verlängerung und Ausfaltung derselben. Der
Vorgang des Spracherwerbs markiert nicht die Loslösung despuer vom mütterlichen
Körper, er untersteht vielmehr ganz der mütterlichen Führung. Diese Führung
besitzt einen paradigmatischen Status. An dem Ereignis des Spracherwerbs kann
man beispielhaft ablesen, wie die göttliche Vorsehung mit den Menschen verfährt,
die sie zum Heil bestimmt hat. Der Spracherwerb ist ein Muster für die verborgene
pädagogische Führungsarbeit, die Gott den Erwählten nach augustinischer Vorstel-
lung angedeihen läßt.82
Für den >mütterlichen<, das >männliche< Phantasma der Selbsturheberschaft
dementierenden Status des Spracherwerbs gibt es drei deutliche Anhaltspunkte. Ers-
tens gilt es zu konstatieren, daß der zweite Anfang des Spracherwerbs den dunklen
Ursprung der infantia keineswegs spurlos verdrängt. Die infantia wird nicht einfach
ausgelöscht. Augustinus äußert seinen Sinneswandel vielmehr erst, nachdem er seine
frühe Kindheit bereits ausführlich beschrieben hat - der Bericht darüber liegt dem
Leser der Confessiones schwarz auf weiß vor Augen. Nachträglich setzt der Autobi-
ograph diesen Bericht in Klammern. Er streicht ihn nicht im wörtlichen, sondern

80
Vgl. B. Stock: Augustine the Reader. S. 24: »The innovative feature of his [sc. Augustines]
account in comparison to other ancient writers lies in making the souls education depend
on the infant's acquisition of speech.«
81
Confessiones 1.8.13 und 1.14.23.
82
Zur Relevanz der Prädestinationslehre für die Confessiones vgl. P. Brown: Augustine of Hippo.
S. 405f.; Reinhart Herzog: »Partikulare Prädestination«: Anfang und Ende einer Ich-Figuration.
Thesen zu den Folgen eines augustinischen Theologoumenon. In: Individualität. Hg. von
Manfred Frank und Anselm Haverkamp. München 1988 (Poetik und Hermeneutik. Bd. 13).
S. 101-105.
448 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen WilUns

nur im übertragenen Sinne aus, macht ihn also nicht wirklich rückgängig. Die Aus-
führungen über die infantia bleiben sozusagen sous rature lesbar.83 Der frühkindliche
Anfang wird folglich nicht eliminiert, sondern in der Schwebe gehalten. Er bildet
weiterhin einen Bestandteil der Autobiographie, wenngleich ihm die Würde eines
definitiven Ursprungs aberkannt wird. Man könnte Augustins Rückzieher somit
als Teil einer Strategie ansehen, die darauf abzielt, die Anfänge zu vervielfältigen,
um auf diese Weise zu signalisieren, daß der wahre Anfang sich dem Zugriff des
Autobiographen entzieht.
Zweitens ist der alternative Beginn des Spracherwerbs nicht besser dokumentiert
als der dunkle Anfang der infantia. Im großen und ganzen hat der Autobiograph
seine Knabenzeit zwar noch gut im Gedächtnis. Doch ausgerechnet das Ereignis,
das die pueritia eröffnen soll und dem er eine Schlüsselbedeutung für sein ganzes
Leben zuweist, wird durch keinerlei inneres Zeugnis beglaubigt. Augustinus hebt
hervor, daß er sich an die Umstände des Spracherwerbs nicht erinnern kann. Wie
und woher er als Knabe das Sprechen gelernt hat, das vermochte er erst nachträg-
lich in Erfahrung zu bringen: »unde loqui didiceram, post adverti.«84 Der Erzähler
ist in bezug auf den Vorgang des Spracherwerbs also alles andere als autark. Um
diesen Vorgang zu schildern, m u ß er seine memoria überschreiten und auf fremde
Zeugnisse zurückgreifen. Der Spracherwerb ist kein Gegenstand der Erinnerung,
sondern ein hypothetisches Deutungskonstrukt. Der zweite Anfang der Lebensge-
schichte erweist sich als genauso vorläufig und unsicher wie der erste. Die Tatsache,
daß Augustinus den dunklen Ursprung der infantia durch das Initialereignis des
Spracherwerbs substituiert, fuhrt folglich keineswegs dazu, daß die Erinnerung und
mit ihr das unmittelbare, innerliche Selbstwissen des Subjekts die Regie über die
autobiographische narratio übernimmt. Im Gegenteil, das Privileg der Erinnerung
wird dadurch gerade in Frage gestellt. Es ist signifikant, daß Augustins Erinnerung
erst zu dem Zeitpunkt einsetzt, da er bereits zu sprechen gelernt hat. Diese Rei-
henfolge legt die Vermutung nahe, daß der Spracherwerb auch für die memoria
konstitutiv ist. Das Erinnerungsvermögen setzt offenbar die Sprachfähigkeit voraus.
Um sich erinnern zu können, muß das Subjekt bereits der Sprache mächtig sein.
Der Innenraum der memoria scheint von der Äußerlichkeit der Sprache je schon
affiziert zu sein.

83
Das Verfahren, einen Ursprung oder ein primäres Sein auszustreichen und als gestrichenen
(»sous rature«) dennoch beizubehalten, wird von Jacques Derrida in Anlehnung an Martin
Heidegger in seiner dekonstruktiven Lektüre des abendländischen Logozentrismus systematisch
zur Entfaltung gebracht. Vgl. J. Derrida: De la grammatologie. Paris 1967. S. 38: »Heidegger
[...] nelaisse lire le mot >etre< que sous une croix (kreuzweiseDurchstreichung). Cette croix η est
pourtant pas un >signe simplement negatif<. Cette rature est la derniere ecriture d'une epoque.
Sous ses traits s'efface en restant lisible la presence d'un signifie transcendental. S'efface en
restant lisible, se detruisant en se donnant ä voir l'idee meme de signe.«
84
Confessiones 1.8.13.
Die Confessiones ah Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 449

Augustinus lokalisiert den >eigentlichen< Ursprung seiner selbst somit nicht in der
reinen Innerlichkeit des Denkens oder des Gedächtnisses, sondern an jener Grenze
zwischen innen und außen, die durch die Sprache markiert wird. Indem er den
Spracherwerb zum Anfang seiner Lebensgeschichte erklärt, definiert er sich selbst
als ein Sprachgeschöpf, als ein animal loquens. Sein >eigentliches< Leben beginnt erst
in dem Augenblick, da die Sprache ihn mit der Außenwelt verbindet und ihm die
Kommunikation mit anderen ermöglicht. Die Fähigkeit, sich in sprachlicher Form
mitzuteilen, ist bestimmend fur sein Wesen. Nicht nur der Autobiograph ist von den
Mitteilungen anderer abhängig, um das Ereignis des Spracherwerbs rekonstruieren
zu können. Die Fähigkeit, sich den anderen mitzuteilen, ist auch für das Subjekt
konstitutiv, das den Gegenstand des Bekenntnisses bildet. Als Sprachwesen steht
dieses Subjekt immer schon in einer Beziehung zu den anderen. Nicht der innerliche
Selbstbezug sprachlosen Denkens und sprachloser Erinnerung, sondern die verbal
vermittelte Beziehung zum anderen markiert den >Ursprung< des Individuums,
dessen Geschichte Augustinus in den Confessiones erzählt.
Drittens schließlich ist diese originäre Abhängigkeit des Subjekts vom anderen
auch für den Vorgang des Spracherwerbs selbst kennzeichnend, wie ihn Augustinus
im ersten Buch seines Bekenntniswerks schildert. Zwar stellt der Autobiograph zu-
nächst die Behauptung auf, daß er sich das Sprechen ohne fremde Hilfe beigebracht
habe. Sobald er sich jedoch darauf einläßt, diesen Lernprozeß in seinen Einzelheiten
nachzuzeichnen, m u ß er das Postulat der Selbsturheberschaft revidieren. Es zeigt
sich, daß das Kind beim Spracherwerb keineswegs ganz auf sich allein gestellt ist.
Die akribische Genauigkeit, mit der Augustinus den Vorgang rekonstruiert, macht
vielmehr die fremde Unterstützung sichtbar, ohne die der Ubergang von der infantia
zur pueritia niemals hätte stattfinden können. Die besondere Form, die diese Hilfe
annimmt, präfiguriert zudem die Unterstützung, welche die göttliche Vorsehung
dem menschlichen Sünder auf seinem Weg zum Heil zuteil werden läßt. Die
Sprache ist - nicht anders als alle übrigen geistigen Besitztümer, in deren Genuß
der Knabe gelangt - letztlich ein göttliches Gnadengeschenk. Doch die spezifische
Art und Weise, wie Gott gerade dieses Geschenk an den kleinen Sünder weitergibt,
ist repräsentativ für das providentielle Wirken überhaupt, das Augustinus in den
Confessiones zu ergründen sucht.

Muttersprache u n d pueriles Verlangen

Der Autobiograph beschreibt das Ereignis des Spracherwerbs zunächst aus der
Perspektive des Kindes:
Prensabam memoria, cum ipsi [sc. maiores homines] appellabant rem aliquam et cum secundum
earn vocem corpus ad aliquid movebant, videbam, et tenebam hoc ab eis vocari rem illam,
quod sonabant, cum earn vellent ostendere. Hoc autem eos velle ex motu corporis aperiebatur
tamquam verbis naturalibus omnium gentium, quae fiunt vultu et nutu oculorum ceteroque
450 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

m e m b r o r u m actu et sonitu vocis indicante affectionem animi in petendis, habendis, reiciendis


fugiendisve rebus. 85

Das Kind beobachtet die Erwachsenen, aber es beobachtet sie gerade nicht in ihrem
natürlichen Sprachverhalten, in ihrer Alltagskommunikation. Die Situation, die
Augustinus schildert, ist durch und durch künstlich. Das Kind sieht Menschen,
die sich ihm bewußt zuwenden, ihm gewisse Gegenstände zeigen, durch Gebärden
und andere Körpersignale darauf hinweisen und dabei immer wieder die gleiche
Lautfolge artikulieren. Kein Zweifel: Es handelt sich dabei um Menschen, die
dem infans etwas beibringen wollen, die eine ganze Reihe von pädagogischen und
semiotischen Mitteln zum Einsatz bringen, um es mit den Wörtern der Sprache
vertraut zu machen. Ihr Wirken erspart dem Kind zwar nicht eine gewisse geistige
Eigentätigkeit, aber von einem rein autodidaktischen Procedere kann hier keines-
falls die Rede sein.
Das Kind erkennt, daß bestimmte Lautfolgen die Bezeichnungen (Namen) für
bestimmte Dinge sind. Diese Erkenntnisleistung kann ihm keiner abnehmen; inso-
fern kann man tatsächlich sagen, daß der Kleine sich selbst belehrt. Doch er könnte
sich nicht belehren, wenn ihm die Erwachsenen nicht helfen würden. Sie weisen
auf spezifische Gegenstände, und nur dieses Weisen ermöglicht es dem Kind, das
gleichzeitig artikulierte Wort mit der Sache zu assoziieren. Was ist das für ein Wei-
sen? Man ist zunächst versucht zu sagen: ein Zeigen. Augustinus benutzt in diesem
Zusammenhang ja auch das Wort ostendere?e Interessanterweise legt er aber weniger
Gewicht auf den deiktischen Aspekt der Gesten als auf den sich darin bekunden-
den Willen der Erwachsenen, dem Kind etwas zu zeigen: »[...] cum earn vellent
ostendere. Hoc autem eos velle ex motu corporis aperiebatur«.87 Die Gesten, derer
sich die Erwachsenen bei ihrem Sprachunterricht bedienen, beziehen sich mithin
weniger auf die äußere Sache, die benannt werden soll, als auf den inneren Willen
der Sprechenden. Sie verweisen auf die Intention der Sprecher, ihren Willen zum
Ausdruck zu bringen. 88 Den sprachpädagogischen Bemühungen der Erwachsenen
läßt sich entnehmen, daß das gesprochene Wort nicht nur (und nicht unmittelbar)
die äußere Sache bezeichnet, sondern auch (und in erster Linie) die Intention des

85
Ebd. (»Ich behielt es im Gedächtnis, wenn Erwachsene eine Sache beim N a m e n nannten und
wenn sie dann diesem Laut entsprechend ihren Körper irgendwohin bewegten. Ich sah das
und merkte mir, daß sie mit den Lauten das Ding bezeichneten, das sie mir zeigen wollten.
D a ß sie das wollten, verriet ihre Körperbewegung, die gewissermaßen die Natursprache aller
Völker ist; sie besteht in Mienenspiel, Augenausdruck und Gestikulation; durch Handlung
und Stimme zeigt sie den Zustand der Seele an, die etwas erstrebt oder erreicht, etwas abweist
oder flieht.«).
86
Z u m deiktischen Charakter des verbalen Zeichens in der Sprachtheorie Augustins vgl. Kapitel
VII.2 dieser Untersuchung.
87
Hervorhebung von mir, Ch. M.
88
Der Wille, den Willen auszudrücken: Dieser Impuls liegt laut Augustinus auch den ersten
Kommunikationsversuchen des infans zugrunde. Vgl. Confessiones 1.6.8: »voluntates meas
volebam ostendere eis, per quos implerentur« (Hervorhebungen von mir, Ch. M.).
Die Confessiones ab Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 451

Sprechenden. 89 Nicht der Gegenstand selbst, auch nicht das rein intellektuelle Mei-
nen oder Denken des Gegenstandes, 90 sondern die materielle oder geistige Sache als
Objekt eines inneren Verlangens ist das Bezeichnete.
Es wäre folglich verfehlt, würde man das Sprachvermögen auf die Fähigkeit
reduzieren, die Verknüpfung zu erkennen, die gemäß der Ubereinkunft der Spre-
chenden zwischen spezifischen verba und bestimmten res besteht. Um die Bedeutung
der Wörter zu erfassen, muß der Hörer zugleich auch in der Seele des Sprechenden
lesen können; er muß dazu in der Lage sein, anhand äußerer Zeichen auf das innere
Wollen des Sprechenden zu schließen. Ein derartiges Schließen wird durch eine
besondere Klasse von Zeichen erleichtert, derer sich die Erwachsenen zum Zwecke
der sprachlichen Unterweisung bedienen. Diese Zeichen - Mimik, Gestik und Ton
der Stimme - werden von Augustinus als natürliche Zeichen mit universaler Geltung
charakterisiert. Sie verweisen direkter und eindeutiger als gesprochene Worte auf den
Seelenzustand des Redenden - auf die Affekte, die er angesichts der Sache empfin-
det, die es zu bezeichnen gilt (»affectionem animi in petendis, habendis, reiciendis
fugiendisve rebus«). Die unartikulierten Schreie und die heftigen Bewegungen des
Säuglings, von denen Augustinus in seinen Ausführungen über die Lebensphase der
infantia berichtet, sind ja nichts anderes als solche natürlichen Zeichen. Es handelt
sich um unvollkommene Zeichen, die keine klare Vorstellung von der bezeichneten
Sache vermitteln (»non erant veresimilia«), die aber den Willen des infans, seine
affektive Einstellung gegenüber dem Gegenstand, unmißverständlich anzuzeigen
vermögen (»signia similia voluntatibus meis«).91 Sie bringen den Willen direkt, die
gewollte Sache dagegen undeutlich und mittelbar zum Ausdruck.
Wie es einen Anfang vor dem Anfang gibt, einen dunklen, infantilen, der Erinne-
rung nicht zugänglichen Ursprung des Subjekts, so gibt es mithin auch eine Sprache
vor der Sprache, eine primitive Ursprache, die der Manifestation des Begehrens
dient. Und wie der Autobiograph die Lebensphase der infantia aus seiner Erzählung
entfernen will, um sie durch den vermeintlich leichter zu beherrschenden Anfang
derpueritia zu ersetzen, so bemüht er sich zunächst auch darum, den Spracherwerb
zu erklären, ohne auf die primitive Ursprache Bezug zu nehmen: Er behauptet, daß
sich das Kind kraft seines Verstandes von selbst der Sprache zu bemächtigen vermag;
er charakterisiert diese Sprache als Wort- und Namenssprache, lokalisiert ihren Ur-
sprung im Vernunftvermögen des Subjekts und leugnet somit ihre Verwurzelung in
der frühkindlichen Affektivität. Doch diese einseitig vernunftorientierte Darstellung
des Spracherwerbs erfährt sogleich eine Korrektur. Zwar nimmt Augustinus seine

89
Vgl. B. Stock: Augustine the Reader. S. 26: »Intentionality is central to his [sc. Augustine's ]
explanation [sc. of the acquisition of speech], and this is understood both as a general feature
of thinking and as specific acts of will.«
90
Vgl. Τ. Borsche: Macht und Ohnmacht der Wörter. S. 141 f.: Die »Bedeutung, die im Laut
verborgen liegt und diesen zum Wort erhebt[,] kann nicht die Sache selbst sein, die durch
das Wort bezeichnet wird.«
91
Confessiones 1.6.8.
452 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Behauptung nicht explizit zurück, doch findet der affektive Ursprung der Sprache
in seiner ausführlichen Schilderung des Ubergangs von der infantia zur pueritia
Berücksichtigung. Der verdrängte Ursprung wird auf diskrete Weise nachgetragen;
Augustinus macht ihn sichtbar, ohne ihn eigens zu thematisieren — so als sei er ihm
gegenüber weiterhin blind, noch während er über ihn spricht.
Aus seiner Schilderung geht hervor, daß die primitive Sprache der Affekte beim
Erlernen der vernünftigen Wortsprache eine ganz entscheidende Rolle spielt. Würden
die Erwachsenen nicht auf die primitive Zeichensprache rekurrieren, um das Kind auf
bestimmte Gegenstände aufmerksam zu machen, so könnte dieses die Worte nicht
verstehen, die ihm vorgesprochen werden. Die Wortsprache, die der Bezeichnung von
Gegenständen dient, ruht einer primitiven Zeichensprache auf, in der sich der Wille
des Sprechenden zum Ausdruck bringt. Ohne die Mitwirkung der letzteren wäre die
erstere nicht verständlich. Gleichwohl tendiert die Sprache der Affekte dazu, sich
selbst unsichtbar zu machen. Die Wörter erzeugen den Eindruck, als besäßen sie eine
eigenständige semantische Kraft, als verwiesen sie unmittelbar auf die Sachen, ohne
den Umweg über den Willen eines Sprechenden nehmen zu müssen. Die Wörter ge-
ben sich als Elemente einer Sprache aus, die das affektive und das dialogische Moment
zu entbehren vermag - einer Sprache, deren Funktion sich darin erschöpft, intelligible
Gehalte zu vermitteln. Genauer: Die voluntativ-dialogische Dimension der Sprache
bringt sich selbst in Vergessenheit; sie verbirgt sich vor den Sprechenden.
Vielleicht erliegt Augustinus aus diesem Grunde der Täuschung, sich das Spre-
chen selbst beigebracht zu haben; vielleicht übergeht er deshalb zunächst die Hilfe,
die ihm die Erwachsenen dabei gewährten. Tatsächlich ist diese Hilfe aber unver-
zichtbar. Nur indem die Erwachsenen sich auf die Ebene des infans hinabbegeben
und von der primitiven Affektsprache Gebrauch machen, nur indem sie sich auf
den Willen des Kindes einlassen und ihm ihrerseits ihren Willen, ihr liebevolles
Wohlwollen signalisieren, schaffen sie die Voraussetzungen dafür, daß der Kleine
den Schritt vom Schrei zum Wort vollzieht. Die erwachsenen Sprachlehrer gleichen
sich dem Objekt ihrer pädagogischen Bemühungen so weit wie möglich an. Sie
regredieren gewissermaßen auf die Stufe der infantia. Mit ihrem Sprachverhalten
spiegeln sie das Begehren des Kindes wider. Sie kommen dem Willen des Kleinen,
seinen Willen auszudrücken, durch einen korrespondierenden Willen entgegen. Auf
diese Weise verschleiern sie die Alterität, die sie als Erwachsene und die ihre Sprache
als Wortsprache auszeichnet, und verbergen ihren eigenen, nicht unwesentlichen
Beitrag zum Spracherwerb des Kindes. Dem späteren Vergessen dieses Unterrichts
wird somit Vorschub geleistet. Das pädagogische Wirken der ersten Sprachlehrer ist
unscheinbar und sanft, aber gerade deswegen außerordentlich effektiv.
Bei seinem ersten Versuch, den Vorgang des kindlichen Spracherwerbs zu be-
schreiben, deutet Augustinus die wichtige Rolle der erwachsenen Helfer an, ist sich
der Tragweite dieser Hilfe aber noch nicht ganz bewußt. Bei seinem zweiten Versuch
sieht das jedoch schon ganz anders aus. Denn diesmal gibt sich Augustinus nicht damit
zufrieden, den Lernprozeß möglichst genau zu beschreiben. Vielmehr vergleicht er den
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 453

frühkindlichen Spracherwerb mit anderen Formen der linguistischen Unterweisung,


wodurch seine Aufmerksamkeit auf das Für und Wider der pädagogischen Methode
gerichtet wird. Der Rückblick auf seine Schulzeit bietet dem Autobiographen die
Gelegenheit, das Problem des Spracherwerbs noch einmal aufzugreifen. Er stellt fest,
daß ein großer Gegensatz zwischen dem infantilen Erlernen der Muttersprache und
dem Sprachunterricht an der Schule besteht. Der Schulunterricht war dem Knaben
Augustinus ein Greuel: »non amabam litteras et me in eas urgeri oderam; et urgebar
tarnen et bene mihi fiebat«.92 Der Junge verabscheute das schulische Lernen, weil es
unter Zwang erfolgte. Die strenge Aufsicht der Lehrer, die Regeln und Gesetze, die
sie ihren Schülern auferlegten, die drakonischen Strafen, durch die jede Übertretung
geahndet wurde, die rigide methodische Ordnung, der sie bei der Darbietung des
Lehrstoffs zu folgen pflegten: All dies war dazu angetan, den Haß und den inneren
Widerstand des Knaben zu erregen. Zwar heißt der Erzähler die schulische Zwangsver-
anstaltung im Nachhinein gut, weil sie dem korrupten Begehren des kleinen Sünders
Zügel anlegte. Gleichwohl stellt er sich die Frage, ob die pädagogische Methode, die
von den Schullehrern angewandt wird, wirklich als klug anzusehen ist. Spricht der
Erfolg nicht eher für das Verfahren der nicht-professionellen Lehrer, die das Kind auf
sanfte Weise mit der Muttersprache vertraut machen? Ist ihre Vorgehensweise, die sich
gerade durch das Fehlen einer systematischen Methode auszuzeichnen scheint, nicht
besser dazu geeignet, die Grundlagen der Sprache zu vermitteln?
Zur Veranschaulichung des Problems kontrastiert der Autobiograph die Vor-
gehensweise seines Griechischlehrers mit dem Verhalten der Erwachsenen, die ihn
beim Erlernen der lateinischen Muttersprache unterstützten. Der Griechischlehrer
operierte mit den Mitteln des Zwangs und der Gewalt. Augustinus mußte das
Griechische somit gegen seinen Willen erlernen. Der Wille zu lernen, der Wille,
den eigenen Willen auszudrücken und den anderen mitzuteilen, war auf seiner Seite
nicht vorhanden. Die Lehrer seiner lateinischen Muttersprache hingegen hatten es
verstanden, diesen Willen in ihm zu nähren:
Nam et latina aliquando infans utique nulla noveram et tarnen advertendo didici sine ullo metu
atque cruciatu inter etiam blandimenta nutricum et ioca adridentium et laetitias alludentium.
Didici vero ilia sine poenali onere urgentium, cum me urgeret cor meum ad parienda concepta
sua, et qua non esset, nisi aliqua verba didicissem non a docentibus, sed a loquentibus, in
quorum et ego auribus parturiebam quidquid sentiebam. Hinc satis elucet maiorem habere
vim ad discenda ista liberam cursiositatem quam meticulosam necessitatem.93

92 Ebd. 1.12.19.
93 Ebd. 1.14.23. (»Zwar kannte ich als kleines Kind auch von der lateinischen Sprache noch
kein einziges Wort, aber ich hatte Interesse daran und lernte sie dann ohne Angst und Qual,
verbunden gar mit Schmeichelwörtchen der Ammen, mit Scherzen lachender Menschen, die
mit mir spielten. Ich lernte sie ohne den Alptraum von Strafen und ohne daß Lehrer mich
drängten: Mein eigenes Innere drängte danach, seine Empfängnisse auch zu gebären. Das
wäre nicht möglich gewesen, hätte ich meine Worte von Lehrern lernen müssen, statt von
Sprechenden, in deren Ohren auch ich hineingebären konnte, was ich empfand und dachte.«
[Ubersetzung modifiziert]).
454 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Erst an dieser Stelle und eher beiläufig lüftet Augustinus das Geheimnis um die Iden-
tität der Personen, die ihm beim Übergang von der infantia zur pueritia behilflich
waren. Das Lateinische ist für ihn im eigentlichen Sinne des Wortes eine Mutterspra-
che, eine Sprache, deren Kenntnis er der Vermittlungstätigkeit seiner Mutter und
anderer mütterlicher Gestalten (Ammen, Kindermädchen) zu verdanken hat. War es
zunächst die Absicht des Autobiographen gewesen, die mütterlich kodierten Anfänge
seiner Lebensgeschichte auszulöschen, so setzt er die Mutter nun offenbar wieder in
ihre Rechte ein: Sie ist es, die dafür Sorge trug, daß der infans in einen puer loquens
transformiert wurde. Die mütterliche Form der Sprachvermittlung kontrastiert aufs
Schärfste mit dem Schulunterricht, der durch männliche Lehrerfiguren beherrscht
wird. Dem Zwanglosen, Liebevollen und Spielerischen der mütterlichen Unterwei-
sung steht die väterliche Autorität des Schullehrers gegenüber, der bedingungslosen
Gehorsam fordert und seinen Lehrstoff unabhängig davon präsentiert, ob sich der
Schüler dafür interessiert oder nicht. Der Gegensatz der Unterrichtsformen und ihrer
Auswirkungen auf den Schüler könnte nicht größer sein. In dem einen Fall drängt
der Lehrer gewaltsam von außen, ohne auf selten des Schülers eine Neigung für die
Gegenstände des Wissens hervorzurufen; in dem anderen Fall drängt das Herz des
Knaben von innen - er wird angeblich durch eine freie Wissensbegierde (»libera
curiositas«) angetrieben. Diese Wissensbegierde hat eine eigentümliche, rekursive
Form: Der Schüler der Muttersprache besitzt den Willen zu lernen, insofern er von
dem Willen beseelt ist, sich (das heißt: diesen Willen) zum Ausdruck zu bringen.
Der Erfolg des frühkindlichen Sprachunterrichts ist also darauf zurückzufüh-
ren, daß die mütterliche Lehrerin es versteht, das Wissen zu einem Gegenstand
des kindlichen Begehrens zu machen. Wie gelingt es ihr nun, dieses Begehren zu
erregen? Sie doziert nicht, sondern sie spricht, und auch als Sprecherin begnügt sie
sich nicht damit, dem Kind die Worte vorzusprechen, die es lernen soll. Vielmehr
betätigt sie sich in erster Linie als Hörerin. Sie leiht dem Kind ihr Ohr. Um die
Sprache zu erlernen, braucht das infans ein Ohr, in das es, wie Augustinus formu-
liert, seine seelischen Empfängnisse hineingebären kann. Das Kind lernt nur dort das
Sprechen, wo es auch gehört wird, wo der Wille besteht, ihm zuzuhören und es zu
verstehen. Die mütterliche Lehrerin ist dazu bereit, sich auf das schwer verständliche
Gestammel und Gebrabbel des Kindes einzulassen, den Wunsch zu ergründen,
der sich darin zum Ausdruck bringen will, und erst dann das begehrte Objekt zu
benennen. Sie entziffert und benennt somit das Begehren des Kindes. Das Wort,
das sie ihm als Replik auf seinen hilflosen Sprechversuch präsentiert, bringt den
nur halb formulierten und halb verstandenen Wunsch zu voller Klarheit. Indem
die Mutter den unklaren Willen des Kindes versteht und ihn in die Wortsprache
übersetzt, verleiht sie diesem Willen allererst seine Bestimmtheit. Als Hörerin ist sie
eben nicht bloß passive Empfängerin von Willensbotschaften, sondern sie ist aktiv
(wenn auch verborgen) an der Hervorbringung des Willens beteiligt, dem sie zum
Ausdruck verhilft. Die Ammen, die dem kleinen Augustinus ihr Ohr leihen, sind
als Hebammen der kindlichen Wünsche zugleich auch (Mit-)Erzeugerinnen dersel-
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 455

ben. 94 Das Denken und Sprechen des Kindes vollendet sich erst im Verstehen der
Hörerinnen. Der Kleine bringt seine Gedanken und Gefühle in den Ohren seiner
Lehrerinnen zur Welt. Solange er sie im Inneren seiner Seele bewahrt, sind sie noch
ungeboren, unfertig und unerkannt. Vollendet, bestimmt und erkannt werden sie
erst im verstehenden Empfangs- u n d Zeugungsorgan der Hörerinnen. Das Kind
fühlt seine Gefühle, denkt seine Gedanken, bestimmt seinen Willen im anderen,
dem es sich mitteilt. Der durch die mütterliche Pädagogik induzierte Wille zum
Wissen, der untrennbar mit dem Begehren zu sprechen verbunden ist, markiert
das Verlangen des Individuums, sich im Verstehen des anderen zu verstehen. Die
karitative Hermeneutik der Mitteilung, die Augustinus in De catechizandis rudibus
und in De doctrina christiana theoretisch expliziert, hat mithin im mütterlichen
Sprachunterricht ihren Ursprung.

Ambivalenz des Spracherwerbs: Sündenfall u n d G n a d e n e r w e i s

U m die Muttersprache zu erlernen, braucht das Kind die Hilfe einer anderen, die
ihm verständnisvoll entgegenkommt, seinen Willen errät und ihn dadurch bestimmt.
Das Kind spiegelt sich in der Rede dieser anderen, die ihm allererst klar macht u n d
zu artikulieren ermöglicht, was es eigentlich will. Die hermeneutische Hilfeleistung
der Sprachlehrerinnen ist somit keineswegs unschuldig. Sie geben dem unbestimm-
ten Willen des Kindes bestimmte Ziele vor; sie richten sein Begehren aus, ohne
daß ihm diese fremde Anleitung seines Verlangens bewußt wird. Das Ereignis des
Spracherwerbs stellt zugleich einen Akt der Verführung dar. Die Mutter, die sich dem
Kind in verständnisvoller Fürsorge zuwendet und seinen Willen entziffert, ist eine
Agentin der christlichen Caritas. Sie ist aber auch eine zweite Eva: Sie flüstert ihrem
kleinen Adam seine Wünsche ein; sie erregt seine Wissensbegierde u n d reicht ihm
die ersten Früchte vom Baum der Erkenntnis dar. Die libera curiositas des Knaben ist
nicht wirklich frei, sie entspringt nicht seinem autonomen Willen, sondern sie ist der
Effekt weiblicher Verführungskünste. Die Sprache, in die das Kind durch die Mutter
initiiert wird, ist von Anfang an mit einem gefährlichen Begehren verflochten. 95
Der Spracherwerb markiert mithin so etwas wie einen Sündenfall. Es ist die Spra-
che, die das sündhafte Begehren des Kindes freisetzt. Dieser Verbindung zwischen
Spracherwerb und Sündenfall wird in der neueren Forschung zu den Confessiones,
insbesondere in den einflußreichen Analysen des kanadischen Komparatisten Eugene

94
Vgl. den treffenden Kommentar von John Freccero zum Szenario des Spracherwerbs in den
Confessiones·. »Language is not only the vehicle of desire, it is also in some sense its creator,
[...] through the agency of others, the mother and the nurse [...]. From the first words of the
child to the final utterance, the process remains essentially the same: far f r o m being the sole
interpreters of the words we use, we are at the same time interpreted by them.« (The Fig Tree
and the Laurel: Petrarch's Poetics. In: Diacritics 5 (1975). S. 3 4 - 4 0 , hier: S. 35.).
95
Vgl. ebd.: »The first chapters of the Confessions represent language and desire as indistinguish-
able, perhaps even coextensive.«
456 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Vance, große, vielleicht allzu große Bedeutung beigemessen. Vance interpretiert die
Lebensgeschichte, die im narrativen Teil der Confessiones erzählt wird, als einen durch
die menschliche Sprache verursachten Sturz in sündhaftes Verderben, »a fall [...]
through language«, der erst durch die Konversion revidiert wird, genauer: durch die
kontemplative, sprachlose Gottesschau, zu der sich Augustinus nach seiner Taufe in
Ostia zu erheben vermag. 96 Die Rettung des Sünders ist demnach eine Rettung aus den
Fängen der menschlichen Sprache. Um zum Heil zu gelangen, muß sich das Individu-
um ganz von der äußerlichen, sinnlichen Menschensprache befreien und dem inneren,
göttlichen Logos — »the interior Word, which is ultimately transverbal« - zuwenden:
[A]s Augustine's soul is suffused with the Christ-logos, the narrative of his own origins returns
to the narrative of universale, to the source of >narrativity< itself. Hence, the authenticity of
Augustine's conversion is marked not by the conclusion of a discourse about himself, but rather
by its interruption and by the intrusion of God's own grammar [...]: centered now upon the
universal Word, Augustine's text becomes gloss and marginalia. 97

Die narratio der individuellen Lebensgeschichte, die sich der Menschensprache


bedient, bringt sich schließlich selbst in der Kontemplation des göttlichen Logos
zum Verschwinden. Laut Vance beurteilt Augustinus die Sprache also vollkommen
negativ: Sie verstrickt den Menschen in sündhaftes Begehren; sie hindert ihn an der
inneren Einkehr; sie fesselt seinen Blick an sinnliche, vergängliche Gegenstände und
unterwirft ihn dergestalt dem Tod.
Tatsächlich sind diese negativen Folgen des Spracherwerbs in den Confessiones
mit Händen zu greifen. Man kann, wie Vance dies tut, 98 eine Entwicklungslinie
nachzeichnen, welche die mütterliche Unterweisung des infans mit dem schulischen
Literaturunterricht und dem Rhetorikunterricht verbindet - eine Linie des Verfalls
und der Korruption, die den Protagonisten der Autobiographie immer tiefer in den
Herrschaftsbereich des Begehrens hineinfuhrt: Pflanzen die Ammen dem Kleinkind
zusammen mit den ersten Sprachkenntnissen auch das Verlangen nach sinnlichen
Genüssen ein, so macht der Literaturunterricht den Knaben mit verfänglichen
Liebesgeschichten vertraut, etwa mit der Geschichte von Dido und Aeneas oder mit
den Ehebruchsgeschichten des Göttervaters Jupiter," während der Rhetorikunter-
richt den Jüngling systematisch in die Kunst der verbalen Verführung einweiht. Es
erscheint nur konsequent, daß Augustinus als Schüler, später dann als Lehrer der

96 E. Vance: Augustine's Confessions and the Grammar of Selfhood. In: Genre 6 (1973). S. 1-27,
hier: S. 17. - Vance vertieft und variiert seinen Deutungsansatz in einer Reihe von weiteren
Studien. Vgl. ders.: Le moi comme langage: Saint Augustin et l'autobiographie. In: Poetique 14
(1973). S. 163-177; Augustine's Confessions and the Poetics of the Law. In: Modern Language
Notes 93 (1978). S. 6 1 8 - 6 3 4 ; Saint Augustine: Language as Temporality. In: Mimesis: From
Mirror to Method, Augustine to Descartes. Edited by John D. Lyons und Stephen G. Nichols
Jr. Hanover and London 1982. S. 20-35; The Functions and Limits of Autobiography in
Augustine's Confessions. In: Poetics Today 5 (1984). S. 3 9 9 - 4 0 9 .
97 E. Vance: Augustine's Confessions and the Grammar of Selfhood. S. 13, S. 24.
98 Vgl. ebd. S. 17-21
99 Vgl. Confessiones I.13.21f„ 1.16.25.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 457

Rhetorik selbst zum fornicator wird, der seine unzüchtigen Begierden in wechselnden
Liebschaften, schließlich sogar im Rahmen eines festen Konkubinats zu befriedigen
sucht. 100 Der durch Sprache und Literatur Verführte wird selbst zum rhetorischen
Verführer, 10 ' der sich sprachlicher Mittel bedient, um seine Schüler und seine Ge-
spielinnen für sich zu gewinnen. Als männlicher Verfuhrer weiblicher und pueriler
Unschuld imitiert und invertiert Augustinus die Urszene des mütterlichen Sprachun-
terrichts und bestätigt somit den Status des Sündenfalls, der ihr zuerkannt wird.
Eine der sinnlichen Geschichten, die sich der Autobiograph aus seinem Literatur-
unterricht ins Gedächtnis ruft, veranschaulicht diesen Zusammenhang auf besonders
deutliche Weise. Es handelt sich um die Geschichte des Sklavenmädchens Pamphilia,
die der Dramatiker Terenz in seiner Komödie Eunuchus präsentiert: Der Jüngling
Chaerea hat sich in das Sklavenmädchen verliebt. Er gibt sich als Eunuch aus, damit
er in das Bad der Frauen gelangen und Pamphilia verfuhren kann. Dabei läßt er sich
durch das Beispiel des Göttervaters Jupiter inspirieren (und verführen), der sich in
Gestalt eines Goldregens Zutritt zum unterirdischen Verließ der Königstochter
Danae zu verschaffen gewußt hatte. 102 Jupiter und Chaerea dringen also dadurch in
weibliche Innenräume ein, daß sie sich >verflüssigen< und >verweiblichen<. Sie gleichen
sich ihren Opfern an und verschleiern dadurch ihre männliche Zeugungskraft. Die
Sprache der Verführung täuscht Unfruchtbarkeit vor; sie geriert sich als >verschnittene<
Sprache, als neutrales Instrument, das sich den Wünschen des Sprechers unterordnet.
In Wirklichkeit jedoch dirigiert sie diese Wünsche. Unter der weiblichen Hülle einer
biegsamen, flüssigen Rede, die sich dem Begehren des anderen anpaßt, verbirgt sich
ein männliches Zeugungsorgan. Das weibliche, mütterliche Ansehen der Sprache
ist bloßer Schein. Ein >männlicher< Schatten legt sich somit auf den mütterlichen
Ursprung der Rede. Die klare Unterscheidung zwischen den Geschlechterpositionen
ist in Frage gestellt. Eine beunruhigende Ambivalenz macht sich bemerkbar. Das gilt
auch für die Metapher des In-die-Ohren-Gebärens, die Augustinus zur Veranschau-
lichung des Spracherwerbs verwendet. Nur scheinbar handelt es sich dabei um eine
rein >weibliche< Metapher. Denn die Ohren, welche die Wortgeburten des Sprechers
aufnehmen, figurieren zugleich als weibliches Geschlechtsorgan. Dem Gebären des
Sprechers korrespondiert auf Seiten der Hörerin eine Empfängnis. Das Gebären ist
also eigentlich ein Zeugungsakt; der Mund des Sprechers ist ein Phallus. 103 Auch hier

100 Vgl. ebd. II.2.2ff„ IV.2.2. - Auf den Zusammenhang zwischen der rhetorischen Täuschungs-
macht der Sprache und Augustins »desire to fornicate with the world« legt Vance in seiner
Analyse natürlich besonderen Nachdruck. Vgl. Augustine's Confessions and the Grammar of
Selfhood. S. 18-20.
101 Vgl. Confessiones IV. 1.1.: »seducebamur et seducebamus«.
102 Vgl. ebd. 1.16.26, wo Augustinus die Verse 585 und 589f. aus Terenz' Eunuchus zitiert.
103 Weil der Mund ein Zeugungsorgan darstellt, bittet Augustinus Gott darum, ihm seine Lippen
zu beschneiden: »Circumcide ab onmni temeritate omnique mendacio interiora et exteriora,
labia mea.« (Confessiones XI.2.3.). Zu dem kühnen Bild der beschnittenen Lippen vgl. auch
E. Vance: Augustine's Confessions and the Poetics of the Law. S. 619f.
458 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

liegt hinter der mütterlichen Staffage die männliche Potenz der Sprache verborgen.
Die Sprache gibt sich harmlos-weiblich, ist aber gefährlich-männlich, und zwar auf-
grund ihres Vermögens, in das Innere einzudringen und es zu kontaminieren.
Augustinus charakterisiert die Sprache mithin als ein Instrument der Täuschung
und der Verführung. Sie ist untrennbar mit dem Begehren des gefallenen Menschen
verbunden. So unstatthaft es auf der einen Seite ist, diese Verbindung zu ignorieren,
so verfehlt ist es auf der anderen Seite, sie auf den Aspekt der Sündhaftigkeit zu redu-
zieren. Wenn Vance den puerilen Spracherwerb mit dem Sündenfall gleichsetzt und
Augustins sprachliche Existenz (»his life in language«) als einen einzigen, langen Akt
der fornicatio interpretiert, 104 dann übersieht er den ambivalenten Stellenwert, den
der Autobiograph der menschlichen Sprache zuerkennt. Die mütterliche Sprachleh-
rerin ist eine zweite Eva, aber sie ist eben auch der Inbegriff liebevoller Fürsorge und
als solcher eintfigura Christi. Die Sprache ist das Medium sündhaften Verlangens,
doch sie ist eben auch das Medium der Liebe und des Glaubens - die unabdingbare
Voraussetzung dafür, daß der Mensch dem Gebot der Caritas Folge zu leisten vermag.
Der Autobiograph berichtet in den Confessiones von der Verwundung, die er durch
die Sprache erlitten, vor allem aber von der Heilung, die er durch sie erfahren hat. Er
erzählt die Geschichte eines Sprachwesens - eines Subjekts, das gerade nicht durch
innere Einkehr und unmittelbare Schau, sondern durch äußere, verbale Vermittlung,
aufgrund der kommunikativen und karitativen Zuwendung Gottes und der in sei-
nem Dienst stehenden Menschen zum Heil gefuhrt wird. Vance berücksichtigt nicht,
daß Gott selbst sich in den Confessiones der fehlbaren Menschensprache bedient, um
Augustinus aus seiner sündhaften Verirrung zu befreien. Gott spricht zu Augustin
nicht unmittelbar sein ewiges, transverbales Wort, sondern er spricht in Menschen-
sprache — zum einen durch eine Vielzahl menschlicher Vermittlungsinstanzen (durch
die Mutter Monnica, den Mentor Ambrosius, den Freund Alypius und eine ganze
Reihe anderer Ratgeber, die den jungen Mann nach und nach mit den Inhalten
der christlichen Glaubensdoktrin bekannt machen), zum anderen aber durch die
Heilige Schrift. Wie die mütterliche Sprachlehrerin macht Gott sich klein, um mit
den Kleinen in ihrer eigenen Sprache zu sprechen.105
Vance übersieht diesen positiven Aspekt des Spracherwerbs, weil er, wie so viele
Interpreten, die Confessiones von ihrem Ende her liest. Er deutet die Konversion als
einen plötzlichen, durch nichts vorbereiteten Einbruch der Gnade, die den Sünder
aus der menschlichen Sprachwelt herausreißt und unvermittelt mit dem göttlichen
logos erfüllt. Laut Vance spiegelt sich in der disruptiven Gewalt, die den göttlichen
Sprachunterricht kennzeichnet, das gewaltsame Vorgehen der Schullehrer wider, die
dem Knaben Augustin die Regeln der Grammatik einzuschärfen versuchten: »[T]he
two violences are identical, for each is occasioned by the transgression of his identity

104
E. Vance: Augustine's Confessions and the Grammar of Selfhood. S. 17.
105
Vgl. Confessiones III.5.9, VII.18.24 und passim.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 459

by the word of another. This is the single violence of death in language, except that in
the latter case Augustine's death to himself is the drama of salvation.«106 Der göttliche
Lehrer ist demnach ein strenger, strafender, väterlicher Lehrer, der den menschlichen
Schüler dem logos unterwirft, ohne auf seine Wünsche und Neigungen Rücksicht
zu nehmen. Diese Deutung läßt sich aber nur dann aufrechterhalten, wenn man
die lange Vorgeschichte der Konversion, durch die der Sünder sukzessive auf die
Manifestation der Gnade eingestellt wird, ignoriert. Nimmt man die Vorgeschichte
hingegen ernst, so ergibt sich ein vollkommen anderes Bild. Dann wird nämlich
erkennbar, daß sich die göttliche Providenz, die diese Vorgeschichte steuert, nicht am
Modell des strafenden Schullehrers orientiert, sondern am Leitbild der fürsorglichen
Mutter. Wie die Mutter, die dem Kind seine ersten Worte beibringt, verbirgt die
Vorsehung ihre pädagogische Führungsarbeit vor dem Sünder, so daß dieser mitun-
ter der Illusion erliegt, sich selbst zu führen. Wie die Mutter vermeidet es die Vorse-
hung, ihren eigenen, fremden Willen gegenüber dem Sünder direkt zum Ausdruck
zu bringen. Statt dessen bemüht sie sich darum, sein Begehren von innen heraus zu
dirigieren, ihn durch seine eigenen Wünsche zu leiten. Sie versucht das Verlangen,
das den Sünder in die Irre führt, in ein Werkzeug des Heils zu verwandeln.
Die Blindheit, die Eugene Vance, John Freccero, Mary Mason und andere gegen-
über der >mütterlichen< Führungsarbeit der Vorsehung an den Tag legen, ist nicht
weiter verwunderlich. Die modernen Leser der Confessiones teilen diese Blindheit
mit dem Protagonisten des autobiographischen Berichts, in gewissem Maße auch
mit seinem Erzähler. Sie ist es, die Augustinus zu der irrigen Annahme verleitet,
daß er sich das Sprechen selbst beigebracht habe. Doch anders als seine modernen
Interpreten ist Augustinus dazu bereit, seine Annahme zu korrigieren. Der Zweck
seiner selbsthermeneutischen Analyse besteht gerade darin, derartige Korrekturen
vorzunehmen und somit das verborgene Wirken der göttlichen Providenz im Nach-
hinein sichtbar zu machen. Die Selbstkorrektur, der verbessernde Nachtrag, gehört
zu den wichtigsten Darstellungsmitteln des Autobiographen.107
Im zweiten Buch der Confessiones etwa schildert Augustinus den depravierten Zu-
stand, in dem er sich als Sechzehnjähriger befand: Ein ehrgeiziger Schüler der Rhe-
torik und ein ehebrecherischer Lüstling, war er ganz der Sünde verfallen. Angesichts
dieser Verworfenheit kann der Autobiograph nicht umhin, seine Verwunderung über
das Ausbleiben einer direkten göttlichen Intervention zum Ausdruck zu bringen:
Invaluerat super me ira tua, et nesciebam. Obsurdueram Stridore catenae mortalitatis meae,
poena superbiae animae meae, et ibam longius a te, et sinebas, et iactabar et effundebar et
diffluebam et ebulliebam per fornicationes meas, et tacebas. Ο tardum gaudium meum!

104 E. Vance: Augustines Confessions and the Grammar of Selfhood. S. 21.


107 Augustinus erhebt die nachträgliche Selbstkorrektur später sogar zu einer eigenständigen
autobiographischen Darstellungsform, der retractatio. In den Retractationes (426/427) unter-
zieht er seine sämtlichen Schriften einer Uberprüfung, kritisiert seine Irrtümer und macht
Verbesserungsvorschläge.
460 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Tacebas tunc, et ego ibam porro longe a te in plura et plura sterilia semina dolorum superba
deiectione et inquieta lassitudine. 108

Der Autobiograph, der sich seinen damaligen Zustand vergegenwärtigt, hat zu-
nächst den Eindruck, als habe Gott den jungen Sünder im Stich gelassen. Anzeichen
für die Präsenz einer wie auch immer gearteten providentiellen F ü h r u n g vermag er
nirgends wahrzunehmen. Dabei scheint die Lage des jungen M a n n e s einen Ein-
griff von höherer Seite dringend erforderlich zu machen. Eine strenge, väterliche
E r m a h n u n g oder eine schmerzhafte Strafe k ö n n t e ihn vielleicht wieder auf den
richtigen Weg bringen. Doch Gott läßt den Sünder vollkommen frei gewähren. Das
einzige pönale Element, das der Autobiograph im Rückblick auf die Geschehnisse
erkennen kann, besitzt ein nachgerade kontraproduktives Ansehen: Als Strafe für
sein sündhaftes Verhalten wird der junge Augustinus mit der Taubheit gegenüber
dem Klirren der Sündenkette geschlagen, die er sich selbst angelegt hat. Das ist eine
höchst merkwürdige Form der Bestrafung, die den Sinn des strafenden Eingriffs
in sein Gegenteil zu verkehren scheint. Anstatt d e m Delinquenten sein Vergehen
bewußt zu machen, entzieht sie es seiner W a h r n e h m u n g u n d stößt ihn somit nur
noch tiefer in sein Verderben.
Es hat mithin den Anschein, als mache sich die Vorsehung zum Komplizen der
Sünde. Sie handelt offenbar genauso verantwortungslos wie Augustins leiblicher
Vater, der bei Gelegenheit eines Bäderbesuchs sein Frohlocken über die aufkeimende
Virilität seines Sohnes nicht verbergen kann und ihn dergestalt in seinem transgres-
siven Begehren noch bestärkt. 109 Der Autobiograph registriert in der Rückschau
den gänzlichen Ausfall der väterlich-strafenden Instanz und, dadurch bedingt, eine
Atmosphäre totaler Gesetzlosigkeit, die die moralische Verwilderung des jungen
Sünders befördert. Implizit weist er der Vorsehung somit eine Mitschuld an dem
schlechten Zustand des Heranwachsenden zu.
Doch je gründlicher sich Augustinus mit seiner Vergangenheit beschäftigt, desto
klarer wird ihm, daß sich diese Einschätzung der Dinge nicht halten läßt. Er sieht
sich genötigt, seinen Vorwurf wieder zurückzunehmen und seine Interpretation zu
korrigieren. Was auf den ersten Blick wie das gänzliche Fehlen väterlicher Aufsicht
und providentieller Führung aussieht, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine
andere Form der Führung, u n d was zunächst wie das Schweigen Gottes wirkt, ent-
p u p p t sich als eine andere Form zu sprechen:

108
Confessiones II.2.2. (»Immer mehr wuchs dein Zorn mir gegenüber, doch ich ahnte nichts
davon. In den Ketten meiner Sterblichkeit hörte ich nichts mehr von ihrem Geklirr — es war
die Strafe für den Hochmut meiner Seele. Und ich entfernte mich immer weiter von dir,
d u aber ließest es zu, und ich wurde hin und her getrieben, verkam und sprudelte über in
meinen Unzuchtstaten, du aber schwiegst. Ο du, meine späte Freude! Damals schwiegst du,
und ich entfernte mich immer weiter von dir zu immer unfruchtbareren Schmerzenskeimen
in überheblicher Verworfenheit und rastloser Erschöpfung.« [Ubersetzung modifiziert]).
109
Vgl. ebd. II.3.6.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 461

Ei mihi! Et audeo dicere tacuisse te, deus meus, cum irem abs te longius? Itane tu tacebas
tunc mihi? Et cuius erant nisi tua verba ilia per matrem meam, fidelem tuam, quae cantasti
in aures meas? Nec inde quidquam descendit in cor, ut facerem illud. Volebat enim illa, et
secreto memini, ut monuerit cum sollicitudine ingenti, ne fornicarer maximeque ne adulte-
rarem cuiusquam uxorem.110

Gott schweigt also nicht, er spricht, aber er spricht auf indirekte, vermittelte Weise.
Anstatt seinen Willen direkt und unmißverständlich zur Geltung zu bringen - etwa
als innere Stimme des Gewissens, die dem Sünder sein Vergehen zu Bewußtsein
bringt - , leiht er sich die äußere, sanfte Stimme der Mutter, der der Jüngling zu-
nächst mit Unverständnis begegnet. 111 Die Vorsehung manifestiert sich nicht als »lex
scripta in cordibus hominum«, als unmittelbare, innere Herzensschrift." 2 Vielmehr
beschreitet sie den Umweg über die äußere Sprache und die äußere Schrift, die der
Deutung bedarf.
Denn neben die Mutter tritt — auch dieses Faktum trägt der Autobiograph nun
nach - das W o r t der Bibel. Die klangvolle Stimme der Bibel (»sonitu[s] nubium
tuarum«) ergänzt die Stimme der Mutter." 3 Der junge Sünder wird mit den pauli-
nischen Ermahnungen zur Keuschheit bekannt gemacht, bringt ihnen aber ebenso
wenig Verständnis entgegen wie den mütterlichen V o r w ü r f e n . " 4 Die Vorsehung
bedient sich also einer Rede, die zugleich weniger streng und weniger verständlich ist
als das väterliche Gesetzeswort. Bezeichnenderweise stimmen die paulinischen und
die mütterlichen Ermahnungen darin überein, daß sie der Institution des Gesetzes
wie auch der Institution der Ehe kritisch gegenüberstehen." 5 Die Ehe wäre die ein-
fachste, radikalste und sicherste Lösung für das Problem des unzüchtigen Jünglings.
Sie würde sein transgressives Verlangen in gesetzliche Fesseln legen. Doch die Mutter

110 Ebd. II.3.7. (»Weh mir! Doch ich wage zu sagen, du, mein Gott, habest geschwiegen, als ich
mich weiter von dir entfernte? Hülltest du dich damals mir gegenüber wirklich in Schweigen?
Jene Worte aus dem Mund meiner Mutter, die dir treu ergeben war - waren es denn nicht
deine Worte, die du mir ins Ohr klingen ließest? Nichts davon senkte sich jedoch in mein
Herz, auf daß ich es befolgt hätte. Sie wünschte nämlich — und insgeheim erinnere ich mich
daran, wie sie mich mit tiefer Besorgnis davor warnte - daß ich nicht der Unzucht verfiele
und insbesondere nicht die Frau eines anderen zum Ehebruch verführte.«).
" ' Er tut die Ermahnungen der Mutter als weibisch (»muliebres«) ab (ebd. II.3.7).
1,2 Ebd. II.4.9.
113 Ebd. II.2.3. — Die metaphorische Gleichsetzung des Schriftworts mit den Wolken ist auf Gen.

2.5 zurückzuführen, wo vom Regen die Rede ist: »nondum enim pluerat Deus super terram
nec erat homo, qui operaretur in ea«. In De Genesi adManichaeos (II.5f.) deutet Augustinus
diesen Vers allegorisch: Nach dem Sündenfall spricht Gott nicht mehr innerlich im Herzen
zu den Menschen, sondern durch die Schriften der Propheten und Apostel (= Wolken). Vgl.
dazu U. Duchrow: »Signum« und »superbia« beim jungen Augustin. S. 370: »Der Regen,
den Gott nach der Sünde schicken musste, bedeutet: >facit< (seil, Deus) animas revirescere
per verbum suum<. Denn die Wolken sind die Schriften der Propheten und Apostel, die mit
körperlich tönenden und darum dunklen Worten Gottes Wahrheit verkünden.«
1.4 Confessiones II.2.2.
1.5 Augustinus zitiert in diesem Zusammenhang 1 Kor. 7.32f.: »qui sine uxore est, cogitat ea

quae sunt dei, quomodo placeat deo; qui autem matrimonio iunetus est, cogitat ea quae sunt
mundi, quomodo placeat uxori« (Confessiones II.2.3).
462 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

(und mit ihr die Vorsehung) will das Begehren ihres Sohnes nicht durch gesetzliche
Gewalt eindämmen, sondern von innen heraus steuern. Sie verfolgt die Absicht,
sein Verlangen zu sublimieren. Eine Ehe würde Augustins Bildungsgang abrupt
beenden und alle seine Hoffnungen auf eine wissenschaftliche Laufbahn - seine
»spes litterarum« — zerstören. 116 Doch gerade daraufkommt es der Mutter an: Sie
will das Begehren ihres Sohnes auf die litterae - die Buchstaben, die Schrift und das
Wissen - umleiten. Sie will sein mangelndes Verständnis in ein Verlangen nach Ver-
ständnis, ein hermeneutisches Begehren transformieren. Wie im Falle des infantilen
Spracherwerbs arbeitet die Mutter daraufhin, die Sprache und das Wissen zu einem
Gegenstand puerilen Verlangens zu machen. Die mütterliche Instanz der Vorsehung
suspendiert den unmittelbaren Eingriff des Gesetzes, um die Wissensbegierde des
Sünders anzuregen und auf die Gegenstände des Glaubens zu lenken. Die Mutter ist
diejenige, die Augustinus im Kindesalter mit den Inhalten des christlichen Glaubens
vertraut macht. 117 Sie ist aber auch dafür verantwortlich, daß Augustinus nicht schon
als Kind getauft und nicht bereits als Jüngling verheiratet wird." 8 Sie bewirkt jenen
Aufschub, der dem Begehren zwar zunächst die Zügel lockert (»mihi quasi laxata
[sunt] lora peccandi«), 119 der aber dadurch auch die Möglichkeit eröffnet, daß der
Sünder sich Gott schließlich nicht aus Furcht vor Strafe oder aus bloßem Gesetzes-
gehorsam, sondern in aufrichtiger Liebe zuwendet.
Dieser Aufschub ist zugleich der Aufschub der Schrift - die differance,no die das
Vernehmen der göttlichen Wahrheit an die Entzifferung äußerer Zeichen koppelt;
die den Sünder dazu nötigt, das Heil auf dem Umweg über die litterae, die Bücher
und Schriften, zu suchen. Die Mutter selbst ist ein solches Zeichen: zeichenhafte
Abschattung der göttlichen Präsenz, die sich durch sie auf indirekte Weise zum
Ausdruck bringt und nach Entzifferung verlangt. Dadurch, daß die Vorsehung sich
in eine >weibliche<, mütterliche Hülle kleidet, kommt sie dem Sünder entgegen und
stellt sich auf ihn ein. Doch in dem Maße, in dem sie sich dem Sünder annähert,
entfernt sie sich auch von ihm, da sie ihr wahres >männliches< Wesen verbirgt. Sie
offenbart sich ihm in der mittelbaren Gestalt von Zeichen. An die Stelle der direk-
ten göttlichen Einsprache tritt die reduzierte Präsenz der litterae, die den Sünder
(ver-)führen, ohne daß dieser es bemerkt. Das verborgene Wirken der Vorsehung
zielt darauf ab, den Sünder zum Leser zu machen.

116 Ebd. II.3.8.


"7 Ebd. 1.11.17.
118 Zum durch die Mutter veranlaßten Aufschub derTaufe vgl. ebd. 1.11.17f.
119 Ebd. 1.11.18.
120 Vgl. J . Derrida: Difßrance. In: ders.: Marges de la philosophie. Paris 1972. S. 1 - 2 9 .
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 463

4. Traumbotschaften und philosophische Bücher: Erste Schritte


auf dem Weg zum >richtigen< Lesen (Buch III und IV)

Erziehung zum Lesen; Erziehung durch Lesen

Augustinus präsentiert in den Confessiones zwei unterschiedliche Formen der sprach-


lichen Unterweisung, denen konträre pädagogische Konzepte zugrunde liegen. Auf
der einen Seite steht die sanfte Pädagogik des mütterlichen Sprachunterrichts: Die
Mutter tritt nicht offen als Lehrende in Erscheinung, vielmehr verschleiert sie ihre
pädagogische Führungstätigkeit. Sie geriert sich als passive Hörerin. Eben dadurch
vermag sie ihren Schüler anzuleiten; eben dadurch bestimmt sie sein Begehren und
erregt seinen Wissensdrang. Auf der anderen Seite steht die harte Pädagogik, die
im schulischen Grammatikunterricht zur Geltung kommt. Der Grammatiklehrer
akzentuiert seine erzieherische Führungsrolle und tritt als Autoritätsfigur auf. Er
vermittelt ein vorgegebenes Wissenspensum, ohne auf die Neigungen seiner Schüler
Rücksicht zu nehmen, und operiert dabei mit den Mitteln des Zwangs, des Verbots
und der Strafe.
Diese beiden Modelle sind nicht nur von kulturhistorischem Interesse, weil sie
einen Einblick in die Mechanismen spätantiker und frühchristlicher Sozialisation
gewähren. 121 Sie sind auch für die narrative Struktur der Lebensgeschichte von
Bedeutung, die der Autobiograph in den Confessiones präsentiert. Denn Augusti-
nus beschreibt den Weg, der ihn zur Annahme der Heilswahrheit führt, als einen
Erziehungsprozeß. Gott wendet sich in Form der partikularen Vorsehung dem indi-
viduellen Sünder zu. Er ist der Lehrer, der persönlich dafür sorgt, daß der Erwählte
schließlich in den Besitz des für sein Seelenheil maßgeblichen Wissens gelangt. Das
pädagogische Modell, an dem sich die Providenz zu diesem Zweck orientiert, ist
dasjenige des mütterlichen Sprachunterrichts. Gott agiert in den Confessiones nicht
wie ein strafender Schullehrer. Anstatt seine Autorität zu exponieren, verbirgt er
seine pädagogische Führung. An den lebensgeschichtlichen Wendepunkten, die sein
Wirken in besonderem Maße geltend machen, tritt er nie unmittelbar in Erschei-
nung. Er vermeidet es, seinen Willen direkt und für alle vernehmbar kundzugeben.
Wie die mütterliche Sprachlehrerin verschleiert er seine Präsenz, um den Zögling
durch seinen eigenen Willen anzuleiten. Die Vorsehung spricht in den Confessiones
immer nur durch die Vermittlung anderer. Auch bei diesen anderen handelt es sich
zumeist nicht um autoritäre Vaterfiguren, sondern um unauffällige, unaufdringliche
Gestalten, die den Sünder dadurch belehren, daß sie ihm den Eindruck vermitteln,
er belehre sich selbst.

121
Vgl. dazu die einschlägige Studie von H.-I. Marrou: Augustinus und das Ende der antiken
Bildung; vgl. des weiteren Ilsetraut Hadot: Erziehung und Bildung bei Augustin. In: Inter-
nationales Symposion über den Stand der Augustinus-Forschung. Hg. von Cornelius Mayer
und Karl Heinz Chelius. Würzburg 1989. S. 9 9 - 1 3 0 .
464 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Gott spricht mithin auf sanfte, indirekte Weise zu Augustinus. Er nimmt sich als
Lehrer so weit wie möglich zurück. Der Inbegriff einer solchen indirekten, reduzier-
ten Präsenz ist das Medium Schrift. Gott läßt sich gegenüber dem Sünder durch die
Schrift vertreten. Tatsächlich werden alle bedeutenden Entwicklungsschritte in der
Lebensgeschichte Augustins — einschließlich der Konversion — durch Lektüreerleb-
nisse ausgelöst. Nicht Gott selbst, auch nicht seine menschlichen Repräsentanten,
die Ratgeber, Seelsorger und Prediger, sondern die Bücher rufen die entscheidenden
Veränderungen in seinem Leben hervor. Die Vorsehung wirkt durch Bücher auf
den Sünder ein, und zwar durch eine Vielzahl unterschiedlicher Werke und lite-
rarischer Darstellungsformen, angefangen bei den heidnischen Klassikern, die den
Gegenstand des Literaturunterrichts bilden, über die Werke der Philosophie, denen
Augustinus als junger Mann begegnet, bis hin zu den Schriften des Alten und Neuen
Testaments, mit denen er sich in verschiedenen Lebensphasen mit wechselndem
Erfolg auseinandersetzt. Die providentielle Führung ist beides: eine Erziehung
durch das Lesen, die sich der Bücher als eines pädagogischen Instruments bedient,
um den Zögling auf sanfte Weise zu dirigieren, und eine Erziehung zum Lesen, die
dem Zögling den richtigen Umgang mit der Schrift und die geeigneten Gegenstände
der Lektüre vermitteln will. Diese providentielle Leser-Erziehung findet konsequen-
terweise in einem durch Lektüre ausgelösten Bekehrungserlebnis ihren vorläufigen
Abschluß, ehe sie — in den letzten drei Büchern der Confessiones — in einen exegeti-
schen Kommentar einmündet, der dem Autobiographen die Gelegenheit bietet, die
erworbenen hermeneutischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Im exegetischen
Teil der Confessiones demonstriert Augustinus die >richtige< Art zu lesen, die ihn die
Vorsehung durch ihre Technik indirekter Unterweisung gelehrt hat: ein Lesen, das
auf den Prinzipien der karitativen Hermeneutik der Mit-Teilung beruht.
Symptomatisch für das Procedere der Vorsehung ist eine Episode, von der Augu-
stinus im dritten Buch der Confessiones berichtet. Darin schildert der Autobiograph,
wie er als neunzehnjähriger Student in Karthargo den Irrlehren des Manichäismus
auf den Leim gegangen ist. Doch selbst in dieser Phase schwerster häretischer Aber-
ration steht ihm Gott zur Seite. Er läßt Augustinus einen Bescheid - ein »responsum«
— zukommen, um ihm zu signalisieren, daß er trotz seiner Irrtümer weiterhin der
providentiellen Führung unterliegt. 122 Bezeichnenderweise empfängt Augustinus die-
ses responsum nicht unmittelbar aus göttlicher Hand, sondern durch die Vermittlung
seiner Mutter. Die Mutter tritt zwischen Gott und Augustin ins Mittel, und zwar
auf zweierlei Weise. Zunächst wird ihr durch eine Traumvision die Versicherung
zuteil, daß ihr Sohn den Irrlehren des Manichäismus entkommen wird. Monnica
erzählt Augustinus nicht nur den Inhalt ihres Traums; sie betätigt sich ihm gegenüber
darüber hinaus als Traumdeuterin. 123

122 Confessiones 111.12.21.


123 Ebd. III. 11.19f.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 465

Der zweite Bescheid, den die Mutter an ihren Sohn weiterleitet, hat eine kom-
plexere Struktur. In ihrer Verzweiflung über die häretischen Ansichten Augustins
wendet sich Monnica an einen kirchlichen Würdenträger. Sie bittet einen Bischof,
mit ihrem Sohn ein seelsorgerisches Gespräch zu führen, um seine Ansichten zu
widerlegen und ihn von der wahren christlichen Lehre zu überzeugen. Doch der
Bischof ist nicht dazu bereit, sich auf eine direkte Auseinandersetzung mit dem
jungen Häretiker einzulassen. Er hält es für wenig sinnvoll, den Hitzkopf durch
ernsthafte Ermahnungen und vernünftiges Dozieren von seinen Irrtümern abbrin-
gen zu wollen. Vielmehr vertraut er darauf, daß Augustinus mit der Zeit durch sein
eigenes Studium und durch selbständige Lektüre zur Einsicht in die Verkehrtheit
seiner Ansichten gelangen werde: »ipse legendo reperiet, quis ille sit error et quanta
impietas«.124 Er will den jungen Mann sich selbst und dem Wirken der Vorsehung
überlassen. Monnica versucht zunächst, den Bischof durch Weinen und Bitten um-
zustimmen, doch dessen Bemerkung, daß ein Sohn solcher Tränen (»filius istarum
lacrimarum«) unmöglich dem Verderben geweiht sein könne, bewegt sie schließlich
dazu, seinen Ratschlag als göttliches responsum anzuerkennen. Sie behandelt die
bischöfliche Rede nun so, als wäre sie geradewegs vom Himmel her erklungen (»si
de caelo sonuisset«), und leitet sie an ihren Sohn weiter.125
Der göttliche Bescheid besteht also paradoxerweise darin, daß Gott dem Sünder
einen direkten Bescheid vorenthält. Weder Gott selbst noch sein irdischer Sach-
walter sehen sich zu einer unmittelbaren Intervention veranlaßt. Wiederum wird
Augustinus die direkte Begegnung mit einer väterlichen Autoritätsfigur erspart. An
die Stelle der väterlichen Ermahnung treten zum einen die mütterlichen Mittler-
dienste, zum anderen aber die Bücher, deren sorgfältiges Studium den jungen Mann
zu wahren Einsichten führen soll. Die göttliche Vaterinstanz verzichtet auf die
unmittelbare Manifestation ihrer Macht und verbirgt sich statt dessen hinter den
mütterlich kodierten Schriftzeichen, die dem Sünder die Möglichkeit eröffnen, sich
der Wahrheit aus eigenem Antrieb anzunähern. Dadurch, daß sich die Vorsehung
zurückzieht und ihre Präsenz auf die eines (Schrift-)Zeichens reduziert, motiviert
sie den Sünder dazu, als Hermeneut und Leser tätig zu werden. Sowohl im Falle
des mütterlichen Traums als auch im Falle der bischöflichen Ermahnung verweist
das göttliche responsum auf die Notwendigkeit der Deutung und der Lektüre. Weil
der göttliche Lehrer sich dabei so sehr zurücknimmt, besteht jedoch zugleich auch
die Gefahr, daß der Schüler ihn ganz übersieht oder >überliest<. Der Sünder, der
nicht durch väterliche Lehren, sondern durch sein eigenes Studium in den Besitz
von Kenntnissen gelangt, steht in der Versuchung, dieses Wissen seiner individu-
ellen Geistestätigkeit zuzuschreiben. Die indirekte Vorgehensweise der Providenz
impliziert mithin die Möglichkeit einer spezifischen Form von Fehllektüre. Dabei

,24
Ebd. III. 12.21.
125
Ebd.
466 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

faßt der Leser die Zeichen nicht als Ausdruck eines personalen göttlichen Willens
(einer göttlichen Intention), sondern als Verweis auf abstrakte, intelligible Gehalte
auf. Er übersieht die voluntative Dimension des Diskurses, in der sich der infantile
Ursprung der Sprache zur Geltung bringt. Mittels der indirekten Methode kann
es der Vorsehung somit zwar gelingen, den Sünder durch sein eigenes Begehren zu
fuhren, sie leistet aber gleichzeitig seiner intellektuellen Hybris Vorschub. Sie erzieht
den Sünder zunächst zum Philosophen, der von der Autonomie seiner Geisteskräfte
überzeugt ist.

D i e Lektüre des ciceronianischen Hortensius:


Ein frühes Konversionserlebnis?

Die Ambivalenz, die den litterae als Instrument der providentiellen Führung zu
eigen ist, kennzeichnet auch die erste bedeutende lebensgeschichtliche Zäsur, von
der Augustinus in den Confessiones berichtet. Dieser Einschnitt wird — wie sollte es
anders sein — durch ein Lektüreerlebnis markiert. Im Rahmen seines Rhetorikstu-
diums begegnet Augustinus einem Werk des römischen Rhetors und Staatsmanns
Marcus Tullius Cicero, das eine überwältigende Wirkung auf ihn ausübt. 126 Die
Tatsache, daß die Vorsehung sich im säkularen Kontext des Rhetorikunterrichts
bemerkbar macht und zu diesem Zweck das Buch eines heidnischen Schriftstellers
instrumentalisiert, ist charakteristisch für ihre indirekte Vorgehensweise. Allerdings
handelt es sich bei dem in Frage stehenden Werk nicht um eine der rhetorischen
Abhandlungen Ciceros oder um eine seiner viel bewunderten Reden, sondern um
einen Text mit dem Titel Hortensius, eine Werbeschrift für die Philosophie, die sich
am Muster des aristotelischen Protreptikos orientiert. 127
Im Hortensius fordert Cicero seine Leser dazu auf, der göttlichen Herkunft ihrer
Seele zu gedenken und ihr Glück in den unvergänglichen Gütern des Geistes und
der Erkenntnis, nicht aber in materiellem Reichtum und sinnlichen Genüssen zu
suchen.128 Der Text ist eine exhortatio zur kontemplativen Lebensweise, die dem Ideal
der sapientia verpflichtet ist. Dieser Appell, so behauptet Augustinus zunächst, hat
sein Leben von Grund auf verändert:
Ille vero liber mutavit affectum m e u m et ad te ipsum, domine, mutavit preces meas et vota
ac desideria mea fecit alia. Viluit mihi repente omnis vana spes et immortalitatem sapientiae
concupiscebam aestu cordis incredibili et surgere coeperam, ut ad te redirem. [...] Q u o m o d o
ardebam, deus meus, quomodo ardebam revolare a terrenis ad te, et nesciebam quid ageres

126
Zu Augustinus Cicero-Rezeption vgl. Maurice Testard: Saint Augustin et Ciceron. 2 Bde.
Paris 1958. Die biographischen und kulturgeschichtlichen Hintergründe der augustinischen
Hortensius-Lektüre beleuchtet Testard ebd. Bd. 1: Ciciron dans la formation et dans l'aeuvre
de Saint Augustin. S. 2 0 - 3 5 .
127
Von Ciceros Hortensius haben sich nur Fragmente erhalten.
128
Dies läßt sich dem Zitat aus dem Hortensius entnehmen, das Augustinus in De trinitate
anführt. Vgl. De trinitate XIV. 19.26.
Die Confessiones als Paradigma der christliehen Selbsthermeneutik 467

mecum! Apud te est enim sapientia. Amor autem sapientiae nomen graecum habet philoso-
phiam, quo me accendebant illae litterae.129

Um die Bedeutung herauszustreichen, die der Hortensias für seinen spirituellen


Werdegang besitzt, spielt der Autobiograph auf das biblische Gleichnis vom verlo-
renen Sohn an:130 Augustinus hat in dem Moment, in dem ihm Ciceros Schrift in
die Hände fällt, den absoluten Tiefpunkt seiner Existenz, den Punkt größter Got-
tesferne erreicht. Wie der Sohn in der biblischen Parabel sein Vaterhaus verlassen
hat, um sein Erbe zu verprassen, so hat sich der junge Augustinus von Gott abge-
wandt, um seine Begabung als Student der Rhetorik an unwürdige Gegenstände
zu verschwenden, und wie der verlorene Sohn in der Fremde schließlich Hunger
und Entbehrung erleiden muß, so wird auch der junge Augustinus von einem un-
erträglichen inneren Hunger gepeinigt, den er durch sein unzüchtiges Liebestreiben
zu betäuben sucht. 13 ' Die Begegnung mit dem Hortensias scheint einen radikalen
Umschwung zu bewirken: Von nun an entfernt sich Augustinus nicht mehr von
seinem göttlichen Vater, sondern er kehrt zurück. Mit der Cicero-Lektüre beginnt
der lange, mühselige Heimweg, der den jungen Sünder am Ende wieder mit Gott
vereinigen soll. Während der verlorene Sohn der Parabel den Entschluß zur Heim-
kehr von selbst faßt, wird er im Falle des jungen Augustinus durch das Wirken der
Vorsehung ausgelöst - eben vermittels der ciceronianischen exhortatio. Freilich ist
der Auslöser für diese Umkehr keine väterliche Strafpredigt, die dem Abtrünnigen
mit den Qualen der Verdammnis droht. Vielmehr verbirgt sich die Vorsehung vor
dem Sünder und kommt ihm zugleich so weit wie möglich entgegen. Um den
Studenten der Rhetorik in seiner Gottesferne zu erreichen, leiht sie sich die Stim-
me des bedeutendsten heidnischen Redners. Sie bewegt ihn zur Umkehr — nicht
dadurch, daß sie sich ihm offenbart und seine Furcht erregt, sondern dadurch, daß

129 Confessiones III.4.7f. (»Es war dieses Buch, das meinen Sinn veränderte, gerade dir, Herr,
meine Gebete zukehrte und mein Wünschen und Verlangen andere werden ließ. Plötzlich war
all meine eitle Erwartung für mich ohne Wert, und mit unglaublicher Inbrunst begehrte ich
nach der unsterblichen Weisheit; ich begann mich aufzurichten, um zu dir zurückzukehren.
[...] Wie brannte ich, mein Gott, wie brannte ich darauf, vom Irdischen fort wieder zu dir
zu eilen, selbst ohne zu wissen, was du mit mir vorhattest! Denn bei dir ist die Weisheit. Die
Liebe zur Weisheit aber heißt auf griechisch >Philosophie<; sie war es, zu der jene Schrift meine
Begeisterung entzündete.«).
130 Der Ausdruck »surgere coeperam« ist ein Echo auf Lk 15.18—20 (»Surgam et ibo ad patrem
meam«; »et surgens venit ad patrem suum«). Vgl. Robert J. O'Connell: Images o f Conversion
in St. Augustine's Confessions. New York 1996. S. 37f. - Jill Robbins deutet das narrative
Schema, das der Parabel vom verlorenen Sohn zugrunde liegt, als strukturbestimmend für den
Typus der Konversionsgeschichte, insbesondere aber für die narratio der Confessiones. Vgl. J.
Robbins: Prodigal Son / Elder Brother. S. 21—48. Auch Susanne Lüdemann weist der Parabel
eine Modellfunktion für die augustinische Bekehrungsgeschichte zu. Vgl. S. Lüdemann:
Mythos und Selbstdarstellung. S. 3 3 - 4 6 .
131 Vgl. Confessiones III. 1.1: »Quaerebam quid amarem, amans amare, et oderam securitatem
et viam sine muscipulis, quoniam famis mihi erat intus ab interiore cibo, te ipso, deus meus,
et ea fame non esuriebam«.
468 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik ties gefallenen Willens

sie sein Verlangen entfacht und auf einen neuen Gegenstand lenkt. 132 Der junge
Augustinus, der von einem unerklärlichen Hunger getrieben wurde, weiß nach der
Lektüre des Hortensius nun endlich, welche Speise er wirklich begehrt. Der Horten-
sius gibt seinem Hunger einen Namen; er bestimmt sein Begehren: Die Weisheit ist
es, auf die sein Verlangen gerichtet ist. Die Lektüre des Hortensius begründet eine
neue Sehnsucht nach Wissen und Erkenntnis - eine neue Sehnsucht, die zugleich
eine alte, ursprüngliche ist, denn sie verweist auf die Urszene des mütterlichen
Sprachunterrichts, an deren Muster sich die Providenz bei ihrer pädagogischen
Führungsarbeit orientiert.
Die Plötzlichkeit, mit der Augustinus aus seinen sündhaften Lebensgewohnheiten
herausgerissen wird, der tiefgreifende Wandel, der seine Psyche zu erfassen scheint,
der dadurch erzeugte Eindruck einer lebensgeschichtlichen Zäsur, die eine klare
Unterscheidung zwischen Vorher und Nachher, zwischen altem und neuem Selbst
erlaubt, der Rückgriff auf das narrative Schema der Parabel vom verlorenen Sohn:
Alle diese Merkmale verleihen der Hortensius-Lektüre das Ansehen eines Konversi-
onserlebnisses. Die meisten Interpreten der Confessiones zögern denn auch nicht, den
Terminus in diesem Zusammenhang anzuwenden. In seiner religionsgeschichtlichen
Studie über das Erfahrungsmuster der Konversion führt A. D. Nock Augustins Hor-
tensius-hekiÜK als Beispiel für eine »conversion to philosophy« an.133 Auch Pierre
Courcelle spricht von einer »conversion ä la philosophic«.134 Kurt Flasch bezeichnet
das Ereignis als »Augustins erste >Bekehrung<«, Peter Brown registriert »a profound
change in his life: [...] his first religious >conversion<«.135 Brian Stock schließlich
geht so weit, Augustins Cicero-Lektüre zum Symbol der Konversion schlechthin
- »a new symbol of conversion« - zu erheben.136 Alle genannten Autoren deuten die
Lektüre des Hortensius mithin als einen lebensgeschichtlichen Wendepunkt, der die
Transformation des Lesers zur Folge hat. Der Hortensius macht Augustinus demnach
nicht bloß mit dem philosophischen Denken vertraut, er veranlaßt ihn auch dazu,
philosophisch zu leben und zu handeln: »it is a new type of reading experience,
which leads him to adopt philosophy as a way of life in a manner that combines
ascetic and contemplative values.«137
Der Autobiograph selbst ist in seinem Urteil freilich sehr viel vorsichtiger als
seine modernen Interpreten. Er nimmt den griechischen Ausdruck philosophia

132 R. J. O'Connell weist auf die erotische Färbung hin, die Augustinus seiner Darstellung der
Hortensius-Lektüie verleiht: »It is remarkable to see how much sexual coloration Augustine
contributes to his account of a philosophical book which impressed him at the age of nineteen.«
(Images of Conversion in St. Augustine's Confessions. S. 34.).
133 A. D. Nock: Conversion. S. 184.
134 P. Courcelle: Recherches sur les Confessions de Saint Augustin. Paris 1950. S. 58.
135 K. Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken. S. 19; P. Brown: Augustine of Hippo.
S. 39.
136 B. Stock: Augustine the Reader. S. 39.
137 Ebd. S. 37.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 469

beim Wort. Die Hinwendung zur Philosophie bedeutet für ihn nicht gleich die
Realisierung einer neuen Lebensform, sondern die Erweckung einer philia, einer
Liebe. Inwieweit sich diese neue Liebe auf die Lebenspraxis auswirkt, ist eine Frage,
die offen bleibt. Mehr noch: Der Autobiograph hegt plötzlich Zweifel an der Kraft
des Verlangens, das durch das Lektüreerlebnis hervorgerufen wurde. Nachdem er
die Begegnung mit dem Hortensius zunächst mit allen Insignien der Konversion
versehen hat, revidiert er seine Einschätzung und zeichnet ein differenzierteres Bild
des Vorfalls. Ciceros Text, so erklärt er nun, hat ihn zwar verändert, aber er hat ihn
nicht wirklich verwandelt: »non me to tum rapiebat.«138 Der Text vermochte den
jungen Sünder nicht ganz für sich einzunehmen. Das Verlangen nach der sapientia,
das er in ihm hervorrief, war folglich nicht stark genug, um seinem Leben eine neue
Richtung zu geben.
Diese Korrektur, der Augustinus seine Deutung der Lektüreerfahrung unterzieht,
findet an späterer Stelle ihre Bestätigung. Im sechsten Buch der Confessiones blickt
der Erzähler auf den dreißigjährigen Augustinus zurück und vergegenwärtigt sich,
wie dieser seinen bisherigen Lebensverlauf seinerseits Revue passieren läßt:
Et ego maxime mirabar satagens et recolens, quam longum tempus esset ab undevicensimo
anno aetatis meae, quo fervere coeperam studio sapientiae, disponens ea inventa relinquere
omnes vanarum cupiditatum spes inanes et insanias mendaces. Et ecce iam tricenariam aetatem
gerebam in eodem luto haesitans aviditate fruendi praesentibus fugientibus et dissipantibus
me, dum dico: >Cras inveniam; ecce manifestum apparebit et tenebo [...].<135

Im Rückblick auf sein Leben vermag der Dreißigjährige ein Ereignis wahrzunehmen,
dem eine herausragende Bedeutung zukommt: die Hortensius-Lektüre, die seine
Liebe zur Weisheit begründete. Sie markiert den Beginn seiner philosophischen
Studien; sie setzte seine intellektuellen Bemühungen in Gang, sich der sapientia
zu bemächtigen. Doch Augustinus muß feststellen, daß seine Begeisterung für die
Philosophie keinerlei Auswirkungen auf seinen Lebenswandel hatte. Trotz seiner phi-
losophischen Aspirationen ist er als Dreißigjähriger noch derselbe, den vergänglichen
Gütern verfallene Mensch, der er bereits als Neunzehnjähriger war. Noch immer
verfolgt er eine weltliche Karriere; noch immer beschäftigt er sich professionell mit
der Rhetorik (und zwar nicht mehr bloß als Student, sondern gar als erfolgreicher
Lehrer); noch immer führt er ein unzüchtiges Liebesleben. Die philosophischen
Studien, die er nebenbei betreibt, bleiben ohne Einfluß auf seine Begierden. Die

138
Confessiones III.4.8.
119
Ebd. VI.l 1.18. (»Ich war sehr verwundert, wenn ich in der Rückerinnerung daran dachte,
wieviel Zeit seit meinem neunzehnten Lebensjahr verstrichen war, als ich eine glühende
Begeisterung für die Weisheit zu empfinden begonnen hatte und mich entschloß, wenn ich
sie gefunden hätte, alle leeren Erwartungen nichtiger Begierden und die tollen Lügenwerke
aufzugeben. Doch siehe, dreißig Jahre war ich nun schon alt und steckte noch im selben
Schlamm, voll Gier, mich dem Genuß des Gegenwärtigen hinzugeben, das flüchtig an mir
vorüberzog und mir Zerstreuung gewährte, und dabei sagte ich mir: >Morgen werde ichs
finden; dann wird es sich deutlich zeigen, dann halte ichs fest [...]<.«).
470 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Sphäre des Wissens und der Erkenntnis scheint sich gegenüber der Sphäre des Wil-
lens verselbständigt zu haben. Das vermeintliche Konversionserlebnis hat diesen
Willen folglich nur unzureichend zu bestimmen vermocht. Zwar kann sich der
Dreißigjährige daran erinnern, daß die Hortensius-Lektüre ihn dazu veranlaßte,
eine Willensentscheidung zu treffen: die Entscheidung nämlich, sein Leben zu
ändern, sobald er die Weisheit gefunden habe. Doch diese Entscheidung kommt
dem Aufschub einer solchen gleich. Augustin entscheidet sich dazu, sich später zu
entscheiden. Sein Entschluß ist das Produkt eines schwachen, geteilten Willens.
Der Wille zum Wissen, den die Cicero-Lektüre dem jungen Augustin einflößt,
erweist sich als gebrochen.
Worauf ist diese unzulängliche Bestimmung des Willens zurückzuführen? Wa-
rum gelingt es dem Hortensius nicht, seinen Leser einer radikalen Umwandlung
zu unterziehen? Augustinus nennt mehrere Gründe dafür, daß die Cicero-Lektüre
in ihm nur ein gebrochenes Verlangen nach der göttlichen Weisheit erzeugt hat.
Einer dieser Gründe ist die skeptische Einstellung des römischen Philosophen, die
auch im Hortensius ihre Spuren hinterlassen hat. 140 Der Autobiograph deutet an,
daß Cicero selbst sich in seiner Schrift zu keiner definitiven Willensentscheidung
durchzuringen vermag. Der Verfasser des Hortensius stellt die ganze Bandbreite der
antiken Philosophenschulen und der von ihnen vertretenen Lehrmeinungen dar,
doch vermeidet er es, einer von ihnen den Vorzug zu geben. Cicero gehört somit
nicht zu denen, die durch die Philosophie zu verführen suchen (»qui seducant per
philosophiam«) und die ihre Irrtümer hinter diesem erhabenen Namen verbergen
(»magno et blando et honesto nomine colorantes et fucantes errores suos«).141 Der
verführerische Name der Philosophie verschleiert bei ihm somit zwar keine Irrtü-
mer, aber er steht auch nicht für eine konkrete inhaltliche Aussage. Cicero erkauft
sich die Vermeidung von Fehlern durch ein erhebliches Maß an Unbestimmtheit.
Er propagiert nicht diese oder jene spezifische Lehrmeinung (»non illam aut illam
sectam«), sondern das allgemeine Prinzip der Weisheit selbst (»sed ipsam [...] sa-
picntiam«). 142 Doch der Verzicht auf inhaltliche Festlegungen hat zur Folge, daß
das Ideal der Weisheit im Hortensius nur ein schemenhaftes und unverbindliches
Ansehen besitzt. Diese Unbestimmtheit eröffnet dem Leser zwar einen gewissen
Freiraum. Sie erlaubt es Augustinus etwa, die heidnisch-antike sapientia mit dem
christlichen Gott zu identifizieren. Sie ist folglich die Voraussetzung dafür, daß er
sein aberrantes Begehren auf Gott umzulenken vermag. Zugleich jedoch entleert sie
den Gottesnamen und schwächt somit das Verlangen nach ihm. Gott verflüchtigt
sich zu einem unpersönlichen, intellektuellen Prinzip, das keine wirkliche Liebe zu

140
Cicero war ein Anhänger der akademischen Skepsis, der auch Augustinus in einer bestimmten
Phase seiner spirituellen Entwicklung zuneigte. Vgl. Confessiones V.10.19.
141
Ebd. III.4.8.
142
Ebd.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 471

entzünden vermag. Die hehren Namen der sapientia und der philosophia scheinen
ihre verführerische Kraft also nur dann ganz entfalten zu können, wenn ihnen
konkrete Inhalte zugewiesen werden und sie auf diese Weise einen möglichst hohen
Grad an Bestimmtheit erlangen.
Der zweite Grund, den Augustinus für die mangelnde Wirkung des Hortensius
anführt, steht mit dem ersten in unmittelbarem Zusammenhang. Ciceros Schrift
vermochte ihn deshalb nicht ganz hinzureißen, so erklärt er, weil der Name Christi
in ihr nicht erwähnt wird: »nomen Christi non erat ibi«. 143 Im Gegensatz zu phi-
losophia und sapientia ist Christus ein Eigenname, der dem göttlichen Prinzip ein
persönliches Profil verleiht, der Gott sozusagen ein Gesicht gibt. Er ist folglich sehr
viel besser geeignet, das Begehren des Sünders zu bestimmen. Doch die affektive
Kraft, die dem Wort Christus innewohnt, beruht nicht allein darauf, daß es sich
dabei um einen Eigennamen handelt. Sie hat eine tiefere Ursache. Augustinus
schreibt dem Gottesnamen keine magischen Fähigkeiten zu, vielmehr präsentiert
er eine psychologische Erklärung. Der Name Christi verdankt seine Kraft der
Urszene mütterlicher Unterweisung: »hoc nomen salvatoris mei, filii tui, in ipso
adhuc lacte matris tenerum cor meum pie biberat et alte retinebat«.144 Augustins
Bekanntschaft mit dem Namen Christi geht auf seine früheste Kindheit zurück.
Das Erlernen dieses Namens ist untrennbar mit der liebevollen Fürsorge der
Mutter verbunden, die ihrem Sohn die Brust darreichte, um sein Verlangen zu
stillen. Die liebevolle Hinwendung Gottes zum Menschen, die in Christus, dem
fleischgewordenen Wort, ihren Ausdruck findet, die Liebe der Mutter zu ihrem
infans und ihre Liebe zum Gottessohn werden im mütterlichen Sprachunterricht
zusammengeführt und im Namen Christi zu einem Komplex gebündelt. Der Got-
tesname erhält dadurch tatsächlich ein Gesicht — das mütterliche Antlitz der Liebe,
welches das gesprochene Wort durch die Ursprache des mimischen Ausdrucks
ergänzt. Indem die Mutter ihrem Sohn den Namen Christi mit dem Ausdruck
der Liebe vorspricht und ihm zugleich die begehrte Nahrung darbietet, bestimmt
sie sein Verlangen. Er wird von nun an immer nach der Speise dieses Namens
hungern. Der Name Christi ist kein bloßes verbum, das auf eine res verweist; er
ist mehr als die Bezeichnung eines dinglichen Objekts oder eines intelligiblen
Gehalts. Durchtränkt vom Affekt der Liebe, vermag er auf Seiten des Hörers ein
Verlangen zu aktualisieren, das aus den tiefsten Schichten seiner Seele, aus dem
Innersten seines Herzens hervorbricht. Weil Cicero im Hortensius den Namen sa-
pientia anstelle des Namens Christi verwendet, ist ihm die Möglichkeit verwehrt,

143 Ebd.
144 Ebd. (»Diesen Namen, den Namen meines Erretters, deines Sohnes, hatte mein noch unge-
kräftigtes Herz schon mit der Muttermilch liebevoll in sich aufgenommen und tief im Innern
bewahrt«. [Ubersetzung modifiziert]).
472 Vom philcsophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

in das Herz seines Lesers Augustinus einzudringen und sein Verlangen nach G o t t
in voller Stärke zu erregen. 1 4 5
Augustinus kontrastiert den N a m e n Christi, den die M u t t e r in sein Herz gesenkt
hat, mit der Verführungskraft der >großen Namen<, die von Glanz umstrahlt sind
oder einen erhabenen, ehrwürdigen Klang besitzen. G r o ß ist der N a m e desjenigen,
der >sich einen N a m e n gemacht hat<, dessen »Name in aller M u n d e ist<, der Ansehen
und B e r ü h m t h e i t genießt. W ä h r e n d der N a m e Christi seine intensive W i r k u n g
dem intimen Zwiegespräch zwischen Mutter und K i n d verdankt, bezieht der große
N a m e seine Strahlkraft aus der preisenden Rede der Vielen, dem öffentlichen, nach
außen hin gerichteten Diskurs. D e r N a m e Christi ist ein >kleiner< Name; er kann
seine Herkunft aus der einfachen, primitiven Sprache der Kleinen nicht verleugnen,
a u f welche die M u t t e r zurückgreifen m u ß , um sich dem infans verständlich zu
machen. D e r große Name hingegen basiert auf der Publizität der Lobrede, die sich
von M u n d zu M u n d fortpflanzt. Sie bedient sich der Kunstmittel der Rhetorik, um
eine möglichst eindrückliche und breite W i r k u n g zu erzielen und die öffentliche
M e i n u n g für sich zu gewinnen.
Augustinus gibt zu verstehen, daß er als Student der Rhetorik für die verführe-
rische Kraft der großen Namen in besonderem M a ß e anfällig war. Im vierten Buch
der Confessiones präsentiert er ein instruktives Beispiel fiir diese Anfälligkeit. Er be-
richtet, daß er seinen literarischen Erstling, die Abhandlung Depulchro et apto, dem
römischen Redner Hierius widmete, einem Menschen, den er persönlich gar nicht
kannte, dem er vielmehr nur aufgrund seines hell erstrahlenden R u h m s zugetan war
(»[q]uem non noveram facie, sed amaveram h o m i n e m ex doctrinae fama, quae illi
clara erat«). 146 Zwar hatte er beiläufig auch das schriftstellerische Werk des Hierius
zur Kenntnis g e n o m m e n , doch m e h r als seine Schriften hatte ihn das Urteil der

145 Vgl. Jean-Pierre Schobinger: Augustins Einkehr als Wirkung seiner Lektüre. S. 82: Der
Mensch wächst auf »mit einem Herzen, das von Gott >weiß<. Und nur das, was mit diesem
Herzenswissen in Einklang steht oder auf es bezogen ist, vermag den Menschen einzufan-
gen und zu befriedigen. Alles andere Sprechen, mag es noch so gelehrt und geschliffen und
wahrhaftig sein, bleibt ihm eigentlich fremd. So ist der Zugang zum Herzenswissen Bedin-
gung und Maß für die echte, anhaltende Wirksamkeit von Rede.« Diese Beschreibung ist
zutreffend, doch muß Schobingers Deutung der Hortensius-Episode in zweierlei Hinsicht
widersprochen werden. Erstens bezeichnet er das »Herzenswissen« fälschlicherweise als ein
Wissen, das »der Mensch von Geburt an in sich trägt« (ebd. S. 83), während Augustinus
doch deutlich macht, daß er dieses Wissen durch die Vermittlung der Mutter erhalten hat.
Schobinger sieht in der Assoziation, die Augustin zwischen dem Gottesnamen und der Mut-
termilch herstellt, eine bloße »Metapher« (ebd. S. 82); er reiht sich somit in die Phalanx jener
Interpreten ein, die die konstitutive Funktion der Mutter in den Confessiones >überlesen< oder
auszustreichen versuchen. Zweitens behauptet Schobinger, daß Ciceros Hortensius Augustins
»Herzenswissen« von Gott zu aktualisieren vermag. Das Gegenteil ist der Fall: Augustinus
führt die oberflächliche Wirkung, die der Hortensius bei ihm erzielt, darauf zurück, daß der
Name Christi darin fehlt und der Zugang zum Herzen deshalb gerade nicht eröffnet werden
kann.
146 Confessiones IV. 14.21.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 473

öffentlichen Meinung für ihn eingenommen.147 Er mochte ihn, weil ihn die anderen
mochten und er allerseits in den höchsten Tönen gelobt wurde. Nicht die Sache
selbst, nicht der Gegenstand des Lobs, sondern die preisende Rede der anderen und
der große Name hatten seine Zuneigung erregt, der jedoch aus eben diesem Grunde
keine lange Dauer beschieden war.
Die fehlerhafte Wirkung, die Ciceros Hortensias auf den jungen Sünder ausübt,
läßt sich aus augustinischer Sicht also auf zwei Ursachen zurückfuhren: Zum einen
hat Cicero es versäumt, darin ein aufrichtiges Bekenntnis seiner philosophischen Ge-
sinnungen abzulegen. Anstatt sich auf einen klaren Standpunkt festzulegen, verharrt
Cicero in skeptischer Unentschiedenheit. Zum anderen vertraut er auf die Strahl-
kraft großer Namen. An die Stelle einer spezifischen Doktrin setzt er das erhabene
Ideal der sapientia - einen klangvollen, verführerischen Namen, der aber nicht mit
konkreten Inhalten gefüllt wird. Der Verfasser des Hortensius kann auf diese Weise
nicht glaubhaft machen, daß er die unbedingte Liebe zur Weisheit selbst empfindet,
zu der er seine Leser aufruft. Dementsprechend ambivalent fällt die Begeisterung
aus, die der Text in seinem Leser Augustinus entzündet. Die Unentschiedenheit des
Verfassers überträgt sich auf den Rezipienten. Dieser entscheidet sich zwar spontan
dazu, sein Leben in den Dienst der Weisheit zu stellen, doch er beschließt zugleich,
die praktischen Konsequenzen, die sich daraus für seine Lebensführung ergeben,
erst später zu ziehen. Der junge Augustinus - so lautet der Tenor der retrospekti-
ven Selbstkritik, die der Autobiograph artikuliert — macht es sich im auratischen
Dunstkreis des großen Namens und in der damit verbundenen Unentschiedenheit
bequem. Sie erlaubt es ihm, sich mit den erhabenen Gegenständen der Philosophie
zu beschäftigen, ohne sein Leben danach auszurichten. Der Hortensius bestimmt sein
Begehren, aber er bestimmt es nur halb. Er führt zu einer Spaltung des Willens; er
hat zur Folge, daß der Wille zum Wissen sich vom sinnlichen Verlangen abkoppelt.
Ciceros Schrift weckt in Augustinus eine Sehnsucht nach Gott, insofern Gott als
Weisheit, als intellektuelles Prinzip und als Gegenstand der Erkenntnis verstanden
wird. Sie läßt jedoch eine tiefere Gottessehnsucht unbefriedigt, die auf Gott als
Herzenspräsenz, als inkarniertes Wort und als Sohn einer menschlichen Mutter
gerichtet ist.

Cicero als Leselehrer: Die Technik des >Uberlesens<

Die Liebe zur Weisheit, die durch den Hortensius ausgelöst wird, hat für den jun-
gen Sünder zwei unmittelbare Konsequenzen. Auf der Suche nach der sapientia
wendet sich Augustinus zunächst der Heiligen Schrift zu, denn sie enthält, was
dem Hortensius fehlt — den Namen Christi: »Itaque institui animum intendere in

147 Ebd.: »[QJuaedam verba eius audieram, et placuerant mihi. Sed magis, quia placebat aliis et
eum efferebant laudibus stupentes«.
474 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

scripturas sanctas et videre, quales essent.« 148 Von der Bibel erhofft sich Augustinus,
daß sie seinen philosophischen Wissenstrieb und zugleich auch jene tiefere, müt-
terlich kodierte Sehnsucht befriedigt. Als Folge seiner Begegnung mit dem Hor-
tensius beschäftigt er sich also erstmals selbständig und ernsthaft mit der Heiligen
Schrift. Doch dieses Bibelstudium führt zu einer großen Enttäuschung. Der für
die Philosophie Begeisterte kann darin nicht finden, wonach er sucht. Die Schrift
erschließt ihm nicht die Quelle der Weisheit, sie erscheint ihm vielmehr banal und
oberflächlich. In seinen Augen mangelt es ihr an philosophischem Gehalt, weshalb
sie dem Vergleich mit der erhabenen Würde des Hortensius nicht standzuhalten
vermag: »visa est mihi indigna, quam Tullianae dignitati compararem.« 149 Der
Autobiograph entlarvt diese Ansicht in seiner retrospektiven Analyse als einen
verhängnisvollen Irrtum: Wenn der junge Sünder die Weisheit der Schrift nicht zu
erfassen vermag, dann deshalb, weil er durch seinen Hochmut geblendet ist. Das
unscheinbare Außere der Bibel täuscht ihn, denn er vermutet Großes nur dort,
wo große Namen und erhabene Begriffe verwendet werden. Der junge Augustinus
schließt von der einfachen, dem Fassungsvermögen der >Kleinen< angepaßten Spra-
che der Schrift auf einen ebenso geringfügigen Sinngehalt und übersieht somit ihre
verborgene, geheimnisvoll verschleierte Wahrheit - »rem non compertam superbis
neque nudatam pueris, sed incessu humilem, successu excelsam et velatam myste-
riis«. 150 Nicht die Schrift ist oberflächlich, sondern der frisch gebackene Philosoph,
denn er erweist sich als außerstande, ihre Oberfläche auf tiefere Bedeutungsschich-
ten hin zu durchdringen. Er tritt mit der falschen Erwartung an die Bibel heran,
daß sie ihm ihre Bedeutung unmittelbar preisgibt. Doch diese kann sich dem Leser
nur sukzessive, in einem langen, mühsamen Prozeß der Entzifferung erschließen.
Der junge Augustinus ist durch den Hortensius also nur schlecht auf die Lektüre
der Schrift vorbereitet. Er ist noch nicht dazu fähig, die Bibel zu lesen. Überhaupt
sind seine hermeneutischen Fertigkeiten nur unzureichend ausgebildet. Diese Un-
fähigkeit, verborgene Motive zu entziffern, macht ihn verwundbar — insbesondere
für häretische Anfechtungen aller Art. Sie trägt mithin dazu bei, daß die zweite
Konsequenz, die sich aus der Hortetisius-lxkxütt ergibt, auch tatsächlich eintritt:
Nach dem gescheiterten Bibelstudium erliegt Augustinus der manichäischen Irr-
lehre. Betörend wirkt auf ihn vor allem, daß die Manichäer die Namen des drei-
faltigen Gottes - Gottvater, Christus und den Parakleten - beständig im Munde
führen. Dabei übersieht er jedoch, daß sie nicht zugleich auch im Herzen haben,
wovon sie unaufhörlich sprechen. 151 Die Attraktivität, die der Manichäismus für

148 Confessiones III. 5.9.


149 Ebd.
150 Ebd. (»[E]twas, das Überheblichen unzugänglich ist und Unreifen verborgen bleibt, das beim
Eingang gering, beim Fortgang erhaben und geheimnisvoll verhüllt erscheint«.).
151 Vgl. ebd. III.6.10: »Haec nomina non recedebant de ore eorum, sed tenus sono et strepitu
linguae; ceterum cor inane veri.«
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 475

ihn besitzt, ist eine doppelte: Im Unterschied zu Cicero benutzen die Manichäer
den N a m e n des christlichen Gottes; im Unterschied zur Bibel verkünden sie eine
Lehre, die philosophischen Ansprüchen gerecht zu werden scheint. D e r junge Au-
gustinus entdeckt in den manichäischen Schriften, was er in der Bibel vergeblich
suchte: eine tiefsinnige philosophische Welterklärung, die sich nicht hinter einer
primitiven Sprache verbirgt, sondern sich offen als solche deklariert. 1 5 2 In den
manichäischen Abhandlungen zur Kosmogonie, zum Wesen Gottes und zur N a t u r
des Bösen werden die höchsten Dinge in einer diesen entsprechenden sprachlichen
Form verhandelt. Mit den erhabenen Begriffen und großspurigen Erklärungen, die
in den Reden und Werken der Manichäer in kopiöser Fülle paradieren, hofft der
junge Augustinus seinen Wahrheitshunger stillen zu können: » O Veritas, Veritas,
q u a m intime etiam tum medullae animi suspirabant tibi, cum te illi sonarent mihi
frequenter et multipliciter voce sola et libris multis et ingentibus!« 1 5 3
Wie Augustins Bibelstudium und seine Hinwendung zum Manichäismus zeigen,
programmiert die Begegnung mit dem Hortensius nicht nur ein gebrochenes Verlan-
gen nach der sapientia, sondern auch eine spezifische, defizitäre Praxis der Lektüre.
Der an Ciceros Text geschulte Leser orientiert sich zum einen am Glanz der großen
N a m e n und hehren Begriffe, die er als Garanten für Tiefsinn und philosophischen
Gehalt ansieht. Z u m anderen verlangt er, daß sich ihm dieser Gehalt möglichst
unmittelbar erschließt. Er betrachtet die verba als Zeichen, die direkt auf die res,
die intelligiblen Gehalte, verweisen u n d daher keiner umständlichen Arbeit der
Entzifferung unterworfen werden müssen. Dieses schnelle, unmittelbare Erfassen
des Sinns ist ja auch charakteristisch für die Hortensius-Lektüre selbst. Der Autobi-
ograph berichtet in diesem Fall von keinerlei Hindernissen oder Schwierigkeiten,
die dem Verständnis des Textes entgegenstehen. Die Metaphern des Entflammens
und Erglühens, die er bei seiner Schilderung des Lektüreerlebnisses gebraucht,
suggerieren vielmehr, daß der Text sich unmittelbar in geistige Wirkung umsetzt. 1 5 4
»[W]e have a conversion by means of a book«, so kommentiert Brian Stock den
Vorgang, »in which there is a designated reader but no reading in the accepted sense.
It is as if Augustine were not >reading< but was struck in a manner that activated his
heart and his m i n d form within.« 1 5 5 Der Text scheint sich in inneres Verstehen zu
verwandeln, ohne daß es von Seiten des Lesers irgendeiner hermeneutischen An-

'52 Vgl. K. Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken. S. 30: »Der Manichäismus wollte
ein Christentum sein, das sich an die Denkenden wendet. Er wollte durch philosophischen
Tiefsinn, nicht durch Autorität überzeugen.«
153 Confessiones III.6.10. (»Wahrheit, Wahrheit — wie sehnsuchtsvoll seufzte ich damals schon
tief in meinem Inneren nach dir, als jene Leute mir häufig und auf mannigfaltige Weise mit
bloßem Wortgeklingel und vielen großmächtigen Büchern von dir laut tönend kündeten!«
[Übersetzung modifiziert]).
154 Vgl. dazu auch J.-P. Schobinger: Augustins Einkehr als Wirkung seiner Lektüre. S. 83.
155 B. Stock: Augustine the Reader. S. 39.
476 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

strengung bedürfte. Dieser direkte Zugriff bewegt Stock zu der Annahme, daß die
Ursache für die >Konversion< nicht in dem äußeren Text, sondern in einer göttlichen
Erleuchtung zu suchen ist: Gott selbst und nicht das Buch wirkt demnach auf die
Psyche Augustins ein; das Buch ist nur der äußere Anlaß oder gar das bloße Symbol
für die direkte Intervention der Vorsehung. 156
Doch die Deutung Stocks ist verfehlt; allzu sehr steht sie im Banne des Konver-
sionsschemas. Die Pointe des Hortensius-¥,Atbmssts besteht gerade darin, daß die
Vorsehung nicht unmittelbar in das Heilsgeschehen eingreift, sondern sich durch
ein Buch vertreten läßt. Das Buch ermöglicht es der Providenz, den Erwählten auf
indirekte und sanfte Weise zu seinem Heil zu fuhren. Augustinus schildert in der
Hortensius-Episode kein Erleuchtungserlebnis. Vielmehr beschreibt er eine spezifi-
sche, als defizitär markierte Praxis der Lektüre — eine Lektüre, die der locutio keine
große Aufmerksamkeit schenkt und sich nicht mit der Betrachtung der verba aufhal-
ten, sondern möglichst schnell zu den bezeichneten res übergehen will (»neque mihi
locutionem, sed quod loquebatur persuaserat«, so charakterisiert Augustinus seinen
Umgang mit dem Hortensius);157 eine Lektüre, die trotz dieser zur Schau getragenen
Verachtung für das Rhetorische auf große Namen und Begriffe als Bedeutungsträger
fixiert ist; eine Lektüre schließlich, die sich durch eine unbeschwerte Leichtigkeit
auszeichnet, das heißt: die Schwierigkeiten und Zweideutigkeiten schlichtweg über-
geht, so daß sich der Leser seiner Deutungsarbeit nicht bewußt wird. Als Rezipient
des Hortensius versucht Augustinus, die verba auf das Intelligible hin zu überspringen
- er >überliest< , anstatt zu lesen.
Diese Art und Weise, mit einem Text zu verfahren, stellt bei ihm keine Ausnah-
me dar, verweist also nicht auf die herausragende Erfahrung der Illumination. Sie
ist vielmehr typisch für das Lektüreverhalten, das der Protagonist der Confessiones
in einer bestimmten Phase seiner spirituellen Entwicklung an den Tag legt. Auf
ganz ähnliche Weise liest er nämlich die Bibel, die Bücher der Manichäer sowie die
vielen philosophischen, mathematischen und ästhetischen Schriften, die er auf der
Suche nach der Weisheit durchforstet. Die Aristoteles-Lektüre, von der Augustinus
im vierten Buch der Confessiones berichtet, ist dafür ein schlagendes Beispiel. Im
Rückblick erscheint dem Autobiographen der Wert dieser Lektüre zweifelhaft. »Et
quid mihi proderat,« so fragt er sich,
quod annos natus ferme viginti, cum in manus meas venissent Aristotelica quaedam, quas
appellant decern categorias - quarum nomine, cum eas rhetor Carthiginiensis, magister meus,

156
Vgl. ebd.: »Reading is not a cause of conversion, it is a new symbol of conversion. [...] It is
tempting to think that just as it was not a literal reading that converted him [sc. Augustine],
it was not the content of the text either.« - Ahnlich argumentiert auch Schobinger: Seiner
Ansicht nach geht der eigentliche Ruf bei der Hortensius-Lektüre nicht von außen, vom
gelesenen Text, aus, sondern von innen — als innere Erleuchtung und als »Ruf des Herzens«
(Augustins Einkehr als Wirkung seiner Lektüre. S. 83).
157
Confessiones III.4.7.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 477

buccis typho crepantibus commemoraret et alii qui docti habebantur, tamquam in nescio quid
magnum et divinum suspensus inhiabam - legi eas solus et intellexi?158

Wiederum ist es der große Name, der den jungen Mann zur Lektüre verleitet. Das
Lob, das sein Lehrer und gebildete Menschen dem Werk des Aristoteles spenden,
motiviert ihn dazu, sich mit dem Text zu beschäftigen. Doch die Lektüre selbst
erfolgt ohne fremde Anleitung und ohne pädagogische Aufsicht. Der Autobiograph
hebt hervor, daß der junge Mann den Text für sich alleine liest — er muß keinerlei
Hilfe von außen in Anspruch nehmen, um sich ein Verständnis des Werks zu er-
arbeiten. >Erarbeiten< ist der falsche Ausdruck, denn der Autobiograph führt aus,
daß dem Leser das Verständnis mühelos und wie von selbst in den Schoß fällt. Erst
später, im Gespräch mit anderen, wird ihm überhaupt klar, daß es sich bei der Kate-
gorienschrift um ein außerordentlich schwieriges Werk handelt. Von diesen anderen
erfährt er nämlich, daß sie dem Text nur durch ein langwieriges, gründliches Studi-
um einen Sinn abzugewinnen vermochten, wobei sie zudem auf die Unterstützung
von Lehrern angewiesen waren. 159 Der mühsame Prozeß der Entzifferung, durch
den die anderen zur Einsicht in das Kategorienwerk gelangten, kontrastiert mit
dem blitzartigen Erfassen, das die einsame Lektüre Augustins charakterisiert. Wie
im Nu scheint er das Nacheinander der Sprachzeichen durchlaufen und auf ihren
intelligiblen Gehalt hin überstiegen zu haben.
Diese ungewöhnliche geistige Leistung ist für den Autobiographen jedoch kein
Anlaß zur Selbstzufriedenheit, sondern Gegenstand der Kritik. Der junge Augustinus
hat zu gut verstanden, zu leicht und zu schnell erfaßt. Eine Lektüre, welche die verba
wie im Flug durcheilt, um sich der ungehinderten Betrachtung der res zuwenden zu
können, gilt ihm als gefährlich und einseitig. Erstens nämlich schützt das schnelle
geistige Erfassen den Leser nicht vor dem Irrtum. Im Gegenteil, es verleitet ihn
dazu, Wichtiges zu übersehen. Der junge Augustinus etwa meint die aristotelische
Kategorienlehre begriffen zu haben, stellt aber nach Ansicht des Autobiographen sein
fundamentales Mißverstehen dadurch unter Beweis, daß er die Kategorien auf Gott
anzuwenden sucht, auf den sie aber nicht angewendet werden können, da Gott ein
unendliches Wesen ist, eine geistige Substanz ohne jedes Akzidens.160
Zweitens leistet diese Form der Lektüre dem Hochmut des Sünders Vorschub.
Der junge Augustinus erfaßt den Bedeutungsgehalt des Textes so schnell, daß er
nicht wahrnimmt, woher ihm sein Verstehen kommt. Der Autobiograph veran-

158
Ebd. IV.16.28. (»Was nützte es mir schon, daß ich mit etwa zwanzig Jahren, als mir eine
Schrift des Aristoteles mit dem Titel >Die zehn Kategorien« — schon aufgrund ihres großen
Namens, da mein Rhetoriklehrer in Karthargo und andere, die für gelehrt galten, sie mit
stolzgeblähten Backen anzuführen pflegten, war ich darauf gespannt wie auf wer weiß etwas
Großes und Göttliches — in die Hände fiel, sie ganz allein las und verstand?« [Ubersetzung
modifiziert]).
155
Ebd.
160
Ebd. IV. 16.29.
478 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

schaulicht dies mit Hilfe eines visuellen Vergleichs: Der Leser sieht die Dinge in ei-
nem hellen Licht, wendet aber der Lichtquelle seinen Rücken zu, ist also dafür blind,
daß das Licht von woanders herstammt und nicht von ihm selbst.161 Er schreibt das
Verstehen sich selbst als geistige Leistung zu, anstatt Gott dafür zu danken, der sein
eigentlicher Urheber ist. Diese Lektüre ist mithin das Gegenteil einer Erleuchtung,
denn sie rückt die göttliche Lichtquelle aus dem Blickfeld des Lesers. Sie verleitet ihn
dazu, sich gegenüber dem Text und seinen Mitmenschen für autark zu halten.
Das hat schließlich drittens zur Folge, daß der Leser seine karitativen Pflichten
vernachlässigt. Der junge Augustinus ist ein einsamer Leser, der sein durch die Lek-
türe gewonnenes Verständnis für sich behält. Er verzichtet bei seinem Textstudium
auf fremde Hilfe, sieht aber zugleich auch keinerlei Veranlassung dafür, anderen bei
ihren Bemühungen um Textverständnis behilflich zu sein. Auf diese Weise eignet
er sich etwas an, was ihm nicht gehört, sofern er es nämlich für sich allein bean-
sprucht; etwas, was man — wie Augustinus im Prolog zu De doctrina christiana erklärt
- tatsächlich nur dadurch besitzen kann, daß man es weitergibt. Der Autobiograph
vergleicht den jungen Aristoteles-Leser mit dem verlorenen Sohn aus der biblischen
Parabel, der sich sein Erbteil auszahlen läßt, um es ganz in seiner eigenen Gewalt zu
haben (»tarn bonam partem substantiae meae sategi habere in potestate«), der es aber
eben deshalb in der Fremde verliert.162 Der philosophische Leser verliert sein Erbe
und verliert sich ans Fremde, weil er auf seinem Eigentum beharrt. Er müßte teilen,
um zu besitzen; er müßte seine Lektüre auf die anderen hin öffnen.

Mütterlicher Unterricht im close reading


Die Begegnung mit Ciceros Hortensius ruft bei Augustinus also nicht bloß eine Liebe
zur sapientia hervor, sie hat darüber hinaus zur Folge, daß der junge Sünder sich als
einsamer Leser betätigt und dabei ein spezifisches Lektüreverfahren zur Anwendung
bringt. Doch wie das Begehren nach Wahrheit, das durch den Hortensius entfacht
wird, sich als unbestimmt und gebrochen erweist, so ist auch das Lektüreverfahren,
dessen sich der Wahrheitssuchende bedient, mit einer Reihe von Mängeln behaf-
tet, die ihn daran hindern, sich des Gegenstands seiner Begierde zu versichern. Es
markiert eine notwendige, aber gefährliche Phase seiner spirituellen Entwicklung,
die ja zugleich eine durch die Vorsehung gesteuerte Erziehung zum richtigen Lesen
ist. Der Hortensius richtet das Verlangen des jungen Sünders erstmals auf geistige
Gegenstände aus, doch zugleich befördert er seinen intellektuellen Hochmut. Er
macht aus Augustinus einen eigenmächtigen Leser, für den die Lektüre ein Mittel
darstellt, sich von fremder Bevormundung zu befreien und das Wissen für sich selbst
in Beschlag zu nehmen.

161
Ebd. IV. 16.30.
162
Ebd.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 479

Es ist kennzeichnend für die indirekte, schonende Vorgehensweise der Pro-


videnz, daß der Hochmut des jungen Lesers nicht durch die Intervention einer
väterlichen Autoritätsperson, sondern durch das Wirken der Mutter einen ersten
Dämpfer erhält. Die Mutter erteilt ihrem Sohn eine Lektion, die ihm die Grenzen
seiner hermeneutischen Fähigkeiten aufzeigt. Den Anlaß dafür bietet der bereits
angesprochene Traum, der Monnica in ihrer Hoffnung bestärkt, daß Augustinus
den Fängen des Manichäismus entrissen werden kann. Monnica erzählt ihrem
Sohn von diesem Traum, woraufhin sich eine Kontroverse über seine Deutung
entspinnt. Schon diese Kontroverse - die aus der Mitteilung erwachsende, gemein-
sam unternommene Lektüre des Traumtextes - bildet einen Kontrapunkt zu der
solitären Lektürepraxis des jungen Sünders. Der Traum selbst nimmt eben diese
Praxis ins Visier. Sein Inhalt ist schnell erzählt: Die Träumende sieht sich, traurig
sinnierend, auf einem hölzernen Richtscheid stehen. Ein strahlender junger Mann
tritt an sie heran und fragt sie nach der Ursache ihrer Trauer. Monnica informiert
ihn über den verderblichen Seelenzustand ihres Sohnes. Der junge Mann tröstet
sie und fordert sie dazu auf, genauer hinzuschauen, denn dann werde sie sehen,
daß sich dort, wo sie sei, auch ihr Sohn befinde: »[admonuit] ut attenderet et
videret, ubi esset ilia, ibi esse et me.« 163 Monnica folgt dieser Anweisung und
vermag tatsächlich ihren Sohn zu erblicken, wie er an ihrer Seite auf demselben
Richtscheid steht.
Die Aufforderung zum genauen Hinsehen hat einen doppelten Adressaten.
Sie richtet sich zum einen an die Hauptfigur des Traums, an die Mutter, die im
Traum dazu gebracht werden soll, den Sohn an ihrer Seite zu erkennen. Z u m
anderen richtet sie sich aber auch an den externen Betrachter des Traums, an den
Traunideuter. Sie ermahnt den Interpreten dazu, den Trauminhalt einer sorgfältigen
Betrachtung zu unterziehen. Der Traum selbst enthält mithin die Anweisung zu
einer gründlichen, genauen Lektüre. Bezeichnenderweise wird diese Anweisung
vom jungen Augustinus überlesen. Sie ist nicht das einzige Element des Traumes,
das er bei seinem Deutungsversuch übersieht. Augustinus will mit dem Traum so
umgehen, wie er es gewohnt ist, seine philosophischen Bücher zu lesen. Daher
versäumt er es, genau hinzusehen. Unmittelbar nachdem seine Mutter ihm ihren
Traum erzählt hat, wartet er mit einer Deutung auf. Wie im Falle des Hortensius
oder der aristotelischen Kategorienschrift wird der Text unverzüglich in Sinn um-
gewandelt. Die Kernaussage des Traums lautet demnach: Monnica möge sich mit
der Aussicht trösten, daß auch sie bald das sein werde, was ihr Sohn bereits sei, das
heißt: auch sie werde zum Manichäismus übertreten und dann mit Augustinus
wieder vereint sein.
Monnica läßt sich durch das selbstsichere Gebaren ihres Sohnes nicht einschüch-
tern. Um seine Deutung zu widerlegen, verweist sie auf die Rede, die der Engel im

163
Ebd. III. 11.19.
480 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Traum an sie richtete: »Non [...] enim mihi dictum est: ubi ille, ibi et tu, sed: ubi tu,
ibi et ille.«164 Im Unterschied zu Augustinus, der sich mit seiner Interpretation nur
ungefähr am zentralen Bild des Traumes orientiert, achtet Monnica auf den exakten
Wortlaut der Traumrede. Sie behandelt den Traum wie einen Text, bei dem es auf
jedes Wort ankommt, ihr Sohn jedoch reduziert den Traum auf ein Bild, das sich wie
von selbst versteht. Der Sohn favorisiert ein platonisches Lesen, das unmittelbar auf
ein geistiges Sehen der res hinführt.' 65 Die Mutter liest, der Sohn hingegen schaut
und übersieht dabei vieles, ja er übersieht das Wesentliche. Augustins Traumdeutung
ist Ausdruck seines Hochmuts und seiner Selbstverliebtheit. Während der Traum
der Mutter die Priorität einräumt (wo sie jetzt schon ist, wird auch ihr Sohn später
sein), reklamiert er wie selbstverständlich die Vorrangstelle für sich: Es ist ja nur
>natürlich<, daß die Frau dem Mann, die unwissende Mutter dem hoch gebildeten
Sohn Folge zu leisten hat. Insofern wählt Augustinus die naheliegende Deutung (der
Autobiograph versieht sie mit dem Attribut »vicina«), er entscheidet sich für das,
was auf der Hand liegt.
Doch die naheliegende Deutung ist eine falsche Deutung. 166 Die dem Prinzip des
>Überlesens< gehorchende Lektüre ignoriert die Schlüsselposition, die der Traum der
Mutter zuweist. Wie so viele >männliche< Leser - darunter auch viele moderne Inter-
preten der Confessiones - übersieht der junge Augustinus die Funktion der Mutter.
Ihre Funktion besteht darin, zwischen der göttlichen Vorsehung und dem jungen
Sünder zu vermitteln und diesen somit auf sanfte Weise zu führen. Vermittelnd wirkt
sie in diesem Falle dadurch, daß sie ihrem Sohn die wahre Bedeutung des Traums
aufschließt und ihm somit eine hermeneutische Lektion erteilt. Die ungebildete
Mutter, die ihre rudimentären Kenntnisse dem Gottesdienst und der priesterlichen
Seelsorge zu verdanken hat, bringt ihrem rhetorisch versierten, literarisch bewander-
ten und philosophisch geschulten Sohn das richtige Lesen bei: Eben dieses Paradox
ist ein Bestandteil der Lektion, die dem jungen Mann erteilt wird. Die Mutter lehrt
Augustinus, wie wichtig es ist, sorgfältig hinzuschauen und genau zu lesen. Sie weist
ihn daraufhin, daß Gott nicht nur durch die auffälligen Gesten, die großen Namen
und erhabenen Begriffe spricht, sondern auch und gerade durch kleine, unscheinbare
Zeichen, die man leicht übersehen kann — unauffällige Zeichen, wie sie die Mutter
selbst in ihrer Rede verwendet, wie sie sich aber vor allem auch in der Bibel finden.
Sie versucht ihm klar zu machen, daß der geistige Gehalt des Geschriebenen nicht
durch intuitives >Überlesen<, nicht durch blitzartige Erleuchtung erfaßt werden
kann, daß seine Entschlüsselung vielmehr eine beharrliche Aufmerksamkeit auf die

164
Ebd. III. 11.20.
165
Z u m Zusammenhang von Visualität und Lektüre bei Piaton vgl. Kapitel III. 1 dieser Arbeit.
166
Vgl. Confessiones III. 11.20: Die aufmerksame Mutter (»matrem vigilantem«) läßt sich durch
die naheliegende, aber falsche Deutung nicht verwirren (»tarn vicina interpretationis falsitate
turbata non est«).
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 481

vermeintliche Textoberfläche, auf jedes noch so klein erscheinende verbale Zeichen


erfordert.
Im Gegensatz zum Hortensius-Erlebnis führt diese mütterliche Lektion bei Au-
gustinus zu keinem plötzlichen Meinungsumschwung. Ihre Wirkung ist weniger
spektakulär, aber nachhaltiger. Der Autobiograph jedenfalls bekennt, daß nicht der
Traum selbst, sondern die Tatsache, daß seine Mutter ihn richtig zu deuten vermoch-
te, einen tiefen Eindruck in seiner Seele hinterließ. 167 Es scheint Monnica mithin
gelungen zu sein, das hermeneutische Bewußtsein ihres Sohnes zu wecken.

5. S t u m m e Lektüre u n d spirituelle Schau:


Das gefährliche Beispiel des A m b r o s i u s (Buch V - V I I )

Ambrosius - eine >väterliche< oder eine >mütterliche< Lehrerfigur?

Der Autobiograph schildert die geistige Entwicklung, die Augustinus in den ersten
29 Jahren seines Lebens durchläuft, als einen mehr oder weniger kontinuierlichen
Prozeß. Zwar macht er eine Reihe von Wandlungen durch — der Liebhaber der Rhe-
torik etwa begeistert sich plötzlich für die Sache der Philosophie, der Sohn katholi-
scher Eltern schließt sich mit einem Male der gnostischen Sekte des Manichäismus
an. Doch folgt er bei diesen vermeintlichen Umschwüngen immer nur ein und
demselben ihn unbewußt antreibenden Verlangen, das ihm in frühester Kindheit
eingepflanzt wurde: dem Verlangen nach der Wahrheit, das an den Namen Christi
gekoppelt ist. Der spirituelle Werdegang Augustins untersteht einer providentiellen
Führung. Diese Führung tritt aber nie direkt - als väterlich strafende Instanz - in
Erscheinung. Die Vorsehung wirkt vielmehr im Verborgenen; sie leitet Augustinus
durch sein eigenes Begehren an. Der allmächtige und allwissende Vatergott, der das
Heilsgeschehen steuert, läßt sich durch mütterliche Agenten vertreten. Die Mutter,
die ihrem Sohn während dieser 29 Jahre fast immer zur Seite steht, ist die Garantin
dafür, daß Augustinus - trotz seiner Irrtümer und Fehltritte — seinem ursprünglichen
Verlangen treu bleibt. Sie verbürgt die Kontinuität seiner Entwicklung; sie vermittelt
zwischen der göttlichen Vaterinstanz und dem irregeleiteten Sohn; sie trägt dafür
Sorge, daß der Wille Gottes in das Begehren Augustins Eingang findet.
Die sanfte Pädagogik der Vorsehung scheint im 29. Lebensjahr des Protagoni-
sten jedoch ein abruptes Ende zu finden. Augustinus berichtet im fünften Buch
der Confessiones von einer lebensgeschichtlichen Zäsur, die erstmals nicht durch das
vermittelnde Wirken der Mutter abgemildert wird: Der junge Professor der Rhetorik
verläßt seine afrikanische Heimat, um zunächst in Rom, später dann in Mailand sein
Glück zu versuchen. Indem er Afrika den Rücken kehrt, macht er sich zugleich von

1<i7 Ebd.
482 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

seiner Mutter los. Der Autobiograph akzentuiert den Bruch mit der Mutter dadurch,
daß er die Abschiedsszene nach dem Muster der Vergilschen Aeneis gestaltet.168 Wie
sich Aeneas heimlich aus Karthargo entfernt, um der Liebe Didos zu entgehen und
seine göttliche Bestimmung zu erfüllen, so besteigt auch Augustinus ohne das Wissen
seiner Mutter das Schiff, das ihn nach Italien bringen soll: Er will vermeiden, daß
sie ihn von seinem Vorhaben abbringt oder ihn gar begleitet. 169 In beiden Fällen
steht die heimliche Abreise im Zeichen des Wunsches, sich von weiblicher Einfluß-
nahme zu befreien; bei beiden bedeutet die Fahrt nach Italien eine Rückkehr in den
väterlichen Einflußbereich. Aeneas gehorcht dabei einem Befehl des Göttervaters
Jupiter. Nach seiner Ankunft in Italien begegnet er auf einer Hades-Fahrt seinem
Vater Anchises. Augustinus findet im Mailänder Bischof Ambrosius eine spirituelle
Vatergestalt, einen väterlichen Ratgeber und Lehrer.
Das Verlassen der afrikanischen Heimat scheint also mit einem pädagogischen
Paradigmenwechsel verbunden zu sein. Die Vorsehung umhegt ihren Schützling
von nun an offenbar nicht mehr mit mütterlicher Fürsorge, sondern tritt ihm mit
väterlicher Strenge entgegen. An die Stelle der sanften mütterlichen Führung tritt
die patriarchalische Autorität des angesehenen Kirchenfürsten: »Suscepit me paterne
ille homo dei et peregrinationem meam satis episcopaliter dilexit«, so beschreibt Au-
gustinus den Empfang, den Ambrosius dem jungen Rhetorik-Professor in Mailand
bereitet.170 Nachdem der Neunundzwanzigjährige sich von seiner Mutter gelöst hat,
scheint die Vorsehung aus ihrer Verbergung hervortreten zu können. Sie spricht dem
jungen Sünder gegenüber nun Klartext. Der Bischof konfrontiert ihn unmittelbar
mit der Wahrheit der christlichen Doktrin. Wurde Augustinus bislang unwissentlich
durch die Providenz und ihre mütterlichen Agenten geleitet, so untersteht er nun,
nach seiner Begegnung mit Ambrosius, einer väterlichen Führung, die sich offen als
solche zu erkennen gibt und ihm daher auch erstmals bewußt wird: »Ad eum autem
ducebar abs te nesciens, ut per eum ad te sciens ducerer.«171

168 Vgl. Vergil: Aeneis IV.393ff. — Zu den Vergil-Bezügen im fünften Buch der Confessiones vgl. K.
Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken. 5. 245f. — Charles Kligerman (A Psychoanalytic
Study of the Confessions of St. Augustine. In: The Hunger of the Heart: Reflections on the
Confessions o f Augustine. Edited by Donald Capps and James E. Dittes. Washington D C
1990. S. 9 5 - 1 0 8 , hier: S. 104) bezeichnet Augustins heimliche Abreise als »almost a direct
re-enactment of the Aeneas and Dido legend which had so preoccupied him in boyhood«.
Skeptisch äußert sich hingegen Albert Raffelt (Confessiones 5: >Pie quaerer< - Augustins
Weg der Wahrheitssuche. In: Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und
Interpretationen zu den dreizehn Büchern. Hg. von Norbert Fischer und Cornelius Mayer.
Freiburg i. Br., Basel, Wien, Barcelona, Rom, New York 1998. S. 1 9 9 - 2 4 0 , hier: S. 220) - er
sieht »keine >Parallele< zwischen den Erzählungen«, geht dabei aber von einer positivistisch
verengten Vorstellung dessen aus, was eine >Parallele< darstellt: »Das Textmaterial der Confes-
siones, das sonst an vielen Stellen Bezüge zu Vergil hat, ist gerade hier frei davon.«
Confessiones V.8.15.
170 Ebd. V. 13.23.
171 Ebd.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 483

Augustinus inszeniert seine Übersiedlung nach Italien als einen biographischen


Wendepunkt - als Befreiung von mütterlichen Bindungen und als Eintritt in die
Sphäre väterlicher Autorität. Er erweckt zunächst den Eindruck, daß er in Ambrosius
einen strengen Lehrer gefunden habe, der seine Irrtümer schonungslos aufdeckt und
ihm klare Anweisungen erteilt. Doch sobald der Autobiograph sich daran begibt,
sein Verhältnis zum Mailänder Bischof genauer unter die Lupe nehmen, wird dieser
anfängliche Eindruck korrigiert. Ambrosius verhält sich dem jungen Mann gegenü-
ber keineswegs wie eine Ehrfurcht gebietende Autorität. Augustinus lernt ihn nicht
als den Lehrer der Wahrheit (»doctorem veri«) kennen, sondern als einen Menschen,
der sich ihm mit Wohlwollen zuwendet (»hominem benignum in me«).172 Der Bi-
schofkommt dem jungen Rhetor entgegen. Er behandelt ihn wie seinesgleichen und
nicht wie einen Irrgläubigen, den es mit aller Macht von der Wahrheit zu überzeugen
gilt. Ambrosius hat gar nicht die Absicht, Augustinus zu belehren, geschweige denn
zu bekehren. Eine unmittelbare Begegnung, bei der die beiden einander als Lehrer
und Schüler gegenübertreten, findet überhaupt nicht statt. Vielmehr betätigt sich
Augustinus als Lauscher und als Voyeur, der mit einer gewissen Neugier beobachtet,
wie der Bischof andere belehrt. Er ist zugegen, wenn Ambrosius predigt und das
einfache Volk unterrichtet: »studiose audiebam disputantem in populo«. 173 Dabei
richtet er seine Aufmerksamkeit aber nicht auf den Inhalt der bischöflichen Rede,
sondern auf ihre sprachliche Form. Er sieht in Ambrosius den Berufskollegen, den
professionellen Rhetor. Ihn interessiert die Frage, ob der Bischof dem guten Ruf
(»famae«) gerecht werden kann, den er als Redner besitzt.174
Wie im Falle der Hortensius- und der Aristoteles-Lektüre ist es also der Glanz des
Namens, der Augustinus dazu verleitet, sich mit der Rede des Bischofs zu beschäfti-
gen. Die Vorsehung instrumentalisiert die äußerliche Strahlkraft des Worts, um den
jungen Sünder mit der christlichen Botschaft bekannt zu machen:
Cum enim non satagerem discere quae dicebat, sed tantum quemadmodum dicebat audire [...]
veniebant in animum meum simul cum verbis, quae diligebam, res etiam, quas neglegebam;
neque enim ea dirimere poteram. Et dum cor aperirem ad excipiendum, quam diserte diceret,
pariter intrabat et quam vere diceret, gradatim quidem.175

Die Wahrheit, die Ambrosius den Adressaten seiner Rede vermitteln will, tritt in
die Seele des Lauschers ein, ohne daß er sich dessen bewußt wird. Augustinus hält
sich für einen neutralen Beobachter, der der Kommunikation zwischen dem Bischof

172
Ebd.
173
Ebd.
174
Ebd.
175
Ebd. V. 14.24. (»Denn obwohl mir nichts daran lag zu lernen, was er sagte, sondern nur
daran, zu vernehmen, wie er es sagte [...], kamen zugleich mit den Worten, die ich liebte,
auch die Inhalte, die ich unbeachtet ließ, in meinen Geist; denn ich konnte das eine nicht
von dem anderen trennen. Während ich mein Herz öffnete, um aufzunehmen, wie beredt
er sprach, fand ich zugleich auch Einlaß zu ihm, wie wahr er sprach, freilich erst nach und
nach.« [Übersetzung modifiziert]).
484 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

und dem Volk beiwohnt, aber selbst nicht daran teilnimmt. Doch gerade weil er sich
nicht als Zielscheibe der bischöflichen Unterweisung ansieht, finden die Argumente
Eingang in seinen Geist. Augustinus hat als Zeuge nicht das Gefühl, unmittelbar
angesprochen oder gar angegriffen zu werden. Daher baut er gegen die Argumente,
die Ambrosius vorbringt, keinerlei Abwehr auf. Folglich können sich die Ideen des
Bischofs in seinem Inneren festsetzen, ohne daß er gegen sie angeht. Augustinus
wird durch Ambrosius auf indirekte Weise belehrt. Wie er als infans den Namen
Christi unvermerkt mit der Muttermilch und den mütterlichen Koseworten in sein
Herz aufnahm, so dringt nun die Lehre des Bischofs unvermerkt mit den schönen
Worten seines Vortrags in sein Inneres ein. Ein offener Dialog findet nicht statt - ein
solcher würde Augustinus zu einer starrsinnigen Haltung provozieren; er würde das
Rededuell gewinnen wollen, anstatt sich vorbehaltlos der Wahrheit zu stellen. Ent-
gegen der Ankündigung des Autobiographien wird Augustinus durch den Bischof
also nicht wissentlich, sondern unwissentlich zur göttlichen Wahrheit geführt.
Er nähert sich ihr langsam an, ohne sich dessen bewußt zu sein: »propinquabam
sensim et nesciens.« 176 Die Vorsehung, die sich des Bischofs als Werkzeug bedient,
wirkt weiterhin im Verborgenen. Immer noch leitet sie Augustinus durch sein ei-
genes Verlangen an; immer noch sorgt sie dafür, daß die Wahrheit sein Begehren
infiltriert. Die Bekanntschaft mit Ambrosius markiert mithin keinen pädagogischen
Paradigmenwechsel. Der Bischof tritt nicht als Vaterfigur auf. Das paradoxe Zugleich
von gütigem Entgegenkommen und vorsichtiger Zurückhaltung, das seine Vorge-
hensweise kennzeichnet, erinnert vielmehr an den mütterlichen Sprachunterricht.
Auch in Mailand bewegt sich Augustinus im Einflußbereich einer mütterlichen
Pädagogik. Das wird dadurch unterstrichen, daß die Mutter schließlich nicht nur in
Gestalt eines pädagogischen Prinzips, sondern auch physisch präsent ist: Keine zwei
Jahre, nachdem Augustinus Afrika verlassen hat, folgt ihm Monnica nach. Sie läßt
sich in Mailand nieder, wo es ihr — im Gegensatz zu ihrem Sohn — aufgrund ihrer
vorbildlichen Frömmigkeit gelingt, die Aufmerksamkeit und die Bewunderung des
Bischofs zu erregen. 177 Sie stellt sich sozusagen zwischen Augustinus und Ambrosius
und übernimmt auf diese Weise eben jene Vermittlerrolle, die ihr die Vorsehung
immer schon zugewiesen hat.
Die indirekte Unterweisung, die der junge Lehrer der Rhetorik durch den
Mailänder Bischof erlangt, bleibt nicht ohne Wirkung. Hatte das Studium der
heidnischen Philosophie seine manichäischen Ansichten bereits geschwächt, 178 so
geraten diese unter dem Einfluß der ambrosianischen Predigten vollends ins Wan-
ken. Augustinus befindet sich nun in einer unangenehmen Schwellensituation: Er ist
kein Manichäer mehr, aber auch noch kein katholischer Christ. Er sieht ein, daß die

176 Ebd. V. 13.23.


177 Vgl. ebd. VI.2.2.
178 Vgl. ebd. V.3.3ff.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 485

manichäischen Dogmen haltlos sind, doch er ist von der Wahrheit der katholischen
Doktrin noch nicht restlos überzeugt. 179 In diesem Zustand schmerzhafter Unent-
schlossenheit empfindet Augustinus das Bedürfnis, in eine direkte Beziehung zu
Ambrosius einzutreten. Er meint, eine entschiedenere Führung zu benötigen, als sie
ihm bisher zuteil wurde. Augustinus will dem Bischof sein unruhiges Herz ausschüt-
ten, ihn mit seinen schwankenden Gesinnungen, seinen Hoffnungen und Ängsten
vertraut machen. Denn Ambrosius ahnt nichts von der schweren Glaubenskrise, in
der sich der junge Rhetor befindet. 180 Augustinus hegt insbesondere die Erwartung,
im Gespräch mit dem Bischof die offenen Fragen klären und die Zweifel ausräumen
zu können, die ihn weiterhin bedrängen. Doch auch jetzt, da er der christlichen
Lehre ein gutes Stück näher gekommen ist, läßt sich Ambrosius auf keine direkte
Aussprache mit ihm ein. Es gelingt Augustinus schlichtweg nicht, zu dem Bischof
vorzudringen, denn dieser ist fast immer von einer Schar von Menschen umringt,
die bei ihm Rat und Hilfe suchen. 181
Bei den Fragen, mit denen die Bittsteller den Bischof behelligen, handelt es sich
allerdings nicht, wie im Falle Augustins, um prinzipielle Wissens- und Glaubensfra-
gen, sondern um praktische Probleme. Der Bischof ist für die einfachen Menschen
mit ihren alltäglichen Sorgen und Nöten jederzeit ansprechbar. Was die Erörterung
spiritueller Grundsatzfragen anbetrifft, zeigt er sich hingegen zugeknöpft. Das be-
deutet nicht, daß er dem Spirituellen kein Interesse entgegenbringt. Im Gegenteil,
die spirituelle Vertiefung des christlichen Glaubens ist Ambrosius, wie aus seinen
Schriften deutlich hervorgeht, ein überaus wichtiges Anliegen.182 Seine Reserviertheit
ist eher darauf zurückzuführen, daß er fürchtet, das Geistige im zwischenmenschli-
chen Umgang zu profanieren. Laut Ambrosius erschließt sich das Spirituelle nur der
wortlosen Kontemplation, die ein jeder für sich selbst durchzuführen hat. Sie ist kein
geeigneter Gegenstand der verbalen Auseinandersetzung. Der Bischof ist offenbar auf
eine sorgfältige Trennung der Sphären bedacht: Er wendet sich seinen Mitchristen
unmittelbar zu, um ihnen praktische Hilfe zu leisten. In spirituellen Angelegenheiten
jedoch wahrt er ihnen gegenüber eine gewisse Distanz. Zum Gegenstand der Rede
wird das Spirituelle nur in der Predigt oder im geschriebenen theologischen Traktat,

179
Ebd. VI. 1.1.
180
Ebd. VI.3.3: »Nec ille sciebat aestus meos nec foveam periculi mei.«
,f
" Ebd. VI.3.3.
182
Ambrosius gilt als eine der herausragenden Gestalten des chrisdichen Neoplatonismus. Zum
einen stand er - durch die Vermittlung seines Lehrers Simplicianus - mit den neoplatonischen
Philosophenzirkeln Mailands und Roms in Verbindung. Zum anderen orientierte er sich in
seiner exegetischen Praxis an der dezidiert platonisch ausgerichteten Schriftauslegung der
alexandrinischen Schule (Philo von Alexandria, Origenes). Die Beziehungen des Ambrosius
zum philosophischen Neoplatonismus beleuchtet P. Courcelle: Recherches sur les Confessions
de Saint Augustin. S. 107-132. Die platonische Ausrichtung seiner exegetischen Schriften
arbeitet B. de Margerie heraus: Introduction ä l'histoire de l'exegese. Vol. 2: Les premiers grands
exegetes latins. Paris 1983. S. 99-143. Zur Philo- und Origenes-Rezeption des Ambrosius
vgl. auch P. Brown: Die Keuschheit der Engel. S. 355f.
486 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

nicht aber im persönlichen Gespräch. Ambrosius scheint den Bereich der intimen
spirituellen Erfahrung nach außen hin abschirmen zu wollen.
Der Autobiograph läßt durchblicken, daß er die vorsichtige Zurückhaltung, die
das Verhalten des Bischofs gegenüber dem jungen Rhetorikprofessor kennzeichnet,
für nicht ganz unberechtigt hält. Zwischen der manichäischen und der katholischen
Doktrin hin- und herschwankend, befindet sich Augustinus in einer Geistesverfas-
sung, die der Kontemplation und der inneren Einkehr wenig zuträglich ist: »Nec iam
ingemescebam orando, ut subvenires mihi, sed ad quaerendum intentus et ad disse-
rendum inquietus erat animus meus«.183 Er nähert sich dem religiösen Erfahrungs-
bereich mit philosophischen Erwartungen an. Augustinus will forschen, analysieren
und disputieren. Seine Absicht besteht darin, die Zweifel, von denen er befallen ist,
in philosophischer Manier zu beheben. Er ist davon überzeugt, daß die Unentschie-
denheit, die ihn lähmt, sich verflüchtigt, sobald er in den Besitz hinlänglich klarer
Einsichten gelangt. Augustinus gibt sich mit dem Glauben nicht zufrieden, vielmehr
strebt er nach Wissen, ja nach unumstößlicher Gewißheit: »Volebam enim eorum
quae non viderem ita me certum fieri, ut certus essem, quod Septem et tria decern
sint.«184 Die Glaubenskrise soll mit dialektischen Mitteln gelöst werden - durch
logische Analyse, im philosophischen Dialog mit einem Lehrer, dem Augustinus
überlegene Kenntnisse zuschreibt. Der junge Rhetor vertraut dabei ausschließlich auf
das menschliche Vernunftvermögen. Er betet nicht, er bittet Gott nicht um Hilfe,
sondern er verläßt sich ganz auf die Ratio — wenn nicht allein auf seine eigene, so
doch auf diejenige seines Lehrers. Augustinus steht somit in der Gefahr, sich einer
hochmütigen Anmaßung schuldig zu machen. Er ist in der täuschenden Vorstel-
lung befangen, daß sich die Wahrheiten der christlichen Religion ohne göttlichen
Beistand, ohne Einwirkung der Gnade aneignen lassen. Indem Ambrosius sich dem
Gespräch verweigert, wirkt er dieser Täuschung auf heilsame Weise entgegen. Er
hindert Augustinus daran, die spirituellen Geheimnisse des Glaubens in haarspalte-
rischen Erörterungen zu zerreden.
Doch die Zurückhaltung des Bischofs hat nicht nur diesen heilsamen, nützlichen
Aspekt. Sie besitzt zugleich auch eine schädliche Kehrseite, ja, sie erweist sich bei
näherer Betrachtung geradezu als kontraproduktiv. Der Autobiograph deutet an,
daß Ambrosius sich als pädagogische Führungsinstanz allzu sehr zurücknimmt.
Seine Verschlossenheit ist übertrieben. Die fragile Verbindung von liebevollem Ent-
gegenkommen und vorsichtiger Zurückhaltung, welche die mütterliche Pädagogik
charakterisiert, wird durch den Bischof aus dem Gleichgewicht gebracht. Seine
Reserviertheit geht auf Kosten seiner karitativen Zuwendung. Der junge Rhetori-

183
Confessiones VI.3.3. (»Auch seufzte ich noch nicht im Gebet, du mögest mir zur Hilfe
kommen; vielmehr war mein Geist unruhig darauf aus, die Probleme zu erforschen und im
Gespräch zu erörtern«.).
184
Ebd. VI.4.6. (»Ich verlangte nämlich vom Unsichtbaren die gleiche Gewißheit wie die, daß
sieben und drei zehn ist.«).
Die Confessiones ab Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 487

ker hat ja nicht allein die Absicht, Ambrosius in einen philosophischen Dialog zu
verwickeln. Vielmehr will er ihm zunächst einmal den zerrissenen Zustand seiner
Seele offenbaren, er möchte ihm gegenüber ein Bekenntnis ablegen. Ambrosius läßt
ein solches Bekenntnis aber nicht zu. Er nimmt Augustinus somit die Möglichkeit,
Einsicht in das ganze Ausmaß seiner Schwäche und Verdorbenheit zu gewinnen. Die
Zurückhaltung des Bischofs befördert den intellektuellen Hochmut des Wahrheits-
suchenden, anstatt ihn zu dämpfen.
Nicht weniger problematisch ist die Tatsache, daß Ambrosius den jungen Mann
über sein eigenes Seelenleben im Unklaren läßt. Augustinus hat, wie der Autobi-
ograph bemerkt, keine Ahnung von den inneren Kämpfen, die auch der Bischof
durchstehen muß, von den Versuchungen, denen er ausgesetzt ist, oder von den
geistigen Genüssen, die ihm durch Kontemplation zuteil werden. 185 Indem Am-
brosius über sein Inneres schweigt, weckt er in Augustinus diesbezüglich falsche
Vorstellungen. Das Hauptproblem, an dem Augustinus in seiner Mailänder Phase
laboriert, besteht ja darin, daß er nach intellektueller Gewißheit verlangt, anstatt
den Sprung in den Glauben zu wagen. Doch um den Glauben wachzurufen und
aufrechtzuerhalten, bedarf es nach Ansicht des Autobiographen einer liebevollen
Zuwendung, wie sie paradigmatisch durch die Menschwerdung Christi vorgeführt
wird. Dadurch, daß Ambrosius sein anfängliches Entgegenkommen revidiert und
sich schweigend in sein Inneres zurückzieht, bestärkt er Augustinus in seinem ein-
seitigen Wissensdrang. Er verweist ihn nicht auf den Glauben, sondern er setzt ihn
auf die falsche Fährte eines Wissens, das durch eine radikale Form der Innenschau,
durch die rigorose Abkehr von der Außenwelt und den Mitmenschen, zu erlangen
ist. Indem Ambrosius sich gegenüber Augustinus verschließt, beraubt er sich der
Möglichkeit, auf den Willen des jungen Mannes einzuwirken. Er befördert eine
Tendenz, die bereits im Anschluß an die Hortensius-Lektüre sichtbar wurde: die
Abkoppelung des Wissens vom moralischen Willen.
Die Lehre, die Ambrosius dem jungen Rhetoriker durch seine Zurückhaltung
erteilt, hat einen ambivalenten Charakter. Einerseits zügelt er auf diese Weise das
nach außen gerichtete Streben Augustins. Er veranlaßt ihn zur Selbsteinkehr und
lenkt seinen Blick auf die spirituellen Reichtümer, die in seinem eigenen Herzen
zu finden sind. Andererseits befördert er eine Form der Kontemplation, die den
Mitmenschen aus den Augen verliert und die somit ihrerseits zu einer Quelle
des Hochmuts werden kann. Ambrosius unternimmt den Versuch, inmitten
der menschlichen Gemeinschaft etwas von der eremitischen Daseinsweise der
Wüstenväter zu bewahren. Er kommt seinen karitativen Verpflichtungen zwar
nach, indem er predigt und praktische Hilfe leistet. Doch zugleich enthält er den
Menschen aufgrund seiner Verschlossenheit etwas Wesentliches vor, was sie in
ihrem Glauben bestärken könnte. Im Lektüreverhalten des Bischofs kommt der

185 Ebd. VI.3.3.


488 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

eremitische Aspekt seiner Lebensführung besonders klar zum Vorschein. Es ist dazu
angetan, die Aufmerksamkeit des jungen Rhetorikprofessors zu erregen. Das liegt
durchaus im Interesse der Vorsehung. Es gehört zu ihrem pädagogischen Kalkül,
den Wahrheitssuchenden auf indirekte Weise zu führen — durch Bücher und nicht
durch die unmittelbare Ansprache des Lehrers. Auch die Zurückhaltung des Mai-
länder Bischofs dient letztlich dem Zweck, Augustinus auf die Heilige Schrift als
die eigentliche Instanz christlicher Belehrung zu verweisen. Doch das Vorbild, das
Ambrosius als Leser der Schrift abgibt, ist ebenso zweideutig wie seine Weigerung,
dem Wahrheitssuchenden Einblick in seine Seele zu gewähren. Das tiefgründige
Bibelstudium des Bischofs stellt zwar ein heilsames Korrektiv für das oberflächliche
Leseverhalten des Rhetoriklehrers dar. Aber dadurch, daß Ambrosius der augusti-
nischen Neigung zur flüchtigen Lektüre entgegenwirkt, leistet er zugleich einer
anderen Form des >Überlesens< Vorschub.

D e r j u n g f r ä u l i c h e K ö r p e r des s t u m m e n Lesers

Der problematische Charakter des ambrosianischen Lektüreverhaltens bekundet sich


zunächst einmal durch eine vermeintliche Äußerlichkeit. Der Bischof liest, ohne von
seiner Stimme Gebrauch zu machen:
Sed cum legebat, oculi ducebantur per paginas et cor intellectum rimabatur, vox autem et lingua
quiescebant. Saepe cum adessemus - non enim vetabatur quisquam ingredi aut ei venientem
nuntiari mos erat — sic eum legentem vidimus tacite et aliter numquam sedentesque in diu-
turno silentio — quis enim tarn intento esse oneri auderet? — discedebamus et coniectabamus
eum parvo ipso tempore, quod reparandae menti suae nanciscebatur, feriatum ab strepitu
causarum alienarum nolle in aliud avocari et cavere fortasse, ne auditore suspenso et intento,
si qua obscurius posuisset ille quem legeret, etiam exponere esset necesse aut de aliquibus dif-
ficilioribus dissertare quaestionibus atque huic operi temporibus impensis minus quam vellet
voluminum evolveret, quamquam et causa servandae vocis, quae illi facillime obtundebatur,
poterat esse iustior tacite legendi.186

Augustinus wird durch den Mailänder Bischof erstmals mit dem Phänomen der
stummen Lektüre konfrontiert. Die Tatsache, daß Ambrosius während des Lesens

186 Ebd. VI.3.3. (»Wenn er aber las, glitten seine Augen über die Seiten, und sein Herz drang in
den geistigen Sinn der Schrift ein, doch Stimme und Zunge blieben stumm. Oft, wenn wir
anwesend waren — der Zutritt war nämlich niemandem verwehrt, auch brauchte niemand
seinen Besuch anzukündigen —, sahen wir ihn so stillschweigend lesen, niemals anders als so,
und wir selbst saßen da, in fortdauerndem Schweigen versunken - denn wer hätte es sich
erkühnt, jemandem, der so konzentriert war, zur Last zu fallen —, entfernten uns dann wieder
und ergingen uns in Spekulationen, daß er in der ohnehin knappen Zeit, die ihm, vom Streß
durch Anliegen anderer frei, noch blieb und die er sich zur eigenen geistigen Erneuerung
nahm, nicht abgelenkt werden wolle; vielleicht nehme er sich auch davor in acht, daß ein
allzu aufmerksamer Hörer bei einer recht dunklen Stelle, hätte er sie denn vorgelesen, ihn
hätte zwingen können, sie näher zu erklären, oder ihn über bestimmte schwierigere Probleme
hätte zur Rede stellen können, und daß der dafür erforderliche Zeitaufwand ihn hindere,
so viele Bände wie beabsichtigt durchzugehen; auch hatte er indes Grund, seine Stimme zu
schonen, die ihm — wenngleich minimal - ihren Dienst versagte; allein dies vermochte schon
seine stillschweigende Lektüre zu rechtfertigen.« [Übersetzung modifiziert]).
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 489

keinen Ton von sich gibt, ruft bei dem jungen Rhetoriker großes Erstaunen, ja ein
Gefühl der Befremdung hervor. Diese Reaktion wird in der älteren Leserforschung
als Beleg dafür angesehen, daß die Praxis der stillen Lektüre in der Antike unüblich
war. »Ambrosius ist die erste, uns >lesetechnisch< verwandte lesende und schreibende
Gestalt des Altertums«, so argumentiert etwa Josef Balogh: »Der Mensch des Alter-
tums las und schrieb in der Regel laut; das Gegenteil war zwar nicht unerhört, doch
immer eine Ausnahme.« 187 Diese Einschätzung wird in neueren Forschungsarbeiten
jedoch einer Korrektur unterzogen. Demnach stellte die stumme Lektüre in der
Antike zwar tatsächlich eine Ausnahme dar, war aber keineswegs so ungewöhnlich,
wie Balogh behauptet. 188 Nicht erst im patristischen Zeitalter, sondern bereits in der
klassischen Antike war die Fähigkeit zum stillen Lesen bei den Vertretern der gebilde-
ten Elite verbreitet. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, daß die Technik der stummen,
visuellen Lektüre insbesondere von den Anhängern der platonischen und neoplato-
nischen Philosophie, ja von Piaton selbst praktiziert wurde.189 Ambrosius steht in der
Tradition des Piatonismus; er hat sowohl die neoplatonische Philosophie Plotins als
auch die platonisierende Bibelexegese eines Philo und Origenes rezipiert. 190
Der schweigend in sein Buch vertiefte Bischof ist in der Spätantike also nicht die
exotische Erscheinung, die Augustinus in seiner Beschreibung aus ihm macht. Das
Erstaunen, das den Protagonisten der Autobiographie angesichts des stummen Lesers
ergreift, sagt weniger über die Lektürepraktiken des Altertums aus als über den Stand
der geistigen Entwicklung, den er zum Zeitpunkt seiner Begegnung mit Ambrosius
erreicht hat, wie auch über die gleichermaßen bewundernde und kritische Haltung,
die der Autobiograph diesem gegenüber einnimmt. Obwohl der junge Augustinus
sich seit seiner Hortensius-Lektüre für die Philosophie begeistert, ist er offenbar
noch so stark im rhetorischen Milieu verwurzelt, daß das stimmlose Lesen ihm
fremdartig vorkommt. Zwar betreibt er als Leser philosophischer Werke eine Form
der Lektüre, die derjenigen des Mailänder Bischofs in gewisser Weise ähnelt: Auch
er liest bestimmte Texte für sich allein - wenn nicht als ein stummer, so doch als
ein einsamer Leser, der keiner fremden Hilfe bedarf. Aber während Augustinus sich
aus der Gesellschaft zurückzieht, um philosophische Bücher zu studieren, zelebriert
Ambrosius die einsame Lektüre der Bibel paradoxerweise inmitten einer Schar von
Besuchern. Er begibt sich unter die Menschen, um sich ihnen desto nachhaltiger zu
entziehen. Er tritt mit einem Buch vor ihre Augen, doch die geistigen Schätze, die
er sich lesend aneignet, enthält er ihnen vor.
Die stumme Lektüre gewinnt auf diese Weise das Ansehen eines bewußt insze-
nierten Affronts. Ambrosius scheint die Besucher düpieren zu wollen, die ihn mit

187 Josef Balogh: »Voces paginorum«. S. 220.


188 Zur Kritik an Balogh vgl. B. Knox: Silent Reading in Antiquity. S. 421ff.; J. Svenbro: Phra-
sikleia, passim.
189 Vgl. Kapitel III.l dieser Arbeit.
150 Siehe oben, Kapitel IX, Anm. 182.
490 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

ihren Fragen und Problemen bedrängen. Augustinus betrachtet das stille Lesen als
ein Instrument, mit dessen Hilfe der Bischof sich gegenüber seinen Mitmenschen
abgrenzt. Es ist folglich weniger die Lektüretechnik als solche, die den jungen
Rhetoriker befremdet, als das Moment der Zurückweisung, das mit ihr verbunden
ist. Herausfordernd wirkt nicht allein das stumme Lesen, sondern vor allem seine
ostentative Zurschaustellung. Ambrosius hat mehr im Sinn, als sich ein wenig Ruhe
für das gründliche Studium der Schrift zu verschaffen. Der Bischof hat offenkundig
die Absicht, seinen Besuchern eine Lehre zu erteilen. Indem er das stille Lesen öf-
fentlich vorführt, scheint er ein Zeichen setzen zu wollen. Genauer: Er verwandelt
sich auf diese Weise selbst in ein Zeichen, das der Lektüre bedarf. Das Schauspiel des
stillen Lesens zielt darauf ab, den Betrachter zum Leser zu machen. Wenn Augustinus
sich in Spekulationen darüber ergeht, was es mit dem rätselhaften Phänomen der
stummen Lektüre auf sich haben könnte, dann betätigt er sich als Leser. Er versucht,
die verborgene Bedeutung zu entziffern, die der zeichenhaften Erscheinung des
schweigenden Bischofs zugrunde liegt. Die stille Lektüre, die Ambrosius in aller
Öffentlichkeit praktiziert, ist ein versteckter Unterricht im Lesen. Anstatt den Be-
suchern zu erklären, wie man lesen soll, führt ihnen der Bischof die >richtige< Praxis
des Lesens beispielhaft vor Augen. Diese Vorführung wiederum erklärt sich nicht von
selbst, sondern sie verlangt nach deutender Lektüre. Ambrosius suggeriert somit ei-
nen Zusammenhang zwischen der Technik des stummen Lesens und dem Verfahren
der Allegorese, das verborgene, spirituelle Bedeutungsschichten zu ergründen sucht.
Tatsächlich weist Augustinus bei dieser Gelegenheit darauf hin, daß der Mailänder
Bischof eine Vorliebe für die Methode der allegorischen Auslegung hat, von der er in
seinen Predigten ausgiebig Gebrauch macht. »Littera occid.it, spiritus autem vivificat«,
so lautet die paulinische Devise, die er dem Publikum immer wieder einzuschärfen
pflegt. 151 Als stummer Leser stilisiert sich Ambrosius selbst zu einer allegorischen
Figur, die nach spiritueller Entzifferung verlangt. Der Bischof, der sich schweigend
in sein Buch vertieft, anstatt mit seinen Besuchern zu disputieren, ist eine Allegorie
des Lesens. Sie soll den Betrachter dazu animieren, seinerseits hermeneutisch aktiv
zu werden.
Doch wie funktioniert die allegorische Inszenierung, die der stumme Leser dem
Betrachter darbietet? Worin besteht die tiefere Bedeutung, auf die sie verweist? Das
Spektakel der stillen Lektüre soll den Zuschauer paradoxerweise dadurch zur Ent-
zifferung anreizen, daß es ihm lesbare Zeichen vorenthält. Der Körper des stummen
Lesers ist opak; er sendet keine verständlichen Signale aus. Ambrosius schweigt,
während er liest; seine Glieder rühren sich nicht. Weder seiner Mimik noch seiner
Gestik läßt sich entnehmen, wie das Geschriebene auf ihn wirkt. 192 Dieses Szenarium

191 Confessiones VI.4.6.


152 Vgl. B. Stock: Augustine the Reader. S. 62: »They [sc. the observers of the silent reading]
are all outsiders attempting to interpret thoughts within a mind whose operations offer no
outward, audible sign of its inner activity.«
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 491

kontrastiert aufs Schärfste mit einer Lektüreerfahrung, von der im neunten Buch der
Confessiones berichtet wird: Kurz nach seiner Konversion liest Augustinus das Buch
der Psalmen. Er liest die Psalmen für sich alleine, doch er bleibt dabei nicht stumm.
Die heftige Erregung, in die ihn der Text versetzt, drückt sich in seinem Gesicht
und im Ton seiner Stimme aus — mitunter schreit er sogar laut auf.153 Ambrosius
hingegen läßt sich die Gefühle und Gedanken nicht anmerken, die das Gelesene
in ihm auslöst. Er hat seinen Körper vollkommen unter Kontrolle — natürliche
Zeichen, durch die sich sein innerer Zustand verraten könnte, treten an ihm nicht
in Erscheinung. Nicht bloß sein Mund, sein ganzer Leib bleibt stumm. Der Körper
des Bischofs bildet eine undurchdringliche Hülle.
Doch gerade dadurch, daß sein Leib nicht spricht, übermittelt er eine Botschaft.
Indem Ambrosius die natürliche Zeichensprache des Körpers unterdrückt, verweist
er auf die tiefe Kluft, die das Innere vom Äußeren, den Geist vom Leib trennt - oder
seiner Auffassung nach trennen sollte. Der stumme Leser inszeniert diese Kluft. Er
präsentiert einen Körper, der sich von dem darin eingeschlossenen Geist so radikal
unterscheidet, daß er ihn auf keinerlei Weise zum Ausdruck bringen kann. Der äu-
ßere Leib ist demzufolge kein Spiegel des Inneren, sondern ein Hindernis oder eine
Schranke, die es zu überwinden gilt. Die Blicke, die aus sinnlichen Augen hervorge-
hen, prallen daran ab. Dieser Körper läßt sich nur mit geistigen Mitteln penetrieren.
Man kann ihn nicht unmittelbar lesen, man muß ihn vielmehr überspringen, um
das von ihm Verhüllte zu erfassen.
Der stumme Leser suggeriert die Existenz eines abgeschlossenen Innenraums,
einer nach außen hin abgeschirmten Dimension reiner Spiritualität. Das Körperbild,
das Ambrosius seinen Besuchern darbietet, ist dem Leitgedanken der integritas, der
jungfräulichen Reinheit verpflichtet. Der Bischof präsentiert das männliche Äquiva-
lent zu einem jungfräulichen Körper. Peter Brown zeigt in seiner großen Studie über
die frühchristliche Askese auf, daß das Phantasma der Jungfräulichkeit im Denken
des Mailänder Bischofs einen zentralen Stellenwert besitzt.194 Die Vorstellung der
integritas impliziert die Abneigung gegen jegliche Form von Vermischung. Der
sexuelle Vorgang der Empfängnis - nach antiker Vorstellung die Verquickung von
männlichem Samen und weiblichem Blut — gilt Ambrosius als das Paradigma einer
solchen Vermischung: Sie ist die »mikrokosmische Entsprechung der vielen besu-
delten Bereiche, die die Menschheit schwächten«, insbesondere der gefallenen Seele,
die sich dem Körper verbunden hat.195 Die jungfräuliche integritas bezeichnet somit
die Fähigkeit, sich von derartiger Beimischung rein zu erhalten. Der jungfräuliche
Leib ist der intakte, geschlossene Körper, der nichts Fremdes und Schmutziges in
sich eindringen läßt. Die neuralgischen Stellen dieses Leibs sind seine Offnungen

153 Confessiones IX.4.8.


194 Vgl. P. Brown: Die Keuschheit der Engel. S. 3 4 9 - 3 7 2 .
195 Ebd. S. 360f.
492 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

- neben den Geschlechtsorganen vor allem die Ohren und der Mund. Der Asket,
der sich am Ideal der Jungfräulichkeit ausrichtet, ist darauf bedacht, diese Öffnungen
unter seiner Kontrolle zu halten. Er sorgt auf diese Weise dafür, daß das kostbare
Innere, das durch den Leib umschlossen wird, weder nach außen gelangt noch von
außen infiltriert wird. Mittels des intakten Leibes schirmt er den Innenraum gegen
die Außenwelt ab.
D o c h der Körper, der als Schutzschild fungiert, ist seinerseits ein Teil dieser
Außenwelt. Der Asket muß also darauf achten, daß sein Geist nicht durch seinen
eigenen Körper in Mitleidenschaft gezogen wird, daß zwischen Geist und Körper
keine allzu enge Vertraulichkeit entsteht. Die Aktivität des Geistes darf durch den
Körper und seine Bedürfnisse nicht beeinträchtigt werden. Der jungfräuliche Leib
markiert mithin nicht nur eine äußere Grenze, die den Asketen von seinen Mitmen-
schen abhebt und ihn vor ihren schädlichen Einflüssen schützt. Er verweist zudem
auf die innere Trennungslinie zwischen Geist und Körper, die es zu bewahren und
durch systematisch betriebene Askese immer mehr zu vertiefen gilt. Das Schauspiel
der stillen Lektüre, das Ambrosius vorführt, bringt diese doppelte Grenzziehung
zur Anschauung. Der Bischof verbirgt sein Inneres hinter einem opaken Leib. Der
stumme Körper dient als Schutzwall, der die Besucher davon abhalten soll, den
Leser durch Fragen aus seiner inneren Sammlung herauszureißen. Zugleich zeigt die
Regungslosigkeit des Körpers an, daß Ambrosius seinen Leib vollkommen im Griff
hat. Der Körper kommt dem Geist nicht in die Quere; der erstere ruht, während der
letztere tätig ist. Dadurch, daß der Bischof seine körperliche Aktivität beim Lesen
auf ein Minimum einschränkt, signalisiert er, daß sich sein Geist von seinem Leib
loszulösen vermag. Der Leib, den Ambrosius seinen Besuchern präsentiert, ist - wie
der unberührte, keusche Leib der Jungfrau - ein Symbol für die Überlegenheit des
Geistes über den Körper. 196 Er steht für die prinzipielle Fähigkeit des Menschen,
seine eigentliche Geistnatur durch Askese und innere Einkehr zu verwirklichen.
Die stille Lektüre stellt für Ambrosius ein Mittel dar, die durch den Sünden-
fall verursachte Vermischung von Körper und Geist rückgängig zu machen. Der
Bischof erweckt bei seinen Besuchern den Eindruck, als gelinge es ihm, für die
Dauer der Lektüre seinen Körper abzulegen und sich Zutritt zu einer Sphäre reiner
Spiritualität zu verschaffen: »cor intellectum rimabatur, vox autem et lingua quies-
cebant«, so beschreibt Augustinus den Vorgang. 197 Der stumme Leser läßt mit der
Hülle seines Körpers gleichzeitig auch die sprachliche Hülle des Textes hinter sich
— Stimme und Zunge schweigen. Er versenkt sich in das Innere seiner selbst (»cor«)
und zugleich auch in das Innere des Textes (»intellectum«). Die stumme Lektüre
leistet beides auf einmal: Sie gewährt dem Individuum den Zugang zu seinem

1% Diesen symbolischen Status besitzt der jungfräuliche Körper nicht nur bei Ambrosius, sondern
im gesamten christlichen Piatonismus, beginnend bei dem alexandrinischen Kirchenlehrer
Origenes. Vgl. ebd. S. 185 und passim.
197 Confessiones V I . 3 . 3 .
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 493

wahren, geistigen Selbst, und sie erschließt ihm die spirituelle Bedeutungsebene
der Schrift, die Sphäre reiner Signifikate. Ambrosius suggeriert die Existenz einer
strukturellen Analogie zwischen dem Leser und der Schrift. 198 Wie der Leser verfügt
auch die Schrift über einen Körper, der einen spirituellen Innenraum umschließt.
Diese Analogie ermöglicht es, den Akt der kontemplativen Selbsteinkehr mit der
allegorischen Schriftlektüre zu verschränken.199 Wer den tieferen, spirituellen Sinn
der Schrift erfaßt, der liest demnach zugleich auch in seinem eigenen Herzen. Und
umgekehrt: Um Zugang zu den verborgenen Bedeutungsschichten der Schrift zu
gewinnen, muß der Leser sich in das geistige Innere seiner selbst zurückziehen. Das
stumme Lesen führt die spiritualisierende Schriftexegese mit der spiritualisierenden
Selbstlektüre zusammen.
In seiner Beschreibung dieses komplexen Vorgangs verwendet Augustinus ein
auffälliges Wort. Das Verbum rimari verweist auf die Tätigkeit des Ritzens, Aufrei-
ßens und Durchwühlens; es bezeichnet etwa das Aufpflügen der Erde, wie es der
Bauer betreibt.200 Das dazu gehörige Substantiv rima hat die Bedeutung Riß, Spalte,
Furche.201 Im Kontext der stummen Lektüre verweist das Wort zunächst einmal auf
die Gewalt, die der Leser dem (Text-)Körper zufügen muß, um an die verborgenen
geistigen Schätze heranzukommen. Die Oberfläche des Textes wird aufgerissen, der
Acker der Schrift wird umgepflügt. Der stumme Leser, der so sehr auf die Wahrung
seiner integritas bedacht ist, vollzieht einen gewaltsamen Akt der Penetration. Mit
dem Ausdruck rimari spielt Augustinus jedoch auch auf das Szenarium indirekter
Unterweisung an, die dem Rhetorikprofessor als Zuhörer der ambrosianischen Pre-
digten zuteil wurde: Die Wahrheit fand dabei auf sanfte, gewaltlose Weise Eingang

198 Die Vorstellung einer solchen Analogie geht auf die exegetischen Prinzipien des Origenes
zurück. Anknüpfend an die paulinische Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen
sowie von Geist und Buchstabe postuliert Origenes eine Korrespondenz zwischen der mensch-
lichen Psyche und der heiligen Schrift. Er schwankt dabei zwischen einer ternären und einer
binären Einteilung hin und her: »Just as in man there is body, soul, and spirit, so in scripture
there is a threefold meaning - the literal, the moral and the spiritual. [...] In writing about
human nature Origen normally follows the tripartite division of body, soul and spirit, but he
does also use a dichotomous division, speaking simply of body and soul or of flesh and spirit
or of inner and outer man. This twofold form provides a closer parallel to his normal practice
in the work of exegesis. He speaks most frequently in terms of a simple contrast between two
senses. They can be described in many ways, the bodily and the spiritual, the literal and the
figurative, the historical and the anagogical, but it is the same twofold contrast in each case.«
(M. F. Wiles: Origen as Biblical Scholar. In: The Cambridge History of the Bible. Vol. 1.
S. 454—489, hier: S. 467f. — Vgl. auch Β. de Margerie: Introduction ä l'histoire de l'exegese.
Vol. l . S . 116-118.).
195 Vgl. B. Stock: Augustine the Reader. S. 54: »Encouraged by the allegories of Ambrose, he
[sc. Augustine] came to understand that the reader could distinguish between what Paul
called the >spirit< and the >letter< as a parallel to the >inner< and >outer< self. Texts and selves
interpenetrated: it became possible to look upon the building of a new self as an exegetical
process.«
200 Aegidio Forcellini: Lexicon totius latinitatis. Padua 1940. Bd. 4. S. 148.
201 Ebd. S. 147.
494 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

in sein Herz, da er, wie er eingesteht, nicht dazu fähig war, das Wortzeichen von der
bezeichneten Sache zu trennen (»dirimere«).202
Die rima verweist also nicht nur auf die Wunde, die dem Textkörper zugefügt
wird, sie bezeichnet vor allem auch den Riß zwischen Zeichen und Bezeichnetem,
zwischen Körper und Geist. Der stumme Leser erhebt den Anspruch, die intelli-
gible Sache von dem sinnlichen Zeichen losreißen zu können, um sie — frei von
aller materiellen Beimischung — zum alleinigen Gegenstand einer rein geistigen
Betrachtung zu erheben. Das Zeichen ist für ihn ein bloßer Anstoß, der ihn dazu
antreibt, die Sphäre des Sinnlichen zu verlassen.203 Was für das Zeichen im Verhält-
nis zum Bezeichneten gilt, das gilt in ähnlicher Weise für den Körper im Verhältnis
zum Geist. Er ist, wie Origenes in einer von Ambrosius rezipierten Schrift: erklärt,
die materielle Schranke, die den Geist an seine eigentliche Bestimmung erinnert. 204
Der Widerstand des Körpers ist für die Heilung der gefallenen Seele notwendig. Die
Dämonen, die ihren Leib vollkommen in der Gewalt haben, sind dem Menschen
in dieser Hinsicht unterlegen.205 Weil sie ihren Körper mühelos beherrschen, sind
sie Gefangene einer verhängnisvollen Selbstzufriedenheit; ihnen fehlt der Anreiz,
sich aus dem Zustand der Gefallenheit zu befreien und nach Höherem zu streben.
Der Körper, der sich der Seele widersetzt, ist ein derartiger Anreiz. Indem der Leib
die Seele bedrängt und ihr überall Schranken setzt, erregt er allererst das Begehren,
ihn zu überschreiten. Eben diese admonitive Funktion erfüllt auch der Körper der
Schrift. Die Dunkelheiten und Ungereimtheiten, die sich bei einem >fleischlichen<,
literalen Verständnis der Bibel ergeben, sind als göttliche Ermahnung aufzufassen,
den opaken Textkörper zu überwinden und auf seine verborgene, spirituelle Bedeu-
tung hin zu durchdringen. 206
Für den Platoniker Ambrosius ist das Zeichen kein Bedeutungsträger, sondern
ein Hindernis, das es zu überspringen gilt — ein notwendiges Hindernis, denn ohne
dieses gäbe es für die gefallene Seele keinen Anreiz, ihre Geistnatur zu verwirklichen.
Nach Ansicht des Bischofs ist es die natürliche Bestimmung des Zeichens, rätselhaft
und dunkel zu sein. Transparente Zeichen markieren eine Gefahr. Sie suggerieren

202
Confessiones V. 14.24.
203
Vgl. die Theorie der admonitio verborum, die Augustinus in De magistro referiert. Siehe dazu
Kapitel VII.2 dieser Arbeit.
204
Vgl. Origenes: De principiis libri IV. Hg., übersetzt und mit Anmerkungen versehen von
Herwig Görgemanns und Heinrich Karpp. Darmstadt 1976.1.3.8.
205
Zur origenistischen Dämonologie im Zusammenhang mit seiner Auffassung des Körpers vgl.
P. Brown: Die Keuschheit der Engel. S. 179f.
206
Vgl. Origenes: De principiis IV.2.9. - Diese Einsicht wird Augustinus durch die allegorische
Exegese des Alten Testaments vermittelt, die Ambrosius in seinen Predigten durchführt. Vgl.
Confessiones VI.5.8: »Iam enim absurditatem, quae me in illis litteris solebat offendere, cum
multa ex eis pobabiliter exposita audissem, ad sacramentorum altitudinem referebam«. — Zur
admonitiven Funktion des opaken >Textkörpers< im Rahmen der allegorischen Schriftexegese
vgl. auch Jean Pepin: Saint Augustin et la fonction protreptique de l'allegorie. In: Recherches
augustiniennes 1 (1958). S. 2 4 3 - 2 8 6 .
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 495

die Existenz einer engen Verbindung zwischen Wortzeichen und bezeichneter Sache
und leisten somit der Vermischung von Körperlichem und Geistigem Vorschub.
Transparente Zeichen tasten die integritas der geistigen Sphäre an. Dunkle Zeichen
hingegen exponieren den Riß zwischen Körper und Geist. Sie veranlassen die >rich-
tige< Form der Lektüre, die darin besteht, das materielle Zeichen als Sprungbrett für
die rein geistige Schau zu benutzen. Aus diesem Grunde konfrontiert der Bischof
seinen Besucher Augustinus mit einem opaken Körper, anstatt ihm seinen Seelen-
zustand zu offenbaren. Die bekenntnishafte Öffnung der Seele käme einer Verunrei-
nigung derselben gleich. Ambrosius müßte zu diesem Zweck die Sphäre spiritueller
Innerlichkeit verlassen; er müßte sich einer Sprache bedienen — der natürlichen
Ausdruckssprache des Körpers etwa oder der literalen Sprache der confessio —, die das
Geistige mit dem Sinnlichen verkoppelt. Der Bischof zieht es vor, sein Inneres zu
verbergen, zugleich aber dieses Verbergen öffentlich auszustellen und als rätselhaftes
Zeichen zu präsentieren. Ambrosius kommt dem jungen Rhetoriker nicht entgegen;
er versucht nicht, zwischen innen und außen zu vermitteln, sondern er schirmt sein
Inneres ostentativ ab und bietet Augustinus somit einen Anreiz zu geistiger Über-
schreitung. Der Bischof führt ihm die Kluft zwischen Körper und Seele vor Augen
und animiert ihn auf diese Weise dazu, sich mit einem geistigen Sprung über diese
Kluft hinwegzusetzen. Lektüre als Geistessprung, Lektüre als ein Uberspringen der
geistig-sinnlichen Vermittlungsinstanzen: das ist die Lehre, die Ambrosius seinem
Besucher erteilt.
Die stumme Lektüre ist das Paradigma eines solchen Sprungs. Der stille Leser
springt von der sinnlichen Wahrnehmung der materiellen Schriftzeichen direkt zur
geistigen Betrachtung des bezeichneten Sinns über, ohne von den Mittlerdiensten
der Stimme Gebrauch zu machen. Ambrosius gibt den Schriftzeichen gegenüber
den Lautzeichen den Vorzug, weil sie ihre Materialität unverhohlen zu erkennen
geben. Die Stimme dagegen täuscht eine falsche Spiritualität vor. Die Flüchtigkeit
der Lautzeichen, ihre Koppelung an das ätherische Element der Luft, das Hervor-
strömen des Lautstroms aus dem Inneren des Körpers - all dies suggeriert eine enge
Verwandtschaft zwischen der Stimme und der Seele.207 Die Lautzeichen verschleiern
ihre Materialität; sie bieten sich als transparente Zeichen dar. Eben dadurch beför-
dern sie die verderbliche Vermengung des Körperlichen mit dem Geistigen. Die
scheinbar so reine Stimme markiert tatsächlich eine Beschmutzung des Spirituellen,

207 Vgl. J. Derrida: De la grammatologie. Paris 1967. S. 21 f., S. 33f. und passim. - Die von Derrida
betriebene Gleichsetzung von Logozentrismus und Phonozentrismus bedarf der Korrektur.
Origenes und Ambrosius (und mit ihnen der gesamte frühchristliche Piatonismus) verfechten
einen Logozentrismus, der kein Phonozentrismus ist. Sie räumen der Schrift gegenüber der
Stimme den Vorrang ein, weil letztere die integritas des Geistes bedroht. Das geeignete Medium,
um den Logos zu transportieren, ist demzufolge die Schrift, denn die Schrift ist dem Geist
unähnlich, beugt also der Vermischung vor. Eine ähnliche Kritik an Derrida äußern auch G.
G. Harpham: The Ascetic Imperative in Culture and Criticism. S. 13-16; M. Kilgour: From
Communion to Cannibalism. S. 53f.
496 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

eine Bastardisierung der durch sie vermittelten seelischen Inhalte. Die Schriftzeichen
hingegen sind >ehrlich<; sie stellen ihre undurchdringliche Körperlichkeit offen zur
Schau. Die Schrift wirkt der Vermischung von Geist und Körper entgegen - dies
allerdings nur dann, wenn sie nicht als Partitur, nicht als Abbild einer Stimme aufge-
faßt wird, sondern das Objekt einer stummen Entzifferung bildet, die darauf abzielt,
die opaken Zeichen unmittelbar auf die intelligiblen Gehalte hin zu überschreiten.
Dadurch, daß der stille Leser die Vermittlungsinstanz der Stimme ausschaltet,
entledigt er sich zugleich auch eines anderes Mittlers, nämlich der memoria. In De
catechizandis rudibus hebt Augustinus die Vermittlungsfunktion des Gedächtnisses
hervor.208 Das Gedächtnis ermöglicht demnach die Versprachlichung des geistigen
Verstehens und das Verstehen der Sprache. Das flüchtige, blitzartige Verstehen, das
den Geist durchzuckt, wird durch die memoria in Form von vestigia festgehalten, so
daß es in eine Kette von sprachlichen Lautzeichen umgesetzt werden kann. Ein ähn-
licher Vorgang spielt sich beim Verstehen der gesprochenen Rede ab: Das Gedächtnis
verleiht dem Nacheinander der verfliegenden Laute eine künstliche Dauer; nur so
wird die Folge asignifikanter Laute als Sequenz verständlicher Wörter erkennbar.
Die memoria tritt also zwischen signum und intellectum ins Mittel. Ihre vestigia sind
ein hybrides Zwischending: nicht mehr ganz sprachliches Zeichen, aber auch noch
nicht ganz geistige Bedeutung. Die Gedächtnisspur ist geradezu der Inbegriff einer
Vermischung von Geistigem und Sinnlichem, wie sie von Ambrosius bekämpft wird.
Daher räumt er dem Lesen gegenüber dem Hören einen Vorrang ein. Das künstliche
Gedächtnis der Schrift macht die Beteiligung der memoria am Verstehensprozeß
überflüssig. Der Leser, der die Technik der visuellen Lektüre beherrscht, kann das
materielle Wortzeichen direkt in Bedeutung umsetzen. Er übergeht den unreinen,
diffusen Zwischenbereich der vestigia, in dem Zeichen mit Bedeutungen imprägniert
sind und Bedeutungen einen zeichenhaften Verweisungscharakter besitzen.
Als Verfechter der stummen Lektüre zielt Ambrosius offenbar darauf ab, die
Vermittlungsinstanzen zu eliminieren, die es erlauben, die Kluft zwischen Geist
und Körper, zwischen der spirituellen Bedeutung und dem sprachlichen Zeichen,
zu überbrücken. Mimik, Gestik, Stimme, Literalsinn und Erinnerungsspur — sie alle
sind potentielle Bestandteile einer Darstellungsstrategie, die das Innere nach außen
hin öffnet, und sie alle fallen dem Streben des Bischofs zum Opfer, den Innenraum
der Seele von jeglicher Beimischung rein zu erhalten. Der Bischof beschneidet die
Sprache somit um jene Dimension, die Augustinus in seiner Analyse des früh-
kindlichen Spracherwerbs mit der liebevollen Zuwendung der Mutter assoziiert.
Ambrosius spiritualisiert die Sprache, aber er schränkt dadurch zugleich auch die
Möglichkeiten ein, auf das Begehren des Hörers oder Lesers einzuwirken und seinen
Glauben zu erwecken. Die Zeichen, die der Bischof verwendet, verweisen unmittel-
bar auf intelligible Gehalte, doch sie vermögen den Willen nicht zu affizieren.

208 Vgl. dazu Kapitel VIII. 1 dieser Arbeit.


Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 497

Symptomatisch dafür ist die Art und Weise, wie Augustinus auf die allegorische
Exegese der Schrift reagiert, die Ambrosius in seinen Predigten entfaltet. Aufgrund
der allegorischen Auslegungen des Bischofs gewinnt die Schrift bei ihm an Ansehen,
denn er sieht nun ein, daß hinter der banal erscheinenden Oberfläche spirituelle
Geheimnisse verborgen sind. Doch gerade diese Mißachtung der vermeintlichen
Oberfläche erweist sich als problematisch. Die Deutungen des Bischofs, welche
die verborgenen Geheimnisse entschleiern, erscheinen Augustinus schlüssig und
überzeugend: »non dice[bat] quod me offenderet«. Dennoch kann er sich nicht
dazu durchringen, den tiefsinnigen Wahrheiten Glauben zu schenken, die ihm
Ambrosius präsentiert. Sein Intellekt wird angesprochen, sein Wille jedoch bleibt
davon unberührt: »Tenebam enim cor meum ab omni adsensione timens praeci-
pitium et suspendio magis necabar.«209 Um Augustinus zum Glauben zu bewegen,
hätte Ambrosius sich ihm stärker zuwenden müssen, genauer: er hätte die göttliche
Zuwendung zum Menschen stärker betonen müssen, die durch die Schrift bezeugt
wird. Doch indem der Bischof die >unreine<, literale Bedeutungsebene der Schrift auf
verborgene spirituelle Sinnschichten hin übersteigt, verdeckt er eben jene Dimension
der biblischen Offenbarung, welche die Selbsterniedrigung Gottes am deutlichsten
zum Ausdruck bringt. Die Tatsache, daß Gott sich dazu herabläßt, in den unvoll-
kommenen, sinnlichen Zeichen der Sprache zu den Menschen zu sprechen, ist eine
Manifestation seines liebenden Entgegenkommens. Auf der Ebene des Literalsinns
spricht Gott als Kleiner zu den Kleinen und demonstriert dadurch seine Liebe.210
Die Allegorese, die dieses unvollkommene, >mütterliche< Sprechen spiritualisierend
verflüchtigt, bringt damit zugleich auch den Aspekt der Selbsterniedrigung zum
Verschwinden. Sie führt in spirituelle Geheimnisse ein, aber sie lenkt den Blick des
Rezipienten vom göttlichen Liebeswerk ab. Es ist dieses Liebeswerk, das die Gegen-
liebe und den Glauben des Menschen zu entzünden vermag. Ambrosius erschließt
Augustinus neue spirituelle Innenwelten, doch er bestärkt ihn zugleich in dem
Irrtum, in dem er seit seiner Hortensius-Lektüre befangen ist: seiner Fixierung auf
Wissen und Erkenntnis, auf die großen, erhabenen Wahrheiten, die ihn die kleinen,
den Glauben erheischenden Gesten des Entgegenkommens übersehen läßt.

Die Lektüre der Platonicorum libri:


Spiritueller Aufstieg nach ambrosianischem Muster
Die Begegnung mit dem Mailänder Bischof ist, wie der Autobiograph hervorhebt,
für die geistige Entwicklung Augustins von großer Bedeutung. Ambrosius trägt ent-
scheidend dazu bei, daß sich der junge Rhetoriker vom Manichäismus abwendet. Vor
allem aber erschließt er ihm den inneren Erfahrungsraum der Spiritualität. Indem

205 Ebd. VI.4.6.


2,0 Vgl. ebd. III.5.9, VII.9.14, VII.21.27 (mit Bezug auf Mt. 11.28f.) und passim.
498 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

der Bischof das offene Gespräch mit d e m jungen Rhetoriklehrer verweigert, zeigt er
i h m indirekt an, w o die Wahrheit zu suchen ist. Die Gesprächsverweigerung ist eine
E r m a h n u n g zur Selbsteinkehr u n d zur Schriftlektüre. D u r c h sie erteilt Ambrosius
der Vorliebe Augustins f ü r die philosophische D i s p u t a t i o n , seiner N e i g u n g z u m
verbalen Schlagabtausch, einen Dämpfer. 2 1 1 D e r lesende Bischof stilisiert sich selbst
z u m E m b l e m einer abgeschlossenen D i m e n s i o n reiner Innerlichkeit. Auf den jungen
Augustinus m a c h t dieses lebende Sinnbild u m so größeren Eindruck, als sein eigenes
Lektüreverhalten bereits gewisse Affinitäten zu der Vorgehensweise des Bischofs auf-
weist. Seit seiner Begegnung mit d e m Hortensius ist auch er es g e w o h n t , sich beim
Lesen aus der G e m e i n s c h a f t zurückzuziehen. A u c h er verfolgt dabei die Absicht,
die verba auf die bezeichneten res hin zu überschreiten; auch er sieht in diesen verba
nicht d e n A u s d r u c k eines personalen Willens, sondern sinnliche Zeichen, die auf
intelligible Gehalte verweisen. D e r s t u m m e Leser Ambrosius vermittelt Augustinus
folglich das idealisierte Abbild seines eigenen Lektüreverhaltens. D e r Bischof f ü h r t
k o n s e q u e n t zu Ende, was bei Augustinus als Tendenz bereits angelegt ist. Er m a c h t
das >Uberlesen< z u m Prinzip, i n d e m er die Kluft zwischen Zeichen u n d Bezeichne-
t e m vertieft, ja i n d e m er letztlich darauf hinarbeitet, die res v o m verbum gänzlich
abzuspalten u n d als O b j e k t einer a u t o n o m e n spirituellen Schau zu hypostasieren.
Ambrosius steht für das Postulat eines jungfräulichen geistigen I n n e n r a u m s , der in
keiner Weise von der Materialität des Körpers u n d des Zeichens affiziert ist. Die von
i h m praktizierte stille Lektüre verheißt die Möglichkeit, d e n Fall der Seele in die
Körperlichkeit bereits in dieser Welt rückgängig zu machen. D e r Bischof offeriert
das Buch als Surrogat f ü r die W ü s t e - für jene spirituelle Landschaft, die es d e m
Eremiten erlaubt, direkt mit G o t t zu k o m m u n i z i e r e n .
D a ß die Lektion, die A m b r o s i u s seinen Besuchern erteilt, bei Augustinus zu-
nächst auf f r u c h t b a r e n Boden fällt, m a c h t der Autobiograph im siebten Buch der
Confessiones deutlich. D e r Wahrheitssucher, der seine manichäischen Überzeugun-
gen bereits abgelegt, sich aber noch nicht definitiv für d e n katholischen G l a u b e n
entschieden hat, eifert d e m Vorbild des Bischofs auf mehrerlei Weise nach. Erstens
nämlich versucht er, den Problemen, die ihn beschäftigen - insbesondere den Fragen
nach d e m Wesen Gottes u n d nach der H e r k u n f t des Bösen - , d u r c h eigenständiges
N a c h d e n k e n auf d e n G r u n d zu gehen, anstatt andere u m Rat zu fragen oder einen
philosophischen Disput anzuzetteln. Augustinus forscht in der Stille, ganz f ü r sich
allein — »in silentio fortiter quaere[bam]«. 2 1 2 Die Zweifel, Sorgen u n d Ängste, von

211
Vgl. etwa die philosophische Diskussion, die Augustinus kurz vor seiner Übersiedlung nach
Italien mit dem manichäischen Bischof Faustus führt. Anders als Ambrosius läßt sich Faustus
auf ein Gespräch mit dem Rhetor ein. Augustinus will sich eigentlich von Faustus über die
Geheimnisse der manichäischen Kosmologie aufklären lassen. Doch er überführt den Bischof
seines Unwissens, so daß die Rollen schließlich vertauscht werden: Am Ende läßt sich Faustus
von seinem dialektisch versierten Schüler belehren. Vgl. Confessiones V.3.3—7.12.
212
Ebd. VII.7.11.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 499

denen seine Seele dabei heimgesucht wird, teilt er niemandem mit: »Tu sciebas,
quid patiebar, et nullus hominum. Quantum enim erat, quod inde digerebatur per
linguam meam in aures familiarissimorum meorum!«213 Augustinus merkt zwar
bald, daß er bei seinen Forschungen ohne fremde Unterstützung zu keinem Ergebnis
gelangen kann. Gleichwohl vermeidet er es, mit anderen über seinen Seelenkonflikt
zu reden. Statt dessen greift er - zweitens - zum Buch. Um den geistigen Innenraum
nicht wieder verlassen zu müssen, noch ehe er ihn ganz für sich erschlossen hat, sucht
Augustinus Hilfe bei Büchern, statt bei lebendigen Lehrern. Bezeichnenderweise
handelt es sich dabei um (neo-)platonische Schriften - »quosdam Platonicorum
libros ex graeca lingua in latinam versos.«214 Augustinus studiert mithin exakt die
Philosophie, auf die sich Ambrosius mit seiner Konzeption des geistigen Innenraums
stützt. Er macht sich sozusagen die Theorie zu eigen, die der asketischen Praxis des
Mailänder Bischofs zugrunde liegt.
Doch nicht nur der Gegenstand, auch die Form seiner Lektüre ist dem Vorbild
des Ambrosius verpflichtet. Augustinus liest die Platonicorum libri - drittens - als
Anstoß zur Selbsteinkehr: »Et inde admonitus redire ad memet ipsum intravi in
intima mea«, so schildert der Autobiograph seine Reaktion auf die platonischen Bü-
cher.215 Er faßt die Platonicorum libri als Aufforderung auf, den Text zu überschreiten
und sich in die Tiefen seines Geistes zu versenken. Nicht in den Büchern, sondern
im Inneren seiner selbst findet er die Antworten auf die Fragen, die ihn beunruhi-
gen. Gleichwohl ist der Umweg über die Bücher notwendig, um Zugang zu diesem
Innenraum zu erlangen. Die Forschungen, die Augustinus zuvor ganz ohne äußere
Unterstützung anstellte, führten ihn ja in die Irre. Die platonischen Bücher dagegen
versehen ihn nicht nur mit den inhaltlichen Kenntnissen, die ihm bislang fehlten,
sie geben ihm auch den Impuls, den er braucht, um die körperliche Hülle abzulegen
und in die geistige Tiefendimension vorzudringen. Dort gelangt Augustinus endlich

213 Ebd. (»Du wußtest, was ich litt, aber von den Menschen niemand. Wie wenig kam davon
über meine Lippen an die Ohren selbst der ganz Vertrauten!«).
214 Ebd. VII.9.13. — Welche platonischen Bücher Augustinus zu diesem Zeitpunkt gelesen hat,
läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Klar ist nur, daß hier nicht die Schriften Piatons,
sondern Werke aus dem Umkreis des Neoplatonismus gemeint sind. P. Courcelle (Recherches
sur les Confessions de Saint Augustin. S. 1 3 3 - 1 3 8 , 1 5 7 - 1 6 7 ) vermutet, daß Augustinus die
Schriften des Porphyrios und des Plotinos studiert hat, von letzterem die Abhandlungen über
das Schöne (Enneaden I.vi), den Ursprung des Bösen (I.viii), die drei Hypostasen (V.i) und
die Ordnung der Wesen (V.ii), und zwar (wie durch Confessiones VIII.2.3 bezeugt wird) in
der Übersetzung von Marius Victorinus. Paul Henry (Plotin et l'Occident. Louvain 1934.
S. 78—119) vertritt die Ansicht, daß Augustinus in Mailand ausschließlich die Schriften
Plotins zur Kenntnis genommen habe. WillyTheiler (Porphyrios und Augustin. Halle 1933)
dagegen behauptet, daß er allein mit Porphyrios in Berührung gekommen sei. A. Solignac
(Introduction. In: CEuvres de Saint Augustin. Vol. 13: Les Confessions. Texte de Γ edition de
M. Skutella, introduction et notes par Α. Solignac. Traduction de E.Trehorel et G. Bouissou.
Bruges et Paris 1962 [Bibliotheque Augustinienne]. S. 9 - 2 7 0 , hier: S. 1 0 0 - 1 1 2 ) faßt den Stand
der Forschung zusammen und bietet im Anhang (S. 683—689) eine synoptische Aufstellung
der Parallelen zwischen Confessiones VII und den Enneaden.
215 Confessiones VII.10.16.
500 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

zur Einsicht in die unkörperliche Wahrheit Gottes und in die Natur des Bösen, nach
der er schon so lange gesucht hat.216
Es hat mithin den Anschein, als gehe der pädagogische Kalkül des Mailänder
Bischofs schließlich doch noch auf. Im siebten Buch der Confessiones macht sich
Augustinus die Lehre zu eigen, die ihm Ambrosius im sechsten Buch auf indirekte
Weise erteilt. Die indirekte Belehrung durch den Bischof stellt die Weichen für die
Selbsteinkehr, die Augustinus dann auf Veranlassung der Platonicorum libri in sy-
stematischer Form vollzieht. Der Bischof bereitet die im siebten Buch beschriebene
»Konversion zum christlichen Piatonismus vor. Die platonischen Bücher vermitteln
Augustinus eine Doktrin, die es ihm ermöglicht, die von Ambrosius empfangene
Unterweisung nachträglich auf philosophische Prinzipien zurückzuführen und zu
verstehen.217 Umgekehrt bietet ihm der Bischof mit seiner allegorischen Schriftausle-
gung und seinem Schauspiel der stummen Lektüre die Orientierung, die er benötigt,
um die Doktrin begreifen und implementieren zu können. Der Erfolg scheint Am-
brosius im Nachhinein Recht zu geben und den ihm gegenüber erhobenen Vorwurf
der mangelnden Caritas zu entkräften. Unter seinem Einfluß gelingt Augustinus
offenbar ein entscheidender Durchbruch - die spirituelle Lektüre der platonischen
Bücher verschafft dem Wahrheitssuchenden die ersehnte Gewißheit und räumt die
letzten Hindernisse aus dem Weg, die seinem Eintritt in die katholische Glaubens-
gemeinschaft entgegenstehen.
So oder so ähnlich wird die im siebten Buch geschilderte Lektüreerfahrung je-
denfalls von großen Teilen der Augustinus-Forschung gesehen. Robert J. O'Connell
etwa deutet Augustins Rezeption der Platonicorum libri als »an absolutely capital
contribution to his conversion«: Sie statte ihn mit einem umfassenden, kohärenten
»world-view« aus; sie verschaffe ihm »the certainties he require[s] in order to ground
his >faith< in Catholic teaching«.218 Nach der Ansicht Pierre Courcelles vollendet die
Lektüre der platonischen Bücher Augustins »conversion intellectuelle«, auf die es
dem Verfasser der Confessiones eigentlich ankomme und der er deshalb zwei ganze
Bücher (VI und VII) widme, während die »conversion de la volonte« in nur einem
Buch (VIII) abgehandelt werde.219 Für Karlheinz Ruhstorfer markiert die Lektüre
der Platonicorum libri eine »Bekehrung im Denken«. 220 Laut Erich Feldmann läßt
Augustinus sein Denken in der Gottesschau, die durch die Lektüre der Platonicorum

216 Vgl. ebd. VII.20.26.


217 Vgl. A. Solignac: Introduction. S. 101: »Bref, [...] ce qui manquait ä Augustin, ce qu'il
cherchait ä decouvrir par ses reflexions personnelles, c'est une doctrinephilosophique, une vue
metaphysique de Dieu et du mal, qui lui permit d'adherer ä l'enseignement d'Ambroise, qui
lui permit plutöt de comprendre cet enseignement pour l'accepter comme une certitude.«
218 R. J. O'Connell: Images of Conversion. S. 97, S. 119, S. 207 und passim.
219 P. Courcelle: Recherches sur les Confessions de Saint Augustin. S. 169.
220 K. Ruhstorfer: Confessiones 7: Die Platoniker und Paulus. Augustins neue Sicht auf das
Denken, Wollen und Tun der Wahrheit. In: Die Confessiones des Augustinus von Hippo.
Einführung und Interpretationen zu den dreizehn Büchern. S. 283-341, hier: S. 336.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 501

libri ermöglicht wird, »ins Ziel kommen«. Er spricht von dem »Ankommen Augus-
tins bei dem, was schlechthin ist, und der ihm damit gegebenen Gewißheit«. Um
diese »zu der eine neue Lebensform tragenden Sicherheit« zu steigern, bedürfe es
zwar noch der Stärkung durch die Kraft: Gottes, die im tolle, /^-Erlebnis der Gar-
ten-Szene übermittelt werde, die entscheidende Grundlage aber - die »fundamentale
Sacheinsicht« - sei mit der Lektüre der platonischen Bücher gelegt.221
Die angeführten Interpretationen stimmen darin überein, daß sie das im siebten
Buch der Confessiones beschriebene Lektüreerlebnis positiv bewerten. Augustins gei-
stige Entwicklung - so lautet ihr Tenor — gelangt mit dem Studium der platonischen
Schriften zu einem (vorläufigen) Abschluß; er gewinnt dadurch Erkenntnisse, die
ihn von seinen letzten Zweifeln befreien und von nun an zum Kernbestand seiner
christlichen Überzeugungen gehören. Was danach geschieht, wirkt sich nur noch
festigend, nicht aber verändernd auf seine Ansichten aus. Diese einseitig positive
Einschätzung ist jedoch problematisch. Die Deutung, die der Autobiograph selbst
dem Lektüreerlebnis verleiht, fällt erheblich kritischer aus als die seiner modernen
Kommentatoren. Zwar hebt auch er die Gewißheit hervor, die ihm durch das Stu-
dium der platonischen Schriften zuteil wurde, doch stellt er ihren Wert sogleich
wieder in Frage, indem er auf die mit ihr verbundene Gefahr hochmütiger Selbstü-
berhebung hinweist.222 Tatsächlich bemüht sich der Autobiograph von vorneherein,
die Darstellung des Lektüreerlebnisses mit negativen Akzenten zu versehen. Sein
Bericht wird durch die Bemerkung eingeleitet, daß Gott ihm durch dieses Erlebnis
anzeigen wollte, wie sehr er den Hochmütigen widersteht, den Demütigen aber
Gnade gibt (»quam resistas superb is, humilibus autem des gratiam«).223 Das Motiv
der superbia wird kurz darauf erneut aufgegriffen: Der Erzähler berichtet, daß er die
besagten Schriften aus der Hand eines von maßlosem Dünkel aufgeblähten Mannes
(»per quendam hominem immanissimo typho turgidum«) erhalten habe. 224 Gleich
zu Beginn wird somit eine Verbindung zwischen den platonischen Büchern und der
Sünde des Hochmuts hergestellt. Die Lektüre der Platonicorum libri steht zunächst
nicht im Zeichen des kontemplativen Aufstiegs, der den Fall der menschlichen Seele
rückgängig zu machen vermag, im Gegenteil, der Autobiograph assoziiert sie mit
eben jener Sünde, die Adam zum Verhängnis wurde.
Die kritische Sichtweise, die der Erzähler auf diese Weise zur Geltung bringt,
wird in der Folge noch vertieft. Denn ehe er sich daran begibt, das Lektüreerlebnis
und seine Konsequenzen nachzuzeichnen, vergleicht er die platonischen Schriften,

221
E. Feldmann: Confessiones. Sp. 1172.
222
Confessiones VII.20.26.
223
Ebd. VII.9.13 (mit Bezug auf 1 Petr. 5.5).
224
Ebd. - P. Courcelle (Recherches sur les Confessions de Saint Augustin. S. 153—156) glaubt diesen
Mann als den römischen Politiker Mallius Theodorus identifizieren zu können; seine These
hat jedoch in der Augustinus-Forschung, wie A. Solignac resümierend darlegt (Introduction.
S. 102f.), nur wenig Anklang gefunden.
502 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gtfallenen Willens

die er damals studierte, mit dem ersten Buch des Johannesevangeliums, das er erst
später kennenlernte. 225 Der Autobiograph kontrastiert die platonische mit der jo-
hanneischen Logosmetaphysik und gelangt dabei zu dem Ergebnis, daß die erstere
ein entscheidendes Defizit aufweist: Ihr fehlt die christologische Dimension. Der
Autobiograph findet bei den Platonikem keinerlei Hinweis auf die Fleischwerdung
des Wortes. 226 Die Platoniker propagieren die Möglichkeit des spirituellen Aufstiegs,
der stufenweise erfolgenden Rückkehr der Seele in ihre geistige Heimat, doch nir-
gendwo ist bei ihnen davon die Rede, daß Gott zu den Menschen herabgestiegen
ist, daß er sich erniedrigt hat, um sie zu sich emporzuheben. Der Hochmut, den der
Autobiograph den Piatonikern zum Vorwurf macht, besteht mithin in dem Glau-
ben, daß der Mensch sich aus eigener Kraft zu Gott zu erheben vermag. Die Pla-
toniker dünken sich Gott gleich oder Gott ähnlich; sie sind davon überzeugt, daß
die Seele, wenn sie sich von allem Körperlichen reinigt und in sich selbst einkehrt,
diese Ähnlichkeit aktualisieren und zur unmittelbaren Gottesschau vordringen
kann. 227 Da ihrer Ansicht nach keine ontologische Kluft zwischen dem Menschen
und Gott besteht, bedarf es auch keiner Vermittlungsinstanz, die diese Kluft über-
brückt. Sie halten folglich den Mittler Christus - »mediatorem dei et hominum,
hominem Christum Iesum« - ebenso für überflüssig wie die Mittlerdienste der
heiligen Schrift. 228 Der neoplatonische Seelenaufstieg, der zugleich die Einkehr ins
innerste Selbst markiert, stellt den Versuch dar, eine unmittelbare Beziehung zu
Gott zu etablieren und sich zur direkten geistigen Schau des höchsten Seinsprinzips
emporzuschwingen.

Das Scheitern des spirituellen Aufstiegs:


Einsicht in den Scheincharakter der ambrosianischen integritas

Die Lektüre der platonischen Bücher veranlaßt den jungen Augustinus dazu, einen
solchen Aufstieg in Angriff zu nehmen. 229 Der Autobiograph berichtet, wie er Stufe
für Stufe (»gradatim«) von den niederen zu den höheren Seelenkräften fortschreitet:
Er erhebt sich von der Betrachtung seines Körpers zu der seines Wahrnehmungsver-
mögens, von dort zur inneren Kraft der Vernunft und zum Urteilsvermögen, von
dort zu der Frage, was allen seinen Urteilen als Maßstab dient. Die Antwort auf diese
Frage - die intuitiv gewonnene Einsicht nämlich, daß das Unveränderliche besser als
das Veränderliche ist - erlaubt es seinem Geist, zu dem inneren Licht vorzudringen,
das dieses Wissen vermittelt, und schließlich einen flüchtigen Blick auf die Licht-
quelle selbst zu werfen - auf das, was schlechthin und unwandelbar ist: »et pervenit

225 Confessiones VII.9.13—VII.9.15.


226 Ebd. V I I . 9 . 1 4 .
227 Vgl. A. Louth: T h e Origins o f the Christian Mystical Tradition. S. 2 - 6 , S. 4 3 - 5 1 .
228 Confessiones V I I . 1 8 . 2 4 (mit Bezug auf 1 T i m . 2.5).
225 Ebd. VII. 17.23.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 503

ad id, quod est in ictu trepidantis aspectus.«230 Diese blitzartige Erleuchtung genügt,
um Augustinus die Gewißheit zu verschaffen, nach der er verlangt. Er weiß nun,
daß Gott die Quelle alles Seins ist und eine unveränderliche, unendliche spirituelle
Substanz darstellt.
Doch ist diese Gewißheit wirklich das Produkt einer unmittelbaren Gottes-
schau? Es fällt auf, daß der Moment, in dem der junge Augustinus Einsicht in das
göttliche Wesen gewinnt, im siebten Buch der Confessiones nicht weniger als drei
Mal beschrieben wird.231 Der Autobiograph legt offenbar großen Wert darauf,
genau darzulegen, was es mit dieser Erkenntnis auf sich hat. Das hervorstechende
Merkmal der Schau ist ihre extreme Flüchtigkeit. Sie durchzuckt den Betrachter wie
ein Blitz; er ist unfähig, seinen Blick zu fixieren (»sed aciem figere non evalui«).232
Augustinus vermag sich nicht in der Gottesschau zu halten. Festhalten kann er nur
die Erinnerung an das vergängliche Ereignis der Illumination: »non stabam frui
deo meo [...]. Sed mecum erat memoria tui«.233 Die Einsicht in das überzeitliche
Sein ist selbst zeitlicher Natur; die Schau des Unveränderlichen und Beständigen
ist ihrerseits höchst unbeständig. Der Autobiograph akzentuiert somit die zwischen
dem Erkennenden und dem Erkenntnisobjekt bestehende Kluft - eine Kluft, die
sich auch im Augenblick der Erleuchtung nicht überwinden läßt. Er illustriert die
Persistenz dieser Kluft durch eine Reihe von Vergleichen. Demnach ähnelt die Schau,
zu der Augustinus am Ende seines Aufstiegs gelangt, dem Vernehmen einer Stimme,
die aus großer Distanz hörbar wird, oder dem Blick, den ein Wanderer von einem
Berggipfel aus auf die ferne, durch unwegsame Wildnis von ihm getrennte Heimat
richtet, oder dem Riechen einer köstlichen Speise, die zu essen dem Hungrigen
jedoch verwehrt ist.234
Die Schau hebt den gewaltigen Abstand, der Gott von den Menschen trennt,
also nicht etwa auf. Sie macht ihn vielmehr allererst sichtbar. Augustinus wird des
göttlichen Wesens nur in dem Maße gewahr, in dem es ihm seine Unerreichbarkeit
kund gibt. Er erkennt Gott dadurch, daß er Einsicht in die diesbezügliche Unzuläng-
lichkeit seines Erkenntnisvermögens gewinnt. Die Schau, die Augustinus zuteil wird,
ist eine negative Schau - er sieht, daß es da etwas zu sehen gibt, was er selbst aber
nicht zu sehen befähigt ist: »Et cum te primum cognovi, tu assumpsisti me, ut vide-
rem esse, quod viderem, et nondum me esse, qui viderem.«235 Der junge Augustinus
erlebt keine wirkliche Schau, sondern er wird mit dem zeichenhaften Vorschein einer

230 Ebd. (»[U]nd so erreichte er im Blitz eines erzitternden Blicks das Wesen, das wahrhaft ist.«
[Übersetzung modifiziert]).
231 Ebd. VII.10.16, VII. 17.23, VII.20.26.
232 Ebd. VII.17.23.
233 Ebd.
234 Ebd. VII. 10.16, VII.21.27, VII.17.23.
235 Ebd. VII.10.16. (»Und als ich dich zuerst erkannte, nahmst du mich auf, damit ich sähe, daß
da etwas sei, was ich sehen sollte, aber daß ich noch nicht der wäre, der es zu sehen vermöchte.«
[Ubersetzung modifiziert]).
504 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

s o l c h e n k o n f r o n t i e r t . G o t t manifestiert sich, i n d e m er sich i h m entzieht: »repulsus


sensi, q u i d per tenebras a n i m a e m e a e c o n t e m p l a r i n o n sinerer«. 2 3 6 Bei d e m Versuch,
d i r e k t z u G o t t v o r z u d r i n g e n , w i r d A u g u s t i n u s z u r ü c k g e s t o ß e n , u n d n u r dieser
R ü c k s t o ß vermittelt i h m die Einsicht in das göttliche W e s e n , d a s u n m i t t e l b a r zu
s c h a u e n i h m versagt ist. D i e S c h a u mißlingt, d o c h d a s M i ß l i n g e n der S c h a u bezeugt
die E r h a b e n h e i t des G e g e n s t a n d e s , d e n der Betrachter zu erfassen sucht.
D i e v o n den Piatonikern in A u s s i c h t gestellte m y s t i s c h e Vereinigung m i t d e m
göttlichen Sein findet s o m i t nicht statt. D e r direkte Z u g a n g zu G o t t , d e n die Pla-
tonicorum libri verheißen, wird A u g u s t i n u s verwehrt; i h m wird nur eine mittelbare
E r k e n n t n i s des höchsten Seins zuteil. 2 3 7 D i e s e G o t t e s e r k e n n t n i s ist folglich zugleich
a u c h S e l b s t e r k e n n t n i s : E i n s i c h t des E r k e n n e n d e n in seine eigene S c h w ä c h e u n d
H i l f s b e d ü r f t i g k e i t . D e m j u n g e n A u g u s t i n u s wird d u r c h die S c h a u nicht, wie in d e n
p l a t o n i s c h e n Schriften a n g e k ü n d i g t , die V e r w a n d t s c h a f t der menschlichen Seele mit
d e m göttlichen Sein vor A u g e n g e f ü h r t . I m Gegenteil, sie m a c h t i h m die Ferne u n d
die radikale Alterität G o t t e s b e w u ß t : »et inveni l o n g e m e esse a te in regione dissi-
m i l i t u d i n i s « . 2 3 8 D i e B e m e r k u n g , m i t der der A u t o b i o g r a p h seinen Bericht über das

236 Ebd. VII.20.26. (»Im Zurückprallen erfuhr ich, was zu schauen mir die Finsternis meiner Seele
verwehrte.« [Hervorhebung von mir, Ubersetzung modifiziert, Ch. M.]).
237 So auch R. J. O'Connell: Images of Conversion. S. 117: »[Augustine] did not >see< God's reality
directly and immediately (as is normally implied by the term >mystically<), but >glimpsed< that
reality mediately and indirectly.« Diese Äußerung richtet sich gegen die einflußreiche Inter-
pretation Pierre Courcelles. O'Connell wirft Courcelle vor, das siebte Buch der Confessiones
auf die Darstellung von »mystical, or quasi-mystical, experiences« zu reduzieren (ebd. S. 116).
Laut O'Connell macht der junge Augustinus im Anschluß an die Lektüre der platonischen
Schriften aber keine mystischen Erfahrungen, sondern er gelangt zu philosophischen Ver-
nunfteinsichten, die sich durch ihre Mittelbarkeit auszeichnen. O'Connells Hinweis auf den
indirekten Charakter der Schau ist gerechtfertigt, seine Kritik an Courcelle trifft jedoch nicht
das Wesentliche. Auch Courcelle gibt zu, daß das neoplatonisch inspirierte Streben des jungen
Augustinus nach unmittelbarer Gotteserkenntnis im siebten Buch nicht an sein Ziel kommt.
Er spricht von »vaines tentatives d'extases plotiniennes« (Uecherches sur les Confessions de Saint
Augustin. S. 157). Problematisch ist allerdings die Begründung, die er fur dieses Scheitern
liefert. Laut Courcelle ist der junge Augustinus nämlich ein »myste insuffisamment purifie«
(ebd. S. 166): Der Seelenaufstieg mißlingt, weil der Wahrheitssuchende noch zu sehr am
Körperlichen haftet. Der Autobiograph jedoch führt das Scheitern der Schau gerade nicht auf
mangelnde Askese zurück. Vielmehr stellt er, wie der gegenüber den Neoplatonikern erhobene
Vorwurf des Hochmuts bezeugt, die Möglichkeit eines aus eigener Kraft erfolgenden Aufstiegs
der menschlichen Seele grundsätzlich in Frage. Der Wahrheitssuchende soll nicht aufsteigen,
sondern er soll sich — dem Beispiel Christi Folge leistend — demütig niederbeugen, damit er
durch Gott emporgetragen werde. Courcelle übersieht die Kritik, die der Autobiograph aus
christologischer und gnadentheologischer Sicht an der neoplatonischen Doktrin artikuliert.
238 Confessiones VII. 10.16. — Der Ausdruck regio dissimilitudinis ist, wie A. Solignac in einer »note
complementaire« (CEuvres de Saint Augustin. Vol. 13: Les Confessions. S. 689-693) darlegt,
neoplatonischer Herkunft. Er bezeichnet die Welt der körperlichen Erscheinungen, in der die
gefallene Seele - fern ihrer geistigen Heimat — eingeschlossen ist und die sie deshalb als fremd,
als ihr unähnlich, empfindet. Die Art und Weise, wie Augustinus diesen Ausdruck im siebten
Buch verwendet, ist jedoch kennzeichnend für seine Bemühungen, sich vom Neoplatonismus
abzusetzen. Nach neoplatonischem Verständnis führt der kontemplative Aufstieg die Seele aus
der regio dissimilitudinis heraus. Die Schau, die den Aufstieg vollendet, macht der Seele ihre
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 505

Lektüreerlebnis einleitet, findet mithin ihre Bestätigung. Mittels der negativen, indi-
rekten Schau wird der intellektuellen Anmaßung des jungen Augustinus ein Abbruch
erteilt — er erfährt am eigenen Leibe, daß Gott den Hochmütigen widersteht. Zwar
kommt er in den Besitz eines unumstößlichen Wissens: Seine intellektuelle Neu-
gier wird dadurch befriedigt, seine philosophischen Prätentionen werden dadurch
genährt. Doch die Art und Weise, wie er an dieses Wissen gelangt, ist dazu angetan,
sein Vertrauen in die Autonomie der menschlichen Vernunft zu erschüttern.
Nicht nur die Lektüre der platonischen Bücher, auch das Vorbild des Mailänder
Bischofs motiviert Augustinus dazu, den Akt der Selbsteinkehr zu vollziehen, der
im siebten Buch der Confessiones beschrieben wird. Ambrosius macht Augustinus
mit der Vorstellung der integritas vertraut. Als stummer Leser, der sich nicht dazu
bewegen läßt, sein secretum zu verlassen und ein Lehrgespräch zu führen, verweist
der Bischof den jungen Augustinus auf den Innenbereich der Seele, wo er - im
kontemplativen, wortlosen >Gespräch< mit dem inneren Lehrer, das heißt: mit Gott
selbst - Ruhe und Gewißheit finden soll.239 Durch die Lektüre der platonischen
Bücher empfängt Augustinus den entscheidenden Anstoß dazu, dem Beispiel des
Bischofs zu folgen. Im geistigen Innenraum, in den er daraufhin einzudringen
versucht, erlangt er zwar tatsächlich die gesuchte Gewißheit, aber eben keine Ruhe
- die Schau, zu der er sich erhebt, ist flüchtig und instabil. Der innere Lehrer, dem
er dort unmittelbar zu begegnen hofft, zieht sich genauso zurück, reduziert seine
Präsenz genauso auf den Status eines mittelbaren, zeichenhaften Verweises wie zuvor
der äußere Lehrer Ambrosius. Das Innere, in das Augustinus einkehrt, ist in gewisser
Weise ein Spiegelbild der Außenwelt, der er zu entkommen sucht. Es zeigt sich, daß
der vorgeblich reine Innenraum der Seele je schon vom Außen kontaminiert ist.
Die integritas der spirituellen Innerlichkeit erweist sich als eine bloße Wunschvor-
stellung. Durch sein Schweigen hat Ambrosius dem jungen Augustinus die Existenz
eines derartigen Innenraums vorgespiegelt. Der Bischof hat, wie der Autobiograph
bemerkt, nichts von der Unruhe merken lassen, von der in Wirklichkeit auch sein
Inneres erfüllt ist.240 Das Scheitern der spirituellen Schau, von dem im siebten Buch
der Confessiones berichtet wird, entlarvt die Vorstellung der integritas als ein Trugbild:
Es fuhrt zu der Einsicht, daß die Sphäre reiner Innerlichkeit und schierer Spiritualität
dem gefallenen Menschen nicht zugänglich ist.

Verwandtschaft mit dem göttlichen Prinzip, ihre Gottähnlichkeit, bewußt. Die Schau, die am
Ende des von Augustinus beschriebenen Aufstiegs steht, konfrontiert den Betrachter dagegen
mit dem Fehlen einer solchen similitudo. Ihm wird nicht die Verwandtschaft offenbart, die
seine Seele mit dem göttlichen Sein verbindet, er erkennt vielmehr, daß er ein Bewohner der
regio dissimilitudinis ist, die er aus eigener Kraft nicht zu verlassen vermag. Der Seelenaufstieg
erweist sich als kein geeigneter Weg, um ihn aus dieser Region herauszuführen.
239 Zur Konzeption des inneren Lehrers vgl. Augustinus: De magistro, XI. 38. — Der Begriff des in-
neren Lehrers geht bezeichnenderweise aufAmbrosius zurück. (Expositio in psalmos 118, sermo
8). Vgl. dazu U. Duchrow: Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin. S. 72f.
2<0 Vgl. Confessiones VI.3.3.
506 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Im Scheitern der Schau kündigt sich mithin jene neue Auffassung des Sün-
denfalls an, mit der sich Augustinus vom christlichen Piatonismus absetzt. Nach
ambrosianischer Vorstellung führte der Mensch vor dem Sündenfall eine rein
spirituelle, körperlose Existenz. Der Fall hat ihn aus diesem engelhaften Stand
herausgerissen und in ein Dasein gestürzt, das durch Körperlichkeit, Sexualität
und Tod gekennzeichnet ist.241 Laut Augustinus besaß der Mensch auch vor dem
Fall schon einen Körper — einen Körper jedoch, der vollkommen durch die Seele
beherrscht wurde. Der Fall ist für ihn also nicht bloß ein Fall in die Körperlichkeit,
sondern ein Ereignis, das die Seele selbst in Mitleidenschaft zieht. 242 Die Seele des
gefallenen Menschen wird nicht durch die aufgezwungene Verbindung mit dem
Körper geschwächt. Vielmehr erleidet sie an sich selbst ein Schwächung. Nach
Ansicht des Ambrosius wird die gefallene Seele zwar durch den Körper belastet
und verunreinigt, aber sie bewahrt ihr ursprüngliches Wesen, sie hat mithin die
Möglichkeit, sich aus eigener Kraft zu reinigen, wenn sie sich nur darauf besinnt,
was sie ihrer Natur nach ist. Bei Augustinus hingegen verläuft der innere Riß, der
den Zustand der Gefallenheit markiert, nicht zwischen Seele und Körper, sondern
die Seele ist in sich selbst zerrissen.243 Ihre Natur, ihr innerstes Wesen wird durch
den Fall in Mitleidenschaft gezogen. Daher ist sie von sich aus nicht dazu fähig,
ihren ursprünglichen Zustand wiederzugewinnen. Der Fall bewirkt den definitiven
Verlust der seelischen integritas. Die gebrochene Schau, die dem jungen Augustinus
im Anschluß an die Lektüre der platonischen Bücher zuteil wird, ist ein Indiz für
die konstitutive Schwäche der gefallenen Seele, die sich ohne göttlichen Beistand
nicht wieder zu erheben vermag.
Die Flüchtigkeit und Mittelbarkeit der Gottesschau, die der junge Augustinus im
Anschluß an das Studium der platonischen Bücher erlangt, macht ihm die Schwä-
che seiner gefallenen Seele bewußt und veranlaßt ihn dazu, sich nach einer anderen
Erkenntnisquelle umzusehen, die seinem Geisteszustand angemessener ist. Das
Scheitern des Seelenaufstiegs hat zur Folge, daß er sich der heiligen Schrift zuwendet:
»Itaque avidissime arripui venerabilem stilum spiritus tui et prae ceteris apostolum
Paulum«. 244 Da der innere Lehrer schweigt, genauer: da er in einer Sprache spricht,
die der gefallenen Kreatur nicht verständlich ist, begibt sich Augustinus in die Obhut
des von Gott eingesetzten äußeren Lehrers - in die Obhut der Schrift. Er vertraut
die Wunde, die ihm durch die Erbsünde geschlagen wurde, den pflegenden Fingern
(»curantibus digitis«) der Bibel an. 245 Augustinus deutet das Scheitern der Schau

241 Vgl. P. Brown: Die Keuschheit der Engel. S. 4 0 8 f „ S. 4 1 3 .


242 Ebd. S. 4 0 8 - 4 1 4 , S. 4 2 6 - 4 2 8 .
243 Vgl. die Willensanalyse, die Augustinus in Confessiones VTII.8.20ff. durchführt: Der Körper
gehorcht der Seele, obwohl er etwas ganz anderes als die Seele ist, doch die Seele, die sich
nicht zu einem Entschluß durchringen kann, ist unfähig, sich selbst zu gehorchen.
244 Confessiones V I I . 2 1 . 2 7 . (»Daher warf ich mich mit größtem Eifer auf die ehrwürdigen
Schriften deines Geistes, vor allem auf die des Apostel Paulus«.).
245 Ebd. V I I . 2 0 . 2 6 .
Die Confessiones ab Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 507

mithin als göttliche Mahnung, sich von der Schrift belehren zu lassen, anstatt sich
allein auf sein eigenes Geistesvermögen zu verlassen.246 Das platonische Schema von
admonitio und innerer Einkehr wird invertiert. Stellen die opaken Schriftzeichen
für Ambrosius einen Anreiz dar, die Sphäre des Körperlichen zu überschreiten und
sich zu einer rein geistigen Schau zu erheben, so versteht Augustinus umgekehrt die
spirituelle Schau als an den Betrachter gerichtete Aufforderung, sich in die Schrift zu
vertiefen. In dem einen Fall führt die Lektüre zur Schau, in dem anderen Fall führt
die Schau zur Lektüre. Wie Andrew Louth darlegt, steht die Schau bei Augustinus
- anders als bei Plotin — am Anfang des Wegs, der zu Gott hinführt, und nicht an
seinem Ende:
[Vision] is not the summit of anything: it is rather the beginning. The flash of vision that
discloses a fleeting glimpse of truth in itself opens up the possibility of the quest, it is not
at all the goal of the quest. Here we have an extraordinary break with Plotinus: what for
Plotinus is the culmination of the soul's experience is for [...] Augustine only the beginning
of the way.2"17

Die Weg-Metapher, derer sich Louth hier bedient, spielt im siebten Buch der Con-
fessiones bezeichnenderweise eine bedeutende Rolle.248 Der Autobiograph kleidet
seine Kritik an der neoplatonischen Konzeption der Schau in einen Vergleich, der
von dieser Metapher Gebrauch macht. Er vergleicht den Schauenden nämlich mit
einem Wanderer, der seine Heimat aus der Ferne erspäht, den Weg dorthin aber
nicht zu finden vermag.249 Der Mensch — so fährt der Autobiograph fort — soll sich
jedoch gerade nicht damit begnügen, die göttliche Heimat von Ferne zu betrachten,
er soll sich vielmehr dorthin auf den Weg machen. Der Weg, das ist zum einen
Christus,250 der in den platonischen Büchern nicht vorkommt, zum anderen aber
die Schrift, die den Suchenden zu seinem Ziel führt. Das Wort — das Wort, das in
Christus Fleisch geworden ist, das Wort der Bibel — ist folglich der Weg, auf dem
der Mensch zum wahren, durch die Schau lediglich angekündigten Genuß der
göttlichen Präsenz gelangen kann. Die Schau bietet bloß einen Anstoß, der den
Menschen dazu motiviert, diesen Weg zu gehen. Augustinus stellt dem Seelenauf-

246 Vgl. B. Stock: Augustine the Reader. S. 73: »Paul thus replaced Plotinus; progress through
reading superseded the ascent of the mind on its own.«
247 A. Louth: The Origins of the Christian Mystical Tradition. S. 149.
24 ' Augustinus verwendet sie mehrfach: Vgl. Confessiones VII. 18.24, VII.20.26 und VII.21.27.

Louth bezieht sich allerdings nicht auf diese Stellen, sondern auf vergleichbare Passagen aus
den Johannes-Predigten (1.8) sowie aus De trinitate (VIII.2.3). Da er die entsprechenden
Textstellen aus Confessiones VII ignoriert, kommt er zu dem fehlerhaften Ergebnis, daß erst
der späte Augustinus (»the mature Augustine«) den Bruch mit Plotin vollzogen habe (The
Origins of the Christian Mystical Tradition. S. 149). Tatsächlich distanziert sich Augustinus
aber bereits in den Confessiones vom christlichen Piatonismus eines Origenes oder Ambrosius.
- Zur Ablösung der neoplatonischen Leitvorstellung des Aufstiegs durch die Weg-Metapher
vgl. auch P. Brown: Augustine of Hippo. S. 152.
249 Confessiones VII.20.26.
250 Augustinus zitiert Joh. 14.6:»ego sum via et Veritas et vita« (vgl. Confessiones VII. 18.24).
508 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

stieg, den der Platoniker - auf der Basis eines anmaßenden Selbstvertrauens (»fiducia
sui«) — durchzuführen versucht, den Akt der Selbsterniedrigung entgegen, den Gott
vollzieht, indem er zu den Menschen herabsteigt und in menschlicher Sprache zu
ihnen spricht. 251
Diesem Aspekt der Selbsterniedrigung verleiht der Autobiograph mit Hilfe
eines weiteren Vergleichs eine schärfere Kontur: Demnach n i m m t der Schauende
den D u f t der göttlichen, rein geistigen Speise zwar wahr, ist aber unfähig, sie zu
essen. Für denjenigen jedoch, der sich auf den Weg machen will, anstatt bloß zu
schauen, hat Gott diese Speise mit dem Fleisch vermischt und daraus eine Milch
bereitet, um ihn in der kindlichen Schwäche seines gefallenen Geistes zu nähren. 252
Das Wort der Schrift figuriert somit als mütterliche Liebesgabe; in Gestalt der
Schrift reicht Gott dem gefallenen Menschen sozusagen seine mütterliche Brust
dar. Dieses göttliche Entgegenkommen kontrastiert in mehrerlei Hinsicht mit
dem Verhalten der neoplatonisch inspirierten Lehrer, denen Augustinus - sei es
in Buchform, sei es in der Person des Ambrosius - in Mailand begegnet. D e n n
erstens bringt die heilige Schrift die mütterlich konnotierte Dimension der Caritas
zur Geltung, die den platonischen Büchern gänzlich abgeht, die aber auch vom
Mailänder Bischof vernachlässigt wird. 253 Zweitens stellt sie eine dem schwachen
Geisteszustand des Gefallenen angepaßte Mischung des Geistigen und des Körperli-
chen dar, widerspricht also der vom Bischof vertretenen Doktrin der integritas und
der an sie gekoppelten Vorliebe für die allegorische Auslegung, welche den Geist
vom Buchstaben zu trennen sucht. Die Schrift, die in Analogie zur Inkarnation
gesehen wird, bindet die geistige Bedeutung eng an das sinnliche Sprachzeichen
u n d verlangt daher zunächst nach einem literalen Verständnis. 254 Drittens schließ-
lich besteht ein Gegensatz zwischen der D e m u t des göttlichen Lehrers, der auf das
Niveau der gefallenen Kreatur hinabsteigt und sich ihr in der unvollkommenen
Menschensprache mitteilt, u n d d e m H o c h m u t des Platonikers, der sein Herz
gegenüber den Mitmenschen verschließt und den Anspruch erhebt, ohne fremde

251
Ebd. VII.18.24. - Vgl. auch M. L. Colish: The Mirror of Language. S. 34: »God overcomes
it [sc. the disparity between Divine and human nature] by uniting Divinity and humanity in
the Word made flesh. In Christ, [...] God speaks to man as man«.
252
Confessiones VII. 18.24: »et cibum, cui capiendo invalidus eram, miscentem carni, quoniam
verbum caro factum est, ut infantiae nostrae lactesceret sapientia tua, per quam creasti on-
mia.«
253
Zum Ausfall der karitativen Dimension in den Platonicorum libri vgl. ebd. VII.20.26: »Ubi
enim erat illa aedificans Caritas a fundamento humilitatis, quod est Christus Iesus? Aut quando
illi libri me docerent eam?«
254
Vgl. B. Stock: Augustine the Reader. S. 70: »[Augustine] is able to find parallels in neopla-
tonism for philosophical statements in the Bible [...], but not for the incarnation and for
the literal story of Christ. These reflections translate his concerns with materiality [...] to the
literary sphere, where it reemerges in a more positive light as the literal or historical sense of
the biblical text. What is dispararaged as a remnant of worldliness in the individual seeking
God is reevalued as a condescending spirituality in the world.«
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 509

Hilfe zur Schau der Wahrheit gelangen zu können. Der Autobiograph erklärt,
daß er der Schriftlektüre, die er im Anschluß an den gescheiterten Seelenaufstieg
unternahm, die Einsicht in den Unterschied zwischen praesumptio und confessio ver-
dankt. 255 Die Schau des Platonikers ist demzufolge ein anmaßender Vorgriff auf die
Gotteserkenntnis. Wer sich mit der Schau begnügt und nicht auch den (durch die
Schrift gewiesenen) Weg beschreitet, der setzt den bloßen Vorschein der Wahrheit
in aberranter Weise mit der Wahrheit selbst gleich — er glaubt, bereits im Besitz des
Wahren zu sein, während er doch tatsächlich nur einen Anstoß erhält, danach zu
suchen. Den Paulus-Briefen, die Augustinus nach seinem platonischen Aufstiegs-
versuch studiert, läßt sich hingegen entnehmen, daß nicht nur der Gegenstand der
Schau, sondern auch die Fähigkeit zu schauen eine Gnadengabe Gottes darstellt. 256
Der Schauende besitzt also in Wirklichkeit gar nichts. Er ist in allem auf die gött-
liche Gnade angewiesen. Dem Leser der Schrift wird nahegelegt, ein demütiges
Bekenntnis seiner Schwäche und Hilfsbedürftigkeit abzulegen, während der Leser
der platonischen Bücher der dünkelhaften Illusion erliegt, seine Gottähnlichkeit
von sich aus aktualisieren zu können.
Um zusammenzufassen: Das Scheitern der Schau, von dem der Autobiograph im
siebten Buch der Confessiones berichtet, hat eine zwiespältige Wirkung. Einerseits
konfrontiert es den jungen Augustinus mit seiner durch den Fall bedingten spiritu-
ellen Schwäche und treibt ihn in die Arme der Schrift, wo er sich dieser Schwäche
vollends bewußt werden kann. Andererseits verschafft ihm die Schau die schon seit
langem gesuchte Gewißheit bezüglich des göttlichen Wesens, verleitet ihn also zu
der Annahme, das wahre Wissen von Gott zu besitzen, und befördert damit seine
Selbstgenügsamkeit. Am Ende des siebten Buches befindet sich der Protagonist der
Autobiographie in einer Schwellensituation: Er schwankt zwischen praesumptio
und confessio, zwischen philosophischem Wissensdünkel und christlicher Demut
hin und her. Er ist nun ein Wissender, aber er ahnt bereits, daß dieses Wissen nicht
genügt und kein wirkliches Eigentum begründet. Er sieht ein, daß den platonischen
Büchern mit der christologischen Dimension etwas Entscheidendes fehlt, doch er
ist noch nicht dazu fähig, die Mittlerfunktion Christi richtig einzuschätzen. 257 Ihm
wird die von der Erbsünde verursachte Schwäche seines Geistes bewußt, aber diese
spezifisch christliche Form der Selbsterkenntnis wird noch durch ihr neoplatoni-
sches Gegenstück überdeckt — durch die Uberzeugung von der Gottähnlichkeit
der menschlichen Seele. Der junge Augustinus empfindet ein Ungenügen an der
platonischen Philosophie und kann sich doch nicht ganz von ihr freimachen. Ihm
wird eine Lehre in christlicher humilitas erteilt, gleichwohl geriert er sich hochmütig
wie ein Neophyt der platonischen Geheimlehre: »Garriebam plane quasi peritus et,

255
Confessiones V1I.20.26.
256
Ebd. VII.21.27.
257
Er hält ihn nicht für den Mensch gewordenen Gott, sondern für einen M a n n von überragender
Weisheit. Vgl. ebd. VII.19.25.
510 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

nisi in Christo, salvatore nostro, viam tuam quaererem, non peritus sed periturus
essem.«258

6. Rehabilitation der Erzählung: Die narrative Dimension des


Bekehrungsgeschehens (Buch VIII)

Im Anschluß an die Lektüre der platonischen Bücher befindet sich der junge Augu-
stinus, wie der Autobiograph zu Beginn des achten Buches der Confessiones darlegt, in
einer höchst prekären Situation.259 Zwar ist er mittels der Schau, zu der ihm die Plato-
nicorum lihri verholfen haben, in den Besitz der Gewißheit gelangt, nach der er so lan-
ge schon suchte. Doch diese intellektuelle Einsicht hat keinerlei Auswirkungen auf sein
praktisches Leben. Nach der Schau ist Augustinus noch immer der gleiche wie vorher.
Seine Begegnung mit dem Hortensius hatte ihn dazu veranlaßt, sich auf die Suche nach
der sapientia zu begeben: Sobald er diese gefunden habe, so lautete damals sein Vorsatz,
werde er eine definitive Entscheidung treffen und sein Leben von Grund auf ändern.
Nun hat er den inneren Quell der Weisheit entdeckt, und doch zeigt er sich unfähig,
seine Lebensführung dementsprechend umzugestalten. Er kann sich für den Gott, des-
sen Erhabenheit er erkennt, nicht mit ganzer Seele entscheiden. Weiterhin verfolgt er
seine weltliche Karriere als Rhetoriklehrer; weiterhin hält er sich eine Konkubine, um
seine fleischlichen Begierden zu befriedigen.260 Die philosophische Gotteserkenntnis,
die er gewonnen hat, übt keinen spürbaren Einfluß auf seinen Willen aus. Offenbar ist
Augustinus einem Mißverständnis erlegen, als er diese intellektuelle Erkenntnis zum
alleinigen Gegenstand seiner Bestrebungen machte. Er ist immer davon ausgegangen,
daß die Einsicht in das Wahre, wenn sie erst einmal errungen sei, auch den Willen
zu bestimmen vermöge: Das richtige Wissen — diese im antiken Denken verwurzelte
Uberzeugung scheint ihn angeleitet zu haben - würde das richtige Handeln nach sich
ziehen. Nun, da er endlich im Besitz des richtigen Wissens ist, will sein Wille nicht so,
wie es die Einsicht befiehlt. Unverhofft stößt Augustinus auf den Widerstand eines re-
bellischen Willens. Er wird mit der Schwäche seines Vernunftvermögens konfrontiert,
das den Willen nicht unter seine Herrschaft bringen kann, aber auch mit der Schwäche
seines voluntativen Vermögens — er begehrt ja das neue Leben, doch sein Begehren ist
nicht stark genug, um eine Entscheidung herbeizufuhren.
Augustinus ist ein Gefangener seines eigenen Willens: »suspirabam ligatus non
ferro alieno, sed mea ferrea voluntate.«261 Nachdem er die intellektuellen Probleme

258 Ebd. VII. 20.26. (»Ich redete unbekümmert über diese Dinge wie ein Wissender, und war
doch, wenn ich nicht in Christus, unserem Erlöser, den Weg zu dir suchte, kein Wissender,
sondern ein dem Verderben Ausgelieferter.« [Ubersetzung modifiziert]).
259 Ebd. VIII.l.lf.
260 Ebd. VIII. 1.2.
261 Ebd. VIII.5.10.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 511

gelöst hat, die ihn so sehr bedrängten, kommt der bislang untergründig schwelende
Willenskonflikt offen zum Ausbruch, den er ohne fremde Hilfe nicht zu bewältigen
vermag. Die »conversion intellectuelle«, die durch Ambrosius und die platonischen
Bücher ausgelöst wurde, bedarf mithin, wie Pierre Courcelle darlegt, der Ergänzung
durch eine zweite Konversion, eine »conversion de la volonte«.262 Dabei handelt es
sich freilich um mehr als um eine bloße Ergänzung. Die Geschehnisse im Mailänder
Garten und die ihnen unmittelbar vorangehenden Begegnungen mit christlichen
Vorbildern, die den Sünder zur Selbsterkenntnis führen und seinen Willen stärken,
stellen tatsächlich das eigentliche, entscheidende Konversionsereignis dar. Es bildet
einen deutlich markierten Kontrapunkt zu der conversion intellectuelle, die sich in
mehrerlei Hinsicht als unzulänglich erweist.
Wie gelingt es der Vorsehung, den gebrochenen Willen des Sünders zu heilen?
Augustinus untersteht ja seit seiner Geburt einer providentiellen Führung, die
darauf abzielt, seinen Willen zu formen. Die Vorsehung manifestiert ihr Wirken
immer nur auf indirekte Weise, damit der Sünder sich Gott aus eigenem Antrieb
zuwendet. Sie versucht ihn durch seinen eigenen Willen zu leiten. Dieser Strategie
scheint jedoch kein Erfolg beschieden zu sein. Sie ruft beim Sünder einen Willen
zum Wissen hervor, aber das Wissen, das er erlangt, ist nicht stark genug, um den
Willen zu bestimmen und eine wirkliche Umkehr zu bewirken. Es stellt sich daher
die Frage, ob das Scheitern der conversion intellectuelle auf Seiten der Vorsehung
einen Strategiewechsel nach sich zieht. Ist es nicht an der Zeit, daß sie ihre sanfte,
mütterliche Zurückhaltung aufgibt und aus ihrer Verbergung hervortritt? Muß sie
den Sünder nicht unmittelbar, mit klaren väterlichen Machtworten, ansprechen, um
seinen renitenten Willen zu beugen? Kann sie es sich noch erlauben, den Umweg
über deutungsbedürftige Zeichen und Bücher zu gehen?
Für die Mehrheit der Interpreten besteht in der Tat kein Zweifel daran, daß Au-
gustinus im achten Buch der Confessiones eine unmittelbare göttliche Intervention
schildert, die den Willen des Sünders von außen bestimmt, ihm ein neues Leben
schenkt und ihn in die Position eines souveränen, mit überlegenem Wissen ausge-
statteten Erzählersubjekts einsetzt. Der Ruf tolle, lege gilt ihnen als Beleg dafür, daß
Gott den Sünder direkt anspricht. Im folgenden soll der Versuch unternommen
werden, diese Interpretation in Frage zu stellen. Es trifft zu: Der Autobiograph
zeichnet im achten Buch das Bild einer providentiellen Führung, die aus ihrer
Verbergung hervortritt. Sie kommt dem Sünder weit entgegen - nicht aber so
weit, daß Gott und Mensch unmittelbar miteinander kommunizieren. Auch im
achten Buch beschränkt sich die Vorsehung darauf, von Zeichen und indirekten
Darstellungsformen Gebrauch zu machen. Allerdings bedient sie sich solcher Zei-
chen, die nicht mehr bloß den Intellekt des Sünders ansprechen, sondern seinen
Willen affizieren. Das opake Rätselzeichen des stumm meditierenden Ambrosius,

262
P. Courcelle: Recherches sur les Confessions de Saint-Augustin. S. 169.
512 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

das den Leser zur spiritualisierenden Flucht aus Zeit und Raum animiert, wird
durch eine dezidiert zeitliche Vermittlungsform ersetzt - durch die exemplarische
Erzählung. Das narrative Exempel bedarf zwar keiner allegorischen Entzifferung, es
m u ß gleichwohl gelesen und gedeutet werden, ehe es wirken kann. Ahnliches gilt
für den Ruf, der im Zentrum des achten Buchs steht. Der Ruf ist kein väterliches
Befehlswort, das den Willen Gottes direkt offenbart, sondern eine Manifestation
>mütterlicher< Fürsorge. Die Gottheit kommt dem Sünder in Liebe entgegen, ohne
ihn jedoch von der Notwendigkeit zu entbinden, diese Manifestation als eine sol-
che zu deuten. Der Sünder m u ß dem liebenden Entgegenkommen Gottes vielmehr
seinerseits mit Liebe und Verständnis begegnen. Nur so kann sein Wille bestimmt
werden. Der Ruf begründet keine Gewißheit, sondern Glauben und Liebe.

Die Geschichte des Victorinus: Die mitreißende Kraft des Bekenntnisses

Dafür, daß die Berufung, die Augustinus im Mailänder Garten ereilt, kein unmit-
telbares göttliches Eingreifen darstellt, gibt es eine Vielzahl von Indizien. Es fällt
zunächst einmal auf, daß die Ereignisse, die Augustinus zu seiner Entscheidung für
ein neues Leben veranlassen, ihn keineswegs unvorbereitet treffen. Im Gegensatz
zum Apostel Paulus, der auf dem Weg nach Damaskus ohne die geringste Vorwar-
nung mit dem christlichen Gott konfrontiert wird, 263 steht Augustinus lange Zeit in
banger Erwartung des Umschwungs, der ihn endgültig zu einem Christen machen
soll. Er ist in mehrerlei Hinsicht darauf vorbereitet, diesen letzten Schritt zu voll-
ziehen: zum einen natürlich durch die vielfältigen Erfahrungen, die er im Umgang
mit der christlichen Religion und mit christlichen Bezugspersonen bereits gewonnen
hat - durch das Vorbild seiner Mutter und des Mailänder Bischofs, vor allem aber
durch die Lektüre der Heiligen Schrift. Zum anderen wird ihm kurz vor seiner Kon-
version noch eine ganz spezielle Vorbereitung, ein regelrechtes Konversionstraining
zuteil. Er trifft nämlich mit zwei erfahrenen Christen zusammen, die ihn in seinem
Vorsatz bestärken, ein neues, gottgefälliges Leben zu beginnen, und die ihn auf das
dramatische Geschehen der Bekehrung einstellen: mit Simplicianus, dem Lehrer des
Ambrosius, und mit Ponticianus, einem hohen kaiserlichen Beamten. Beide tragen
durch ihre Erzählungen wesentlich dazu bei, den Willenskonflikt, in dem sich der
Sünder befindet, aufzulösen. Augustinus hat ihnen zudem wichtige Kenntnisse zu
verdanken, ohne die er den Ruf, den er schließlich im Mailänder Garten vernimmt,
gar nicht als solchen verstehen könnte. Das hermeneutische Training Simplicians
und Ponticians trägt somit wesentlich zum Gelingen der Konversion bei. Die
Geschehnisse im Mailänder Garten stellen kein punktuelles, unvermittelt durch
Gott selbst ins Werk gesetztes Konversionsereignis dar, sondern den (vorläufigen)
Abschluß eines langwierigen Wandlungsprozesses, an dessen Verwirklichung auch
menschliche Hilfs- und Mittlerinstanzen maßgeblich beteiligt sind.

263 Vgl. Apg. 9.Iff.


Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 513

Die Begegnung m i t Simplicianus geht a u f die Initiative Augustins zurück. D a


er keinen Ausweg aus d e m Willenskonflikt sieht, der ihn gefangen hält, sucht er
die Unterstützung eines erfahrenen Seelsorgers. Augustinus hat das Bedürfnis, sich
einem anderen mitzuteilen und über seine inneren Kämpfe, seine Sehnsüchte u n d
Anfechtungen zu reden. M i t seinem Entschluß, sein Herz einem fremden M e n s c h e n
zu öffnen, unternimmt er einen ersten Schritt, um den H o c h m u t zu überwinden, der
ihn im Anschluß an die Lektüre der platonischen Bücher befallen hat. Augustinus
sieht nun ein, daß er den seelischen Konflikt, der ihn peinigt, nicht o h n e fremde
Hilfe - und schon gar nicht auf dem Wege solipsistischer Selbsteinkehr - bewältigen
kann. Er löst sich somit ein wenig von dem Leitbild des Mailänder Bischofs, aber er
löst sich noch nicht ganz. D e n n die Person, die er um Hilfe angeht, steht in einer
engen Beziehung zu Ambrosius. D a dieser sich weigert, gegenüber Augustinus die
Rolle des väterlichen Ratgebers zu spielen, wendet sich der junge M a n n an den geis-
tigen Vater des Bischofs: »Perrexi ergo ad Simplicianum, patrem in accipienda gratia
tunc episcopi Ambrosii et q u e m vere ut patrem diligebat.« 2 6 4 D e r greise Lehrer, der
Ambrosius wie einen S o h n zu behandeln pflegte, soll nun auch den verhinderten
S o h n dieses Sohns väterlich bei sich aufnehmen. Augustinus sucht in Simplicianus
den Vater, den er eigentlich in Ambrosius zu finden hoffte. Simplicianus ist ein wei-
terer Kandidat für die Vaterstelle, deren Vakanz den Sünder seit seiner J u g e n d dazu
angetrieben hat, nach Ersatzvätern Ausschau zu halten. 2 6 5
Simplician soll die Vaterrolle übernehmen, das heißt: Augustinus erwartet m e h r
und anderes von ihm als das, was er bislang von seinen spirituellen Lehrern erhalten
hat. D e r Sünder will keine feinsinnigen, abstrakt-intellektuellen Erörterungen hören,
sondern er wünscht, direkt angesprochen und ermahnt zu werden. Er sucht nach
einer verbindlichen Orientierung. Simplician soll ihm ins Gewissen reden; er soll

264 Confessiones VIII.2.3.


265 Vgl. E. Vance: The Functions and Limits o f Autobiography in Augustine's Confessions. S. 4 0 4 :
»Augustine's ongoing religious quest was also doubled by a quest for a father.« — Es fällt auf,
daß Augustinus seinem leiblichen Vater Patricius in den Confessiones kaum Beachtung schenkt.
Wenn er ihn einmal erwähnt, dann nur, um seine Mißbilligung des väterlichen Verhaltens
zum Ausdruck zu bringen (vgl. etwa Confessiones II.3.6). Der Tod des Patricius, der in das
siebzehnte Lebensjahr Augustins fällt, wird beiläufig — in einem Nebensatz - mitgeteilt (vgl.
ebd. III.4.7). Während der Autobiograph sich darum bemüht, die sanfte, von vielen über-
hörte Stimme der mütterlichen Instanz vernehmbar zu machen, versucht er zugleich, den
Vater nachträglich zum Schweigen zu bringen. Soll der leibliche Vater durch die Mutter oder
durch einen anderen, geistigen Vater ersetzt werden? Laut G. G. Harpham steht Augustins
spiritueller Werdegang im Zeichen seines Wunsches, sich eine neue Genealogie zu verschaffen
- der leibliche Vater Patricius wird mittels eines »symbolic murder« aus der Welt geschafft
und durch eine spirituelle Vaterinstanz ersetzt; die erstrebte Konversion ist eine »conversion of
paternity«. (Vgl. G . G . Harpham: T h e Ascetic Imperative in Culture and Criticism. S. 107f.)
Diese Deutung, die in ähnlicher Form auch von Freccero, Vance, Robbins und Lüdemann ver-
treten wird, halte ich für problematisch. Alle Figuren, die in den Confessiones auf die Vaterstelle
gesetzt werden, offenbaren bei näherer Betrachtung mütterliche Züge. Augustinus betreibt,
wie im folgenden gezeigt werden soll, die mütterliche Umkodierung der Vaterposition. Das
gilt auch für den Vater aller Väter - Gott.
514 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

das ganze Gewicht seiner väterlichen Autorität in die Waagschale werfen, um ihn aus
dem Zustand der Unentschiedenheit herauszuholen. Im G r u n d e erwartet Augusti-
nus von Simplicianus, daß er ihm durch ein väterliches Machtwort die Entscheidung
abnimmt, die zu fällen er selbst nicht fähig ist.
D o c h diese Erwartung wird nicht erfüllt. Zwar ist Simplicianus - anders als
Ambrosius — vorbehaltlos dazu bereit, dem jungen M a n n sein Gehör zu schenken.
Er bietet Augustinus die Gelegenheit, über seinen spirituellen Werdegang, über seine
seelischen N ö t e u n d Sorgen zu berichten. Seine Reaktion auf das Bekenntnis des
Sünders besteht aber nicht etwa darin, daß er ihm einen konkreten Ratschlag oder
eine klare Anweisung erteilt. Er sagt Augustinus nicht - jedenfalls nicht direkt - ,
was er tun müsse, um seine spirituelle Krise zu bewältigen. Vielmehr erzählt er ihm
eine Geschichte.
Simplician kleidet seinen Ratschlag in die Form eines narrativen Exempels. Er be-
lehrt den Ratsuchenden mithin auf indirekte Weise. Wieder einmal wird Augustinus
dazu veranlaßt, sich als Interpret eines Textes, als Entzifferer von Zeichen zu betätigen.
Allerdings werden seine hermeneutischen Fähigkeiten in diesem Falle auf keine allzu
schwere Probe gestellt. Denn es handelt sich hier um eine ganz einfache Geschichte,
eine Geschichte ohne jeden allegorischen Tiefsinn. Simplicianus verfährt als Seelen-
fuhrer zwar indirekt, aber auf andere Weise indirekt als sein >Sohn< Ambrosius. Anstatt
Augustinus mit opaken Rätselzeichen zu konfrontieren, k o m m t Simplicianus ihm mit
seiner eingängigen Erzählung sehr weit entgegen. Er stellt sich ganz auf die besondere
Lage ein, in der sich der junge Sünder befindet, und demonstriert auf diese Weise sein
sensibles Einfühlungsvermögen. Simplician erzählt die Geschichte eines Mannes, der
Augustinus in vielerlei Hinsicht ähnelt und sich aus einer vergleichbaren religiösen
Konfliktsituation zu befreien vermag. Die Geschichte spricht dem Zuhörer aus der
Seele; sie artikuliert ein Verlangen, das er selbst empfindet. Eben dadurch, daß sie
dieses Verlangen verbalisiert, verstärkt sie es — Augustinus entbrennt vor Begierde,
dem Menschen, dessen Geschichte er hört, nachzueifern: »exarsi ad imitandum«. 266
Simplicianus verfährt also gerade nicht wie ein autoritärer Vater, sondern er
gleicht der Mutter, die dem infans das Sprechen beibringt - aufgrund ihres Ein-
fühlungsvermögens verhilft sie die dem Begehren des Kindes zur Sprache und gibt
ihm auf diese Weise eine bestimmte Ausrichtung. Simplician geht ähnlich vor. Er
ist ein Hermeneut des Willens, nicht der intelligiblen Gehalte. Anstatt Augustinus
autoritäre Vorschriften zu machen und ihm die Entscheidung abzunehmen, kräftigt
er den Willen des Sünders, indem er i h m eine Geschichte präsentiert, die diesen
Willen entziffert.
Die Geschichte, die Augustinus von Simplicianus zu hören bekommt, handelt
von der Bekehrung des römischen Rhetors u n d Philosophen Marius Victorinus. 267

266
Confessiones VIII.5.10.
267
Zur Person des Marius Victorinus und zu seiner Bedeutung für den frühchristlichen Platonis-
mus vgl. Pierre Hadot: Marius Victorinus. Recherches sur sa vie et ses ceuvres. Paris 1971.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 515

Zwischen Augustinus und Victorinus gibt es, was die Lebensumstände anbetrifft,
eine Reihe auffälliger Parallelen. Beide sind afrikanischer Herkunft, beide haben den
Beruf des Rhetorikers ergriffen, beiden ist es gelungen, sich Zutritt zu den höheren
Gesellschaftskreisen des römischen Reiches zu verschaffen und die Weichen für
eine glanzvolle weltliche Karriere zu stellen. Wie Augustinus wurde auch Victo-
rinus zeitweilig durch eine >modische< religiöse Irrlehre betört - nicht durch den
Manichäismus, sondern durch den ägyptischen Osiris-Kult, der im aristokratischen
Milieu des spätantiken Rom große Verbreitung fand. 268 Eines vor allem verbindet
Victorinus mit Augustinus: die Liebe zur Philosophie. Auch er begeisterte sich für
den Neoplatonismus — ja, die Werke des Plotinos und des Porphyrios beeindruck-
ten ihn so sehr, daß er sich dazu entschloß, sie ins Lateinische zu übersetzen. Diese
Übertragungen markieren einen direkten Berührungspunkt zwischen Victorinus und
Augustinus, denn durch sie wurde letzterer aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem
neoplatonischen Denken bekannt gemacht. 265 In dem Portrait, das Simplicianus von
seinem Freund Victorinus liefert, findet Augustinus somit eine Vielzahl von Zügen
verzeichnet, die ihn zur Identifikation geradezu einladen.
Dazu zählt insbesondere auch die Art und Weise, wie Victorinus sich zum christ-
lichen Glauben bekehrte. Simplicianus berichtet darüber das folgende: Victorinus,
der auf dem Gipfelpunkt seines gesellschaftlichen Ansehens steht — man hat ihm für
seine hervorragende Lehrtätigkeit sogar ein Standbild auf dem Forum errichtet - ,
studiert im Zuge seiner philosophischen Forschungen auch die Heilige Schrift und
andere christliche Bücher, die einen großen Eindruck auf ihn machen. Eines Tages
sucht er seinen Freund Simplicianus auf, um ihm vertraulich - »non palam, sed
secretius et familiarius« - mitzuteilen, daß er bereits Christ sei: »Noveris me iam esse
christianum.« 270 Victorinus hat sich sozusagen selbst bekehrt. Ohne fremde Hilfe,
allein durch die Lektüre der Schrift und durch das Studium der neoplatonischen
Philosophie ist er zu Einsichten gelangt, die ihn von der Existenz des christlichen
Gottes überzeugt haben. Niemand anderes hat davon etwas mitbekommen. Die
Konversion ist für ihn eine intime Angelegenheit - etwas, was sich tief in seinem
Inneren abgespielt hat und wovon allenfalls ein guter Freund in Kenntnis gesetzt
werden darf. Die Einsichten, die ihm die neoplatonischen und christlichen Bücher
vermittelten, haben ihn innerlich getroffen, aber ihre Wirkung bleibt auf das Innere
beschränkt, denn äußerlich läßt sich Victorinus nichts von seinem Gesinnungswan-
del anmerken. Seine Lebensführung bleibt unverändert. Er tritt an Simplicianus mit
der Erwartung heran, von diesem zu seinem Wandel beglückwünscht zu werden.
Die Reaktion des Freundes ist jedoch eine ganz andere: »>Non credam nec deputabo
te inter christianos, nisi in ecclesia Christi videro<«, so lautet die Antwort, die er Vic-

268
Vgl. Confessiones VIII.2.3.
269
Siehe oben, Kapitel IX, Anm. 214.
270
Confessiones VIII.2.4.
516 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

torinus auf seine Eröffnung hin erteilt. 271 Simplicianus dementiert mithin, daß sein
Freund auf dem Wege der Lektüre und der Selbsteinkehr zum Christen geworden
sei; er stellt in Abrede, daß eine Konversion überhaupt stattgefunden habe. Christ
darf sich seiner Ansicht nach nur derjenige nennen, der in die Kirche geht, das heißt:
der durch den Empfang des Taufsakraments in die christliche Gemeinschaft aufge-
nommen wurde. Victorinus hat für die Meinung seines Freundes nur hochmütigen
Spott übrig: »»Ergo parietes faciunt christianos?<«, so entgegnet er Simplicianus. 272
Diese Replik ist charakteristisch für die esoterische Religionsauffassung des
Neoplatonisten. Sie bringt seine Verachtung für die sinnliche Außenwelt zum
Ausdruck. Auch die Kirche ist für ihn ein Teil dieser Außenwelt. Das Gotteshaus,
der Gottesdienst, die Sakramente: All dies ist seiner Ansicht nach nur etwas für die
Ungebildeten, die unfähig sind, sich zur intellektuellen Gottesschau zu erheben,
und die deshalb der sinnlichen Zeichen bedürfen, um eine mittelbare Beziehung
zum höchsten Wesen aufzubauen. Victorinus glaubt, daß der wahre Christ solche
äußerlichen Zeichen nicht nötig hat. Christsein ist für ihn eine Sache der inneren
Einstellung und der geistigen Schau. Die christliche Gemeinschaft interessiert ihn
nicht, denn er ist davon überzeugt, daß die Begegnung mit Gott etwas ist, was jeder
einzelne nur für sich alleine herbeiführen kann.
In erster Linie ist es also die neoplatonische Prägung seines Glaubens, die ihn
davon abhält, sich taufen zu lassen. Der römische Rhetor, der sich seinem Freund
anvertraut, befindet sich folglich in einer ganz ähnlichen Lage wie Augustinus zu
dem Zeitpunkt, da er dieselbe Person um Rat fragt. Doch Victorinus - darin besteht
der exemplarische Wert seiner Geschichte — kann sich schließlich aus dieser Lage
befreien, und zwar dadurch, daß er sein Bibelstudium fortsetzt. Er intensiviert seine
Schriftlektüre und gewinnt auf diese Weise Einsicht in die Unzulänglichkeit seines
intellektualistischen Gottesverständnisses, woraufhin er den Beschluß faßt, sich
taufen zu lassen. Als Bibelleser erkennt Victorinus seinen Hochmut: Gott erniedrigt
sich in seinem Bibelwort, er hingegen läßt sich nicht dazu herab, mit Seinesgleichen
in Gemeinschaft zu treten. Interessanterweise teilt der Erzähler Simplician über die
Umstände der Beschlußfassung nur das Nötigste mit, während er den Taufgottes-
dienst, der die Konversion besiegelt, in aller Ausführlichkeit schildert. Dabei richtet
er seine Aufmerksamkeit nicht auf den Taufakt selbst, sondern auf das Glaubensbe-
kenntnis, das der Täufling nach dem in der römischen Kirche herrschenden Brauch
vor der Gemeinde abzulegen hat. Die Priester wollen dem berühmten Rhetor
ausnahmsweise die Möglichkeit einräumen, sein Bekenntnis im stillen abzulei-
sten, doch Victorinus beharrt darauf, öffentlich, im Angesicht der versammelten
Menschenmenge, zu sprechen. Sobald er zu diesem Zweck vor die Gemeinde tritt,

271 Ebd. (»>Das kann ich nicht glauben. Ich werde dich erst dann zu den Christen zählen, wenn
ich dich in einer christlichen Kirche sehe.«<).
272 Ebd. (»>Dann sind es also die Mauern, die jemanden zum Christen machen?««).
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 517

verbreitet sich unter den Anwesenden eine gespannte Erwartung und eine freudige
Erregung, die geradezu explodiert, als der Täufling das Wort ergreift: »Pronuntiavit
ille fidem veracem praeclara fiducia, et volebant eum omnes rapere intro in cor suum.
Et rapiebant amando et gaudendo: hae rapientium manus erant.« 2 7 3
Warum akzentuiert Simplicianus in seinem Bericht den Taufgottesdienst, nicht
aber den geistigen Akt der Entscheidung, der der Taufe vorangeht? U n d w a r u m spielt
das öffentliche Glaubensbekenntnis in seiner Erzählung eine sehr viel größere Rolle
als das eigentliche Taufritual? Simplicianus beabsichtigt zweierlei. Z u m einen geht es
ihm darum, die wirkungsästhetische Funktion der Bekenntnisrede und der narratio
sichtbar zu machen. Darauf w i r d später noch ausführlich einzugehen sein. Z u m
anderen will er aufzeigen, daß die innerseelische W a n d l u n g nicht genügt, u m die
vollständige Umkehr des Sünders zu bewirken. Die Konversion wird durch die innere
Entscheidung nicht zum Abschluß gebracht. Ebensowenig wird sie durch den Emp-
fang des Taufsakraments besiegelt. Den Höhepunkt des Bekehrungsgeschehens bildet
vielmehr das Bekenntnis. Die Konversion vollendet sich erst im Bekenntnis, das der
Bekehrte vor Gott und den Menschen ablegt. Die Entscheidung, die der Sünder für
sich alleine, im intimen Selbstgespräch trifft, hat von sich aus nicht die Kraft, den
Bruch mit dem alten Leben zu bewirken. Sie m u ß vielmehr mitgeteilt werden, der
Bekehrte m u ß aus dem Inneren, in das er sich zurückgezogen hat, wieder hervortreten
und sich seinen Mitmenschen öffnen, damit die Konversion Bestand gewinnt.
Dies ist die Lehre, die Simplicianus seinem Hörer erteilen will, indem er ihm die
Geschichte seines Freundes Victorianus erzählt. Zu dem Zeitpunkt, da Augustinus
sich an den greisen Seelsorger wendet, kennt er bereits das Ziel seiner spirituellen
Wanderschaft, er kennt aufgrund seiner Schriftlektüre auch den Weg, der zu diesem
Ziel hinführt, aber er besitzt nicht die Kraft, den Weg auch zu gehen, sich klein zu
machen und sich durch diese Enge (»per eius angustias«) zu zwängen. 2 7 4 Simplicianus
zeigt auf, daß die Selbsterniedrigung, die mit dem Beschreiten des Wegs verbunden
ist, die Form des Bekenntnisses besitzt. Christus ist der Weg in Person (»via ipse
salvator«); 275 wer ihm nachfolgen will, m u ß sich >versprachlichen<. W i e Gott sich in
Christus, dem fleischgewordenen Wort, dazu herabläßt, mit den Menschen zu reden,
so soll auch der Bekehrte aus der Sphäre wortloser Kontemplation herabsteigen
und sein Inneres im Bekenntnis offenlegen. Die Gemeinde, die das Bekenntnis des
Victorinus bejubelt, feiert die Heimkehr eines Verirrten. Victorinus hat sich in zwei-
erlei Hinsicht verirrt: zum einen dadurch, daß er einer heidnischen Religion anhing
und weltliche Ziele verfolgte, zum anderen aber dadurch, daß er nach seiner ersten
Bekanntschaft mit der christlichen Doktrin in hochmütiger Selbstüberschätzung ein

273 Ebd. V1II.2.5. (»Er bekannte seinen aufrichtigen Glauben mit wunderbarer Sicherheit, und
alle wollten ihn in ihr Herz hineinreißen. Und sie rissen ihn wirklich in sich hinein; dies waren
die Hände, mit denen sie ihn an sich rissen.«).
274 Ebd. VIII. 1.1.
275 Ebd.
518 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gtfallenen Willens

eremitenhaftes Dasein zu führen, ein rein innerliches, geistiges und philosophisches


Christentum zu leben beabsichtigte.
Die Rückkehr, die von der Gemeinde gefeiert wird, ist also nicht nur die Rück-
kehr aus einem fleischlichen zum geistigen Dasein, sondern auch die Heimkunft
aus selbstsüchtiger Vereinzelung in das sprachliche Miteinander der Menschen. Das
Bekenntnis markiert die Rückkehr des abgehobenen Esoterikers in die mensch-
liche Sprache. Um diese Rückkehr vollziehen zu können, muß der Bekehrte starke
innere und äußere Widerstände überwinden. Er empfindet sie zunächst als einen
demütigenden Abstieg. Doch Simplicianus macht in seiner Erzählung deutlich,
daß die Rückkehr ins Wort nicht nur Willenskraft kostet, sondern diese zugleich
auch freisetzt. Das Bekenntnis ist nicht bloß der Weg zum Heil, es verleiht auch die
Kraft, den Weg zu beschreiten. Simplicianus betont die — im Wortsinne - mitrei-
ßende Wirkung der Freude, welche die Gemeinde beim Hören des Bekenntnisses
empfindet: Die Hörer wollen Victorianus in ihr Herz hineinreißen (»rapere intro in
cor suum«); die Freude und die Liebe, die das Bekenntnis bei ihnen hervorruft, sind
wie Hände, die den Bekenner an sich reißen (»hae rapientium manus erant«).276 Das
Wort rapere und seine Abkömmlinge arripere und abrumpere haben bei Augustinus
einen besonderen Stellenwert. Er verwendet sie in den Confessiones immer dann,
wenn er das Sich-Losreißen vom alten Leben oder das An-sich-Reißen des neuen
Lebens bezeichnen will, das mit dem Akt der Konversion verbunden ist.277 Als Adres-
satin des Bekenntnisses ist die Gemeinde somit keine bloße Staffage für das Drama
der Bekehrung. Vielmehr ist sie aktiv daran beteiligt. Indem sie den Bekenner mit
liebevollem Verlangen an sich reißt, reißt sie ihn endgültig aus seinem alten Leben
heraus. Einen Teil der Willenskraft, die der Bekehrte benötigt, um den Prozeß der
Umkehr zu vollenden, wird ihm mithin von den Adressaten seines Bekenntnisses
geschenkt. Dadurch, daß er seine Gefühlslage offenbart und seinen Beschluß zur
Umkehr kundgibt, ruft er bei seinen Hörern ein starkes Begehren hervor, das ihn
dann wiederum mit sich reißt und sein eigenes Verlangen stärkt. Gefühle, die in
der Rede mitgeteilt werden, erfahren dadurch, daß sie mit anderen geteilt werden,
eine Steigerung. Der verbale Gefühls- und Willensausdruck ist ansteckend: Die
Kette der Wörter, die Victorinus in seinem Bekenntnis äußert, verlängert sich im
Freudengemurmel der Zuhörer (»strepitu gratulationis«), das sich von Mund zu
Mund fortpflanzt, dann zu einem Jubelchor anschwillt (»sonuit presso sonitu per ora
cunctorum conlaetantium: »Victorinus, Victorinus<«) und schließlich in der Ekstase
des An-sich-Reißens kulminiert.278 Das Bekenntnis hat ein kaum zu kontrollierendes

276 Ebd. VIII.2.5.


277 Vgl. etwa VIII.6.15 (»arripere talem vitam«, »abrupi me ab ilia spe nostra«), VIII.8.19,
VIII. 12.29. - Zur Signifikanz des Worts rapere im Rahmen des augustinischen Konversions-
geschehens vgl. auch B. Stock: Augustine the Reader. S. 82f.
278 Confessiones VIII.2.5. (»Rauschend ertönte der Ruf aus dem Mund aller, die sich mitfreuten:
Victorinus, Victorinus!«<).
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 519

Anwachsen der Erregung zur Folge. Es generiert die Liebe der Mitmenschen, und
diese liebevolle Teilnahme gibt dem Bekenner die Kraft, den Weg zu gehen, dessen
Ziel er von fem erblickt.

Die perverse Ö k o n o m i e des Erzählens

Die gewaltige Freude über das Bekenntnis des Victorinus, die Simplicianus in sei-
ner Erzählung herausstreicht und die auf den Hörer seiner Geschichte überspringt,
veranlaßt den Autobiographen dazu, seinen Bericht zu unterbrechen, um auf die
möglichen Ursachen dieses Gefühlsausbruchs zu reflektieren. Er denkt über die von
Simplician hervorgehobene wirkungsästhetische Dimension der Bekenntnisrede und
der narratio nach. Zum einen fuhrt Augustinus den Freudenausbruch auf den Akt
der Mit-Teilung zurück: Geteilte Freude, so erklärt er, ist vervielfältigte, potenzierte
Freude.279 Zum anderen versucht er, den Freudenexzeß psychologisch aus der Natur
des menschlichen Begehrens herzuleiten. Der Mensch, so argumentiert er, freut sich
mehr über Dinge, die schwer zu erringen sind, als über solche, die ihm wie von selbst
zufallen. Die Lust über das, was verloren und wiedergefunden wurde, ist größer als
die Freude des permanenten Besitzes.280
Der Autobiograph nennt eine Reihe von Beispielen aus dem gewöhnlichen
Leben, um dieses psychologische Phänomen zu veranschaulichen: Die Passagiere
eines Schiffes, das einen schweren Sturm überstanden hat, brechen in großen Jubel
aus, wohingegen die Überfahrt, die ohne Zwischenfälle verläuft, keine besonderen
Reaktionen hervorruft. Der schwer Erkrankte wird nach seiner Genesung von sei-
nen Freunden gefeiert, während er als Gesunder zuvor von denselben Personen mit
Gleichmut betrachtet wurde. 281 Laut Augustinus gehen die Menschen sogar soweit,
sich künstliche Beschwernisse aufzuerlegen, um bestimmte Gegenstände begeh-
renswert erscheinen zu lassen und somit die Lust zu steigern, die mit ihrem Erwerb
verbunden ist: Wer gerne trinkt, ißt Gesalzenes und vergrößert auf diese Weise seinen
Durst; der Heiratswillige kommt erst nach einer längeren Verlobungszeit in den
Genuß der Braut, nach der es ihn dann um so stärker verlangt. 282
Die Beispiele aus dem weltlichen Bereich, auf die der Autobiograph verweist,
tauchen die menschliche Freude mithin in ein Zwielicht. Offenbar bedarf es eines
Hindernisses, einer Gefahr oder eines Aufschubs, damit der Gegenstand der Freude
ein begehrliches Ansehen gewinnt. Der Gegenstand selbst, so wertvoll er auch sein
mag, kann die Freude, die ihm angemessen ist, nicht hervorrufen. Die Freude ist
gewissermaßen blind. Die vom Autobiographen angeführten Beispiele stellen die

m Vgl. ebd. VIII.4.9: »Quando enim cum multis gaudetur, et in singulis uberius est gaudium,
quia fervefaciunt se et inflammantur ex alterutro.«
280 Ebd. VIII.3.7.
281 Ebd.
282 Ebd.
520 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Fähigkeit des Menschen in Frage, den wahren Wert der Dinge zu ermessen, an
denen er sich delektiert. Es ist unklar, inwieweit die Freude durch den Gegenstand
selbst, seine Qualitäten und Vorzüge, oder durch die Uberwindung der Hindernisse
ausgelöst wird, die sich seinem Genuß in den Weg stellen. Die guten Eigenschaften,
derentwegen wir einen Freund schätzen (oder doch schätzen sollten), ändern sich
ja nicht dadurch, daß er erkrankt und wieder gesundet. Dennoch, so Augustinus,
bereitet uns der Freund, nachdem er diese Gefahr überstanden hat, größere Freude
als zuvor. Macht ihn der drohende Verlust also allererst schätzenswert? Lieben wir
ihn aufgrund seiner wertvollen Eigenschaften oder wegen der dramatischen Krise,
die er durchlebt hat? Öffnet uns diese Krise die Augen für seinen wahren Wert?
Oder vernebelt sie im Gegenteil unseren Blick, so daß wir ihn nun für liebenswerter
halten, als er in Wirklichkeit ist?
Der psychologische Mechanismus, den Augustinus durch eine Vielzahl von
Beispielen zu belegen sucht, erklärt die unbändige Freude, von der die römische
Gemeinde angesichts des bekehrten Victorinus ergriffen wird: Es handelt sich dabei
um die Freude über einen Genesenen, einen aus großer Gefahr Geretteten. Die
Erklärung der Freude gibt aber zugleich auch Anlaß zu einigen beunruhigenden
Fragen hinsichtlich ihres kognitiven Status und ihrer Verflechtung in die aberrante
Struktur des menschlichen Begehrens. Die Freude steht im Verdacht, ihren Gegen-
stand zu verfehlen. Es hat den Anschein, als treffe sie nie das richtige Maß — mal
(wie im Falle des Genesenen) schießt sie über ihr Ziel hinaus, mal (wie im Falle des
Gesunden) bleibt sie schwach und kraftlos. Die Maßlosigkeit der Freude verweist
auf die durch den Sündenfall bedingte Unfähigkeit des Menschen, den Wert der
Dinge richtig einzuschätzen und seinen Willen dementsprechend auszurichten.
Diese Unfähigkeit manifestiert sich in Gestalt eines fundamentalen Fehl- oder
Vorurteils, das der menschlichen Freude zugrunde liegt. Eine der vermeintlichen
Gewißheiten, die Augustinus dem Studium der Platonicorum libri verdankt, besteht
nämlich in der Einsicht, daß das Unveränderliche besser als das Veränderliche sei.283
Demnach müßten die Dinge, die keiner Veränderung unterliegen, eine weitaus
größere Freude erregen als das Unstetige und Wandelbare. Wahre Freude dürfte nur
aus der kontemplativen Betrachtung des Ewigen hervorgehen. Doch die gefallene
Kreatur scheint so beschaffen zu sein, daß sie das Wandelbare dem Unwandelbaren
vorzieht. Die Freude der römischen Gemeinde entzündet sich gerade nicht am
Beständigen, sondern an der plötzlichen Veränderung, dem unverhofften Wandel.
Dieser Wandel ist im Falle des Victorinus zwar ein Wandel zum Guten, das ändert
aber nichts daran, daß der wandelbare Gute, der erst dem Schlechten verfallen ist
und dann wieder zum Guten zurückfindet, gegenüber dem beständigen Guten, der
Schlechtere also gegenüber dem Besseren, einen Vorrang erhält. Nach neoplatoni-
schem Verständnis ist eine solche Freude als minderwertig anzusehen, denn sie ent-

283 Vgl. ebd. VII. 1.1.


Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 521

steht, wenn sich die Seele vom Einen, Ewigen abwendet und sich durch die Vielfalt
der sinnlichen Erscheinungen zerstreuen läßt, sich im zeitlichen Nacheinander der
Ereignisse zerspaltet.
Bemerkenswerterweise schließt sich der Autobiograph dieser Auffassung hier
jedoch nicht an. Er stößt die neoplatonische Wertordnung um. Augustinus zeigt auf,
wie sehr die menschliche Freude in das Zeitliche verstrickt ist, doch anstatt sie dar-
aufhin zu verdammen, heißt er sie ausdrücklich gut, ja, er führt biblische Belegstellen
an, u m ihre Berechtigung glaubhaft zu machen. Der Autobiograph verweist auf die
drei Gleichnisse aus dem fünfzehnten Kapitel des Lukasevangeliums: das Gleichnis
vom verlorenen Schaf, von der verlorenen Drachme und vom verlorenen Sohn. 2 8 4
Alle drei Geschichten handeln vom Verlust eines Gegenstandes und von der Freude
des Wiederfindens, und diese Freude ist jedesmal Ausdruck eines >verrückten<, d e m
rationalen Kalkül Hohn sprechenden Wertempfindens, einer perversen Ö k o n o m i e .
Im ersten Gleichnis setzt der Hirte die neunundneunzig Schafe, die ihm verblieben
sind, aufs Spiel; er läßt sie im Stich, u m das eine verirrte Schaf zu retten. Dieses eine
ist ihm also mehr wert als alle übrigen zusammen. Im zweiten Gleichnis freut sich die
Frau mehr über die eine Drachme, die sie verloren und wiedergefunden hat, als über
die neun übrigen, die immer in ihrem Besitz waren. Das Schicksal, das diese eine
Drachme erlitten hat, potenziert mithin ihren Wert. Im dritten Gleichnis schließlich
erregt die reuige Rückkehr des jüngeren Sohns, der sein Erbe in der Fremde verpraßt
hat, beim Vater größere Freude als der beständige Gehorsam des älteren. In allen drei
Fällen erfolgt ein Umschlag von Verlust in Gewinn. 2 8 5 Dieser Umschlag erzeugt eine
Freude, die - wie die Gleichnisrede selbst indiziert - von einigen als maßlos, ja als
ungerecht empfunden wird: Der ältere Bruder beschwert sich bei seinem Vater über
die Freudenfeier, die dieser zu Ehren des Heimkehrers veranstaltet; er sieht darin
einen Verstoß gegen das Gebot der Gleichbehandlung. 2 8 6
Der Daheimgebliebene kann die Freude seines Vaters mithin nicht nachvollzie-
hen; die seltsame Ökonomie, die ihr zugrunde liegt, ist ihm unverständlich. Der
ältere Bruder ist, wie Jill Robbins darlegt, »a figure for [...] misunderstanding« u n d
als solche zugleich »a figure for the Jew, specifically for the Jew in and in relation
to the Gospel.« 287 Denn der Daheimgebliebene hat eine legalistische Vorstellung
von der Gerechtigkeit; er glaubt, die Freude und Anerkennung des Vaters verdient
zu haben, weil er seinen Anweisungen immer nachgekommen ist und sich niemals
außerhalb der gesetzlichen Ordnung bewegt hat. Der ältere Bruder rechnet Vergehen
und Verdienste gegeneinander auf. Die alttestamentarische »economy of reciprocal
exchange«, die er vertritt, kontrastiert mit der neutestamentarischen Ö k o n o m i e

284 Ebd. VIII.3.6.


285 Vgl. J. Robbins: Prodigal Son / Elder Brother. S. 34: »In the economy of the prodigal son's
career, loss brings about a greater restoration.«
286 Lk. 15.29f.
287 J. Robbins: Prodigal Son / Elder Brother. S. 3 7 - 3 9
522 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

der Gnade, die das Handeln des Vaters bestimmt. 288 Die göttliche Gnade richtet
sich nicht nach dem Verdienst; sie durchkreuzt alle menschlichen Berechnungen.
Indem sich der ältere Bruder als unfähig erweist, das väterliche Verhalten auf die
Kategorie der Gnade zu beziehen, präfiguriert er die literalisierende Fehllektüre der
Parabel. Laut Robbins ist er ein textimmanenter Repräsentant des unverständigen,
dem Buchstaben verhafteten Lesers, der den parabolischen Gehalt des Gleichnisses
verfehlt: »The reader who does not understand the parable is [...] inscribed as the
elder brother. [...] The elder brother is indeed a Cain, a letter that kills.« 289
Ist die exzessive Freude, mit der die römische Gemeinde auf die Bekehrung des
Victorinus reagiert, ein Ausfluß der maßlosen, unberechenbaren Gnade Gottes?
Ist sie also doch nicht menschlich-kreatürlichen, sondern göttlichen Ursprungs?
Verbirgt sich hinter dieser Freude ein spirituelles Geheimnis? Es wäre voreilig, einen
solchen Schluß zu ziehen. Denn von der Gnade ist in Augustins Überlegungen
zum Komplex der Freude mit keinem Wort die Rede. Der Autobiograph stellt das
Gleichnis vom verlorenen Sohn unvermittelt neben die zum Teil banalen Beispiele
aus dem gewöhnlichen Menschenleben, so als wolle er damit ein irdisches und
nicht etwa ein himmlisches Phänomen illustrieren. Die Freude, die der Vater des
verloren Sohns empfindet, verweist unter dieser Voraussetzung nicht auf ein uner-
gründliches göttliches, sondern auf ein ganz gewöhnliches menschliches Verhalten,
das jedermann leicht nachvollziehen kann. Für Augustinus hat die väterliche Freude
nichts Geheimnisvolles an sich. Daß ein Vater sich über die Rückkehr des Sohnes
freut, den er fiir verloren, ja für tot hielt, ist seiner Ansicht nach eine >natürliche<,
>menschliche< Reaktion.
Augustinus betrachtet das Gleichnis folglich unter einem ganz anderen Blickwin-
kel als Robbins. Robbins akzentuiert den spirituellen Aufstieg, den der Mensch zu
vollziehen hat, wenn er in das Geheimnis der göttlichen Gnade eindringen will: Er
muß den Buchstaben des Gesetzes wie auch den der Parabel hinter sich lassen, um
den Geist der Gnade erfassen zu können. Unter dieser Prämisse ist auch die Freude
des Vaters nur ein rätselhaftes Zeichen, das es zu entziffern gilt. Augustinus hingegen
richtet sein Augenmerk nicht auf den Aufstieg, den der Leser durch die spirituelle
Deutung der Parabel vollbringt, sondern auf den Abstieg, den Gott unternimmt, um
sich den Menschen verständlich zu machen. Gott gewinnt die Menschen für sich,
indem er selbst Mensch wird und von menschlichen Verständigungsinstrumenten
Gebrauch macht. Die Freude, die im Gleichnis erwähnt wird, stellt fiir die Menschen
einen Anknüpfungspunkt dar, weil es sich dabei um eine spezifisch menschliche
Form der Freude handelt. U m die Freude des Vaters zu verstehen, bedarf es dem-
nach keiner intellektuellen Anstrengung. Es wird vielmehr vom Leser verlangt, daß
er diese Freude nachempfindet, daß er sein Herz öffnet und an dem Schicksal des

288
Ebd. S. 37.
289
Ebd. S. 38.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 523

Vaters wie auch des Sohnes teilnimmt. Die Parabel führt dem Leser diese Haltung
vor: Der Vater, der den ausgezehrten Heimkehrer aus der Ferne erblickt, wird von
Mitleid und Erbarmen gepackt, rennt dem Vermißten entgegen und schließt ihn
in seine Arme.290 Das liebevolle Entgegenkommen des Vaters versinnbildlicht das
göttliche Erbarmen - eben jenes Erbarmen, das Gott demonstriert, indem er sich
dem Menschen zuwendet und in seiner Sprache zu ihm spricht.
Um das Sinnbild zu verstehen, muß der Leser mithin nicht nach verborgenen
Bedeutungen suchen. Es genügt, wenn er die väterliche Freude nachempfindet. Das
Gleichnis bringt ihm das göttliche Erbarmen nahe und erbarmt sich dadurch seiner.
Es präsentiert ein Erbarmen, das auf menschliche Belange zugeschnitten ist — ein
Erbarmen, an dem der menschliche Leser teilhaben, das er mitfühlen und nachah-
men kann, ja das er nachahmen soll. Augustinus liest die Parabel als ein moralisches
Exempel. Auch er begreift den älteren Bruder als »a figure for misunderstanding«.
Doch er führt dieses Mißverstehen gerade nicht auf die Unfähigkeit zurück, den
Buchstaben auf den Geist hin zu übersteigen. Seiner Ansicht nach markiert es
vielmehr das fehlende menschliche Verständnis, die mangelnde Bereitschaft, sich
dem Mitmenschen zuzuwenden und an seinem Schicksal teilzunehmen, mit einem
Wort: das Fehlen der Liebe. Dem älteren Bruder sind die Prinzipien der karitativen
Hermeneutik fremd. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist an die Schriftgelehrten
adressiert.291 Nach Augustins Ansicht repräsentiert der ältere Bruder einen solchen
Schriftgelehrten - einen Leser, der sich hinter der Schrift verschanzt und im Zuge
seiner kontemplativen Einkehr die Mitmenschen aus dem Auge verliert, einen Leser,
der sich weigert, dem christlichen Beispiel zu folgen und aus der vermeintlichen
Höhe der spirituellen Schau wieder zu den Menschen herabzusteigen. Augustinus
nimmt mit seiner Deutung des Gleichnisses also nicht (nur) die Literalisten und
Legalisten ins Visier. Er wendet sich vor allem gegen den übertriebenen Spiritualis-
mus der christlichen Neoplatonisten. Der ältere Bruder gilt ihm als eine figura des
unkaritativen Lesers, der sich aus der menschlichen Gemeinschaft zurückzieht, um
in der unmittelbaren Begegnung mit Gott sein Heil zu suchen.
Augustinus liest das Gleichnis vom verlorenen Sohn nicht als verschlüsselte
Botschaft, die eine spirituelle Lektüre erfordert, sondern als eine einfache, literal zu
verstehende Geschichte, die den Leser zur Teilnahme bewegen soll. Paradigmati-
schen Wert hat diese Geschichte für ihn aber vor allem deshalb, weil sie, so simpel
sie auch erscheinen mag, eine selbstreflexive, metanarrative Dimension besitzt. Sie
animiert nicht nur zur Teilnahme, sie fuhrt auch vor, wie und mit welchen Mitteln
man Teilnahme erregen kann. Der ältere Sohn fällt dadurch aus dem Rahmen, daß
er am Schicksal seines Bruders keinerlei Anteil nimmt, doch zugleich bemüht er sich

250 Lk. 15-20: »Cum autem adhuc longe esset vidit ilium pater ipsius et misericordia motus est
et adcurrens cecidit supra Collum eius et osculatus est illum«.
291 Lk. 15.2.
524 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

vergeblich darum, andere zur Teilnahme an seinem eigenen Schicksal zu bewegen.


Der Vater wird durch die Geschichte des jüngeren Sohns zu Gefühlen des Mitleids
und der Freude hingerissen, für den älteren Sohn hingegen hat er kein Verständnis,
obwohl dieser ihm die Gründe für sein Verhalten auseinandersetzt. 292 Eben darin
liegt das Problem: Der ältere Sohn wartet mit Erklärungen auf, anstatt eine Ge-
schichte zu erzählen. Er kann gar keine Geschichte erzählen, denn im Gegensatz
zu seinem Bruder hat er nichts erlebt, was sich in narrativer Form mitteilen ließe.
Der jüngere Sohn war in der Fremde und ist wieder zurückgekehrt; er hat sich von
seinem Vater losgesagt und sich wieder mit ihm versöhnt; er hat das, was sein Bruder
die ganze Zeit über besaß, zuerst verloren und dann wiedergewonnen, ja er hat auf
diesem Umweg noch etwas hinzugewonnen - nämlich die Teilnahme und Liebe der
Daheimgebliebenen. Der ältere Sohn hat keine solche Veränderung durchgemacht.
Er hat nichts verloren, aber auch nichts gewonnen. Er ist sich immer gleich geblieben
und steht daher gewissermaßen außerhalb der Zeit. 293
Teilnahme erregt also nur der, der eine zeitliche Existenz führt - ein Dasein, das
sich narrativieren läßt. Weggang und Rückkehr, Verlust und Wiedergewinn, Bruch
und Versöhnung sind narrative Schemata, die es erlauben, der zeitlichen Existenz
eine sinnfällige Struktur zu verleihen. Tatsächlich weist die Geschichte des jüngeren
Sohns eine auffällige strukturelle Geschlossenheit auf. Sie erfüllt die Bedingungen,
die Aristoteles an einen mythos stellt: 294 Sie hat einen klar markierten Anfang (der
Sohn läßt sich sein Erbteil ausbezahlen und verläßt die Heimat), eine deutlich profi-
lierte Mitte (er verweilt in der Fremde, wo er sein Erbe verpraßt) und ein prägnantes
Ende (er kehrt zurück und versöhnt sich mit seinem Vater). Augustinus richtet sein
besonderes Augenmerk auf den Mittelteil der Geschichte. Nach all dem, was er über
die konstitutive Funktion von Hindernissen und Umwegen für das menschliche
Begehren ausgeführt hat, ist es nicht verwunderlich, daß er der Mitte der Erzählung
die entscheidende Bedeutung für die Erregung der menschlichen Teilnahme zuweist.
Der Mittelteil der Geschichte steuert auf eine Peripetie zu: Der Sohn gerät in eine
Not, die sich stetig vergrößert, bis er schließlich seinen Fehler einsieht und sich dazu
entscheidet, die Heimkehr anzutreten. Die Mitte unterliegt mithin einem Kalkül
der Steigerung und des Aufschubs. Je weiter der Abtrünnige sich von seinem Vater
entfernt, je größer der Verlust ist, den er erleidet, je mehr die Hindernisse anwachsen,
die der Versöhnung mit dem Vater entgegenstehen, desto intensiver ist die Anteil-
nahme derer, die seine Erzählung vernehmen. In der Geschichte vom verlorenen
Sohn wird dieses Steigerungspotential voll und ganz ausgenutzt. Der Sohn verliert

2,2 Lk. 15.2%


293 Vgl. J . Robbins: Prodigal Son / Elder Brother. S. 3 6 : »The prodigal son, in his death and
resurrection, has a history, but the elder brother seems to exist in a dreary present [ . . . ] . Within
the parable, the elder brother undergoes no conversion (death and rebirth) and has, therefore,
no temporal destiny and, in a sense, no >story<.«
294 Vgl. Aristoteles: Poetik 1450b.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 525

alles; er begibt sich in die größtmögliche räumliche und moralische Entfernung von
seinem Vater und kehrt erst in dem Moment um, da ihn der Tod bedroht.
Die Geschichte akzentuiert also die Mitte, sie verweilt so lange wie möglich
in der Fremde des Zeitlichen und zögert die Rückkehr in die zeitlose Sphäre der
väterlichen Heimat hinaus, um das Begehren danach zu potenzieren. Der Erzähler
füttert den Leser gleichsam mit Gesalzenem, um seinen Durst zu steigern und somit
die Lust am Trinken zu erhöhen. Laut Augustinus ist die Teilnahme, die auf diese
Weise erzeugt wird, derart intensiv, daß die Freude, die im väterlichen Haus bei der
Rückkehr des Sohnes herrscht, nicht von der Freude unterschieden werden kann,
die bei den Hörern oder Lesern der Geschichte ausgelöst wird: »et lacrimas excutit
gaudium sollemnitatis domus tuae, cum legitur in domo tua de minore filio tuo,
quoniam mortuus erat et revixit, perierat et inventus est,«295 Domus tuus — das ist so-
wohl das Haus des gnädigen Vaters, von dem im Gleichnis die Rede ist, als auch das
Gotteshaus, die Kirche, wo dieses Gleichnis vorgelesen wird. Das eine ist Sinnbild
des anderen, aber die Besucher des Gottesdienstes, die der Lesung lauschen und am
Schicksal des Sohnes teilhaben, haben es nicht nötig, dieses Sinnbild zu entziffern.
Sie werden vielmehr so sehr in die Geschichte hineingezogen, daß die Grenze zwi-
schen literaler und figuraler Bedeutung, zwischen Erzählung und Wirklichkeit ihre
Relevanz verliert. Eine spirituelle Deutung, welche die Bedeutungsebenen sauber
voneinander abzugrenzen versuchte, wäre der affektiven Wirkung der Geschichte
abträglich.
Auf diese affektive Wirkung kommt es dem Autobiographen aber gerade an. Die
narratio soll nicht das Wissen, sondern den Willen des Hörers stärken. Um den Wil-
lenskonflikt aufzulösen, in dem sich Augustinus zum Zeitpunkt seiner Begegnung
mit Simplicianus befindet, bedarf es solcher Geschichten. Der Autobiograph nimmt
die Erzählung Simplicians zum Anlaß, die einfache Ausdrucksform der Geschichte
zu rehabilitieren.296 Die Konversionsgeschichte, für die paradigmatisch das Gleichnis
vom verlorenen Sohn einsteht, macht die an sich verderbliche menschliche Lust am

2,5
Confessiones VIII.3.6. (»Und Tränen treibt uns die Freudenfeier deines Hauses in die Augen,
wenn man in deinem Hause die Geschichte von deinem jüngeren Sohn vorliest, weil er ein
toter war und wieder zum Leben kam, verloren war und wiedergefunden wurde.«[Ubersetzung
modifiziert]).
2
" Das ganze achte Buch steht im Zeichen der narratio. Schon im Proömium weist Augustinus
programmatisch auf den dezidiert narrativen Charakter dieses Buches hin (»quomodo diru-
pisti ea [sc. vincula mea], narrabo«, VIII. 1.1.). Vgl. Anton van Hooff: Confessiones 8: Die
Dialektik der Umkehr. In: Die Confessiones des Augustinus von Hippo. E i n f ü h r u n g und
Interpretationen zu den dreizehn Büchern. S. 3 4 3 - 3 8 8 , hier: S. 345: »Den Confessiones eignet
in ihrer Gesamtheit, wie jedweder Autobiographie, der Charakter einer Erzählung. D e n n o c h
fällt es auf, daß gerade das achte Buch den Erzählcharakter so deutlich hervorhebt. Bereits
in den ersten Zeilen erklärt Augustinus seine Absicht und kennzeichnet in einem die Weise,
wie er sie auszuführen gedenkt. Die >confessio< Gott gegenüber vollzieht er, indem er anderen
erzählt, wie Gott in seinem Leben handelnd anwesend war. Die >narratio< ist die Gestalt der
>confessio<«.
526 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Zeitlichen fur heilsame Zwecke dienstbar. Jean-Pierre Schobinger weist darauf hin,
daß die im Zentrum des siebten Buches stehenden platonischen Schriften im achten
Buch der Confessiones durch die Biographie ihres Übersetzers Victorinus substituiert
werden. Auf diese Weise kommt es zu einer »Verpersönlichung des Wirksubjekts«. 297
Doch Schobinger zieht aus dieser zutreffenden Beobachtung die falschen Konsequen-
zen. Seiner Ansicht nach fugt sich Augustins Umgang mit der Lebensgeschichte des
Victorinus nahtlos jenem »Lektüregang nach Innen« ein, der durch die Begegnung
mit dem Hortensius eingeleitet wurde und im tolle, Zsgf-Erlebnis »seine höchste Ak-
tualisierung und seinen Abschluß« findet.298 Laut Schobinger >liest< Augustinus die
Lebensgeschichte des Victorinus auf die gleiche A r t und Weise, wie er die platoni-
schen Bücher liest — nämlich spiritualisierend, als Anreiz zur Kontemplation und zur
inneren Einkehr. Das »Wirksubjekt« ist zwar ein anderes, die Wirkung aber bleibt sich
letztlich gleich. 299 Das persönliche Wirksubjekt verweist demnach weiterhin auf eine
unpersönliche spirituelle Wahrheit, die nur innerlich geschaut werden kann.
Dieser Deutung gilt es mit Nachdruck zu widersprechen. 500 Die Geschichte, die
Simplicianus erzählt, bewirkt bei Augustinus keine innere Einkehr, sie animiert ihn

2.7 J.-P. Schobinger: Augustins Einkehr als Wirkung seiner Lektüre. S. 96.
2.8 Ebd. S. 89.
259 Vgl. ebd. S. 89: »Die platonischen Schriften wirken jetzt nicht mehr in einer direkten Lektüre,
sondern [...] durch den Bericht ihrer Wirkung auf einen Menschen hindurch.« Diese Deutung
verfehlt die Pointe der Geschichte, die Simplicianus erzählt. Simplicianus zeigt ja gerade die
mangelhafte Wirkung der platonischen Schriften auf — Victorinus muß aus dem Bannkreis
der platonischen Schriften heraustreten, ehe er sich ganz zu Christus bekehren kann.
300 Die Kritik an Schobinger trifft auch den Deutungsansatz von Brian Stock. Zwar hebt Stock
hervor, daß Augustinus sich im achten Buch dem »temporal mode« der Erzählung zuwendet
(Augustine the Reader. S. 76). Doch er sieht darin keinen Gegensatz zum atemporalen Modus
der Allegorese und der spiritualisierenden Lektüre, die im siebten Buch dominiert. Seiner
Ansicht nach lernt Augustinus von Ambrosius und den Neoplatonikern nicht nur, wie man
den Buchstaben der Schrift auf ihren geistigen Gehalt hin übersteigt, sondern auch, wie man
die Prinzipien der allegorischen Deutung auf das eigene Leben anwenden kann: »He learned
to think of the past, present, and future of his life as if he were interpreting a text. The >literal<
dimension consisted of events experienced and recalled, while the >spiritual< was concerned
with matters latent, potential, or about to take place.« (Ebd. S. 75). Gegen die Deutung Stocks
ist folgendes einzuwenden: Zunächst einmal gilt es festzustellen, daß die Analogie zwischen
der spirituellen Bedeutungsebene der Schrift und der >geistigen< Bedeutung der persönlichen
Lebensgeschichte nicht haltbar ist. Die allegorische Exegese, die in der platonisierenden Tradition
des Origenes steht, bezieht den spirituellen Schriftsinn auf überzeitliche, ideelle Wahrheiten,
während Stock im Hinblick auf den Sinn der Lebensgeschichte von »matters [...] potential,
or about to take place« spricht, von Geschehnissen also, die in der Zeit ablaufen. Es handelt
sich bei diesen »matters« mithin gar nicht um spirituelle Gegenstände, Augustinus unterzieht
seine Lebensgeschichte folglich auch keiner allegorischen Lektüre. Gleichwohl bestimmt Stock
die Konversionsgeschichte als »a narrative that has a deeper symbolic meaning« (ebd. S. 78).
Er behauptet, daß der Protagonist der Confessiones im achten Buch nach den Prinzipien der
Allegorese verfahre und sich darum bemühe, den Buchstaben der Konversionsgeschichten, mit
denen er konfrontiert wird, auf eine verborgene spirituelle Bedeutung hin zu übersteigen. Dem
ist entgegenzuhalten, daß Augustinus die Geschichten des Victorinus, des Antonius und der
kaiserlichen Beamten gerade nicht spiritualisierend liest, er sucht darin keine überzeitlichen
symbolischen Bedeutungen. Vielmehr spricht ihn die literale, zeitliche Dimension dieser Ge-
schichten an, die Veränderung, die sie schildern und die den Leser zur Teilnahme motiviert.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 527

vielmehr dazu, aus sich herauszugehen, sein Inneres für seine Mitmenschen zu öffnen
und sie an seinem Schicksal teilhaben zu lassen. Die Geschichte entzündet in ihm
die Liebe für ihren Protagonisten und das Begehren, ihn nachzuahmen. 301 Dieses
Begehren entsteht nicht dadurch, daß Augustinus die Erzählung auf ihren zeitlos
gültigen spirituellen Gehalt reduziert, sie also allegorisch deutet. Das Gegenteil ist der
Fall. Die Geschichte des Victorinus führt beispielhaft vor Augen, daß das Individuum
die Sphäre überzeitlicher ideeller Gehalte verlassen, daß es sich in die Zeit und in die
Sprache hinabbegeben muß, um die Liebe seiner Mitmenschen zu erwecken — eine
Liebe, die den Erzähler dann ihrerseits dazu befähigen soll, seinen Willen zu bestim-
men. Der Autobiograph konstruiert einen Gegensatz zwischen der allegorisierenden
Hermeneutik neoplatonischer Prägung, die den Leser zur Flucht vor den Menschen
und zur Flucht aus der Zeit animiert, und der karitativen Hermeneutik des Geschich-
tenerzählens: Verstehen ist für den Erzähler keine einsame, innerliche Angelegenheit,
keine intellektuelle Schau. Er versteht sich vielmehr allererst in seinen Hörern, in dem
Verständnis und der Teilnahme, die er bei ihnen erregt. Die Bekehrungsgeschichte des
Victorinus ruft bei Augustinus nicht bloß eine derartige Teilnahme hervor, sie ver-
mittelt ihm darüber hinaus auch die Einsicht, daß er seine eigene Konversion nur als
Hörer und Erzähler von Geschichten erfolgreich zum Abschluß bringen kann. Steht
das siebte Buch der Confessiones im Zeichen der inneren Einkehr und der Suche nach
überzeitlichen Wahrheiten, so markiert das achte Buch die an die Redeformen der
narratio und confessio gekoppelte Rückkehr in den Kreis der Mitmenschen, die dem
Sünder die Kraft zur Bewältigung seines seelischen Konflikts vermitteln soll.

Die Erzählung Ponticians: Der Codex als Verkörperung der Vorsehung

Die Geschichte von der Bekehrung des Victorinus, die Augustinus aus dem Munde
Simplicians vernimmt, ruft bei dem Sünder das brennende Verlangen hervor, den
Protagonisten der Erzählung nachzuahmen. Dieses Verlangen ist jedoch immer noch
nicht stark genug, um ihn tatsächlich zum Handeln zu bewegen. Die Erzählung
begründet in Augustinus einen neuen Willen, dieser vermag sich aber noch nicht
gegen den alten durchzusetzen: »Voluntas autem nova, quae mihi esse coeperat, [...]
nondum erat idonea ad superandam priorem vetustate roboratam.«302

101
Dieses praktisch ausgerichtete Begehren kontrastiert mit der /theoretischen« Liebe zur sapientia,
die durch die Horlensius-Lektürc hervorgerufen wurde. Die Liebe zur sapientia war nicht stark
genug, um Augustinus zu einer Änderung seiner Lebensführung zu bewegen; sie weckte seine
Wißbegierde, hatte aber keine Konsequenzen für sein Handeln. Die Geschichte des Victorinus
dagegen ruft in ihm erstmals den aufrichtigen Wunsch hervor, seine praktische Lebensführung
zu reformieren. Sein Verlangen besteht nicht darin, das zu wissen, was Victorinus weiß, sondern
so zu handeln, wie er gehandelt hat.
302
Confessiones VIII.5.10. (»Der neue Wille aber, der in mit entstanden war, [...] war noch
nicht dazu geeignet, den früheren Willen zu überwinden, der mit der Zeit verfestigt war.«
[Ubersetzung modifiziert]).
528 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Der neue Wille bedarf mithin einer zusätzlichen Stärkung, damit die Konver-
sion zu Ende geführt werden kann. Sie wird Augustinus in Gestalt einer weiteren
Geschichte zuteil. Diesmal sucht er nicht die Unterstützung durch einen erfahre-
nen Seelsorger. Vielmehr verdankt er die Hilfe, die sein kranker Wille erhält, dem
Zufall oder - dies jedenfalls insinuiert der Autobiograph - einer providentiellen
Fügung. 303 Ponticianus, ein hoher Beamter am kaiserlichen Hof zu Mailand, besucht
Augustinus und seinen Freund Alypius in ihrer Mailänder Wohnung, um mit ihnen
einige weltliche Geschäfte zu regeln. Während die drei sich unterhalten, erblickt der
Besucher auf dem Tisch einen Codex, in dem Augustinus kurz zuvor noch gelesen
hat. Er enthält die paulinischen Schriften. Ponticianus gibt sich daraufhin als Christ
zu erkennen und lenkt das Gespräch auf religiöse Gegenstände. Er berichtet seinen
Gastgebern über den ägyptischen Eremiten Antonius und erzählt dann die Geschich-
te einer Bekehrung, die er selbst — wenngleich nicht als unmittelbar Betroffener
- miterlebt hat: die Geschichte zweier Kollegen, die, während eines Aufenthalts
in der kaiserlichen Residenzstadt Trier, einen Spaziergang vor den Toren der Stadt
unternahmen, dabei wie von ungefähr in ein kleines Kloster gelangten, dort auf
einen die Vita des heiligen Antonius enthaltenden Codex stießen, dessen Lektüre
sie schließlich dazu veranlaßte, ihre weltliche Karriere unverzüglich aufzugeben und
in die klösterliche Lebensgemeinschaft einzutreten. 304
Die Erzählung Ponticians steht in einer engen Beziehung zu der Konversion
Augustins, die direkt im Anschluß an den Besuch des Beamten stattfindet. Diese
Beziehung läßt sich zunächst einmal äußerlich als kausale Verkettung der Ereignisse
beschreiben: Die Geschichte hat auf Augustinus eine derart intensive Wirkung, sie
verschärft seinen Seelenkonflikt in solchem Maße, daß er sich in den Garten seines
Hauses zurückzieht, um den Kampf mit seinem aufsässigen Willen ungestört aus-
fechten zu können. 305 Dort hört er dann die Stimme, die er als Aufforderung zur
Durchführung eines Buchorakels deutet; zu diesem Behufe greift er schließlich zu
dem Codex - zu eben demselben Codex, dessen Wahrnehmung Ponticianus kurz
zuvor dazu veranlaßte, seine Geschichte zu erzählen. Der Codex ist sozusagen die
Klammer, welche die beiden Ereignisse der Konversion und des Geschichtenerzäh-
lens zusammenhält. Der auf dem Tisch liegende Codex - das göttliche Wort - trägt
dafür Sorge, daß Ponticianus über die Bekehrung der Trierer Beamten berichtet
(die ihrerseits durch einen Codex verursacht wird); der Codex ist es auch, der die
Bekehrung Augustins bewirkt.
Der Autobiograph suggeriert mithin, daß das biblische Buch mehr ist als ein
bloßes Requisit. Der Codex ist der eigentliche Akteur, der versteckte Motor der
Ereignisse. Er verkörpert die göttliche Vorsehung. Während Ponticianus erzählt

303
Vgl. B. Stock: Augustine the Reader. S. 97: »[T]he readers awareness of a divinely inspired de-
sign is created by the actor Augustine's perception that the events come about by chance.«
304
Confessiones VIII.6.15.
305
Ebd. VIII.8.19.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 529

und Augustinus mit seinem Willen ringt, ist die Vorsehung in Form des Codex
präsent. Als Buch nimmt sie Einfluß auf die Geschehnisse. Der handelnde Codex
symbolisiert und aktualisiert die Fleischwerdung des Wortes: Gott begibt sich in
Gestalt eines Buches unter die Menschen, um ihnen zu helfen und sie auf ihrem
Heilsweg anzuleiten. Er kommt ihnen in Buchform entgegen, aber der Codex ist
zugleich auch die Maske, hinter der er sich versteckt. Das Buch, das Augustinus
während des Konversionsgeschehens begleitet, versinnbildlicht somit jene Dialektik
von Entgegenkommen und Verbergung, die in den Confessiones für das Wirken der
Vorsehung kennzeichnend ist. So deutlich sich Gott dem Individuum auch während
des Bekehrungsvorgangs zu erkennen gibt, so sehr er sich auch erniedrigt, so einfach
die Geschichten auch sind, die er an die Stelle allegorischer Rätselzeichen setzt, um
sich dem Menschen verständlich zu machen: Er kann und will ihm die Tätigkeit
des Lesens und Deutens nicht ganz abnehmen. Die Möglichkeit der Fehllektüre ist
mithin noch immer gegeben. Als Buch dirigiert die Vorsehung die Ereignisse, als
Buch steuert sie den Willen des zu Bekehrenden, doch dadurch, daß sie nicht direkt,
sondern durch die Vermittlung von Zeichen auf sein Verlangen einwirkt, beläßt sie
ihm einen letzten Rest von Willensfreiheit. Der Sünder muß sich entscheiden, wie
er die Zeichen zu deuten hat, die ihm präsentiert werden. 306

Das hagiographische Modell der narratio u n d


sein augustinisches Gegenmodell

Der Codex verknüpft die Erzählung Ponticians mit den Ereignissen, die sich im Mai-
länder Garten abspielen. Seine Präsenz ist ein Hinweis darauf, daß die Funktion der
Erzählung nicht bloß darin besteht, die Bekehrung vorzubereiten. Sie bildet vielmehr
einen integralen Bestandteil des Konversionsgeschehens. Tatsächlich tritt das Erzäh-
len auf allen Ebenen des Geschehens in Erscheinung, über das der Autobiograph
im achten Buch der Confessiones berichtet. Augustinus lauscht den Erzählungen des
Ponticianus, ehe er den Schrifttext liest, der seinen Willen bestimmt. Die Beamten,

306
Zeitgleich mit der Arbeit an den Confessiones entwickelt Augustinus die Grundsätze seiner
Gnaden theologie, die in De diversis quaestionibus adSimplicianum (ca. 394) erstmals systema-
tisch formuliert werden. Eine besondere Bedeutung besitzt in diesem Zusammenhang seine
Konzeption des Worts als Gnadenruf. Vgl. dazu U. Duchrow: »Gottes Gnade, so sagt er, geht
unseren Verdiensten insofern voraus, als sie uns beruft. Unser freiwillig antwortender Glaube,
der uns reinigt, sofern er in der Liebe wirksam wird, ist dann das Verdienst, dessen Lohn die
Schau ist. Da unser freier Wille aber ohne Anregung gar nicht in Bewegung geraten könnte,
m u ß man zugeben, daß Gott in uns auch das Wollen wirkt«. (Sprachverständnis u n d biblisches
Hören bei Augustin. S. 185). In den Confessiones wird, wie ich im folgenden darlegen möchte,
die Antwort des Glaubens, auf die Augustinus die Tätigkeit des freien Willens reduziert, als
hermeneutische Aktivität gefaßt: Der Mensch m u ß den göttlichen Ruf, der an ihn in Gestalt
der Schrift, der providentiellen Fügungen und der exemplarischen Geschichten ergeht, als
persönlich adressierten Ruf verstehen, genauer: als Ruf verstehen wollen. Der göttliche Ruf
versteht sich eben nicht von selbst. Der Mensch m u ß gerufen werden wollen, u m den Ruf
verstehen zu können.
530 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

die den Gegenstand dieser Erzählungen bilden, hören zwar keine Geschichte, aber
sie lesen einen narrativen Text - die Lebensgeschichte des heiligen Antonius.
Die von Athanasius dem Großen um 360 verfaßte Vita Antonii ist nicht ir-
gendeine Erzählung, sie stellt vielmehr die Gründungsurkunde der abendländischen
Hagiographie dar. Die hagiographische Lebensbeschreibung aber ist, wie Geoffrey
Galt Harpham argumentiert, das narrative Genre par excellence:
Hagiography is a literature of action, an extended inventory of the astonishing, memorable, and
text-worthy deeds of ascetic heroes. [...] [W]e owe to asceticism the notion that the exemplary
self is observable, and especially that it is narratable - a notion that decisively distinguishes
asceticism from mysticism, which is relatively poor in literature, as opposed to prose. [...] W h a t
The Life of Anthony discovered and promoted was that the truest self of a man, his divine es-
sence, was recuperable in his biography, which redeemed a contingent, sequential life on earth
by representing it as an imitation, placing it in the line begun in the gospels. Hagiography
documents a class of people trying to achieve complete narratability, trying to become dead
to the world, and recuperable only through textuality. 307

Folgt man der Analyse Harphams, so sind es die denkwürdigen, eindrücklichen und
wunderbaren Ereignisse, die dem Leben des asketischen Helden seine narratability
verleihen und den Leser hagiographischer Erzählungen zur Nachahmung motivieren.
Die Versuchungen, in die der Wüstenvater durch den Teufel geführt wird, die außer-
ordentlichen asketischen Prüfungen, die er sich auferlegt, die Kämpfe, die er mit den
Dämonen ausfechten muß, die Wunder, die er wirkt, die Visionen, die ihm zuteil
werden: Diese ungewöhnlichen Begebenheiten, die das Leben des Antonius in Hülle
und Fülle bereit hält, sind der Stoff für eine effektvolle Erzählung. Sie bedingen die
episodische Struktur der Vita Antonii, denn es handelt sich dabei weniger um eine
kohärente Lebenserzählung als um einen ganzen Strauß erbaulicher Geschichten, die
durch den exemplarischen, sich trotz aller Anfechtungen unverändert bewahrenden
Charakter des Protagonisten zusammengehalten werden.
Eine dieser wunderbaren Geschichten handelt von der Bekehrung des Wüsten-
vaters: Antonius, so berichtet Athanasius gleich zu Beginn der Vita, betritt zufällig
in dem Augenblick die Kirche seines Heimatortes, als der Priester die im Matthäus-
Evangelium überlieferte Rede Christi an den reichen Jüngling vorliest (Mt. 19.21).308
Antonius faßt diese Lesung als einen göttlichen Befehl auf, der an ihn persönlich
gerichtet ist. Daraufhin verkauft er all sein Hab und Gut und beschließt, sein Leben
der Askese zu widmen. 309 Die kaiserlichen Beamten, deren Ponticianus im Gespräch
mit Augustinus und Alypius gedenkt, imitieren das Verhalten des Antonius. Auch
sie stoßen zufällig auf einen Text (eben auf die Vita Antonii), den sie als göttliche

307
G. G. Harpham: T h e Ascetic Imperative in Culture and Criticism. S. 27, S. 73.
308
Vgl. Athanasius Alexandrinus: Vita Antonii. Versio Evagrii. S. 841f. (§ 2): »Talia secum
volvens, intravit in ecclesiam, et accidit ut tunc Evangelium legeretur, in quo Dominus dicit
ad divitem: Si vis perfectus esse, vade, et vende omnia tua quaecumque habes, et da pauperibus,
et veni, sequere me, et habebis thesaurum in coelis.«
309
Ebd.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 531

Aufforderung deuten, ein asketisches Dasein zu führen. Dadurch, daß die Beamten
das Exempel des Antonius nachahmen, wird auch ihr Leben erzählbar. Es gewinnt
seinerseits einen exemplarischen Charakter, den Ponticianus in seinem Bericht zur
Geltung zu bringen versucht. Mehr noch: Die Geschichte der Beamten besitzt eine
metanarrative Dimension - sie führt den Zusammenhang zwischen Nachahmung
und narratability programmatisch vor Augen. Die beiden Beamten werden nämlich
nicht gleichzeitig zum christlichen Glauben und zur asketischen Lebensform be-
kehrt. Nur einer von ihnen liest die Vita Antonii. Er liest sie still für sich, wird dabei
innerlich umgewandelt, erzählt dann dem zweiten Beamten von seiner Bekehrung,
woraufhin dieser die Entscheidung trifft, dem Beispiel seines Kollegen Folge zu leis-
ten.310 Die Geschichte führt vor, wie ein Leben durch Nachahmung zur Geschichte
wird. Doch damit nicht genug: Kurz nach diesem denkwürdigen Vorfall trifft ein
weiteres Beamtenpaar in dem Kloster vor den Toren der Residenzstadt ein. Die Be-
kehrten setzen die Neuankömmlinge über ihre Erlebnisse in Kenntnis; Ponticianus,
der zu dem zweiten Beamtenpaar gehört, erzählt den Vorfall an Augustinus weiter;
dieser wiederum imitiert das Exempel des Antonius und des ersten Beamten, indem
er das tolle, lege als göttliche Anweisung deutet und die Entscheidung für ein neues
Leben, die er daraufhin fällt, seinem Freund Alypius mitteilt, der die Erzählung
Augustins seinerseits zum Anlaß nimmt, sich zum Christentum zu bekehren.
Die Konversion des Antonius scheint mithin eine Kettenreaktion auszulösen. Har-
pham spricht in diesem Zusammenhang denn auch von einer »chain of imitation«.311
Die Sequenz der Nachahmungen wäre ohne das vermittelnde Moment der Erzählung
nicht denkbar. Bekehrung, Narrativierung und Nachahmung bedingen sich wechsel-
seitig. Die Konversion ermöglicht es, das Leben zu narrativieren; die Lebensgeschichte
verfuhrt den Leser zur Nachahmung und löst somit eine neue Bekehrung aus; diese
wiederum erlaubt es, das vormals kontingente Lebenskontinuum in eine sinnfällige
Geschichte zu transformieren — und so weiter ad infinitum. Es scheint sich bei der
Vita Antonii mithin um eine regelrechte Konversionsmaschine zu handeln. Ist die
Maschine erst einmal in Gang gesetzt, hat die Bekehrung erst einmal die ihr angemes-
sene narrative Form gefunden, so läßt sie sich nicht mehr anhalten. Die Geschichten
suchen sich unter providentieller Führung ihre Leser und generieren auf diese Weise
immer neue Konversionen und immer neue Geschichten. Die Confessiones — so
scheint es - sind nur eine dieser unendlich vielen Geschichten, sind nur ein Glied in
einer unabsehbar langen Kette, deren Anfang in dem von Christus geäußerten »Folge
mir nach!« liegt, die sich aber nur deshalb überhaupt zur Kette ausbilden konnte, weil
Athanasius das narrative Potential entdeckte, das in der Äußerung Christi steckt.
Fügt sich Augustinus wirklich in die Kette der Konversionen ein? Macht er sich
das Modell Konversion-Narration-Imitation zu eigen? Die genaue Analyse zeigt,

3,0 Confessiones VIII.6.15.


311 G. G. Harpham: The Ascetic Imperative in Culture and Criticism. S. 96.
532 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

daß Augustinus das durch die Vita Antonii vorgegebene Modell zwar evoziert, es
jedoch zugleich einer Revision unterzieht, ja, durch ein anderes Muster ersetzt, das
den Zusammenhang zwischen Bekehrung und Erzählung neu bestimmt. Kennzeich-
nend für das Modell Konversion-Narration-Imitation, das laut Harpham durch die
Vita Antonii instituiert wird, ist ein gewisser Automatismus. Der Akzent liegt dabei
auf dem Einfluß, den das Muster ausübt - es hat die Macht, potentielle Leser nach
seinem Bild zu formen. Der Leser, der mit dem Muster in Berührung kommt, kann
sich dieser Macht nicht entziehen. Sobald er auf die exemplarische narratio stößt,
ist der Kampf um seine Seele entschieden. Daß ex aber überhaupt darauf stößt, ist
auf das Wirken der Vorsehung zurückzuführen.
Im Zentrum der narratio steht demnach nicht der Akt der Lektüre, sondern der
vermeintliche Zufall, die wunderbare, providentielle Fügung, die ein Individuum
und einen exemplarischen Text genau zum richtigen Zeitpunkt und unter den geeig-
neten Umständen zusammenführt. Augustinus dagegen interessiert sich dafür, was
in der Seele des Lesers geschieht, wenn er dem Muster begegnet. Er leugnet nicht,
daß das Muster eine große Anziehung auf den Leser auszuüben, daß die Verkettung
der Muster eine regelrechte Sogkraft zu entfalten vermag. Diese durch die narratio
freigesetzte Kraft fasziniert ihn, denn seine Intention besteht ja gerade darin, das
Geschichtenerzählen gegenüber dem einseitigen Intellektualismus der Platonisten zu
rehabilitieren. Gleichwohl ist für ihn das Konversionsgeschehen mit der Begegnung
zwischen Leser und musterhaftem Text noch keineswegs entschieden. Die eigentliche
Entscheidung findet in der Seele des Lesers statt, da diese der Anziehungskraft des
Musters starke Widerstandskräfte entgegensetzt. Die alten Begierden, die weltlichen
Neigungen und Gewohnheiten müssen allererst überwunden werden. Augustinus
ergänzt die Trias Konversion-Narration-Imitation daher um einen vierten Term:
den Willen. Ehe der Leser dem Muster Folge leisten kann, muß ein innerseelischer
Willenskampf durchgefochten werden. Der Ausgang dieses Kampfes ist keineswegs
gewiß, die Kette steht also immer in der Gefahr zu reißen.
Charakteristisch für das narrative Modell, das Augustinus dem hagiographischen
Muster des Athanasius entgegenstellt, ist die von ihm erhobene Forderung, den
durch die Erzählung ausgelösten Willenskampf in die Erzählung selbst aufzuneh-
men. Die Darstellung des inneren Konflikts, so argumentiert Augustinus, tut der
Wirkung der Konversionsgeschichte keinen Abbruch, im Gegenteil: Sie steigert die
Anziehungskraft des Exempels, denn nur sie vermag beim Leser die innere Teilnahme
zu erregen, deren es bedarf, um ihn seinerseits in einen Willenskonflikt zu stürzen.
Laut Augustinus vermag die exemplarische Geschichte den Willen des Lesers nicht
unmittelbar zu bestimmen. Ihre Funktion besteht vielmehr darin, eine Willenskrise
bei ihm auszulösen und ihn unter Entscheidungsdruck zu setzen. Die Entscheidung
selbst kann ihm aber niemand abnehmen.
Die Erzählung Ponticians und die Art und Weise, wie Augustinus das Beispiel
der Trierer Beamten durch seine eigene Bekehrung imitiert, veranschaulichen das
neue narrative Konzept, das der Autobiograph in den Confessiones zur Geltung
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 533

bringen will. Das Modell, das Harpham der Vita Antonii entnimmt, impliziert eine
lineare Abfolge der Ereignisse: Der Leser begegnet einem Text; dieser veranlaßt ihn
dazu, sich zu bekehren; die Konversion eröffnet ihm seinerseits die Möglichkeit,
sein Leben zu narrativieren und dadurch andere dem Glauben zuzuführen. Lektü-
re-Bekehrung-Erzählung-Lektüre, so lautet das Ablaufschema, das Harpham dem
Wirkungszusammenhang hagiographischer Literatur unterlegt. Die Geschichte, die
Pontician zum besten gibt, scheint sich diesem Schema unterzuordnen: Der erste
Beamte liest, entscheidet sich für ein neues Leben und erklärt sich dann seinem
Kollegen, der sich seinerseits bekehrt. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich,
daß Ponticians Geschichte das lineare Ablaufschema durchbricht. Der erste Beamte
teilt sich seinem Kollegen nämlich nicht erst zu dem Zeitpunkt mit, da er seinen Be-
schluß bereits gefaßt hat. Er läßt ihn vielmehr an dem Vorgang der Beschlußfassung
teilhaben. Der Beamte liest den Codex zunächst still für sich, doch dann unterbricht
er seine Lektüre, um über die Wirkung des Gelesenen zu berichten: »Tum subito
repletus amore sancto et sobrio pudore iratus sibi coniecit oculos in amicum et ait
illi: >Dic, quaeso te, omnibus istis laboribus nostris quo ambimus pervenire? Quid
quaerimus?««312 Der Leser gewährt seinem Kollegen Einblick in sein Inneres, noch
ehe er sich bekehrt hat. Die Lektüre — dies gibt er dabei zu erkennen — erregt seinen
Zorn und seine Liebe: seinen Zorn, da der Vergleich mit Antonius, den anzustellen
das Buch ihn auffordert, ihm die Fragwürdigkeit, ja die Verächtlichkeit seines bis-
herigen Lebens bewußt macht; seine Liebe, insofern das Buch in ihm das Verlangen
nach einer ganz anderen, ihm bislang unbekannten Lebensform weckt. Zwei unter-
schiedliche Willensregungen streiten nun in seiner Seele um die Vorherrschaft: auf
der einen Seite steht der alte Wunsch, seine weltliche Karriere zu verfolgen und den
Status eines amicus imperatoris zu erlangen, 313 auf der anderen Seite macht sich das
durch die Lektüre entzündete neue Begehren bemerkbar, ein amicus dei zu werden.
Der Weg, der zum ersten Ziel führt, ist lang und beschwerlich, während das zweite,
wie der Beamte bemerkt, in unmittelbarer Reichweite zu liegen scheint. Um es zu
erlangen, braucht man nur eins - einen Willen, der ganz mit sich selbst überein-
stimmt: »»Amicus autem dei, si voluero, ecce nunc fio.<«'14
Dieses nunc wird freilich in der Folge problematisiert. Die Willensbestimmung
ist eine schwierigere Angelegenheit, als der Beamte zunächst glauben will. Sie ist
eben keine Sache des Augenblicks, sondern muß in einem harten inneren Kampf
errungen werden. Um diesen Kampf ungestört führen zu können, versenkt sich

312 Confessiones V1II.6.15. (»Plötzlich erfüllten ihn heilige Liebe und besonnene Scham, und
voller Zorn auf sich selbst blickte er den Freund an und sprach: >Sag mir, sag mir doch bitte,
was hat alle diese Mühsal für einen Sinn? Was suchen wir?«<).
313 Die Bezeichnung amicus imperatoris oder amicus Augustiv/ar im römischen Reich ein offizieller
Titel, der den Räten des Kaisers verliehen wurde und ihnen ein besonderes Ansehen sicherte.
Vgl. P. Courcelle: Recherches sur les Confessions de Saint-Augustin. S. 182n.2.
314 Confessiones VIII.6.15.
534 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

der Beamte wieder in sein Buch. Er vollzieht somit einen Akt der Einkehr, aber er
schließt seinen Begleiter nicht ganz aus seinem Inneren aus. Seine Zunge schweigt,
während sein Körper spricht. Anders als der Bischof Ambrosius, der seinen Leib
beim Lesen in einen opaken Schutzschild verwandelt, signalisiert der Beamte seine
innere Befindlichkeit durch natürliche Zeichen. Sein Stöhnen und Seufzen verweist
auf den Sturm, der in seiner Seele tobt: »dum legit et volvit fluctus cordis sui, in-
fremuit aliquando«.315 Der zweite Beamte wird somit Zeuge eines Konflikts, dessen
Ausgang völlig offen ist. Erst nach einem längeren Ringen legt sich der innere Sturm,
woraufhin der Leser unverzüglich wieder das Wort ergreift, um seinen Freund von
der Entscheidung zu unterrichten, die er getroffen hat.
Der erste Beamte teilt dem zweiten also nicht bloß das Ergebnis seines See-
lenkampfes mit, sondern er gibt ihm die Möglichkeit, diesen Kampf in seiner
Entstehung und Entwicklung zu verfolgen. Im Gegensatz zur hagiographischen
Lebensbeschreibung, die sich darauf beschränkt, die äußeren, providentiell gesteu-
erten Umstände der Bekehrung wiederzugeben, konzentriert sich die Geschichte
des Trierer Beamten auf das innere Seelendrama. Die Bekehrung des Kollegen, die
unmittelbar im Anschluß an das Bekenntnis des Antonius-Lzszrs erfolgt, ist auf die-
se Offenlegung des Innenlebens zurückzuführen. Hätte der zweite Beamte keinen
Einblick in die Vorgänge gewonnen, die sich in der Seele des ersten abspielten, so
wäre er seinem Beispiel nicht derart bereitwillig gefolgt. Während die Bekehrung
in der Vita Antonii — aber auch im paulinischen Damaskus-Erlebnis — völlig un-
vermittelt über das Individuum hereinbricht, erhält sie durch die Aufdeckung der
Innendimension, wie sie in der Geschichte des Trierer Beamten betrieben wird,
eine Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte ist für die Wirkung der Erzählung von
entscheidender Bedeutung. Die Konversion ist nicht mehr (nur) der Effekt einer
äußeren Intervention, sondern (auch) das Resultat einer inneren Entwicklung. Die
das wundersame Wirken der Providenz exponierende Bekehrungsgeschichte wan-
delt sich zur Teilnahme erregenden Seelengeschichte. Die Konversion gewinnt eine
größere zeitliche Ausdehnung — sie ist nicht mehr ein punktuelles, in anekdotischer
Form zu vermittelndes Ereignis, sondern ein innerer Prozeß, der allerdings auf einen
entscheidenden Augenblick hin zugespitzt ist: eben den Moment der Entscheidung,
der Bestimmung des mit sich selbst im Streit liegenden Willens.
Diese Seelengeschichte ist somit ein idealer Anwendungsfall für die Technik des
Spannungsaufbaus, die der Autobiograph zu Beginn des achten Buches anhand
des Gleichnisses vom verlorenen Sohn expliziert. Sie unterliegt einem Kalkül der
Antizipation und des Aufschubs. Wie der Moment der Umkehr im Gleichnis vom
verlorenen Sohn hinausgezögert wird, so auch der Moment der Entscheidung in
der Geschichte des Trierer Beamten. Dadurch, daß der erste Beamte seine Lektüre

315 Ebd. (»Während er las und die Flut sein Herz aufwühlte, seufzte er mitunter auf.« [Übersetzung
modifiziert]).
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 535

unterbricht und den zweiten über den Widerstreit seiner Gefühle informiert, zieht
er ihn in eine Geschichte hinein, deren Ausgang noch offen ist. Diese Mitteilung
kündigt die (mögliche) Konversion an, zögert sie aber zugleich auch hinaus und
erzeugt so die Anteilnahme und das Verlangen ihres Adressaten.
Ponticians Erzählung akzentuiert die Vorgeschichte, die aufreizende Spannung,
die der Peripetie vorangeht. Denn die Entscheidung für den christlichen Glauben,
die von beiden Beamten schließlich getroffen wird, hebt diese Spannung nur
scheinbar auf und führt die Geschichte nur scheinbar zu einem Abschluß. Das erste
Beamtenpaar wird ja durch ein zweites ergänzt, das aus dem Munde der Betroffenen
von der Doppelbekehrung erfährt. Doch diesmal bleibt die bekehrende Wirkung
des Bekenntnisses aus - das zweite Beamtenpaar schließt sich den Konvertierten
nicht sofort an, tritt nicht in die klösterliche Gemeinschaft ein, sondern begibt sich
(vorerst) in die Stadt und somit in das weltliche Leben zurück. Die Konversion des
zweiten Paares wird aufgeschoben; die Kette der Bekehrungen steht in der Gefahr
zu reißen. Es bleibt offen, ob das Beispiel des ersten Paares das Leben der beiden
anderen Beamten beeinflußt hat: Ponticianus, der zu dem zweiten Paar gehört,
bezeichnet sich selbst gegenüber Augustinus und Alypius zwar als Christ; er m u ß
folglich im Anschluß an die Trierer Ereignisse so etwas wie eine Bekehrung erlebt
haben. Doch zu dem Zeitpunkt, da er die Geschichte erzählt, bekleidet er noch im-
mer eine hohe Stellung am kaiserlichen Hof, steckt also weiterhin mitten in jenem
weltlichen Leben, aus dem sich das erste Beamtenpaar befreit hat. Ist Ponticianus
ein amicus imperatoris oder ein amicus dep. Das Ende der Geschichte bleibt in der
Schwebe, wodurch die Anspannung und das Verlangen des Hörers oder Lesers nur
um so stärker erregt wird. Die Erzählung Ponticians, in der alles auf Entscheidung
und Willensbestimmung hin angelegt ist, bleibt dennoch unentschieden und wirkt
eben deshalb >aufreizend<, übt eben dadurch einen Entscheidungsdruck auf den
Rezipienten aus.
Ponticianus legt das Hauptgewicht seiner Erzählung auf die Darstellung des
ungelösten Willenskonflikts, nicht auf den Moment der Entscheidung, der die Span-
nung auflöst. Auf diese Weise versucht er, den Hörer oder Leser in seine Geschichte
hineinzuziehen und ihn seinerseits in einen solchen Konflikt zu stürzen.
Daß ihm dies im Falle seines Hörers Augustinus gelingt, macht der Autobiograph
in der Folge deutlich. Tatsächlich bringt die Erzählung Ponticians den Willenskon-
flikt vollends zum Ausbruch, der sich bei Augustinus seit der Lektüre der Platonico-
rum libri angebahnt hat. Der Zwiespalt in der Seele des Sünders wird nicht behoben,
sondern noch gesteigert. In seiner Schilderung der augustinischen Seelengeschichte
orientiert sich der Autobiograph an dem Muster Ponticians: Auch er räumt der
Darstellung des inneren Kampfes den Vorrang gegenüber der Konfliktlösung ein;
auch er erzählt eine Geschichte, deren Ende in gewisser Weise offen bleibt. Noch
während Ponticianus spricht, so berichtet der Autobiograph, entstehen in Augustins
Seele die Gefühle des Zorns und der Liebe - die gleichen Gefühle also, von denen der
Trierer Beamte bei der Lektüre der Vita Antonii ergriffen wurde. Augustinus emp-
536 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

findet Haß auf sich selbst und brennende Liebe für die Männer, deren Geschichte
er hört: »quanto ardentius amabam illos, [...] tanto execrabilius me comparatum eis
oderam«. 316 Nachdem Ponticianus gegangen ist, wächst Augustins Erregung so sehr
an, daß er sie nicht mehr für sich behalten kann. W i e der erste Beamte, der zu diesem
Zweck seine Lektüre unterbrach, ergreift auch Augustinus das Wort und gewährt
seinem Mitbewohner Alypius einen Einblick in seine Seelenlage: »Tum in illa grandi
rixa interioris domus meae, [...] tarn vultu quam mente turbatus invado Alypium,
exclamo: >Quid patimur? Quid est hoc? Quid audisti?«<317 Und wie der Beamte, der
sich stumm in sein Buch vertiefte, zieht sich auch Augustinus an einen einsamen Ort
zurück - in den zu seinem Hause gehörenden Garten nämlich - , um den Kampf mit
seinem Willen ungestört zu einem Abschluß bringen zu können. Ganz alleine bleibt
er dabei freilich nicht, denn er wird — dies ist eine weitere Parallele zur Geschichte
des Beamten — von seinem Freund Alypius begleitet, der ihn beobachtet und dem
Ausgang des Kampfes mit banger Erwartung entgegensieht.
Das wirkungsästhetische Kalkül des Autobiographen zielt darauf ab, daß sich die-
se Erwartung auch des Lesers der Confessiones bemächtigt. Da die Seelengeschichte
Augustins mit derjenigen des Beamten in so vielen Punkten übereinstimmt, soll der
Leser davon ausgehen, daß sie ein ähnliches Ende finden, sprich: daß Augustinus
sich schließlich zu einer Entscheidung durchringen und diese seinem Begleiter
eröffnen wird. Doch der Autobiograph enthält dem Leser diese mit Ungeduld er-
wartete Lösung vor. Wie Ponticianus verfolgt auch er eine Strategie des Aufschubs,
ja er treibt diese Strategie auf die Spitze. Zunächst schildert er den Willenskonflikt,
in dem sich Augustinus nach dem Besuch Ponticians befindet (VIIL8.19). Dann
aber unterbricht er seinen Bericht, um in einem langen theoretischen Einschub
(VIII.8.20—VIII. 10.24) grundsätzliche Überlegungen über das Wesen des menschli-
chen Willens anzustellen: über seine durch den Sündenfall bedingte Schwäche, über
seine Spaltung, die schwieriger zu heilen ist als der Riß zwischen Seele und Körper,
und über den Gegensatz zwischen der christlichen und der manichäischen Willens-
konzeption. Nach dieser Abschweifung kehrt der Autobiograph zur Seelengeschichte
Augustins zurück und beschreibt noch einmal das Gegeneinander der inneren Kräfte
(VIII. 11.25). Doch anstatt diese neuerliche Darstellung des seelischen Konfliktes als
Sprungbrett zur Schilderung seiner Auflösung zu benutzen, hält sich der Autobio-
graph weiterhin im Vorfeld der Entscheidung auf. Er wechselt lediglich den Darstel-
lungsmodus. Derselbe Konflikt wird nun mit anderen Mitteln wiedergegeben, und
zwar mit solchen, die dazu angetan sind, das Verlangen des Lesers noch zu steigern:
Der Erzähler dramatisiert den inneren Kampf, indem er die Beharrungskräfte des

316 Confessiones VIII.7.17. (»Je heftiger ich die Männer liebte, [...] um so heftiger lernte ich mich
im Vergleich zu ihnen zu hassen.«).
317 Ebd. VIII.8.19. (»Dann, in diesem gewaltigen Kampf meines inneren Hauses, [...] stürme
ich, verstört im Gesicht und im Geist, auf Alypius ein und rufe ihm zu: »Wie halten wir das
aus? Was bedeutet das? Hast du es gehört?<« [Ubersetzung modifiziert]).
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 537

alten Ich (seine »vanitates«) und die Keuschheit (»continentia«), das Insignium des
neuen Lebens und des neuen Willens, personifiziert und als redende Gestalten auf-
treten läßt (VIII. 11.26-VIII. 11.27).
Nicht anders als der Protagonist der Erzählung setzt der Autobiograph somit
alles daran, den Z e i t p u n k t der Entscheidung - » p u n c t u m [ ] i p s u m temporis«
- hinauszuzögern. 3 1 8 Je m e h r sich der Erzähler diesem P u n k t a n n ä h e r t , desto
umständlicher u n d detaillierter wird sein Bericht, desto stärker verlangsamt er
das Erzähltempo, bis die geschilderten Seelenvorgänge schließlich ein Eigenleben
gewinnen u n d zu sprechen beginnen. Erzählend vollzieht der Autobiograph den
Aufschub der Entscheidung nach, den er beschreibt und u m dessentwillen er sich
in seinem Bekenntnis anklagt. Der Text richtet sich in einem Zwischenbereich
ein - in j e n e m Spannungsfeld, w o Augustinus nicht mehr ganz der alte, aber auch
noch nicht ganz der neue M e n s c h ist, der er zu sein begehrt. Die Unentschieden-
heit, die in diesem Bereich herrscht, w i r d v o m Erzähler geradezu ausgekostet.
Dagegen hat der A u t o b i o g r a p h für den Zustand, in d e m sich die Seele A u g u -
stins nach seiner Entscheidung für das neue Leben befindet, n u r einige wenige,
dürre Worte übrig. Die auf das tolle, / ^ - E r l e b n i s zurückgehende Auflösung des
Konflikts wird i m Vergleich zur ausgedehnten Schilderung des inneren Kampfes
mit lakonischer Kürze abgehandelt. Diese Kürze ist ein Hinweis darauf, d a ß die
Entscheidung in W i r k l i c h k e i t gar keine definitive Auflösung des Konflikts mar-
kiert. Der spannungsvolle Zustand der Unentschiedenheit ist der dominierende
Eindruck, der durch die Konversionsgeschichte vermittelt wird. Er überdauert die
vermeintliche Peripetie der Erzählung; er infiziert auch den Schluß der Geschichte
und verhindert somit, daß sie die für totalisierende Darstellungsformen typische
A b r u n d u n g erfährt.

Willenskonflikt u n d Konversionsschema

Die Frage, inwiefern das tolle, /egf-Erlebnis die Konversionserzählung nicht bloß
abschließt, sondern zugleich auch wieder öffnet, verlangt nach einer eingehenden
Untersuchung. Sie soll zu gegebener Zeit in Angriff genommen werden. Vorerst gilt
es jedoch festzuhalten, daß Augustinus das narrative Schema der Bekehrung sowohl
gegenüber dem hagiographischen Vorbild der Vita Antonii als auch gegenüber d e m
paulinischen Muster des Damaskus-Erlebnisses einer radikalen Umgestaltung unter-
zieht, indem er den Willenskonflikt in das strukturelle Zentrum der Konversionsge-
schichte stellt. Diese Umgestaltung erfolgt in erster Linie unter wirkungsästhetischen
und wirkungspsychologischen Gesichtspunkten: Augustinus entdeckt das drama-
tische Potential des Willenskonflikts; er betrachtet die Darstellung der widerstrei-
tenden Willensregungen als ein Mittel zur Erregung von Teilnahme; er sieht darin

318
Ebd. VIII. 11.25.
538 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

also das geeignete Instrument, um den Willen des Sünders zu beeinflussen. Daßder
Wille des Sünders eine solche Beeinflussung nötig hat, daß die Rezeption derartiger
Konversionsgeschichten einen unverzichtbaren Bestandteil des Bekehrungsgesche-
hens darstellt, ist nach Ansicht Augustins eine Konsequenz des Sündenfalls. Seine
wirkungsästhetische Strategie hat theologische und anthropologische Implikationen.
Ihr liegt ein spezifisches Konzept des menschlichen Willens zugrunde, das in einem
engen Zusammenhang mit dem Dogma der Erbsünde steht. Der Willenskonflikt
verweist auf die Schwächung des Willens, die Gott dem Menschen als Strafe für
die adamitische Ursünde auferlegt hat.319 Der postlapsarische Mensch ist demnach
nicht dazu fähig, sich aus eigener Kraft in einem ungeteilten Akt des Wollens zu
sammeln. Um sein voluntatives Vermögen in den Griff zu bekommen, ist er auf
fremde Hilfe angewiesen.
Von einer solchen Schwächung des menschlichen Willens ist in der VitaAntonii
bezeichnenderweise nichts zu merken. Im Gegenteil, Athanasius referiert eine lange
Rede des Antonius, in der dieser seinen Anhängern die Grundsätze der asketischen
Lebensform erläutert und dabei ein Loblied auf die Stärke des menschlichen Willens
anstimmt. Die Kraft zur Tugend, so argumentiert Antonius, ist dem Menschen von
Gott gegeben, und tugendhaftes Handeln ist leicht, wenn man es nur will.320 Die
Kraft zur Tugend ist eine Gabe des Schöpfers. Die Aufgabe des Menschen besteht
darin, die von Gott verliehene Schönheit der Seele - ihre integritas, ihre Uberein-
stimmung mit ihrem eigentlichen Wesen - zu bewahren: »Siquidem hoc est rectam
esse animam, cum ejus principalis integritas nulla vitiorum labe maculatur. Si natu-
ram mutaverit, perversa tunc dicitur; si bona conditio servetur, et virtus est.«321 Der
asketische Kampf ist ein Bewahrungs- und Bewährungskampf, doch nach Ansicht
des Antonius hat Gott den Menschen mit allem Nötigen ausgestattet, um in diesem
Kampf bestehen zu können. Das Problem ist lösbar, wenn der Mensch seine Kräfte
nur ganz darauf konzentriert, so zu bleiben, wie er geschaffen wurde: »virtus quae in
nobis est, mentem tantum requirit humanam. Cui enim dubium est, quin naturalis
animae puritas, si nulla fuerit extrinsecus sorde polluta, fons sit et origo omnium vir-

3
" Zur Willensschwäche als poena reciproca für die Sünde Adams vgl. P. Brown: Die Keuschheit
der Engel. S. 4 1 7 ^ 3 2
320
AthanasiusAlexandrinus: VitaAntonii. Versio Evagrii. S.871f. (§ 20): »Nolite, quaeso, virtutis
tamquam impossibile nomen pavere, nec peregrinum vobis, aut procul positum videatur hoc
Studium, quod ex nostra pendet arbitrio: huius operis homini inserta natura est, et ejusmodi
res est quae nostram t a n t u m m o d o exspectat voluntatem.« (»Ich bitte euch, scheut nicht den
gleichsam unmöglichen Namen der Tugend, und dieses Bemühen möge euch nicht fremd
oder in die Ferne gerichtet erscheinen, nur weil es von unserem Willen abhängt. Ein solches
Werk ist dem Menschen von Natur aus möglich, und es ist von einer Art, die eben nur unseren
Willen voraussetzt.« [Ubersetzung von mir, Ch. M.]).
321
Ebd. S. 873f. (§ 20). (»Das bedeutet also eine gute Seele zu haben, daß ihre ursprüngliche
Reinheit durch keinen Makel des Lasters befleckt wird. Wenn jemand die Natur verändert,
wird sie als schlecht bezeichnet. Wenn die gute Beschaffenheit bewahrt wird, ist das auch
Tugend.« [Übersetzung von mir, Ch. M.]).
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 539

tutum?«322 Laut Antonius wird der Mensch mit einem Willen geboren, der stark genug
ist, den Anfechtungen durch die Sünde zu widerstehen und die Seele in ihrer ursprüng-
lichen Reinheit zu erhalten. Von einem auf die adamitische Ursünde zurückgehenden
Makel, der die Seele von Geburt an befleckt, ist mit keinem Wort die Rede.
Antonius vertritt somit im Kern eine griechische, heidnische Form der Askese.323
Wenn die Seele sich auf ihren göttlichen Ursprung, ihr göttliches Wesen besinnt,
dann findet sie auch die Kraft, den verderblichen Mächten zu trotzen. Im Rah-
men dieser optimistischen Anthropologie ist so etwas wie ein Willenskonflikt gar
nicht vorgesehen. Konsequenterweise taucht ein solcher in der Vita Antonii auch
nirgendwo auf. Das in der Kirche verlesene Schriftwort »Folge mir nach!«, das die
Bekehrung des Antonius auslöst, beendet keinen inneren Streit, sondern es bestimmt
ein Verlangen, das in unbestimmter Form schon seit langem existiert. Athanasius
berichtet, daß Antonius bereits als Kind den vertrauten Umgang mit seinesgleichen
mied, der Hang zum Eremitentum bei ihm also immer schon vorhanden war.324
Kurz bevor er die Kirche betritt, in der er die Aufforderung zur Nachahmung Christi
vernimmt, spielt er bereits mit dem Gedanken, dem Beispiel der Apostel zu folgen.325
Im Unterschied zu Paulus, der durch das Damaskus-Erlebnis unvermittelt getroffen
und vollkommen umgewandelt wird, ist Antonius somit auf den Ruf vorbereitet, der
an ihn ergeht. Paulus erhält durch die Bekehrung einen gänzlich neuen Willen. Bei
Antonius hingegen wird ein bereits bestehender Wille durch göttliches Einwirken
bestätigt. Antonius besitzt von Geburt an einen gesunden Willen; dieser braucht
lediglich einen äußeren Anstoß, damit er in Aktion treten und seine Kraft voll zur
Entfaltung bringen kann. Zu diesem Zweck genügt es, daß Gott in indirekter Form
- durch die Vermittlung eines Schriftworts - auf den zu Bekehrenden einwirkt,
während die Konversion des Paulus die unmittelbare Manifestation der göttlichen
Macht erfordert. Paulus selbst trägt zu seiner Bekehrung nichts bei - sie geht voll
und ganz auf das Konto göttlichen Gnadenwirkens. Antonius jedoch wirkt durch
sein Verlangen an seiner Konversion mit. Die Bekehrung ist lediglich der Weckruf,
der diesem in seinem Ursprung göttlichen Vermögen zu sich selbst verhilft.

322
Ebd. (»Die Tugend, die in uns ist, erfordert nur einen menschlichen Geist. Wer nämlich
zweifelt daran, daß die natürliche Reinheit der Seele, wenn sie durch keinen Schmutz von
außen befleckt worden ist, die Quelle und der Ursprung aller Tugenden ist ?« [Ubersetzung
von mir, Ch. M.]).
323
Unter dieser Voraussetzung mutet es merkwürdig an, daß Michel Foucault ausgerechnet den
heiligen Antonius zum Paradigma einer spezifisch christlichen Selbsthermeneutik erhebt (vgl.
L'ecriturede soi. S. 415-417; On the Genealogy of Ethics. S. 248). Die selbsthermeneutischen
Praktiken, die er ihm unterstellt, unterscheiden sich bei näherer Betrachtung nicht von den
asketischen Übungen, die in den antiken Philosophenschulen betrieben werden. Das Ziel,
das Antonius mit Hilfe der asketischen Praktiken zu erreichen sucht, besteht nicht darin, ein
verborgenes Begehren zu entziffern, sondern darin, die >schöne Gestalt« der menschlichen
Seele zu bewahren.
3M
Athanasius Alexandrinus: Vita Antonii. Versio Evagrii. S. 839f. (§ 1).
325
Ebd. S. 841 f. (§ 2).
540 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Hinsichtlich der Rolle, die der freie Wille für das Konversionsgeschehen spielt,
teilt Augustinus weder den Optimismus des Antonius noch die pessimistische Auf-
fassung des Paulus. Anders als Paulus geht er nicht davon aus, daß der Wille zum
Guten durch die Konversion und den damit verbundenen direkten Eingriff Gottes
vollkommen neu begründet werden muß. In dieser Beziehung steht er Antonius
näher: Auch er glaubt, daß der auf das neue Leben gerichtete Wille der Bekehrung
vorausgeht. Ja, die Bekehrung selbst hat bei ihm die Form einer Willensentschei-
dung. Der Sünder trägt mithin etwas zu seiner Konversion bei. Doch anders als
bei Antonius braucht dieser Wille aufgrund seiner Gebrochenheit, die durch die
Erbsünde bedingt ist, sehr viel mehr als einen äußeren Anstoß, um die erforderliche
Stärke zu gewinnen. Zu diesem Mehr gehört zum einen die providentielle Führung,
die dem Sünder von frühester Kindheit an zuteil wird. Sie trägt dafür Sorge, daß der
Wille zum Guten sich ausprägt und entwickelt. Zum anderen gehört dazu ein ganzes
Arsenal von Hilfsmitteln und Hilfsinstanzen, die während des eigentlichen Kon-
versionsgeschehens zum Einsatz kommen: Bücher und biblische Texte, väterliche
Ratgeber, exemplarische Geschichten, verständnisvolle Zuhörer. Bei Antonius ist die
Willensbestimmung ein punktueller Akt. Die Bekehrung, die den Christen an die
Stärke seines Willens und die Gottähnlichkeit seines Vernunftvermögens erinnert,
ist in der Vita Antonii daher nur eine Episode. Sie leitet die Folge der spirituellen
Abenteuer ein, in denen der vernünftige Wille sich bewähren, er seine Stärke und
seine Treue zum göttlichen Ursprung unter Beweis stellen kann. Bei Augustinus hin-
gegen ist die Willensbestimmung ein langwieriger Prozeß, der den Hauptgegenstand
der Erzählung bildet. Antonius akzentuiert das, was nach der Konversion geschieht,
während Augustinus sich auf die Vorgeschichte konzentriert. Im Grunde erzählt er
die Geschichte eines Willens, der nach seiner Bestimmung sucht - der zu ergrün-
den sucht, was er eigentlich will. Die Rezeption der exemplarischen Geschichten
markiert im Rahmen dieser Suche eine entscheidende Phase, denn sie vermitteln
dem Sünder die Einsicht in die Schwäche seines voluntativen Vermögens. Erstmals
erlangt er rückhaltlose Selbsterkenntnis; erstmals wird ihm die Gespaltenheit seines
Willens vor Augen geführt, die sein Handeln, ohne daß er sich dessen bewußt war,
immer schon beeinträchtigte. Die Geschichten enthüllen den Willenskonflikt, sie
verschärfen ihn zugleich, doch sie lösen ihn nicht endgültig auf.
Um so dringlicher stellt sich die Frage, wie dieser Konflikt bewältigt werden
kann. Bedarf es am Ende doch einer direkten göttlichen Intervention, eines göttli-
chen Machtworts? Folgt Augustinus schließlich doch dem paulinischen Muster der
von Gott selbst unmittelbar ins Werk gesetzten Bekehrung? Diese Fragen sollen der
folgenden Analyse des tolle, /^-Erlebnisses die Richtung weisen.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 541

7. Das Konversionsszenario im Mailänder Garten:


Aufdeckung der Paradoxien augustinischer Selbsthermeneutik

Das tolle, lege: Eine direkte Ansprache des Sünders?

In der Augustinus-Forschung besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß der Höhe-


punkt des Konversionsgeschehens, wie es in den Confessiones dargestellt wird, einen
direkten Eingriff Gottes markiert: Gott bekundet seine Präsenz in Form eines Rufs;
er spricht den Sünder durch das tolle, lege- die Kinderstimme, die Augustinus nach
dem Weggang Ponticians im Garten des Mailänder Hauses vernimmt - unmittel-
bar an. Um welche Art von göttlichem Ruf es sich dabei handelt, wird dagegen
kontrovers diskutiert. Pierre Courcelle vertritt in diesem Streit eine extreme, aber
einflußreiche Position.326 Seiner Ansicht nach ist die Schilderung der Ereignisse, die
sich im Mailänder Garten abspielen, nicht literal, als historischer Tatsachenbericht,
sondern allegorisch zu verstehen. Mit der Kinderstimme sei keine äußere, sinnlich
wahrnehmbare Stimme gemeint, sie stamme vielmehr von den Kindern der conti-
nentia her, sei folglich als Fortsetzung der allegorischen Auseinandersetzung zwischen
der Eitelkeit und der Keuschheit aufzufassen, mittels derer der Autobiograph den
in der Seele des Protagonisten tobenden Konflikt zur Darstellung bringt. Courcelle
stützt seine Deutung auf eine Textvariante, die in der sessorianischen Handschrift der
Confessiones zu finden ist. Demzufolge erschallt die Stimme nicht »de vicina domo«
(vom Nachbarhause), sondern »de divina domo« (vom Hause Gottes) her. Es handelt
sich also um eine nur innerlich vernehmbare, von Gott herrührende Stimme — »une
voix interieure, d'origine divine.«327 Gott spricht dem Sünder unmittelbar in sein
Herz und beendet dadurch den Kampf der widersprüchlichen Willensregungen, der
darin ausgebrochen ist. Es kommt zu einer direkten Begegnung zwischen Gott und
dem Sünder, aber diese findet nicht außen, im Mailänder Garten, sondern innen,
in der Seele Augustins statt. Die Ereignisse im Mailänder Garten sind allegorische
Zeichen, die auf ein spirituelles Geschehen verweisen, einen sprachlosen, von Gott
selbst gewirkten Vorgang der inneren Verwandlung. Tatsächlich verweist Courcelle
in diesem Zusammenhang auf eine »illumination d'ordre intellectuel«:328 Augustins
Konversion kulminiert seiner Auffassung nach in einem neoplatonisch getönten
Erlebnis der Gottesschau, das dem Leser der Confessiones durch das tolle, lege in
allegorischer Verschlüsselung vermittelt wird.
Courcelles Deutung ist ein heilsames Korrektiv für diejenigen Interpreten, die
den Autobiographen allzu sehr beim Wort nehmen und die Confessiones somit auf
den Status eines der faktischen Wahrheit verpflichteten historischen Zeugnisses redu-

326
Zum folgenden vgl. P. Courcelle: Recherches sur les Confessions des Saint-Augustin. S. 190-196;
ders.: Les >voixi dans les Confessions de Saint-Augustin. In: Hermes 80 (1952). S. 31—46.
327
P. Courcelle: Les >voix< dans les Confessions de Saint-Augustin. S. 37.
328
Ebd. S. 44.
542 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

zieren. Courcelle betont demgegenüber den literarischen Charakter der Confessiones.


Dieser, so behauptet er, tritt in der Darstellung des Bekehrungserlebnisses besonders
deutlich zutage.329 Courcelle betrachtet die Szene im Mailänder Garten als eine lite-
rarische Fiktion. Die fiktive Konstruktion ist jedoch kein Selbstzweck, sondern sie
fungiert als allegorischer Bedeutungsträger, der ein spirituelles, innerliches Gesche-
hen versinnbildlicht. Wer das tolle, lege als einen äußerlichen, auditiv vernehmbaren
Ruf begreift, unterzieht den Text demnach einer »interpretation materielle«, einer
literalisierenden Lektüre, die den spirituellen Gehalt verfehlt.330 Courcelle postuliert
somit einen notwendigen Zusammenhang zwischen der fiktiven Darstellungsform
und dem allegorischen Auslegungsverfahren. Doch dabei handelt es sich um einen
Kurzschluß. Aus der Tatsache, daß Augustinus die Gartenszene fingiert oder stilisiert
haben könnte, 33 ' folgt keineswegs zwangsläufig, daß sie nach den Prinzipien der
origenistischen oder ambrosianischen Allegorese gelesen werden muß. Was sollte
den Autobiographen daran hindern, dem Leser eine Fiktion zu präsentieren, die ein
literales Verständnis erfordert? Warum sollte er keine Stimme erfinden können, die
als äußere, >reale< Stimme konzipiert ist?
Um den Status der Stimme zu ermitteln, die der Protagonist der Confessiones im
Mailänder Garten zu hören vermeint, genügt es nicht, wie Courcelle dies tut, den
unmittelbaren Kontext ihres Erscheinens zu beleuchten. Vielmehr gilt es zu analy-
sieren, wie sich der Ruf in den übergreifenden plot der Seelengeschichte einfügt, die
der Autobiograph erzählt. Aus dieser Perspektive ist es sehr unwahrscheinlich, daß
das tolle, lege eine innere Stimme darstellt, die allegorisch auf die spirituelle Erfah-
rung der Illumination verweist. Eine derartige Erfahrung wird ja bereits im siebten
Buch der Confessiones geschildert und als unzulänglich entlarvt: Die Illumination
verschafft dem Sünder intellektuelle Gewißheit, vermag aber nicht seinen Willen zu
bestimmen. Doch eben dies, das Problem der Willensbestimmung, steht, wie Cour-
celle selbst zugesteht,332 im Zentrum der tolle, /ί^?-Episode. Die innere Erleuchtung
markiert nur eine vorübergehende Phase in der geistigen Entwicklung des Sünders.

329
»Je crois que le Atolle, leget s'explique [...] par ce souci de p^sentation litteraire.« (Recherches
sur les Confessions de Saint-Augustin. S. 192.).
3,0
P. Courcelle: Les >voix< dans les Confessions de Saint-Augustin. S. 40.
331
D a f ü r gibt es in der Tat eine Reihe von Hinweisen. Auffällig ist zum Beispiel, daß Augus-
tinus in der im November des Jahres 386 - also kurz nach seiner Konversion - verfaßten
Dialogschrift Contra academicos zwar über die Lektüre der Platonicorum lihri berichtet und
diese als ein einschneidendes Lebensereignis herausstellt, aber mit keinem Wort auf die
Geschehnisse im Mailänder Garten eingeht (vgl. Contra academicos. II.2.4, II.2.6). Obwohl
Augustinus bei dieser Gelegenheit die Ubereinstimmungen zwischen der neoplatonischen und
der christlichen Doktrin betont, ist die Konversion, von der in Contra academicos die Rede
ist, eher eine Konversion zur platonischen Philosophie als eine Konversion zum christlichen
Glauben. Man könnte also vermuten, daß Augustinus nach 391, als er sich mit den Problemen
der Gnadentheologie und des Erbsünde-Dogmas zu beschäftigen begann, die ursprünglich
philosophische Konversion zu einer christlichen Konversion umdeutete und zu diesem Zweck
die Garten-Episode hinzuerfand.
3,2
Recherches sur les Confessions de Saint-Augustin. S. 169.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 543

Im achten Buch schildert der Autobiograph den Übergang von der spirituellen
Schau und dem daran gekoppelten Verfahren der Allegorese zur einfachen, temporal
gestreckten Vermittlungsform der exemplarischen Erzählung, die ein literales Ver-
ständnis erheischt und nicht bloß den Intellekt, sondern vor allem auch die Affekte
des Rezipienten ansprechen soll. Courcelle ignoriert diesen Ubergang. Er sieht nicht,
daß die geistige Entwicklung des Protagonisten nach dem Scheitern seiner neopla-
tonischen Aspirationen eine neue Wendung nimmt, die keine Wendung nach innen
darstellt, sondern eine — zumindest partielle - Öffnung gegenüber der Außenwelt
und den Mitmenschen mit sich bringt.
Laut Courcelle greift Gott unmittelbar in den vom Autobiographen geschilder-
ten Konversionsprozeß ein, aber diese Intervention erfolgt in Gestalt eines inneren
Rufes, einer direkten geistigen Einwirkung auf die Seele des Sünders. Courcelle
spiritualisiert auf diese Weise das Bekehrungsereignis. Die äußeren Vorgänge besitzen
keinen Eigenwert; ihnen wird lediglich der Status allegorischer Zeichen zugebilligt,
die auf ein rein innerliches Geschehen verweisen. Courcelle verkehrt somit eine
Tendenz in ihr Gegenteil, die im achten Buch der Confessiones immer deutlicher in
Erscheinung tritt: die Aufwertung äußerlicher Wirkfaktoren, insbesondere aber der
Darstellungsform der exemplarischen Erzählung. Jean-Pierre Schobinger vertritt ei-
nen moderateren Standpunkt als Courcelle, wodurch es ihm immerhin gelingt, diese
Tendenz ansatzweise in den Blick zu bekommen. Zwar deutet auch er die geistige
Entwicklung des Protagonisten als einen »Gang nach Innen«, der im tolle, / ^ - E r l e b -
nis seinen Abschluß finde.535 Doch dieser Abstieg in die Tiefen des Selbst erfolgt seiner
Auffassung nach nicht unabhängig von äußeren Einflüssen. Um den Herzensruf hö-
ren zu können, den Gott dem Sünder zukommen läßt, bedarf dieser eines Anstoßes
von außen, einer Ermahnung, die ihn zur Selbsteinkehr drängt. 334 Wie bei Courcelle
ist der bekehrende Ruf auch hier im Grunde ein innerliches, spirituelles Phänomen,
aber Schobinger wertet die äußere Rede insofern auf, als er ihr eine admonitive Funk-
tion zugesteht. Die geistige Entwicklung des Sünders hat somit eine Innen- und eine
Außenseite. Zum einen läßt sie sich als »abnehmende Taubheit gegenüber dem R u f
des Herzens« beschreiben. 335 Dieser innere Vorgang hat zum anderen ein äußerliches
Korrelat: Dabei geht Gott von »indirekten Hilfeleistungen — >Hortensius<, platoni-
sche Schriften, biographische Berichte - über zur direkt-verbalen Aufforderung«,
»zum direkten Ruf im >tolle, lege<.«336 Die Szene im Mailänder Garten markiert den
Höhepunkt der Konversion, weil der Sünder bei dieser Gelegenheit erstmals den
inneren Herzensruf in seiner vollen Stärke vernimmt und zugleich äußerlich direkt
von Gott angesprochen wird. Laut Schobinger greift Gott sowohl von innen als auch
von außen her unmittelbar in das Konversionsgeschehen ein.

333 J.-P. Schobinger: Augustins Einkehr als Wirkung seiner Lektüre. S. 89, S. 96.
3,4 Ebd. S. 96.
335 Ebd.
336 Ebd. S. 89, S. 96.
544 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Dieser Interpretation ist zweierlei entgegenzuhalten. Erstens ist der Ruf, der im
Mailänder Garten erschallt, keine admonitio zur Selbsteinkehr. Augustinus deutet
ihn vielmehr als Aufforderung zur Durchführung eines Buchorakels - er wendet
sich folglich nicht dem Inneren seiner Seele, sondern dem äußerlichen Medium der
Schrift zu. Von einem »Ruf des Herzens« ist in der Gartenszene mit keinem Wort die
Rede. Zweitens vermag Schobinger nicht zu erklären, wie der von ihm postulierte
äußere Ubergang von der indirekten zur direkten Mitteilung mit dem Abnehmen der
inneren Taubheit zusammenhängt. Muß Gott äußerlich lauter sprechen, damit der
Sünder innerlich besser auf ihn hört? Eine solche Annahme erscheint widersinnig,
denn das Horchen auf die innere Stimme setzt die Abkehr von der Außenwelt vor-
aus. Eine laute äußere Stimme lenkt eher vom Inneren ab, als daß sie zu ihm hinfuhrt
— sie übertönt die innere Rede. Die sich verstärkende äußere Zuwendung müßte den
Sünder immer mehr aus seiner inneren Versenkung herausholen, anstatt ihn — wie
Schobinger meint - immer tiefer in sein Inneres hineinzuführen. Der »Gang nach
Innen« läßt sich letztlich nicht mit der Aufwertung der äußeren Rede vereinbaren.
Bei dem Versuch, die im achten Buch der Confessiones dargestellte Bekehrung
als ein innerliches, spirituelles Geschehen zu erweisen, verwickeln sich Courcelle
und Schobinger in Widersprüche. Wenn der Autobiograph die Bekehrung des
Protagonisten tatsächlich auf die direkte Intervention der Vorsehung zurückführt,
dann kann es sich dabei folglich nicht um einen Herzensruf oder eine Illumination
handeln. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß Gott sich dem Sünder von außen
her zuwendet und dabei auf die menschliche Sprache rekurriert. In diese Richtung
zielt jedenfalls der Deutungsvorschlag, den Reinhart Herzog unterbreitet. Seiner
Ansicht nach schildert Augustinus im narrativen Teil der Confessiones die allmähliche
»Konstituierung eines entlasteten Gesprächs mit Gott«. 337 Laut Herzog geht es dem
Autobiographen vor allem darum, eine lähmende »Sprechaporie« aufzulösen.338 Die
Aporie besteht darin, daß die herkömmlichen Sprechformen des Gebetes und der
Lobpreisung, die der Mensch gegenüber Gott verwendet, ihren Adressaten nicht zu
erreichen vermögen, während umgekehrt die sprachliche Zuwendung Gottes an den
Menschen diesem nicht vernehmlich ist. Das in der Sprechaporie zutage tretende
Problem ist, wie bei genauerer Betrachtung sichtbar wird, ein Problem der Applika-
tion: Der individuelle Mensch fühlt sich durch das Gotteswort der Bibel nicht direkt
angesprochen; er verlangt nach einer göttlichen Anrede, die ihn persönlich trifft. In
den Confessiones, so argumentiert Herzog, legt der Autobiograph dar, auf welche Wei-
se Gott dieser persönlichen, »nur ihn selbst betreffenden Applikationsanforderung«
nachgekommen ist. 33 ' Er zeigt auf, wie das Handeln der Vorsehung ihm gegenüber
mit der Zeit immer sprachähnlicher wird, bis Gott sich schließlich in der Sprache der

337
R. Herzog: Non in sua voce. S. 215.
338
Ebd. S. 218.
339
Ebd.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 545

Menschen mit ihm zu unterhalten beginnt. Die Interaktion zwischen der Vorsehung
und dem menschlichen Individuum ist zunächst eine rein pragmatische (Gott steuert
das Schicksal des Sünders, ohne daß dieser davon etwas merkt), wandelt sich dann zu
einem indirekten Ansprechen (dafür steht Monnicas Traum beispielhaft ein), ehe sie
in der Mailänder Gartenszene die Form eines direkten Gesprächs annimmt. Dabei
kommt es laut Herzog zu einer vertauschenden Verschränkung der ursprünglichen
Sprechpositionen, welche die wechselseitige Annäherung von Gott und Mensch
unterstreicht und die Herausbildung eines Dialogs besiegelt: Der Sünder, der sich
in seiner Verzweiflung unter einen Feigenbaum geworfen hat, stellt Gott eine Frage
und bedient sich dabei der Schriftsprache, 340 woraufhin ihm Gott in Form des tolle,
lege — also nicht mit biblischen Worten, sondern in natürlicher Menschensprache
— eine Antwort erteilt, die ihm persönlich zugedacht ist.341 Gott spricht im Mailän-
der Garten unmittelbar einen ganz bestimmten Menschen an. Damit, so Herzog, ist
das Problem der Applikation gelöst. Es verschwindet, sobald Gott und der Sünder
miteinander ins Gespräch kommen. Das tolle, lege initiiert ein solches Gespräch.
Von nun an kann sich Augustinus vertraulich mit Gott unterhalten. Die Worte der
Schrift erscheinen ihm nicht mehr fremd und unverbindlich, vielmehr fühlt er sich
von ihnen direkt angesprochen. Aufgrund der unmittelbaren, dialogisch strukturier-
ten Begegnung mit Gott, die im Mailänder Garten stattfindet, erhält die Bibel für
Augustinus das Ansehen einer persönlichen Botschaft. Fürderhin ist er dazu in der
Lage, als Leser der Schrift ein Gespräch mit Gott zu führen. 342 Die Schrift wird zum
Ort der intimen Begegnung zwischen Mensch und Gott.
Herzogs Deutung hat viel für sich. Dadurch, daß er seine Aufmerksamkeit auf
die in den Confessiones gebrauchten Sprechformen richtet, gelingt es ihm, sich von
dem beengenden neoplatonischen Deutungsschema der Innen-Außen-Polarität zu
lösen, die noch immer einen Großteil der theologischen und kulturgeschichtlichen
Augustinus-Forschung dominiert. 343 Um zu ermitteln, was Herzogs Deutungsansatz
im Hinblick auf die Problematik der autobiographischen Selbstkonstitution zu

340
Die Frage »Et tu, domine, usquequo?« (Confessiones VIII. 12.28), die Augustinus im Mailänder
Garten an G o t t richtet, ist ein Psalmenzitat (Ps. 6.4). Allerdings gibt der Autobiograph zu
verstehen, daß er die Rede, die der Protagonist unter d e m Feigenbaum äußerte, nicht wörtlich,
sondern nur dem Sinn nach wiedergeben könne: »non quidem his verbis, sed in hac sententia
multa dixi tibi«. Die Verschränkung der Sprechpositionen wird also erst nachträglich durch
den Erzähler der Autobiographie hergestellt; sie vollzieht sich nicht, wie Herzog dies suggeriert,
während des Konversionsgeschehens.
341
R. Herzog: N o n in sua voce. S. 228.
342
Ebd. S. 233: »Augustin vor der Schrift spricht mit Gott.«
343
Dementsprechend groß ist das Unbehagen, mit d e m die betroffenen Fachgelehrten auf
Herzogs Interpretation reagieren. Mit einer signifikanten Mischung von Aufgeschlossenheit
und Unverständnis begegnet ihr etwa der Theologe Erich Feldmann. In seinem Überblick
über die neuere Forschung zu den Confessiones räumt er der D e u t u n g Herzogs einen hohen
Stellenwert ein, betont aber zugleich ihre provozierende Fremdartigkeit. Vgl. E. Feldmann:
Literarische und theologische Probleme der Confessiones. In: Internationales Symposion über
den Stand der Augustinus-Forschung. S. 2 7 - 4 5 , hier: S. 3 4 - 3 9 .
546 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

leisten vermag, ist es jedoch erforderlich, seine Kernthese einer kritischen Prüfung
zu unterziehen. Tritt Gott im Mailänder Garten tatsächlich mit Augustinus ins
Gespräch? Erfolgt in der Gartenszene ein Wandel von der indirekten zur direkten
Form der göttlichen Mitteilung? Stellt das tolle, lege eine göttliche Äußerung dar, die
unmittelbar an den individuellen Sünder adressiert ist?
U m diese Fragen zu beantworten, bietet es sich an, die Gartenszene mit dem
paulinischen Damaskus-Erlebnis zu vergleichen. D e n n die Konversion des Paulus
ist nicht nur das maßgebliche biblische Paradigma für den direkten Eingriff Gottes
in den Lebensgang eines menschlichen Individuums. Darüber hinaus vollzieht sich
dieser Eingriff in Form einer unmittelbaren Ansprache, die einen dialogischen Aus-
tausch zwischen Gott und dem Individuum einleitet. In der Apostelgeschichte wird
die Bekehrung des Saulus zum Paulus folgendermaßen dargestellt:
Et cum iter faceret, contigit ut appropinquaret Damasco, et subito circumfulsit eum lux de
caelo, et cadens in terram audivit vocem dicentem sibi: >Saul Saul, quid me persequeris?<. Qui
dixit: iQuis es, Domine?<. Et ille: >Ego sum Iesus, quem tu persequeris! Sed surge et ingredere
civitatem, et dicetur tibi quid te opporteat facere<.344

Der Ruf, den Paulus vor Damaskus vernimmt, unterscheidet sich von dem augu-
stinischen tolle, lege zunächst einmal dadurch, daß er mit einer Namensnennung
verknüpft ist. Saulus wird mit seinem Namen angesprochen; es gibt folglich keinen
Zweifel daran, daß er mit dieser Äußerung gemeint ist. Der Ruf hat nicht nur eine
eindeutige Adresse, er ist zudem mit einem ebenso eindeutigen Absender versehen:
Der Rufende gibt seine Identität preis; er nennt auch seinen eigenen Namen. Das tut
er allerdings nicht sofort, sondern erst nachdem ihn der Angerufene danach gefragt
hat. Die Möglichkeit des Nachfragens ist mithin gegeben. Zwischen dem Rufenden
und dem Angerufenen kann sich ein kurzes Gespräch entspinnen, an dessen Ende
keine Fragen offen bleiben: Saulus verfugt über klare Anweisungen; er weiß genau,
was von ihm verlangt wird.
Diese drei Merkmale - namentliche A n r u f u n g , namentliche Identifizierung
des Rufenden, Klärung offener Fragen im Dialog - kennzeichnen die Gottesrede
vor Damaskus, sie fehlen aber im Falle der Stimme, die Augustinus im Mailänder
Garten vernimmt. Ein Kind wiederholt in einer Art Singsang immer wieder die
gleichen Worte: »Tolle, lege, tolle, lege.«345 An wen diese Aufforderung gerichtet
ist und woher sie stammt, erfährt der Hörer nicht, denn der Rufende nennt keine
Namen. Es besteht auch keine Möglichkeit, ihn danach zu fragen. Er ist nämlich gar
nicht unmittelbar anwesend; seine Stimme erklingt aus einer gewissen räumlichen

144
Apg. 9 . 3 - 6 . (»Unterwegs aber, als er [sc. Paul] sich bereits Damaskus näherte, geschah es,
daß ihm plötzlich ein Licht vom Himmel umstrahlte. Er stürzte zu Boden und hörte, wie
eine Stimme zu ihm sagte: Saul, Saul, warum verfolgst du mich? Er antwortete: Wer bist du
Herr? Dieser sagte: Ich bin Jesus, den d u verfolgst. Steh auf und geh in die Stadt; dort wird
dir gesagt werden, was du tun sollst.«).
345
Confessiones VIII. 12.29.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 547

Entfernung - Augustinus vermutet ihre Quelle im Nachbarhaus. Der Protagonist


der Confessiones hört also eine gesichts- und namenlose Stimme. Aufgrund dieser
Anonymität ist die Möglichkeit der Wechselrede gerade nicht gegeben. Vielmehr
verweist die Wiederholung der immer gleichen Worte auf das dem Dialogischen ent-
gegengesetzte Prinzip der Schrift: Die geschriebene Rede, so heißt es im platonischen
Phaidros, weiß sich nicht zu helfen; wenn man sie fragt, so antwortet sie immer nur
ein und dasselbe.346 Augustinus muß den Ruf deuten, so als liege er ihm in geschrie-
bener Form vor Augen. Anstatt den Rufenden zu befragen, befragt er sich selbst.
Der rätselhafte Ruf zwingt Augustinus zum Nachdenken: »intentissimus cogitare
coepi, utrumnam solerent pueri in aliquo genere ludendi cantitare tale aliquid«. 347 Er
führt mithin kein Gespräch mit Gott, sondern ein hermeneutisches Selbstgespräch.
Augustinus sucht nach einer möglichen Deutung des tolle, lege und kann am Ende
keine andere finden als die (»nihil aliud interpretans«), Gott befehle ihm, ein Buch
in die Hand zu nehmen und die Stelle zu lesen, auf die als erste sein Blick falle.348 Er
deutet das tolle, lege als ein göttliches Wort, das ihm persönlich zugesprochen ist. Der
Absender, die Adressierung und der Inhalt der Botschaft, die Augustinus im Garten
zu erhalten glaubt: Sie alle sind reine Interpretamente des Hörers. Er muß sich den
Ruf aneignen, er muß sich die herrenlose Rede selbst applizieren, um sie als göttliche
Botschaft verstehen zu können. Gott wendet sich dem Sünder im tolle, lege nicht
unmittelbar zu, sondern Augustinus deutet die Stimme als unmittelbare göttliche
Zuwendung und markiert diese Deutung zugleich als einen Akt der Aneignung.
Er muß der gesichts- und namenlosen Stimme erst ein Gesicht und einen Namen
verleihen, ehe er sich durch sie berufen fühlen kann.
Herzogs Analyse bedarf also in einem wesentlichen Punkt der Korrektur: In der
Gartenszene findet, anders als im paulinischen Damaskus-Erlebnis, kein direktes
Gespräch zwischen Gott und dem menschlichen Individuum statt. Der Sünder
wird durch das tolle, lege nicht unmittelbar angesprochen. So sehr sich Gott dem
Sünder auch annähert, er entbindet ihn nicht der Notwendigkeit, seine Äußerun-
gen zu deuten und dabei eine eigenständige Applikationsleistung zu vollbringen.
Die Vorsehung kommt Augustinus im Rahmen des Konversionsgeschehens zwar
weit entgegen, doch nimmt dieses Entgegenkommen nie die Gestalt einer direkten
Mitteilung an.
Im Gegenteil, sie scheint die Kommunikationsform der unmittelbaren Anrede
und des Gesprächs ganz bewußt zu umgehen. Das wird bereits im Vorfeld der
Gartenszene erkennbar. Die Ratgeber Simplicianus und Ponticianus, mit denen
Augustinus konferiert, vermeiden es, den Sünder direkt anzusprechen. Anstatt ihn
explizit auf seine Willensschwäche hinzuweisen, ihn zur Umkehr zu ermahnen oder

346 Piaton: Phaidros 275d.


347 Confessiones VIII. 12.29. (»[I]ch überlegte gespannt, ob es etwa ein Kinderspiel gebe, bei dem
sie einen solchen Vers trällern«.).
348 Ebd.
548 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Wiltens

ihm Anweisungen zu erteilen, erzählen sie ihm Geschichten — die Geschichten an-
derer, die er mit seiner eigenen vergleichen, die er also durch selbständige Reflexion
auf seine Person beziehen muß. Die Helden dieser Geschichten treten ihrerseits
nicht unmittelbar mit Gott oder seinen episkopalen Repräsentanten in Berührung,
sondern werden durch die Lektüre von Büchern zur Umkehr bewegt.
Die Vermeidung des direkten Gesprächs tritt in der Erzählung Ponticians beson-
ders auffällig hervor. Die beiden Beamten, von denen er berichtet, stoßen vor den
Toren Triers auf eine klösterliche Gemeinschaft, die sich der asketischen Lebensform
verschrieben hat. Die Beamten bekehren sich zu einem solchen asketischen Leben;
sie treten schließlich in das Kloster ein. Aber ihre Umkehr wird nicht etwa durch das
Gespräch mit den Brüdern verursacht, in deren Behausung sie eindringen. Auslöser
der Veränderung ist vielmehr das Buch, das sie dort vorfinden. Die Vita Antonii
schildert die asketische Lebensform, wie sie auch von der Brüdergemeinschaft in
Trier praktiziert wird. Dennoch ist es nicht dieses direkt vor Augen stehende, son-
dern das schriftlich und narrativ vermittelte Beispiel, das die Bekehrung der Beamten
bewirkt. Mehr noch: Die Beamten treten zwar paarweise auf, doch die Interaktion,
die sie miteinander verbindet, hat nicht die Form eines Dialogs. Sie vermeiden es,
einander direkt anzusprechen. Der erste Beamte, der durch die Lektüre der Vita
Antonii bekehrt wird, teilt seinem Partner mit, was in seinem Inneren vorgeht. Er
wendet sich ihm dabei aber nicht persönlich zu, versucht also nicht, ihn zur Nachah-
mung zu überreden oder zu ermahnen. Er beschränkt sich vielmehr darauf, über die
Empfindungen und Gedanken Bericht zu erstatten, die durch die Lektüre der Vita
Antonii bei ihm ausgelöst wurden. Der erste Beamte präsentiert sich selbst mithin
als ein Beispiel, überläßt es aber dem Freund, daraus für sein Leben die geeigneten
Konsequenzen zu ziehen. Er fordert ihn lediglich dazu auf, seine Entscheidung zu re-
spektieren: »>Te si piget imitari, noli adversari.«<349 Der zweite Beamte kommt dieser
Forderung nach. Auch er sieht davon ab, seinen Kollegen persönlich anzusprechen.
Er bedrängt ihn nicht mit Fragen; er läßt sich nicht dazu hinreißen, den neu gewon-
nenen Glauben des Freundes auf die Probe zu stellen, sondern er gibt sich mit dem
Bekenntnis zufrieden. Er betätigt sich zunächst als Hörer, nicht als Dialogpartner,
und wendet dann das Gehörte auf seine eigene Lebenssituation an, indem er den
Beschluß faßt, dem Beispiel des Freundes Folge zu leisten.
Augustinus und Alypius verhalten sich in der Gartenszene ganz ähnlich wie
die Beamten. Augustinus gewährt seinem Freund durch seine Körpersprache und
durch einen verbal artikulierten Gefühlsausbruch Einblick in seinen Seelenzustand.
Obwohl Alypius somit um die gewaltige innere Spannung weiß, die Augustinus
durchzustehen hat, obwohl er dem Ausgang des Seelenkampfes folglich selbst mit
großer Spannung entgegenblickt, verzichtet er darauf, durch Fragen oder Aufmun-

349
Ebd. VIII.6.15· (»>Wenn du dich nicht imstande siehst, mir zu folgen, so hindere mich
wenigstens nicht.<«).
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneuttk 549

terungen in das Geschehen einzugreifen. Er wartet geduldig, bis Augustinus den


inneren Konflikt bewältigt hat und ihm von sich aus darüber berichtet. Augustinus
wiederum vermeidet es, verbal auf den inneren Prozeß Einfluß zu nehmen, den sein
Bekenntnis bei Alypius ausgelöst hat. Er berichtet dem Freund über seine Seelen-
krise und ihre Auflösung, doch er schreibt ihm nicht vor, was er mit diesem Bericht
anfangen soll. Alypius muß sich das Exempel, das ihm Augustinus darbietet, selbst
applizieren. An die Stelle der dialogischen Äußerung, die dem Gesprächspartner
unmittelbar zugesprochen wird, tritt das Bekenntnis, das sich der Hörer allererst
aneignen muß.
Kennzeichnend für das Konversionsgeschehen, das in den Confessiones dargestellt
wird, ist also gerade das Fehlen direkter, persönlich an das Individuum adressierter
Mitteilungen. Gott spricht dem Sünder weder unmittelbar in die Seele, noch tritt er
äußerlich mit ihm ins Gespräch. Zwar paßt sich die Vorsehung mit ihren Botschaf-
ten der besonderen Lage des Sünders weitgehend an, doch erspart sie ihm nicht die
Mühe, sich diese durch Deutung und Applikation zu eigen zu machen. Der Sünder
muß die Äußerung, durch die Gott sich ihm mitteilt, als eine solche interpretieren
und in einem gesonderten Reflexionsschritt auf seine spezifische Lebenssituation
anwenden. Was für das Wirken der Vorsehung gilt, das gilt in ähnlicher Weise für
die Tätigkeit ihrer Agenten, der Freunde und Ratgeber, die dem Sünder während
der Konversion beistehen. Auch sie vermeiden es, den Betroffenen unmittelbar an-
zusprechen. Die Strategie der indirekten Führung, derer sich die Providenz seit der
Geburt des Protagonisten bedient hat, wird also auch während der Konversion weiter
verfolgt. Auch im Moment der Bekehrung, in dem die Vorsehung dem Sünder am
nächsten kommt, tritt sie nicht ganz aus ihrer Verbergung hervor.

Scham und Schuld: Die potenzierte Mittelbarkeit der Selbsterkenntnis

Warum diese Scheu vor der direkten Mitteilung? Welchen Sinn hat die Vermeidung
des Dialogs und der unmittelbaren Ansprache? Verfolgt die Vorsehung wie die
philosophischen Seelenführer der Kaiserzeit das Ziel, den Schützling durch ihre
Zurückhaltung zur Verinnerlichung der dialektischen Struktur zu veranlassen? In der
Tat erinnert die Vermeidung des direkten Gesprächs an die Vorgehensweise, die bei
Epiktet, Plutarch und Seneca zu beobachten ist. Doch die von der augustinischen
Providenz ins Werk gesetzte Strategie hat andere Ziele und funktioniert auch anders
als die psychagogische Methodik der kaiserzeitlichen Selbstsorge. Zum einen dient
sie - wie bereits in den vorangehenden Entwicklungsphasen des Protagonisten - dem
Zweck, das Individuum durch sein eigenes Begehren zu leiten. Dieses Motiv spielt
natürlich auch während der Bekehrung eine wichtige Rolle, wo es ja gerade darum
geht, den Willen des Sünders zu bestimmen. Doch ein weiteres Motiv ist damit eng
verknüpft. Es fällt auf, daß der Protagonist der Confessiones - wie der Beamte in der
Erzählung Ponticians, den er sich zum Vorbild nimmt - als Empfänger indirekter
Mitteilungen nicht nur in Liebe für die neue asketische Lebensform, sondern auch
550 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

in Zorn auf sein altes sündhaftes Selbst erglüht. Dieser Zorn ist ein Produkt der
Selbsterkenntnis. Die indirekte Mitteilung wirkt also zweifach auf den Willen des
Sünders ein: zum einen dadurch, daß sie das neue, christlich-asketische Leben, das
sie exemplarisch in Aussicht stellt, als begehrenswert markiert; zum anderen dadurch,
daß sie den Haß des Sünders auf sein altes Leben schürt und ihm die Augen für
seinen gegenwärtigen heillosen Zustand öffnet. Nur die indirekte Mitteilung kann
den Sünder zur Selbsterkenntnis führen, denn nur sie beugt der Entstehung von
Schamgefühlen vor.
Die Empfindung der Scham ist nach augustinischer Ansicht der Selbsterkenntnis
abträglich. Daß die direkte Anrede auf Seiten des Angesprochenen Scham erzeugt
und daß diese die Selbsterkenntnis nicht etwa befördert, sondern behindert, hatte
ja bereits der Verfasser der Dialogschrift De ordine feststellen müssen: Der Ge-
sprächsführer, der seine Schüler zu beschämen suchte, indem er sie unmittelbar
mit ihren Fehlern konfrontierte, rief bei ihnen keine Einsicht, sondern ein Flucht-
und Verdrängungsverhalten hervor. Starrsinnig beharrten sie auf ihren falschen
Ansichten, und auch dann, als ihnen die Haltlosigkeit ihrer Ideen nachgewiesen
wurde, weigerten sie sich, ihre eigene Unzulänglichkeit anzuerkennen. 350 Die So-
liloquia waren als Heilmittel gegen derartige Verdrängungstendenzen konzipiert.
Das Selbstgespräch sollte den intersubjektiv ausgerichteten Dialog ersetzen; das
Selbstschreiben sollte die beschämende Anwesenheit des Protokollanten überflüs-
sig machen. Aus der Einsicht, daß die unmittelbare Präsenz des anderen mit den
Erfordernissen der Selbsterkenntnis nicht vereinbar sei, zog Augustinus mithin die
radikale Konsequenz, das Genre des Dialogs und das daran gekoppelte Verfahren
der elenktischen Prüfung fallen zu lassen. Dieser Einsicht scheint er auch in den
Confessiones Rechnung tragen zu wollen. Gott und seine Agenten vermeiden es,
den Sünder während des Konversionsgeschehens direkt anzusprechen, damit er
nicht durch Schamgefühle daran gehindert wird, Selbsterkenntnis zu erlangen. Die
Erzählung Ponticians etwa macht ihm seine Schwäche und Verderbtheit bewußt,
weil sie ihm diese nicht unmittelbar, sondern im Spiegel eines Fremden vor Augen
führt. Gott konfrontiert ihn paradoxerweise dadurch mit seinem wahren Selbst, daß
er ihm das Bild eines anderen präsentiert:
Narrabat haec Ponticianus. Tu autem, domine, inter verba eius retorquebas me ad me ipsum,
auferens me a dorso meo, ubi me posueram, dum nollem me attendere, et constituebas me
ante faciem meam, ut viderem, quam turpis essem, quam distortus et sordidus, maculosus et
ulcerosus. Et videbam et horrebam, et quo a me fugerem non erat. Et si conabar avertere a me
aspectum, narrabat ille quod narrabat, et tu me rursus opponebas mihi et impingebas me in
oculos meos, ut invenirem iniquitatem meam et odissem. Noveram eam, sed dissimulabam
et cohibebam et obliviscebar.351

350
Siehe dazu Kapitel VII. 1 dieser Untersuchung.
351
Confessiones VIII.7.16. (»Das also war die Erzählung Ponticians. Aber während er sprach,
stelltest du, Herr, mich mir selbst vor Augen. D u holtest mich hinter meinem eigenen Rücken
hervor. Dort hatte ich mich versteckt, um mich selbst nicht sehen zu müssen. Jetzt zeigtest
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 551

Die Strategie der indirekten Führung dient offenbar dazu, Augustinus den Flucht-
weg in die schamhafte Selbstverbergung abzuschneiden. Die Vorsehung begnügt
sich nicht damit, den Sünder zu beschämen. Scham gilt ihr vielmehr als eine unzu-
längliche Form der Einsicht in fehlerhaftes Betragen. Die Providenz verlangt vom
Sünder keine Scham, sondern die Herausbildung eines Bewußtseins für seine eigene
Sündhaftigkeit, Schwäche und Korruption, die letztlich auf die adamitische Ursünde
zurückzuführen sind. Kurz: Sie will das Individuum zu einem Eingeständnis seiner
Schuld veranlassen. Das Konversionsgeschehen scheint daraufhin angelegt zu sein,
Scham in Schuldbewußtsein zu transformieren. Muß man die Confessiones folglich
als ein Dokument für die Ablösung der heidnisch-antiken shame culture durch die
christliche guilt culture ansehen? Der Gegensatz zwischen shame culture und guilt
culture geht auf die amerikanische Kulturanthropologie der dreißiger und vierziger
Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück.352 Der Begriff der shame culture wurde
entwickelt, um gewisse strukturelle Eigentümlichkeiten nicht-okzidentaler Kul-
turen beschreiben und gegenüber der abendländischen Zivilisation abgrenzen zu
können. Sehr bald hat man ihn jedoch auch auf bestimmte kulturelle Formationen
des Okzidents angewendet, insbesondere auf die griechisch-römische Antike. 353
In Schamkulturen wird die Übertretung von gesellschaftlichen Normen durch
äußere Sanktionen geahndet — durch Formen der Verachtung, der öffentlichen
Bloßstellung, des Ehrentzugs und der Schande. In solchen Kulturen richtet das
Individuum seine Aufmerksamkeit folglich vor allem darauf, wie sein Verhalten in
den Augen der anderen erscheint. In Schuldkulturen dagegen wird das Verhalten
des Individuums durch die interne Kontrollinstanz des Gewissens reguliert. Das
Individuum reagiert auf Normverstöße mit Gewissensängsten und Schuldgefüh-
len; es übernimmt mithin selbst die Aufgabe, sein Verhalten zu sanktionieren. Die
Schuldkultur unterscheidet sich von der Schamkultur in erster Linie dadurch, daß
sie ihre Mitglieder dazu anhält, die externe Urteilsinstanz der anderen zu interna-
lisieren. Die Verinnerlichung der Normen kann dort besonders effektiv betrieben
werden, wo der Glaube an die Existenz einer allgegenwärtigen, allwissenden und
allmächtigen Gottheit verbreitet ist.

du mir mein Gesicht; ich sollte sehen, wie häßlich ich war: verbogen und verschmutzt, voller
Flecken und Wunden. Ich sah mich und erschrak, aber es gab nichts mehr wohin ich hätte vor
mir fliehen können. Und wenn ich versuchte, meinen Blick von mir wegzuwenden, dann war
da immer wieder der Bericht Ponticians, und du stelltest mich erneut mir selbst gegenüber und
zwangst mich, meiner selbst gewahr zu werden; ich sollte meine Sündhaftigkeit auffinden und
hassen. Ich kannte sie zwar, aber ich verleugnete sie; ich verschloß mich und vergaß sie.«).
352 Die wichtigsten Vorarbeiten finden sich in Margaret Mead (ed.): Cooperation and Competition
Among Primitive Peoples. New York 1937. — Die klassische Formulierung des Begriffsgegen-
satzes stammt von Ruth Benedict: The Chrysanthemum and the Sword: Patterns of Japanese
Culture. Boston 1946. S. 222-224.
353 Der erste, der den Begriffsgegensatz auf die Kultur des klassischen Griechenland zu applizieren
versuchte, war der Gräzist E. R. Dodds: The Greeks and the Irrational. Berkeley and Los
Angeles 1957.
552 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Wenn die in den Confessiones vorgeführte Konversion also wirklich die Verwand-
lung von Scham in Schuldbewußtsein bezeichnet, dann muß es möglich sein, sie
als einen Vorgang der Internalisierung und der Gewissensbildung zu beschreiben:
Der Sünder eignet sich demnach den Blick des anderen an; als Bekehrter sieht er
sich selbst, wie Gott ihn sieht. Die Aneignung des göttlichen Blicks erlaubt es ihm
nicht nur, die blinde Befangenheit gegenüber seinem gegenwärtigen Seelenzustand
abzulegen, sie ermöglicht es ihm auch, seine Vergangenheit in einem neuen Licht
zu betrachten. Der Bekehrte verfügt über den Wertmaßstab, der es ihm gestattet,
seine vergangenen Handlungen adäquat zu beurteilen. Der Übergang von der Scham
zum Schuldbewußtsein scheint somit eine Bedingung der Möglichkeit autobiogra-
phischen Erzählens zu sein. Der Nachweis dafür, daß dem Autobiographen in der
Mailänder Konversionsszene ein solcher Ubergang gelingt, läge ganz im Interesse der
literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung, welche die Confessiones zum
Prototypen der totalisierenden Selbstdarstellung zu erheben sucht.
Dieser Nachweis läßt sich jedoch nicht so leicht fuhren. Denn Augustinus stellt
die Opposition zwischen Scham und Schuld in Frage. In gewisser Weise nimmt
er somit die Kritik vorweg, die von Kulturanthropologen der Gegenwart an der
Gegenüberstellung heidnisch-antiker Scham und christlicher Schuld geübt wird.354
Die Tendenz zur Verinnerlichung des anderen zeichnet sich ja bereits in den kaiser-
zeitlichen Philosophenschulen deutlich ab. Die Internalisierung der dialektischen
Struktur kann als der Versuch beschrieben werden, eine intrapsychische Kontrol-
linstanz nach Art des Gewissens zu installieren. Insbesondere die Stoa erkennt dem
philosophisch geschulten und asketisch geübten Menschen die Fähigkeit zu, sich vor
sich seihst zu schämen und somit eine innere, von der Meinung der Mitmenschen
unabhängige Instanz der Selbstbeurteilung zu errichten. 355 In diesem Sinne fordert
beispielsweise Seneca seinen Briefpartner Lucilius dazu auf, immer an ihn zu denken,
das heißt: den Freund als Zeugen seiner Bewußtseinsaktivität und als Maßstab zur
Beurteilung seines Handelns zu verinnerlichen. 356 Lucilius soll sich bei etwaigem
Fehlverhalten vor diesem inneren anderen schämen.
Augustinus wendet sich vehement gegen das optimistische Menschenbild,
das für die stoische Philosophie (und ihren christlichen Ableger: den Pelegianis-

354
Douglas Cairns etwa zeigt auf, daß der Begriffsgegensatz einer ethnozentrischen Perspektive
entspringt: Ihr liege ein ganz spezifisches (nämlich christlich-protestantisches) Konzept der
Schuld zugrunde; Mead und Benedict bekämen daher andere, in den vermeintlichen Scham-
kulturen durchaus vorhandene Schuldkonzepte gar nicht erst in den Blick. Vgl. D. L. Cairns:
Aidos. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature. Oxford
1993. S. 27-47.
355
Zur Internalisierung der aidos bei Demokrit und den Stoikern vgl. Philipp Steger: Die Scham
in der griechisch-römischen Antike. Eine philosophisch-historische Bestandsaufnahme von
Homer bis zum Neuen Testament. In: Scham - ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psycho-
logische und philosophische Perspektiven. Hg. von Rolf Kühn, Michael Raub und Michael
Titze. Opladen 1997. S. 57-73, hier: S. 68f.
356
Vgl. Seneca: Ad Lucilius epistulae morales, 11.9f., 32.1., 55.9fif., 83.1f.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 553

mus) kennzeichnend ist. 357 Er bezweifelt, daß es der durch die Erbsünde schwer
in M i t l e i d e n s c h a f t gezogenen M e n s c h e n s e e l e m ö g l i c h ist, sich d e n Blick des
anderen (oder gar den alles erfassenden Gottesblick) dauerhaft anzueignen u n d
als Kontrollinstanz zu internalisieren. Der Glaube an diese M ö g l i c h k e i t gilt i h m
als H o c h m u t : Wer den anderen verinnerlicht, macht sich von ihm u n a b h ä n g i g ,
erhebt also den Anspruch, des menschlichen wie auch göttlichen Beistands nicht
mehr zu bedürfen. Aus augustinischer Sicht ist die U m w a n d l u n g von S c h a m in
Schuldbewußtsein sehr viel problematischer, als die Verfechter philosophischer
Selbstkultur meinen. Die S c h a m ist wie die Erbschuld ein Vermächtnis des ersten
Menschenpaares. Die Verdrängungsmechanismen der S c h a m lassen sich nie ganz
überwinden. Das macht die Selbsterkenntnis zu einer höchst komplexen Angele-
genheit. Ehe man sich der Frage zuwendet, ob die augustinische Konversion den
Durchbruch zu einem klaren Schuldbewußtsein markiert, ist es daher angezeigt,
den Z u s a m m e n h a n g zwischen S c h a m u n d Selbsterkenntnis g e n a u e r u n t e r die
Lupe zu nehmen.
Das Urerlebnis menschlicher Schamempfindung ist der Sündenfall. Augustinus
expliziert seine Konzeption der S c h a m in seinem großen Genesiskommentar De
Genesi ad litteram, an dem er in den Jahren zwischen 4 0 1 und 4 1 4 gearbeitet hat. Im
Schöpfungsbericht der Genesis heißt es von Adam und Eva: »Erant autem uterque
nudi, homo scilicet et uxor eius et non erubescebant.« 358 Nachdem sie v o m B a u m
der Erkenntnis gegessen haben, tritt mit der Erkenntnis des Guten und des Bösen
auch die Scham in das Leben der ersten Menschen: »Et aperti sunt oculi ambo-
rum. C u m q u e congnovissent esse se nudos, consuerunt folia ficus et fecerunt sibi
perizomata.« 359 Die Selbsterkenntnis - die Einsicht in den Zustand der Blöße und
der Schwäche — ist gekoppelt an die Empfindung der Scham. A d a m erkennt seine
Nacktheit und schämt sich dafür vor Eva. Er ist sich folglich der Tatsache bewußt,
daß Eva ihn als einen Nackten erkennt. Adam sieht sich mit den Augen Evas. Die
Selbsterkenntnis ist durch den anderen vermittelt. 360 Die Augen können A d a m nur
deshalb aufgehen, weil da ein zweites Augenpaar ist, durch das er sich selbst betrach-
tet. Doch Adam vermag den Blick des anderen, den er sich zu eigen gemacht hat,
nicht zu ertragen. Er verhüllt seine Blöße und verbirgt sich dadurch nicht nur vor

357 Zur Kritik Augustins am Pelagianismus vgl. P. Brown: Augustine of Hippo. S. 340-364.
358 Gen. 2.25. (»Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht vorein-
ander.«).
359 Gen. 3.7. (»Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren. Sie
hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.«).
360 Jean Paul Sartre betont in seiner Analyse des Schamgefühls die zentrale Bedeutung, die
dem Blick des anderen zukommt. Vgl. J. P. Sartre: L'etre et le neant. Essai d'ontologie
phenomenologique. Paris 1943. S. 276: »Or autrui est le mediateur indispensable entre
moi et moi-meme: j'ai honte de moi tel que j'apparais ä autrui. Et, par l'apparition meme
d'autrui, je suis mis en mesure de porter un jugement sur moi-meme comme sur un objet,
car c'est comme objet que j'apparais ä autrui. [...] Je reconnais que je suis comme autrui
me voit.«
554 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

dem Blick Evas, sondern auch vor sich selbst. Die Scham ist beides zugleich: Ent-
blößung des Selbst und seine Verhüllung, Selbsterkenntnis und Selbstverbergung,
Einsicht in die eigene Hilfsbedürftigkeit, in die Abhängigkeit vom anderen, und die
Verdrängung dieser Einsicht.
Augustinus verleiht der Wechselbeziehung zwischen Selbsterkenntnis und
Selbstverbergung in seinem Kommentar dadurch einen besonderen Akzent, daß
er sie mit der Problematik des Begehrens verknüpft. Das Aufgehen der Augen be-
zeichnet seiner Ansicht nach die erste Regung der Konkupiszenz: »in sua membra
oculos iniecerunt eaque motu eo, quem non noverant, concupiverunt. Ad hoc ergo
aperti sunt oculi, ad quod antea non patebant, quamvis ad alia paterent.«361 Adam
erblickt Eva und sieht in ihr erstmals ein nacktes Weib, ein Objekt der Begierde.
Unwillkürlich überkommt ihn ein Verlangen. Dieses Verlangen ist die poena
reciproca, die Strafe, die Gott dem Menschen für den Ungehorsam der Ursünde
auferlegt hat: Adam soll am eigenen Leibe erfahren, was ein solcher Ungehorsam
bedeutet - er bekommt die Unbotmäßigkeit seines eigenen Willens in Gestalt einer
unkontrollierbaren Erektion zu spüren. 362 Die unwillkürliche Regung läßt Adam er-
kennen, was er durch den Sündenfall verloren hat. Er sieht, daß er nicht mehr Herr
seiner selbst ist. Doch auch das Bedecken der Blöße, das mit dieser beschämenden
Einsicht verbunden ist, ist eine unwillkürliche Regung. Adam und Eva verhüllen
sich deshalb, weil sie durch einen Instinkt dazu angetrieben werden: »occulto in-
stinctu ad hoc illa conturbatione conpulsi sunt«. 363 Die Scham ist folglich genauso
unwillkürlich wie das Verlangen, das dem Sünder die Herrschaft über sich selbst
raubt. Die Scham bezeugt die Einsicht Adams in seine Verderbtheit - er verbirgt
sein Verlangen, weil er erkennt, daß es schlecht ist. Aber diese Einsicht entzieht
sich zugleich seiner Kontrolle. Als unbewußte Geste markiert die Bedeckung des
Körpers ein unbewußtes Eingeständnis der Schuld. Die Scham der ersten Men-
schen verweist auf ein Schuldbewußtsein, das sich vor sich selbst verbirgt. Durch
die schamhafte Verhüllung verdrängt der Sünder die Einsicht in seinen gefallenen,
gebrochenen Zustand, und er verdrängt auch noch den Akt des Verhüllens, denn
dieser erfolgt instinktiv und ohne die Beteiligung seines Bewußtseins. Der Sünder
wird sich seines Vergehens und seiner Strafe letztlich nicht bewußt. Die Scham ist,
wie Augustinus argumentiert, ein Zeichen der dem Menschen von Gott auferlegten
Strafe, doch dieses Zeichen richtet sich nicht an den Bestraften selbst, sondern an
einen anderen, Dritten. Entzifferbar ist es nur für den Leser der Schrift, welche

361
Augustinus: De Genesi ad litteram XI.31.4l. (»Sie erblickten ihre Körper und empfanden
eine Regung der Begierde, die ihnen unbekannt war. In diesem Sinne also öffneten sich ihre
Augen für etwas, das sie zuvor nie gesehen hatten, obwohl sie für andere Dinge offen gewesen
waren.« [Ubersetzung von mir, Ch. M.]).
362
Zur augustinischen Konzeption der poena reciproca vgl. P. Brown: Die Keuschheit der Engel.
S. 417-432.
363
Augustinus: De Genesi ad litteram XI.32.42.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 555

die Geschichte des Sündenfalls verzeichnet: »occulto instinctu [...] conpulsi sunt,
ut etiam talis poenae suae significatio a nescientibus fieret, quae [...] doceret scripta
lectorem.«364
Die Geschichte des Sündenfalls, die im dritten Kapitel der Genesis erzählt wird,
enthält noch eine zweite Szene der Beschämung: Adam und Eva hören die Schritte
Gottes, woraufhin sie sich hinter den Bäumen des Gartens zu verstecken suchen.
Doch Gott macht sie ausfindig und stellt sie wegen ihres Ungehorsams zur Rede.365
Augustinus weist in seinem Kommentar zu dieser Stelle auf die Irrationalität des Ver-
steckspiels hin, das Adam und Eva betreiben. Um mit den Sündern zu reden, nimmt
Gott eine menschliche Gestalt an. Während er vor dem Sündenfall direkt mit ihren
Herzen kommunizierte, spricht er nun in der Sprache des Menschen zu ihnen und
blickt sie mit menschlichen Augen an.366 Adam und Eva wollen diesem Blick, der sie
zu entlarven droht, ausweichen; aus einem Übermaß an Furcht und Scham - »per
nimium pudorem ac timorem« — suchen sie sich zu verbergen. 367 Dieses Fluchtver-
halten ist ein Zeichen der Verrücktheit (»dementiae«). Sich vor Gott verstecken zu
wollen, ist verrückt, denn obwohl er menschliche Gestalt angenommen hat, um
mit den Sündern zu reden, bleibt er doch ein allwissendes, alles sehendes spirituelles
Wesen - man kann sich vor ihm schlechthin nicht verbergen. 368 Doch die spirituelle
Omnipräsenz Gottes besitzt für die geistig derangierten Sünder keine Realität. Sie
entzieht sich ihrer Wahrnehmung und ruft bei ihnen deshalb auch kein Schuldbe-
wußtsein hervor. Um sie zum Eingeständnis ihrer Schuld zu bewegen, muß Gott die
beiden mit menschlichen, sinnlichen Augen anschauen. Der menschliche Blick er-
zeugt bei ihnen jedoch nur das gebrochene Schuldbewußtsein der Scham. Nachdem
Gott ihn zur Rede gestellt hat, verweigert Adam folglich das Eingeständnis seiner
Schuld. Die Verwirrung der Scham hindert ihn daran, sein Verschulden zu erkennen:
»Habet deformitatem confusionis et non habet confessionis humilitatem.« 369
Der gefallene Mensch, der Selbsterkenntnis erlangen soll, befindet sich somit
in einem Dilemma: Da Gott ihm nicht mehr unmittelbar ins Herz spricht, löst
seine spirituelle Omnipräsenz bei ihm keinerlei Schuldgefühle aus. Macht Gott
den Sünder aber in menschlicher Gestalt direkt auf seine Schuld aufmerksam, so
verwehrt ihm die Scham die Selbsterkenntnis. Der Sünder muß sich mit den Augen
des anderen sehen, um Einsicht in seinen korrupten Seelenzustand zu erlangen. Der
spirituelle Blick des allwissenden Gottes, der die Herzen der Menschen jederzeit bis

364
Ebd. (»Sie wurden durch einen verborgenen Instinkt dazu angetrieben, damit, ihnen selbst
unbewußt, ein Zeichen ihrer Bestrafung gegeben werde, das den Leser in geschriebener Form
belehren sollte.« [Übersetzung von mir, Ch. M.]).
365
Gen. 3.8-13.
366
Augustinus: De Genesi ad litteram XI.33.43, XI.34.46.
367
Ebd. XI.33.44.
"8 Ebd. XI.34.46: »talis adfectio de peccati poena erat eum latere velle, quem latere nihil potest,
et ab eo camem occultare, qui cordis inspector est.«
369
Ebd. XI.35.47.
556 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

in die letzten Winkel durchdringt, hat für den Sünder jedoch keinen Bestand - er
fühlt sich ihm nicht ausgesetzt, er kann sich die geistige Omniszienz nicht vorstellen,
ist also unfähig, sich diesen Tiefenblick anzueignen und zu verinnerlichen. Wirkung
hat auf ihn nicht die göttliche Super- und Introvision, sondern der beschränkte,
menschliche Blick. Vor diesem Blick kann er sich aber verbergen; er treibt ihn in die
Flucht vor sich selbst. Der spirituelle Gottesblick ist ihm unzugänglich, während der
menschliche Blick eine Einsicht vermittelt, die sich vor sich selbst verbirgt. Ersterer
bleibt vollkommen wirkungslos, letzterer obstruiert sich selbst.
Wie kann man diesem Dilemma entkommen? Wie ist es möglich, dem gefal-
lenen Menschen zur Selbsterkenntnis zu verhelfen? Laut Augustinus stellt Gott
Adam letztlich nicht deshalb zur Rede, weil er ihn zum Eingeständnis seiner Schuld
veranlassen will. Er hat den gefallenen Menschen zur Strafe für sein Vergehen ja
gerade mit der Blindheit der Scham geschlagen. Er weiß also selbst am besten, daß
die direkte Konfrontation des Sünders mit seiner Schuld ein hoffnungsloses Un-
terfangen darstellt. Nur vordergründig spricht Gott in der Beschämungsszene mit
Adam; in Wirklichkeit spricht er mit uns, den Nachkommen des ersten Sünders.
Er redet Adam direkt an, um dadurch auf indirekte Weise mit uns zu kommuni-
zieren. Gott führt ein Gespräch mit dem ersten Menschenpaar und sorgt dafür,
daß dieses aufgezeichnet wird, damit wir die Möglichkeit haben, unsere Schwäche
in der Verwirrung und der Scham unserer Voreltern zu erkennen: »ut ea nescientes
facerent, quae aliquid significarent quandoque scituris posteris, propter quos ista
conscripta sunt.« 370 Die Lösung des Dilemmas liegt für Augustinus mithin im
Medium der Schrift und in der indirekten Darstellungsform der Erzählung. Gott
tritt den Nachfahren Adams nicht mehr unmittelbar gegenüber, sondern er spricht
zu ihnen mittelbar durch die Schrift. Die schriftlich fixierte Geschichte Adams
dient dazu, sie mit ihrer Schuld und Verderbtheit bekannt zu machen, ohne sie zu
beschämen. Die Geschichte Adams ist die Geschichte eines anderen, in der sie sich
selbst erkennen sollen.

Selbsterkenntnis als hermeneutischer Raub

Der Sündenfall begründet nach augustinischer Auffassung die irreduzible Neigung


des Menschen, sich vor sich selbst zu verbergen. Um Einsicht in seinen moralischen
Zustand zu gewinnen, ist das menschliche Individuum folglich auf die Beihilfe an-
derer angewiesen. Selbsterkenntnis ist durch den anderen vermittelt. Die Hilfe, die
der andere zu leisten vermag, unterliegt jedoch einer weitreichenden Beschränkung.
Sie darf nicht in Form der direkten Anrede erfolgen, weil diese den Abwehr- und
Verdrängungsmechanismus der Scham in Gang setzt. Damit der Sünder erkennen

370
Ebd. XI.33.44. (»[Gott beschämte sie], damit sie Handlungen vollzögen, deren Sinn ihnen
selbst verborgen, die für die Nachgeborenen aber bedeutsam wären, zu deren Nutzen diese
Geschehnisse aufgezeichnet wurden.« [Übersetzung von mir, Ch. M.]).
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 557

kann, wie es um ihn selbst bestellt ist, muß ihn der Helfer mit dem Bild eines Dritten
konfrontieren. Selbsterkenntnis ist das Resultat einer potenzierten Mittelbarkeit. Ein
anderer spricht über einen anderen, um das Individuum mit sich selbst bekannt zu
machen. Der Sünder besitzt somit weder einen direkten kognitiven Zugang zu sich
selbst, noch vermag er sich den Blick des anderen unmittelbar anzueignen. Ihm ist
die Möglichkeit verwehrt, sich zu erkennen, wie er erkannt wird. 371
Die potenzierte Mittelbarkeit der Selbsterkenntnis bedingt zudem ihre Fehlbar-
keit. Es gibt keine Gewähr dafür, daß der Sünder sich selbst in dem Bild des Dritten
wiedererkennt. Ebensowenig kann er sicher sein, daß er mit dem Bild, daß man ihm
präsentiert, auch wirklich gemeint ist. Der Sünder muß sich darin wiedererkennen
wollen, er muß es sich eigenständig applizieren. Das aber beinhaltet die Gefahr von
Mißgriffen und Fehllektüren. Im sechsten Buch der Confessiones erzählt der Autobi-
ograph eine Episode aus dem Leben seines Freundes Alypius, die die Möglichkeiten
und Gefahren der durch den Dritten vermittelten Selbsterkenntnis exemplarisch
vor Augen führt. Die Art und Weise, wie der junge Alypius von seiner Leidenschaft
für die Zirkusspiele geheilt wird, wirft ein helles Licht auf das tolle, lege-Erlebnis, in
dem der narrative Teil der Bekenntnisschrift kulminiert. 372
Augustinus berichtet, wie er Alypius, den er schon in seiner Heimatstadt Tha-
gaste zu seinen Schülern gezählt hatte, in Karthargo wiedertrifft, den vertraulichen
Umgang mit ihm jedoch zunächst vermeidet, da der Vater des jungen Mannes dem
aufstrebenden Rhetoriklehrer gegenüber Vorbehalte hat. Alypius wohnt trotz des
väterlichen Verbots hin und wieder dem Unterricht Augustins bei, läßt sich aber
durch die Zirkusspiele, die einen großen Reiz auf ihn ausüben, von seinen Studien
ablenken. Eines Tages, als er sich unter die Zuhörer Augustins gemischt hat, kommt
es diesem bei der Erörterung einer schwierigen Textpassage in den Sinn, zur Ver-
anschaulichung des Problems das Beispiel der Zirkusspiele heranzuziehen. Ohne

371 Vgl. 1 Kor. 13.12. — Sich zu erkennen, wie er erkannt wird: Darin besteht laut Susanne Lüde-
mann das »unverhohlene Sehnsuchtsmotiv« der Confessiones, das in der Mailänder Konversion
seine Erfüllung finde. (Vgl. S. Lüdemann: Mythos und Selbstdarstellung. S. 41) Es mag sein,
daß der Autobiograph von der Sehnsucht nach spekulärer Selbsterkenntnis angetrieben wird.
Diese Sehnsucht trübt aber nicht seinen analytischen Scharfblick, der sich darin bekundet, daß
er - im Rückgriff auf die negative Anthropologie des Erbsünde-Dogmas - die Unmöglichkeit
einer solchen Erkenntnis aufzeigt und daraus die notwendigen Konsequenzen für seine Be-
kenntniserzählung zieht: Die von ihm geschilderte Konversion erlaubt es dem Sünder eben
nicht, sich den göttlichen Blick anzueignen; sie führt, wie im folgenden dargelegt werden
soll, nur zu einer vorläufigen und ungesicherten Form der Selbsterkenntnis.
372 Die engen Bezüge zwischen dieser Heilungsgeschichte und der Mailänder Gartenszene werden
in der Forschung nur selten zur Kenntnis genommen. Eine Ausnahme bildet Brian Stock,
der die Geschichte des Alypius einer gründlichen Analyse unterzieht. Er deutet sie zu Recht
als eine Präfiguration des tolle, /^i-Erlebnisses, geht aber insofern fehl, als er die Heilung des
Zirkussüchtigen mit einem »reworking of Pauline hermeneutics« in Zusammenhang zu bringen
sucht, das heißt: mit eben jener Technik der spiritualisierenden Lektüre, die laut Augustinus
überwunden werden muß, damit das Wort seine heilsame Wirkung auf den Willen des Sünders
entfalten kann. Vgl. B. Stock: Augustine the Reader. S. 7 9 - 8 4 , hier: S. 82f.
558 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

überhaupt an Alypius zu denken, geschweige denn das Wort an ihn zu richten,


macht er dabei einige abfällige Bemerkungen über diejenigen, die dem Laster der
Schaulust ergeben sind. Alypius zögert nicht, diese Äußerung auf seine eigene Person
zu beziehen: »At ille in se rapuit meque illud non nisi propter se dixisse credidit«. 373
Der junge Mann wird durch die Worte des Lehrers in Aufruhr versetzt. Er ringt sich
daraufhin dazu durch, auf den Besuch der Zirkusspiele zu verzichten und seine ganze
Kraft dem Studium und der Bildung seines moralischen Charakters zu widmen.
Das kann ihn allerdings in späteren Jahren - während seines Aufenthalts in Rom
- nicht davor bewahren, einen schweren Rückfall zu erleiden und sich für das blutige
Spektakel der Gladiatorenkämpfe zu begeistern. 374
Die Episode veranschaulicht die Wirkung der indirekten Mitteilung. Die des-
pektierliche Bemerkung über die Zirkusspiele, die Augustinus als Übungsleiter im
Rahmen der lectio, der Lektüre und Auslegung eines rhetorischen Mustertextes,
macht, richtet sich an keine konkrete Person. In dem Moment, da der Lehrer sich
über den Zirkus äußert, hat er, wie der Autobiograph beteuert, weder Alypius
noch irgendjemand anderen im Sinn. Es geht ihm allein um die Erläuterung einer
dunklen Textstelle. Gleichwohl hat Alypius den Eindruck, daß diese Äußerung
ihm persönlich zugedacht sei. Er flihlt sich unmittelbar angesprochen, und daher
hat die Rede auf ihn einen außerordentliche Effekt. Tatsächlich kann sich Alypius
aber nur deshalb persönlich betroffen fühlen, weil die Rede der äußeren Form nach
nicht direkt an ihn adressiert ist. Denn hätte Augustinus ihn vor der versammelten
Zuhörerschaft mit seinem Namen angeredet und wegen seiner Leidenschaft für die
Zirkusspiele ermahnt, so wäre der junge Mann von Scham überwältigt worden - er
hätte dem Verlangen nicht widerstehen können, sich vor den anderen und vor sich
selbst zu verbergen. Paradoxerweise ist es also die unpersönliche, indirekte Form der
Rede, welche die unmittelbare Applikation auf das Selbst ermöglicht, die sozusagen
direkten Eingang in das Herz des Hörers findet. Eine solche Rede unterläuft den
psychischen Abwehrmechanismus der Scham. Erstmals sieht Alypius sich so, wie
ihn der andere sieht: als einen der Schaulust Verfallenen, der seine geistigen Anlagen
verkümmern läßt.
Die Pointe der Geschichte besteht jedoch darin, daß der andere ihn in Wirklich-
keit gar nicht so sieht. Die Selbsterkenntnis des Alypius beruht auf einem Mißver-
ständnis. Der junge Mann versteht sich selbst im vermeintlichen Verstehen eines
anderen, aber dieses Fremdverstehen ist eine reine Unterstellung, ein Deutungs-
konstrukt. Da es in der öffentlichen Unterrichtssituation zu keinem persönlichen
Gespräch zwischen Alypius und Augustinus kommen kann, ist dem Sünder die
Möglichkeit verwehrt, seine Annahme zu verifizieren. Er muß mit der Äußerung

373 Confessiones VI.7.12. (»Er aber riß diese Äußerung sogleich an sich und glaubte, ich hätte
sie nur seinetwegen vorgebracht«. [Übersetzung modifiziert]).
374 Vgl. ebd.VI.8.13.
Die Confession es als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 559

des Lehrers so verfahren, als handele es sich dabei um eine geschriebene Mitteilung.
Alypius liest die Äußerung Augustins, und er liest sie als Entzifferung seines Charak-
ters. Er liest einen Text, und zugleich — dies nimmt er jedenfalls an - liest der Text
ihn. Er versteht sich im Verstehen des anderen, genauer: Er glaubt sich von seinem
Lehrer verstanden, denn tatsächlich hat die Rede Augustins ja nichts mit seiner
Persönlichkeit zu tun. Die durch den anderen vermittelte Selbsterkenntnis ist keine
Angelegenheit des Wissens, sondern des Glaubens: »propter se dixisse credidtt«.
Alypius versetzt sich an die Stelle des anderen, doch diese Aneignung des fremden
Blicks ist nur ein hermeneutischer Vorgriff, der keine Gewißheit zu begründen
vermag. Die Selbsterkenntnis ist in Wirklichkeit ein Selbstverständnis, das aufgrund
seiner Abhängigkeit von Mittlerinstanzen in starkem Maße der Täuschungsgefahr
ausgesetzt ist.
Signifikanterweise verwendet der Autobiograph in diesem Kontext wiederum das
Verbum rapere·. Der Sünder ergreift mit der Rede des anderen zugleich das Verständ-
nis seiner selbst. Rapere bezeichnet die Tätigkeit des An-sich-Reißens, aber auch den
Akt des gewaltsamen Raubs, der widerrechtlichen Aneignung. Der Selbsterkenntnis
des Sünders scheint ein solcher Gewaltakt zugrunde zu liegen. Alypius nimmt eine
Rede in Beschlag, die ihm eigentlich nicht gehört, die eigentlich nicht für ihn be-
stimmt ist. Aber nur diese illegitime Inbesitznahme kann ihn dazu veranlassen, vor
sich selbst über seinen Charakter Rechenschaft abzulegen. Er macht sich ein Urteil
zu eigen, das der andere spricht, doch es gibt keine Garantie dafür, daß er damit
überhaupt gemeint ist. Das Urteil, das der Sünder über sich selbst fällt, ist ein ge-
raubtes Urteil. Der Selbsterkenntnis inhäriert somit ein Moment der Willkür. Der
Autobiograph bewertet die Willkür des Selbstinterpreten nicht negativ, verweist sie
doch auf die Existenz einer tugendhaften Willensregung - nämlich auf den Wunsch
des Sünders, unverstellte Einsicht in sein eigenes Wesen zu gewinnen. Der Sünder
will sich mit der gleichen Klarheit sehen, mit der ihn der andere betrachtet, daher
rafft er das vermeintliche Bild seiner selbst begierig an sich.
Um den Konflikt zwischen schamhafter Selbstverbergung und dem Wunsch nach
Selbsterkenntnis aufzulösen, bedarf es also der Zuwendung eines anderen. Einerseits
muß dieser andere dem Willen des Sünders entgegenkommen, so daß dieser sich
verstanden fühlt und in ihm der Glaube entsteht, sich in seinem Gegenüber lesen
zu können. Andererseits darf er ihm aber nicht so weit entgegenkommen, daß er ihn
auf beschämende Weise direkt anspricht. Den letzten Schritt der Applikation muß
der Sünder vielmehr selbst vollziehen, denn eben dadurch wird sein Wille bestimmt.
Der bestimmte Wille des Sünders manifestiert sich in Form eines hermeneutischen
Raubs, eines Auslangens nach dem Verständnis des anderen, das ihm einen vorläufi-
gen und fehlbaren Aufschluß über sich selbst gewährt. Der Akt der Selbsterkenntnis
setzt also zweierlei voraus: das - obzwar gebrochene — Verlangen des Sünders nach
Einsicht in den wahren Zustand seiner Seele und die indirekte Mitteilung des ande-
ren, die dieses Verlangen bestimmt und somit den Bruch heilt. Da die auf diese Wei-
se gewonnene Selbsterkenntnis jedoch stets nur eine provisorische ist, steht auch die
560 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Heilung des Willens unter einem starken Vorbehalt. Der Autobiograph trägt ihm in
der Geschichte des Alypius dadurch Rechnung, daß er explizit auf den Rückfall ver-
weist, den der junge Mann einige Jahre später in Rom erleidet. Der gewaltsame Akt
der Selbstaneignung ist dem gewaltsamen Akt der Selbstenteignung komplementär
- während Alypius die heilsame Selbsterkenntnis mit großem Verlangen an sich reißt
(»in se rapuit«), genügt ein kurzer Moment der Unachtsamkeit, um ihn aus seinem
neuen Leben wieder herauszureißen: »ibi gladiatorii spectaculi hiatu incredibili et
incredibiliter ahreptus est.«375 Der Rückfall ist eine Folge der Selbstverkennung. Aly-
pius wird von Freunden dazu überredet, sie ins Amphitheater zu begleiten. Er folgt
ihnen deshalb, weil er aufgrund seines >Bekehrungserlebnisses< gegen die Versuchung
des Spektakels gefeit zu sein meint. Im Theater wird aber offenbar, daß er sich selbst
sehr viel weniger kennt, als er glaubt. Sein Irrtum verweist auf die Fehlbarkeit und
Instabilität der durch den anderen vermittelten Selbsterkenntnis. Als willkürlicher
Raub steht sie immer in der Gefahr, einem Mißverständnis aufzusitzen. Der Sünder
kann nie mit vollkommener Sicherheit wissen, wie es um ihn steht, und doch mar-
kiert diese fragile Erkenntnis für ihn die einzige Chance, sich aus der Befangenheit
in seiner sündhaften Verblendung zu befreien.
Die Heilung des Alypius von seiner Leidenschaft für die Zirkusspiele ist eine
Präfiguration des augustinischen tolle, /igf-Erlebnisses. Auch der Protagonist der
Confessiones betätigt sich in der Mailänder Gartenszene als >Räuber< eines Textsinns,
wodurch er den ihn lähmenden Willenskonflikt auflöst. Vorbereitet wird dieser
Raub durch das Wirken der Ratgeber Simplicianus und Ponticianus. Sie verhelfen
Augustinus zur Selbsterkenntnis, indem sie ihn nicht direkt mit der Diagnose sei-
nes Seelenzustandes konfrontieren, sondern mit den Geschichten anderer bekannt
machen, die er auf sich selbst applizieren muß. Auf diese Weise wird der Verdrän-
gungsmechanismus der Scham außer Kraft gesetzt. Augustins Verlangen, Einsicht
in die wahre Befindlichkeit seiner Seele zu erhalten, gewinnt gegenüber der Neigung
zur Selbsttäuschung die Oberhand. Erstmals wird ihm das ganze Ausmaß seiner
sündhaften Verderbtheit bewußt; erstmals erkennt er die Schwäche seines Willens.
Ihm wird klar, daß er sich aus eigener Kraft nicht von seinen alten Gewohnheiten
zu befreien vermag.
In dieser verzweifelten Situation wirft er sich unter den im Garten seines Hauses
befindlichen Feigenbaum, der, wie Pierre Courcelle und John Freccero nahelegen,
den Schatten der Sünde versinnbildlicht. 376 Da Augustinus sich nicht mehr zu

375 Ebd. VI.8.13. (»Hier war es der Gladiatorenkampf, von dem er mit unglaublicher Gier und
auf unglaubliche Weise hingerissen wurde.« [Übersetzung modifiziert; Hervorhebung von
mir, Ch. M.]) - Auf die Komplementarität des An-sich-Reißens, das der Sünder vollzieht,
und des Hingerissenwerdens durch das Spektakel des Gladiatorenkampfes verweist auch B.
Stock: Augustine the Reader. S. 84.
376 Courcelle (Recherches sur les Confessions de Saint-Augustin. S. 193) verweist in diesem Zu-
sammenhang auf Joh. 1.48, Freccero (Autobiography and Narrative. S. 27f.) zusätzlich auf
Micha 4.4.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 561

helfen weiß, entsteht in ihm das Verlangen nach göttlicher Hilfe, die ihn aus dem
Zustand der Unentschiedenheit erlösen soll. Er hält sich für unfähig, seinen Willen
zu bestimmen, und wünscht daher, daß Gott ihm diese Aufgabe abnehme. Dieser
scheint dem Wunsch des Sünders mit dem tolle, lege auch tatsächlich nachzukom-
men. Laut Jean-Pierre Schobinger erteilt Gott Augustinus durch die Kinderstimme
einen »befreienden Befehl«:377 Er entscheidet somit anstelle des Sünders, dem nichts
zu tun bleibt, als sich der göttlichen Anordnung zu unterwerfen.
Bei genauerem Hinsehen wird aber deutlich, daß Gott dem Sünder die Entschei-
dung gerade nicht abnimmt. Im Gegenteil, aufgrund seiner besonderen Form stellt
der Ruf Augustinus erneut vor die Wahl. Da das tolle, lege weder mit einer Adresse
noch mit einem Absender versehen ist, muß er sich entscheiden, wie er die Äußerung
zu deuten hat. Handelt es sich um ein Kinderspiel oder um einen göttlichen Ruf?
Der Sünder hat die Wahl. Eine Fluchtmöglichkeit ist also weiterhin gegeben - würde
er den Ruf als Kinderspiel interpretieren, dann könnte er die Entscheidung für ein
neues Leben erneut aufschieben. Es gibt keinerlei Gewähr dafür, daß die Stimme
göttlichen Ursprungs ist und die von ihr geäußerte Aufforderung sich speziell an
Augustinus richtet. Vielmehr muß der Sünder der Äußerung einen solchen Sinn
unterstellen. Er raubt sich diesen besonderen Textsinn; er reißt eine Rede an sich,
die vielleicht gar nicht für ihn bestimmt ist.
Indem Augustinus die Stimme als Gottesruf deutet, vollzieht er gleichzeitig einen
Willens- und einen Glaubensakt. Er muß glauben, daß Gott zu ihm spricht, da die-
ser sich nicht zweifelsfrei zu erkennen gibt. Er kann die Kinderstimme folglich nur
deshalb als göttliche Aufforderung verstehen, weil er sie so verstehen will - weil er
von ganzer Seele nach göttlicher Hilfe und nach einem neuen Leben verlangt, weil
er wünscht, daß da ein Befehl sei, der ihn aus seiner mißlichen Lage befreit. In seiner
Reaktion auf die Stimme - in dem begehrlichen An-sich-Reißen des gewünschten
Sinns - bietet der Sünder seine Willenskraft für einen kurzen Moment in ungeteilter
Stärke auf. Der gebrochene Wille erscheint geheilt. Auch in der Mailänder Gar-
tenszene bleibt die Vorsehung also ihrer Linie treu, den Sünder durch sein eigenes
Begehren zu anzuleiten. Sie tritt nicht als autoritäre und befehlende Vaterinstanz in
Erscheinung, die den Sünder durch eine Demonstration ihrer Macht zum Gehorsam
zwingt. Mit ihrem indirekten Ruf antwortet sie vielmehr auf das bereits bestehende
Verlangen des Sünders und verhilft ihm dadurch zum Durchbruch. Der Ruf ent-
ziffert den Willen des Sünders, verlangt aber seinerseits, von diesem entziffert zu
werden, wodurch der Wille allererst bestimmt wird. Der Sünder liest sich in einem
>Text<, der ihn liest.
Die Vorsehung leistet auf diese Weise Ammendienste - sie fungiert als Hebamme
eines neuen Willens. Gott begegnet dem Sünder im Mailänder Garten nicht mit
väterlicher Strenge, sondern mit mütterlicher Fürsorge. Die Kinderstimme steht em-

377 J.-P. Schobinger: Augustins Einkehr als Wirkung seiner Lektüre. S. 89.
562 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

blematisch für diese mütterliche Zuwendung ein: Gott macht sich nach Ammenart
dem Kleinen gegenüber klein; er spricht zu ihm in einer kindlichen Sprache, die er
verstehen kann, die ihn aber zugleich auch dazu animiert, hermeneutisch aktiv zu
werden. Bezeichnenderweise begibt sich Augustinus nach der Konversion sogleich zu
seiner Mutter, um ihr über das Vorgefallene Bericht zu erstatten. 378 Die Bekehrung
markiert mithin die Rückkehr des verlorenen Sohnes — nicht jedoch in das Vater-
haus, sondern in den mütterlichen Schoß.
Da die Heilung des gebrochenen Willens das Resultat eines hermeneutischen
Raubs darstellt, steht sie freilich unter einem Vorbehalt: Augustinus besitzt keine
Gewißheit, daß Gott ihn wirklich berufen hat. Zwar kann er das Ergebnis des
Buchorakels, das er auf Veranlassung des tolle, lege durchfuhrt, als eine Bestätigung
seiner Deutung betrachten. Doch auch diese Bestätigung beruht letztlich auf einem
Raub - auf der Aneignung einer schriftlichen Rede, die nicht unmittelbar an ihn
adressiert ist. Pierre Courcelle vertritt die Auffassung, daß es sich bei der im Mai-
länder Garten vernommenen Kinderstimme deshalb um ein allegorisches Zeichen
handeln müsse, weil Augustins Konversion sonst aus einem unwahrscheinlichen
»double hasard« hervorginge - aus dem Zufall der im richtigen Moment vom
Nachbarhaus her erklingenden Stimme einerseits und aus dem Zufall andererseits,
daß der Sünder die Paulus-Briefe genau an der passenden Stelle aufschlägt.379 Doch
indem Courcelle den Zufall allegorisierend zu eliminieren sucht, beraubt er die
Garten-Episode ihrer Pointe. Auf den ambivalenten Status des doppelten Zufalls
kommt es hier gerade an. Augustinus unterlegt den Zufällen eine Signifikanz. Er
verfährt mit ihnen so, wie er mit der Kinderstimme verfährt. Die ungewöhnliche
Koinzidenz der Ereignisse stellt ihn vor eine Wahl: Er kann darin einen bloßen Zufall
sehen, der keine Bedeutung für ihn hat; er kann sie aber auch auf das Wirken der
Vorsehung beziehen und als eine Art göttlicher Mitteilung betrachten, deren Sinn
er sich aneignen muß. Augustinus lernt in der Garten-Episode, die Ereignisse nicht
als Zufälle, sondern als Zeichen aufzufassen, als verschlüsselte Botschaften, die den
Willen Gottes indirekt zum Ausdruck bringen. Die Konversion markiert den Punkt,
an dem er beginnt, die Ereignisse, die ihm zustoßen, zu lesen, sich ihnen gegenüber
hermeneutisch zu verhalten. Der Sünder erkennt, daß Gott durch die Ereignisse zu
ihm spricht, und zwar auf indirekte Weise - so, daß er sich als Urheber seiner Rede
nicht eindeutig zu erkennen gibt. War Augustinus zuvor darauf aus, durch innere
Schau intellektuelle Einsicht in das Wesen Gottes zu gewinnen und seinen Willen
dieser Wahrheit gemäß auszurichten, so wendet er nun seinen Blick nach außen,
um nach Zeichen zu suchen, durch die Gott seinen Willen zu verstehen gibt. Der
Protagonist der Confessiones will nicht mehr wissen, was Gott ist, sondern was er
von ihm verlangt. Die auf die Ermittlung spiritueller Gehalte zielende Wahrheits-

378
Confessiones VIII. 12.30.
375
P. Courcelle: Les >voix< dans les Confessions de Saint-Augustin. S. 39.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 563

hermeneutik, die sich vorrangig auf die Techniken der Allegorese stützt, weicht einer
personenorientierten Willenshermeneutik.
Der Sünder begibt sich somit auf ein unsicheres Terrain. Denn nach augustini-
scher Ansicht macht es einen großen Unterschied, ob man einen Text so interpre-
tiert, daß die Deutung der Wahrheit entspricht, oder ob man darauf abzielt, die
Aussageintention des Verfassers zu ermitteln, das heißt: seinen Willen zu verstehen
(»comprehendere, quod voluit ille quem legimus«).380 Der Autobiograph erläutert
diesen Unterschied im Rahmen seiner Genesis-Exegese. Der Satz >Gott hat alles, das
Sichtbare und das Unsichtbare gewirkt< ist, so erklärt er, eine unter vielen möglichen
Deutungen von Genesis 1.1. Ob dieser Satz eine zutreffende Aussage ist, läßt sich
laut Augustinus durch Rekurs auf die Instanz der inneren Wahrheit (der Vernunft)
nachprüfen. Ob aber Moses gerade dies im Sinn hatte, als er schrieb >Im Anfang
schuf Gott Himmel und Erde<, oder ob er damit nicht etwas ganz anderes, ebenso
Wahres sagen wollte, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. 381 Der Wille des
Verfassers entzieht sich dem Zugriff des Interpreten. Es ist also durchaus möglich,
daß der Interpret mit seiner Deutung die Wahrheit trifft, den Willen des Verfassers
jedoch verfehlt. Wahre Deutungen aufzustellen ist für den, der mit dem inneren
Licht der Vernunft umzugehen weiß, nicht weiter schwer, wohingegen es großen
hermeneutischen Scharfsinn erfordert, den Aussagewillen des Verfassers zu ermit-
teln. Selbst wenn Moses persönlich erschiene und seinen Text — unter Aufwendung
aller sprachlichen, mimischen und gestischen Verständigungsmittel - zu erläutern
versuchte, wir könnten das, was er uns sagen wollte, nicht sehen, sondern nur glau-
ben - »nec sic eam videremus, sed crederemus«.382 So sehr der Verfasser dem Leser
auch entgegenkommt, so sehr er sich bemüht, ihm seinen Willen verständlich zu
machen, er kann ihn nicht von der Notwendigkeit entbinden, einen Glaubenssprung
zu vollziehen, sich des gemeinten Sinns durch ein blindes, glaubendes Ergreifen
{rapere) zu bemächtigen.

8. Bekenntnis als Dialog, Exegese als Bekenntnis:


Die karitative Ö f f n u n g des autobiographischen Textes

Die dialogische Einfassung der bekenntnishaften narratio

Der Ubergang von der Wahrheits- zur Willenshermeneutik, die durch das Konver-
sionsgeschehen besiegelt wird, beraubt Augustinus der Aussicht auf unumstößliche
Gewißheit. Er muß sich fürderhin mit dem Glauben begnügen. Dies wirkt sich

180
Confessiones XII. 18.27 (Hervorhebung von mir, Ch. M.).
381
Ebd. XII.24.33.
382
Ebd. XII.25.35.
564 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

heilsam auf den Willen des Sünders aus, verleiht seiner Bekehrung aber zugleich
den Charakter eines Provisoriums. Augustinus wird sich nie sicher sein können, ob
er den Willen Gottes, den er im tolle, lege zu vernehmen meinte, richtig gedeutet
hat. Es ist durchaus möglich, daß seine Bekehrung — wie die Heilung des Alypius
von der Schaulust - auf einem Mißverständnis beruht. Diese Unsicherheit treibt
Augustinus dazu an, nach weiteren Hinweisen zu suchen, die seine Deutung zu
stützen vermögen. Das Buchorakel ist eine solcher Hinweis, doch so sehr sich Au-
gustinus dadurch in seiner Interpretation bestätigt fühlt, das Orakel vermag den
Deutungsprozeß nicht zu einem Abschluß zu bringen, es kann Glauben nicht in
Gewißheit verwandeln.
Die Suche nach Zeichen, die den göttlichen Willen bekunden, geht daher weiter.
Die Tätigkeit des Autobiographen ist ja nichts anderes als eine solche Suche, die auf
die Vorgeschichte der Konversion ausgedehnt wird. Es geht ihm dabei nicht nur
darum, die Vergangenheit im Lichte des Bekehrungsereignisses zu erhellen. Sein
eigentliches Anliegen besteht vielmehr darin, das Konversionsgeschehen mit Hilfe
der Vergangenheit aufzuschließen, um seine Interpretation des Rufes abzusichern.
Wäre die Konversion der eindeutige lebensgeschichtliche Bruch, den die Forschung
in ihr zu sehen wünscht, dann gäbe es für Augustinus gar keine Veranlassung, sich
derart ausführlich mit seinem früheren Leben zu beschäftigen. Da er aber nicht mit
Sicherheit weiß, ob ein solcher Bruch überhaupt stattgefunden hat, fahndet er in
seiner Vergangenheit nach den Vorzeichen der Bekehrung und nach Indizien für
das zielgerichtete Wirken der Providenz, für den göttlichen Willen, der die Ereig-
nisse steuert. Die Konversion markiert somit nicht das Ende der hermeneutischen
Suche, sie setzt diese allererst richtig in Gang. Augustinus unterzieht sein ganzes
Leben einer Lektüre, um sich der Tatsache zu versichern, daß er durch Gott berufen
wurde. Der hermeneutische Raub, den er im Mailänder Garten beging, bedarf der
Rechtfertigung, und diese kann er nur dadurch leisten, daß er seine gesamte Existenz
im Hinblick auf die Berufung durchleuchtet.
Der Bekehrte spricht von einer Position aus, die in epistemologischer Hinsicht
nicht gesichert ist. Er spricht im Vorgriff auf eine Gewißheit, die ihm prinzipi-
ell verwehrt wird. Der Standpunkt relativen Uberblicks, den er sich durch die
Konversion verschafft hat, ist instabil, denn er beruht auf einem blinden Akt der
Aneignung, der seine Fehlbarkeit nicht verleugnen kann. Der Bekehrte muß sich
seiner Position daher durch fortgesetzte Deutungsarbeit vergewissern. Es trifft nicht
zu, daß die Konversion dem Sünder einen »totalizing viewpoint« erschließt, einen
»einheitsstiftende[n] Standpunkt, der dem Wissen Gottes vergleichbar ist«.383 Auch
nach der Bekehrung bleibt dieses Wissen für Augustinus unerreichbar. Als Interpret

383 J. Robbins: Prodigal Son / Elder Brother. S. 24; S. Lüdemann: Mythos und Selbstdarstellung.
S. 39.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 565

der Zeichen, durch die Gott seinen Willen kund gibt, langt er zwar immer wieder
nach diesem Wissen aus. Er ist sich jedoch der Tatsache bewußt, daß er sich dabei
als >Räuber< betätigt und stets nur zu provisorischen Ergebnissen gelangt, die er eben
nicht als ein festes Eigentum betrachten darf. Daher sieht der Autobiograph es als
seine Pflicht an, den gewaltigen Abstand kenntlich zu machen, der seine begrenzte
Perspektive von der souveränen Uberschau Gottes trennt. Der Autobiograph muß
sich permanent in Erinnerung rufen, daß seine Urteile nur Vorurteile sind und
das endgültige Verdikt allein Gott zusteht. Zu diesem Zweck bettet Augustinus
die narratio seiner Lebensgeschichte in einen Dialog mit Gott ein. Immer wieder
unterbricht er seine Erzählung, um sich Gott zuzuwenden, ihn anzurufen, ihm seine
Deutung zur Beurteilung vorzulegen, ihn um Rat zu fragen und um Hilfe zu bitten.
Auf diese Weise führt er sich und seinen menschlichen Lesern den provisorischen
Charakter seiner Lebensdeutung vor Augen.
Reinhart Herzog erkennt in dem Dialog, den Augustinus mit Gott führt, die
raison d'etre der Confessiones. Er charakterisiert diesen Dialog als ein »entlastetefs]
Gespräch« - entlastet in dem Sinn, daß der menschliche Gesprächspartner »von
seiner biographischen Geschichtlichkeit geheiltf]« erscheint: Er hat das Leben, über
das er sich mit Gott unterhält, hinter sich gelassen und kann seine Vergangenheit
daher aus neutraler Distanz, ja sogar mit einem gewissen ästhetischen Vergnügen
betrachten.384 Diese Interpretation der in den Confessiones angelegten Dialogsitua-
tion stellt die tatsächlichen Verhältnisse jedoch auf den Kopf. Augustinus spricht
nicht deshalb mit Gott, weil er sich, von pragmatischen Zwängen entlastet, an dem
Rückblick auf sein Leben delektieren will. Im Gegenteil: Der Dialog dient dazu, dem
Autobiographen klar zu machen, wie belastet er noch immer ist. Der Autobiograph
spricht mit Gott, damit er nicht der Versuchung erliegt, als Richter über sein eige-
nes Verhalten die Stelle Gottes zu usurpieren. Die dialogische Öffnung gegenüber
Gott soll den Erzähler vor verderblicher Selbstgenügsamkeit bewahren. Er versucht
dadurch der Gefahr entgegenzuwirken, daß seine Lebensdeutung an der sündhaften
Verblendung partizipiert, die sie aufzudecken bemüht ist.
In diesem Sinne bietet Augustinus Gott seine Erinnerung dar, damit er sie
reinige: »Ecce cor meum, deus meus, ecce intus; vide, quia memini, spes mea, qui
me mundas a talium affectionum inmunditia, dirigens oculos meos ad te«.385 Nicht
nur das sündhafte Leben, an das sich der Autobiograph erinnert, sondern auch
die Erinnerungstätigkeit selbst wird zum Gegenstand des Bekenntnisses gemacht,
denn auch sie ist unrein. Die Reinigung erfolgt dadurch, daß der Autobiograph den
Blick, der zunächst auf seine eigene Person fixiert war, auf Gott lenkt und Gott in
sein Herz schauen läßt. Er legt seine Selbstdeutung dem anderen gegenüber offen,

384 R. Herzog: Non in sua voce. S. 215, S. 232, S. 238f.


385 Confessiones IV.6.11. (»Sieh auf mein Herz, mein Gott, sieh ins Innere! Sieh, daß ich mich
erinnere, meine Hoffnung, der du mich von der Unreinheit solcher Empfindungen reinigst,
indem du meine Augen sich auf dich richten läßt«.).
566 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

er öffnet seinen Text und delegiert das Urteil über sich selbst an den anderen weiter.
Augustinus erzählt nicht einfach nur seine Lebensgeschichte, er bekennt vielmehr
sein Erzählen und beteiligt somit die anderen — sowohl G o t t als auch die mensch-
lichen Leser seiner Bekenntnisse - an dem Prozeß der Selbstdeutung. Folglich ist
der Dialog mit Gott, der diese D e u t u n g als Provisorium kenntlich macht, zugleich
auch ein hermeneutisches Instrument. Indem der Autobiograph seine Erzählung in
ein (fiktives) Gespräch einbettet, öffnet er sich auf den anderen hin, doch gleich-
zeitig zieht er ihn in den Deutungsprozeß hinein. D u r c h die Dialogisierung des
Bekenntnisses nötigt sich Augustinus dazu, dem definitiven Urteil über sein Selbst
zu entsagen. Sie dient aber auch dem Zweck, das Urteil Gottes - so unzulänglich
dieser Vorgriff auch immer sein mag — zu antizipieren. Der Autobiograph will sich
im Verstehen des anderen verstehen, dem er sich im Dialog mitteilt. Er spricht mit
Gott, u m sich seiner begrenzten Perspektive bewußt zu werden und sie zugleich zu
erweitern. Die dialogische Einfassung der narratio ist also beides in einem: ein Akt
der Selbstbeschränkung, der dem H o c h m u t des Autobiographen vorbeugen soll,
u n d der Versuch, über die Grenzen hinauszugelangen, die der menschlichen Selbst-
erkenntnis aufgrund der Erbsünde gesetzt sind.

D a s Beispiel des B i r n e n d i e b s t a h l s

Die Funktion, die das Gespräch mit Gott im Rahmen der Deutungsarbeit des Be-
kehrten erfüllt, läßt sich gut am Beispiel einer der berühmtesten Episoden aus den
Confessiones veranschaulichen: am Beispiel des Birnendiebstahls, der in der Neuzeit
den Status eines autobiographischen Topos erlangt hat. 3 8 6 In der Forschungsli-
teratur wird immer wieder auf das Mißverhältnis hingewiesen, das zwischen der
Trivialität des äußeren Anlasses u n d dem gewaltigen A u f w a n d an analytischem
Scharfsinn besteht, den der Autobiograph betreibt, u m der sündhaften Motivation
des Birnendiebs auf den G r u n d zu gehen. W ä h r e n d Augustinus mehr als die Hälfte
des zweiten Buchs darauf verwendet, den harmlos erscheinenden Bubenstreich
des Birnendiebstahls zu erörtern, werden schwerwiegendere Sünden - etwa das
treulose Verhalten gegenüber der Mutter seines Sohnes Adeodatus - mit einigen
knappen Bemerkungen abgehandelt. 387 Das Mißverhältnis zwischen dem trivialen
Vergehen u n d dem großen Deutungsaufwand wird als Indiz dafür gewertet, daß
der Autobiograph den Birnendiebstahl zum Paradigma menschlicher Sünd- und
Boshaftigkeit überhaupt zu erheben versucht. 388 Diese Einschätzung ist sicherlich

386
Die Episode um Marion und das geraubte Band, die Jean-Jacques Rousseau im zweiten
Buch der Confessions erzählt, und die Geschichte vom Apfeldiebstahl, die in Charles Darwins
Autobiographie zu finden ist, sind nur zwei von vielen Umgestaltungen dieses Topos. Vgl.
J. Freccero: Autobiography and Narrative. S. 22.
387
Vgl. ebd. S. 23f.
388
Vgl. K. Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken. S. 239.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 567

richtig, und doch wird sie der Vorgehensweise des Autobiographen nicht ganz ge-
recht. Wenn Augustinus der retrospektiven Analyse eines kleinen Vergehens so viel
Raum gewährt, dann geschieht dies nämlich nicht nur deshalb, weil er dem Wesen
der Sünde auf die Spur kommen möchte. Es geht ihm vielmehr auch darum, die
Analysetätigkeit selbst zu problematisieren. Er zeigt auf, daß die autobiographische
Deutung sündhaften Verhaltens mit Risiken behaftet ist: Der Interpret boshafter
Willensregungen steht in der Gefahr, zum Komplizen der Sünde zu werden, sofern
er nämlich das Gespräch mit Gott vernachlässigt und sich selbst an die Stelle der
göttlichen Urteilsinstanz setzt.
Der Autobiograph benennt zunächst die Voraussetzungen, die erfüllt sein müs-
sen, wenn die retrospektive Analyse seines sündhaften Tuns zum Erfolg führen soll:
Er hat sich zum katholischen Glauben bekehrt und das Sakrament der Taufe empfan-
gen, Gott hat ihm also die in Frage stehende Sünde vergeben. Er kann sich folglich
mit ihr beschäftigen, ohne in Furcht zu geraten.389 Die Sünde des Birnendiebstahls
ist aus dem von Gott geführten Schuldbuch getilgt. Sie betrifft ihn also nicht mehr;
er kann mit ihr nun so umgehen, als wäre sie die Sünde eines anderen. Augustinus
hat zunächst das Gefühl, auf der sicheren Seite zu stehen. Er glaubt, unbelastet und
unbefangen an sein vergangenes Tun herangehen zu können. Die Vergebung, die er
durch die Taufe erlangt hat, scheint eine unverstellte Sicht auf sein altes Selbst zu
gewährleisten - es besteht für ihn keinerlei Veranlassung mehr, sich vor sich selbst
zu verbergen.
Also begibt sich der Autobiograph ans Werk: Er vergegenwärtigt sich den Seelen-
zustand des jungen Sünders, er versenkt sich in seine damalige Gefühlswelt, rekonst-
ruiert seine Gedanken und Wünsche. Insbesondere versucht er herauszufinden, wor-
auf sein sündhaftes Verlangen genau gerichtet war, als er sich der verbotenen Früchte
bemächtigte. Zu diesem Zweck durchforscht er seine memoria, doch die Erinnerung
stößt bald an ihre Grenzen. Er kann sich nicht daran erinnern, was er im Moment
der Sünde eigentlich begehrte. Er weiß nur, was er nicht wollte: Es ging ihm damals
nicht um den sinnlichen Genuß der Früchte, aber auch nicht darum, dem Besitzer
des Obstbaums Schaden zuzufügen.390 Die Beschränktheit seines Gedächtnisses hält
Augustinus nicht davon ab weiterzuforschen. Dort, wo ihm die direkte Erinnerung
nicht mehr weiterhilft, betätigt er sich als Interpret der Gedächtnisspuren, der seinen
ganzen psychologischen Sachverstand aufbieten muß, um die verborgene Motivation
des Sünders aufzudecken. Die Erforschung der eigenen memoria geht über in eine
quaestio, eine systematische Untersuchung der sündhaften menschlichen Psyche.
Dabei gelangt Augustinus zu dem Ergebnis, daß nicht nur die Sünde des Birnen-
diebstahls, sondern überhaupt jede menschliche Sünde eine verkehrte Nachahmung

Vg] Confessiones II.7.15: »Quid retribuam domino, quod recolit haec memoria mea et anima
mea non metuit inde?«
Ebd. II.6.12.
568 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Gottes darstellt. 391 Der Sünde liegt das Verlangen des Menschen zugrunde, so zu
sein wie Gott. Der Birnendieb beging die S ü n d e demnach u m der Sünde willen — er
stahl, u m sich eine verstümmelte Freiheit (»mancam libertatem«) vorzuspielen, um
das Gefühl zu genießen, ungestraft etwas Verbotenes zu tun, u m zu erfahren, was es
heißt, wie G o t t über dem Gesetz zu stehen. 392
Der analytische Scharfblick, den der Autobiograph mit dieser D e u t u n g unter
Beweist stellt, hat jedoch eine Kehrseite. Während er sich darauf konzentriert, die
Sünde des Birnendiebs ans Licht zu bringen, ist er blind für die Sündhaftigkeit seiner
eigenen Deutungsarbeit. Er verfällt der Sünde, die er entlarvt. Auch er betreibt ja
eine verkehrte N a c h a h m u n g Gottes, denn eigentlich ist es G o t t vorbehalten, die
Herzen der Menschen zu durchschauen und ihre verborgenen Beweggründe aufzu-
decken. Indem er dem Knaben mit hochmütiger Selbstsicherheit das Urteil spricht,
maßt er sich den göttlichen Blick an. Auch er spielt sich eine falsche Freiheit vor,
wenn er glaubt, daß er sein altes sündhaftes Selbst ein für alle Mal abgelegt habe.
Denn gerade in dem Moment, in dem er das verborgene Motiv des Sünders ans Licht
zu bringen vermeint, holt ihn die sündhafte Verblendung des Knaben wieder ein. Als
Analytiker der Sünde bemächtigt sich der Autobiograph der Position Gottes, anstatt
sich im Gespräch mit ihm seiner Leitung zu unterstellen.
Tatsächlich verliert Augustinus Gott während seiner Analysetätigkeit zunehmend
aus den Augen. Je tiefer er in die Seele des Sünders eindringt, desto mehr vertraut er
auf seine eigenen intellektuellen Fähigkeiten. Er steigert sich immer mehr in die Un-
tersuchung der sündhaften Psyche hinein und vergißt dabei den eigentlichen Adressa-
ten seiner Rede — er vergißt, daß seine Rede Bekenntnis ist. Der Autobiograph kapselt
sich ab und berauscht sich an seinem Vermögen, der Sünde auf den Leib zu rücken.
Schließlich unterhält er sich nicht mehr mit Gott, sondern nur noch mit sich selbst,
genauer: mit seiner Sünde. Die Sünde des Diebstahls wird als Gesprächspartnerin
apostrophiert: » Q u i d ego miser in te amavi, ο furtum meum, ο facinus illud meum
nocturnum sexti decimi anni aetatis meae?« 393 Das vertrauliche D u , mit dem er den
Diebstahl anredet, verweist auf die zwielichtige Beziehung der Komplizenschaft, die
der Analytiker mit der Sünde eingegangen ist. Der Autobiograph hat sich der Sünde
in mehr als nur einem Sinne angenähert. Die Annäherung an die Sünde impliziert
eine Abkehr von Gott, den der Autobiograph dadurch beiseite gedrängt hat, daß er
den Beweggrund für sein Vergehen aus eigener Kraft zu erfassen suchte.
Diese Verblendung wird Augustinus gerade noch rechtzeitig bewußt. Unvermit-
telt unterbricht er seine Nachforschungen, u m sich zu fragen: » Q u i d est, quod mihi

391 Ebd. II.6.14: »Perverse te imitantur omnes, qui longe se a te faciunt et extollunt se adversum
te.«
392 Ebd.
393 E b d . II.6.12. (»Was habe ich Armseliger denn an dir geliebt, ο d u mein Diebstahl, den ich
begangen, ο d u meine nächtliche Schandtat, die ich in meinem sechzehnten Lebensjahr
verübt?«).
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 569

venit in mentem quaerere et discutere et considerare f...]?«394 Die Untersuchung, die er


zunächst mit so großem Erfolg zu fuhren schien, wird dem Autobiographen mit einem
Mal fragwürdig. Äußerte er sich eben noch mit dreister Zuversicht über das Wesen der
menschlichen Sünde, so sieht er sich plötzlich mit neuen Schwierigkeiten konfrontiert.
Eine Erinnerung steigt in ihm auf, die seine ganze subtile Analyse hinfällig erscheinen
läßt: Augustinus erinnert sich, daß er den Diebstahl gemeinsam mit Freunden beging
und daß er ihn nie alleine begangen hätte.395 Hat er also doch nicht bloß um der Sünde
willen sündhaft gehandelt? Welchen Einfluß hatten die Freunde auf seinen Willen
zur Sünde? Der sündhafte Trieb, den er bereits aufgeschlüsselt zu haben schien, wirkt
plötzlich wieder dunkel und unergründlich. Der Autobiograph spricht von einer »se-
ductio mentis investigabilis«.396 Hatte er eben noch das Gefühl, das sündhafte Verhal-
ten des Knaben verstehen zu können, so erscheint es ihm nun rätselhafter als je zuvor:
»Quis exaperit istam tortuosissimam et inplicatissimam nodositatem?«397 Augustinus
unternimmt keinen neuen Versuch, diesen Knoten zu lösen, sondern er wendet sich
wieder an Gott, um ihm seine Unfähigkeit zu bekennen, der Sünde auf den Grund
zu gehen. Er sieht ein, daß er die Verbergungskraft und Täuschungsmacht der Sünde
unterschätzt hat. Auch der Bekehrte vermag sie nicht zu überwinden; noch immer
übt sie ihre Herrschaft über ihn aus. Die vorwitzige quaestio muß also am Ende der
demütigen confessio peccatoris weichen. Der Autobiograph gesteht sein Unwissen ein;
die Frage nach dem Warum des Bimendiebstahls bleibt letztlich offen.
Der Wechsel zwischen quaestio und confessio, zwischen analytischer Selbstbefra-
gung und demütiger Selbstentäußerung im Gespräch mit Gott, ist kennzeichnend
für das hermeneutische Verfahren, das der Autobiograph in den Confessiones zur
Anwendung bringt. Immer wieder langt er nach dem göttlichen Wissen aus; immer
wieder unternimmt er den Versuch, sich mit den Augen Gottes zu betrachten. Doch
zugleich macht er den räuberischen Charakter dieses Selbstverstehens kenntlich,
indem er die Einsichten, die er auf diese Weise gewinnt, stets auch wieder in Frage
stellt und auf neue Rätsel zurückführt. Er kommt zu keinen definitiven Ergebnissen;
vielmehr reicht er die ungelösten oder nur zum Teil gelösten Probleme an Gott und
an die menschlichen Leser der Confessiones weiter, damit sie ihn bei seinen Bemü-
hungen um Selbsterkenntnis unterstützen. Der Autobiograph handelt nach den
Prinzipien jener karitativen Hermeneutik, die in De catechizandis rudibus und De
doctrina christiana theoretisch expliziert werden. Er teilt seine Selbstdeutung mit,
noch ehe er damit zu einem Abschluß gelangt ist, denn er hofft, sie eben dadurch
vollenden zu können, daß er sie mit anderen teilt.

3.4 Ebd. II.8.16. (»Wie kommt es mir überhaupt in den Sinn, zu fragen, zu forschen, zu erwägen?«
[Ubersetzung modifiziert]).
3.5 Ebd.: »Et tarnen solus id non fecissem - sic recordor animum tunc meum — solus omnino id
non fecissem.«
3% Ebd. II.9.17.
3,7 Ebd. 1110.18.
570 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

D e r o f f e n e R a u m der Schrift

Diese Ö f f n u n g gegenüber dem anderen unterscheidet die Confessiones in auffälliger


Weise von den herkömmlichen Formen spätantiker Selbstdarstellung. Die augu-
stinische Bekehrung führt nicht dazu, daß der Autobiograph sich die Position des
anderen zu eigen macht oder den anderen internalisiert. Sie begründet vielmehr
eine Rede, die den irreduziblen Wissensvorsprung des anderen bewußt zu halten
sucht. Dagegen verfolgt etwa Marc Aurel mit dem Lebensrückblick, den er im
ersten Buch von TA ΕΙΣ ΕΑΥΤΟΝ präsentiert, das Ziel, den Standpunkt des
anderen ganz in Besitz zu nehmen und fest in seine Persönlichkeit zu integrieren.
Mittels der summarischen Aufstellung der Bildungsgüter, die ihm durch seine
Lehrer und Erzieher zuteil wurden, transformiert sich der Kaiser vom Gegenstand
fremder B i l d u n g s b e m ü h u n g e n zum selbständig denkenden und handelnden
Individuum. Die Bilanz dient dazu, sich das Gelernte vollkommen anzueignen
und sich von der Anleitung durch die Lehrer frei zu machen, die ihm die für eine
naturgemäße Lebensweise erforderlichen Anschauungen vermittelten. Künftig
will der Kaiser sein eigener Lehrer - sein eigener anderer - sein. Indem er die
Resultate seines Bildungsweges zusammenfaßt, löst er sein vergangenes Leben in
Form eines überschaubaren Tableaus von sich ab und stellt es sich selbst als ein
beherrschbares Objekt gegenüber. Er erzählt nicht, sondern er verzeichnet nur die
nackten Resultate, denn durch die narrative Vergegenwärtigung des Vergangenen
und durch die Herstellung eines kontinuierlichen geschichtlichen Zusammenhangs
würde er sich an das alte, unmündige Selbst ketten, von dem er sich gerade befreien
will. Die eingehende Beschäftigung mit der Vergangenheit wäre ein Verrat an der
Gegenwart, ein aberrantes Sich-Festklammern an dem, was sich der Verfügungs-
gewalt des Individuums entzieht und somit seine Autarkie bedroht. Indem der
Kaiser seine philosophischen Lehrjahre in schriftlicher Form bilanziert, setzt er
eine Zäsur, erhebt er sich zum anderen seiner selbst. Fürderhin (in den folgenden
elf Büchern von TA ΕΙΣ EA YTON) konzentriert er sich darauf, von dieser überle-
genen Position des anderen aus seine eigenen Seelenregungen zu beobachten und
zu kontrollieren.
Der Verfasser der Confessiones verfährt ganz anders als der römische Philoso-
phen-Kaiser. Anstatt fertige Resultate festzuhalten, teilt er seinen Lesern Unferti-
ges mit. Er kann ihnen nichts Fertiges mitteilen, da seine Konversion auf einem
hermeneutischen Raub beruht und kein überlegenes Wissen begründet. Um seine
Bekehrung abzusichern, muß er sich - anders als der stoische Philosoph - noch
einmal auf seine Vergangenheit einlassen, nach Vorzeichen suchen und eine
Vorgeschichte konstruieren. Als Bekehrter steht Augustinus nicht jenseits seiner
selbst. Daher kann er seine Vergangenheit nicht in Gestalt eines überschaubaren
und leicht zu handhabenden Tableaus von sich abspalten; daher wendet er sich
den kontingent erscheinenden - und ihrer Kontingenz nie ganz zu entkleidenden
— Einzelheiten des bereits gelebten Lebens mit einer bis dahin unerhörten Ausführ-
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 571

lichkeit zu.358 Weil Marc Aurel die Position des anderen einzunehmen vermag, hat
er es nicht nötig, sich anderen mitzuteilen. Seine Aufzeichnungen dienen allein
der Selbstverständigung. Augustinus hingegen, der im Jenseits seiner selbst nie fest
Fuß zu fassen vermag, muß sich den anderen gegenüber öffnen, denn nur dadurch,
daß er einen hermeneutischen Dialog mit seinen Lesern führt, kann er zu diesem
Jenseits in Beziehung treten.
Die augustinische Konzeption der confessio steht nicht nur im Gegensatz zur
stoischen Technologie der ethischen Selbstkonstitution. Sie hebt sich auch von einer
bestimmten Spielart der christlichen Askese ab. Die von Augustinus propagierte
karitative Hermeneutik steht quer zu den Prinzipien der eremitischen Lebensweise,
wie sie Athanasius in der Vita Antonii propagiert. Mehrfach warnt Antonius seine
Mitbrüder davor, auf ihr vergangenes Leben zurückzuschauen.399 Der Rückblick auf
die Vergangenheit stellt seiner Ansicht nach eine gefährliche Versuchung dar - wer
sich der Erinnerung an das bereits Erlebte und Erreichte hingibt, der setzt sich der
Gefahr einer falschen Selbstzufriedenheit aus und restituiert somit die überwun-
den geglaubte Bindung an die Welt.400 Das Werk der Askese muß immer wieder
von vorne beginnen. Vom Eremiten wird verlangt, daß er den Akt der Bekehrung
gewissermaßen jeden Tag aufs Neue vollzieht.401 Die Möglichkeit des permanenten
Neuanfangs steht ihm aber prinzipiell offen. Denn um sich von der Vergangenheit
zu lösen, muß der Asket nichts weiter tun, als sich voll und ganz auf die Gegenwart
zu konzentrieren, das heißt: er muß die Aufmerksamkeit immer nur darauf richten,
was im gegenwärtigen Moment in seiner Seele vorgeht.402 Auf diese Weise können
unkeusche Gedanken und dämonische Einflüsterungen bereits im Keim erstickt
werden. Ein unabdingbares Hilfsmittel derartiger Selbstbeobachtung ist die Schrift.
Wie Marc Aurel so rekurriert auch Antonius auf das Instrument der Schrift, um
seine Seelenbewegungen unter Kontrolle zu bringen.403 Er fordert den Asketen dazu

1,8 Es trifft also nicht zu, daß die augustinische narratio, wie R. Herzog behauptet, keinen »Kon-
tingenzmüll« hinterläßt (Non in sua voce. S. 220f.). Die vollständige Tilgung der Kontingenz
ist eine Versuchung, der der Erzähler widerstehen muß. Auf die Tatsache, daß Augustinus im
Gegensatz zu Marc Aurel kontingente Details in seiner Selbstdarstellung gerade zur Geltung
bringt, verweist auch William S. Babcock: Patterns of Roman Selfhood: Marcus Aurelius and
Augustine of Hippo. In: Perkins Journal 29 (1976). S. 1 - 1 9 , hier: S. 14f.
Vita Antonii. Versio Evagrii. S. 851f. (§ 7), S. 867f. (§ 16), S. 871 f. (§ 20).
400 Vgl. G. G. Harpham: The Ascetic Imperative in Culture and Criticism. S. 110.
401 Vita Antonii. Versio Evagrii. S. 852f. (§ 7).
402 Diese Aufmerksamkeit ähnelt somit der stoischen Seelenhaltung derprosoche, die ja auch darauf
abzielt, das Individuum aus seiner Bindung an eine nicht kontrollierbare Vergangenheit oder
Zukunft zu lösen, um ihm statt dessen die Herrschaft über das Gegenwärtige (über seine eige-
nen Vorstellungen) zu ermöglichen. Vgl. P. Hadot: Exercices spirituels et philosophie antique.
S. 18-20, S. 6 3 - 6 5 . Hadot zeigt auf, daß das philosophische Konzept der prosoche ν or allem
im frühchristlichen Mönchtum rezipiert wurde: »Cette prosoche, cette attention ä soi-meme,
attitude fondamentale du philosophe, va devenir l'attitude fondamentale du moine.« (Ebd.
S. 64).
403 Vgl. Kapitel VI.4 dieser Untersuchung.
572 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

auf, alle seine G e d a n k e n u n d G e f ü h l e aufzuschreiben, als ob er sie einem anderen


mitteilen wolle. Die schriftliche Aufzeichnung der Seelenregungen ist dazu geeignet,
d e n Blick des anderen zu substituieren:
Igitur quasi sub oculis [...] nostris et cogitatu confundimur et actu, si omnia referenda faciamus;
multo autem magis, si peccata nostra fideliter describentes digeramus in ordinem. Tunc vero
annotatio delictorum fratrum videbitur oculi. Si timebimus peccati ceras conscias, ipsi nos
arguent apices, et quomodo meretricibus membra miscentes, confunduntur ad praesentiam
caeterorum; ita et nos erubescemus ad litteras.1104

D i e h e r m e n e u t i s c h e U n t e r s t ü t z u n g des anderen wird d u r c h das Aufschreiben der


G e d a n k e n überflüssig gemacht. Wer sich dazu zwingt, alle seine inneren Regungen
zu n o t i e r e n , d e r b r a u c h t keinen Seelenführer, k e i n e n M e n t o r oder Beichtvater.
D a s gleiche G e f ü h l der Scham, das der Asket e m p f i n d e t , w e n n er d u r c h seinen
M i t b r u d e r einer schändlichen N e i g u n g ü b e r f ü h r t wird, überfällt ihn demzufolge
auch d a n n , w e n n er einen schmutzigen G e d a n k e n zu Papier bringt. A n t o n i u s ist
davon überzeugt, d a ß die Scham, die d u r c h das Aufschreiben böser Regungen her-
vorgerufen wird, d e n Eremiten dazu veranlaßt, solche G e d a n k e n k ü n f t i g gar nicht
erst zu d e n k e n . W e n n der Asket es sich zur Regel macht, alle seine Vorstellungen
niederzuschreiben, d a n n besteht die Aussicht, d a ß sich seine Wachsamkeit mit der
Zeit zu einer stabilen Seelenhaltung verfestigt u n d sein Geist schließlich den Sieg
über d e n Körper davonträgt: »Haec agamus, hac virtutis gradiamur via, et corpora
m e n t i b u s subjugantes, pemiciosas diaboli c o n t e r a m u s insidias.« 405 Die asketische
Praxis der Selbstverschriftlichung dient also letztlich d e m Zweck, die Kontrollin-
s t a n z des a n d e r e n zu verinnerlichen. 4 0 6 D i e Schrift f u n g i e r t z u n ä c h s t als Ersatz
f ü r d e n b e s c h ä m e n d e n Blick der M i t b r ü d e r , ehe die p e r m a n e n t e A u s ü b u n g der
schriftlichen Selbstkontrolle eine hexis begründet u n d sich die I n a n s p r u c h n a h m e des
äußerlichen Hilfsmittels erübrigt. Die Schrift stellt somit gerade f ü r den Eremiten
ein unverzichtbares I n s t r u m e n t der Askese dar. Sie erlaubt es i h m , sich von seinen
M i t b r ü d e r n unabhängig zu machen u n d das Ideal der einsamen Wüstenexistenz zu
verwirklichen.
A u f d e n ersten Blick scheint das von A n t o n i u s skizzierte Projekt der Selbstver-
schriftlichung eine gewisse Ähnlichkeit m i t der augustinischen Konzeption der con-

404
Vita Antonii. Versio Evagrii. S. 923f. (§ 55). (»Wenn wir alles genau mitteilen, was in uns
vorgeht, werden wir - gleichsam, als fände es unter unseren Augen statt — in unserem Denken
und in unserem Tun aus der Fassung gebracht; um wieviel mehr also, wenn wir unsere Sünden
getreulich schildern und in einer bestimmten Ordnung aufschreiben. Das Aufschreiben der
Vergehen ersetzt dann sozusagen die Augen der Brüder. Wenn wir fürchten, daß die Wachs-
tafeln zu Mitwissern unsere Sünde werden, dann klagen die Zeichen selbst uns an, und wie
wir uns schämen würden, unter der Anwesenheit anderer Unzucht zu treiben, so erröten wir
gegenüber den Buchstaben.«).
405
Ebd.
406
In ähnlicher Weise wird in der Kaiserzeit der Adept der philosophischen Selbstsorge dazu
animiert, die Instanz des Lehrers oder Freunds zu internalisieren, um seine Seelenaktivitäten
zu disziplinieren. Vgl. dazu Kapitel VI dieser Arbeit.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 573

fessio aufzuweisen. In beiden Fällen geht es offenbar darum, dunkle Regungen sünd-
haften Verlangens ans Tageslicht zu fördern. Michel Foucault führt die Seelennotate
des Wüstenvaters denn auch als Beleg für eine neue, christliche Form der ecriture
de soi ins Feld: Während die Anhänger der heidnischen Philosophie Hypomnemata
anfertigten, um sich die Prinzipien naturgemäßer Lebensführung anzueignen und
für die praktische Anwendung zuzubereiten, verfolge Antonius die Absicht, das
verborgene Wirken sündhaften Begehrens zu entziffern und sich als Hermeneut
seiner Seele zu betätigen. Erstere betrieben eine »subjectivation du discours«, eine
Verinnerlichung äußerlich vorgegebener Dogmen; letzterer ziele umgekehrt darauf
ab, Inneres zu entäußern. 407
Diese plakative Gegenüberstellung wird den Gegebenheiten jedoch nicht gerecht.
Auch bei Antonius dient das Schreiben ja der Verinnerlichung einer äußeren Instanz
- wie Marc Aurel will auch er den Blick des anderen internalisieren und als Kontroll-
organ installieren. Zudem soll die Niederschrift die bösen Gedanken nicht bloß aus
ihrer Verborgenheit hervorzerren, sondern ihre Entstehung überhaupt verhindern.
Antonius möchte also mittels der Schrift seine Seelenaktivität in den Griff bekom-
men; es geht ihm vorrangig nicht um Selbsterkenntnis, sondern um Selbstformung
und Selbstdisziplinierung. Hierin wie auch in seiner Ablehnung der Erinnerung steht
er dem römischen Kaiser-Philosophen näher als dem Verfasser der Confessiones, für
den die Analyse der Vergangenheit einen unverzichtbaren Bestandteil der selbsther-
meneutischen Aktivität bildet. Aus augustinischer Perspektive ist Antonius der
Vertreter einer naiven Hermeneutik, welche die durch den Sündenfall angerichtete
Verwirrung der menschlichen Psyche auf verhängnisvolle Weise unterschätzt.
Das betrifft insbesondere seinen Umgang mit dem Phänomen der Scham.
Antonius sieht in der Scham ein Instrument der seelischen Reinigung. Er hegt die
optimistische Erwartung, daß der Sünder, der es sich zur Regel macht, seine Seele
gegenüber seinem Mitbruder oder seinem Schreibheft zu entblößen, aus Furcht vor
Schande keine bösen Gedanken mehr denken wird. Nach Ansicht Augustins hat die
Furcht vor beschämender Entlarvung aber nicht zur Folge, daß die bösen Seelenre-
gungen verschwinden. Sie führt vielmehr dazu, daß der Sünder sie um so tiefer vor
sich selbst verbirgt. Wie die augustinische Analyse des Sündenfalls deutlich macht,
markiert die Scham, die der wegen seines Vergehens zur Rede gestellte Sünder vor
Gott empfindet, einen unbewußten Akt der Verdrängung. Die Scham ist also alles
andere als ein geeignetes Instrument der Selbsterkenntnis. Laut Augustinus gibt es
keine Gewähr dafür, daß die Gedanken, die der Asket aufschreibt, die Wahrheit
unverhüllt zum Vorschein bringt, daß sie nicht ihrerseits etwas Verborgenes ent-
halten - etwas, was der Schreiber vor sich selbst verbirgt. Um dieses Verborgene
aufzudecken und die perfide Täuschungsmacht der Sünde zu brechen, bedarf es
der hermeneutischen Mithilfe des anderen. Die Schrift kann den Blick des anderen

407 Vgl. M . Foucault: Lccriture de soi. S. 415£, S. 4 1 9 .


574 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

eben nicht ganz ersetzen. Vielmehr bedarf das, was der Selbsthermeneut notiert,
seinerseits der Interpretation. Es genügt nicht, die eigenen Gedanken und Gefühle
zu Papier zu bringen, man muß das Notierte auch mitteilen und anderen zur Deu-
tung vorlegen.
Das unterscheidet das Bekenntnis augustinischer Prägung vom Seelentagebuch
des Antonius. Als Protokollant seiner Seelenbewegungen unterhält sich Antonius nur
mit sich selbst - das Protokoll soll den anderen ja gerade überflüssig machen und die
Unabhängigkeit des Eremiten sicherstellen. Augustinus hingegen öffnet seinen Text,
indem er sich mit Gott und seinen menschlichen Lesern unterhält. Die Erkenntnisse,
die Antonius durch Introspektion und Selbstverschriftlichung gewinnt, haben festen
Bestand. Was der Tagebuchschreiber notiert, hat den Charakter eines gültigen Ur-
teils. Augustinus dagegen kennzeichnet die Einsichten, zu denen er aufgrund seiner
selbsthermeneutischen Tätigkeit gelangt, als vorläufig. Er reicht sie an Gott und seine
Leser zur Begutachtung weiter und schiebt somit das definitive Urteil auf. Antonius
eignet sich den Standpunkt des anderen an, während Augustinus der prinzipiellen
Unerreichbarkeit dieses Standpunkts Rechnung trägt.
Der Vergleich zwischen der augustinischen und der antoninischen Form des
Bekenntnisses bedarf jedoch noch einer Differenzierung. Augustinus revidiert die
Techniken der eremitischen Askese, versucht aber zugleich, etwas davon zu bewah-
ren. Es wäre verkehrt, einen unvereinbaren Gegensatz zwischen dem monologischen
Charakter des eremitischen Seelentagebuchs und der Dialogizität der Confessiones zu
konstruieren. Augustinus sucht ja gerade nicht das direkte Gespräch mit dem ande-
ren. Die persönliche Begegnung im Gespräch führt seiner Ansicht nach unweigerlich
dazu, daß der Sünder beschämt wird und sich vor sich selbst verbirgt. Aus diesem
Grunde lehnt Augustinus den Dialog als Instrument der Selbsterkenntnis ebenso ab
wie die solipsistische Einkehr des Eremiten. Die Unzulänglichkeiten der sokratischen
Mäeutik und der platonischen Dialogform werden bereits in seinem Frühwerk De
ordine exponiert. Daß das reine, sich der Außenwelt gegenüber völlig verschließende
Selbstgespräch keine Alternative zum Dialog darstellt, zeigt das Scheitern der Solilo-
quia. Der Sünder braucht die Hilfe des anderen, um Selbsterkenntnis zu erlangen,
aber die Anwesenheit des anderen veranlaßt ihn dazu, seine Schuld zu verdrängen.
Das schriftliche Bekenntnis verheißt einen Ausweg aus diesem Dilemma. Es eröffnet
dem Sünder die Möglichkeit, sich gegenüber den Mitmenschen zu entblößen und
dabei doch ihren beschämenden Blicken auszuweichen. Durch die Vermittlung der
Schrift kann der Sünder mit den anderen ins Gespräch treten, ohne sich ihrer un-
mittelbaren Präsenz aussetzen zu müssen. Im Gegensatz zu Antonius ist Augustinus
nicht der Auffassung, daß die Schrift den Blick des anderen zu ersetzen vermag.
Aber gerade weil die Schrift keinen vollwertigen Ersatz für den anderen darstellt, ist
sie als Instrument der Selbsterkenntnis geeignet. Die Schriftform des Bekenntnisses
funktioniert wie ein Filter: Einerseits hält sie den anderen auf Abstand, andererseits
gewährt sie ihm in mittelbarer, reduzierter Form Zutritt zum secretum, in das sich das
Bekenntnissubjekt zurückgezogen hat. Die durch die Schrift induzierte Mittelbarkeit
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 575

des anderen hat zur Folge, daß sich das Bekenntnissubjekt den Blick von außen
nie richtig aneignen, sondern immer nur im deutenden Vorgriff danach auslangen
kann. Gleichwohl stellt dieses Auslangen, dieser indirekte hermeneutische Dialog
mit dem anderen, die einzige Möglichkeit dar, der Täuschungsmacht der Sünde zu
entgehen.
Augustinus unternimmt also in den Confessiones den Versuch, einen Mittelweg
zwischen eremitischer Selbsteinkehr und dialogischer Selbstentäußerung zu beschrei-
ten. Die Schriftform erlaubt es ihm, seine Seele den anderen gegenüber zu öffnen
und dabei doch in einem abgeschlossenen secretum zu verbleiben. Augustinus siedelt
seine schriftliche Bekenntnisrede mithin in einem Schwellenbereich zwischen der
Einsamkeit des Eremiten und der christlichen Gemeinde, zwischen spiritueller Inner-
lichkeit und karitativer Verbundenheit an. Die Gartenlandschaft vor den Toren von
Trier, welche die Szenerie der Geschichte Ponticians bildet, und der Garten, der zu
Augustins Mailänder Haus gehört, versinnbildlichen diesen Schwellenbereich. Das
Kloster der kleinen Brüdergemeinschaft, auf das die Beamten bei ihrem Spaziergang
stoßen, liegt am Rande von Trier — es gehört nicht mehr ganz zur Stadt, aber auch
noch nicht ganz zur Einöde, in der sich die Eremiten verlieren. Die Bewohner des
Klosters sind keine Eremiten, sondern Zenobiten: Sie haben sich aus dem größeren
Kollektiv der Stadt zurückgezogen, bilden aber ihrerseits eine kleine Gemeinschaft.
Die Beamten werden ausgerechnet hier, in der Ubergangszone von einer spirituellen
Innen- zu einer sozialen Außenwelt, bekehrt, und zwar durch ein Buch, durch jenes
Medium also, das dem Individuum die Möglichkeit bietet, für sich allein zu bleiben
und doch mit den anderen in Verbindung zu treten.
Der Garten des Mailänder Hauses, in dem die Konversion Augustins stattfindet,
ist in ähnlicher Weise emblematisch: Der Garten repräsentiert ein secretum. Er er-
möglicht dem Hausbewohner den Rückzug in die Verborgenheit, stellt aber keinen
vollkommen abgeschlossenen Innenraum dar, sondern ist nach außen hin geöffnet,
so daß Außeres - eine Stimme aus dem Nachbarhause etwa - in ihn eindringen
kann. Der Garten hält den anderen auf Distanz (sein beschämender Blick vermag
nicht einzudringen), gewährt ihm aber in reduzierter Form Einlaß (als Stimme, die
der Deutung bedarf). Die halb geöffneten, halb geschlossenen Räume des Klosters
und des Gartens symbolisieren mithin den Raum der Schrift, in den sich das Be-
kenntnissubjekt zurückzieht, um sich im anderen verstehen zu können, ohne sich
ganz an ihn entäußern zu müssen.
Einen derartigen Rückzug unternimmt Augustinus im Anschluß an das Mai-
länder Konversionserlebnis. Im Kontrast zu seinem Vorbild Victorinus, dessen
Lebensgeschichte ihm durch die Vermittlung Simplicians vertraut ist, legt Augus-
tinus kein öffentliches Bekenntnis ab. Während Victorinus seinen Ubertritt zum
christlichen Glauben vor der versammelten römischen Gemeinde kundgibt und
sein Rhetorenamt unter großem öffentlichem Aufsehen niederlegt, teilt Augustinus
seinen Entschluß zunächst nur dem engsten Freundeskreis, vor allem aber seiner
Mutter Monnica mit. Victorinus wird unter exzessiven Kundgebungen der Freude
576 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

in die römische Gemeinde aufgenommen. Im Falle Augustins ist es die intimere


Freude der Mutter, die den Neubekehrten in Empfang nimmt. 408 Augustinus übt als
Bekehrter seine Rhetorentätigkeit zunächst weiter aus. Später nutzt er dann einen
Vorwand (ein Brustleiden, das ihn am Sprechen hindert), um sich möglichst unauf-
fällig aus diesem Amt zurückzuziehen. 409 Weder die Mailänder Kirchengemeinde
noch die Kirchenoberen — der Bischof Ambrosius und sein Ratgeber Simplicianus
— werden über seine Konversion informiert. Statt dessen zieht sich der Neubekehrte
nach Cassiciacum auf das Landgut eines Freundes zurück, um dort in zenobitischer
Gemeinschaft mit einigen Gleichgesinnten zu leben, zu denen unter anderen seine
Mutter, sein Sohn Adeodatus und sein Freund Alypius gehören. Erst von Cassicia-
cum aus unterrichtet er Ambrosius brieflich über die Umwälzung, die in seinem
Leben eingetreten ist.410 Augustinus hat offenbar große Scheu davor, der Mailänder
Gemeinde unmittelbar gegenüberzutreten und vor aller Augen - insbesondere aber
unter dem väterlichen Blick des Ambrosius - sein Bekenntnis abzulegen. Er bevor-
zugt gegenüber der städtischen Gemeinde, die durch eine bischöfliche Vaterfigur
geführt wird, die kleine, familiäre, unter mütterlicher Aufsicht stehende Landkom-
mune. Während das öffentliche Bekenntnis des Victorinus die Rückkehr des verlo-
renen Sohnes in das Vaterhaus markiert, kehrt Augustinus nach seiner Konversion
in ein mütterliches Haus ein. Er schiebt die Heimkehr zum Vater auf. Der Aufschub
wird durch das Medium der Schrift ermöglicht. Indem sich Augustinus gegenüber
Ambrosius schriftlich zu seinem neuen Glauben bekennt, zögert er die unmittelbare
Konfrontation mit dem beschämenden Blick der Vaterfigur hinaus, kommt aber
gleichwohl seiner Verpflichtung nach, Zeugnis für seine Gesinnung abzulegen. Die
Schrift erlaubt es ihm, in der Intimität des mütterlichen Hauses zu verbleiben und
doch eine (vorläufige) Rückkehr zum Vater zu unternehmen, eine persönliche, der
Mutter-Kind-Dyade nachempfundene Beziehung zu Gott zu unterhalten und die
Öffentlichkeit doch daran zu beteiligen.
Der Brief, den Augustinus aus Cassiciacum an den Mailänder Bischof sendet,
präfiguriert mithin das Schriftwerk der Confessiones. Das schriftliche Bekenntnis
schiebt die Begegnung mit der Vaterinstanz auf und greift ihr zugleich auch vor.
Während Antonius sich darum bemüht, die väterliche Kontrollinstanz des anderen
mit Hilfe der Schrift zu internalisieren und sich somit seiner Vergangenheit zu ent-
ledigen, versucht Augustinus, sich in der Ubergangszone zwischen einem mütterlich
kodierten Innenraum und einer väterlich kodierten Öffentlichkeit, zwischen Selbst
und anderem, zwischen sündhafter Vergangenheit und der Zukunft des Gerechtfer-
tigten einzurichten.

408
Vgl. Confessiones VIII. 12.30: »Inde ad matrem ingredimur, indicamus: gaudet. Narramus
quemadmodum gestum sit: exultat et triumphat et benedicebat tibi«.
405
Vgl. Ebd. IX.2.2, IX.2.4.
4,0
Ebd. IX.5.13.
Die Confess iones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 577

Verharren in der Mittelbarkeit der Schrift:


Die Psalmenlektüre von Cassiciacum

Für den Wunsch des Bekenntnissubjekts, sich in einem Zwischenbereich aufhalten


und die endgültige Rückkehr zum Vater aufschieben zu können, gibt es einen auf-
schlußreichen Beleg: Augustinus verliert in den Confessiones kaum ein Wort über
seine Taufe. Im neunten Buch erwähnt er eher beiläufig, daß er gemeinsam mit Aly-
pius in Mailand das Taufsakrament empfangen habe. 411 Der Autobiograph widmet
diesem Ereignis einen einzigen Satz, wohingegen er mit größter Ausführlichkeit da-
rüber berichtet, wie er vor seiner Rückkehr nach Mailand in der ländlichen Zurück-
gezogenheit von Cassiciacum die Psalmen Davids (»psalmos David«) studierte. 412
Die Taufe wird in der autobiographischen Darstellung durch das Lektüreerlebnis
beiseite gedrängt.
Dieses offensichtliche Ungleichgewicht ist um so erstaunlicher, als das Tauf-
sakrament in der Theologie und in der Glaubenspraxis des frühen Christentums
eigentlich eine herausragende Rolle spielt.413 Durch die Taufe wird das Individuum
in die christliche Gemeinschaft aufgenommen. Sie findet daher im Rahmen einer
feierlichen, öffentlichen Veranstaltung statt, an der die ganze Gemeinde beteiligt
ist. Die Taufe tilgt alle Sünden des Neubekehrten. Nach der Taufe hat der Christ
nur noch einmal in seinem Leben die Gelegenheit, die Vergebung der Sünden zu
erlangen.414 Als Getaufter muß er sich also unter allen Umständen darum bemühen,
ein sündenfreies Leben zu führen. Aus theologischer Sicht ist dies jedoch keine
unlösbare Aufgabe, denn das Taufsakrament bewirkt eine innere Verwandlung

411 Ebd. IX.6.14: »et baptizati sumus et fugit a nobis sollicitudo vitaepraeteritae.« — Dieter Hattrup
(Confessiones 9: Die Mystik von Cassiciacum und Ostia. In: Die Confessiones des Augustinus
von Hippo. Einführung und Interpretationen zu den dreizehn Büchern. S. 389—443, hier:
S. 411, S. 413) weist zwar auf die nur »flüchtig erwähnte Taufe« hin, von der »auffallend
unauffällig« berichtet werde, mißt dieser Zurückhaltung aber keine besondere Bedeutung bei,
sondern erklärt sie (wenig überzeugend) durch die »Arkandisziplin«, die Augustinus »aus Scheu
und vielleicht auch aus Gehorsam zur Praxis der Kirche hier zu einer lapidaren Kürze führt«.
K. Flasch und B. Mojsisch kommentieren Confessiones IX.6.14 folgendermaßen: »Augustin
berichtet von der Taufe selbst nichts. Die Knappheit ist ebenso auffallend, wie daß er in den
Bekenntnissen nichts über seine Priester- und Bischofsweihe erzählt. Offenbar wertete er nicht
so sakramentalistisch wie der nachtridentinische Katholizismus.« (K. Flasch / B. Mojsisch:
Anmerkungen. In: Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. S. 428.) Das Ubergehen der Taufe und
der Bischofsweihe ist nicht bloß ein Indiz für Augustins Geringschätzung des Sakramentalen,
sie ist vielmehr, wie im folgenden gezeigt werden soll, Teil einer narrativen Strategie.
412 Confessiones IX.4.8. — Der Bericht über die Psalmenlektüre erstreckt sich von IX.4.8. bis
IX.4.12.
413 Vgl. zum folgenden Georg Kretschmar: Die Geschichte des Taufgottesdienstes in der alten
Kirche. In: Leiturgia. Handbuch des evangelischen Gottesdienstes. Hg. von Karl Ferdinand
Müller und Walter Blankenburg. Bd. 5. Kassel 1970. S. 1-348; Gerhard Barth: Die Taufe in
frühchristlicher Zeit. Neukirchen-Vluyn 1981.
4,4 Nämlich im Rahmen der exhomologesis. Vgl. dazu Oscar D. Watkins: A History of Penance.
New York 1961. Vol. 1. S. 405-444; Jeremy Tambling: Confession. Sin, Sexuality, and the
Subject. Manchester and New York 1990. S. 30.
578 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

des Menschen: D e r Christ erlangt dadurch, wie insbesondere Ambrosius in seinen


M a i l ä n d e r Predigten h e r v o r h e b t , die Teilhabe a m reinen Fleisch Christi. In der
Taufe wird das geschwächte Fleisch des gefallenen M e n s c h e n d u r c h Christus z u m
Besseren erneuert. 4 1 5
Die Taufe markiert folglich einen bedeutenden Einschnitt im Leben des Christen
— erst sie m a c h t aus ihm einen n e u e n Menschen. Sie bildet das eigentliche Ziel u n d
d e n H ö h e p u n k t des Konversionsgeschehens. D a v o n ist in den Confessiones freilich
k a u m etwas zu merken. Die Taufe wird v o m A u t o b i o g r a p h e n weder als lebensge-
schichtlicher E i n s c h n i t t n o c h als S c h l u ß p u n k t der B e k e h r u n g präsentiert. Statt
dessen richtet er seine A u f m e r k s a m k e i t auf ein Ereignis, d e m ein T h e o l o g e v o m
Schlage des Ambrosius sehr viel weniger B e d e u t u n g zumessen würde: auf seine erste
Begegnung m i t d e m biblischen Text der Psalmen, die der Taufe des Protagonisten
u n m i t t e l b a r vorangeht.
Augustinus schildert seine Lektüre des Psalters als ein erschütterndes Erlebnis.
D e r Text w ü h l t i h n auf; er r u f t in i h m heftige G e f ü h l e hervor. Insbesondere der
vierte Psalm hat es d e m N e u b e k e h r t e n angetan. Er liest diesen Text als ein Bekenntnis
Davids, als eine E n t b l ö ß u n g seiner Seelenpein. D a d u r c h , d a ß der Psalmist seinem
Leser in Liebe e n t g e g e n k o m m t u n d i h m Einblick in sein Inneres gewährt, lädt er
ihn dazu ein, den Text auf sich selbst zu applizieren. W i e in der Konversionsszene
raubt sich Augustinus als Psalmenleser einen spezifischen Textsinn - er betrachtet das
Bekenntnis Davids als Darstellung u n d E n t h ü l l u n g seines eigenen Seelenzustands.
Dieser Z u s t a n d ist durch eine eigentümliche S p a n n u n g gekennzeichnet: »Inhorrui
t i m e n d o ibidemque inferui sperando et exultando in t u a misericordia, pater.« 416 D e r
Psalmenleser e m p f i n d e t einerseits F u r c h t u n d Z o r n , andererseits H o f f n u n g u n d
Freude - Furcht u n d Z o r n , w e n n er sich an seine s ü n d h a f t e Vergangenheit erinnert,
die schwer auf seiner Seele lastet, 417 H o f f n u n g u n d Freude, w e n n er an die Aussicht
auf E r n e u e r u n g d e n k t , die i h m das Konversionserlebnis eröffnet hat. Augustinus
blickt auf sein altes Selbst zurück u n d schaut zugleich auf sein neues Selbst voraus.
D e r vierte Psalm m a c h t i h m b e w u ß t , d a ß er sich in einer Schwellensituation befin-
det. Er ist nicht m e h r der alte Sünder, aber auch noch nicht der neue Mensch. Die
Z u k u n f t hat bereits begonnen, aber er hat seine Vergangenheit noch nicht ganz ab-
gelegt. Es ist bezeichnend, daß der Autobiograph diese Schwellensituation in seiner
Darstellung so stark akzentuiert, w ä h r e n d er d e m Überschreiten der Schwelle - d e m
E m p f a n g des Taufsakraments - k a u m Beachtung schenkt. Anstatt seine narratio in
einer Schilderung der Taufe kulminieren zu lassen u n d ihr somit einen definitiven
A b s c h l u ß zu verleihen, verwendet er seine ganze Akribie darauf, die ambivalente
Befindlichkeit des bereits Bekehrten, aber noch nicht G e t a u f t e n zu analysieren. Der

415
Vgl. P. Brown: Die Keuschheit der Engel. S. 356f.
416
Confessiones IX.4.9. (»Voller Furcht erschrak ich, Vater; zugleich erwärmte ich mich in
H o f f n u n g und jubelte über deine Barmherzigkeit.«).
417
Vgl. etwa ebd.: »Et insonui multa graviter ac fortiter in dolore recordationis meae.«
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 579

Autobiograph enthält d e m Leser der Confessiones einen klar markierten S c h l u ß vor;


er weigert sich, den verlorenen S o h n endgültig z u m Vater heimkehren zu lassen. Das
offene E n d e b e r u h t z u m einen auf einem wirkungsästhetischen Kalkül: A u g u s t i n u s
geht es - wie d e n Geschichtenerzählern, die an seiner Konversion beteiligt waren
- d a r u m , d u r c h eine Strategie des Aufschubs die Teilnahme seiner Leser zu erregen. 418
Z u m anderen signalisiert der A u t o b i o g r a p h auf diese Weise, d a ß auch er in e i n e m
Zwischenbereich zu H a u s e ist: A u c h der Erzähler hat die Schwelle noch n i c h t über-
schritten, spricht also gerade nicht von einer jenseitigen Position aus.
Die Psalmenlektüre h a t somit das Ansehen eines paradigmatischen Szenarios, das
Augustins spezifische Konzeption des Bekenntnisses veranschaulicht. Es verweist so-
wohl auf das hermeneutische Verfahren, das der A u t o b i o g r a p h in der narratio seiner
Lebensgeschichte anwendet, als auch auf den konfessorischen Aspekt der Exegese,
die er in den letzten drei Büchern der Confessiones betreibt. Die Psalmenlektüre v o n
Cassiciacum bildet die Gelenkstelle zwischen den narrativen u n d den exegetischen
Partien des Bekenntniswerks. Sie soll d a h e r abschließend einer näheren B e t r a c h t u n g
unterzogen werden.
Die Lektüre des Psalters, die der N e u b e k e h r t e in seinem ländlichen R e f u g i u m
in Angriff n i m m t , weist eine auffällige Besonderheit auf. Z w a r liest A u g u s t i n u s die
Psalmen für sich allein, d o c h stellt er sich dabei vor, d a ß seine ehemaligen G l a u -
bensgenossen, die Manichäer, ihn bei der Lektüre beobachten. Die M a n i c h ä e r sollen
miterleben, welche tiefgreifende W i r k u n g der Psalmentext auf d e n N e u b e k e h r t e n
ausübt:
Vellern, ut alicubi iuxta essent tunc et me nesciente, quod ibi essent, intuerentur faciem meam
et audirent voces meas, quando legi quartum psalmum in illo tunc otio, quid de me fecerit ille
psalmus [...]: audirent ignorante me, utrum audirent, ne me propter se ilia dicere putarent,
quae inter haec verba dixerim, quia et re vera nec ea dicerem nec sic ea dicerem, si me ab eis
audiri viderique sentirem, nec, si dicerem, sie aeeiperent, quomodo mecum et mihi coram te
de familiari affectu animi mei. 4 "

Augustinus wünscht, d a ß die M a n i c h ä e r bei seiner Psalmenlektüre zugegen wären.


Er will ihnen Einlaß in das secretum seiner Studierstube gewähren u n d sie an der
vertraulichen U n t e r h a l t u n g teilhaben lassen, die er auf Veranlassung des Schrift-
textes mit G o t t f ü h r t . Z u dieser Wunschvorstellung gehört aber auch, d a ß er selbst
als Leser nichts von der Anwesenheit der Manichäer weiß. Sie sollen i h n heimlich

418
Vgl. Kapitel IX.6 dieser Untersuchung.
4
" Confessiones IX.4.8. (»Ich wünschte, sie hätten irgendwo in der Nähe gestanden und hätten,
ohne daß ich es gewußt hätte, mein Gesicht sehen und meine Stimme hören können, als ich
damals in Muße den vierten Psalm las, und wären Zeugen gewesen, was mir da geschah bei
diesem Psalm [...]. Sie sollten, ohne daß ich es wüßte, mir zuhören, damit sie nicht auf den
Gedanken kämen, ich sagte ihretwegen, was ich zwischen den Psalmversen dir sagte, denn in
Wirklichkeit würde ich es gar nicht sagen oder nicht so sagen, wenn ich fühlte, daß sie mir
zuhörten und mich sähen. Würde ich es gleichwohl sagen, so nähmen sie es nicht auf, wie
ich es still zu mir sage — vor dir in der vertrauten Stimmung meines Geistes.« [Übersetzung
modifiziert]).
580 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

belauschen. Wenn er nämlich etwas davon wüßte, dann wäre er befangen — aus
Scham würde er seine Seele ihnen gegenüber verschließen. Die Manichäer müßten
in diesem Falle den Eindruck gewinnen, daß der Interpret der Psalmen nicht seine
persönliche Betroffenheit zum Ausdruck brächte, sondern nur um des Publikums
willen redete - daß er ihnen eine Predigt hielte. Sie würden sich direkt angesprochen
fühlen, was zur Folge hätte, daß auch sie sich schämen müßten. Augustinus will den
Abwehrmechanismus der Scham unterlaufen, indem er die Manichäer zu Voyeuren
und Lauschern macht.
Die Manichäer sind während der Psalmenlektüre nicht wirklich anwesend. Sie
sind aber auch nicht ganz abwesend: Augustinus denkt beim Lesen an sie, sie sind
also doch in gewisser Weise ein Teil des Lektüreszenarios. Der Leser stellt sich vor,
er würde von den Manichäern belauscht und wüßte nichts von diesen Lauschern.
Die Präsenz der Manichäer ist imaginär; nichtsdestoweniger beeinflußt sie die Art
und Weise, wie der Neubekehrte den Psalmentext aufnimmt. Augustinus richtet
sein Lesen auf diese imaginären Lauscher hin aus. Der Leser führt nicht nur ein
indirektes, vermitteltes Gespräch mit Gott, 420 sondern er unterhält sich auf ebenso
indirekte Weise auch mit den Menschen. Von daher erklärt sich der extrovertierte
Charakter seiner Lektüre: Obwohl er allein ist, liest er den Text mit lauter Stimme
(»exclamabam legens haec foris et agnoscens intus«); immer wieder unterbricht er die
Rezitation, um zwischen den gelesenen Worten (»inter haec verba«) seine Gedanken
und Gefühle zum Ausdruck zu bringen; dabei macht er auch von den Mitteln der
Körpersprache Gebrauch (»haec omnia exibant per oculos et vocem meam«).421 Au-
gustinus inszeniert seine Lektüre vor imaginären Zuschauern. Es hat den Anschein,
als wollte er jemandem zeigen, wie der Text auf ihn wirkt, wie er ihn im Innersten
trifft, und als trage eben dieses Zeigen zur Wirkung des Textes bei. Während die un-
mittelbare Präsenz der Manichäer den Leser beschämen und seine Gefühle ersticken
würde, befeuert und erregt ihn die imaginäre Anwesenheit der Lauscher. Nur deshalb
entfalten die Psalmen eine derart intensive Wirkung auf Augustinus, weil er sich
bereits während des Lesens vorstellt, wie er diese Wirkung an andere weiterreicht.
Er versteht den Text dadurch, daß er das Verstehen anderer fingiert, denen er sein
Verständnis mitteilt. Der Leser eignet sich das Bekenntnis Davids an (er liest den
vierten Psalm als Entzifferung seines eigenen Seelenzustands), aber dieser hermeneu-
tische Raub kann nur deshalb gelingen, weil er sich des Angeeigneten sogleich wieder
entäußert und die Lektüre ihrerseits zum Gegenstand eines Bekenntnisses macht.
Augustinus appropriiert den Textsinn, indem er ihn weitergibt.
Das Weiterreichen ist freilich in dem Moment, da Augustinus die Psalmen liest,
eine bloße Fiktion. Es erfolgt im Vorgriff auf die Niederschrift und Publikation der

420
Der Psalmenleser konferiert nicht direkt mit Gott, vielmehr unterhält er sich vor Gott mit
sich selbst — »mecum et mihi coram te« (ebd. IX.4.8). Gott ist also genauso in der Position
des Lauschers wie die Manichäer.
421
Ebd. IX.4.8-10.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 581

Confessiones, die den eigentlichen Akt der Weitergabe markiert. Auch hier ist es also
letztlich die Schrift, die das für das Lesersubjekt konstitutive Zugleich von Antizi-
pation und Aufschub ermöglicht. Die Schrift erlaubt es Augustinus, den Innenraum
seiner Seele gegen Störungen abzudichten und den Mitmenschen dennoch Einlaß zu
gewähren. Mit ihrer Hilfe kann er sich während der intimen Tätigkeit der Lektüre
beobachten lassen, ohne Scham zu empfinden.

B u c h XI—XIII: D i e n e u e F o r m des L e k t ü r e b e k e n n t n i s s e s

Das Szenario der Psalmenlektüre inauguriert einen neuen Typus von Bekenntnis. Der
Autobiograph präsentiert die Psalmenlektüre von Cassiciacum als Beispiel für ein
Lektürebekenntnis. Augustinus macht sein Leseverhalten zu einem Gegenstand der
confessio. Er gewährt seinen Mitmenschen Einblick in seine private Schriftmeditation
und läßt sie auf indirekte Weise teilhaben an seinen D e u t u n g s b e m ü h u n g e n , an den
Gedanken, die ihm während der Lektüre in den Sinn k o m m e n , an den Gefühlen,
die der Text bei ihm auslöst. Die Psalmenlektüre weist somit auf den letzten Teil der
Confessiones voraus, wo Augustinus sein innovatives Bekenntniskonzept systematisch
umsetzt. Der Autobiograph tritt dort als Exeget der Schöpfungsgeschichte auf. Doch
er konfrontiert seine Leser nicht einfach mit einer fertigen Auslegung. Vielmehr
führt er ihnen seine unvollendete Deutungsarbeit in actu vor. Er verwandelt seine
Lektüre somit in ein Bekenntnis.
Das Lektürebekenntnis Augustins steht in einem scharfen Kontrast zur Schriftme-
ditation seines Lehrers, des Bischofs Ambrosius, die im sechsten Buch der Confessiones
geschildert wird. 422 Ambrosius ist ein stummer Leser. Er schließt seine Mitbrüder von
seiner meditativen Arbeit aus. Sie erfahren nichts davon, was während der Lektüre in
der Seele des Bischofs vorgeht u n d wie er zu seinen Einsichten in den verborgenen
Textsinn gelangt. Ambrosius setzt sie lediglich über die Resultate seiner Interpretati-
onsbemühungen in Kenntnis, u n d zwar in Form von ausgefeilten Exegesen, die er in
seinen Predigten zum besten gibt. Der Bischof trennt also strikt zwischen der medi-
tatio und derpraedicatio, zwischen dem inneren Erkenntnisvorgang und der äußeren
Verkündigung. Augustinus hingegen verkündigt, was in ihm vorgeht. 423 Er teilt seine

422
Vgl. Kapitel IX.5 dieser Untersuchung.
42
·' Das gilt offenbar auch für seine Praxis als Prediger. Es gibt eine Reihe von Zeugnissen (z.B.
Sermo 254, ep. 106), aus denen hervorgeht, daß Augustinus in den von ihm geleiteten
Gottesdiensten nicht strikt zwischen lectio und praedicatio trennte. Der Übergang von der
Schriftlesung zur Auslegung in der Predigt war bei ihm ein fließender. Augustinus hat seine
Predigten zumeist nicht im vorhinein konzipiert, sondern aus dem Stegreif gehalten. Es war
dann die Aufgabe von Stenographen, das Extemporierte zu protokollieren. Auf diese Weise
ließ Augustinus die Besucher des Gottesdienstes an seiner Lektüretätigkeit und am Prozeß der
Verfertigung seiner Deutung teilhaben. Vgl. dazu Jürgen Scheele: Buch und Bibliothek bei
Augustinus. In: Bibliothek und Wissenschaft 12 (1978). S. 14-144, hier: S. 2 9 - 3 8 ; Michel
Banniard: Viva voce. Communication ecrite et communication orale d u IVe au IXe siecle en
Occident latin. Paris 1992. S. 9 4 - 9 7 .
582 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Deutung mit, noch ehe er zu definitiven Ergebnissen gelangt ist. In der Mitteilung
des Unvollendeten sieht er die einzige Möglichkeit, überhaupt Resultate zu erzielen.
Augustinus verfertigt seine Deutung, indem er sie mitteilt und bekennt.
Im Proömium zum elften Buch der Confessiones erläutert Augustinus, warum er
die narratio seiner Lebensgeschichte unvermittelt abbricht und nicht bis zur Dar-
stellung der Übernahme seines Bischofsamtes fortführt. Zum einen, so argumentiert
er, weiß er nicht, wie er der Fülle der göttlichen Gnadenerweise, die ihm nach seiner
Konversion zuteil wurden, in seiner Erzählung gerecht werden soll, zum anderen ist
ihm die Zeit zu kostbar, um sie an die Darstellung seiner individuellen Lebensum-
stände zu verschwenden: »caro mihi valent stillae temporum.« 424 Augustinus will
die wertvolle Zeit lieber dafür nutzen, um über das göttliche Gesetz zu meditieren
(»meditari in lege tua«). 425 Die Schriftmeditation soll an die Stelle der narratio treten.
Es hat mithin den Anschein, als erfolge an dieser Stelle ein Bruch hinsichtlich des
Darstellungsgegenstandes und der Darstellungsform der Confessiones. Im Zentrum
der Aufmerksamkeit steht nicht mehr das persönliche Geschick des Autobiographen,
sondern das Wort Gottes. Das Partikulare und Idiosynkratische verflüchtigt sich, um
der universalen Wahrheit der Schrift Platz zu machen. Augustinus spricht nicht mehr
als Individuum, das die Beschränktheit und Fehlbarkeit seiner Ansichten eingesteht,
sondern als Bischof - als Amtsträger und Sachwalter des göttlichen Gesetzes also,
der mit der besonderen Befugnis und Befähigung ausgestattet ist, dieses Gesetz in
für alle verbindlicher Form auszulegen.
So oder so ähnlich wird der Ubergang vom narrativen zum exegetischen Teil der
Confessiones jedenfalls in der neueren Forschungsliteratur beurteilt. Eugene Vance
etwa spricht von »[Augustine's] decision to scuttle the discourse of self in favor of
the discourse of the Other.« 426 Reinhart Herzog behauptet, daß die von Augustinus
in Buch XI bis XIII unternommene Schriftmeditation an die »Aufhebung der eige-
nen (providentiell individuellen) Person« gekoppelt sei.427 Geoffrey Galt Harpham
bezeichnet den letzten, exegetischen Teil der Confessiones als »the most perfectly
>converted< mode of writing, [...] a way of writing with no reference to the self«.428 Sie
alle sind sich darin einig, daß Augustinus nach dem Abbruch der narratio nicht mehr
als Selbst, sondern als anderer oder als Sprachrohr des anderen in Erscheinung tritt.
Die letzten Bücher der Confessiones sind demnach als die praedicatio eines Bischofs,
nicht aber als das Bekenntnis eines Sünders anzusehen.
Tatsächlich distanziert sich Augustinus jedoch im Proömium des elften Buches
ausdrücklich von dem Vorhaben, sich als Exeget der Autorität des bischöflichen Am-
tes zu bedienen und somit die Position des anderen einzunehmen. Er weigert sich zu

424 Confessiones XI.2.2.


425 Ebd.
426 E. Vance: Augustine's Confessions and the Grammar of Selfhood. S. 13.
427 R. Herzog: Non in sua voce. S. 239.
428 G. G. Harpham: T h e Ascetic Imperative in Culture and Criticism. S. 121.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 583

erzählen, wie er Bischof wurde; er lehnt es aber ebenso ab, die Mysterien der Schöp-
fungsgeschichte aus bischöflicher, kirchlich-dogmatischer Sicht zu explizieren. Au-
gustinus beendet die narratio aus einem scheinbar banalen Grund: Ihm fehlt die Zeit.
Die Zeit ist knapp, weil die bischöflichen Pflichten ihn so sehr in Anspruch nehmen.
Zu diesen Pflichten gehört der seelsorgerische Dienst an den Mitchristen (»servitu[s],
quam debemus hominibus«), die auf die Ausarbeitung der Glaubenswahrheiten
gerichtete geistige Anstrengung (»intentio[] animi«) sowie die Verkündigung und
Auslegung des Schriftworts (»praedicare verbum«).429 Augustinus kann der Fertigstel-
lung der Confessiones nicht mehr als die wenige Zeit widmen, die ihm die Erfüllung
dieser Pflichten übrig läßt. Die Schriftmeditation, mit der er das Bekenntniswerk
beschließt, ist mithin ein Werk der Muße. Die Auslegung der Schöpfungsgeschichte,
welche die letzten drei Bücher füllt, dient seinem privaten Vergnügen; sie gehört nicht
zur >offiziellen< praedicatio und intentio animi des Bischofs. Auch Ambrosius unter-
nimmt seine stumme Schriftmeditation ja zum Zwecke der geistigen Erholung.430
Doch was Ambrosius schweigend in seinem Inneren verschließt, will Augustinus mit
seinen Brüdern teilen. Er erweist ihnen auf diese Weise einen zusätzlichen, über die
Erfüllung seiner Amtspflichten hinausgehenden Liebesdienst - »[servitus,] quam non
debemus et tarnen reddimus.«431 Im Unterschied zum Mailänder Bischof gewährt er
den Mitbrüdern Einblick in seine private Meditationstätigkeit.
Er äußert sich im exegetischen Teil der Confessiones also gerade nicht als Bischof,
sondern als Privatmann. Dem entspricht der unsystematische, experimentelle, bis-
weilen sprunghafte Charakter der darin vorgetragenen Interpretationen.432 Augusti-
nus erhebt dabei nicht den Anspruch, die Wahrheit der Schrift in verbindlicher Form
zur Geltung zu bringen. Vielmehr beschränkt er sich darauf, partielle Ansichten die-
ser Wahrheit zu präsentieren. Daher macht er seine Exegese zum Gegenstand einer
demütigen confessio.m Er deutet nicht, sondern er bekennt seine Deutung, wodurch

425 Confessiones XI.2.2.


4,0 Vgl. Ebd. VI.3.3.
4 " Ebd. XI.2.2.
432 So ist etwa das gesamte Buch X I der Literalexegese eines einzigen Schriftverses (Gen. 1.1)
gewidmet, die zudem durch eine lange spekulative Abschweifung - die Reflexion auf das
Wesen der Zeit - unterbrochen wird. Steht Buch X I mithin im Zeichen der >Dehnung<, so
ist Buch XIII dem Prinzip der >Raflfung< verpflichtet: Gen. 1 . 1 - 2 . 3 werden auf relativ engem
Raum typologisch und allegorisch interpretiert. Augustinus versucht dabei aufzuzeigen, daß
der Schöpfungsbericht in sinnbildlicher Verkürzung die gesamte Heilsgeschichte in sich
enthält. Buch XII führt Heterogenes zusammen: eine Fortsetzung der Literalexegese von
Buch XI, aber auch eine Erörterung der Prinzipien der Schriftauslegung, wobei Augustinus
dafür plädiert, die gleichberechtigte Koexistenz unterschiedlicher Deutungen desselben Textes
anzuerkennen. Man muß also den Eindruck gewinnen, daß Augustinus im exegetischen Teil
der Confessiones mit verschiedenen Deutungsmethoden experimentiert, ohne sich verbindlich
auf eine bestimmte festzulegen, ja daß er bemüht ist, die Vielfalt der Deutungen und Deu-
tungstechniken theoretisch zu rechtfertigen.
433 Vgl. Confessiones XI.2.2: »Et olim inardesco meditari in lege tua et in ea tibi confiteri scien-
tiam et inperitiam meam, primordia inluminationis tuae et reliquias tenebrarum mearum,
quousque devoretur a fortitudine infirmitas.«
584 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gtfallenen Willens

er den beschränkten, vorläufigen und fehlbaren Charakter seiner Schriftmeditation


exponiert.434 Im zwölften Buch geht Augustinus gar so weit, eine kleine Theorie des
Lektürebekenntnisses aufzustellen. Er vertritt dabei die Ansicht, daß ein und dieselbe
Schriftstelle unendlich viele unterschiedliche Deutungen erfahren kann, die alle wahr
sind, von denen aber keine für sich allein den Anspruch erheben darf, die Wahrheit
erschöpfend zu erklären.435 Die eine, umfassende Wahrheit entfaltet sich demnach in
der Vielheit der Deutungen. Die unerschöpfliche Fruchtbarkeit der Schriftwahrheit
dient dem Zweck, die Liebe unter den Menschen zu befördern. 436 Keine einzelne
Deutung ist je vollständig, also müssen sich die verschiedenen Deutungen wech-
selseitig ergänzen. Dem Individuum erwächst daraus die Verpflichtung, seine Deu-
tungsarbeit mit den anderen zu teilen. Wer glaubt, mit seiner Deutung die Wahrheit
getroffen zu haben, erliegt einer hochmütigen Selbsttäuschung. 437 Es gilt vielmehr,
die jeweilige Deutung im Bewußtsein ihrer UnvoIIständigkeit und Partikularität zu
bekennen, um somit das Spektrum wahrer Interpretationen zu erweitern und die
sukzessive Entfaltung der in der Schrift verborgenen Wahrheit zu befördern.
Es trifft also keineswegs zu, daß das partikulare Selbst im exegetischen Teil
der Confessiones verschwindet und dem discourse of the Other Platz macht. Das
partikulare Selbst des Autobiographen macht sich vielmehr durch die offen zur
Schau gestellte Partikularität seiner Deutungen bemerkbar, für die es durch sein
Bekenntnis Abbitte leistet. Augustinus tritt nicht mit der väterlichen Autorität des
Bischofs auf, der seine intentio animi darauf richtet, harte dogmatische Wahrheiten
zu entwickeln, oder der diese Wahrheiten für die offizielle praedicatio zubereitet,
sondern er präsentiert sich als privater Leser, als Gleicher unter Gleichen, der mit
seinen beschränkten, unsicher umhertastenden Deutungen am Kollektivwerk der
exegetischen Wahrheitssuche mitwirkt. Im Gegensatz zu Ambrosius, der nur die
Resultate seiner Meditationstätigkeit publik macht, öffnet Augustinus sein secretum
und führt seinen Mitbrüdern somit den Vollzug seiner Deutungsarbeit vor Augen.
Er läßt sie am Prozeß der Entzifferung teilhaben und trägt Interpretationen vor, die
als unvollständig gekennzeichnet sind.
Das Lektürebekenntnis markiert mithin den Verzicht auf definitives, totalisie-
rendes Verstehen. Dieser Verzicht verbindet die Schriftmeditation der Bücher XI

434
Den Bekenntnischarakter seiner Exegese macht Augustinus in den Büchern XI bis XIII immer
wieder deutlich. Vgl. etwa Confessiones XIII.24.36, wo Augustinus sich an einer Interpretation
von Gen. 1.28 versucht und sein unvollkommenes Schriftverständnis eingesteht: »Et si ego
non intellego, quid hoc eloquio significes, utantur eo melius meliores, id est intellegentiores,
quam ego sum, unicuique quantum sapere dedisti. Placeat autem et confessio mea coram
oculis tuis, qua tibi confiteor credere me, domine, non incassum te ita locutum, neque silebo,
quod mihi lectionis huius occasio suggerit.«
435
Zum folgenden vgl. Confessiones XII.23.32-XI.32.42. - Zu Augustins Theorie der vielstim-
migen und fruchtbaren Schriftwahrheit vgl. auch G. G. Harpham: T h e Ascetic Imperative
in Culture and Criticism. S. 132f.
436
Vgl. Confessiones XII.30.4l.
437
Ebd. XII.25.34.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 585

bis XIII mit der autobiographischen Selbsthermeneutik der Bücher I bis X. Auch
der Erzähler der Lebensgeschichte präsentiert eine unvollständige Lektüre; auch er
läßt die anderen an seiner Selbstdeutung teilhaben, noch ehe er zu einem Ergebnis
gelangt ist. Beide, der Erzähler und der Schriftexeget, u n t e r n e h m e n den Versuch,
ihre unfertigen Interpretationen durch Publikation zu komplettieren u n d sich in
ihren Lesern zu lesen. Das Lektürebekenntnis - das Offenlegen eines unvollendeten
hermeneutischen Prozesses - ist die Klammer, welche die beiden scheinbar so un-
gleichen Teile der Confessiones zusammenhält. Weder als autobiographischer Erzähler
noch als Exeget der Schrift hat Augustinus in seinem Bekenntniswerk die väterliche
Position souveräner Uberschau inne. Die endgültige Rückkehr zum Vater findet in
den Confessiones nicht statt: Der Erzähler übergeht die Taufe, die den Bekehrten mit
der Vaterfigur des Ambrosius vereint; er bricht die narmtio ab, bevor er über seine
Heimkehr in das afrikanische Vaterland berichten kann, w o er erst zum Priester,
später dann zum Bischof geweiht und somit selbst mit väterlicher Autorität ausge-
stattet wird. Der Autobiograph führt den Protagonisten seiner Erzählung bewußt
nicht bis an den Punkt, an dem er die Vaterstelle ü b e r n i m m t . Er scheut offenbar
davor zurück, die N ä h e zur Mutter ganz aufgeben. Augustinus will etwas von der
Intimität der Beziehung zwischen M u t t e r und Sohn in seine neue Vaterexistenz
hinüberretten. Die Psalmenlektüre, die im mütterlich kodierten secretum von Cas-
siciacum stattfindet, bringt diesen Wunsch zum Vorschein. Sie schiebt die A n k u n f t
des Bekehrten im väterlichen Haus des Bischofs auf. Die Exegese, die Augustinus
in den Bücher XI bis XIII betreibt, setzt dieses Lektüreszenario fort. Indem er seine
D e u t u n g der Schöpfungsgeschichte zum Gegenstand eines schriftlichen Bekennt-
nisses macht, vermag er in der Intimität des secretum zu verbleiben und dabei doch
seinen karitativen Verpflichtungen nachzukommen. Das Bekenntnissubjekt ist das
Kind, das seinen Durst an den Mutterbrüsten der Schrift löscht, 438 zugleich aber
auch der fürsorgliche Diener Gottes, der diese Genüsse nicht für sich behält, sondern
sie mit seinen Brüdern teilt. Als Bekenner seiner Lektüre tritt Augustinus in gewisser
Weise die Nachfolge der Mutter an. 439 Er k o m m t seinen Lesern in mütterlicher Liebe
entgegen, indem er ihnen - anders als der Mailänder Bischof - das secretum seiner
Seele aufschließt, doch er hält sie zugleich auf Distanz, denn er legt sein Lektüre-
bekenntnis in schriftlicher Form ab. Er weist ihnen somit den Standort zu, den die
Manichäer im Szenario der Psalmenlektüre innehaben: den Standort des Voyeurs
und des Lauschers, der sie dazu befähigen soll, ihre Scham zu überwinden u n d auf
dem Wege des hermeneutischen >Raubs< ein vorläufiges, nur durch bekenntnishafte
Entäußerung zu vervollständigendes Wissen über sich selbst zu erlangen.

438
Vgl. Ebd. XI.2.3: »Ecce vox tua gaudium meum, vox tua super auffluentium voluptatum.
[...] Confitear tibi quidquid invcnero in libris tuis et audiam vocem laudis et te bibam«.
4
" Vgl. M. Kilgour: From C o m m u n i o n to Cannibalism. S. 60: »His identity is achieved not by
replacing his father, but by replacing his mother«.
586 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

Coda: Die verhinderte Rückkehr zum Vater

Die Scheu, die der Autobiograph davor empfindet, die Verbindung mit der Mutter
endgültig zu durchtrennen, kennzeichnet auch den Schluß der narratio, wie er im
neunten Buch der Confessiones gestaltet wird. Augustinus beendet die Erzählung
seiner Lebensgeschichte mit dem Bericht über den Tod Monnicas und über die so-
genannte Vision von Ostia. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als besiegele
Monnicas Tod die Loslösung Augustins von der Mutter und somit auch die Uber-
windung seiner Partikularität. Reinhart Herzog weist mit seiner Deutung genau in
diese Richtung: »Buch 9 endet mit dem Tod jenes Teils seines Ich, das seit je ein Sym-
bol seiner Privatprovidenz gewesen war, mit dem Tod seiner Mutter Monica.«440
Herzog versäumt es jedoch, der Tatsache Rechnung zu tragen, daß dem Ableben
Monnicas eine Vereinigung zwischen Mutter und Sohn vorausgeht, die ein starkes
Gegengewicht zum Trennungsgeschehen bildet. In der Vision von Ostia wird näm-
lich beiden gemeinsam das Erlebnis der mystischen Gottesschau zuteil. Für einen
kurzen Moment erfahren sie die Herrlichkeit ihres Schöpfers, aber diese Schau
erlangen sie gerade nicht auf dem Wege der einsamen, inneren Einkehr. Sie erwächst
vielmehr aus einem Gespräch. Augustinus und Monnica unterhalten sich über die
Möglichkeit, die menschliche Seele zu Gott zu erheben, und während sie darüber
reden, vollziehen sie diesen Aufstieg. Außere Rede und inneres Tun gehen miteinan-
der konform. Noch im Verlauf ihrer Unterhaltung (»dum loquimur«) berühren sie
mit einem vollen Schlag ihres Herzens (»toto ictu cordis«) die ewige Weisheit, aber
sie berühren sie nur ein wenig (»attigimus earn modice«).441
Die Gottesschau ist hier also nicht, wie in der neoplatonisch geprägten Mystik,
an das Schweigen gekoppelt. Sie erfolgt vielmehr unter Zuhilfenahme der Sprache.
Während der neoplatonische Mystiker alle Verbindungen zu seinen Mitmenschen
kappen und die zeitlichen Vermittlungsformen der Sprache überwinden muß, um
Gott in der inneren Schau erfahren zu können, 442 wird Augustinus in Ostia durch
die Vermittlung seiner Mutter wie auch durch die Vermittlung der Sprache mit dem
Ewigen in Berührung gebracht. Die mütterliche Sprache, die dem Ausdruck inneren
Erlebens verpflichtet ist, geleitet den Sohn in eine direkte Nähe zum göttlichen Vater,
ohne ihn jedoch dem väterlichen Blick ungeschützt auszusetzen. Die Mutter >mode-
riert< das Gotteserlebnis - daher die Verwendung der taktilen Metaphorik anstelle
der platonischen Bildlichkeit des Sehens; daher auch das die unio paradoxerweise
kennzeichnende Zugleich von Fülle und Leere, von vollem Herzschlag und leichter
Berührung.
Das gemeinschaftliche Erlebnis der Ekstase steht mithin unter der Regie der
Mutter, doch der Sohn empfindet das Bedürfnis, das Geschehen nachträglich unter

440
R. Herzog: Non in sua voce. S. 232.
441
Confessiones IX. 10.24.
442
Vgl. A. Louth: The Origins of the Christian Mystical Tradition. S. 50.
Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik 587

seine Kontrolle zu bringen. Gleich im Anschluß an die mystische Erfahrung, so be-


richtet der Autobiograph, setzt Augustinus das Gespräch mit Monnica fort. Er will
sich Klarheit darüber verschaffen, was ihm da gerade widerfahren ist, u n d unterzieht
daher das ekstatische Erleben einer retrospektiven Analyse. Zunächst sieht es noch
so aus, als sei die Mutter an dieser Analyse beteiligt - »dicebamus ergo«, mit dieser
Formel wird der Bericht über den weiteren Verlauf des Gesprächs eingeleitet. 4 4 3
Doch dann macht der Autobiograph deutlich, daß der Sohn das H e f t fest in seine
H a n d genommen hat u n d die mystische Erfahrung aus seiner Sicht kommentiert:
»Dicebam talia«, so beschließt er seinen Bericht. 444
W i e lautet n u n die D e u t u n g des Geschehens, die der S o h n seiner M u t t e r
vorträgt? Augustinus interpretiert den gemeinsam mit Monnica u n t e r n o m m e n e n
mystischen Aufstieg als ein sukzessives Ersterben der Sprache, das in ein totales
Schweigen einmündet. Nicht nur die Zunge, auch die Seele der Kontemplierenden
m u ß verstummen (»ipsa sibi anima sileat«), denn nur wenn die gesamte S c h ö p f u n g
schweigt, ist G o t t selbst vernehmbar. 445 Diese D e u t u n g steht in einem eklatanten
Widerspruch zu der Schilderung, die der Erzähler der Autobiographie kurz zuvor
geliefert hat: Danach haben sich Mutter u n d Sohn dem Ewigen im Rahmen eines
vertraulichen Gesprächs angenähert. Im Gegensatz zum Erzähler bringt der Protago-
nist der Autobiographie in seiner Interpretation die Mittlerdienste der Sprache, aber
auch diejenigen der Mutter zum Verschwinden. Er bemächtigt sich des Ereignisses,
indem er es nachträglich d e m mütterlichen Einfluß e n t w i n d e t u n d der Sphäre
reiner, sprachloser Spiritualität zuschlägt. Wie bereits im Falle des frühkindlichen
Spracherwerbs unterwirft der Sohn die Vermittlungsleistung der Mutter somit einem
aktiven Vergessen.
Doch dadurch, daß der Erzähler der Autobiographie seine Lesart des Geschehens
mit der D e u t u n g des Sohns konfrontiert, macht er dieses Vergessen wieder rück-
gängig. Der Protagonist will die Bindung an die Mutter im Nachhinein lösen, u m
die Deutungshoheit über die Ereignisse wiederzugewinnen. Er will vergessen, was er
der Mutter schuldet, denn diese Schuld bedroht die vermeintliche Unabhängigkeit
seines Geistes. Der Erzähler hingegen bemüht sich darum, der Mutter und der durch
sie repräsentierten Sphäre sprachlicher Vermittlung die Treue zu halten. Er m a c h t
sichtbar, was der Protagonist verdrängt. Wie der Erzähler zu Beginn seiner Lebens-
geschichte die vergessenen Anfänge des infantilen Spracherwerbs in E r i n n e r u n g
ruft, so zeigt er am Schluß der narratio auf, daß selbst die mystische Vereinigung
mit Gott die Vermittlungsleistung einer mütterlich kodierten Sprache voraussetzt.
Auch dort, wo der Sohn dem Vater ganz nahe k o m m t , stellt sich die Mutter dazwi-
schen - als ein schützendes Element der Vermittlung, das die endgültige Rückkehr

443
Confessiones IX.10.25.
444
Ebd. IX.10.26.
445
Ebd. IX.10.25.
588 Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens

des Sohnes zum Vater ad infinitum aufschiebt. Der Autobiograph versucht, sich in
diesem Zwischenbereich, diesem unwägbaren Intervall zwischen Nicht-mehr und
Noch-nicht einzurichten. 446

446
Die Einrichtung eines solchen schriftgebundenen Interstitiums und die daran gekoppelte
Strategie des Aufschubs weisen auf die von Petrarca betriebene Asthetisierung der augusti-
nischen Selbsthermeneutik voraus. Siehe unten, Kapitel XI und XII dieser Untersuchung.
- D e n heterotopischen Charakter der ecriture de soi arbeitet Jörg D ü n n e in seiner Analyse
einer spezifisch literarischen Tradition »schwacher Subjektivität« heraus. D ü n n e führt ihn (im
Anschluß an Foucault) auf die antike askesis zurück, wohingegen ich darzulegen versuche,
daß es sich dabei u m ein dezidiert augustinisches Erbe handelt. Vgl. J. Dünne: Asketisches
Schreiben. S. 12—20 und passim.
Augustinus präsentiert seine Confessiones als Modell für eine neue christliche
Selbsthermeneutik, die an die Stelle der - vor allem im monastischen Milieu weiterhin
zur Anwendung gelangenden - Techniken der antiken Selbstsorge treten soll. Er weist
seinem Text explizit den Status eines Musters zu: Wie seine eigene Konversion und
der daran gekoppelte Akt der Selbsterkenntnis durch die Rezeption exemplarischer
Bekehrungsgeschichten befördert wurde, so sollen die Leser der Confessiones die Ge-
schichte Augustins als Spiegel ihrer sündhaften Existenz, als Anstoß zu introspektiver
Selbstanalyse und zur Umkehr nutzen. Erstaunlicherweise findet dieser Aufruf zur
imitatio jedoch nur wenig Resonanz. Obwohl die Confessiones im Mittelalter viel
gelesen werden, entfalten sie keine traditionsbildende Wirkung. Georg Misch zeigt
in seiner monumentalen Geschichte der Autobiographie auf, daß zwischen dem 6. und
11. Jahrhundert - entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil - zwar eine ganze Reihe
von Selbstdarstellungen entstehen, von denen einige den Begriff der confessio sogar im
Titel tragen.' Doch keiner dieser Texte kann als Imitation der augustinischen Confes-
siones angesehen werden. Das große Bekenntniswerk des Kirchenvaters, so lautet das
Fazit Mischs, wirkt in dieser Zeit kaum nach.2 Wenn mittelalterliche Autoren aus den
Confessiones zitieren, dann beziehen sie sich zumeist auf die exegetischen Bücher XI bis
XIII, nicht aber auf die narratio der Bekehrungsgeschichte und die damit verknüpfte
Selbstdeutung des Autobiographen.3 Dieser Befund wird von Pierre Courcelle in
seiner Studie zur Wirkungsgeschichte der Confessiones bestätigt. Er führt eine Vielzahl
von Autoren aus dem 6. bis 11. Jahrhundert an, die das Bekenntniswerk Augustins als
theologischen Traktat rezipieren, aber nur sehr wenige, die sich für die autobiographi-
schen und selbsthermeneutischen Aspekte des Textes interessieren.4
Erst im 12. und 13. Jahrhundert scheint sich dieses Bild zu wandeln. Im Zuge
der sogenannten »Renaissance des 12. Jahrhunderts< bildet sich eine neue Kultur
der Innerlichkeit heraus, die ihren Niederschlag in einer vermehrten Produktion

1 G. Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. II.2: Das Mittelalter. Erster Teil: Die Frühzeit.
Zweite Hälfte. Frankfurt a. M . 1955. S. 483f.
2 Ebd. S. 4 8 2 .
3 G. Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. I I I . l : Das Mittelalter. Zweiter Teil: Das
Hochmittelalter im Anfang. Erste Hälfte. Frankfurt a. M . 1959. S. 8f.
4 P. Courcelle: Les Confessions de Saint Augustin dans la tradition litteraire. Antecedents et
Posterite. Paris 1963. S. 2 3 5 - 3 0 5 .
592 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

autobiographischer Schriften findet.5 In diesen Texten macht sich erstmals auch der
Einfluß der Confessiones bemerkbar. 6 Freilich wird das augustinische Muster v o n
den Autobiographen des 12. Jahrhunderts auf recht oberflächliche Weise imitiert.
Die um 1115 verfaßte Lebensgeschichte De vita sua sive monodiarum libri tres des
französischen Abts Guibert de Nogent etwa enthält eine Reihe auffälliger Parallelen
zur Bekehrungsgeschichte des Kirchenvaters: 7 W i e im Falle Augustins spielt auch bei
Guibert die Mutter eine wichtige Rolle für die spirituelle Entwicklung des Sünders;
wie Augustinus durch Ambrosius in die Kunst der allegorischen Auslegung eingeführt
wird, so wird Guibert durch keinen geringeren als Anselm von Canterbury mit dem
vierfachen Schriftsinn vertraut gemacht. 8 Doch diese und viele andere Parallelen sind
äußerlich und wirken wie aufgesetzt. 9 Weder unterzieht Guibert sein Seelenleben
einer gründlichen Analyse, noch macht er sich die Prinzipien der karitativen Herme-
neutik zu eigen. Von der konzeptionellen Basis des augustinischen Bekenntnisses, der
Theologie der Erbsünde und der Gnade, ist bei ihm so gut wie nichts zu spüren.
Ähnliches gilt für die berühmte Historia calamitatum mearum des Petrus Abaelar-
dus (entstanden um 1 1 3 2 ) . Zwar entwickelt Abaelard in seiner Ethica eine innova-
tive, den Willensentschluß gegenüber der äußeren Tat aufwertende Konzeption der
Schuld, die der Subjektivierung der Sünde Vorschub leistet; zwar vertritt er eine
Auffassung der confessio, wonach die Vergebung der Sünden nicht bloß durch den
äußerlichen Akt der Buße gewährleistet wird, sondern das aufrichtige Gefühl der
Reue ( c o n t r i t i o ) voraussetzt. 10 Doch diese subjektive Ethik hat in seiner Selbstdar-

5 Zur iRenaissance des 12. Jahrhunderts< siehe Colin Morris: The Discovery of the Individual
1050—1200. London 1972 (die Entwicklung von Bekenntnis und Autobiographie schildert
das Kapitel »The Search for the Seif«, S. 64-95); des weiteren auch den höchst instruktiven
Sammelband: Renaissance and Renewal in the 12th Century. Edited by Robert L. Benson and
Giles Constable. Oxford 1982 (vgl. darin zur Problematik der Autobiographie den Beitrag
von John F. Benton: »Consciousness of Self and Perceptions of Individuality«, S. 263—295).
Zur Kritik an der einflußreichen Studie von Morris, insbesondere an seiner anachronistischen
Verwendung des Terminus individual, vgl. Caroline Walker Bynum: Did the Twelfth Century
Discover the Individual? In: Journal of Ecclesiastical History 31 (1980). S. 1-17. Zur Be-
kenntnisliteratur des 11. bis 13. Jahrhunderts siehe auch Michel Zink: La subjectivity litteraire.
Autour du siecle de saint Louis. Paris 1985. S. 173-264 (Studien zu den Bekenntnisschriften
von Guibert de Nogent, Philippe de Novare, Petrus Abaelardus und Raimundus Lullus).
6 G. Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. III. 1. S. 9.
7 Vgl. dazu ebd. S. 120f.; P. Courcelle: Les Confessions de Saint Augustin dans la tradition

litteraire. S. 274f.
8 Guibert de Nogent: De vita sua sive monodiarum libri tres. In: Venerabiiis Guiberti Abbatis

S. Mariae de Novigento Opera Omnia. Hg. von J.-P. Migne. Bd. 1. Paris 1880 (Patrologia
Latina. Bd. 156). S. 842f„ S. 848f. undS. 856-861 (Verhältnis zur Mutter), S. 874f. (Schrift-
exegese unter Anleitung Anselms).
' Courcelle spricht von »le caractere force de ces paralleles« (Les Confessions de Saint Augustin
dans la tradition litteraire. S. 276).
10 Zu Abaelards Konzeption von Sünde und Buße vgl. C. Morris: The Discovery of the Individual

1050-1200. S. 70-75; J. Ε Benton: Consciousness of Self and Perceptions of Individuality.


S. 271—274; A. J. Gurjewitsch: Das Individuum im europäischen Mittelalter. Aus dem Rus-
sischen übersetzt von Erhard Glier. München 1994. S. 161 f.
593

Stellung keine Spuren hinterlassen." Abaelard betreibt in der Historia calamitatum


mearum keine reumütige Analyse seiner Sünden. Im Rückgriff auf die antike Tra-
dition der consolatio stilisiert er seine Liebes- und Leidensgeschichte vielmehr zu
einem Exempel standhaften Erduldens und verknüpft sie mit einer Apologie seines
philosophischen Wirkens.
Auch in den Seelengeschichten der Mystiker und Mystikerinnen, die im 13. und
14. Jahrhundert zunehmend Verbreitung finden, sucht man vergebens nach Anzei-
chen für eine Intensivierung der hermeneutischen Selbstbeziehung. Die mystische
Vita ist, wie Georg Misch deutlich macht, der Darstellung des praktischen, >übenden<
Lebens gewidmet, während der kontemplative Aufstieg der Seele zu Gott in der un-
persönlichen Form der methodischen Anleitung oder des Traktats geschildert wird. 12
Erst im 16. Jahrhundert unternimmt die spanische Mystikerin Teresa von Avila in
ihrem Libro de su Vida (1562-65) den Versuch, die Innendimension kontemplativer
Gotteserfahrung mit der Darstellung ihres Lebens zu verknüpfen. Bezeichnenderweise
bezieht sie sich dabei explizit auf das augustinische Modell der Seelengeschichte. In
den mystischen Viten des 13. und 14. Jahrhunderts dagegen steht das äußere Leben
noch ganz im Vordergrund. In diesen Lebenserzählungen tritt ein strukturelles
Merkmal besonders deutlich hervor, das für die mittelalterliche Autobiographie ins-
gesamt kennzeichnend ist: Die Konversion bildet meist den Ausgangs- und nicht den
Schlußpunkt der narratio.n Im Zentrum der Lebensgeschichte steht nicht der lange
und gefahrvolle Weg, den der Sünder beschreiten muß, um zu Gott zu gelangen.
Berichtet wird vielmehr über die Visionen, die Gnadenerweise, die dämonischen
Versuchungen und temporären Rückfälle, die der bereits Bekehrte erlebt hat. Nicht
die Bekehrungsgeschichte der Confessiones, sondern die episodisch gefügte narratio
der Vita Antonii steht für diese Texte Modell. Das eigentliche narrative Muster, dem
die mittelalterliche Selbstdarstellung verpflichtet ist, ist die hagiographische Vita. 14
Der kursorische Uberblick über die autobiographische Literatur des 5. bis 12.
Jahrhunderts führt somit zu der befremdenden Feststellung, daß die Gründungs-
urkunde der literarischen Selbsthermeneutik, Augustins Confessiones, im Mittelalter
kaum ernsthaft rezipiert wurde. Das ist um so erstaunlicher, als die Bekennt-
nisschrift des Kirchenvaters einer Entwicklung vorzugreifen scheint, die für die
mittelalterlichen Bußpraktiken kennzeichnend ist: der Subjektivierung der Sünde
und der Privatisierung der Beichte. Jeremy Tambling beschreibt diese Entwicklung
folgendermaßen:

11 Zu diesem Ergebnis kommt E. Birge Vitz: Type et individu dans l'>autobiographie< medievale.
Etude d'Historia calamitatum. In: Poetique 6 (1975). S. 4 2 6 - 4 4 5 , hier: S. 442f.
12 G. Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. IV. 1: Das Hochmittelalter in der Vollendung.

Aus dem Nachlaß hg. von Leo Delfoss. Frankfurt a. M. 1967. S. 9 6 - 9 8 .


" Ebd. S. 95.
14 Zur starken hagiographischen Prägung der mittelalterlichen Selbstdarstellung vgl. G. Misch:

Geschichte der Autobiographie. Bd. 11.2. S. 307ff.; K. ). Weintraub: The Value of the Indi-
vidual. S. 53f.
594 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Instead of considering confession as a penance, medieval practice makes it nearer a sacrament,


befitting a newer emphasis on the inferiority, the non-contingent nature, of sin. [...] [T]he
history of confession to 1215 is of a gradual moving away from the public to the private, from
the single penance (perhaps performed at the death-bed) to regular shrift, and from the idea
of the adequacy of private contrition to the need to have the counsel of a priest. No uniform
pattern of confession is discernible, but the shift from penance to confession as a mark of
progress in devotion is manifest [...]. 15

Augustins Confessiones scheinen diesen Umschwung von der (äußerlichen) Buße zum
(innerlichen) Bekenntnis auf musterhafte Weise vorzuführen. Gleichwohl kommt
ihnen im Rahmen der mittelalterlichen Bußpraktiken keine Modellfunktion zu.
Diese Vernachlässigung des augustinischen Musters ist möglicherweise darauf zu-
rückzuführen, daß die Tendenz zur Internalisierung und Subjektivierung der Sünde
in den Confessiones eine Richtung einschlägt, die den kirchlichen Autoritäten nicht
behagt. Die mittelalterliche Bußtheologie betont zwar einerseits die Notwendigkeit
aufrichtiger Reue, sie macht aber andererseits klar, daß Reue nicht genügt, um die
Vergebung der Sünden zu erwirken. Die Absolution von den Sünden kann das In-
dividuum nur durch priesterlichen Beistand erlangen. Die contritio ist der subjektive
Beitrag, den der Sünder zum Bußgeschehen zu leisten hat. Die Schlüsselgewalt liegt
aber allein in den Händen der Seelsorger. Sie wird durch die Sakramentalisierung der
Buße in erheblichem Maße gestärkt. Dieselben Theologen, die im zwölften Jahrhun-
dert »a new emphasis on contrition« legen und den Sünder somit zur Introspektion
anleiten, heben auch »the power of the priest's absolution« hervor:
The language of the Theologians of the twelfth century [...] emphasised a Christianity appealing
to the inner emotions, stressed the authority of the priesthood as holding the >keys<, talked the
language of poena — that the sinner who had a contrite heart would want to confess, and in
the words of Richard [of St. Victor], that >true repentance is the detestation of sin with a vow
of amendment, of confession and satisfaction; it needs therefore the intervention of the priest
where one could be had< — a definition later accepted by the Council ofTrent. Peter Lombard,
[...] a pupil of Abelard and of Hugh of Saint Victor, [...] made confession a sacrament.16

Die introspektive Entzifferung sündhafter Regungen ist eine Tätigkeit, die der Sün-
der nur gemeinsam mit dem Beichtvater durchführen kann. Von einer Selbstherme-
neutik im strengen Sinne kann hier eigentlich keine Rede sein, denn die Deutungs-
hoheit liegt in der Hand eines anderen. Der Sünder durchleuchtet sich nicht selbst,
er wird durch den Priester durchleuchtet. Wie stark die hermeneutische Position
des Beichtvaters ist, wird durch das Genre der Bußbücher (Pönitentialien) bezeugt.
Während die frühen Pönitentialien nicht mehr bieten als ein Verzeichnis der Sünden
und der ihnen entsprechenden Bußen, stellen die Bußbücher des Hochmittelalters
eine Art hermeneutischer Gebrauchsanleitung dar. Sie geben dem Priester detaillierte
Beschreibungen und Klassifizierungen sündhaften Verhaltens an die Hand, mit
deren Hilfe er in das Innere seiner Beichtkinder eindringen und ihren Vergehen auf

15 J. Tambling: Confession: Sexualty, Sin, the Subject. Manchester and New York 1990. S. 35.
16 Ebd. S. 36f.
595

den Grund gehen kann.17 Die Bußtheologie des hohen Mittelalters leistet somit We-
sentliches zur Ausprägung jener Pastoralmacht, die Michel Foucault als wegweisend
für die Herrschaftstechniken des modernen Staats ansieht.
Doch wieso besitzt die subtile Sündenanalyse, die Augustinus in den Confessiones
durchführt, für die Bußpraktiken des hohen Mittelalters keine Vorbildfunktion? Of-
fenbar empfinden die pastoralen Autoritäten den augustinischen Bekenntnisdiskurs
als eine latente Bedrohung. Denn obgleich Augustinus den intersubjektiven Charakter
seiner Sündenanalyse betont und ihm sowohl durch seine karitative Hermeneutik
der Mit-Teilung als auch durch die dialogische Einfassung der Confessiones Rechnung
trägt, dient die bekenntnishafte Offenlegung des Inneren doch gerade auch dem
Zweck, das Urteil des anderen zu antizipieren und den hermeneutischen Dialog zu
verinnerlichen. Der Verfasser der Confessiones betätigt sich in einem emphatischen
Sinne als Selbsthermeneut. Im Vorgriff auf das Verdikt Gottes und seiner Mitchristen
ist er sein eigener Beichtvater. Er besitzt die - allerdings als vorläufig markierte - Deu-
tungshoheit über sein Innenleben. Mehr noch: Augustinus erzählt in den Confessiones
die Geschichte, wie er zu einem Hermeneuten seiner selbst geworden ist. Der Auto-
biograph zeigt auf, daß er die Fähigkeit zur hermeneutischen Selbstdurchdringung
nur erlangen konnte, weil die pastoralen Instanzen, die seinen spirituellen Werdegang
beaufsichtigten, relativ schwach ausgeprägt waren und von ihrer väterlichen Autorität
niemals nachhaltig Gebrauch machten. Man kann die Confessiones geradezu als ein
Plädoyer dafür lesen, diese pastoralen Instanzen ihrer väterlichen Autorität zu entklei-
den, genauer: sie nach dem Leitbild der mütterlichen Fürsorge umzukodieren.
Das augustinische Konzept der Selbsthermeneutik ist als Instrument der mit-
telalterlichen Pastoralmacht also denkbar ungeeignet. Es gewährt dem Selbst eben
jenen hermeneutischen Spielraum, der durch die exakte Kodifizierung der Sünden in
den Pönitentialien und durch die Stärkung der Position des Beichtvaters eliminiert
werden soll. Daher ist es nicht verwunderlich, daß die eigentliche Rezeption der
Confessiones erst am Ausgang des Mittelalters und in der Frühen Neuzeit einsetzt,
und zwar zu einem Zeitpunkt, da die Pastoralmacht zwar institutionell immer mehr
gefestigt wird, an ihren Rändern jedoch alternative Formen der Selbstkonstitution
auftauchen und an Einfluß gewinnen.18 Augustins Bekenntnisschrift erlangt erst in

17 Zum Genre der Bußbücher und zu seiner Entwicklung im Mittelalter vgl. Pierre H . Payer:
Sex and the Penitentials. T h e Development o f a Sexual Code, 550—1150. Toronto 1984. Zur
»Dynamisierung des christlichen Sexualitätsdiskurses durch die Pocnitcntialicn« vgl. auch
Sabine Maasen: Genealogie der Unmoral. ZurTherapeutisierung sexueller Selbste. Frankfurt
a. M . 1 9 9 8 . S. 2 3 9 - 2 6 3 (Zitat: S. 2 3 9 ) .
18 Bezeichnenderweise ist die Rezeption der augustinischen Spielart der Selbsthermeneutik überall
dort besonders stark, wo die kirchliche Pastoralmacht und ihre ideologischen Grundlagen
angegriffen werden: in den Kreisen der nominalistischen Philosophie, welche die aristotelische
Scholastik unter Rekurs auf augustinische Theologeme einer zersetzenden Kritik unterzieht,
in der weiblichen Mystik (Teresa von Avila), bei den Theologen der Reformation, später
dann in den protestantischen Sekten und Splittergruppen, die im Zuge der konfessionellen
Auseinandersetzungen entstehen.
596 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

dem Moment wieder den Status eines autoritativen Musters der Selbstdarstellung,
in dem das kirchliche Monopol auf die Techniken der Subjektivierung zu bröckeln
beginnt. Zeitgleich mit der neu einsetzenden Rezeption der Confessiones werden im
Zuge der humanistischen Wiederentdeckung des Altertums die Praktiken der anti-
ken Selbstsorge reaktiviert. Die augustinische Selbsthermeneutik, die als radikaler
Gegenentwurf zur antiken Selbstkultur konzipiert war, findet sich plötzlich in einer
seltsamen Nähe zu ihrem einstigen Opponenten wieder.
Ein schlagendes Beispiel für die widersprüchliche Verbindung, welche die augu-
stinische Sündenanalyse am Ubergang vom Mittelalter zur Neuzeit mit der antiken
Selbstsorge eingeht, bietet das autobiographische Werk des frühhumanistischen
Dichters und Gelehrten Francesco Petrarca. In Opposition zur aristotelischen
Scholastik propagiert Petrarca eine philosophische ars vitae, die sich an der stoischen
Konzeption der cum sui orientiert. Gleichzeitig stützt er sich in seinem Kampf gegen
die Scholastik auf die augustinische Theologie und weist der Bekehrungsgeschichte
der Confessiones eine exemplarische Bedeutung für seine eigene Lebensführung
zu. Inwieweit es Petrarca gelingt, augustinische Selbsthermeneutik und stoische
Selbstkultur miteinander zu verknüpfen und in eine neue Form der literarischen
Subjektkonstitution zu überführen, soll im folgenden untersucht werden. In der
Auseinandersetzung mit den Confessiones und mit der antiken Literatur entwickelt
der frühhumanistische Gelehrte eine innovative Lektüretechnik und — daran gekop-
pelt — ein autobiographisches Schreibverfahren, das der literarischen Selbstdarstel-
lung der Neuzeit in wesentlichen Punkten den Weg bereitet.
X. Lesen als Gespräch mit dem Autor:
Petrarcas humanistische Konzeption der Lektüre

1. Lektüre - eine Quelle der experientia

Philosophie als ars vitae

In seiner Streitschrift De sui ipsius et multorum ignorantia, an der er zwischen 1367


und 1371 arbeitete, attackiert Francesco Petrarca den scholastischen Aristotelismus.
Den Anlaß zur Niederschrift des Werkes bildet eine Beleidigung, die der humanis-
tische Gelehrte durch vier junge Freunde, allesamt Anhänger der averroistischen
Philosophie, erfahren hatte. Sie hatten ihn als einen tugendhaften, aber ungebildeten
Mann — »sine Uteris virum bonum« - bezeichnet und sich abfällig über seine Wei-
gerung geäußert, an ihren Debatten über naturphilosophische und metaphysische
Probleme teilzunehmen. 1
Petrarca setzt sich mit seiner Invektive gegen den Vorwurf der mangelnden Bil-
dung zur Wehr. Die persönliche Apologetik dient ihm aber nur als Vorwand, um
grundsätzlich mit der thomistischen Philosophie abzurechnen. Er bestreitet den von
den Scholastikern erhobenen Anspruch, mittels der Vernunft zu Einsichten in die
natürliche Seinsordnung und in das Wesen Gottes gelangen zu können: »Secreta
igitur nature, atque altiora illis archana Dei, que nos humili fide suscipimus, hi
superba iactantia nituntur arripere; nec attingunt, nec adpropiant quidem, sed at-
tingere et pugno celum stringere insani extimant«. 2 Petrarca vertritt die Ansicht, daß
sich das wahre Sein Gottes dem menschlichen Erkenntnisvermögen ebenso entzieht,
wie ihm die wahre Beschaffenheit der Welt verborgen bleiben muß. Gott ist ein
Gegenstand des Glaubens, nicht aber der rationalen Erkenntnis. Bei dem Wissen,
das die scholastische Philosophie über Gott und die durch ihn verbürgte Ordnung
der Dinge zu gewinnen vorgibt, handelt es sich folglich um bloße Scheinkenntnisse.

1 Francesco Petrarca: De sui ipisus et multorum ignorantia. In: Opere latine di Francesco Petrarca.
A cura di Antonietta Bufano. Torino 1975. Vol. 2. S. 1 0 2 5 - 1 1 5 1 , hier: S. 1034. Die deutsche
Übersetzung der Zitate entnehme ich Francesco Petrarca: De sui ipisus et multorum ignorantia/
Uber seine und vieler Unwissenheit. Ubersetzt von Klaus Kubusch, hg. und eingeleitet von
August Buck. H a m b u r g 1993.
2 Ebd. S. 1066. (»Die Rätsel der Natur und die noch größeren Geheimnisse Gottes, die wir
in d e m ü t i g e m Glauben akzeptieren, versuchen sie in ihrer a n m a ß e n d e n Überheblichkeit zu
ergründen. Aber sie erfassen sie nicht, sind ihnen nicht einmal nahe, glauben aber in ihrem
Wahnsinn, sie begreifen und den H i m m e l berühren zu können.«).
598 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Diese besitzen laut Petrarca keinerlei Nutzen, ja sie sind sogar schädlich, denn die
Beschäftigung mit metaphysischen Problemen hält den Menschen davon ab, sich
um die Ausbildung seines moralischen Charakters zu kümmern. Das scholastische
Wissen trägt nichts dazu bei, den Willen des Wissenden zu formen. Ein Wissen aber,
das keine positiven Auswirkungen auf den Willen hat, gilt Petrarca als überflüssig
und gefährlich. In seinem Bemühen, den thomistischen Erkenntnisoptimismus und
die darauf basierende Handlungstheorie zu desavouieren, geht er gar so weit, dem
Willen einen Vorrang gegenüber dem Intellekt einzuräumen:
Tutius est voluntati bone ac pie quam capaci et claro intellectui operam dare. Voluntatis
siquidem obiectum, ut sapientibus placet, est bonitas: obiectum intellectus est Veritas. Satius
est autem bonum velle quam verum nosse. Illud enim merito nunquam caret; hoc sepe etiam
culpam habet, excusationem non habet. Itaque longe errant qui in cognoscenda virtute, non
in adipiscenda, et multo maxime qui in cognoscendo, non amando Deo tempus ponunt. 3

Petrarca sieht das Ziel der philosophischen Tätigkeit nicht darin, die Wahrheit
zu erkennen. Er weist der Philosophie vielmehr die Aufgabe zu, den Menschen
zu bessern. Der scholastische Aristotelismus wird dieser Aufgabe aufgrund seiner
einseitigen intellektuellen Ausrichtung nicht gerecht. Um die Unzulänglichkeit der
scholastischen Philosophie zu belegen, verweist Petrarca auf seine eigene Lektüreer-
fahrung. Durch das Studium der aristotelischen Schriften, so erklärt er, seien zwar
seine Kenntnisse ein wenig vermehrt worden. Sein Charakter habe infolgedessen
aber keine Veränderung erfahren: »Que cum didici, scio plusculum quam sciebam;
idem tarnen est animus qui fiierat, voluntasque eadem, idem ego.«4
Petrarca wirft der Scholastik mithin vor, die metaphysische Spekulation von der
ethischen Praxis abgekoppelt zu haben. Seine Invektive nimmt ein Philosophieren
aufs Korn, das sich in abstrakten Gedankenspielen ergeht und dabei die Erfordernisse
sittlicher Lebensführung aus den Augen verliert. Sie ist zugleich ein Plädoyer für eine
ganz andere Form von Philosophie: eine Philosophie, die dem Individuum in seinem
praktischen Lebenswandel Orientierung zu verleihen vermag; eine Philosophie, die
dazu fähig ist, den Willen des Subjekts zum Guten zu bestimmen; eine Philosophie
schließlich, die seine virtus stärkt und die somit dazu beiträgt, es unbeschadet durch
die Stürme der fortuna hindurch zu geleiten.5 Mit einem Wort: Petrarca konzipiert

3 Ebd. S. 1110. (»Klüger ist es, für einen guten und frommen Willen als für einen klaren, alles
erfassenden Verstand zu sorgen. Nach Ansicht der Philosophen ist ja das Bestreben, gut zu sein,
das Ziel des Willens, der Gegenstand des Verstandes aber die Wahrheit. Besser ist es, Gutes zu
wollen als das Wahre zu erkennen. Ersteres nämlich entbehrt nie des Lohnes, letzteres ist oft
auch mit Schuld verbunden und läßt keine Entschuldigungen zu. Darum verfehlen diejenigen
den rechten Weg, die sich damit beschäftigen, das Wesen der Tugend zu erkennen, anstatt
selbst tugendhaft zu werden, und noch viel mehr diejenigen, die ihre Zeit damit zubringen,
Gott zu erkennen, nicht aber ihn zu lieben.«).
4 Ebd. S. 1106.
5 Zum zentralen Stellenwert, den das Gegensatzpaar fortuna-virtus im Denken Petrarcas besitzt,
vgl. die Untersuchung von Klaus Heitmann: Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas
Lebensweisheit. Köln und Graz 1958.
Lesen ab Gespräch mit dem Autor 599

die Philosophie als eine ars vitae.e Der ideale Philosoph tritt demnach nicht durch
sein umfassendes theoretisches Wissen hervor, er zeichnet sich vielmehr als magister
vitae, als Meister in der Kunst zu leben, aus.7 Die Philosophie ist für Petrarca eine
dezidiert praktische Angelegenheit. Sie soll den Menschen lehren, wie er sein Leben
einzurichten hat, wenn er die Prüfungen bestehen will, die ihm das Schicksal aufer-
legt. Petrarca bestimmt die Philosophie als eine Anleitung zum richtigen Leben.
Petrarcas Verurteilung der Scholastik ähnelt in mancherlei Hinsicht der Kritik, die
von den Repräsentanten der antiken Selbstsorge an der bloßen Wortgelehrsamkeit
geübt wird — an denen, die über die Philosophie nur reden, anstatt sie auch zu leben.8
Tatsächlich sieht Pierre Hadot in Petrarca einen Kronzeugen fur die Wiederentdek-
kung der Philosophie als Lebensform, die am Ausgang des Mittelalters zu verzeichnen
sei.9 Laut Hadot ist das Christentum dafür verantwortlich, daß die Philosophie, die
in der Antike als eine Lebensweise begriffen worden war, während des Mittelalters zu
einem rein theoretischen Diskurs verkümmerte. Das Christentum trennte demnach
die praktischen Elemente der Selbstsorge - die Techniken der Askese und der meditatio
- vom philosophischen Diskurs ab, der im Altertum die Funktion erfüllt hatte, die Le-
benspraxis anzuleiten. Während die asketischen Techniken größtenteils in die monasti-
sche Lebensform integriert werden konnten, wurde der philosophische Diskurs in den
akademischen Bereich verlagert, wo er als ancilla theologiae der begrifflichen Erfassung
der Weltordnung und ihres göttlichen Schöpfers zu dienen hatte.10 Die Entstehung
der mittelalterlichen Universitäten und die dort betriebene Logifizierung und Syste-
matisierung des Wissens, die in den großen Summae der thomistischen Theologie ihre
deutlichste Ausprägung fanden, besiegelte schließlich den Bruch zwischen der prakti-
schen Lebensform und dem theoretischen Diskurs. Eine Rückbesinnung auf den ars
w&Zf-Aspekt der Philosophie erfolgte erst mit der humanistischen Wiederentdeckung
der Antike. Dafür steht bei Hadot Petrarca als Gewährsmann ein. Petrarca verkörpert
demnach einen neuen Typus des Gelehrten: den Typus des eigenständigen Denkers,
der seine Ansichten in Opposition zu den herrschenden akademischen Diskursen
entwickelt und sie nicht nur literarisch artikuliert, sondern ihnen auch praktisch durch

6 Vgl. Famiiiares XVII. 1.10: »In quibus Tullii verbis illud inter multa notabile, quod philoso-
phiam non verborum artem dicit esse sed vite.« Die Briefe aus der Sammlung der Epistolae
familiares werden nach der folgenden Ausgabe zitiert: Le Familiari. Edizione critica per cura
di Vittorio Rossi, ristampa anastatica dell'edizione Sansoni del 1968 condotta sulla prima
edizione del 1942. 4 vol. Firenze 1997.
7 Vgl. Familiares II.4.28: »De studiis liberalibus loquor et presertim de illa parte philosophie
que vite magistra est.«
8 Vgl. etwa Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 88.42: »[P]hilosophi quantum habent su-
pervacui, quantum ab usu recedentis! [...] Sic effectum est ut diligentius loqui scirent quam
vivere.« Vgl. auch ebd. 108.23f.
9 Hadot spricht von »la redecouverte de la philosophie comme mode de vie.« Vgl. P. Hadot:
Qu'est-ce que la philosophie antique? S. 381. Zu Petrarca siehe auch ebd. S. 394.
10 P. Hadot: Qu'est-ce que la philosophie antique? S. 379-387; ders.: Exercices spirituels et
philosophie antique. S. 56f.
600 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

seine Lebensführung Rechnung zu tragen sucht. Aus dieser Perspektive erscheint Pe-
trarca als ein früher Vorläufer Montaignes, Kierkegaards oder gar Nietzsches.11
Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt, den Frühhumanisten zum Repräsen-
tanten jener esthetique de l\existence zu erklären, die den Dreh- und Angelpunkt der
Studien Foucaults über die antike Selbstsorge bildet. Zwar erwähnt Foucault den
Namen Petrarca nicht, doch er bietet einen Ausblick auf die nach-antike Geschichte
der philosophischen Lebenskunst, die sich eng an die Darstellung Hadots anlehnt,
wenngleich einige Akzente dabei anders gesetzt werden. Auch Foucault bürdet dem
Christentum die Verantwortung fur den Niedergang der antiken Lebenskunst auf.
Der Aufstieg der christlichen Religion hatte seiner Ansicht nach aber nicht bloß
die Abtrennung des philosophischen Diskurses von der Lebensform zur Folge. Be-
deutender erscheint ihm die Tatsache, daß die asketischen Praktiken viel von ihrem
Gewicht und ihrer Autonomie verloren, weil sie in die Ausübung einer Pastoralmacht
integriert wurden: »ces techniques de soi< ont sans doute perdu une certaine part
de leur importance et de leur autonomie, lorsqu'ils ont ete integres, avec le christia-
nisme, dans l'exercice d'un pouvoir pastoral«.12 Die antiken techniques de soi wurden
zu christlichen techniques de domination umfunktioniert. 13 Sie dienten nicht mehr
der ethischen Selbstformung des Subjekts, sondern waren Teil eines Machtapparats
und eines Autoritätssystems, das darauf abzielte, die Individuen einem Regime der
Wahrheit zu unterwerfen. In der Renaissance, so argumentiert Foucault, gewannen
die asketischen Praktiken ein Stück ihrer Autonomie zurück. Es wurde möglich, eine
Form der Askese zu betreiben, die das Subjekt nicht mehr an die Wahrheit seiner
selbst - die Wahrheit der Sünde - fesselte. Die asketischen Techniken wurden wieder
zu Selbsttechniken, mit deren Hilfe sich bestimmte Individuen aus der Umklamme-
rung durch die Pastoralmacht lösen konnten.14 Foucault vermeidet es zwar, von einer
Emanzipation des neuzeitlichen Subjekts zu sprechen, aber die Emanzipation der
Selbsttechniken, die er beschreibt, besagt im Grunde nichts anderes. Bezeichnender-
weise beruft er sich in diesem Zusammenhang auf die Studien Jacob Burckhardts zur
Kulturgeschichte der Renaissance - auf eben jenen Jacob Burckhardt, der Petrarca als
einen »der frühsten völlig modernen Menschen« charakterisiert und somit zu einem
Paradebeispiel für die Selbstermächtigung des neuzeitlichen Subjekts erhoben hat.15

" P. Hadot: Qu'est-ce que la philosophie antique? S. 406f.


12 M. Foucault: L'usage des plaisirs. S. 17.
13 Zur Unterscheidung zwischen techniques de domination und techniques desoi\gl. M. Foucault:
Sexualite et solitude. In: ders.: Dits et ecrits. Bd. 4. S. 168-178, hier: S. 170f.
14 M. Foucault: On the Genealogy of Ethics. S. 251: »What is interesting is that during the
Renaissance you see a whole series of religious groups [...] which resist the pastoral power and
which claim the right to make their own statutes for themselves. [...] We can see, therefore, a
reappearance, up to a certain point, not of the culture of the self which had never disappeared,
but a reaffirmation of its autonomy.«
15 M. Foucault: L'usage des plaisirs. S. 17; ders.: On the Genealogy of Ethics. S. 251. - Jacob
Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. In: ders. Gesammelte Werke.
Bd. 3. Basel 1955. S. 200.
Lesen als Gespräch mit dem Autor 601

D i e T h e s e von der W i e d e r e n t d e c k u n g (»redecouverte«) o d e r d e m W i e d e r a u f t a u -


chen (»reappearance«) der antiken Selbsttechniken i m Zeitalter der Renaissance, die
v o n H a d o t u n d F o u c a u l t vertreten wird, enthält eine R e i h e v o n p r o b l e m a t i s c h e n
Implikationen, die es n a m h a f t zu m a c h e n gilt. Z u m einen steht sie — trotz der Kritik
an der A n n a h m e eines prädiskursiven, substantialistisch konzipierten Selbst, die m i t
ihr v e r b u n d e n ist - n o c h i m m e r i m B a n n e des von Burckhardt, Michelet u n d Dilthey
etablierten M u s t e r s der K u l t u r g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g , d a s d e n B e g i n n der N e u z e i t
a u f d i e E m a n z i p a t i o n e i n e r sich a u s t h e o l o g i s c h e r B e v o r m u n d u n g b e f r e i e n d e n ,
der Verwirklichung seiner A u t o n o m i e zustrebenden Subjektivität z u r ü c k f ü h r t . D i e
Freisetzung dieses n e u e n S u b j e k t s erfordert p a r a d o x e r w e i s e d e n R ü c k g r i f f a u f das
g a n z Alte - die frühneuzeitliche Praxis a u t o n o m e r Selbstgestaltung ist zugleich eine
>Wiederbelebung< der antiken ars vitae.
D i e Frage, wie diese >Wiederbelebung< f u n k t i o n i e r t , w i r d v o m H i s t o r i k e r der
S e l b s t p r a k t i k e n a l l e r d i n g s gar n i c h t erst a u f g e w o r f e n . E r m a c h t sich s o m i t a u f
unkritische W e i s e eine M e t a p h o r i k zu eigen, die v o n d e n H u m a n i s t e n selbst ge-
p r ä g t w u r d e , u m ihre p h i l o s o p h i s c h e u n d literarische Praxis zu legitimieren. 1 6 D i e
M e t a p h e r n der >Wiederbelebung< u n d d e r >Wiederentdeckung< verweisen a u f die
E x i s t e n z spezifischer Verfahrensweisen, die d a z u d i e n e n , d i e geschichtliche D i s t a n z
zwischen der A n t i k e u n d d e m a u s g e h e n d e n Mittelalter zu ü b e r b r ü c k e n . A u c h diese
Verfahrensweisen g e h ö r e n f ü r die H u m a n i s t e n z u m B e s t a n d der S e l b s t p r a k t i k e n .
Sie erfordern d a h e r eine g r ü n d l i c h e U n t e r s u c h u n g . D o c h der unreflektierte R e k u r s
a u f d i e M e t a p h e r d e r > W i e d e r e n t d e c k u n g < leistet d e r N i v e l l i e r u n g h i s t o r i s c h e r
D i f f e r e n z e n V o r s c h u b . D i e R e d e v o n der >Wiederentdeckung< der antiken ars vitae
b l e n d e t die Frage n a c h d e m g e w a n d e l t e n Stellenwert aus, d e n die S e l b s t t e c h n i k e n
unter den g a n z a n d e r e n geschichtlichen B e d i n g u n g e n d e s a u s g e h e n d e n M i t t e l a l -
ters besitzen. D i e s e B e d i n g u n g e n m ü s s e n also z u n ä c h s t e i n m a l aufgezeigt w e r d e n .
Petrarca etwa b e r u f t sich in De sui ipsius et multorum ignorantia a u f das Beispiel
C i c e r o s u n d S e n e c a s , u m sein K o n z e p t der p h i l o s o p h i s c h e n L e b e n s k u n s t zu a u t o -
risieren. Gleichzeitig m a c h t er j e d o c h klar, d a ß er d a b e i eine dezidiert christliche
F o r m des P h i l o s o p h i e r e n s u n d der p h i l o s o p h i s c h e n E x i s t e n z i m S i n n hat. E s h a n -
delt sich bei d e m R ü c k g r i f f a u f die a n t i k e n S e l b s t p r a k t i k e n m i t h i n n i c h t u m eine
>Wiederbelebung<, die i m Z e i c h e n der E m a n z i p a t i o n v o n t h e o l o g i s c h e n V o r g a b e n
steht, s o n d e r n u m d e n Versuch, zwischen antiken u n d christlichen P o s i t i o n e n zu
vermitteln, g e n a u e r : d i e antiken T e c h n i k e n u m z u f u n k t i o n i e r e n u n d in eine spezi-
fisch christliche ars vitae zu integrieren.

16 Zur Metaphorik des Wiederentdeckens, des Wiederbelebens und der Wiederauferstehung im


frühhumanistischen Diskurs vgl. Th. Greene: The Light in Troy. S. 92.
602 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Erfahrungsbedürftigkeit und Erfahrungsverlust

Tarsächlich speist sich Petrarcas Kritik an der Scholastik nicht nur und nicht in erster
Linie aus der Quelle der antiken Philosophie und Literatur. Vielmehr nimmt er in De
sui ipsius et multorum ignomntta eine avancierte theologische Position ein, versucht
also, vor allem mit christlichen Argumenten gegen den Welterklärungsanspruch des
scholastischen Aristotelismus vorzugehen. Die neuere Petrarca-Forschung hat auf
die engen Beziehungen verwiesen, die zwischen dem Denken des humanistischen
Gelehrten und der via moderna, der durch Wilhelm von Ockham begründeten
Philosophie des Nominalismus, bestehen.17 Petrarcas Scholastik-Kritik basiert auf
nominalistischen Prämissen. Er vertritt die ockhamistische Lehre von der abso-
luten Omnipotenz Gottes. 18 Das Theologumenon der unbeschränkten göttlichen
Macht führt auf einen neuen Begriff der Realität. Die Annahme einer geordneten,
unveränderlichen Gesetzen unterstellten Wirklichkeit käme nach nominalistischer
Auffassung einer Beschränkung der göttlichen Allmacht gleich. Die ockhamistische
Philosophie geht daher davon aus, daß die Wirklichkeit, in der sich der Mensch
erkennend und handelnd orientieren muß, kontingent ist.19 Sie weist keinerlei Ge-
setzmäßigkeit auf, die mit rationalen Mitteln ergründet werden kann. Es ist folglich
nicht mehr möglich, allgemeine Aussagen über die Ordnung des Seins zu machen.
Aussagen dieser Art besitzen nur eine vorläufige Geltung; sie bedürfen stets der Uber-
prüfung an der unmittelbaren Erfahrung im Umgang mit den Dingen der Welt.20
Der Glaube an die göttliche Allmacht und die sich daraus ableitende Uner-
kennbarkeit der Seinsordnung hat somit zur Folge, daß der Begriff der Erfahrung
eine Schlüsselbedeutung gewinnt.21 Welterkenntnis kann der Mensch demnach

17 Zu den biographischen Berührungspunkten zwischen Petrarca und den Vertretern des Nomi-
nalismus vgl. Eckhard Keßler: Petrarca und die Geschichte. Geschichtsschreibung, Rhetorik,
Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. München 1978. S. 133fi, S. 168f.
- Zur Rezeption nominalistischen Gedankenguts durch Petrarca vgl. ebd. S. 137-141, S.
146—151, S. 169—182; Charles Trinkaus: In Our Image and Likeness: Humanity and Divinity
in Italian Humanist Thought. London and Chicago 1970. Bd. 1. S. 2 2 - 2 4 ; ders.: The Poet
as Philosopher: Petrarch and the Formation of Renaissance Consciousness. New Haven and
London 1959. S. 29f, S. 56f.; Joachim Küpper: Das Schweigen der Veritas. Zur Kontingenz von
Pluralisierungsprozessen in der Frührenaissance (Francesco Petrarca, Secretum). In: Poetica 23
(1991). S. 4 2 5 - 4 7 5 , hier: S. 439-444 (wieder abgedruckt in ders.: Das Schweigen der Veritas
und die Worte des Dichters. Berlin 2002. S. 1-53). Küpper kommt zu folgendem Ergebnis:
»In der Tat ist nicht nur literarisch und poetologisch, sondern auch philosophisch Petrarca
einer der unbedingtesten Vertreter der »via moderna<.« (Das Schweigen der Veritas. S. 443.) Zu
Petrarcas Beziehungen zum Nominalismus vgl. jetzt auch Karlheinz Stierle: Francesco Petrarca.
Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts. München und Wien 2003. S. 156-164.
18 E. Keßler: Petrarca und die Geschichte. S. 149.
19 Die große Bedeutung, die Petrarca dem Wirken der fortuna beimißt, ist auf die ockhamistische
These von der Kontingenz der Welt zurückzuführen. Vgl. J. Küpper: Das Schweigen der
Veritas. S. 451; K. Stierle: Francesco Petrarca. S. 220-227.
20 E. Keßler: Petrarca und die Geschichte. S. 169.
21 Zur Aufwertung der Empirie durch die via moderna vgl. bereits Etienne Gilson: La philosophie
au moyen äge. Des origines patristiques ä la fin du XIV C siecle. Paris 2 1962. S. 459.
Lesen als Gespräch mit dem Autor 603

nur dadurch gewinnen, daß er sich handelnd auf die Welt einläßt - sie ist keine (im
platonischen oder aristotelischen Sinne) metaphysische, sondern eine praktische und
empirische Erkenntnis. Petrarca bezeichnet die experientia deshalb als die »certissi-
ma magistra rerum«.22 Die philosophische Lebenskunst, die er dem scholastischen
Systemgebäude gegenüberstellt, hat ihre Basis in der stets nur provisorisch gültigen
Wahrheit der Erfahrung. Um die ihr zugeschriebene Funktion der magistra vitae er-
füllen zu können, muß die Philosophie also ihrerseits bei dem praktischen Leben in
die Lehre gehen. Das Wissen, das sie dem Individuum zur Verfügung stellt, legitimiert
sich durch seinen Praxis- und Erfahrungsbezug. Daher rührt die immer wieder bekun-
dete Vorliebe Petrarcas für das Exempel, für die aus der geschichtlichen Wirklichkeit
geschöpfte narratio der beispielhaften Tat oder des vorbildlichen Verhaltens.23
Diese Vorliebe teilt Petrarca mit den Vertretern der antiken ars vitae. Allerdings
besitzt die Kategorie der Erfahrung in der antiken Philosophie einen anderen Stel-
lenwert als im Denken des humanistischen Gelehrten. Während Petrarca die Mög-
lichkeit, allgemeine Aussagen über die Welt zu treffen, grundsätzlich in Frage stellt,
rekurriert die antike Lebenskunst sowohl auf ein allgemeines Wissen, das auf dem
Wege theoretischer Spekulation gewonnen wird und die Ordnung der Welt erfassen
soll, als auch auf konkrete Beispiele, die durch praktische Erfahrung verbürgt sind.
Seneca etwa beharrt darauf, daß der stoische Lebenskünstler beides benötigt: durch
exempla veranschaulichte praecepta, die ihm Orientierung und Kraft für seine mo-
ralische Praxis verleihen, und allgemeine decreta, die ihm Aufschluß über das Ganze
der Natur und über seine Position innerhalb dieses Ganzen geben können.24 Nach
Ansicht Ciceros kann von einem philosophischen Umgang mit den aus der sittlichen
Praxis erwachsenden Problemen erst dann die Rede sein, wenn die den Einzelfall
betreffende quaestio finita auf allgemeine Grundsätze bezogen und in eine quaestio
infinita überführt wird.25 Die antike ars vitae kommt mithin ohne ein allgemeines
Wissen nicht aus, das Einblick in die übergreifende Ordnung des Seins gewährt. Die
der Erfahrung entnommenen Exempel haben die Aufgabe, den allgemeinen Einsich-
ten zur Wirkung zu verhelfen und ihre Anwendung auf die Praxis zu erleichtern; sie
sind nicht, wie bei Petrarca, eine privilegierte Quelle der Welterkenntnis.

22 Famiiiares V I . 4 . 4 .
23 Vgl. ebd. V I . 4 . 3 - 5 : » M e quidem nichil est q u o d moveat q u a n t u m exempla d a r o r u m homi-
num. [...] Id sane, preter experientiam q u e certissima magistra rerum est, nullo melius m o d o
fit, q u a m si eum his quibus simillimus esse cupit, a d m o v e a m . Itaque, sicut o m n i b u s q u o s
lego, gratiam habeo, si michi sepe propositis exemplis hanc experiendi facultatem dederint,
sie michi gratiam habituros spero qui m e legent.« (»Es gibt nichts, was mich mehr bewegt als
die Beispiele berühmter Männer. [...] Gleich nach der Erfahrung, die die sicherste Lehrerin
der Dinge ist, würde ich anfügen, daß es keinen besseren Weg gibt, etwas zu lernen, als wenn
der Geist danach strebt, diese Großen so genau wie möglich nachzuahmen. Deshalb hoffe
ich, daß diejenigen, die mich lesen, mir genauso dankbar sein werden, wie ich all den Autoren
dankbar bin, die mir die Möglichkeit gegeben haben, mich an gebührenden Beispielen zu
erproben.« [Ubersetzung von mir, C h . M . ] ) .
24 Seneca: A d Lucilium epistulae morales, ep. 9 4 (zu den praecepta) und ep. 9 5 (zu den decreta).
25 Vgl. dazu Kapitel V.4 dieser Untersuchung.
604 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Diese Differenz wird auch dort erkennbar, wo es darum geht, die Rolle zu be-
stimmen, die der Disziplin der Dialektik innerhalb der philosophischen Lebenskunst
zukommt. Zwar gibt es bereits in der Antike kritische Stimmen, die der Kunst der
dialektischen Beweisführung keinerlei Wert für die ethische Formung des Selbst
beimessen. Seneca etwa kritisiert den stoischen Gründungsvater Zenon, weil dieser
die Adepten der Philosophie mit Hilfe komplizierter logischer Operationen davon
zu überzeugen suchte, daß die Trunksucht schädlich sei. Nicht durch syllogistische
Schlußverfahren, sondern durch praktische, ebenso anschauliche wie abschreckende
Beispiele gelte es, die Schüler der philosophischen Lebenskunst von der Notwen-
digkeit der Abstinenz zu überzeugen. 26 In ähnlicher Manier wirft Cicero den Philo-
sophen der älteren Stoa vor, sich allzu sehr auf das Verfahren der logischen Analyse
verlassen zu haben: »pungunt quasi aculeis interrogatiunculis angustis, quibus etiam
qui assentiuntur nihil commutantur animo et idem abeunt, qui venerant.«27 Seneca
und Cicero zweifeln nicht daran, daß man auf dem Wege der dialektischen Zer-
gliederung zu richtigen Einsichten gelangen kann. Ihre Kritik richtet sich vielmehr
gegen den Einsatz der Logik im Rahmen der Psychagogik. Die dialektische Analyse
erscheint ihnen als psychagogisches Instrument ungeeignet, denn logische Schlüsse
haben ihrer Auffassung nach nicht die Kraft, die Seele des Denkenden zu verändern
und ihn zum Handeln zu motivieren. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht die Phi-
losophie die Unterstützung der Rhetorik - »ratio et oratio«, so lautet die Formel, die
Cicero dem philosophischen Lebenskünstler einzuschärfen sucht. 28
Der Vorwurf der moralischen Wirkungslosigkeit, den Petrarca in De sui ipsius et
multorum ignorantia gegenüber den aristotelischen Schriften erhebt, klingt wie ein
Echo auf Senecas und Ciceros Äußerungen zur Dialektik. Auch der humanistische
Gelehrte fordert den Einsatz rhetorischer Kunstmittel, um dem Wissen zur Wirkung
zu verhelfen. Er registriert bei den Scholastikern ein verderbliches Desinteresse an der
Beredsamkeit. Mit Erschrecken stellt er fest, daß die Unfähigkeit der scholastischen
Denker, ihre syllogistischen Spitzfindigkeiten in eine angemessene sprachliche Form
zu bringen, bei ihnen gar als ein Ehrenzeichen und als Indikator philosophischen
Tiefsinns gilt.29 Doch Petrarca begnügt sich nicht damit, die philosophischen An-
sprüche der Rhetorik einzuklagen. Seine Kritik an der Logik geht weiter als die seiner
antiken Gewährsmänner. Er bezweifelt nicht nur ihre psychagogische Wirksamkeit,
sondern er hält sie grundsätzlich für ein untaugliches Mittel, um wahre und nütz-
liche Einsichten zu erlangen. Petrarca lehnt die Dialektik, insbesondere aber die

26
Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 83.9, 83.27. - Seneca will die Dialektik ganz aus der
philosophischen Lebenskunst verbannen. Vgl. ebd. 82.19: »Ego non redigo ista ad legem
dialecticam et ad illos artificii veternosissimi nodos: totum genus istuc exturbandum indico«.
Zu Senecas Kritik an der Dialektik vgl. auch ebd. 98.17f.
27
Cicero: De finibus bonorum et malorum IV.6f.
28
Ebd. IV. 10.
29
Vgl. De sui ipsius et multorum ignorantia. S. 1032: »Sic iam sola philosophantis infantia et
perplexa balbuties [...] in honore est«.
Lesen als Gespräch mit dem Autor 605

scholastische Syllogistik ab, da sie kein sicheres Wissen zu begründen vermag. 30


Epistemologische Sicherheit ist in einer kontingenten Welt, unter der Vorausset-
zung des Bruchs zwischen Sein und Erkennen, den der Nominalismus vollzogen
hat, nicht mehr zu erreichen.31 Allein der Rekurs auf die experientia verheißt eine
relative, vorläufige Sicherheit, die der Praxis Orientierung zu verleihen vermag,
weshalb die Erfahrung von Petrarca zum Prüfstein philosophischer Erkenntnis
erhoben wird. Die Annahme einer kontingenten Welt verleiht dem Erfahrungs-
bezug des Wissens eine sehr viel größere Dringlichkeit, als er in der antiken ars
vitae besaß. Es genügt nach Ansicht Petrarcas nicht, der durch dialektische Analyse
gewonnenen Erkenntnis mit rhetorischen Mitteln Uberzeugungskraft zu verleihen.
Die Erkenntnis, die den Charakter des Individuums verändern und es in seiner
Lebenspraxis anleiten soll, muß sich vielmehr als Erfahrungswahrheit ausweisen.
Petrarca verlangt, daß die Einsichten, die der Philosoph vermittelt, auf authenti-
scher Erfahrung beruhen.
Petrarca konzipiert die Philosophie als eine ars vitae, die auf Erfahrungswissen
gründet. Die virtus des Individuums bildet sich durch Erfahrung heran; sie muß
sich in der sittlichen Praxis bewähren. Dem steht aus Petrarcas Sicht jedoch ein
Hindernis entgegen. Dieses Hindernis hat etwas mit der spezifischen historischen
Situation zu tun, in der er sich befindet. Petrarca analysiert die gegenwärtige ge-
schichtliche Lage und kommt dabei zu dem Ergebnis, daß sie dem Individuum
die Möglichkeit vorenthält, die Erfahrungen zu machen, die er braucht, um seine
virtus auszubilden. Die Gegenwart bietet ihm keine Gelegenheit, Erfahrung in der
Ausübung der Tugend zu gewinnen. Petrarca ist davon überzeugt, in einer Zeit zu
leben, in der virtus nicht zum Gegenstand der experientia werden kann. 32 Er teilt
seine Zeitgenossen in zwei Gruppen ein. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die
über die Tugend nachdenken, ja die subtile Spekulationen darüber anstellen, es
dabei aber versäumen, tugendhaft zu handeln und ihr Wissen somit durch Erfah-
rung zu beglaubigen. Zu dieser Gruppe gehören die scholastischen Philosophen,
die Petrarca in De sui ipsius et multorum ignorantia angreift. Auf der anderen Seite
steht die große Schar der Menschen, die ein aktives Leben führen, die es jedoch
vermeiden, auf ihr Handeln zu reflektieren. Ihnen ist, wie Petrarca in der Praefatio
zu De viribus illustris erläutert, die Motivation ihres eigenen Tuns nicht bewußt;
sie agieren gewissermaßen blind, der inneren Gewalt ihrer Leidenschaften oder der
äußeren Gewalt autoritärer Führer gehorchend.33 Wenn diesen Menschen einmal
etwas Großes gelingt, dann verdankt sich diese Leistung dem Zufall - sie ist auf

30 Zu Petrarcas Kritik an Dialektik und Syllogistik vgl. E. Keßler: Petrarca und die Geschichte.
S. 134-138; C. Trinkaus: The Poet as Philosopher. S. 95-99.
31 Vgl. E. Keßler: Petrarca und die Geschichte. S. 162.
32 Vgl. ebd. S. 37, S. 114f.
33 Francesco Petrarca: De viribus illustris. In: ders.: Prose. A cura di Guido Martelotti e di Piero
Giorgio Ricci, Enrico Carrara, Enrico Bianchi. Milano e Napoli 1955. S. 218.
606 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

das Wirken der fortuna zurückzuführen und nicht auf die virtus des Handelnden,
denn tugendhaftes Handeln ist überlegtes Handeln und setzt den Gebrauch der
Urteilskraft voraus.34
Die gedankenlose Praxis der in der vita activa befangenen Menschen kann Er-
fahrung also ebensowenig begründen wie die praxisferne Spekulation der professi-
onellen Philosophen. Petrarca attestiert der Gegenwart, daß sie eine erfahrungslose
Zeit ist. Als kennzeichnend für die aktuelle geschichtliche Situation sieht er das
Auseinandertreten von Handeln und Reflexion an, das den Verlust von Erfahrung
zur Folge hat. Beispiele für tugendhaftes Verhalten sind in der Gegenwart daher
nicht oder nur sehr schwer zu finden. Die vorherrschende Erfahrungsarmut macht
die Hinwendung zur Vergangenheit erforderlich. Petrarca sucht in der Geschichte,
was ihm seine Zeitgenossen nicht bieten können: exemplarische Verwirklichungen
der virtus. Die Geschichte — und das heißt vor allem: die Geschichte der römischen
Antike - gilt ihm als ein Speicher menschlicher Erfahrung. 35 Der Vorrang, der dem
Altertum im Vergleich zum gegenwärtigen Zeitalter zukommt, ist nach Auffassung
Petrarcas darauf zurückzuführen, daß bei den Alten Handeln und Denken noch eine
Einheit bildeten: Große Taten waren das Resultat kluger Überlegung; philosophi-
sche Reflexion hatte sich in der Praxis zu bewähren. Erfahrung kann sich nur dort
konstituieren, wo diese Einheit gewahrt ist.
Paradoxerweise delegiert Petrarca das Individuum, das seine moralische Praxis
auf Erfahrung zu gründen sucht, an eine ferne Vergangenheit. In der Auseinander-
setzung mit antiken Autoren soll ihm die experientia zuteil werden, die es im Um-
gang mit seinen Zeitgenossen nicht erlangen kann. Das >moderne< Moralsubjekt
erwirbt sich Erfahrung folglich nicht unmittelbar durch moralische Praxis oder im
Umgang mit einem vorbildlichen, erfahrenen Lehrer, sondern durch die Lektüre
autoritativer Texte. 36 Dabei m u ß es sich freilich um eine besondere Form von
Lektüre handeln - eine Lektüre, die den Text nicht bloß oberflächlich streift, die
seinen Inhalt nicht nur kursorisch zur Kenntnis nimmt, sondern die das Gelesene
erfahrbar werden läßt, die dafür Sorge trägt, daß der Leser sich den Inhalt mit allen
seinen Konsequenzen bewußt macht und vollkommen verinnerlicht. Die Lektüre,
welche die Erfahrung ersetzen soll, muß selbst den Charakter einer Erfahrung be-
sitzen. Ein denkbares Vorbild für ein derartiges Lektüreverhalten bietet die antike

34
Ebd.
35
Vgl. E. Keßler: Petrarca und die Geschichte. S. 55f.
36
Vgl. etwa die Praefatio zu De remediis utriusquefortunae. In: Francisci Petrarchae Opera. Bd. 1.
Basel 1554 (Ndr. Ridgewood/NJ 1965). S. 1-6, hier: S. 2: Eine Möglichkeit, sich Heilmittel zur
Stärkung der virtus gegen die Angriffe der fortuna zu verschaffen, besteht darin, den Umgang
und das Gespräch mit weisen Menschen zu pflegen. Doch diese Form der Seelenstärkung,
so erklärt Petrarca, ist sehr selten geworden -»id genus rarescat«. Im gegenwärtigen Zeitalter
gibt es keine erfahrenen Lehrer mehr, keine lebendigen Exempel der Tugend. Die wichtigste
Quelle für moralische Heilmittel ist daher die Lektüre: »& multo maxime iugis lectio, ac
pervigil scriptorumque nobilium monumenta profuerunt«.
Lesen als Gespräch mit dem Autor 607

Technik der meditatio, die bei den Alten im Rahmen der rhetorischen institutio, vor
allem aber im Kontext der philosophischen Psychagogik zur Anwendung gelangte.
Auch in der Philosophie der Kaiserzeit hatte sich die schriftliche Form der Unter-
weisung gegenüber dem unmittelbaren Umgang mit der erfahrenen Lehrperson
durchgesetzt, ja die Lektüre-Meditation wurde von einigen, insbesondere von den
stoischen Philosophen, als das überlegene Verfahren der Seelenformung angesehen.
Dem >modernen< Moralsubjekt scheint also die Möglichkeit offen zu stehen, der
antiken Uberlieferung nicht nur die Exempel für tugendhaftes Handeln, sondern
auch das Vorbild für sein Lektüreverhalten zu entnehmen. Nicht allein das Was,
auch das Wie seiner Lektüre wäre demnach ein potentieller Gegenstand seiner
imitatio.
Es ist jedoch fraglich, ob die antike Technik der meditativen Lektüre dazu geeig-
net ist, das neue Problem zu lösen, mit dem das >moderne< Moralsubjekt in Folge
der Erfahrungsarmut seiner Zeit konfrontiert ist. Seine Aufgabe besteht ja nicht nur
darin, den Abstand zwischen seiner Person und dem geschriebenen Text zu über-
brücken. Vielmehr geht es um die Überwindung eines sehr viel größeren und ganz
anders gearteten Abstands — nämlich um die Bewältigung der historischen Kluft, die
das >moderne< Moralsubjekt von den Zeugnissen der antiken Kultur trennt. Indem
Petrarca die für seine Gegenwart kennzeichnende Disjunktion von Handeln und
Reflexion mit der antiken Einheit von Theorie und Praxis kontrastiert, indem er
die >moderne< Erfahrungsarmut dem antiken Erfahrungsreichtum gegenüberstellt,
macht er die Existenz einer solchen Kluft allererst sichtbar. Im Unterschied zum
mittelalterlichen Denken, das die auctores in einer zeitenthobenen Sphäre bestän-
diger Präsenz ansiedelt, demonstriert der Humanist auf diese Weise so etwas wie ein
historisches Bewußtsein. 37 Er bekundet seinen Sinn für die Fremdheit der antiken
Kultur wie auch für den besonderen, damit in vielerlei Hinsicht unvereinbaren
Charakter seines eigenen Zeitalters. Das Altertum, zu dieser Einsicht gelangt der
humanistische Gelehrte, ist anders.
Doch die Alterität der Antike führt das >moderne< Moralsubjekt in ein Dilem-
ma. Einerseits ermöglicht sie die imitatio, denn die Andersartigkeit des Altertums
besteht gerade darin, daß es die nachahmenswerten Exempel der virtus vorweisen
kann, die der Gegenwart fehlen. Andererseits stellt sie diese Möglichkeit jedoch
auch in Frage: Wenn die Antike so sehr von der Gegenwart verschieden ist, führt
ihre Nachahmung dann nicht zwangsläufig zu fehlerhaftem Verhalten? Läßt sich

37
Es gehört mittlerweile zu den Topoi der Petrarca-Forschung, den humanistischen Gelehrten
als einen der frühesten Vertreter eines genuinen historischen Bewußtseins auszuweisen.
Vgl. - um nur einige zu nennen — Peter Burke: The Renaissance Sense of the Past. London
1969. S. 22ff. ; Thomas Greene: T h e Light inTroy. S. 8, S. 29f., S. 81-103; Nicholas Mann:
Petrarch. Oxford u. New York 1984. S. 34f.; Gerhart HofFmeister: Petrarca. Stuttgart und
Weimar 1997. S. 33f., S. 72; Karlheinz Stierle: Petrarca. Fragmente eines Selbstentwurfs.
München und Wien 1998. S. 74.
608 Von der Hermeneutik des Willens zur Asthetisierung der Selbsterkenntnis

dieses Fremdartige überhaupt auf die Gegenwart übertragen?38 Die Annahme eines
geschichtlichen Bruchs, der die alte von der neuen Zeit abhebt, macht die imitatio zu
einer höchst problematischen Angelegenheit. Es stellt sich die Frage, ob die aus der
Antike übernommenen Techniken der Applikation dazu geeignet sind, diese Kluft
zu überbrücken, oder ob es erforderlich ist, neue Verfahrensweisen der Aneignung
zu entwickeln. Ist die meditatio ein taugliches Mittel, um die Lektüre der alten Texte
in gegenwärtige Erfahrung zu transformieren?

Wiederbelebung des Vergangenen durch Kritik

Das Bewußtsein des historischen Bruchs macht sich bei Petrarca zunächst einmal
dadurch bemerkbar, daß er die antike Überlieferung nicht fraglos als eine Gegeben-
heit auffaßt, sondern als eine Aufgabe. In seinen Augen haben sich die Worte und
Taten der antiken Autoritäten nicht einfach im kulturellen Gedächtnis erhalten,
sie sind darin nicht als statische Größen zuhanden. Vielmehr haben sie ihre eigene
komplexe und bewegte Geschichte. Die Zeit hat an ihnen gearbeitet, und zwar auf
zerstörerische Weise. Aufgrund tiefgreifender historischer und politischer Umwäl-
zungen, bedingt durch Kriege, Völkerwanderungen und Naturkatastrophen, vor
allem aber in Folge des Unverstands, des Desinteresses und der Vergeßlichkeit der
Menschen hat der Bestand der überlieferten Autoritäten schmerzhafte Verluste
erleiden müssen, war er der Korruption, der Verfälschung und der Zerstreuung
ausgesetzt. Unter diesen Bedingungen erscheint ein unvermittelter, naiver Rückgriff
auf das Überlieferte nicht mehr möglich. Die Autoritäten müssen restituiert werden,
ehe man von ihnen Gebrauch machen kann. Der humanistische Gelehrte tritt, wie
Eckhard Keßler erklärt, »in eine kritische Distanz zur Überlieferung, insofern das
Überlieferte sich in seiner Verbindlichkeit nicht mehr selbst legitimieren kann«. 39
Die Worte und Taten der Alten bringen sich nicht von alleine zur Geltung, vielmehr
muß ihnen diese Geltung allererst verliehen werden, und zwar durch eine kritische
Überprüfung ihres Wahrheitsgehalts wie auch ihrer Überlieferungsgeschichte. Die
Wiederbelebung der Autoritäten erfolgt auf dem Wege der Kritik.
Diese findet auf mehreren Ebenen statt. Zum einen unterzieht der humanistische
Lebenskünstler die überlieferten facta einer historischen Analyse. Die Exempel antiker
virtus sollen dem >modernen< Moralsubjekt Handlungsorientierung bieten, sie sollen
seine Praxis anleiten. Das können sie aber nur dann, wenn gewährleistet ist, daß sie ih-

38 Carol Quillen verweist auf die »interpretive schizophrenia«, die Petrarca an die folgenden Ge-
nerationen humanistischer Gelehrter vererbt habe: »On the one hand, these scholars, motivated
by a deep appreciation for the values o f classical civilization, believed that ancient texts could serve
the needs o f the present age. [...] O n the other hand, the very ability o f Renaissance readers to
recover classical sources depended on a poignant recognition o f the chasm that separated their
world from that o f the ancients; >classical< texts, however eloquent, spoke to circumstances and
experiences too distant to be emulated by a younger age.« (Carol Everhart Quillen: Rereading the
Renaissance: Petrarch, Augustine, and the Language o f Humanism. Ann Arbor 1998. S. 4).
" E. Keßler: Petrarca und die Geschichte. S. 26.
Lesen als Gespräch mit dem Autor 609

rerseits auf einer wirklichen, historischen Praxis beruhen, daß sie also keine willkürlich
ersonnenen Fabeln darstellen. Der humanistische Lebenskünstler muß daher ermit-
teln, ob die Darstellung der vorbildlichen Taten den Fakten entspricht und inwieweit
sie eine echte Erfahrung wiedergeben. Er sucht nach der historischen Wahrheit. Dies
geschieht, wie Petrarca in der Praefatio zu De viribus illustris erläutert, durch eine
sorgfältige Quellenkritik, die dem Prinzip der verisimilitude verpflichtet ist, vor allem
aber durch die vergleichende Gegenüberstellung unterschiedlicher Quellen.40
Die historische Quellenkritik findet in der philologischen Textkritik ihre not-
wendige Ergänzung. Da die geschichtlichen Ereignisse nur durch Texte vermittelt
sind, setzt die Sicherung der Fakten die Sicherung der Texte voraus. Der Sinn für
historische Differenzen, der sich bei Petrarca ausbildet, impliziert ein Bewußtsein
für die Unsicherheit und Fragilität der textuellen Uberlieferung. Nach mittelalter-
lichem Verständnis bildet der schriftliche Text die Rede des Autors unmittelbar ab
und bewahrt sie sicher, das heißt: ohne wesentliche Verluste, auf. Die Texte und
ihre Verfasser sind demnach in den Handschriften verkörpert, die sie überliefern.41
Für den humanistischen Gelehrten hingegen, der sich der Unwägbarkeiten des
Überlieferungsgeschehens bewußt ist, löst sich der Text als ideale Größe von seinem
materiellen Träger ab.42 Da der Humanist um den korrupten und fragmentarischen
Erhaltungszustand des Uberlieferten weiß, fahndet er nach verschollenen Werken,
kollationiert er verschiedene Handschriften ein und desselben Werkes, um so die
Text-Corpora zu vervollständigen und sich einem hypothetisch erschlossenen, als
Ideal postulierten Originalzustand so weit wie möglich anzunähern. Petrarca ist
einer der ersten, der sich in diesem Sinne als Philologe betätigt.43 Die Restitution

40 De viribus illustris. S. 218-227, vor allem S. 220. - Vgl. N. Mann: Petrarch. S. 32: »His aim
[...) is to retell history as it really was rather than simply to retail the fables of the past, and
this he hopes to achieve by the critical evaluation and comparison of sources, and the iden-
tification of significant detail.« — Eine ausführliche Erörterung des petrarkistischen Konzepts
der historischen Prüfung bietet E. Keßler: Petrarca und die Geschichte. S. 2 6 - 3 3 .
41 Vgl. Jan-Dirk Müller: Der Körper des Buchs. Zum Medienwechsel zwischen Handschrift
und Druck. In: Materialität der Kommunikation. Hg. von Hans-Ulrich Gumbrecht und
Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1988. S. 203-217; Horst Wenzel: Hören und Sehen,
Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995. S. 208-225.
42 J.-D. Müller: Der Körper des Buchs. S. 214. - Aus einer anderen Perspektive beschreibt Ivan
Illich die Idealisierung des Textes. Eine Reihe von buchtechnischen Innovationen (Numerie-
rung der Blätter, Spalten und Zeilen; visuell erfaßbare Aufteilung der Seite mittels Initialen,
Rubriken und Randbuchstaben) erlaubt seiner Auffassung nach im scholastischen Mittelalter
die Umgestaltung der Pagina »von einer Partitur zum Textträger«. Es wird möglich, »sich den
Text als etwas von der physischen Realität der Buchseite Losgelöstes vorzustellen.« (I. Illich:
Im Weinberg des Textes. S. 10f.).
43 Im Jahre 1325 oder 1326 gelingt es Petrarca, die fragmentarisch erhaltene römische Geschichte
des Titus Livius (Ab urbe condita) durch Handschriftenvergleich zu vervollständigen. In das
Jahr 1345 fällt seine spektakuläre Wiederentdeckung der Briefe Ciceros an Atticus. - Zur
philologischen Praxis Petrarcas vgl. Giuseppe Billanovich: I primi umanisti e l'antichitä clas-
sica. In: Classical Influences on European Culture A.D. 500—1500. Edited by R. R. Bolgar.
Cambridge 1971. S. 57-66; Eckhard Keßler: Petrarcas Philologie. In: Petrarca 1304-1374.
Beiträge zu Werk und Wirkung. Hg. von Fritz Schalk. Frankfurt a. M. 1975. S. 97—112.
610 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

der Überlieferung umfaßt für ihn mithin nicht nur die Etablierung der historischen
Tatsachen, sondern auch die Herstellung verläßlicher und vollständiger Texte. His-
torische Kritik und Textkritik gehen seiner Ansicht nach Hand in Hand bei dem
Bemühen, die Kluft zwischen dem gegenwärtigen Zeitalter und dem Altertum zu
überbrücken und die Antike als geschichtlichen Erfahrungsraum zu rekonstruieren.
Die historische wie auch die philologische Prüfung des Überlieferten dient dem
Zweck, die Autorität der antiken Texte wiederherzustellen. Den Worten und Taten
der berühmten Männer des Altertums soll zu neuer Geltung verholfen werden.
Die Restitution der Autoritäten entbindet das >moderne< Moralsubjekt jedoch
nicht der Verpflichtung, ihnen gegenüber eine kritische Distanz zu wahren. Im
Gegenteil, diejenige Prüfung, auf die es Petrarca eigentlich ankommt, findet erst
statt, nachdem die Autorität der Texte und Tatsachen restituiert worden ist. Auch
wenn sie philologisch und historisch gesichert ist, rechtfertigt die Autorität keinen
blinden Akt der Unterwerfung. Eine derartige Blindheit registriert Petrarca bei
den Vertretern der Scholastik. In De sui ipsius et multorum ignorantia begründet er
seine anti-aristotelische Polemik paradoxerweise mit dem hohen Ansehen, das der
griechische Philosoph genießt: Aristoteles sei zu meiden, nicht weil er sich geirrt
habe, sondern weil seine Autorität so groß und seine Anhängerschaft so zahlreich
sei.44 Petrarca wirft den scholastischen Philosophen vor, autoritätshörig zu sein. Sie
eignen sich das aristotelische Gedankengebäude an, ohne es zuvor einer kritischen
Prüfung unterzogen zu haben. Die Autorität des großen Meisters hält sie davon
ab, einen selbständigen Gebrauch von ihrer Vernunft zu machen. Zwar sind die
scholastischen Philosophen, was ihr rationales Vermögen anbetrifft, alles andere als
träge — im Bereich der metaphysischen Spekulation und der logischen Analyse etwa
bringen sie eine bewundernswerte intellektuelle Virtuosität zur Entfaltung. Doch
mit >Selbstdenken< ist bei Petrarca etwas anderes gemeint als die bloße Betätigung
des Intellekts: Die Anhänger des Aristoteles, so argumentiert er, bleiben trotz ihres
vermeintlichen metaphysischen Tiefsinns nur an der Oberfläche, denn sie verweigern
ihrem Meister die innere Zustimmung; sie sind von seiner Philosophie nicht mit
ganzer Seele überzeugt.
Auf diesen Akt der inneren Zustimmung — der assensio oder des consensus - legt
Petrarca aber hohen Wert. Wenn er die Lektüre der antiken Texte als das wirkungs-
vollste Instrument zur Stärkung der virtus anempfiehlt, dann nur unter der Vor-
aussetzung, daß sie von einer derartigen inneren Zustimmung begleitet ist: »multo
maxime iugis lectio, ac pervigil scriptorumque nobilium monumenta profuerunt,
modo salubribus monitis, consensus animi non desit«.45 Die innere Zustimmung ist das
Resultat einer intensiven Prüfung, die zugleich die fremde Autorität und das eigene

44 De siu ipsius et multorum ignorantia. S. 1102: » Q u o in genere toto [ . . . ] maxime vitandus


Aristotiles, non quod plus errorum, sed quod plus autoritatis habet ac sequacium.«
45 De remediis utriusque fortunae. S. 2 (Hervorhebung von mir, C h . M . ) .
Lesen als Gespräch mit dem Autor 611

Selbst durchleuchtet. >Bin ich<, so soll sich der Prüfer fragen, >von der Richtigkeit
dieser Aussage wirklich überzeugt? Kann ich ihr mit meiner ganzen Seele zustim-
men?< Das seelische Organ, dem die Durchführung der Prüfung obliegt und das die
innere Zustimmung erteilt, ist die Urteilskraft. Petrarca verlangt vom >modernen<
Moralsubjekt, daß es über die Autoritäten des Altertums ein eigenständiges Urteil
fällt. Zu einer wirklichen Aneignung des Tradierten kann es nur dann kommen,
wenn das Subjekt sich seiner Urteilskraft bedient, deren prinzipielle Freiheit nicht
in Frage steht. »[QJuid enim de re qualibet iudicare possum nisi quod sentio? nisi
forte compellar, ut iudicio iudicem alieno; quod qui facit, iam non ipse iudicat, sed
iudicata commemorat.« 46 Petrarca fordert den >modernen< Leser dazu auf, von dieser
Freiheit Gebrauch zu machen. Er soll nicht das Urteil eines anderen wiedergeben, er
soll vielmehr selbst urteilen. Nur indem er der antiken Autorität nach gründlicher
Überlegung und aus freiem Willen zustimmt, kann er sie ganz in sich aufnehmen.
In diesem Fall legt er ihre Aussage nicht bloß in seinem Gedächtnis ab, sondern er
identifiziert sich mit ihr, er wird mit ihr eins. Er wahrt die Unabhängigkeit seines
Urteilsvermögens und sorgt doch dafür, daß die autoritative Wahrheit ihn in seinem
Innersten trifft und formend auf seinen Willen einwirkt.
Es hat also den Anschein, als habe Petrarca mit dem Konzept der inneren Zustim-
mung einen Weg gefunden, um den Abstand zu überwinden, der das >moderne< Mo-
ralsubjekt von den antiken Autoritäten trennt. Tatsächlich entnimmt er jedoch auch
dieses Konzept der antiken Uberlieferung. Zum einen formuliert Petrarca die soeben
zitierten Worte, welche die Freiheit des individuellen Urteilsvermögens dekretieren,
in explizit markierter Anlehnung an sein Vorbild Cicero. 47 Er beruft sich also auf eine
antike Autorität, um seine Unabhängigkeit von antiken Autoritäten zu rechtfertigen,
und stellt somit die Eigenständigkeit seines Urteilsvermögens in Frage.48 Mehr noch:
Auch das Konzept der inneren Zustimmung stellt eine antike Entlehnung dar. Es
ist stoischen Ursprungs. Die assensio (synkatathesis) bildet ein zentrales Element der
stoischen Urteilslehre.49 Die Stoa bestimmt das Urteil als einen Akt der Zustimmung,
der zwar allein in der Hand des Individuums liegt, der dieses aber, ist er erst einmal
vollzogen, innerlich zu verwandeln vermag und daher größte Vorsicht erfordert:

46 Ebd. S. 3. (»Wie kann ich denn über eine Sache urteilen, ohne daß ich es auch so empfinde?
Das hieße ja mich zwingen, mit fremdem Urteil zu urteilen! - wer das tut, der urteilt nicht
selbst, sondern referiert Urteile.« Die deutsche Übersetzung entnehme ich: D e remediis utri-
usque fortunae. Zweisprachige Ausgabe in Auswahl. Übersetzt und kommentiert von Rudolf
Schottländer. München 1975.).
47 Er verweist auf eine Passage aus Ciceros Briefen (Brief 17 aus der Korrespondenz zwischen
Cicero und Brutus). Vgl. ebd. S. 3.
48 Vgl. ebd.: »Ausim ne tantos inter viros hiscere? [...] Hinc auctoritate igitur, hinc aetate
promoneor, sed alterius magni cuiusdam, & antiqui viri succurrit auctoritas.« (»Darf ich es
wagen, gegen so große Männer aufzumucken? [...] Davor fühle ich mich zwar gewarnt durch
die Autorität des Altertums, aber zu Hilfe kommt mir die Autorität eines anderen, gleichfalls
dem Altertum angehörigen großen Mannes.«).
45 Vgl. A. A. Long / D . N. Sedley: T h e Hellenistic Philosophers. Bd. 1. S. 2 5 0 f „ S. 256f.
612 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

[stoic] judgment is not a cool inert act of intellect set over against a proposition, but an acknowl-
edgment, with the core of my being, that such and such is the case. To acknowledge a proposi-
tion is to realize in one's being its full significance, to take it in and be changed by it.50

Seneca macht dieses Konzept der inneren Zustimmung zur Grundlage des Lek-
türeverfahrens und der daran gekoppelten Theorie der imitatio, die er im 33. und
84. Brief seiner Epistulae morales vorstellt.51 Petrarca unternimmt offenkundig den
Versuch, das von Seneca propagierte Verfahren zu adaptieren.52 Er will eine antike
Lektüretechnik wiederbeleben, um die Wiederbelebung der Antike zu ermöglichen.
Er handelt mithin der von ihm selbst gewonnenen Einsicht in die geschichtliche
Alterität der Antike zuwider. Anstatt ein neues Lektüreverfahren zu konzipieren,
das der Fremdartigkeit der antiken Textzeugnisse gerecht wird, vertraut er auf die
stoische Variante der meditatio. Die Frage, ob diese Methode zum Erfolg führt,
oder ob Petrarca im konkreten, praktischen Umgang mit der antiken Überlieferung
nicht doch dazu genötigt wird, alternative Lektüretechniken zu entwickeln, soll im
folgenden anhand konkreter Textbeispiele untersucht werden.

2. Lesen und Schreiben als Selbsterprobung:


Petrarcas Revision der stoischen Lektürepraktiken

Das letzte Buch der aus vierundzwanzig Büchern bestehenden Sammlung von
Briefen, die Petrarca unter dem Titel Rerum familiarium libri herausgegeben hat,
weist eine auffällige Besonderheit auf. Die darin enthaltenen Briefe sind nicht an
Zeitgenossen und Freunde, sondern an die Geistesgrößen der Antike adressiert - an
Cicero, Seneca, Livius, Homer und einige andere. Petrarca beschließt sein Brief-
werk also mit dem Versuch, eine Brücke in die ferne Vergangenheit zu schlagen. Er
behandelt die antiken Autoren dabei genauso wie seine übrigen Briefadressaten: als
alte Bekannte, zu denen er in einer vertrauten Beziehung steht und die ihm mit allen
ihren persönlichen Eigenheiten gegenwärtig sind.

50
Martha C. Nussbaum: The Therapy of Desire. S. 381.
51
Vgl. dazu Kapitel V1.3 dieser Untersuchung.
52
Auch Petrarcas eigene Theorie der imitatio, die er in Famiiiares XXII.2 und XXIII. 19 ent-
wickelt, lehnt sich eng an die Vorgaben Senecas an. In der Forschung wird immer wieder
hervorgehoben, dal? Petrarca die imitatio nicht als ein unselbständiges Kopieren, sondern als
einen aktiven, schöpferischen Vorgang konzipiere und sich somit vom antiken Verständnis der
Nachahmung absetze. Doch auch Seneca akzentuiert die Autonomie und die ingeniöse Kraft
des Imitators. Zu Petrarcas Theorie der Nachahmung vgl. Hermann Gmelin: Das Prinzip
der Imitatio in den romanischen Literaturen der Renaissance. In: Romanische Forschungen
46 (1932). S. 83-360, hier: S. 118-127. Gmelin gelangt zu folgendem Ergebnis: »Petrarcas
Theorie der Imitatio ist eine äußerst feine persönliche Ausgestaltung der Gedanken Quin-
tilians und Senecas.« (Ebd. S. 126) Vgl. des weiteren Eckhard Keßler: Petrarcas Philologie.
S. 97-112; Th. Greene: The Light in Troy. S. 93-99.
Lesen als Gespräch mit dem Autor 613

Den Briefen an die großen Männer des Altertums stellt Petrarca im vierund-
zwanzigsten Buch zwei Episteln voran, die an Zeitgenossen gerichtet sind. Der
zweite Brief dient als eine Art Einleitung: In ihm erläutert Petrarca, wie er überhaupt
auf die Idee gekommen ist, eine Korrespondenz mit den längst verstorbenen Gei-
stesheroen zu führen. Der erste Brief, der, wie viele andere aus der Sammlung der
Epistohefamiliares, an Petrarcas Freund Philippe de Cavaillon adressiert ist, steht auf
den ersten Blick in keiner erkennbaren Beziehung zu dem Projekt eines epistolaren
Dialogs mit den Toten. Der Brief handelt von der unermeßlichen Flüchtigkeit der
Zeit (»de inextimabili fuga temporis«) und scheint somit eher einen Kontrapunkt zu
dem besagten Vorhaben zu bilden, das ja offenkundig darauf abzielt, die Zeitresistenz
der ruhmvollen antiken Autoritäten unter Beweis zu stellen.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß Petrarca diesen Brief mit Bedacht
an die Spitze des vierundzwanzigsten Buches gestellt hat. Denn wie er in den Briefen
an die antiken Autoren die glorreichen Begründer der abendländischen Kultur Wie-
deraufleben läßt, so blickt er im ersten Epistel des Buches auf seine eigenen Anfänge
als humanistischer Gelehrter zurück. Die Vergegenwärtigung der eigenen Vergan-
genheit ist zudem an eine kritische Reflexion auf die Leistungsfähigkeit der huma-
nistischen Lektürepraktiken gekoppelt - eben jener Lektürepraktiken, die es dem
Briefschreiber erlauben, sich mit den Geistesgrößen des Altertums so zu unterhalten,
als wären sie vertraute Zeitgenossen. Der erste Brief des vierundzwanzigsten Buches
dient mithin dazu, die Voraussetzungen zu klären, unter denen das humanistische
Projekt der Wiederbelebung antiker Kultur bei Petrarca steht.

Erfahrung der Zeit

Petrarca eröffnet den Brief mit einer Rückschau auf die letzten dreißig Jahre seines
Lebens.53 Er läßt die vergangene Zeit Revue passieren, und zwar mit Hilfe der in
dem vorliegenden Werk versammelten Briefe. Die Briefsammlung stellt ihm sein
Leben in kompakter, komprimierter Form vor Augen. Sie läßt den Zeitraum von
drei Dezennien, der im ersten Moment gewaltig erscheint, auf eine Kleinigkeit
zusammenschrumpfen und veranlaßt den Briefschreiber somit zu einer Reflexion
auf die Flüchtigkeit der Zeit, die den Menschen mit rasender Geschwindigkeit dem
Tod entgegenführt. Die Richtung, in die sich die Lebensrückschau Petrarcas bewegt,
scheint somit vorgezeichnet zu sein: Sie bereitet offenbar eine ganz konventionelle, in
christlichem Geist erfolgende Meditation über die Hinfälligkeit alles Irdischen vor.
Doch die Besinnung des Briefschreibers nimmt eine überraschende Wendung. Er
stößt bei der Durchsicht seiner Sammlung auf ein Dokument, das ihn in Erstaunen
versetzt. Einer der frühesten Briefe, die er - chronologisch geordnet — in sein Werk
aufgenommen hat, die an Raimundus Superanus (i.e. Raimondo Superani) adres-

53 Familiares XXIV. 1.1.


614 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

sierte Nummer 3 des ersten Buches, handelt von der Vergänglichkeit der Jugend
(»de flore etatis instabili«). 54 Petrarca wird durch diesen Brief daran erinnert, daß er
sich bereits als sehr junger Mann Gedanken über die Flüchtigkeit der Zeit gemacht
hat. Er wundert sich, daß er schon damals Einsichten über die Vergänglichkeit
artikulierte, die er jetzt, als alter Mann, nur bestätigen kann: »Nunc autem miror
quidem sed, fateor, verum scripsi.« 55 Wie, so fragt er, ist es überhaupt möglich,
daß ein junger Mensch, der in der Blüte seiner Jahre steht, den größten Teil seines
Lebens noch vor sich hat und voller Pläne und Hoffnungen steckt, zu solchen Er-
kenntnissen gelangt? Der Jüngling spricht ja über etwas, wovon er noch gar keine
Erfahrung haben kann. Dennoch - darauf beharrt Petrarca - bezeugt der frühe Brief
eine durchaus ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema. Woher bezieht der
junge Mann also sein Wissen?
Die Antwort liegt auf der Hand: Er bezieht es aus der Literatur. Der frühreife
Jüngling, so erläutert Petrarca, hat sein außergewöhnliches Zeitbewußtsein der
Tatsache zu verdanken, daß er die Bekanntschaft der richtigen Bücher gemacht
und sie auf die richtige Weise gelesen hat. Der junge Petrarca kann noch gar keine
direkte und persönliche Erfahrung von der Flüchtigkeit der Zeit besitzen, doch er
entnimmt sie der Literatur, genauer: er liest die entsprechenden Texte so, daß sie
ihm zur Erfahrung werden. Der junge Mann steht somit paradigmatisch für das
>moderne< Moralsubjekt ein, das vor die schwierige Aufgabe gestellt ist, sich in einem
erfahrungslosen Zeitalter echte experientia zu verschaffen.
Petrarca nimmt die unverhoffte Begegnung mit dem Zeugnis seines frühreifen
Zeitbewußtseins zum Anlaß, sich das Lektüreverhalten des jungen Mannes noch ein-
mal zu vergegenwärtigen. Er las damals die klassischen Autoren (Horaz, Vergil, Ovid,
Cicero und Seneca). Bei ihnen stieß er immer wieder auf tiefgründige Aussagen über
das Phänomen der Vergänglichkeit. 56 Im Unterschied zu seinen Altersgenossen nahm
er diese Aussagen aber nicht bloß beiläufig zur Kenntnis. Sein Lektüreverhalten war
in mehrerlei Hinsicht unzeitgemäß: »Hec in his similia legebam, non, ut mos etatis
est illius, soli inhians grammatice et verborum artificio, sed nescio quid aliud illic
abditum intelligens, quod non modo condiscipuli sed nec magister attenderet«. 57 Der
junge Petrarca war seinen Altersgenossen, ja seinem ganzen Zeitalter insofern voraus,
als er sich bei der Lektüre der Klassiker nicht für die Worte, nicht für die kunstvolle

54 Ebd. 1.3.
55 Ebd. XXIV. 1.3.
56 Ebd. XXIV. 1.4-8.
57 Ebd. XXIV. 1.5. (»Dies und ähnliches las ich, nicht, wie es die Sitte dieser Zeit ist, indem ich
nur die grammatische und die Kunst der Worte aufnahm, sondern so, daß ich irgendeinen
verborgenen Sinn mitlas, den nicht nur meine Mitschüler nicht erkannten, sondern dem auch
mein Lehrer keine Beachtung schenkte.«) (Die deutsche Übersetzung der Zitate aus Famiiiares
X X I V entnehme ich der folgenden Ausgabe: Francesco Petrarca: Epistolae familiare XXIV.
Vertrauliche Briefe, Lateinisch-Deutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort
von Florian Neumann. Mainz 1999 [excerpta classica. Bd. 18].).
Lesen ab Gespräch mit dem Autor 615

sprachliche Gestaltung, sondern für die Sachen, für die mitgeteilten Inhalte interes-
sierte. Sein Ansinnen bestand darin, den tieferen Sinn der alten Texte zu erfassen. Die
Klassiker galten ihm folglich nicht bloß als Muster des korrekten Sprachgebrauchs
oder der Beredsamkeit. Obwohl es sich um heidnische Autoren handelte, sah er
in ihnen vielmehr die Verkünder nützlicher und heilsamer Wahrheiten. Schon als
Schüler, so behauptet Petrarca, betätigte er sich als Proto-Humanist, dem es darum
zu tun war, die Wahrheiten zu verstehen, die in den Schriften der Alten enthalten
sind, und sie der eigenen Lebensführung dienstbar zu machen.
Der Briefschreiber führt das geschärfte Zeitbewußtsein des jungen Mannes auf
diese proto-humanistische Gesinnung zurück. Der junge Petrarca las die Klassiker
demnach nicht als Grammatiker, sondern als Philosoph, als Adept der philosophischen
ars vitae. Er folgte dabei der Anweisung Senecas, der den angehenden Philosophen
in den Epistulae morales dazu auffordert, die Schriften der Dichter im Hinblick auf
ihren Nutzen für das Leben, nicht aber unter dem Gesichtspunkt der sprachlichen
Schönheit zu lesen, und der seine auf die lebenspraktische Anwendung zielende Deu-
tungsmethode ausgerechnet am Beispiel des Vergil-Verses »fugit inreparabile tempus«
veranschaulicht.58 Der junge Petrarca las die Klassiker offenbar so, wie Seneca es ihm
vorführte: langsam und konzentriert, auf den Sinngehalt eines jeden Wortes achtend,
ganz darauf bedacht, sich in die dargestellte Sache zu versenken, sich das Fliehen der
Zeit bewußt, ja fühlbar zu machen, und fest dazu entschlossen, aus dieser verinner-
lichten Einsicht Konsequenzen für die praktische Lebensgestaltung zu ziehen. Er faßte
die Reflexion über die Vergänglichkeit, die er bei den Alten fand, nicht als unverbind-
liches Gedankenspiel auf, sondern als Zeugnis der Wahrheit (»testimonium veri«),
als Darbietung von Erkenntnissen, denen die Autoren mit ganzer Seele zugestimmt
hatten und die von ihren Lesern eine ähnliche Zustimmung erheischten.59 Während
seine Altersgenossen sich mit einer oberflächlichen Lektüre begnügten, während ihnen
das Gelesene infolgedessen so unwirklich und fremd wie ein Traum (»quasi somnia«)
vorkam, bemühte sich der junge Petrarca, den in den Texten dargestellten res durch
intensive meditatio eine derart aktuelle Präsenz zu verleihen, daß ihm ihre Wahrheit
einleuchtete: »michi iam tunc - omnia videntem testor Deum - et vera et pene presen-
tia videbantur.«60 Die Anstrengungen des jungen Lesers führten, wie der Briefschreiber
beteuert, zum Erfolg. Die Rede von der Flüchtigkeit der Zeit war fur ihn schließlich
kein abstrakter Gemeinplatz mehr, sondern eine lebendige Erkenntnis, der er seine
innere Zustimmung nicht verweigern konnte. Mit Hilfe des von Seneca übernom-
menen Lektüreverfahrens war es ihm gelungen, die geschriebenen Worte der Alten in
aktuelle Erfahrung umzuwandeln. Die antike Literatur bot adäquaten Ersatz ftir die
experientia, die unmittelbar zu erlangen ihm aufgrund seines Alters verwehrt war.

58 Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 108.23-28. — Das Vergil-Zitat entstammt den Georgien,
3.284.
59 Famiiiares XXIV. 1.6.
60 Ebd. XXIV. 1.11.
616 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästbetisierung der Selbsterkenntnis

Der Briefschreiber gründet seine Ausführungen über seine jugendlichen Lektüre-


erfahrungen und das daraus resultierende Vergänglichkeitsbewußtsein nicht auf sein
Gedächtnis. Er kann sich nicht unmittelbar daran erinnern, wie er damals über das
Problem der Vergänglichkeit dachte und auf welche Weise er die entsprechenden
Texte las. Daher m u ß er auf äußerliche Zeugnisse zurückgreifen, um die Geisteshal-
tung des jungen Mannes zu rekonstruieren. Zunächst verweist er ganz konkret auf
die Bücher, die sich seit jener Zeit in seinem Besitz befinden. Sie enthalten nämlich
deutlich sichtbare Spuren seiner jugendlichen Meditationstätigkeit. Die zahlreichen
Anstreichungen und Randbemerkungen, die der Briefschreiber in seinen alten
Büchern findet, werden als Beleg dafür präsentiert, daß er die klassischen Texte
bereits als junger Mann intensiv zu bearbeiten und einer philosophischen, auf die
Ergriindung der res abzielenden Lektüre nach dem Muster Senecas zu unterziehen
verstand.1*1
Petrarca betätigt sich somit als Archäologe seiner eigenen Lektürepraxis. Er
bedient sich dabei einer Methode, die auch heute noch in der Petrarca-Forschung
angewendet wird, um das Lektüreverhalten des Humanisten zu untersuchen. 62 Pe-
trarca selbst tritt sozusagen als der erste Petrarca-Philologe in Erscheinung. Das auf-
schlußreichste Dokument, auf das der alternde Humanist bei seiner philologischen
Selbst-Lektüre rekurrieren kann, ist aber nicht der in den Büchern verzeichnete
Randkommentar, sondern der in jugendlichem Alter verfaßte Brief an Raimundus
Superanus, der den Anlaß seiner Betrachtungen über die Flüchtigkeit der Zeit bildet.
Bemerkenswert an diesem Brief ist nicht allein die Tatsache, dajfein junger Mann
sich mit dem Thema der Vergänglichkeit beschäftigte. Signifikant, ja erstaunlich
erscheint Petrarca im Rückblick vielmehr die Art und Weise, wie er sich darüber
äußerte. Die Schreibweise gilt ihm als Zeugnis für die Aufrichtigkeit der Gesinnung,

61
Ebd. XXIV. 1.9f.: »Ego autem adolescens quanto his interlegendis ardore flagraverim aliquot
per annos, [...] libelli indicant qui michi illius temporis supersunt et signa mee manus tali-
bus presertim affixa sententiis, ex quibus eliciebam et supra etatem ruminabam presentem
futurumque illico statum meum. Notabam certe fide non verborum faleras sed res ipsas«.
(»Wie sehr ich aber als junger Mann für einige Jahre beim Lesen dieser Autoren von Begeis-
terung gepackt wurde, [...] zeigen die Bücher an, die mir aus dieser Zeit geblieben sind und
die eigenhändigen Anstreichungen der Sätze, denen ich etwas entlockte und über denen ich
sogleich meinen gegenwärtigen und zukünftigen Zustand wieder und wieder bedachte. Mit
einer gewissen Sorgfalt vermerkte ich nicht den äußeren Schmuck der Worte, sondern die
Dinge selbst.«).
62
Die Bücher, die sich aus Petrarcas Bibliothek erhalten haben, sind in den letzten Jahrzehnten
eingehend erforscht worden. Besondere Beachtung haben dabei die Rand- und Interlinearglos-
sen gefunden, die der humanistische Gelehrte eigenhändig darin verzeichnet hat. Sie wurden
herangezogen, um näheren Aufschluß über Petrarcas philologische Methode und über sein
Verhältnis zu bedeutenden Autoren, insbesondere zu Augustinus, zu gewinnen. Vgl. Giuseppe
Billanovich: Nella biblioteca del Petrarca: II Petrarca, il Boccaccio, e le Enarrationes inpsalmos
di S. Agostino. In: Italianistica medioevale e umanistica 3 (1960). S. 1—58; Francisco Rico:
Petrarca y el De vera religione. In: Italianistica medioevale e umanistica 17(1974). S. 313-364;
C. E. Quillen: Rereading the Renaissance. S. 77-86.
Lesen als Gespräch mit dem Autor 617

die der junge Mann in seinem Brief zum Ausdruck brachte. Auch hierin orientiert
sich Petrarca an Seneca. Im dreiunddreißigsten Brief der Epistulae morales kontras-
tiert Seneca die Schreibweise der Epikureer mit derjenigen der Stoiker. Während
die epikureischen Schriftsteller aufgrund ihrer unreflektierten Autoritätshörigkeit
meist nicht mehr als ein disparates Sammelsurium von Zitaten und vorgefertigten
Merksätzen zustande brächten, zeichneten sich die Werke stoischer Autoren durch
ihre gedankliche Kohärenz und stilistische Homogenität aus: »continuum est apud
nostros quicquid apud alios excerpitur.«63 Seneca erachtet die Kohärenz des Diskurses
als ein untrügliches Zeichen dafür, daß der Autor mit sich selbst übereinstimmt, daß
er die Erkenntnisse, die er darbietet, ganz verinnerlicht hat und folglich auch dazu
fähig ist, das zu tun, wovon er spricht.64 Um ein integrales Werk zu schaffen, muß der
Autor demnach das, worüber er schreibt, kritisch überprüfen — er darf nichts darin
eingehen lassen, was nicht seine innere Zustimmung gefunden hat.65
In dem frühen Brief an Raimundus Superanus nimmt der junge Petrarca explizit
auf diese Ausführungen Senecas Bezug. Er verweist auf die in der dreiunddreißigsten
Lucilius-Epistel zum Ausdruck gebrachte Verachtung des Stoikers für die als kindisch
gebrandmarkte Praxis des »captare floscolos«, der literarischen Blütenlese. 66 Der
Brief an Raimundus Superanus gibt sich ostentativ als das Gegenteil einer solchen
Blütenlese zu erkennen. Zwar beruft sich der junge Petrarca auf antike und christli-
che Autoritäten, um seine Ausführungen über die Vergänglichkeit zu stützen, doch
bemüht er sich darum, die von den anderen übernommenen Argumente organisch
mit seinen eigenen Ideen zu verbinden. Anstatt eine lockere Folge von Lesefürchten
zu präsentieren, strebt er danach, einen kohärenten Gedankengang zu entfalten
und ein dichtes textuelles Gewebe — einen contextus — zu knüpfen. Auf diese Weise
demonstriert er, daß die Flüchtigkeit der Zeit für ihn mehr ist als ein literarischer
Topos, mehr auch als ein abstraktes philosophisches Konzept. Der junge Petrarca
versucht glaubhaft zu machen, daß er aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit
den Zeugnissen der Antike dazu in der Lage sei, den reißenden Fluß der Zeit zu er-
fahren, ihn am eignen Leibe zu spüren: »Sentio me, michi crede, nunc, dum maxime
florere videor, maxime ad arescendum pergere«.67

Lektüre der Zeit

Der alternde Humanist führt seinen frühen Brief an Raimundus Superanus als
Zeugnis dafür an, daß er bereits als junger Mann ein klares Bewußtsein von der
Vergänglichkeit des Irdischen besessen habe. Der Brief soll zugleich die Effektivität

63
Seneca: Ad Lucilium epistulae morales. 33.3.
64
Vgl. Kapitel VI.3 dieser Untersuchung.
65
Vgl. Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 84.7: »Adsentiamur ill is fideliter et nostra faciamus,
ut unum quiddam fiat ex multis«.
66
Famiiiares 1.3.4 (mit Bezug auf Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 33.7).
67
Famiiiares 1.3.2 (Hervorhebung von mir, Ch. M.).
618 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

des von Seneca übernommenen Lektüreverfahrens bezeugen. Der junge Petrarca


bediente sich dieser Technik, um den antiken Autoritäten eine aktuelle Präsenz zu
verleihen; mit ihrer Hilfe war es ihm möglich, sich eine Erfahrung zu erwerben, die
ihm aufgrund seines jugendlichen Alters eigentlich noch gar nicht zugänglich war.
Sein Beispiel scheint somit die humanistische These zu bewahrheiten, daß die inten-
sive Beschäftigung mit der antiken Literatur die Erfahrungsarmut des gegenwärtigen
Zeitalters zu kompensieren vermag. Mehr noch: Der Briefschreiber weist daraufhin,
daß das durch innere Zustimmung beglaubigte Erfahrungswissen, das sich der junge
Petrarca erwarb, positive Auswirkungen auf seine praktische Lebensführung hatte.
Im Unterschied zu seinen Altersgenossen, die sich, ohne an die Vergänglichkeit dieser
Güter zu denken, große Hoffnungen auf Familienglück, sozialen Aufstieg, Reichtum
und berufliches Fortkommen machten, vermied er es zunächst, sich an zeitliche
Gegenstände zu binden, da diese, wie ihm aufgrund seiner Lektüre bekannt war,
der fortuna eine große Angriffsfläche darbieten. 68 Das Wissen, das ihm die antiken
Autoritäten vermittelt hatten, machte den jungen Mann also gegen die Versuchun-
gen der sinnlichen Welt immun.
Oder hätte ihn doch dagegen immun machen mUssen. Denn der alternde Hu-
manist muß bei seiner Rückschau mit Befremden feststellen, daß die Lektüremedi-
tation den jungen Mann auf längere Sicht eben nicht davor bewahren konnte, sich
in heillose Irrtümer und Leidenschaften zu verstricken, die sein Leben schließlich
in eine falsche Bahn lenkten. Dezent spielt der Briefschreiber auf seine Liebe zu
Laura an. 69 Der Beginn dieser Liebe fällt in den gleichen Zeitraum, in dem der
junge Petrarca sich vorgeblich so ernsthaft mit den Schriften der antiken Autoren
beschäftigte. 70 Der Briefschreiber nimmt daher mit Verwunderung zur Kenntnis,
daß er damals zum einen eine unwiderlegliche, von seiner inneren Zustimmung
begleitete Einsicht in den Unwert des Vergänglichen besaß, zum anderen aber sein
Herz ganz an ein vergängliches Wesen verlor: »quo magis, id reputans, miror me tales
inter curas iuvenilibus tarnen amoribus et erroribus potuisse raptari.«71 Petrarca muß
zugeben, daß das Wissen, das der junge Mann durch Lektüre-Meditation gewon-
nen hatte, sich letztlich in der Praxis nicht bewährte. Die Effektivität des stoischen
Lektüreverfahrens steht mit einem Male wieder in Frage. Möglicherweise hatte der
junge Petrarca der Einsicht in die Flüchtigkeit der Zeit eben doch nicht mit voller
Seele zugestimmt; offenbar hatte diese Einsicht eben doch nicht in seinem Inneren
Wurzel fassen können.

68 Ebd. XXIV. 1.18.


69 Ebd. XXIV. 1.12.
70 Die erste Begegnung mit Laura soll Petrarca zufolge am 6. April 1327 stattgefunden haben.
Der Brief an Raimundus Superanus ist nicht datiert; Petrarca hat gemeinsam mit ihm in den
späten zwanziger Jahren das Geschichtswerk des Livius studiert. Die Abfassung des Briefes
fällt also vermutlich in diese Zeit.
71 Famiiiares X X I V . 1.12.
Lesen als Gespräch mit dem Autor 619

Die Erinnerung an das Laura-Erlebnis, das die hehren Absichten des Jünglings
durchkreuzte, nötigt den Briefschreiber dazu, seine Einschätzung zu korrigieren.
Behauptete er kurz zuvor noch, daß die meditative Lektüre dem jungen Mann ei-
nen vollwertigen Ersatz für die fehlende Erfahrung geboten und ihm eine lebendige
Vorstellung von der fliehenden Zeit vermittelt habe, so erklärt er nun, daß ihm
die Vergänglichkeit des Irdischen erst in fortgeschrittenem Alter wirklich bewußt
geworden sei. Jetzt erst, da der größte Teil seines Lebens hinter ihm liegt, weiß er
aus eigener Erfahrung, was er damals den anderen nur glauben konnte: »quod doctis
viris ante credideram michi iam credo, et quod opinabar scio«.72 Als junger Mann
besaß er mithin nur ein Scheinwissen, eine Meinung, einen Glauben. Damals, so
argumentiert der Briefschreiber, gehorchte er lediglich der Autorität der Alten. Jetzt
aber ist er aufgrund seiner Lebenserfahrung selbst eine Autorität: »ipse michi testis,
ipse auctor ydoneus.«73 Der Briefschreiber vollzieht mit diesen Äußerungen eine
unerwartete Kehrtwendung. Im ersten Teil des Briefes will er seinen Adressaten noch
davon überzeugen, daß er als junger Mann kein autoritätshöriger Leser, sondern ein
auctor war - einer, der seine durch eigenständiges Urteilen erworbene Autorität in
selbst verfaßten Texten unter Beweis zu stellen vermochte. Hier dagegen versucht der
Briefschreiber, sein gegenwärtiges Ich auf Kosten seines vergangenen zu profilieren.
Die antike Literatur gilt ihm plötzlich nicht mehr als eine privilegierte Quelle der
experientia. War er eben noch der Ansicht, daß sich Lebenserfahrung auch durch
Lektüre gewinnen läßt, so spielt er nun das Leben gegen das Lesen aus: »nunc [...]
quod legebam video, quod suspicabar experior«.74 Was es mit der Flüchtigkeit der
Zeit wirklich auf sich hat, kann demnach nur derjenige wissen, der sie selbst - am
eigenen Leibe - erfahren hat, und diese Erfahrung wird dem Menschen erst in
einem gewissen Alter zuteil. Das Leben erscheint nun als der beste, allein maß-
gebliche Lehrer; die Literatur, so erfahrungsgesättigt sie auch sein mag, kann dafür
keinen adäquaten Ersatz bieten. Das humanistische Projekt der Charakterbildung
durch Lektüre, das der Briefschreiber am Beispiel seiner jugendlichen Studien zu
veranschaulichen suchte, wird somit wieder in Zweifel gezogen. Die nach stoischem
Muster erfolgende Aneignung der antiken Autoritäten hat Petrarca letztlich doch
nichts eingebracht. So sehr er sich darum bemühte, die Flüchtigkeit der Zeit mit
Hilfe von einschlägigen Textzeugnissen zu verinnerlichen, das Wissen, das er dadurch
erlangte, reicht nicht an die >authentische< Erfahrung heran, die ihm nur das Leben
selbst vermitteln konnte.
Der Briefschreiber behauptet, ein direkt aus dem Leben geschöpftes Erfah-
rungswissen über die Vergänglichkeit des Irdischen zu besitzen. Er hat nicht bloß
eine ungefähre Vorstellung von dem Fliehen der Zeit, sondern er ist dazu in der

72 Ebd. XXIV. 1.31.


73 Ebd. XXIV. 1.24.
74 Ebd. XXIV. 1.23.
620 Von der Hermeneutik des Willens zur Asthetisierung der Selbsterkenntnis

Lage, dieses unmittelbar wahrzunehmen: »video nunc tantam et tarn rapidam vite
fugam«. 75 Das Verrinnen der Zeit ist ein Gegenstand seiner Empfindung: »Sentio
singulos dies horasque et momenta me ad ultimum urgere«.76 Das gleiche Verbum
sentire verwendete bereits der junge Petrarca in seinem Brief an Raimundus Supera-
nus, um seine Zeiterfahrung zu markieren. Dort versuchte er, diese der Literatur
entnommene Erfahrung mit literarischen Mitteln zu beglaubigen - nämlich durch
seine Schreibweise, die dem Ziel verpflichtet war, einen contextus, ein einheitliches
Ganzes herzustellen. Da der Verfasser von Famiiiares XXIV. 1 die Zeiterfahrung
des jungen Mannes als unzulänglich entlarvt hat, erwartet man, daß er sich nun
einer anderen Strategie der Beglaubigung bedient. Er müßte über die Vorfälle und
Erlebnisse berichten, denen er sein Zeitbewußtsein zu verdanken hat; er müßte die
Erfahrung der Vergänglichkeit beschreiben, die ihm zuteil wurde. Der Briefschreiber
behauptet, durch das Leben und nicht durch die Literatur über das Wesen der Zeit
belehrt worden zu sein, folglich erwartet der Leser, daß er konkret auf sein Leben
Bezug nimmt, um die Autorität zu begründen, mit der er über die Vergänglichkeit
spricht. Doch diese Erwartung wird zunächst enttäuscht. Petrarca tut sich offenbar
schwer damit, den Bereich der Literatur zu verlassen. Anstatt seine eigenen Erfah-
rungen mitzuteilen, präsentiert er seinem Adressaten erst einmal eine lange Liste
von dicta zum Topos der fiiga temporis, die der antiken Literatur entnommen sind. 77
Diese dicta werden ohne verbindenden Kommentar aneinandergereiht. Petrarca
betreibt also eben jene Form der literarische Blütenlese, die er in seinem frühen Brief
unter Berufung auf Seneca als Zeichen eines unreifen Geistes abgelehnt hatte. Der
Briefschreiber ist sich der Fruchtlosigkeit dieser Tätigkeit durchaus bewußt; er bricht
sie daher unvermittelt wieder ab, und zwar nicht ohne eigens darauf hinzuweisen,
daß sie eines Greises unwürdig ist.78
Dem zweiten Anlauf, den Petrarca unternimmt, um seine Zeiterfahrung unter
Beweis zu stellen, scheint ein besserer Erfolg beschieden zu sein. Er wendet sich nun
endlich seinem eigenen, individuellen Dasein zu. Wer sich die Vergänglichkeit der
Dinge bewußt machen will, so behauptet er, der braucht nur auf sein vergangenes
Leben zurückzublicken - vorausgesetzt, daß er überhaupt schon über eine Vergan-
genheit verfügt, also ein gewisses Stadium der Reife erreicht hat: »Quis enim non
videat vite cursum, presertim ex quo vie medium transivit?«79 Ein derartiger Rück-
blick läßt die großen körperlichen wie auch geistigen Veränderungen hervortreten,
die das Individuum im Laufe seines Lebens erlitten hat. Der Rückblickende kann

75
Ebd. XXIV. 1.13 (Hervorhebung von mir, Ch. M.).
76
Ebd. XXIV. 1.13 (Hervorhebung von mir, Ch. M.).
77
Ebd. XXIV. 1.4-8.
78
Ebd. XXIV. 1.9: »Mitto alios; operosum est enim singulos et singula prosequi et puerile poti-
usquam senile Studium flosculos decerpere«.
79
Ebd. XXIV. 1.16. (»Wer nämlich würde nicht den Lauf des Lebens sehen, vor allem von dort
aus, wo er die Hälfte des Weges bereits überschritten hat?«).
Lesen als Gespräch mit dem Autor 621

das Wirken der Zeit an sich selbst wahrnehmen. Er erkennt, daß er in einem stetigen
Prozeß des Vergehens begriffen ist. Die Lebensrückschau verheißt die Möglichkeit
einer direkten Zeiterfahrung.
Es hat mithin den Anschein, als habe der Briefschreiber einen Weg gefunden, auf
dem er ein Bewußtsein seiner Vergänglichkeit erlangen kann, ohne die Mittlerdienste
der Literatur in Anspruch nehmen zu müssen. Doch auch dieser Schein trügt. Der
Lebensrückblick, den Petrarca in Famiiiares XXIV. 1 anstellt, ist ja gerade keine un-
mittelbare Schau. Vielmehr greift er zu diesem Zweck auf äußere Zeugnisse zurück
— auf seine alten Bücher etwa, die er nach den Spuren seiner jugendlichen Lektü-
reaktivität durchsucht, vor allem aber auf die Sammlung seiner Briefe, welche die
einzelnen Stationen seines Lebens dokumentieren. Der Briefschreiber gesteht, daß
er sich ohne diese Zeugnisse keine klare Vorstellung davon machen könnte, was für
ein Mensch er in seiner Jugend war. Die Textzeugnisse, nicht das Gedächtnis, halten
fest, wie er damals dachte und fiihlte. Nur sie erlauben es ihm, einen Eindruck von
dem Wandel zu gewinnen, den er seitdem durchgemacht hat. Petrarcas Rück blick
ist in Wirklichkeit eine Selbstlektüre. Das Bewußtsein der Vergänglichkeit, das der
Briefschreiber auf dem Wege der Retrospektive erlangt, ist durch die Lektüre vermit-
telt. Petrarca muß sich die Vergänglichkeit seines Ichs bewußt machen, indem er den
Dokumenten seines Lebens, die bestimmte Phasen seines Werdens ausschnitthaft
fixieren, eine zeitliche Dynamik unterlegt. Anhand der Zeugnisse aus seiner Vergan-
genheit liest er den Zeitfluß in sein Leben hinein. Die Flüchtigkeit der Zeit ist nicht
unmittelbar ein Gegenstand der Wahrnehmung, sondern ein Deutungskonstrukt.
Die Situation des alternden Humanisten, der sich seine Vergänglichkeit mittels
des Lebensrückblicks vergegenwärtigen will, ist folglich gar nicht so sehr von derjeni-
gen des jungen Mannes verschieden, der sich mit Hilfe der antiken Autoritäten eine
Vorstellung von der Flüchtigkeit der Zeit zu verschaffen sucht. Beide sind Leser der
Zeit; beiden unternehmen den letztlich zum Scheitern verurteilten Versuch, Lektüre
in Erfahrung umzuwandeln, sich die dargestellte res ganz zu vergegenwärtigen und
ihr innerlich zuzustimmen, um den eigenen Willen zu formen.

Experimente mit der Zeit

Durch den Rückblick auf die bereits durchlaufene Spanne seines Lebens gewinnt
der Briefschreiber ein Bewußtsein seiner Vergänglichkeit, das sich jedoch als un-
zulänglich erweist. Sein Rückblick ist in Wirklichkeit eine Lektüre, die ihm keine
unmittelbare Zeiterfahrung gewährt. In dem Bemühen, sich eine solche Erfahrung
zu verschaffen, schlägt Petrarca daher im Schlußteil seiner Epistel einen anderen
Weg ein. Er versucht, der Zeit noch näher auf den Leib rücken, indem er nicht den
umfassenderen Zeitraum seines bisherigen Lebens, sondern einen kleinen Ausschnitt
daraus auf den Prüfstand stellt. Der Briefschreiber konzentriert sich nun auf die
Gegenwart und auf das, was eben noch Gegenwart war, die jüngste Vergangenheit.
Er will sich bewußt machen, wie die Zeit jetzt, sozusagen unter seinen Augen, ver-
622 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

rinnt, wie er sich in einem eng begrenzten Zeitraum wandelt. Doch erneut gelingt
es ihm nicht, das Vergehen der Zeit unmittelbar wahrzunehmen. Wie im Falle des
Lebensrückblicks braucht er dazu vielmehr ein Medium. Dieses Medium ist die
Schrift. Petrarca beobachtet das Vergehen der Zeit beim Schreiben, genauer: er
beobachtet es mittels des Schreibens. Das Schreiben dient ihm als Maßstab, um die
Geschwindigkeit zu ermessen, mit der die Zeit vergeht:
Brevi mutatus oris nec minus animi habitus, mutati mores, mutate cure, mutata studia; nil
est michi quale tunc fuerat, non dico dum epystolam illam [ad Raimundum Superanum]
scripsi, sed dum hanc scribere incepi. Nunc eo, et sicut hie calamus movetur sic ego moveor,
sed multo velocius; hie enim pigre dictanti animo obsequitur, ego dum nature legem sequor,
propero curro rapior ad extrema iamque oculis metam cerno. Quicquid placuit displicet,
quiequid displieuit placet. 80

Petrarca hat sich verändert, und zwar nicht nur seit jener weit zurückliegenden
Jugendzeit, als er den Brief an Raimundus Superanus verfaßte, sondern auch seit
dem erst kürzlich vergangenen Moment, in dem er die vorliegende Epistel zu
schreiben begann. Der Wandel, der ihn innerhalb dieser kurzen Zeitspanne befallen
hat, ist zwar nicht groß. Er hat sich auf kaum merkliche Weise vollzogen. Doch der
aufmerksame, sensible Leser findet diese Veränderung in dem vorliegenden Brief
verzeichnet, denn die Schrift folgt der Bewegung des Geistes. Sie hält auch kleinste
Verschiebungen im geistigen Gefüge des Briefverfassers fest. Als Abbild des beweg-
lichen Geistes ist die Schrift zugleich auch ein Abbild der unaufhaltsam eilenden
Zeit, deren Gesetz der Briefschreiber unterliegt. Doch Geist und Zeit bewegen sich
nicht synchron. 81 Im Vergleich mit der rasenden Bewegung der Zeit erscheint der
Geist träge und langsam. Das Schreibrohr gibt das Tempo des Geistes wieder, eben
deshalb hinkt es der Zeit hinterher. Das Denken stockt, die Zeit aber bewegt sich
immer weiter. Die Schrift ist also nur ein indirektes Abbild der Zeit.
Diese Diskrepanz zwischen Geist und Zeit wird Petrarca hier und jetzt, beim
Schreiben seines Briefes bewußt. Er läßt den Adressaten somit unmittelbar an seiner
Entdeckung teilhaben:
Ecce ad hunc locum epystole perverneram deliberansque quid dicerem amplius seu quid non
dicerem, hec inter, ut assolet, papirum vacuam inverso calamo feriebam. Res ipsa materiam

80 Ebd. XXIV. 1,24f. (»In kurzer Zeit hat sich das Gesicht verändert, und nicht weniger die geistige
Haltung, die Gewohnheiten, die Sorgen, die Studien; nichts ist für mich, wie es einst war, ich
rede nicht von der Zeit, als ich jenen Brief [an Raimundus Superanus] schrieb, sondern von
der, als ich diesen zu schreiben begonnen habe. Ich bewege mich jetzt fort, und so wie hier das
Schreibrohr bewegt wird, so werde ich bewegt, aber sehr viel schneller; das Schreibrohr nämlich
folgt dem trägen Geist, der diktiert, ich, der ich dem Gesetz der Natur folge, eile, laufe, werde
dem Ende entgegen fortgerissen und habe schon das Ziel vor Augen. Was mir mißfallen hat,
gefällt mir, was mir gefallen hat, mißfällt mir.« [Übersetzung modifiziert]).
81 Vgl. auch ebd. XXIV. 1.13: »video nunc tantam et tam rapidam vite fugam, ut vix illam animo
metiri possim, et cum incomparabilis animi sit velocitas, prope velocior vita est.« (»Ich sehe
nun die so große und so schnelle Flüchtigkeit des Lebens, daß ich sie kaum mit dem Geist
messen kann, und wenn die Geschwindigkeit des Geistes unvergleichlich ist, so ist die des
Lebens noch ein bißehen größer.«).
Lesen als Gespräch mit dem Autor 623

obtulit cogitanti inter dimensionis morulas tempus labi, meque interim collabi abire deficere
et, ut proprie dicam, mori. 82

Während der Briefschreiber überlegt, während er nach Gedanken und Worten sucht,
mit denen er die Zeit erfassen kann, läuft ihm die Zeit davon. Prägnanter läßt sich
die Unerreichbarkeit der Zeit für das Denken nicht in ein Bild fassen. Petrarcas
Denken ist im Wortsinne ein NachA&nktn - es kommt immer zu spät. Die Unter-
brechung des Ideen- und Schreibflusses, das leere Blatt Papier, das der Briefschreiber
als Trommel benutzt, um seine Gedanken auf Trab zu bringen, das ihm aber zugleich
das unaufhaltsame Fortschreiten der Zeit in Erinnerung ruft: all dies veranschaulicht
die Eitelkeit des Vorhabens, die Zeit zu denken und wahrzunehmen, es indiziert die
Hybris eines Geistes, der es unternimmt, sich mit der alles verschlingenden Zeit zu
messen. Der Geist kann die Zeit nicht einholen; die Zeit läßt sich nicht unmittel-
bar zum Gegenstand der Erfahrung machen. 83 Zeitbewußtsein - zu dieser Einsicht
gelangt der Briefschreiber — ist immer nur in vermittelter, negativer Form möglich.
Petrarca erlangt ein Bewußtsein der fliehenden Zeit, indem er sich klar macht, daß
sie sich ihm in radikaler Weise entzieht, daß er sie weder direkt denken, noch sehen,
noch fühlen kann.
Er muß somit das Scheitern seines Vorhabens eingestehen, unmittelbare Zeiter-
fahrung zu gewinnen. Das Bild des in seinem Denk- und Schreibprozeß innehalten-
den, der Zeit hilflos hinterherschauenden Briefverfassers bringt dieses Scheitern zum
Ausdruck. Es ist ein memento mori. Der plötzliche Abbruch der Gedankenbewegung
gemahnt an die Schwäche und Hinfälligkeit des menschlichen Geistes. Er weist auf
die definitive Unterbrechung voraus, die der Tod im Denken des Briefschreibers
bewirken wird. Doch paradoxerweise besagt das Bild zugleich auch das Gegenteil.
Es führt vor, wie der Briefschreiber die Schwäche seines Geistes überwindet. Denn
dadurch, daß er auf das Versiegen des Gedanken- und Schreibflusses reflektiert,
bringt er ihn wieder zum Fließen. In dem Moment, da Petrarca nicht mehr weiß, was
er denken und schreiben soll, macht er eben dies zu seinem Thema und sorgt somit
dafür, daß es zu keiner Unterbrechung kommt. 84 Die rasende Zeit bringt das Schrei-

82
Ebd. XXIV. 1.26. (»Schau nur: Bis zu dieser Stelle bin ich mit dem Brief gekommen, und in
Gedanken darüber, was ich noch mehr sagen und was ich nicht sagen sollte, habe ich unterdessen,
wie es zu geschehen pflegt, mit dem umgedrehten Schreibrohr auf das leere Blatt geklopft. Die
Sache selbst bot dem Denkenden einen neuen Stoff zum Nachdenken, daß nämlich zwischen
der zeitlichen Verzögerung die Zeit vergeht, und daß ich inzwischen zusammenfalle, hingehe,
ermatte und - um es beim Wort zu nennen — sterbe.«).
83
Vgl. dagegen K. Stierle, der Famiiiares XXIV. 1.26 als den Durchbruch des Briefschreibers zur
unmittelbaren Erfahrung der fliehenden Zeit deutet: »Das >Memento mori< ist hier von einer
Maxime der Lebensweisheit zu einer dramatischen Analyse des seiner Sterblichkeit innewerden-
den Bewußtseins geworden, das den Freund in die plötzlich aufbrechende Erfahrung einbezieht.«
(K. Stierle: Francesco Petrarca. S. 196.).
84
Dieses Verfahren wendet Petrarca in seinen Briefen immer wieder an. Ein anschauliches Beispiel
dafür liefert Famiiiares XIII.7. - Vgl. zu dieser Verfahrensweise auch die Überlegungen von
N. Mann: Petrarch. S. I6f., S. 88.
624 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

ben zwar zum Stocken, aber sie bringt es nicht ganz zum Erliegen. Der Briefverfasser
zeigt somit zum einen die Ubermacht der Zeit auf, der kein Mensch zu entrinnen
vermag. Sie ist als Bestandteil einer ihrem nach Wesen unerkennbaren, kontingenten
Welt ihrerseits unerkennbar; sie entzieht sich dem menschlichen Denken in dem
Maße, in dem sie sein Dasein beherrscht. Z u m anderen aber feiert der Briefschreiber
einen kleinen Triumph über die Zeit. Er schreibt und denkt weiter, obwohl ihn die
allgewaltige Zeit unter Druck setzt und zum Verstummen nötigt. Der Briefverfasser
führt vor, wie er sich durch eine selbstreflexive Wendung gegenüber der Übermacht
der Zeit zu behaupten vermag.
Die selbstreflexive Komponente, die der Schreibende zur Geltung bringt, wirkt
sich dahingehend aus, daß sein Brief am Ende eher ein Portrait seines eigenen Geistes
liefert als eine anschauliche Darstellung der Zeit. Die Person des Verfassers schiebt
sich vor die res, von der die Epistel handelt. Anstatt, wie angekündigt, die Bewegung
der Zeit sichtbar zu machen, macht Petrarca die Bewegung seines Denkens sichtbar.
Wenn der Adressat seines Briefes bei seiner Lektüre ein Bild vor Augen hat, dann
ist es nicht dasjenige der verrinnenden Zeit, sondern dasjenige des Verfassers, wie
er, mit seinem Schreibrohr bewaffnet, seinem flüchtigen Gegenstand hinterhereilt
oder ungeduldige Klopfzeichen von sich gibt. Die Meditation, die Petrarca in seiner
Epistel durchführt, vergegenwärtigt nicht den Gegenstand, den sie zu erfassen sucht,
sondern die Person des Meditierenden.
Bemerkenswert an der Vorgehensweise des Briefverfassers ist, daß er den Denk-
prozeß in den Schreibprozeß hineinverlegt. Er denkt beim Schreiben, er macht
seinen Adressaten unmittelbar zum Zeugen seiner Gedankenarbeit. Darin besteht
ein wesentlicher Unterschied zum Schreibverfahren Senecas, auf das Petrarca in
seinem frühen Brief an Raimundus Superanus Bezug nimmt. Der Autor, der dem
Muster Senecas folgt, trägt nur solche Wahrheiten vor, die er sich durch innere
Zustimmung ganz zu eigen gemacht hat. Durch die Kohärenz seiner Ausführungen
stellt er die vollkommene Assimilation des erworbenen Wissens unter Beweis. Der
Verfasser von Famiiiares XXIV. 1 dagegen bietet keine angeeigneten Wahrheiten dar.
Er führt vielmehr vor, wie er sich darum bemüht, sich die Wahrheit über die Zeit
anzueignen, er zeigt den ProzeJf der Aneignung auf, das Denken im Vollzug, die un-
abgeschlossene Suche. Petrarca präsentiert ein Individuum, das verschiedene Formen
des Umgangs mit dem Problem der Vergänglichkeit erprobt. Er experimentiert beim
Schreiben mit dem Phänomen der Zeit. Sein Brief ist kein Dokument authentischer
Zeiterfahrung, sondern er zeigt das Subjekt, wie es den Versuch unternimmt, sich
solche Erfahrung zu verschaffen. Seneca verlangt, daß der Wissende mit seinem
Wissen, der Autor mit seinem Werk eins sei, denn diese durch den eigenständigen
Gebrauch des iudicium erzeugte Einheit, die zugleich auch die Integrität des Textes
begründen soll, kann seiner Ansicht nach die Wahrheit und den praktischen Wert
der mitgeteilten Kenntnisse verbürgen. Für den Verfasser von Famiiiares XXIV. 1
spielt Senecas Leitvorstellung der Textintegrität keine entscheidende Rolle mehr.
Sein Text hat ein disparates Ansehen. Literarische Blütenlese, autobiographische
Lesen als Gespräch mit dem Autor 625

Rückschau und essayistische Reflexion werden lose miteinander verbunden. Zudem


ist der Briefschreiber mit sich selbst uneins: Anfangs behauptet er, schon als Jüngling
über Zeiterfahrung verfügt zu haben, erklärt aber dann, sie erst im Alter erworben
zu haben, um schließlich zu demonstrieren, daß die Zeit sich der Erfahrung des
Menschen grundsätzlich entzieht. Diese Widersprüche würden Seneca dazu veran-
lassen, an der Glaubwürdigkeit des Briefverfassers zu zweifeln. Der Verfasser von
Famiiiares XXIV. 1 sieht darin eher den Ausdruck eines dynamischen Geistes und
einer komplexen Persönlichkeit. Widersprüche verweisen seiner Ansicht nach auf
ein lebendiges Denken, ein Denken im Prozeß.
Petrarca kehrt somit den von Seneca aufgestellten Begründungszusammenhang
um. Glaubwürdig erscheint ihm nicht etwa derjenige, der stets mit sich selbst
übereinstimmt, sondern derjenige, der um der Wahrheit willen dazu bereit ist, von
sich selbst abzuweichen, ja zu sich selbst in Gegensatz zu treten. Als ein besonders
glaubwürdiger Zeuge für die fuga temporis gilt ihm unter den antiken Autoritäten
deshalb nicht etwa der Stoiker Seneca, auch nicht Horaz oder Cicero, sondern aus-
gerechnet der Liebesdichter Ovid. Weil Ovids Dichtung wollüstig und übermütig
(»lascivior«), dem Sinnlichen und Vergänglichen zugetan ist, wirken seine Aussagen
über die Flüchtigkeit der Zeit wie ein ernsthaftes und aufrichtiges Bekenntnis
(»severior graviorque confessio«). 85 Die Diskrepanz zwischen diesen Aussagen und
dem Kontext, in dem sie stehen, bezeugt paradoxerweise ihre Wahrhaftigkeit. Ovids
Reflexionen auf die Vergänglichkeit machen auf Petrarca einen besonders starken
und überzeugenden Eindruck, da sie aus dem Rahmen dessen fallen, was bei Ovid
sonst üblich ist. Es erscheint dem Humanisten wahrscheinlicher und glaubwürdiger,
daß ein Individuum den Nebel des Irrtums, der ihn gefangen hält, nur punktuell
zu durchbrechen vermag, als daß es einem Menschen gelingen könnte, die Wahr-
heiten, die er sich angeeignet hat, permanent zu aktualisieren. Eine vollkommen
homogener Diskurs setzt sich dem Verdacht aus, stilisiert zu sein, wohingegen eine
mit Unstimmigkeiten und Widersprüchen behaftete Rede auf eine Psyche verweist,
die sich nicht ganz in der Gewalt hat — auf eine Psyche also, wie sie in der geschicht-
lichen Wirklichkeit sehr viel eher anzutreffen ist als das völlig mit sich identische
Vernunftsubjekt, das dem stoischen Ideal entspricht. Petrarca prüft die Autorität
Ovids mithin als Historiker und Psychologe mit Realitätssinn, nicht als Stoiker, der
sich auf die Autonomie seines indicium verläßt.
Der Verfasser von Famiiiares XXIV. 1 hält sich nicht an das Modell des Lesens
und des Schreibens, das Seneca in den Epistulae morales aufstellt und dem sich
Petrarca in seinem frühen Brief an Raimundus Superanus, aber auch in vielen
anderen seiner Schriften anschließt. Er expliziert keine Wahrheiten, die er durch
innere Zustimmung seinem Erfahrungsschatz einverleibt hat, sondern er präsentiert
ein Individuum, das sich auf der Suche nach Wahrheit und Erfahrung befindet.

85
Famiiiares XXIV. 1.6.
626 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Im Vordergrund steht bei ihm nicht die Vergegenwärtigung einer res, sondern die
Darstellung dieses suchenden, die Dinge wie auch sich selbst erprobenden Geistes.
Der Text bildet keine kohärente Einheit, es handelt sich vielmehr um ein disparates
Gebilde, das vielerlei Unstimmigkeiten und Widersprüche aufweist. Diese werden
nicht im Text, sondern erst in der hinter dem Text stehenden Instanz des Autors zu
einer spannungsvollen Einheit zusammengeführt, die in der komplexen Persönlich-
keit eines historischen Individuums begründet ist. Die Integrität des Werkes wird
mithin ebenso in Frage gestellt wie die von Seneca geforderte fugenlose Identität
des Wissenden mit seinem Wissen, des Schreibenden mit seinem Text. Dem neuen
Modell der ecriture, dessen Konturen sich in Famiiiares XXIV. 1 abzeichnen, korre-
spondiert ein neues, alternatives Modell der Lektüre. Der Leser hat demnach nicht
mehr die Aufgabe, sich die in dem Text enthaltenen res durch rationale Prüfung und
durch meditative Vergegenwärtigung anzueignen. Vielmehr soll er das, was er liest,
auf die Persönlichkeit des Autors beziehen. Sein Ziel besteht darin, die hinter dem
Text stehende Autorinstanz zu rekonstruieren. Der Text gewinnt Leben und Aktua-
lität, indem er als Ausdruck einer individuellen Autorpersönlichkeit aufgefaßt wird.
Lesen wird zum Gespräch mit dem Autor.

3. Gespräche mit Ruinen: Der Brief als Paradigma


des humanistischen Lektüreverfahrens

Identifikation durch Nicht-Ubereinstimmung

Ein solches Gespräch wird in den Briefen des XXIV. Buchs der Famiiiares exempla-
risch vorgeführt. Petrarca unterhält sich in diesen Episteln mit einigen bedeutenden
antiken Autoren, so als wären sie noch am Leben. Er bemüht sich darum, die pro-
duktiven Instanzen zu rekonstruieren, die hinter den überlieferten Texten stehen.
Diese Instanzen werden als historische Persönlichkeiten bestimmt, deren individuelle
Charaktere in den von ihnen verfaßten Schriften zum Ausdruck gelangen. Der Leser
und Briefschreiber vergegenwärtigt sich diese Persönlichkeiten, um mit ihnen in
einen vertraulichen Dialog einzutreten, der zwar als fiktiv markiert ist, dem aber
gleichwohl die Fähigkeit zugesprochen wird, die historische Wahrheit zum Vorschein
zu bringen. Die an Cicero gerichteten Briefe, so behauptet Petrarca, zeichnen ein
wahres, ungeschöntes Bild des großen Staatsmanns, Rhetors und Philosophen.
Nachprüfen könne das jeder, der sich der Mühe unterziehe, den ganzen ciceroniani-
schen Textkorpus, insbesondere aber sein Briefwerk gründlich zu studieren. 86
Der Humanist skizziert somit ein Lektüreverfahren, das darauf abzielt, die
historische Persönlichkeit des Autors wiederzubeleben. Auf dem Umweg über die

e6
Ebd. XXIV.2.19.
Lesen als Gespräch mit dem Autor 627

Wiedererweckung des Autors soll dann auch den sachbezogenen Inhalten, die durch
seine Texte vermittelt werden, zu neuer Geltung verholfen werden. Die überlie-
ferten Texte ermöglichen die Restitution der Autorpersönlichkeit, der restituierte
Autor verschafft den Texten neue Aktualität - auf diese einfache Formel läßt sich
die von Petrarca als Alternative zur stoischen meditatio konzipierte Lektüretechnik
bringen.
Der humanistische Gelehrte bezeichnet den Dialog mit den antiken Autoren, der
den geschichtlichen Abstand überbrücken soll, als eine nova materia?7 Er ist sich
also der Tatsache bewußt, daß es sich dabei um ein innovatives Verfahren handelt.
Deshalb sieht er sich dazu veranlaßt, den Briefen an die Alten eine Einleitung vor-
anzustellen, die sein Vorhaben erläutert. Der zweite Brief des XXIV. Buches erfüllt
diese Funktion. Allerdings wird das neue Lektüreverfahren darin nicht theoretisch
erörtert, sondern durch ein praktisches Beispiel veranschaulicht. Petrarca berichtet
über eine Diskussion, die er mit einigen gebildeten Männern aus Vicenza führte, als
er auf einer seiner Reisen in der Nähe dieser Stadt Station machte. Gegenstand der
Unterhaltung war Cicero, dem alle Anwesenden höchste Verehrung entgegenbrach-
ten. Petrarca Schloß sich dem von seinen Gesprächspartnern geäußerten Lob zwar an,
bemühte sich jedoch zugleich um eine differenzierte Betrachtungsweise: Er erlaubte
es sich, eine kritische Bemerkung über den Charakter des berühmten Römers zu
machen und ihm mangelnde Beständigkeit (»inconstantiam«) vorzuwerfen. 88 Diese
Kritik erregte bei den anderen großes Befremden, insbesondere bei einem älteren
Mann, einem enthusiastischen Anhänger Ciceros, der sich dazu bereit zeigte, der Au-
torität des berühmten Römers bedingungslos in allem zu folgen, ja der nicht davor
zurückscheute, ihm übermenschliche Fähigkeiten zuzuschreiben. Er sah in Cicero
keinen Menschen, sondern einen Gott — einen Gott der Beredsamkeit (»deum [...]
eloquii«).89 Um seinen Standpunkt zu verteidigen, griff Petrarca zu dem Codex mit
seinen Briefen und legte den Gesprächsteilnehmern die Episteln vor, die er an Cicero
und die anderen antiken Autoren verfaßt hatte - eben jene Briefe, die im XXIV.
Buch der Famiiiares enthalten sind.
Die Episode macht deutlich, daß das neue Lektüreverfahren des Humanisten
nicht dem Geist der Idolatrie, sondern dem Geist der Kritik entspringt. Petrarca
teilt die Wertschätzung, die seine Gesprächspartner für Cicero empfinden, doch
die Bewunderung für das große Vorbild hindert ihn nicht daran, diesem gegenüber
eine kritische Distanz zu wahren; sie trübt nicht seinen Blick für die historischen
Realitäten. Cicero ist für ihn kein Gott, sondern ein Mensch, und als Mensch muß
er sich dem Urteil seiner Mitmenschen und der Nachwelt stellen.90 Paradoxerweise
soll gerade diese distanzierte Haltung die Aufhebung der historischen Distanz er-

87
Ebd. XXIV.2.1.
88
Ebd. XXIV.2.4.
89
Ebd. XXIV.2.9.
90
Ebd. XXIV.2.10.
628 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

möglichen, die den humanistischen Gelehrten von den antiken Vorbildern trennt.
Nicht die naive Begeisterung der Cicero-Verehrer, sondern das kritische Bewußtsein
des Historikers und Philologen verhilft dem berühmten Römer zu neuem Leben.
Die distanzierte Haltung Petrarcas manifestiert sich auch darin, daß er lieber über
Cicero schreibt, als über ihn zu reden. Es fällt auf, daß er während der Diskussion
mit den Bürgern aus Vicenza auf seine Briefe zurückgreift, um sein Verhältnis zu
dem römischen Staatsmann und Rhetor zu explizieren. Anstatt seine Meinung über
den Charakter Ciceros in einem freien Vortrag darzulegen, konfrontiert er seine
Diskussionspartner mit vorgefertigten schriftlichen Äußerungen. Er behandelt seine
Briefe dabei so, als wären sie Beweisstücke. Die an Cicero adressierten Episteln sollen
den Charakter des berühmten Mannes dokumentieren. Petrarca suggeriert, daß die
Briefe eine direkte Beziehung zu dem berühmten Römer herzustellen vermögen. Der
in den Briefen als lebendige Person Angesprochene soll für die Diskussionspartner,
denen die Texte vorgelesen werden, tatsächlich wieder lebendig werden. Mit Hilfe
der Briefe beschwört Petrarca die Präsenz des Adressaten herauf und macht die in
Frage stehenden Charakterqualitäten direkt sichtbar. Die Briefe, nicht der münd-
liche Redebeitrag, machen Cicero wieder lebendig. Darin besteht die Pointe der
in Famiiiares XXIV.2 mitgeteilten Episode: Sie veranschaulicht die Fähigkeit des
Briefverfassers, die wahre Persönlichkeit der antiken Autoren zu erfassen und zu ver-
gegenwärtigen. Die Schrift wird dabei als das ideale Medium für die Restitution der
antiken Persönlichkeit markiert. Die Schrift ermöglicht es dem Humanisten, eine
kritische Distanz zum berühmten Vorbild zu wahren. Die Schrift ist aber zugleich
auch der Raum, in dem das Vorbild als individuelle Persönlichkeit zu neuem Leben
gelangt. Solange die Bürger von Vicenza über Cicero reden, ist diese Persönlichkeit
abwesend. Doch von dem Moment an, da Petrarca den Codex mit seinen Briefen
hervorholt und die Gesprächsteilnehmer zu Lesern macht, weilt Cicero mitten unter
ihnen. Die Unterhaltung unter Cicero-Liebhabern wird zu einer Unterhaltung mit
Cicero, die im Raum der Schrift stattfindet.
Welcher Art ist die kritische Prüfung, die Petrarcas humanistischer Leser an den
antiken Autoren durchführen soll? Der Begriff der Beständigkeit, den er in Famiii-
ares XXIV.2 in Bezug auf Cicero verwendet, läßt aufhorchen. Die constantia ist eine
Eigenschaft, die in der stoischen Philosophie höchste Wertschätzung genießt. Der
beständige Charakter zeichnet sich dadurch aus, daß er stets mit sich selbst überein-
stimmt, die Dinge immer nach ein und demselben Maßstab beurteilt und in seinem
Handeln nie von seiner Rede abweicht. Folglich hat es den Anschein, als wolle
Petrarca die Persönlichkeit Ciceros einer moralischen Prüfung unterziehen und als
orientiere er sich dabei an den Kriterien, die Seneca im 33. Lucilius-Brief aufstellt.
Tatsächlich geht es dem humanistischen Gelehrten aber nicht in erster Linie
darum, ein moralisches Urteil zu fällen. Vielmehr ist er primär daran interessiert,
die historische Wahrheit zu ermitteln - er will wissen, wer Cicero wirklich war. Um
dies zu tun, befindet sich Petrarca in einer durchaus günstigen Lage. Denn nicht nur
verfügt er, wie er immer wieder hervorhebt, über eine intime Kenntnis des ciceronia-
Lesen als Gespräch mit dem Autor 629

nischen Textcorpus. Er kann zudem für sich in Anspruch nehmen, die maßgeblichen
Quellen zum Verständnis der Persönlichkeit dieses Autors überhaupt erst erschlossen
zu haben. Die lange Zeit verschollenen Briefe Ciceros - die umfangreiche Korres-
pondenz, die er mit seinem Freund Atticus, seinem Bruder Quintus und mit einer
Reihe von Bekannten, Familienmitgliedern und Politikern geführt hat — wurden
im Jahre 1345 von Petrarca in der Kathedralbibliothek von Verona wiederentdeckt.
In gewisser Weise markiert dieser sensationelle Fund die Geburtsstunde des neuen
humanistischen Lektüreverfahrens.91 In den Briefen Ciceros begegnet der huma-
nistische Gelehrte einer ganz anderen Persönlichkeit als in den rhetorischen und
philosophischen Schriften, die demselben Autor zugeschrieben werden. Verficht der
Rhetoriker das Ideal des vir bonus dicendiperitus und macht sich der Philosoph zum
Anwalt einer stoische, akademische und peripatetische Elemente miteinander ver-
knüpfenden ars vitae, so präsentieren die Briefe einen unruhigen Geist, der von einer
Vielzahl privater Sorgen geplagt wird, sich immer wieder in kleinliche Streitereien
verstrickt und sich weder durch sein fortgeschrittenes Alter noch durch die gefähr-
lichen Wirren des Bürgerkriegs von seinem Ziel abbringen läßt, eine wichtige Rolle
auf der politischen Bühne Roms zu spielen. Der Freund, Bruder und Politiker, den
die Briefe zu erkennen geben, hält sich offenbar nicht an die Ratschläge, die Cicero
in seiner Eigenschaft als Philosoph erteilt. Seine philosophischen Lehren finden bei
ihm selbst kein Gehör. Zwischen seinen Ansichten und seiner Lebenspraxis besteht
eine unübersehbare Diskrepanz. »Nimirum quid enim iuvat alios docere,« so wendet
sich Petrarca an seinen illustren Briefadressaten, »quid ornatissimis verbis semper de
virtutibus loqui prodest, si te interim ipse non audias?«92
Es ist dieser Widerspruch, dieser die Persönlichkeit des Autors durchziehende
Riß, der Cicero dem humanistischen Gelehrten nahe bringt. Natürlich ist der Ein-
druck der Nähe, den Petrarca durch die Lektüre der ciceronianischen Briefe gewinnt,
auch darauf zurückzuführen, daß das Briefwerk den römischen Staatsmann von sei-
ner bislang unbekannten persönlichen Seite zeigt: Die Briefe machen das praktische
Verhalten Ciceros sichtbar, seine alltäglichen und privaten Verrichtungen, seinen
Umgang mit Freunden und Gegnern. Doch auch dieses Persönliche interessiert
Petrarca vor allem als Manifestation eines widersprüchlichen Charakters. Was etwa
Ciceros Umgang mit seinen Mitmenschen anbetrifft, so verweist der humanistische
Gelehrte auf die erstaunliche Sprunghaftigkeit seines Verhaltens: Der römische
Staatsmann ist dazu in der Lage, einen Menschen, den er eben noch über alle Maßen
lobte, im nächsten Moment vollkommen abzulehnen.93 Petrarca wird durch das
widersprüchliche Gebaren Ciceros irritiert, aber nicht abgestoßen. Im Gegenteil,

91 Vgl. C. E. Quillen: Rereading the Renaissance. S. 106f.


92 Famiiiares X X I V . 3 . 6 . (»Was nützt es allerdings, andere zu lehren, wozu ist es gut, stets mit
den ausgefeiltesten Worten über die Tugenden zu sprechen, wenn Du unterdessen nicht auf
Dich selbst hörst?«).
53 Ebd. 1.1.42.
630 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

gerade die Widersprüche lassen das große Vorbild lebendig erscheinen. Cicero
ist kein monolithisches Denkmal mehr, sondern eine vielschichtige, dynamische
Persönlichkeit. In Famiiiares 1.1 berichtet Petrarca, wie er durch die erste Lektüre
der ciceronianischen Korrespondenz derart ergriffen wurde, daß er die historische
Kluft, die ihn vom Altertum schied, schlichtweg vergaß und sich spontan dazu ent-
schloß, dem berühmten Römer einen freundschaftlichen Mahnbrief zu schreiben.94
Dieser Brief ist im XXIV. Buch der Famiiiares enthalten; sein Hauptthema ist das
widersprüchliche Verhalten des römischen Staatsmanns.95 In dem Maße also, in dem
Petrarca Einblick in die innere Zerrissenheit Ciceros gewann, wurde ihm dieser als
Persönlichkeit gegenwärtig. Was bei der ersten Lektüre noch Zufall war, gewinnt in
der Folge das Ansehen einer bewußt gehandhabten Methode. Die Entlarvung der
charakterlichen Widersprüche und Unstimmigkeiten wird zu einem Mittel, den
Autor zu verlebendigen. Mit ihrer Hilfe kann die monumentale, quasi-göttliche
Autorität auf menschliche Dimensionen reduziert und eine humane Nähe erzeugt
werden. Die geschichtliche Wahrheit der Person ist ihre widersprüchliche Komple-
xität, ihre innere Gespaltenheit, ihre Unfähigkeit, stets mit sich eins zu sein. Die
historische Prüfung, die der humanistische Leser unternimmt, deckt diese Wahrheit
auf — nicht, um den Autor moralisch zu verurteilen, nicht, um seine philosophischen
Ansichten zu diskreditieren oder als unbrauchbar zu erweisen, sondern um ihn und
seine Ansichten in einen menschlichen Kontext zu stellen und ihnen somit aktuelle
Geltung zu verschaffen.
Die humanistische Lektüre, die Petrarca im XXIV. Buch der Famiiiares beispiel-
haft vorführt, rekonstruiert den Autor als widersprüchliche Persönlichkeit. Diese
Form der Lektüre unterscheidet sich grundlegend von der Art und Weise, wie die
antiken Adepten der philosophischen ars vitae mit Texten umzugehen pflegten. Pe-
trarca weist explizit auf diese Tatsache hin. Er erklärt, daß er ganz anders mit Cicero
zu verfahren gedenke, als dieser etwa mit Epikur umgegangen sei. Davon setzt er
den berühmten Römer in einem seiner Briefe an die Vorwelt in Kenntnis: »Vide ut
aliter tecum ago ac tu cum Epycuro multis in locis sed expressius in libro De finibus
agebas; cuius enim ubilibet vitam probas, rides ingenium. Ego nichil in te rideo,
vite tantum compatior, ut dixi; ingenio gratulor eloquio ve.«96 Auch Cicero stieß
bei seiner kritischen Beschäftigung mit dem Philosophen Epikur auf Widersprüche,
doch behandelte er diese ganz anders, als Petrarca die Unstimmigkeiten behandelt,
die er bei Cicero findet. Cicero registrierte bei Epikur eine Diskrepanz zwischen der
philosophischen Theorie und der praktischen Lebensführung. Die theoretischen

94
Ebd. 1.1.42.
95
Vgl. ebd. XXIV.3.
56
Ebd. XXIV.4.3. (»Beachte, daß ich anders verfahre als D u an vielen Stellen Deines Werks — am
deutlichsten in De finibus - mit Epikur, dessen Lebensführung D u nämlich überall billigst,
dessen Geist D u aber verlachst. Ich verlache nichts von Dir, Dein Leben aber bemitleide ich, wie
ich gesagt habe, und beglückwünsche Dich zu Deinem Geist und Deiner Rednergabe.«).
Lesen als Gespräch mit dem Autor 631

Einsichten Epikurs erschienen ihm abstrus und unglaubwürdig, während ihn die
Art und Weise beeindruckte, wie der Philosoph sein Leben gestaltet hatte. Aus seiner
Einsicht in diese Diskrepanz zog Cicero die Konsequenz, die Theorie Epikurs - und
somit auch das ingenium, dem die Theorie entsprungen war - zu verwerfen, seine
Lebensführung aber als nachahmenswertes Exempel moralischer Praxis gelten zu
lassen. Cicero löste die komplexe, widersprüchliche Einheit auf, für die der Name
Epikur einsteht. Er war nicht dazu bereit, die philosophischen Ansichten und die
Lebenspraxis Epikurs als zwei einander zwar widersprechende, aber dennoch zusam-
mengehörende Seiten einer Persönlichkeit zu sehen; er war nicht dazu fähig, Epikur
als ein komplexes Individuum anzuerkennen.
Freilich war Cicero an der individuellen Person auch gar nicht interessiert. Ihm
ging es vielmehr um die Philosophie Epikurs, genauer: um brauchbare Elemente
aus dieser Philosophie, die er sich anzueignen und für sein eigenes Projekt der phi-
losophischen Lebenskunst nutzbar zu machen suchte. Petrarca dagegen richtet seine
Aufmerksamkeit auf die Person. Er nimmt bei Cicero einen Gegensatz zwischen den
in den Schriften vertretenen Ansichten und der praktischen Lebensführung wahr,
doch diese Wahrnehmung veranlaßt ihn nicht dazu, das eine zu loben und das an-
dere zu verwerfen, das eine als Modell für die eigene philosophische und literarische
Praxis zu gebrauchen und das andere als unbrauchbar beiseite zu schieben. Petrarca
bemüht sich vielmehr darum, auch dem problematischen Aspekt der Persönlichkeit
Ciceros gerecht zu werden. Er bringt ihm Mitleid und Verständnis entgegen. Anstatt
ihn wegen seiner verfehlten Lebensführung auszulachen oder zu verurteilen, versucht
er, ihn zu verstehen. Sein Verständnis bekundet sich grundsätzlich darin, daß er die
widersprüchlichen Aspekte der Persönlichkeit als Teile eines Ganzen aufzufassen
bereit ist. Daher schreibt Petrarca nicht bloß einen, sondern zwei Briefe an Cicero:
einen, in dem er sich lobend über das ingenium des Rhetors und Philosophen äußert
(XXIV.4), und einen anderen, in dem er sich kritisch mit den mores auseinander-
setzt (XXIV.3). Er beschäftigt sich nicht bloß mit dem, was an Cicero lobens- und
nachahmenswert ist, sondern er rekonstruiert die ganze Persönlichkeit, und zwar als
Einheit der Widersprüche.
Die Kritik, die Petrarca an Ciceros Umgang mit Epikur äußert, trifft auch, ja
gerade das stoische Lektüreverfahren, das Seneca im 33. und 84. Lucilius-Brief
expliziert. W i e Cicero betreibt der stoische Philosoph eine Form der Lektüre, die
der Instanz des Autors keine besondere Bedeutung beimißt. Bezeichnenderweise
spielt auch bei Seneca die Auseinandersetzung mit Epikur für die Erläuterung des
Lektüreverfahrens eine gewisse Rolle. Der Verfasser der Epistulae morales reagiert
nämlich mit dem 33. Brief auf die Bitte seines Schülers Lucilius, er möge sich, da
er ein stoischer Philosoph sei, in seinen Episteln auf stoische Autoritäten beziehen
und nicht, wie bereits mehrfach geschehen, auf den Konkurrenten Epikur. Seneca
entgegnet seinem Schüler, daß es gleichgültig sei, aus welcher Quelle man seine
Einsichten beziehe, vorausgesetzt, sie seien wahr. Ob sie aber wahr sind, das könne
einem nur der innere Lehrer sagen, das eigene Vernunftvermögen also, das man
632 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

bei der Lektüre befragen müsse. Das Wahre, das in Epikurs Schriften zu finden sei,
gehöre mithin nicht dem Verfasser, sondern der Allgemeinheit. 97 Die Wahrheit, so
könnte man pointiert formulieren, hat keinen Autor. Wichtig ist demnach nicht,
woher eine Wahrheit stammt, vielmehr kommt es darauf an, daß man sie sich durch
selbständiges, kritisches Denken ganz zu eigen macht. 98 Ein kohärenter, in sich
schlüssiger Text ist laut Seneca ein Indiz dafür, daß sein Verfasser sich das Gelesene
in diesem Sinne angeeignet hat; ein derartiger Text ist das Abbild einer beständigen
und gefestigten Seele. Doch die Selbstdarstellung der Seele ist nicht der eigentliche
Zweck des Schreibens, sie ist lediglich ein Nebeneffekt. Texte sollen nicht als See-
lenportraits, als Abbilder ihrer Verfasser gelesen werden, sondern als Darbietungen
potentiell nützlicher Wahrheiten. Was für eine Persönlichkeit der Autor besitzt, ist
nur insofern von Belang, als seine constantia die Nützlichkeit der durch ihn mitge-
teilten Wahrheiten zu verbürgen vermag. Wichtiger als die Autorpersönlichkeit ist
die innere Aktivität des Lesers, die Wachsamkeit, mit der er die Vorstellungen prüft,
die auf Veranlassung des Gelesenen in ihm entstehen.
Lesen ist also laut Seneca ein Selbstgespräch, ein Gespräch mit der eigenen Seele
- nicht jedoch ein Gespräch mit dem Autor. Der Leser muß, wie die vom stoischen
Philosophen verwendete Metaphorik der Digestion und der Assimilation veran-
schaulicht, 99 die Einheiten des Textes und des Autors zerstören, um sich selbst als
widerspruchsfreie und beständige Einheit konstituieren zu können. Seneca tritt mithin
fur eine >kannibalische< Form der Lektüre ein. 100 Der Autor soll im Leser aufgehen;
er wird durch die Lektüre gewissermaßen zu neuem Leben erweckt, aber nicht als
eigenständige Persönlichkeit, sondern als Bestandteil des sich durch die Lektüre neu
konstituierenden Lesersubjekts, das er mit seiner Substanz - mit den nützlichen Wahr-
heiten, die sein Text enthält - nährt und stärkt. Die Lektürestrategie, die Petrarca im
XXIV. Buch der Famiiiares als Alternative zum stoischen Verfahren entwickelt, zielt im
Gegensatz dazu darauf ab, den Autor als eigenständige, widersprüchliche und dennoch
integrale Persönlichkeit zu restituieren. Der Autor soll dem Leser nicht als Bestandteil
seines Ichs, sondern als fiktives Gegenüber lebendig werden. Zu diesem Zweck ist es
notwendig, die kannibalische Vereinnahmung des Autors zu vermeiden oder rück-
gängig zu machen - es gilt, ihn als eine andere, vom Leser-Ich getrennte Person zu
vergegenwärtigen, die mit ihrer eigenen, individuell markierten Stimme spricht.
Das Verfahren, das Petrarca in seinen Briefen an die Vorwelt präsentiert, un-
terscheidet sich also grundsätzlich von den stoischen Lektürepraktiken. Diesem

97 Seneca: Ad Lucilium epistulae morales 33.2. — Vgl. auch ebd. 12.11, 13.17, 14.8, 16.7 und
21.9.
98 Ebd. 33.9. Vgl. auch 12.11, 84.7.
99 Ebd. 2.3f., 84.6f.
100 Noch deutlicher wird der >kannibalische< Aspekt der Lektüre bei Quintilian, dessen Konzept
der rhetorischen institutio durch die stoische Philosophie beeinflußt ist. Siehe dazu Kapitel
V.2 dieser Untersuchung.
Lesen als Gespräch mit dem Autor 633

Unterschied wird in der Petrarca-Forschung nicht mit hinreichender Deutlichkeit


Rechnung getragen, und zwar aus zweierlei Gründen. Zum einen macht Petrarca
von beiden Lektüreverfahren Gebrauch. Die Lektüre als Gespräch mit dem Autor
verdrängt folglich nicht einfach das >kannibalische< Lesen, sondern sie tritt dazu in
Konkurrenz, als alternative Möglichkeit, den Abstand zu den antiken Autoritäten
zu überbrücken. Zum anderen weisen die unterschiedlichen Verfahrensweisen in-
sofern eine gewisse Ähnlichkeit auf, als beide den Leser zur Identifikation mit dem
Gelesenen zu bewegen suchen. Doch diese Ähnlichkeit ist nur vordergründig. Bei
Seneca geht die Identifikation des Lesers mit dem Gelesenen so weit, daß die Identi-
tät des Autors ausgelöscht wird. Der Leser identifiziert sich nicht mit der Person des
Verfassers, sondern mit den Wahrheiten, die er von ihm übernimmt. Das Gespräch
mit dem Autor hingegen, das Petrarca zu etablieren sucht, beruht auf eben dieser
— obzwar gebrochenen — Identifikation des Lesers mit der Person des Verfassers.101
Als Cicero-Leser sortiert Petrarca die Texte oder Textpassagen, in denen der unbe-
ständige Charakter des Autors zum Vorschein kommt, nicht etwa als unbrauchbar
oder verwerflich aus. Vielmehr erregen gerade diese Texte seine Teilnahme. Anstatt
den Verfasser zu verurteilen, begegnet er ihm mit Verständnis, ja er empfindet fur ihn
Mitleid (»vite tan tum compatior«). 102 Er versucht, das Verhalten Ciceros nachzuvoll-
ziehen. Petrarca versetzt sich an die Stelle des Autors, anstatt sich, wie Seneca dies tut,
den Autor und seine Ansichten - soweit sie brauchbar sind — einzuverleiben.
Die Identifikation mit dem Autor, die der humanistische Leser auf diese Weise
vollzieht, steht freilich unter einem Vorbehalt. So nahe er dem Verfasser auch
zu kommen vermag, dieser bleibt für ihn doch immer ein anderer; so groß sein
Verständnis auch sein mag, er wahrt ihm gegenüber seine Unabhängigkeit. Das
unterscheidet ja den humanistischen Kenner Ciceros von dem naiven Cicero-Ver-
ehrer: Die antike Persönlichkeit gewinnt für Petrarca lebendige Präsenz, eben weil

101
Vgl. C. E. Quillen: Rereading the Renaissance. S. 15: »[M]uch of Petrarch's writing [...] puts
forth a view of humanist practice whose pedagogical aim is to facilitate a particular way of
reading - reading through identification with the author behind the text. Reading through
identification was central to Petrarch's humanism because it allowed him to imagine and to
stage conversations among individuals across time and space.« - Diese Aussage ist durchaus
zutreffend, doch Quillen übersieht, daß die Identifikation mit der Person des Autors bei
Petrarca eine gebrochene ist: Er bleibt sich, wie im folgenden dargelegt werden soll, der
historisch bedingten Alterität der antiken Persönlichkeit bewußt. T h . Greene (The Light in
Troy. S. 93-100) arbeitet das Alteritätsbewußtsein Petrarcas mit großer Deutlichkeit heraus,
doch er tut dies ausgerechnet anhand von Texten {Fam ilia res XXI1.2 und XXIII. 19), in denen
der humanistische Gelehrte die Lektürekonzeption Senecas und Quintilians reproduziert.
Bei diesen beiden kann von einem historischen Alteritätsbewußtsein jedoch keine Rede sein.
Quillen und Greene versäumen es also, zwischen dem von Seneca übernommenen und dem
neuen, humanistischen Lektüreverfahren hinreichend zu differenzieren. Das erste Verfahren
ermöglicht die bruchlose Identifikation des Lesers mit dem Gelesenen, bringt dabei aber die
Person des Autors zum Verschwinden; das zweite Verfahren evoziert die Präsenz des Autors,
konstruiert diesen aber als imaginären Gesprächspartner, als fiktives Gegenüber, das sich nie
ganz aneignen läßt.
102
Famiiiares XXIV.4.3.
634 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

er sich ihrer Autorität nicht blind unterwirft. Er wird mit Cicero eins, indem er ihn
kritisiert. Empathie und Kritik bilden bei ihm eine unauflösliche Einheit. Besonders
deutlich tritt diese Einheit im Gefühl der Scham zutage. Petrarca schämt sich für die
charakterlichen Fehler, die er bei den antiken Autoren aufdeckt. 103 Anläßlich der
Lektüre eines Textes etwa, in dem sich Seneca lobend über den Tyrannen Nero äu-
ßert, überkommt den humanistischen Leser ein Gefühl der Scham: »qua enim fronte
de tali talia scripsisse potueris, ignore; certe ego ilia sine pudore non relego.«104 Der
Leser empfindet Scham, als sei er selbst der Übeltäter, der auf frischer Tat ertappt
wird — so sehr hat er sich in die Person des Autors hineinversetzt. Doch der Leser
ist zugleich auch derjenige, der die Anrüchigkeit des Tyrannen-Lobs sichtbar macht
und den Täter deswegen anklagt. Dabei macht er von seinem überlegenen histo-
rischen Wissen Gebrauch: Aufgrund seiner gründlichen Kenntnis der römischen
Geschichte weiß er mehr über Nero, als Seneca zum Zeitpunkt der Abfassung des
inkriminierten Textes wissen konnte. Petrarca kennt den tragischen Ausgang der
Ereignisse, der dem Autor Seneca damals noch verborgen war. Er betrachtet den
Autor also zugleich von innen und von außen. Er fühlt mit ihm mit, kann dabei
aber nicht von dem ganz andersartigen Wissen abstrahieren, das er als Angehöriger
eines späteren Zeitalters besitzt. Der historische Abstand macht es ihm möglich, die
Irrtümer und Widersprüche im Verhalten des Verfassers zu entlarven; diese Entde-
ckung wiederum begründet eine menschliche Nähe, erlaubt also die Identifikation,
ohne doch das Bewußtsein für die geschichtliche Differenz auszuschalten. Das durch
Einfühlung gewonnene Verständnis fur den Verfasser ist von der Anerkennung seiner
Alterität nicht zu trennen. Identifikation durch Nicht-Ubereinstimmung - auf diese
paradoxe Formel läßt sich das Lektüreverfahren bringen, das Petrarca im XXIV. Buch
der Famiiiares vorführt.

D e r Text als Ruine

Die Idee der Nicht-Ubereinstimmung spielt für das Lektüreverfahren, das Petrarca
als Alternative zum stoischen Konzept der Aneignung präsentiert, eine zentrale Rolle.
Der Leser gelangt in eine vertrauliche Nähe zum antiken Autor, gerade weil er es ver-
meidet, ganz mit ihm übereinzustimmen. Er macht den Verfasser wieder lebendig,
indem er seine Unbeständigkeit und Widersprüchlichkeit enthüllt, indem er also
aufdeckt, daß er nicht mit sich selbst übereinstimmt. Petrarca fühlt sich vor allem
durch unstimmige Texte angesprochen, Texte, denen die von Seneca zum Ideal erho-
bene Kohärenz und Geschlossenheit fehlt. Der kohärente Text erzeugt den Anschein
der Vollständigkeit: Er sagt alles Notwendige über die res, die der Verfasser erörtert,
er sagt aber auch alles Wesentliche über diesen Verfasser, indem er die Beständigkeit
seines Geistes zur Anschauung bringt. Der Text sagt alles, dem Leser obliegt es, sich

103
Ebd. XXIV.3.6 (an Cicero): »Doleo vicem tuam, et errorem pudet ac miseret«.
104
Ebd. XXIV.5.19.
Lesen als Gespräch mit dem Autor 635

das Gesagte anzueignen. Der widersprüchliche, offene Text hingegen verlangt nach
Vervollständigung. Er weist über sich selbst hinaus, und zwar auf die Persönlichkeit
des Autors, die die Widersprüche zur Einheit zusammenführt. Der unstimmige Text
bildet die komplexe, widersprüchliche Persönlichkeit des Verfassers nicht direkt ab,
seine Unstimmigkeit indiziert vielmehr die fehlende Ubereinstimmung zwischen
Autor und Werk. Laut Petrarca ist ein Autor, der diesen Namen verdient, immer
mehr als sein Werk. Seine komplexe Persönlichkeit geht nie ganz in seine Texte ein,
die Texte bringen seinen Charakter nie adäquat zur Darstellung, weshalb der Leser
dazu aufgefordert ist, das unvollständige Bild zu komplettieren und die Autor-Per-
sona wiederherzustellen, die der fragmentarische Text entstellt. Der Text verweist auf
die Abwesenheit des Autors. Es ist die Aufgabe des Lesers, den abwesenden Verfasser
anhand des fragmentarischen Bildes, das die Texte zeichnen, zu vergegenwärtigen.
Dem neuen Lektüreverfahren korrespondiert mithin eine spezifische Konzeption
des literarischen Textes: Der Text ist, was seine Beziehung zum Autor anbetrifft,
immer nur Fragment. 105
Petrarca entwickelt sein Verständnis für den fragmentarischen Status des literari-
schen Textes im Umgang mit der antiken Literatur. Die Werke der antiken Autoren
sind nicht als Fragmente konzipiert, vielmehr sind sie im Laufe eines langen und
schwierigen Uberlieferungsprozesses erst zu Fragmenten geworden. Petrarca ist einer
der ersten, der ein scharfes Bewußtsein für den fragmentarischen Erhaltungszustand
der antiken Texte besitzt. In einem der Briefe, die an berühmte Männer der Antike
gerichtet sind, setzt er Cicero davon in Kenntnis, welches Schicksal seinem Werk
nach dem Untergang des römischen Imperiums beschieden war. Er listet die ver-
schollenen Texte auf, von denen nicht mehr als die Titel überliefert sind, und weist
daraufhin, daß auch die übrigen Werke nur in unvollständigen und korrumpierten
Fassungen erhalten sind.106 Cicero, so lautet sein Fazit, gehört zu den geistigen Füh-
rern, die im Kampf der Nachwelt gegen das Vergessen zwar nicht ganz ausgelöscht,
aber grausam verstümmelt wurden: »duces nostras non extinctos modo sed truncos
[...] sit lugere.«107 An anderer Stelle bezeichnet Petrarca die aus der Antike überlie-
ferten Texte als Ruinen (»ruinas«).108
Das Werk als verstümmelter Körper, das Werk als Ruine: Diese Metaphern ma-
chen den fragmentarischen Charakter der überlieferten Texte auf drastische Weise
deutlich. Mit ihrer Hilfe will Petrarca die Gebildeten unter seinen Zeitgenossen dazu
bewegen, sich am Kampf gegen das Vergessen zu beteiligen. Er selbst beansprucht für

105
Zu Petrarcas Poetik des Fragments, die insbesondere in seinem als »fragmentorum liber«
gekennzeichneten Canzoniere zur Geltung gelangt, vgl. K. Scierle: Petrarca. Fragmente eines
Selbstentwurfs. S. 45^i7, S. 68-70.
106
Famiiiares XXIV.4.13f.
107
Ebd. XXIV.4.14.
108
De remediis utriusque fortunae. In: Francisci Petrarchae Opera. Bd. 1. Basel 1554 (Ndr.
Ridgewood/NJ 1965). S. 54.
636 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

sich dabei eine Stellung in vorderster Front, denn er gibt sich nicht damit zufrieden,
das Uberlieferte vor weiterem Verfall zu bewahren, vielmehr ist es sein Ziel, das
Verlorene so weit wie möglich wiederzugewinnen, das Verstümmelte zu restituieren,
das Tote zu reanimieren. Diesem Ziel nähert er sich zum einen auf dem Wege der
Philologie an: indem er die Bibliotheken nach verschollenen Werken durchforscht,
unterschiedliche Textfassungen miteinander vergleicht und so die Werke zu vervoll-
ständigen, ihre ursprüngliche Gestalt wiederherzustellen versucht. Zum anderen be-
treibt er eine Form der Lektüre, die darauf hinwirkt, nicht die ursprüngliche Gestalt
des Werkes, sondern das persönliche Profil des Autors zu restituieren.
Dieses Lektüreverfahren steht allerdings in einer ambivalenten Beziehung zum
fragmentarischen Status der tradierten Texte. Die Verstümmelung der Werke ist
nicht bloß ein tragisches Unglück, das es nach Möglichkeit rückgängig zu machen
gilt. Sie ist vielmehr eine Voraussetzung dafür, daß der Leser den Autor wiederbele-
ben und mit ihm ins Gespräch treten kann. Mehr noch: Das neue Leben, zu dem der
Leser dem Autor auf diese Weise verhilft, ist der alten Existenz, die er unter seinen
Zeitgenossen führte, in gewisser Hinsicht überlegen. Man könnte sogar sagen, daß
das eigentliche Leben des Autors erst beginnt, nachdem seine physische Existenz
beendet und sein Werk auf den Status eines Fragments reduziert worden ist.
Diese Auffassung vertritt Petrarca jedenfalls gegenüber seinem Studienfreund
Tommaso Caloiro — in einem Brief, der das erste Buch der Famiiiares eröffnet und
somit an exponierter Stelle steht.105 Die Anwesenheit, so heißt es da, ist dem An-
sehen eines Menschen stets schädlich.110 Die persönliche Bekanntschaft mit einem
Autor führt keineswegs zu einer tieferen Einsicht in sein Wesen. Im Gegenteil, der
vertrauliche Umgang lenkt vom Wesentlichen ab. Äußerliches, Zufälliges und Bei-
läufiges drängt sich ins Bild und bestimmt den Eindruck, den die Gegenwart der
Person hervorruft: »Delicatissima res est iugis conversatio: minimis offenditur, [...]
multumque admirationi hominum familiaritas detrahit frequensque convictus.«111
Die unmittelbare Nähe zum Autor trübt den Blick, der ihn zu erfassen sucht. Der
Autor wird verkannt, eben weil man mit ihm zusammen ist. Die Nahsicht verzerrt
das Bild. Daher, so argumentiert Petrarca, werden Autoren von ihren Zeitgenossen
in der Regel falsch beurteilt. Ein gerechtes Urteil kann sich erst nach ihrem Tod ein-
stellen. Die Nachgeborenen sind die besseren Richter: »ad equiores iudices - hoc est
ad posteros - provocemus«.112 Um Einsicht in das Wesen eines Autors zu erlangen,
bedarf es des Abstands - des Abstands, wie ihn der Tod und das Verrinnen der Zeit
erzeugen, aber auch des Abstands, wie er durch die Verwendung der Schrift eröffnet
wird. Petrarca kritisiert in diesem Zusammenhang das widersprüchliche Verhalten

109
Famiiiares 1.2. - Famiiiares 1.1 (ein auf den 13. Januar 1350 datierter Brief an Sokrates alias
Ludwig van Kempen) fungiert als Einleitung in das Gesamtwerk der Famiiiares.
110
Ebd. 1.2.5: »fame semper inimica presentia est«.
Ebd.
112
Ebd. 1.2.4.
Lesen als Gespräch mit dem Autor 637

der Scholastiker. D i e s e Gelehrten hängen T a g u n d N a c h t über ihren Büchern,


p f l e g e n also d e n schriftlich vermittelten U m g a n g m i t d e n auctores. D e n n o c h zählt
bei ihnen der i m persönlichen U m g a n g - etwa bei G e l e g e n h e i t einer D i s p u t a t i o n
- g e w o n n e n e E i n d r u c k m e h r als d a s g r ü n d l i c h e S t u d i u m der S c h r i f t e n : » I t a q u e
o m n i u m u n a lex est; c u n t a e n i m ex e q u o , q u o r u m a u c t o r e s vel semel aspexerint,
scripta f a s t i d i u n t . « " 3 L a u t Petrarca m ü ß t e m a n u m g e k e h r t verfahren. N u r a n h a n d
der Schriften läßt sich seiner A n s i c h t n a c h ein a n g e m e s s e n e s B i l d v o m G e i s t u n d
C h a r a k t e r des A u t o r s erlangen. D i e S c h r i f t e n aber k a n n allein d e r j e n i g e a d ä q u a t
beurteilen, der kein u n m i t t e l b a r e r Z e i t g e n o s s e des Verfassers ist.
D i e A b w e s e n h e i t d e s A u t o r s ist s o m i t die V o r a u s s e t z u n g d a f ü r , d a ß m a n ihn
erkennen k a n n . S e i n e w a h r e n Vorzüge, aber auch seine I r r t ü m e r u n d M ä n g e l treten
erst d a n n deutlich hervor, w e n n m a n ihn aus der D i s t a n z untersucht. D i e deutliche
E r k e n n t n i s dieser E i g e n h e i t e n w i e d e r u m erlaubt es d e m Leser, sich die Person des
A u t o r s vorzustellen, i h m eine geistige, i m a g i n ä r e Präsenz zu verschaffen. D i e s e i m a -
ginäre G e g e n w a r t ist eine gereinigte G e g e n w a r t - die S t ö r f a k t o r e n , die d e n Blick a u f
d a s Wesentliche der Person verstellen, s i n d beseitigt. Paradoxerweise k a n n die d u r c h
die Vorstellung vermittelte Präsenz des A u t o r s d a h e r a u f d e n Leser einen stärkeren
E i n d r u c k m a c h e n als die Person, d i e u n m i t t e l b a r a n w e s e n d ist. T a t s ä c h l i c h weist
Petrarca wiederholt d a r a u f h i n , d a ß i h m die antiken A u t o r e n bisweilen g e g e n w ä r t i -
ger u n d »wirklichen v o r k o m m e n als seine Z e i t g e n o s s e n . " 4 E r b e h a u p t e t etwa, d a ß
er C i c e r o a u s seinen B ü c h e r n so g r ü n d l i c h k e n n e n g e l e r n t h a b e (»ex libris a n i m u m
t u u m novi«), als hätte er m i t i h m z u s a m m e n g e l e b t ( » q u a m si t e c u m vixissem«). 1 1 5
C i c e r o lesen heißt f ü r ihn m i t C i c e r o leben. D i e L e k t ü r e hat i h m die E r f a h r u n g a u k -
torialer Präsenz vermittelt, das B u c h ersetzt die Person. H ä t t e er j e d o c h wirklich m i t
C i c e r o z u s a m m e n g e l e b t , d a n n wäre i h m diese g e n a u e , i n t i m e K e n n t n i s der Person
g e r a d e nicht zuteil g e w o r d e n . A l s Z e i t g e n o s s e des g r o ß e n R ö m e r s h ä t t e er diesen
n o t w e n d i g e r w e i s e v e r k a n n t . D i e E r f a h r u n g p e r s ö n l i c h e r geistiger N ä h e , die v o n
Petrarca beschworen w i r d , ist d e m N a c h g e b o r e n e n u n d d e m Leser v o r b e h a l t e n . D i e
fiktive Präsenz, die der Leser d e m A u t o r in seiner V o r s t e l l u n g verleiht, ist intensiver
als seine wirkliche G e g e n w a r t . D e r A u t o r ist d e m Leser der N a c h w e l t in stärkerem
M a ß e gegenwärtig als seinen Z e i t g e n o s s e n - vorausgesetzt natürlich, d a ß d e m Leser
an der G e g e n w a r t des Verfassers ü b e r h a u p t etwas liegt u n d er die m ü h s a m e A r b e i t
der V e r g e g e n w ä r t i g u n g a u f sich n i m m t . Jedenfalls ist die historische K l u f t , die d e n
N a c h g e b o r e n e n v o n d e n antiken A u t o r e n trennt, zugleich a u c h die B e d i n g u n g der
M ö g l i c h k e i t einer engeren V e r b i n d u n g . Ahnliches gilt f ü r d e n f r a g m e n t a r i s c h e n Sta-

' 13 Ebd. 1.2.5. (»So halten sie sich alle an das eine Gesetz: wenn sie einen Autor - und sei es nur
ein einziges Mal — von Angesicht gesehen haben, rümpfen sie ihre Nase über seine Schriften
insgesamt.« [Übersetzung nach: Briefe des Francesco Petrarca. Eine Auswahl. Übersetzt von
Hans Nachod und Paul Stern. Berlin 1931.]).
" 4 Vgl. etwa ebd. XV.3.14, XXII.10. - Vgl. dazu auch N. Mann: Petrarch. S. 22.
115 Famiiiares XXIV.4.9.
638 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

tus der überlieferten Texte. Die Text-Ruine verweist auf die Abwesenheit des Autors
- der Autor ist nicht im Text, also kommt es dem Leser zu, den Autor anhand der
erhaltenen Fragmente als integrierende Instanz hinter dem Text zu rekonstruieren.
Dieses imaginäre Konstrukt steht in einer komplexen Beziehung zur historischen
Wirklichkeit. Das geht aus einem bemerkenswerten Brief hervor, den Petrarca anläß-
lich seines ersten Rom-Besuchs an seinen Freund und Förderer Giovanni Colonna
geschrieben hat. Er habe, so berichtet der humanistische Gelehrte zunächst, seine
Romreise lange Zeit aufgeschoben - aus Furcht davor, daß die in Trümmern liegende
Stadt seiner aus den Büchern geschöpften Vorstellung nicht entsprechen und daß der
Anblick der Ruinen seine Rom-Begeisterung dämpfen würde.116 Petrarca kennt Rom
nur aus der antiken Literatur - so etwa aus Ab urbe condita libri, jenem monumen-
talen, aber nur fragmentarisch erhaltenen Geschichtswerk des Titus Livius, zu dessen
Wiederherstellung Petrarca selbst philologische Pionierarbeit geleistet hatte.117 Die
literarischen Fragmente vermitteln ihm das Bild einer prachtvollen, mächtigen Stadt,
einer Stadt, in der der republikanische Geist wie auch die römische Geschichte Stein
geworden sind, in der jedes Gebäude an einen Sieg, eine bestandene Bewährungspro-
be oder eine Heldentat erinnert. Petrarca hat Angst davor, daß dieses Bild an der dürf-
tigen Realität zerschellen, daß seine anhand von Textruinen gewonnene Vorstellung
von der römischen Geschichte durch die Konfrontation mit den wirklichen Ruinen
ihrerseits in Trümmer gelegt werden könnte. Dem liegt die tiefere Furcht zugrunde,
daß es sich bei seinem Geschichtsbild vielleicht nur um eine Vorstellung, ein bloßes
Phantasieprodukt, handelt, das keine Entsprechung in der Realität hat.
Doch diese Angst erweist sich als unbegründet. Petrarcas Rom-Bild wird durch
die Wirklichkeit nicht nur bestätigt, sondern sogar überflügelt: »Vere maior fuit
Roma, maioresque sunt reliquie quam rebar.«1'8 Selbst als Trümmerwüste macht
die antike Stadt auf den Reisenden einen überwältigenden Eindruck. Es ist aber
weniger die gewaltige Dimension der Uberreste, die Petrarca vor einer Enttäuschung
bewahrt, als die Tatsache überhaupt, daß die alte Stadt in fragmentarischer Form
erhalten ist. Nicht obwohl, sondern weil der Besucher nur auf Ruinen stößt, bleibt
sein Rom-Bild intakt. Die Wirklichkeit, die sein Vorstellungsbild zerstören könnte,
ist nicht oder nur in reduzierter Form präsent. Petrarca wiederholt in seinem Brief
an Giovanni Colonna die Bemerkung, daß die Anwesenheit dem Ansehen der be-
rühmten Person oder Sache stets feindlich sei.119 Doch der Briefschreiber kommt

116
Ebd. II. 14.2: »ruinöse urbis aspectu fame non respondente atque opinioni mee ex libris
concepte, ardor meus ille lentesceret.«
117
In Famiiiares VI.2 erinnert Petrarca seinen Adressaten Giovanni Colonna an einen Gang durch
Rom, den beide gemeinsam unternommen hatten. Er beschreibt die antiken Monumente, auf
die sie dabei gestoßen sind, nicht in der Reihenfolge, in der die Spaziergänger sie besichtigten,
sondern in Anlehnung an die Chronologie der historischen Ereignisse, wie Livius sie schildert.
Livius dient sozusagen als Reiseführer. Vgl. dazu auch N. Mann: Petrarch. S. 33; Th. Greene:
The Light in Troy. S. 88f.
118
Famiiiares II. 14.3.
1,9
Ebd. II.14.2: »et magnis semper nominibus inimica presentia.«
Lesen als Gespräch mit dem Autor 639

in eine Stadt, die eben nicht mehr anwesend ist. Er trifft nur noch auf Spuren einer
einstmaligen Präsenz. Die Ruinen verweisen auf die Abwesenheit Roms. Sie fordern
den Betrachter dazu auf, die versunkene Stadt im Geiste zu rekonstruieren. Der
Rom-Besucher Petrarca verfährt nicht anders als der Leser der antiken Text-Frag-
mente. Er setzt seine Lektüre fort; er liest die Stadt. Petrarca vervollständigt die vor
seinen Augen liegenden Fragmente. Auf der Basis der Ruinen baut er die alte Stadt in
seiner Vorstellung wieder auf. Diese imaginäre Stadt drängt die dürftige Wirklichkeit
beiseite: Vom neuen, christlichen Rom ist in seinem Brief mit keinem Wort die Rede.
Das geistige Konstrukt ist in gewisser Weise >realer< als die wirkliche Stadt. Das alte
Rom wird für Petrarca erfahrbar.
Erfahrbar wird die alte Stadt andererseits aber nur deshalb, weil das geistige
Konstrukt kein reines Phantasieprodukt ist. Petrarca beharrt darauf, daß er nicht in
haltlosen Träumereien schwelgt, sondern sich als kritischer Historiker betätigt. Er
vergleicht die historischen Dokumente, die ihm die Literatur liefert, mit den frag-
mentarischen Zeugnissen der Architektur. Der Ort, an den er sich begibt, ist keine
leere Wüstenei, keine tabula rasa, der Betrachter besitzt mithin nicht die Lizenz,
Rom in seiner Imagination gänzlich neu zu erfinden. Vielmehr stößt er auf eine
Fülle von Spuren, auf Fragmente einer vergangenen Realität, denen er als Historiker
gerecht werden und die er mit seinem geschichtlichen Wissen in Einklang bringen
muß. Die alte Stadt wird für Petrarca wieder lebendig, weil die steinernen Zeugnisse
das Rom-Bild bestätigen, das ihm die Literatur vermittelt hat - es handelt sich dabei
eben nicht um einen bloßen Traum. Die Uberreste, die Petrarca mit seinen eigenen
Augen sieht, drücken dem Traum das Siegel der historischen Wahrheit auf. Die Lek-
türe findet in der Wirklichkeit ihre Bestätigung, das Gelesene wird zur experientia.
Da diese Wirklichkeit jedoch nur in fragmentarischer Form vorliegt, kann der Rom-
Besucher im Angesicht des Realen weiterträumen. Fragment und Ruine verheißen
die Möglichkeit, das Reale mit dem Imaginären zu verbinden.
Wie Petrarca mit Hilfe der steinernen Zeugnisse die Präsenz des alten Rom
heraufbeschwört, so rekurriert er auf die überlieferten Texte, um sich die Persönlich-
keiten der antiken Autoren zu vergegenwärtigen. Er behandelt die Texte wie Ruinen:
Zum einen sind sie für ihn historische Dokumente, Fragmente der Wirklichkeit;
zum anderen aber verweisen sie auf die Abwesenheit dessen, was sie dokumentieren,
veranlassen den Leser mithin dazu, das Dokumentierte zu rekonstruieren. Als Do-
kumente des Realen beglaubigen sie die imaginären Konstrukte, deren Herstellung
sie veranlassen, und suggerieren somit die gegenwärtige Erfahrbarkeit des längst
Vergangenen. Diese Erfahrung des Vergangenen wirkt auf den Leser so authentisch,
daß sie die Erfahrung der Gegenwart zu verdrängen vermag — einer Gegenwart, die
nach Petrarcas zeitkritischer Diagnose ohnehin an Erfahrungsarmut leidet.
Es hat folglich den Anschein, als habe Petrarca in der Lektürekonzeption, die er
im XXIV. Buch der Famiiiares entwickelt, ein wirksames Heilmittel gegen dieses
Leiden gefunden. Das Gespräch mit den antiken Autoren soll den Erfahrungsmangel
kompensieren, an dem das gegenwärtige Zeitalter krankt. Im kritischen Dialog mit
640 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

dem Autor wird die Antike für den Leser erfahrbar. Petrarca erhofft sich von einer
solchen Lektüre, daß sie den Leser nicht bloß mit Kenntnissen bereichert, sondern
ihn innerlich verändert, auf seinen Willen einwirkt. 120 Die Lektüre der Alten soll zu
einer hcktäieerfahrung werden, die einen Wandel der Lebenseinstellung herbeiführt.
Im Umgang mit den antiken Autoren soll der Leser Erfahrungen machen, die er im
Verkehr mit seinen Zeitgenossen nicht erlangen kann. Das Gespräch mit dem Autor
ist als Alternative zum stoischen Lektüreverfahren konzipiert: als eine Technik, die
dazu dient, den Text in experientia zu transformieren.

Epistolartheorie u n d Lektürekonzeption

Es ist kein Zufall, daß Petrarca seine neue Konzeption der Lektüre im Kontext
seines Briefwerks vorstellt. Die Lektüre als Gespräch mit dem Autor ist nicht bloß
ein Thema der Briefe, die im XXIV. Buch der Famiiiares versammelt sind. Die
Briefe setzen ein solches Gespräch darüber hinaus auch in Szene. Sie führen das
neue Lektüreverfahren in praktischer Anwendung vor. Mehr noch: Die epistolare
Kommunikation besitzt für diese Lektüretechnik Modellcharakter. Ein alter, weit
in die Antike zurückreichender Topos der Epistolographie besagt, daß der Brief
ein Gespräch darstelle. Seit dem zweiten Jahrhundert vor Christus bestimmt die
Epistolartheorie den Brief als ein Gespräch, das der Briefschreiber mit einem Ab-
wesenden führt. 121 Dem Brief wird dabei die Fähigkeit zugeschrieben, die Illusion
der Präsenz zu erzeugen.122 Der Briefleser soll den Eindruck gewinnen, unmittelbar
mit der Person des Briefschreibers zu konferieren, weshalb der Epistolograph dazu
aufgefordert wird, sich in seinem Schreibstil an der mündlichen Rede zu orien-

120
C. E. Quillen spricht in diesem Zusammenhang von dem »humanist project whose aim is self-
transformation«: »Renaissance humanists justified their cultural agenda in terms that asserted
the capacity of reading long-dead authors to transform the >modem< person« (Rereading the
Renaissance. S. 7).
121
Diese Definition findet sich erstmals bei dem Bibliographen Artemo, der die Briefe des Ari-
stoteles herausgab. (Vgl. Albrecht Schöne: Uber Goethes Brief an Behrisch vom 10. November
1767. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hg. von H. Singer und B. v. Wiese. Köln und Graz
1967. S. 193-227, hier: S. 206.) Sie wird in der lateinischen Epistolographie immer wieder
aufgegriffen - insbesondere bei Cicero (vgl. etwa Epistulae ad Atticum 12.39.2) und Seneca
(vgl. Ad Lucilium epistulae morales 40.1, 75.1). Siehe dazu auch Klaus Thraede: Grundzüge
griechisch-römischer Brieftopik. S. 27-74.
122
Vgl. die von K. Thraede aus vorchristlicher und frühchristlicher Zeit gesammelten Belege:
Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik. S. 39^47, S. 52-61, S. 83-88, S. 146-157 und
passim. Ein schönes Beispiel für diesen Brief-Topos bietet der Kirchenvater Hieronymus
am Eingang seines Briefes an Nitia - eines Briefes, durch den sich Erasmus von Rotterdam
zu seiner Abhandlung über das Briefschreiben inspirieren ließ: »Turpilius comicus tractans
de vicissitudine literarum: Sola, inquit, res est, quae homines absentes praesentes facit.
Nec falsam dedit, quamquam in re non vera sententiam. Quid enim est (ut ita dicam) tarn
praesens inter absentes, quam per epistolas & alloqui & audire quos diligas?« (Zit. nach Lisa
Jardine: Erasmus, Man of Letters. The Construction of Charisma in Print. Princeton 1993.
S. 266.).
Lesen als Gespräch mit dem Autor 641

deren. 123 Der freundschaftliche Brief erscheint somit »als eine mit den Mitteln
der Sprache erzeugte Gegenwart des Freundes, als ein literarisches Äquivalent der
Person, eine είκών ψυχής sprachlicher Art.«' 24 Der Brief bietet sich folglich als
Hilfsmittel an, um die historische Kluft zu überbrücken, die den humanistischen
Gelehrten von der Antike trennt. In diesem Sinne deutet denn auch Carol Quil-
len die Vorliebe, die Petrarca der Briefform entgegenbringt: »The letter is in some
sense an ideal genre for this task, for one of its purposes is to bridge gaps in time
and space, to make present for a reader-addressee the voice or persona of one who
is absent.« 125
Freilich macht sich Petrarca die antike Brieftheorie nicht vorbehaltlos zu eigen.
Er unterzieht sie vielmehr einer signifikanten Revision. Wo die antike Epistologra-
phie dem Brief das Vermögen zuerkennt, die Präsenz des Briefschreibers heraufzube-
schwören, da konfrontiert Petrarca den Briefleser mit der Notwendigkeit, den Brief-
schreiber zu vergegenwärtigen. Nicht der Brief vergegenwärtigt den Briefschreiber,
sondern der Leser. Der Brief selbst ist bloß Fragment oder Ruine; er verweist auf die
Abwesenheit seines Verfassers und motiviert den Leser auf diese Weise dazu, das tote
Fragment zu beleben und zu vervollständigen. Der Leser ist dafür verantwortlich, die
Anwesenheit des Autors heraufzubeschwören. Macht der Leser von seiner Vorstel-
lungskraft keinen Gebrauch, dann bleibt ihm der Brieftext fremd und fern, so sehr
sich der Verfasser in seiner Darstellung auch um Lebendigkeit und Unmittelbarkeit
bemüht haben mag. Daher fordert Petrarca den Leser seiner eigenen Briefe dazu auf,
eine solche Anstrengung der Vergegenwärtigung auf sich zu nehmen: »Volo ego«, so
schreibt er an seinen Freund Francesco Nelli,
ut lector meus, quisquis sit, me unum, non filie nuptias non amice noctem [...] non domum
aut agrum aut thesaurum suum cogitet, et saltern dum legit, volo mecum sit. Si negotiis urge-
tur, lectionem differat; ubi ad legendum accesserit, negotiorum pondus et curam rei familiaris
abiciat, inque ea que sub oculis sunt, animum intendat.' 26

123 Diese Forderung wird bereits bei Demetrius von Phaleron erhoben. Vgl. Demetrius on Style.
The Greek text of Demetrius De elocutione edited after the Paris Manuscript by W. Rhys
Roberts. Ndr. der Ausgabe Cambridge 1902. Hildesheim 1969. § 227. Vgl. auch Janet Gurkin
Altman: Epistolarity. Approaches to a Form. Columbus 1982. S. 135: »As a written dialogue,
epistolary discourse is obsessed with its oral model.«
124 Wolfgang G. Müller: Der Brief als Spiegel der Seele. Zur Geschichte eines Topos der Episto-
lartheorie von der Antike bis zu Samuel Richardson. In: Antike und Abendland 26 (1980).
S. 138-157, hier: S. 141. Vgl. auch K. Thraede: Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik.
S. 23f.,S. 87f., S. 157-161.
125 C. E. Quillen: Rereading the Renaissance. S. 119.
126 Familiares XIII.5.23. (»Ich will, daß mein Leser, wer immer es sei, nur an eines denkt: an
mich, nicht an die Verheiratung der Tochter, nicht an die Nacht bei der Freundin, [...] nicht
an sein Haus oder sein Feld oder an sein Vermögen, und daß er, zumindest solange er mich
liest, bei mir ist. Wenn er von Geschäften bedrängt wird, soll er das Lesen aufschieben,
sobald er sich aber anschickt zu lesen, soll er die Last der Geschäfte und die Sorge um seine
Privatangelegenheiten von sich werfen und seinen Geist auf das richten, was er vor Augen
hat.« [Ubersetzung von mir, Ch. M.]).
642 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Petrarca bekundet seine Abneigung gegen einen Leser, der seine Briefe in einer
zerstreuten Geistesverfassung zur Kenntnis nimmt. Er verlangt von seinem Rezipi-
enten, daß er ihm seine volle Aufmerksamkeit widmet. Der Briefleser, so lautet sein
Wunsch, möge sich einer meditativen Form der Lektüre befleißigen. Gegenstand
dieser meditatio ist aber nicht die res, die der Briefschreiber erörtert, sondern das Ich,
das sich in dem Brief artikuliert. Der Leser soll mit seiner ganzen geistigen Kraft nur
an eines denken - »an mich«, an dieses fremde Ich. Er soll sich selbst aus der Zer-
streuung sammeln, indem er dem in Gestalt des Briefdokuments nur fragmentarisch
präsenten Briefschreiber zu voller Gegenwart verhilft. Durch sein konzentriertes
Denken restituiert er nicht nur die Integrität des Briefverfassers, sondern auch seine
eigene. Er verschafft dem Verfasser und sich selbst für den Zeitraum der Lektüre
ein neues Leben, eine geistige Präsenz. Die Lektüre als Gespräch mit dem Autor ist
zugleich auch eine Technik der Selbst(re)konstitution.
Die Briefkommunikation besitzt für Petrarca Modellcharakter, weil sie die Akti-
vität des Restituierens und Vergegenwärtigens in den Vordergrund stellt. Nicht bloß
der Briefleser, vor allem auch der Briefschreiber ist in dieser Weise aktiv. Petrarca
akzentuiert den Adressatenbezug seiner Briefe. In der großen Epistel an Ludwig
van Kempen, die der Sammlung der Famiiiares als Praefatio vorangestellt ist und
den Plan des Briefwerks erläutert, werden zwei einander scheinbar widersprechende
Eigenheiten seiner epistolographischen Praxis hervorgehoben: Zum einen will Pe-
trarca seine Briefe als Abbilder seiner Seele verstanden wissen; der Schreibstil soll
dabei als Indikator für die jeweilige Geistesverfassung des Briefverfassers dienen. 127
Zum anderen führt er die stilistische Vielfalt, die in seinen Briefen herrscht, darauf
zurück, daß er sich auf die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Briefempfänger
habe einstellen müssen. Er habe immer versucht, der besonderen Situation und
dem spezifischen Charakter seines jeweiligen Adressaten durch seine Schreibweise
gerecht zu werden. 128 Das eine Mal heißt es also, der Stil solle die Persönlichkeit des
Briefschreibers zum Ausdruck bringen, das andere Mal heißt es umgekehrt, daß der
Stil auf den Charakter des Briefadressaten verweise.
Petrarca sieht darin jedoch keinen Widerspruch. Der Stil des Briefschreibers ist
beides zugleich in unauflöslicher Verquickung: Abbild seiner eigenen Persönlichkeit
und Abbild der Persönlichkeit des Briefempfängers. Wie der Briefleser sich dadurch
als integrales Subjekt (re-)konstituiert, daß er die Person des Briefschreibers wieder-
belebt, so konstituiert sich der Briefschreiber als Autorsubjekt, indem er den abwe-
senden Adressaten vergegenwärtigt. Der Briefschreiber stellt sich den Adressaten
seiner Rede als unmittelbar anwesend vor. Aufgrund der Kenntnisse, die er über die

127
Ebd. 1.1.19, 1.1.31. — Petrarca rekurriert hier auf den antiken Topos vom Brief als Spiegel
der Seele. Vgl. dazu W. G. Müller: Der Brief als Spiegel der Seele. S. 138-142; K. Thraede:
Grundzüge der griechisch-römischen Brieftopik. S. 23f. und passim.
128
Famiiiares I.1.28f.
Lesen als Gespräch mit dem Autor 643

Persönlichkeit und Lebensumstände des Adressaten besitzt, weist er ihm innerhalb


des fiktiven Gesprächs, das er in seinem Brief inszeniert, eine bestimmte Rolle zu:
die Rolle des Unglücklichen etwa, der des Trostes bedarf, oder diejenige des leiden-
schaftlich Erregten, der besänftigt und ermahnt werden muß, oder aber diejenige
des verständnisvollen Zuhörers, dem der Briefschreiber sein Herz ausschütten kann.
Laut Petrarca ist die Konstruktion einer solchen Adressatenfigur eine unabdingbare
Voraussetzung des Briefschreibens.129 Nur auf dem Umweg über die imaginäre
Vergegenwärtigung der Persönlichkeit des Adressaten kann der Briefverfasser seine
eigene Persönlichkeit zum Ausdruck bringen; nur dadurch, daß er sich den Brief-
empfänger vor Augen stellt, wird er sich selbst als Schreiber gegenwärtig.
Ein höchst instruktives Beispiel für diesen Zusammenhang liefert Famiiiares
XIII.7. Die Epistel ist an den Abt von St. Benigno adressiert. Petrarca eröffnet seinen
Brief mit dem Eingeständnis, daß er das unstillbare Verlangen empfinde, etwas zu
schreiben. Er werde aber dadurch daran gehindert, diesem Verlangen nachzukom-
men, daß er weder über ein Thema verfüge, zu dem er sich äußern, noch über einen
Adressaten, dem er sich mitteilen könne.130 Das erste dieser beiden Probleme löst
Petrarca, indem er sein Schreibverlangen selbst und somit seine eigene Person zum
Thema macht. Der ganze Brief an den Abt von St. Benigno handelt von nichts
anderem als von der Lust, die der Briefverfasser am Schreiben empfindet. Doch
um dieser Lust frönen und den Schreibprozeß in Gang bringen zu können, genügt
es eben nicht, eine geeignete res gefunden zu haben. Petrarca kann nur dann über
etwas (über sich selbst) schreiben, wenn er an jemanden schreibt. Er braucht einen
Adressaten, der sich für das - wie Petrarca zugibt - merkwürdige Thema seines
idiosynkratischen Schreibverlangens interessiert, der neugierig ist, etwas über den
Briefverfasser und seine Eigentümlichkeiten zu erfahren. Petrarca schreibt an den
Abt von St. Benigno, weil er bei ihm ein solches Interesse voraussetzt: »Scribam tibi
non quod magnopere te ista contingant, sed quia neque rerum cupidior novarum et
precipue mearum, neque occultarum vestigiantor, neque difficilium intelligentior,

129 Petrarca hebt somit einen Aspekt der Epistolographie hervor, der erst in der neueren Forschung
wieder verstärkt Beachtung gefunden hat. Vgl. etwa A. Schöne in seiner bahnbrechenden
Studie über die Briefe des j u n g e n Goethe: »Angemessenes Verständnis eines Briefes beruht
auf der Einsicht in den Rollencharakter der vom Brief entworfenen Figuren des Schreibers
und Lesers, - wobei es sich versteht, d a ß die Rollenwahl, die Art, in der der Schreibende sich
gibt und in der er seinen Leser auffaßt, ihrerseits Licht wirft auf den Verfasser des Briefes.«
(Goethes Brief an Behrisch. S. 215f.) Vgl. auch J. G. A l t m a n : Epistolarity. S. 88: » T h e epis-
tolary form is u n i q u e in m a k i n g the reader (narratee) almost as important an agent in the
narrative as the writer (narrator). [...] Indeed, at the very inception of the letter, he [sc. the
reader] plays an instrumental generative role. If pure autobiography can be born of the mere
desire to express oneself, w i t h o u t regard for the eventual reader, the letter is by definition
never the product of such an >immaculate conception,« but is rather the result of a union of
writer and reader. T h e epistolary experience, as distinguished from the autobiographical, is
a reciprocal one. T h e letter writer smultaneously seeks to affect his reader and is affected by
him.«
130 Famiiiares XIII.7.1 £
644 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

neque incredibilium examinantior alius michi tarn proximus nunc erat.«131 Petrarca
vergegenwärtigt und konstruiert sich einen Adressaten, der genauso stark danach ver-
langt, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen, wie er selbst danach begierig ist, etwas
über sich mitzuteilen. Das Konstrukt des verständigen und wissbegierigen Zuhörers
ist die Voraussetzung dafür, daß der Briefverfasser sich äußern kann. Er konstituiert
sich als Schreiber, indem er die Gegenwart eines Rezipienten fingiert.
Der epistolare Diskurs impliziert die Herstellung einer solchen imaginären
Präsenz. Der Briefschreiber verleiht dem Schriftmonument, das den abwesenden
Adressaten vertritt, Gesicht und Stimme.132 Der programmatische Brief an Ludwig
van Kempen macht diese Voraussetzung epistolaren Schreibens sichtbar. Petrarca
beschließt seine Epistel, indem er das Gesicht seines Adressaten apostrophiert, das
ihm während des Schreibens vor Augen steht: »Dulce michi colloquium tecum fuit,
cupideque et quasi de industria protractum; vultum enim tuum retulit per tot terras
et maria teque michi presentem fecit usque ad vesperam, cum matutino tempore
calamum cepissem.«133 Der Briefverfasser überwindet die gewaltige Distanz, die
ihn von seinem Adressaten trennt, nicht erst mit Hilfe des Briefes, der auf eine
weite Reise geschickt wird, sondern allein schon dadurch, daß er an ihn schreibt.
Der Adressat ist in Gestalt des Gesichts bereits während des Schreibens zugegen,
es kommt gar nicht mehr darauf an, daß der Brief ihn tatsächlich erreicht. Der epi-
stolare Dialog findet allein in der Vorstellung des Briefverfassers statt; er wird in den
Schreibakt vorverlegt.
Wie Seneca in den Lucilius-Briefen so führt auch Petrarca in seinen Famiiiares
eigentlich ein Gespräch mit sich selbst. Doch Seneca zielt darauf ab, den Briefadres-
saten ganz zu verinnerlichen. Der andere wird in eine intrapsychische Kontrollin-
stanz verwandelt, mit deren Hilfe der Briefschreiber seine Vorstellungstätigkeit zu
disziplinieren sucht. Bei Petrarca ist die imaginäre Präsenz des Briefadressaten kein
Instrument der Disziplinierung. Sie wird vielmehr um ihrer selbst willen erstrebt.
Petrarca bezeichnet die imaginäre Anwesenheit des Adressaten als süß; sie ist ein

131
Ebd. XIII.7.3. (»Ich schreibe dir, nicht weil das, was ich zu sagen habe, dich besonders be-
rührt, sondern weil mir im Augenblick niemand sonst zur Verfügung steht, der so begierig ist,
Neuigkeiten zu erfahren, vor allem über mich, niemand sonst, der sich so sehr für verborgene
und schwierige Dinge interessiert und auch bereit ist, sie zu untersuchen.« [Übersetzung von
mir, Ch. M.]).
132
Der Briefverfasser appliziert dabei die rhetorische Figur der Prosopopöie. Folgt man Paul de
Man, so manifestiert sich diese in Form einer fiktiven Anrede — »the fiction of an apostrophe
to an absent, deceased, or voiceless entity, which posits the possibility of the latter's reply and
confers upon it the power of speech. Voice assumes mouth, eye, and finally face, a chain that
is manifest in the etymology of the trope's name, prosopon poein, to confer a mask or a face
(prosopon).« (P. de Man: Autobiography as De-Facement. In: ders.: T h e Rhetoric of Romanti-
cism. N e w York 1984. S. 6 7 - 8 1 , hier: S. 75f.).
133
Familiares 1.1.47. (»Süß war mir das Zwiegespräch mit dir. Gern und gewissermaßen mit
Absicht habe ich es in die Länge gezogen. Denn es hat dein Gesicht über so viele Länder und
Meere hinweg zu mir gebracht und hat dich mir gegenwärtig gemacht bis zum Abend, da ich
am frühen Morgen die Feder ergriffen hatte.« [Ubersetzung nach Nachod/Stern.]).
Lesen als Gespräch mit dem Autor 645

Gegenstand des Genusses. Dieser ungetrübte Genuß kontrastiert mit der gestörten
Wahrnehmung, die durch die physische Präsenz des anderen ausgelöst wird. Laut
Petrarca verstellt die unmittelbare Nähe des anderen den Blick auf das Wesentliche.
Sie beeinträchtigt das Urteilsvermögen, sie lenkt die Aufmerksamkeit auf Beiläufiges
und Zufälliges. Der Abstand, der den Briefschreiber von seinem Adressaten trennt,
ist folglich weniger ein Hindernis, das es zu überwinden gilt, als die Voraussetzung
dafür, eine reinere, intensivere, von Störfaktoren befreite Präsenz herzustellen. Pe-
trarca gibt der epistolaren Kommunikation gegenüber der persönlichen, direkten
Interaktion den Vorzug, weil nur sie es erlaubt, die Anwesenheit des anderen in
ihrer reinen Fülle zu genießen. Paradoxerweise distanziert er den anderen, reduziert
er seine Gegenwart auf den Status einer Text-Ruine, um sich ihm auf dem Wege der
imaginativen Wiederbelebung um so stärker annähern zu können.
Petrarca >antikisiert< gewissermaßen seine Freunde und Zeitgenossen, indem er
den Umgang mit ihnen auf den Schriftverkehr einschränkt. Jeder geschriebene Text
ist ja im Grunde ein Fragment oder eine Ruine, sofern er auf die Abwesenheit seines
Verfassers verweist und somit die Arbeit der imaginativen Restitution erforderlich
macht. Der Briefverkehr erlaubt es Petrarca, gegenüber seinen Freunden den gleichen
Abstand herzustellen, der ihn von den antiken Autoren trennt. So wird es ihm mög-
lich, beide, die Alten und die Zeitgenossen, in ein und derselben imaginären Sphäre
zusammenzuführen. Petrarca konzipiert die mens des Briefschreibers und -lesers als
den geistigen Raum, in dem antike und >moderne< Autoren einander freundschaft-
lich begegnen können. Das Refugium, das er sich in Vaucluse geschaffen hat, ist
nur scheinbar ein Ort der Einsamkeit und der Isolation. Gerade weil dort auch die
Zeitgenossen meist nur in schriftlicher Form Zugang finden, wird ihm die Erfahrung
einer die Zeiten übergreifenden Gemeinschaft der Seelen zuteil:
Interea equidem hic michi Romam, hic Athenas, hic patriam ipsam mente constituo; hic om-
nes quos habeo amicos vel quos habui, nectantum familiari convictu probatos et qui mecum
vixerunt, sed qui multis ante me seculis obierunt, solo michi cognitos beneficio literarum,
quorum sive res gestas atque animum sive mores vitamque sive linguam et ingenium miror,
ex omnibus locis atque omni evo in hanc exiguam vallem sepe contraho cupidiusque cum illis
versor quam cum his qui sibi vivere videntur, quotiens rancidum nescio quid spirantes, gelido
in aere sui halitus videre vestigium. 134

In seinen Briefen, so kommentiert Carol Quillen diese Passage, schafft sich Petrarca
eine Heimat, in der er als Leser und Schreiber den Umgang mit seinen Freunden aus

134 Famiiiares XV.3.14. (»Inzwischen erbaue ich mir hier in meinem Geist mein Rom, hier mein
Athen, hier mein Vaterland; hier versammle ich alle Freunde, die ich habe oder hatte, nicht
nur die, mit denen ich vertrauten Umgang pflegte und die zu meiner Zeit gelebt haben,
sondern auch die, die viele Jahrhunderte vor mir gestorben sind und die ich nur durch die
Vermittlung der Buchstaben kenne, deren Taten und Geist, oder Sitten und Leben, oder
Sprache und Verstand ich bewundere; von überall her und aus allen Zeitaltern bringe ich sie
in diesem Tal zusammen und unterhalte mich mit ihnen leidenschaftlicher als mit denen, die
sich für lebendig halten, sobald sie nur, irgendetwas Stinkendes ausstoßend, eine Spur ihres
Atems in der kalten Luft wahrnehmen.« [Ubersetzung von mir, Ch. M.]).
646 Von der Hermeneutik des Willem zur Asthetisierung der Selbsterkenntnis

allen Zeitaltern pflegen kann. 135 Doch diese Heimat ist zugleich ein Exil. Petrarca
muß Italien verlassen, um Rom in seiner Vorstellung wiedererstehen zu lassen. Er
muß dem persönlichen Umgang mit seinen Freunden entsagen, damit er ihre gei-
stige Präsenz genießen und sie in das Gespräch mit den antiken Autoren einbinden
kann.
Trennen, u m zu verbinden; Identifikation durch Nichtübereinstimmung:
Die künstliche Heimat, die er in seiner Briefkorrespondenz erzeugt, stellt einen
Schwellenbereich dar, ein Interstitium zwischen Gegenwart und Vergangenheit,
ein Zugleich von intimer Nähe und befremdender Distanz. Petrarca verschafft sich
in dieser Sphäre die Illusion unmittelbarer Präsenz, ist sich dabei jedoch stets ihrer
Artifizialität und somit des irreduziblen Abstands bewußt, der die Voraussetzung der
imaginären Wiedererweckung bildet. »Multa dixi quasi ad presentem; sed iam ab
illa vehementissima imaginatione rediens, quam longe absis intelligo,« so bemerkt
er etwa am Ende des Briefes, der an den griechischen Dichter Homer gerichtet
ist. 136 Das künstliche Vaterland des Briefschreibers markiert eine Quasi-Präsenz;
er selbst ist in ihr weder ganz gegenwärtig noch ganz abwesend. Petrarca ist ein
Grenzbewohner - er fühlt sich wie auf der Grenze zwischen zwei Völkern (»velut in
confinio duorum populorum«). 137 Keinem dieser Völker gehört er wirklich an. Er ist
in doppelter Hinsicht ein Exilant. 138 Sein Zuhause ist ein exterritoriales Gebiet, das
weder hier noch dort, weder im Jetzt noch im Damals zu lokalisieren ist.

135 C. E. Quillen: Rereading the Renaissance. S. 115.


136 Famiiiares XXIV. 12.42.
137 Rerum memorandum libri 1.19. In: Prose. S. 272.
138 Vgl. Th. Greene: The Light in Troy. S. 8: »The discovery of antiquity and simultaneously the
remoteness of antiquity made of Petrarch a double exile, neither Roman nor modern«.
XI. Petrarcas Secretum·. Selbsthermeneutik
im Geiste der Selbstästhetisierung

1. Christlicher Humanismus: Petrarcas Verhältnis zu Augustinus

Petrarca entwickelt ein neues humanistisches Lektüreverfahren, das der historischen


Alterität der Antike Rechnung trägt, diese aber zugleich zu überwinden sucht. Er
konzipiert die Lektüre als ein Gespräch des Lesers mit dem Autor, dessen Persönlich-
keit anhand der überlieferten Textzeugnisse rekonstruiert und vergegenwärtigt wird.
Dieses Lektüreverfahren ist jedoch nicht das einzige, von dem Petrarca Gebrauch
macht. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der humanistische Gelehrte auch
auf die Technik der >kannibalischen< Lektüre zurückgreift, die Seneca in den Epistulae
morales vorfuhrt. Diese beiden Lektüreverfahren stehen zueinander im Widerspruch:
Während das eine darauf aus ist, die Autorpersönlichkeit als eigenständige Instanz
hinter dem Text zu restituieren, zielt das andere darauf ab, den Text restlos im Leser
aufgehen zu lassen und den Autor dabei zum Verschwinden zu bringen. Trotz dieses
Widerspruchs weist der Humanist beiden Lektüretechniken ihren Platz innerhalb
einer ethischen und literarischen Praxis zu, die als Wiederbelebung der antiken ars
vitae begriffen wird.
Ein drittes Lektüreverfahren, das bei Petrarca zur Anwendung gelangt, scheint
dagegen mit der humanistischen ars vitae unvereinbar zu sein. Der Gelehrte sieht in
der Dichtung eine allegorische Ausdrucksform; die Allegorese gilt ihm folglich als
die der Poesie einzig angemessene Technik der Lektüre. »[E]x huiusce sermonis ge-
nere poetica omnis intexta est«, so heißt es in einem Brief an den Bruder Gherardo. 1
Petrarca macht sich somit die mittelalterliche, auf Laktanz, Isidor von Sevilla und
Macrobius zurückgehende Auffassung der Poesie zu eigen, wonach dem Dichter die
Aufgabe zukommt, die Einsichten der Theologie und der Philosophie in verscho-
bener oder verschleierter Form zum Ausdruck zu bringen. Demnach verbergen die
Tropen und Figuren der Dichtung moralische, vor allem aber religiöse Wahrheiten,
die sich grundsätzlich auch in literaler Sprache mitteilen lassen, unter einem allego-
rischen Kleid, einem integumentum oder velamen} Nicht nur die christliche, auch

1
Famiiiares X.4. 2.
2
Vgl. Lucius C. F. Lactantius: Divinarum Institutionum libri Septem. In: Lactantii opera
omnia. Hg. von J.-P. Migne. Paris 1844 (Patrologia Latina. Bd. 6). S. 171: »Nesciunt enim,
qui sit poeticae licentiae modus; quousque progredi fingendo liceat: cum officium poetae sit
in eo, ut ea, quae gesta sunt vere, in alias species obliquis figurationibus cum decore aliquo
648 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

die heidnische Poesie kann die Funktion einer solchen verschleierten Darstellung
übernehmen. 3 Petrarca befürwortet die christliche Allegorese heidnisch-antiker
Dichtung. So liest er etwa die Werke Vergils (insbesondere die Aeneis und die vierte
Ekloge) als verschlüsselte Darstellungen christlicher Glaubenswahrheiten. 4 Der
Vergil-Text wird auf Einsichten bezogen, die sein Verfasser noch gar nicht besitzen
konnte. Das Wissen und die Intention des Autors sind für dieses Deutungsverfahren
irrelevant. Der Text interessiert nicht als Abbild des Denkens einer historischen, indi-
viduell markierten Autorpersönlichkeit, sondern als Ausdruck zeitloser Wahrheiten,
die letztlich durch die transhistorische, alles umgreifende Wahrheit Gottes verbürgt
werden. »This method«, so erklärt Thomas Greene, »aligned author and reader in a
single universe of discourse wherein no cultural distance could exist because, with the
sole exception of the Christian revelation, historical change was virtually unknown.« 5
Das Verfahren der christlichen Allegorese dementiert das historische Bewußtsein, das
den humanistischen Dialog mit den antiken Autoren kennzeichnet. Aus christlicher
Sicht hat die Wahrheit, ganz gleich, aus welchem Munde sie verlautet, immer nur
einen Autor, nämlich Gott. Das humanistische Vorhaben, die partielle und somit
fehlbare Ansicht des menschlichen Verfassers zu rekonstruieren, erscheint aus dieser
Perspektive problematisch. Die Tatsache, daß Petrarca sich beider Verfahrensweisen
bedient, der Allegorese und des Gesprächs mit dem Autor, bedarf folglich der Er-
klärung. Das Nebeneinander der Lektüretechniken verweist auf einen möglichen
Konflikt - auf den Konflikt zwischen dem humanistischen Interesse am Menschen
und dessen innerweltlicher Bemühung um Daseinsbewältigung einerseits sowie dem

conversa traducat.« Ebd. S. 175: »Vera sunt ergo quae loquuntur poetae, sed obtentu aliquo
specieque velata«. Isidor von Sevilla: Etymologiarum libri XX. In: Sancti Isidori Hispalensis
Episcopi Opera Omnia. Hg. von J.-P. Migne. Bd. 2. Paris 1850 (Patrologia Latina. Bd. 82).
VIII.7.10: »Officium autem poetae in eo est, ut ea quae vere gesta sunt in alias species obliquis
figurationibus cum decore aliquo conversa transducat.« Ambrosius Theodosius Macrobius:
Commentarii in somnium Scipionis. Hg. von J. Willis. Leipzig 2 1970 (Bibliotheca Teubne-
riana). 1.2.10-12. - Petrarca bezieht sieb in seiner Krönungsrede und im neunten Buch der
Africa explizit auf die integumentum-Lehre. Vgl. Francesco Petrarca: Collatio laureationis. In:
Öpere latine. Vol. 2. S. 1255-1283, hier: S. 1270; ders.: Edizione nazionale delle opere. Vol.
1: L'Africa. Edizione critica per cura di Nicola Festa. Firenze 1926. IX. lOOf. - Zur integu-
mentum-Yd\K vgl. auch Hennig Brinkmann: Verhüllung (>integumentum<) als literarische
Darstellungsform im Mittelalter. In: Der Begriff der repraesentatio im Mittelalter. Hg. von
Albert Zimmermann. Berlin und New York 1971. S. 314-339; PaulKlopsch: Einfuhrung in die
Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters. Darmstadt 1980 S. 9f. Zu Petrarcas Rezeption
der integumentum-Lehre und zu seiner poetologischen Verwendung des Schleier-Bildes vgl.
Patricia Oster: Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche
Erfahrung des Imaginären. München 2002. S. 83—134.
3 Vgl. P. Klopsch: Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters. S. 105.
4 Vgl. De otio religioso. In: Opere latine. Bd. 1. S. 634; Seniles IV.5 (»De quibusquam fictioni-
bus Virgilii«). In: Francisci Petrarchae Opera. Bd. 2. S. 8 6 7 - 8 7 3 . - Vgl. dazu auch Eberhard
Müller-Borchat: Allegorese und Allegorie. Zu Petrarcas Vergildeutung (Seniles IV.5). In:
Petrarca 1304-1374. Beiträge zu Werk und Wirkung. Hg. von Fritz Schalk. Frankfurt/M.
1975. S. 198-208.
5 Th. Greene: The Light in Troy. S. 94.
Petrarcas Secretum 649

christlichen Interesse an Gott und dem auf die Überwindung des Irdischen zielenden
Erlösungsgeschehen andererseits.
Es stellt sich mithin die Frage, wie Petrarca mit diesem Konfliktpotential umgeht.
Die ältere Forschung n i m m t an, daß ein solcher Konflikt besteht, versucht aber zu-
gleich, ihn mittels einer entwicklungsgeschichtlichen Konstruktion zu entschärfen
- dadurch nämlich, daß sie die christliche und die humanistische Sichtweise unter-
schiedlichen Lebensphasen Petrarcas zuschreibt. Demnach durchlebte der Humanist
in den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts eine spirituelle Krise, die sein Interesse
an antiker Literatur und volkssprachlicher Dichtung in Frage stellte. Die Krise, die in
mehreren stark religiös getönten Schriften, etwa in De vita solitaria·, De otio religiöse
und De secreto conflictu mearum curarum, ihren Niederschlag fand, soll schließlich
in einem Konversionserlebnis kulminiert haben: Aus dem humanistischen Dichter
wurde ein christlicher Philosoph. 6 Die neuere Forschung erweist diese Konstruktion
als problematisch. Sie zeigt auf, d a ß Petrarcas Interesse an antiker Literatur und
Philosophie die vermeintliche Krise einerseits unbeschadet überdauerte und daß ihn
andererseits die christliche Sorge u m sein Seelenheil bereits in den dreißiger Jahren
umtrieb. Von einer Konversion könne keine Rede sein, allenfalls sei eine gewisse
Verschiebung der Gewichte zugunsten der stärkeren Beschäftigung mit spirituellen
Fragen zu registrieren. 7 Es ist daher davon auszugehen, daß christliches u n d h u m a -
nistisches Denken bei Petrarca von Anfang an koexistieren.
Doch wie genau gestaltet sich diese Koexistenz? Zwei extreme Positionen sind
denkbar. Z u m einen erscheint es möglich, daß Christentum und H u m a n i s m u s in
der literarischen Praxis des Gelehrten einen Antagonismus bilden, daß Petrarca
mithin zwischen christlicher Selbstentsagung und humanistischer Selbstsorge hin-
und herschwankt. Dieser Antagonismus könnte als eine Manifestation jener inneren
Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit angesehen werden, die man dem f r ü h h u m a -
nistischen Gelehrten immer wieder attestiert und als Insignium seiner >Modernität<
beschrieben hat. 8 Z u m anderen ist es aber auch vorstellbar, daß Petrarca die beiden
Denkformen und die entsprechenden Lektüreverfahren miteinander verbindet, u m
einen dezidiert christlichen Humanismus etablieren. 9 Die Frage, die zur Erörterung
ansteht, betrifft mithin den Stellenwert, den die neue Lektüretechnik innerhalb der

' Henry Cochin: Le frere de Petrarque et le livre >Du repos des religieux«. Paris 1903 (Ndr.
Geneve 1975). S. 30—42 (Konversion) und passim; Carlo Calcaterra: Nella selva del Petrarca.
Bologna 1942. S. 415-434.
7 Vgl. die Referate der diesbezüglichen neueren Forschungsarbeiten bei N. Mann: Petrarch.

S. 26f.; C. E. Quillen: Rereading the Renaissance. S. l l l f . , S. 186f.


8 Zur Widersprüchlichkeit und zur mangelnden Konsistenz des petrarkistischen Denkens vgl.,

um nur einige zu nennen, Umberto Bosco: Francesco Petrarca. Bari 3 1965. S. 83f.; Paul Oskar
Kristeller: Petrarch. In: ders.: Eight Philosophers of the Italian Renaissance. Stanford 1964.
S. 1-18, hier: S. 17f.; E. Keßler: Petrarca und die Geschichte. S. 159f.; K. Stierle: Petrarca.
Fragmente eines Selbstentwurfs. S. 69f.
9 In diese Richtung argumentieren K. Heitmann: Fortuna und Virtus. S. 254-259; C. E.

Quillen: Rereading the Renaissance. S. 186f.


650 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

diskursiven Praxis Petrarcas besitzt. Handelt es sich dabei um ein spezifisch huma-
nistisches Verfahren, oder ist sie auch im Bereich der christlichen Kontemplation
einsetzbar? Bemüht sich Petrarca um die Synthese humanistischer und christlicher
Lektürepraktiken, und wenn ja, gelingt diese Synthese, oder stürzt ihr Scheitern den
Gelehrten in einen unauflöslichen Konflikt? Diese Fragen sollen der folgenden Un-
tersuchung die Richtung weisen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei zwei
Texte, in denen die Wechselbeziehung zwischen humanistischen und christlichen
Formen der Subjektkonstitution eine prominente Rolle spielt: Familiäres IV. 1, der
wohl berühmteste Brief aus der Sammlung, in dem Petrarca von seiner Besteigung
des Mont Ventoux berichtet, und die autobiographische Dialogschrift De secreto
conflictu mearum curarum.

Augustinus als Symbolgestalt des christlichen H u m a n i s m u s

Als Repräsentant der christlichen Glaubenswelt fungiert in beiden Texten der Kir-
chenvater Augustinus. Augustinus begleitet Petrarca bei seinem Aufstieg auf den
Mont Ventoux, und zwar in Gestalt eines Buches, nämlich der Confessiones, die der
Bergsteiger auf dem Gipfel konsultiert. Im Secretum übernimmt Augustinus die
Rolle des Beichtvaters und Gesprächspartners, der dem Sünder Franciscus - einer
Figur, in der Petrarca sich selbst porträtiert - zur Einsicht in seinen Seelenzustand
verhilft. Es ist kein Zufall, daß der Kirchenvater in diesen fur das Selbstverständnis
Petrarcas zentralen Texten so stark im Vordergrund steht. Augustinus markiert für
den humanistischen Gelehrten eine Symbolgestalt des christlichen Glaubens. Nach
der heiligen Schrift gilt ihm das Werk Augustins als das bedeutendste Vermitt-
lungsorgan christlicher Glaubenswahrheiten. In seinen eigenen Schriften nimmt
Petrarca sogar häufiger auf Augustinus Bezug als auf die Bibel.10 Äußert er sich zu
theologischen Streitfragen, so sind die Argumente, die er vorträgt, in der Regel
augustinisch geprägt.
Die Kritik an der Scholastik etwa, die er in De sui ipsius et multorum ignorantia
artikuliert, steht ganz im Banne des Kirchenvaters. Wenn Petrarca der scholastischen
Philosophie vorwirft, daß das Wissen, das sie vermittele, den Willen des Wissenden

10
Zu Petrarcas Augustinus-Rezeption siehe die umfassende Studie von Pietro P. Gerosa: Umane-
simo cristiano del Petrarca. Influenza agostiniana. Attinenzi medievali. Torino 1966 (Uberblick
über die von Petrarca rezipierten augustinischen Schriften: S. 37—54, S. 166—174; augustinisch
beeinflußtes Ideengut Petrarcas: S. 338—358). Vgl. des weiteren: Pierre Courcelle: Petrarque
entre Saint Augustin et les Augustins du XIV e siecle. In: Studi petrarceschi 7 (1954). S. 51-71;
Klaus Heitmann: Augustins Lehre in Petrarcas »Secretum«. In: Bibliotheque d'Humanisme
et Renaissance 20 (1960). S. 34—55 (wiederabgedruckt in: Petrarca. Hg. von August Buck.
Darmstadt 1976 [Wege der Forschung. Bd. 353]. S. 282-307); C. Trinkaus: In Our Image
and Likeness. Bd. 1. S. 18-28; G. Billanovich: Nella biblioteca del Petrarca; F. Rico: Petrarca
γ el De vera religionr, fivelyne Luciani: Les Confessions de Saint Augustin dans les lettres
de Petrarque. Paris 1982; J. Küpper: Das Schweigen der Veritas; Andreas Kablitz: Petrarcas
Augustinismus und die Ecriture der Ventoux-Epistel. In: Poetica 26 (1994). S. 31-69.
Petrarcas Secretum 651

nicht zu beeinflussen vermöge, dann rekurriert er auf »die antirationalistische Lehre


Augustins vom Primat des Wollens über den Intellekt«." Nun ist der Rekurs auf
augustinische Positionen im Kontext einer anti-scholastischen Polemik nichts Au-
ßergewöhnliches. Für die nominalistische Kritik an der thomistischen Philosophie
gilt vielmehr generell, daß sie, wie Joachim Küpper im Anschluß an Etienne Gilson
formuliert, eine stabile Allianz mit dem Augustinismus eingeht. 12 Der besondere
Akzent, den Petrarca seinem Augustinismus verleiht, wird erst dann erkennbar,
wenn man sich vor Augen führt, auf welche Vorlage er sich in diesem Fall bezieht.
Petrarca orientiert sich mit seinen Ausführungen über Wollen und Wissen an den
Confessiones. Im VII. Buch der Bekenntnisse zeigt Augustinus anhand seiner eigenen
Erfahrung auf, daß die intellektuelle Gotteserkenntnis den gebrochenen Willen des
Sünders nicht zu heilen vermag. Die eigentliche Konversion, die im VIII. Buch
geschildert wird, setzt vielmehr die Auflösung des Willenskonflikts voraus. Diese
kann der Sünder jedoch nicht aus eigener Kraft bewerkstelligen; er bedarf dazu der
göttlichen Gnadenhilfe. Die providentielle Hilfe wird dem Sünder unter anderem
in Gestalt von narrationes und exempla zuteil, die das Verlangen des Sünders nach
einem neuen Leben entfachen. Nicht die mit dialektischen Mitteln vollzogene in-
tellektuelle ascensio des Philosophen, sondern das praktische Beispiel des Victorinus,
des Antonius oder der Trierer Beamten entfaltet eine heilsame Wirkung auf den Wil-
len des Sünders. Petrarca erkennt im Verfasser der Confessiones den Repräsentanten
einer praktischen Philosophie, dem individuelle Erfahrung und deren wirkungsvolle
sprachliche Gestaltung mehr gilt als abstraktes Systemwissen.
Er nähert Augustinus somit den Vertretern der antiken ars vitae an, der er in
Opposition zum scholastischen Rationalismus zu neuer Geltung verhelfen möchte.
Tatsächlich beruft sich Petrarca auf die Autorität des Kirchenvaters, um den Nutzen
der antiken Philosophie für die christliche Lebensführung zu erweisen. Er erinnert
daran, daß Augustinus durch die Lektüre einer heidnischen Schrift, des ciceronia-
nischen Hortensius nämlich, auf den Weg zum wahren Glauben geführt wurde.13
Gleichzeitig legt er dar, wie nahe Cicero in vielen seiner Schriften, insbesondere aber
in seiner Abhandlung De natura deorum, der christlichen Glaubenslehre kommt:
Dort hört er ihn mitunter nicht wie einen heidnischen Philosophen, sondern wie
einen christlichen Apostel sprechen (»non quasi philosophum loquentem, sed apos-
tulum«).14 Petrarca bemüht sich in De sui ipsius et multorum ignorantia also darum,
eine neue Allianz zu schmieden: eine Allianz zwischen dem christlichen Augustinis-
mus und der humanistischen ars vitae. Augustinus ist in seinen Augen nicht bloß
eine christliche, sondern auch eine humanistische Symbolfigur.

" J. Küpper: Das Schweigen der Veritas. S. 431.


12
Ebd. S. 441.
13
De sui ipsius et multorum ignorantia. S. 1108, S. 1122.
14
Ebd. S. 70; die Erörterung von De natura deorum·. S. 60-82.
652 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Petrarca sieht in Augustinus nicht nur deshalb einen Vorkämpfer für die Sache
des christlichen Humanismus, weil dieser die Kongruenz von christlicher Lehre und
antikem Denken bezeugt und die Philosophie als eine praktische, auf die Formung
des Willens abzielende Lebenskunst bestimmt habe. Darüber hinaus findet er im
Werk des Kirchenvaters Anknüpfungspunkte für sein neues Lektüreverfahren - für
das Lesen als Gespräch mit dem Autor. Ja, man könnte so weit gehen zu behaupten,
daß die Wurzeln dieses Verfahrens in der Willenshermeneutik zu finden sind, die
der Verfasser der Confessiones der Technik der Allegorese gegenüberstellt. Im XII.
Buch der Confessiones erörtert Augustinus seine hermeneutischen Prinzipien." Den
Ausgangspunkt bildet seine Beobachtung, daß über die Bedeutung eines Textes unter
den Lesern häufig Uneinigkeit besteht. Bei genauerem Hinsehen wird erkennbar,
daß es sich dabei um zwei verschiedene Formen von Uneinigkeit handelt: »unum, si
de veritate rerum, alterum, si de ipsius qui enuntiat voluntate dissensio est.«16 Diese
unterschiedlichen Formen der Uneinigkeit verweisen auf unterschiedliche Strategien
der Textdeutung. Die eine Strategie verfolgt den Zweck, eine unpersönliche Wahr-
heit zu ergründen. Sie bezieht den Text auf eine geistige res. Ob diese res auch die
vom Verfasser intendierte ist, ist dabei vollkommen gleichgültig. Wichtig ist allein
die klare Erkenntnis der bezeichneten Sache. Diese Deutungsstrategie realisiert sich in
Gestalt der allegorischen Lektüre. In ihrer Konsequenz liegt letztlich auch die - von
Augustinus selbst allerdings nicht betriebene — christliche Allegorese heidnisch-antiker
Texte. Die andere Strategie zielt im Kontrast dazu darauf ab, die vom Autor gemeinte
Sache zu erfassen, den Aussagtwillen des Verfassers zu rekonstruieren. Dieses Deu-
tungsverfahren begründet kein festes Wissen, es konstituiert vielmehr einen immer
nur vorläufigen Glauben. Die Ermittlung der Autorintention scheint der Technik der
allegorischen Entschlüsselung folglich unterlegen zu sein. Sie stellt ein unsicheres,
fehlbares Lektüreverfahren dar. Gleichwohl weist Augustinus gerade diesem Verfah-
ren im Rahmen des Konversionsgeschehens eine entscheidende Rolle zu. Denn die
Lektüre, die den Willen des Autors zu ergründen sucht, wirkt sich seiner Ansicht nach
auch auf den Willen des Lesers aus, wohingegen die allegorische Entzifferung der
Wahrheit lediglich den Intellekt schult, ohne den Willen zu beeinflussen.
Die Confessiones liefern dafür die Probe aufs Exempel. Der von der göttlichen
Vorsehung dirigierte Entwicklungsgang des Sünders steht von Anfang an im Zeichen
einer Hermeneutik des Willens. Die hermeneutische Hilfestellung, welche die Mutter
dem infans beim Spracherwerb erteilt, präfiguriert die Gnadenhilfe, die Gott Augus-
tinus während des Bekehrungsvorgangs zukommen läßt. Der Sünder heilt seinen ge-
brochenen Willen nicht dadurch, daß er die Schrift nach dem Vorbild des Ambrosius
einer Allegorese unterzieht und sich auf diesem Wege zur intellektuellen Gottesschau
erhebt, sondern dadurch, daß er die Schrift als Manifestation des göttlichen Willens

15 Vgl. Confessiones XII.23.32-XII.25.35.


16 Ebd. XII.23.32.
Petrarcas Secretum 653

begreift. Er entziffert die fragmentarische Text-Ruine des tolle, lege, indem er einen
Autor konstruiert, der sie verlautbaren läßt, indem er sie auf ein göttliches Wollen
zurückführt, das ihn persönlich meint. Dabei vollzieht er einen Glaubenssprung. Er
kann mit glauben, daß Gott ihn anspricht, da dieser sich ihm nicht unmittelbar zeigt.
Um zu glauben, muß er jedoch seinerseits wollen - er muß von Gott angesprochen
werden wollen, damit er die Stimme als Gottesruf verstehen kann. Die intentionale
Deutung affiziert den Willen des Interpreten. Während die Allegorese spirituelle
Erkenntnisse vermittelt, die den Willen des Erkennenden nicht berühren, erzeugt die
Entzifferung der Autorintention einen Glauben, der den Willen des Lesers zu formen
vermag. Wenn Augustinus dem Wollen einen Primat über den Intellekt einräumt,
dann erkennt er folglich auch dem auf die Rekonstruktion des Autorwillens gerichte-
ten Lektüreverfahren einen Vorrang gegenüber der Technik der Allegorese zu.
Die Confessiones üben auf Petrarca nicht nur deshalb eine große Faszination aus,
weil Augustinus darin dem Einfluß der antiken Literatur auf seine spirituelle Ent-
wicklung Rechnung trägt und somit die Möglichkeit einer Symbiose von antikem
und christlichem Denken ins Auge faßt. Darüber hinaus findet Petrarca in den
Bekenntnissen wesentliche Elemente des Lektüreverfahrens vorgeprägt, das er ins
Zentrum seiner eigenen humanistischen Praxis stellen möchte. Die von Augustinus
propagierte Entzifferung der Autorintention weist auf das Gespräch mit dem Autor
voraus, das der Humanist als Leser antiker Textzeugnisse zu etablieren sucht. Da
das augustinische Verfahren nicht bloß der Ergründung des Autorwillens, sondern
auch der Umgestaltung des Leserwillens dienen soll, paßt es gut in das Konzept jener
praktisch ausgerichteten ars vitae, die Petrarca der Theorielastigkeit scholastischen
Systemdenkens entgegenzustellen gedenkt.
Zwischen der hermeneutischen Praxis Augustins und der Lektürekonzeption
Petrarcas besteht mithin eine enge Beziehung. Der besondere Charakter dieser
Beziehung ist von der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang noch nicht mit
hinreichender Deutlichkeit herausgearbeitet worden. So weist Carol Quillen zwar
darauf hin, daß sich Petrarca mit seinem Lektürekonzept an dem augustinischen
Modell orientiere.17 Als kennzeichnend für dieses Modell betrachtet sie jedoch die
Identifikation des Lesers mit dem Gegenstand seiner Lektüre: »This way of reading,
reading through identification, became central to Petrarch's descriptions of the aims
and methods of humanism.« 18 Der humanistische Gelehrte habe von Augustinus
eine spezifische Lesetechnik übernommen - »reading through identification with
the author behind the text.«19
Der Begriff der Identifikation ist jedoch nicht präzise genug, um das Besondere des
augustinischen und petrarkistischen Lektüreverfahrens zu erfassen. Sicherlich spielt der

17 Vgl. C. E. Quillen: Rereading the Renaissance. S. 14-16.


18 Ebd. S. 15.
15 Ebd.
654 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Vorgang der Identifikation bei der Ermittlung der auktorialen Intention eine gewisse
Rolle: Der Leser muß sich in die Person des Autors hineinversetzen, um seinen Aussa-
gewillen rekonstruieren zu können. Doch indem Augustinus dieses Lektüreverfahren
an den Glauben und nicht an das Wissen koppelt, stellt er die Möglichkeit einer
bruchlosen Identifikation gerade in Frage. Der Leser wird letztlich nicht mit dem Au-
tor eins. Die Entzifferung des tolle, lege hat keineswegs zur Folge, daß der Sünder sich
mit dem vermeintlichen Urheber dieser Äußerung identifiziert. Der Sünder, der die
Äußerung als Ruf Gottes entschlüsselt und sich daraufhin bekehrt, übernimmt nicht
die Position göttlicher Allwissenheit, vielmehr tritt er mit Gott in ein hermeneutisches
Gespräch ein.20 Der Leser kommt dem Autor also nahe, bleibt sich der irreduziblen
Alterität seines Gesprächspartners jedoch stets bewußt. Eben dies unterscheidet
Augustins Willenshermeneutik von der asketischen Lektüre- und Schreibpraxis des
Antonius.21 Der augustinische Leser spricht im Vorgriff auf eine Gewißheit, die er zu-
gleich als unerreichbar markiert. Er gewinnt eine vertrauliche Nähe zum Autor, wahrt
aber immer den Abstand, der erforderlich ist, um den Autor als anderen kenntlich
zu machen. Ahnliches gilt fiir die humanistische Adaptation dieses Verfahrens durch
Petrarca. Auch bei ihm ist, wie bereits dargelegt wurde, die Identifikation des Lesers
mit dem Autor eine gebrochene - eine Identifikation durch Nichtübereinstimmung.
Daher besitzt diese Lektüre die Form eines Gesprächs: Sie rekonstruiert den Autor als
Gegenüber, als anderen, der sich der Position des Lesers niemals restlos assimilieren
läßt, der aber eben dadurch das Ansehen einer lebendigen Präsenz erlangt.

Das Lektüre-Gespräch: Flucht in die Träumerei oder


Konfrontation mit der Wahrheit?
Petrarca übernimmt die Grundzüge seines neuen Lektüreverfahrens von Augustinus.
Er wendet das Verfahren aber zugleich auch auf die Schriften des Kirchenvaters an.
Wenn er die Werke Augustins liest, so behauptet er, dann hat er den Eindruck, als
unterhalte er sich mit einem vertrauten Freund. Mit dieser Behauptung verteidigt
sich der Zweiunddreißigjährige jedenfalls in einem aufschlußreichen Brief gegen
eine Anklage, die ein anderer, noch unter den Lebenden weilender Freund, Gia-
como Colonna, Bischof von Lombez, ihm gegenüber erhoben hatte.22 Colonna

20
Vgl. R. Herzog: Non in sua voce. S. 214 und passim.
21
Vgl. Kapitel IX.6 dieser Untersuchung.
22
Der Brief II.9 ist auf den 21. Dezember datiert, nennt aber nicht das Jahr. Er enthält jedoch
eine Reihe von Hinweisen (etwa Famiiiares II.9.23: Hinweis auf die nun schon fast vier Jahre
währende Abwesenheit des Freundes Colonna, der in Rom weilt), die es erlauben, den Zeit-
punkt der Abfassung zu ermitteln. Demnach hat Petrarca den Brief im Jahre 1336 geschrieben.
Vgl. dazu den Kommentar von Ugo Dotti in Francesco Petrarca: Le Familiari. Libri I—IV.
Traduzione, note e saggio introduttivo di Ugo Dotti. Urbino 1974. S. 626f. - Siehe auch
E. Luciani: Les Confessions de Saint Augustin dans les lettres de P^trarque. S. 35. Luciani
bietet eine gründliche, ihrem Duktus nach aber rein positivistische Analyse der augustinischen
Einflüsse, die in diesem Brief zu verzeichnen sind (ebd. S. 35-63).
Petrarcas Secretum 655

hatte ihm vorgeworfen, daß seine Liebe zu Augustinus nur geheuchelt sei und seine
eigentliche Zuneigung allein der antiken Literatur gelte.23 Er hatte zudem Zweifel
an der Effektivität des von ihm praktizierten Lektüreverfahrens geäußert: »Ais enim
michi,« so referiert Petrarca die Anklage seines Freundes, »[...] Augustini dicta
quasi quedam somnia videri.«24 Es kommt Colonna so vor, als nehme Petrarca die
Schriften des Kirchenvaters nur wie im Traum zur Kenntnis. Denn wenn der junge
Gelehrte Augustinus mit wachem Bewußtsein studiert hätte, dann wäre er zu der
Einsicht in die unbedingte Notwendigkeit gelangt, die Beschäftigung mit antiker
Literatur aufzugeben und sich ausschließlich um sein Seelenheil zu kümmern. Das
Gespräch, das Petrarca vorgeblich mit Augustinus führt, wirkt auf den Bischof wie
ein bloßes Traumgespräch.
Dieser Vorwurf wiegt schwer, denn Petrarca weist seinem Lektüreverfahren
ausdrücklich die Aufgabe zu, die alten Autoritäten zu neuem Leben zu erwecken
und den Leser auf diesem Wege aus seiner moralischen Lethargie herauszureißen.
Er selbst bedient sich ja gerne der Metaphorik des Traums und des Schlafs, um das
läßliche Lektüreverhalten seiner Zeitgenossen und ihre Scheu vor sittlicher Selbstre-
form anzuprangern.25 Die Anklage des Freundes, obwohl in einem scherzhaften
Ton vorgetragen,26 stellt ihn daher vor eine ernsthafte Herausforderung. Bezeich-
nenderweise gibt Petrarca zu, daß der mit Vorwürfen beladene Brief des Bischofs
ihn aus dem Halbschlaf geweckt habe: »Semisopitum epystole tue clamor excitat«.27
Er fühlt sich offenbar durch die Kritik seines Freundes getroffen. Seine Vorlieben
und Uberzeugungen, ja sein Selbstverständnis als humanistischer Gelehrter stehen
unter Beschüß. Er sieht sich daher genötigt, der Anklage mit einer ausführlichen
Verteidigungsepistel zu begegnen.
In der Tat stellt Famiiiares II.9, wie Evelyne Luciani darlegt, innerhalb der Samm-
lung eine Ausnahme dar: Es handelt sich dabei um den einzigen Brief, in dem der
Briefschreiber Punkt für Punkt die Vorgaben seines Korrespondenzpartners aufgreift
und zu beantworten sucht.28 Luciani sieht darin zugleich auch einen Beleg für die
Authentizität des Briefs - der Brief und die darin geführte Auseinandersetzung seien
nicht fingiert, weil sein Verfasser spürbar darum bemüht sei, auf die Argumente
eines anderen einzugehen.29 Doch dieses Argument ist nicht stichhaltig. Petrarcas
Methode als Leser und Briefschreiber besteht ja gerade darin, die Figur des anderen
- seine Persönlichkeit, seine Ansichten und Eigenheiten — anhand von Schrift-Ru-
inen zu (re-)konstruieren und zu fingieren. Folglich ist die Möglichkeit zumindest

23
Famiiiares II.9.8.
24
Ebd. II.9.16.
25
Vgl. etwa ebd. XXIV.1.11.
26
Vgl. ebd. II.9.1.
27
Ebd.
28
E. Luciani: Les Confessions de Saint Augustin dans les lettres de Petrarque. S. 35f.
29
Ebd. S. 36.
656 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

nicht auszuschließen, daß Petrarca die Vorwürfe seines Freundes gänzlich oder teil-
weise fingiert hat, um sich selbst aus seinem moralischen Halbschlaf aufzuwecken,
genauer: um zu beweisen, daß er dazu fähig ist, sich selbst mit Hilfe seines Schreib-
und Leseverfahrens aus seinen Träumen herauszureißen. Die Fiktion hätte also den
Zweck, die Effektivität seines Verfahrens unter Beweis zu stellen und die Vorwürfe
des Bischofs zu entkräften. Denn eben darum geht es ja in diesem Brief: um das Ver-
hältnis von Träumen und Wachen, von Fiktion und Wirklichkeit, von literarischer
und moralischer Praxis. Petrarca will demonstrieren, daß er als Leser Augustins nicht
in eine literarische Traumwelt entflieht, sondern daß die Lektüre, insbesondere aber
das Verfahren der imaginativen Vergegenwärtigung des Autors im Gegenteil dazu
geeignet ist, ihn aus seinem Schlaf zu wecken, ihm seinen gegenwärtigen Zustand
bewußt zu machen und seine moralische Praxis anzuleiten.
Petrarca eröffnet seine Verteidigungsrede damit, daß er die Forderung des
Bischofs zurückweist, er möge seine Beschäftigung mit der antiken Literatur unter-
binden und seine ganze Kraft statt dessen dem Studium der christlichen Heilslehre
widmen. Warum, so fragt er, soll er etwas aufgeben, was eine der größten Autoritäten
der christlichen Tradition, Augustinus nämlich, niemals aufzugeben bereit war?
Petrarca verweist auf die Civitas Dei, die Augustinus ganz auf den Grundmauern
der antiken Literatur und Philosophie errichtet habe. 30 Er argumentiert mithin im
Sinne eines christlichen Humanismus. Freilich setzt sich seine Argumentation dem
Verdacht der Unaufrichtigkeit aus. Der Einwand liegt nämlich nahe (und wird
von >Colonna< auch tatsächlich erhoben), daß die Liebe zu Augustinus für Petrarca
möglicherweise nur ein Vorwand ist, um seiner eigentlichen Liebe, der Liebe zu
den antiken Schriftstellern, unter dem Deckmantel christlicher Rechtgläubigkeit
weiterhin frönen zu können. Seine Augustinus-Lektüre wäre dann vielleicht nur
eine verkappte Cicero-Lektüre.
Um diesen Vorwurf zu entkräften und die Aufrichtigkeit seiner Liebe zu be-
weisen, legt Petrarca dar, wie er die Schriften des Kirchenvaters zu lesen pflegt.
Als Leser sieht er in Augustinus keinen Toten, keine ferne Autorität, sondern eine
ihm nahestehende Person, die an seinem individuellen Schicksal interessiert ist, die
Mitleid für ihn empfindet, die ihn ermahnt, ihn fördert (»michi favet«), ja ihn liebt
(»me diligit«).31 Die Liebe des Lesers stößt bei dem Autor auf Gegenliebe. Als Beleg
für diese Liebe führt Petrarca eine Textstelle aus De vera religione an: »Quisquis an-
gelorum Deum diligit, certus sum quod me diligit«.32 Die Beweiskraft dieses Zitats
leuchtet nicht unmittelbar ein. Von der Liebe Augustins ist hier ja gar keine Rede
— und schon gar nicht von seiner Liebe zu einem ganz bestimmten Leser, der einem
späteren Zeitalter angehört. Doch Petrarca verwandelt die unpersönliche Aussage
des Kirchenvaters mittels eines gewagten Analogieschlusses in eine persönliche Lie-

30 Famiiiares II.9.8.
31 Ebd. 11.9.14.
32 De vera religione LV. 112; zitiert nach Famiiiares II.9.15.
Petrarcas Secretum 657

beserklärung: Wie Augustinus als Mensch auf die Liebe und Fürsprache der Engel
vertraute, so vertraut Petrarca auf die Liebe Augustins, der nun nicht mehr unter
den Menschen weilt, sondern (wie die Engel) bei Gott ist. Kraft der Schriften, die
er hinterlassen hat, kann Augustinus die engelhafte Funktion des Mittlers überneh-
men, der die gewaltige Distanz zwischen Himmel und Erde, zwischen Mensch und
Gott überbrückt. Diese Schriften ermöglichen es dem Leser, den abwesenden Autor
zu vergegenwärtigen und sich seiner Liebe zu versichern. Petrarca liest die Werke
Augustins als private Mitteilungen, als ihm persönlich zugesprochene Nachrichten.
Wie Augustinus die herrenlose Stimme des tolle, lege durch einen hermeneutischen
>Raub< in einen göttlichen Ruf transformierte, so verwandelt Petrarca die neutrale
dogmatische Äußerung des Kirchenlehrers in die individuell adressierte Liebesbot-
schaft eines engelhaften Menschen. Das Verfahren ist in beiden Fällen identisch,
doch es fällt auf, daß Petrarca im Gegensatz zu Augustinus dem Lektüregespräch mit
Gott aus dem Weg geht. Er liest Augustinus anstelle der Bibel; er spricht nicht mit
Gott selbst, sondern mit einem engelhaften Wesen, das bei Gott ist. Die Bedeutung
der menschlichen Mittlerinstanzen, die ja schon in den Confessiones eine wichtige
Rolle spielen, wird somit noch gesteigert. Treten bei Augustinus die Mutter und die
mütterlich kodierte Schrift ins Mittel, um die Konfrontation des Sünders mit Gott
Vater aufzuschieben und abzumildern, so übernimmt im Falle Petrarcas das Werk
Augustins diese Mittlerfunktion. Es erfüllt die Funktion, die sonst Christus und
der Heiligen Schrift zukommt. In seinem Brief an Colonna verweist Petrarca zwar
auf das augustinische Konversionserlebnis, erwähnt dabei aber nicht die Mailänder
Gartenszene. Statt dessen hebt er die Bedeutung der Hortensius-Lektüre hervor.33 Die
entscheidende Rolle, die der Heiligen Schrift in den Confessiones zukommt, wird auf
diese Weise ausgeblendet. Petrarca erweist sich hier im Wortsinne als Humanist: Die
Lektüre als Gespräch mit dem Autor kann nur dann funktionieren, wenn es sich
dabei um einen menschlichen Verfasser handelt.
Als Zeugnis für die Aufrichtigkeit der Liebe, die er Augustinus entgegenbringt,
führt Petrarca die Gegenliebe des Autors an, die er bei der Lektüre zu verspüren
meint. In diesem Gefühl erkennt er zugleich den Beweis für die Intensität seiner
Lektüreaktivität. Als Leser, so argumentiert er gegenüber Colonna, ist er eben kein
zerstreuter Träumer, der nur die verschwommenen Umrisse der Dinge wahrzuneh-
men vermag, vielmehr sind ihm der Text und sein Autor vollkommen gegenwärtig.
Petrarca erweckt den Autor Augustinus durch seine spezifische Lektüretechnik zum
Leben, um sich dann seinerseits durch ihn aufwecken zu lassen: »lectione illa excitor
interdum velut e somno gravissimo«.34 So lebendig und überzeugend wirkt die auk-
toriale Präsenz auf den Leser, daß die Wirklichkeit daneben verblaßt. Nicht die durch
die Lektüre vermittelte Erfahrung, sondern das gewöhnliche Leben macht auf ihn

33
Famiiiares II.9.10.
* Ebd. II.9.17.
658 Von der Hermeneutik des Willens zur Asthetisierung der Selbsterkenntnis

den Eindruck des Traumhaften und Unwirklichen. »Melius dixisses«, so korrigiert


er die von seinem Freund vollzogene Gleichsetzung von Lektüre und Träumerei,
»illa relegenti totam michi vitam meam nichil videri aliud quam leve somnium
fugacissimumque fantasma.«35 Petrarca beteuert somit die Ernsthaftigkeit und den
sittlichen Anspruch seiner Lektüreaktivität. Die Augustinus-Lektüre vermittelt ihm
die Einsicht in die Dürftigkeit und Unwirklichkeit seines eigenen Lebens. Sie ruft in
ihm das Begehren wach, sein Leben zu ändern und eine wirkliche«, erfüllte Existenz
zu führen. Zudem gibt sie ihm einen Vorgeschmack auf eine solche Existenz: Als
Leser ist Petrarca wach und konzentriert; während der Lektüre ist er sich selbst ganz
gegenwärtig und nimmt die Dinge mit einem fast schon überscharfen Bewußtsein
wahr.
Doch das Argument, das der Briefschreiber anführt, um den Vorwurf seines
Freundes zu widerlegen, erweist sich bei näherer Betrachtung als zweischneidig. In
dem Bemühen, seine Lektüretätigkeit als ethische Praxis zu rechtfertigen, schießt
Petrarca über das Ziel hinaus. Wenn nämlich die Sphäre, die durch die Lektüre
erschlossen wird, dem Leser wirklicher und lebendiger erscheint als das gewöhnliche
Leben, dann kann man sie vielleicht nicht als eine Traumwelt charakterisieren, wohl
aber als eine Gegenwelt. In dieser Eigenschaft kann sie den Leser dazu verleiten, die
Flucht aus der Wirklichkeit anzutreten und das wahre Leben in der Literatur zu
suchen. Im Rahmen der von Petrarca propagierten ars vitae kommt der Aktivität
des Lesens eigentlich die umgekehrte Aufgabe zu: Sie soll der Literatur in der Praxis
des gewöhnlichen Lebens zur Wirkung verhelfen; sie soll Text in experientia trans-
formieren. Die Erfahrungen, die das Moralsubjekt als Leser macht, sollen ihm im
Umgang mit der Realität zugute kommen. Durch Lektüre soll der Wille des Lesers
bestimmt, sein Bewußtsein aufgeweckt und zur beständigen Bewußtseinshaltung
verfestigt werden. Doch diese Beständigkeit hat Petrarca, wie er gegenüber Colonna
eingesteht, im Zuge seiner Augustinus-Lektüre noch nicht erlangen können: »ur-
gente mortalitatis sarcina, palpebre rursus coeunt; et iterum expergiscor, et iterum et
iterum obdormio.« 36 Die Lektüre hat den Briefschreiber nicht ein fur alle Mal wach-
rütteln können. Vielmehr erleidet er immer wieder Rückfälle in den Traumzustand.
Er schwankt zwischen Schlaf und wachem Bewußtsein hin und her. Als Leser ist er
wach, im gewöhnlichen Leben verhält er sich wie ein Betäubter.
Der Brief läßt es offen, ob die Unbeständigkeit des Lesers auf seine fehlende
sittliche Reife zurückzuführen ist, ob sie mithin durch fortgesetzte Übung, durch
eine Praxis der moralisch-literarischen Askese kuriert werden kann, oder ob sie nicht
vielmehr auf ein prinzipielles Problem verweist, nämlich auf die Existenz einer Kluft
zwischen Literatur und Leben, die das Subjekt dazu veranlassen könnte, sein Heil
in der Literarisierung seines Daseins zu suchen. Hält Petrarca an seinem Modell der

35
Ebd. II.9.16.
36
Ebd. II.9.17.
Petrarcas Secretum 659

christlich-humanistischen ars vitae fest, oder trägt er der besagten Kluft dadurch
Rechnung, daß er eine alternative, dezidiert literarische Form der autobiographi-
schen Praxis konzipiert? Ist die Rede von der praktischen Relevanz der überlieferten
Texte nur ein Vorwand, hinter dem sich der Wunsch des Lesers verbirgt, sein Leben
zu literarisieren? Wenn dies wirklich der Fall wäre, so müßte man davon ausgehen,
daß die augustinische Willenshermeneutik (und nicht, wie Foucault behauptet,
die antike Selbstsorge) den Ansatzpunkt für die Herausbildung einer neuzeitlichen
Ästhetik der Existenz darstellt. Aufschluß über dieses Problem verheißt Petrarcas
autobiographische Dialogschrift De secreto conflictu curarum mearum. Denn im Se-
cretum unternimmt Petrarca den Versuch, die Urszene der literarischen Erweckung,
das in den Confessiones geschilderte Konversionserlebnis, wiederzubeleben.

Das Secretum·. Eine meditative Lektüre der Confessiones

Die autobiographische Dialogschrift De secreto conflictu curarum mearum kann als


exemplarische Inszenierung des Gesprächs angesehen werden, das Petrarca als Leser der
Confessiones mit ihrem Verfasser führt. 37 Der Text schildert die an drei aufeinanderfol-
genden Tagen stattfindende Unterhaltung zwischen einer Figur namens Franciscus, in
der der Autor sich selbst portraitiert, und dem Kirchenvater Augustinus. Im Proömium
skizziert Petrarca die allegorisch zu verstehende Rahmenhandlung des Dialogs: Fran-
ciscus, der schon seit längerer Zeit ernsthaft über sein Leben nachdenkt und sich selbst
als »egr[us] anim[us]«, als kranke Seele, bezeichnet, wird von einer weiblichen Gestalt
aufgesucht, deren Anblick er aufgrund des sie umstrahlenden Lichts nicht ertragen
kann.38 Sie gibt sich ihm als die Veritas, die Wahrheit selbst, zu erkennen. Nach einiger

37
Die Frage nach der Datierung des Secretum ist weiterhin offen. Die ältere Forschung nahm
an, daß der Text im Winter 1342/1343 niedergeschrieben wurde. Vgl. Remigio Sabbadini:
Note filologiche sul »Secretum« del Petrarca. In: Rivista di filologia e d'instruzione classica
45 (1917). S. 2 4 - 2 7 . In jüngerer Zeit hat sich dagegen die Auffassung durchgesetzt, daß das
Secretum frühestens im Jahre 1347 verfaßt wurde. Francisco Rico geht davon aus, daß eine 1347
entstandene Erstfassung 1349 leicht überarbeitet und 1353 substantiell umgestaltet wurde.
Der überlieferte Text gibt demnach die Geisteshaltung wieder, die Petrarca im Jahre 1353
besaß; er steht laut Rico in einer engen konzeptuellen Verwandtschaft zur Epistel Famiiiares
IV. 1, die zu der gleichen Zeit ihre endgültige Gestalt erhalten habe. Vgl. F. Rico: Vida u obra
de Petrarca. Vol. I: Lectura del Secretum. Chapel Hill 1974. S. 9 - 1 6 . Kritik an Rico äußert
Hans Baron. Er k o m m t zu d e m Ergebnis, daß das Secretum im Jahre 1347 verfaßt und 1353
nur geringfügig revidiert wurde. Vgl. Hans Baron: Petrarch's Secretum. Its Making and Its
Meaning. Cambridge/MA 1985. S. 181-183.
38
Secretum. Prohemium 1.1. - Das Secretum wird nach der folgenden Ausgabe zitiert: Fran-
cesco Petrarca: Secretum. Introduzione, traduzione e note die Ugo Dotti. Roma 1993. - Die
deutschen Ubersetzungen der Zitate stammen von mir. Z u m Vergleich wurden die folgende
Ausgaben herangezogen: Francesco Petrarca: Über den geheimen Widerstreit meiner Sorgen.
Secretum. In der Ubersetzung von Hermann Hefele hg. und mit einem Nachwort versehen
von Horst Günther. Frankfurt/M. 2004; ders.: Secretum meum. Mein Geheimnis. Lateinisch-
Deutsch. Hg., übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Regn u n d Bernhard
Huss. Mainz 2004 (excerpta classica. Bd. 21).
660 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Zeit bemerkt Franciscus, daß die Veritas sich in Begleitung eines Mannes befindet, den
er sogleich als den berühmten Heiligen Augustinus identifiziert. Die Veritas beauftragt
Augustinus, sich um den kranken Franciscus zu kümmern. Auf die Frage des Kirchen-
vaters, warum sie diese Aufgabe nicht selbst übernehmen wolle, entgegnet sie, daß er
dazu besser geeignet sei, weil Franciscus ihn liebe und er ihn wiederliebe, vor allem
aber weil er die Krankheit, die es zu heilen gelte, selbst durchgemacht habe und somit
aus eigener Erfahrung sprechen könne. 39 Augustinus ist also aus dem Paradies herabge-
stiegen, um seinem Schützling Francesco bei der Bewältigung seiner spirituellen Krise
beizustehen. Diese Fiktion ist eine Erweiterung der in Famiiiares II.9 geäußerten Vor-
stellung, daß der Heilige den ihn verehrenden Sünder Petrarca vom Paradies aus mit
persönlicher Teilnahme beobachtet. Von der Fiktion der teilnehmenden Beobachtung
zur Fiktion der direkten Zuwendung ist es nur ein kleiner Schritt.
Die Hilfeleistung des Kirchenvaters besteht darin, daß er Francesco zur klaren
Einsicht in seinen gegenwärtigen Seelenzustand fuhren möchte. Denn Selbsterkennt-
nis, so argumentiert >Augustinus<,40 ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, daß der
Sünder seine innere Zerrissenheit überwindet. Nur wer ein deutliches Bewußtsein
seiner »miseria« besitzt, bildet auch das Verlangen aus, sich aus dieser Lage zu befreien
und das wahre Glück zu erringen.41 >Augustinus< verweist auf seine eigene Biographie,
um diese Behauptung zu stützen. Er erinnert an das achte Buch der Confessiones und
den darin beschriebenen Willenskonflikt: Auch er, so berichtet der Kirchenvater, sei
unglücklich und innerlich zerrissen gewesen, habe sich zu Gott erheben wollen und
sei doch durch sein sinnliches Verlangen immer wieder in die Tiefe gezogen worden.
Sein Jammern und Klagen habe aber nichts genützt. Erst eine tiefe Meditation (»alta
[...] meditatio«), die ihm das ganze Ausmaß seines Unglücks vor Augen geführt habe
(»omnem miseriam meam ante oculos congessit«), habe ihn aus der Krise geführt. 42
Aus der schonungslosen Selbsterkenntnis sei nämlich das intensive Verlangen her-
vorgegangen, ein neues Leben zu beginnen; das Verlangen wiederum habe zu einem
Willensentschluß gefuhrt, wodurch die gewünschte Veränderung schließlich auch
tatsächlich eingetreten sei: »Itaque postquam plene volui, ilicet et potui, miraque et
felicissima celeritate transformatus sum in alterum Augustinum«. 43
Der Bericht über seine Konversion, den >Augustinus< im Secretum abliefert, weicht
in mehrerlei Hinsicht von der Vorlage der Confessiones ab. Auffällig ist zunächst einmal

35 Secretum. Prohemium 3.2—4.


40 Um die literarische Figur des Secretum von der gleichnamigen historischen Persönlichkeit
zu unterscheiden, wird der Name, wenn die erstere gemeint ist, fortan immer in einfache
Anführungszeichen gesetzt. Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, daß das humanistische
Lektüreverfahren, das Petrarca im Secretum auf die Probe stellt, gerade darauf abzielt, diese
Unterscheidung zu unterminieren: Der Leser soll den Autor wiederbeleben und dabei der
Illusion erliegen, das fiktive Konstrukt sei mit der historischen Persönlichkeit identisch.
41 Secretum 1.1.1.
42 Ebd. 1.5.4.
43 Ebd.
Petrarcas Secretum 661

die Art und Weise, wie der himmlische Gesprächspartner den Willenskonflikt deutet,
der der Bekehrung vorangeht. In den Confessiones bietet Augustinus seine ganze Dar-
stellungskunst und seinen ganzen analytischen Scharfsinn auf, um diesen Konflikt zu
schildern. Er legt dar, wie der Sünder von gegensätzlichen Willensregungen hin- und
hergerissen wird und die Entscheidung für ein neues Leben immer wieder aufschiebt,
weil er die alten fleischlichen Gewohnheiten nicht abzuschütteln vermag. Durch den
Ausbruch des zuvor nur latent vorhandenen Konflikts und durch seine vergeblichen
Bemühungen, sich daraus zu befreien, wird der Sünder mit seiner sündhaften Schwä-
che konfrontiert. Erstmals wird ihm bewußt, wie tief seine verderblichen Neigungen
in ihm verwurzelt sind, wie sehr seine Seele durch die Sünde in Mitleidenschaft
gezogen wurde. Er sieht ein, daß er diesen Zustand aus eigener Kraft nicht verlassen
kann, sondern auf die Gnadenhilfe Gottes angewiesen ist. Mit einem Wort: In den
Confessiones führt der Ausbruch des inneren Konflikts dazu, daß der Sünder klare
Selbsterkenntnis erlangt. Diese Erkenntnis allein ändert aber nichts an seiner Lage.
Im Secretum setzt >Augustinus< die Akzente anders: Seiner Ansicht nach führt der
Ausbruch des Willenskonflikts nicht zugleich auch dazu, daß der Sünder einsieht,
wie es mit ihm steht. Die äußeren Zeichen innerer Zerrissenheit - die Tränen und
Seufzer, das Haareraufen und Händeringen - sind an sich noch kein Indiz für deut-
liche Selbsterkenntnis.44 Denn sobald der Sünder wirklich erkennt, was mit ihm los
ist, entsteht in ihm auch der unbedingte Wille und das Vermögen, sich zu ändern.
Anders als fur den Verfasser der Confessiones markiert der Willenskonflikt für >Au-
gustinus< also einen Zustand mangelnder Selbsterkenntnis. Wer in einem solchen
Konflikt befangen ist, nimmt das, was in seiner Seele vorgeht, nur undeutlich, wie
durch einen Schleier hindurch, wahr — er wird sich seiner Lage nicht ganz bewußt.
Weil er das Prekäre seiner Situation nicht klar erfaßt, hat er auch kein Verlangen,
sich daraus zu befreien. Und umgekehrt: Er erkennt sich nicht mit hinreichender
Deutlichkeit, weil er sich nicht wirklich ändern will, weil er an seinem gegenwärtigen
Zustand Gefallen findet. In gewissem Sinne begehrt er sein eigenes Unglück und
täuscht sich daher selbst, um darin verharren zu können.
Tatsächlich ist das der Hauptvorwurf, den >Augustinus< gegenüber Franciscus
erhebt: daß er sich in einem schlafartigen, betäubten Zustand befindet und aus seiner
nur unvollkommen wahrgenommenen inneren Zerrissenheit einen perversen Genuß
zieht.45 »[Q]uid somnias?«, so lautet bezeichnenderweise die erste Frage, die er an
seinen Gesprächspartner richtet.46 Um den Sünder zur Umkehr zu bewegen, gilt es
mithin, ihn aus diesem Schlaf zu wecken, ihm seinen wahren Zustand vor Augen zu
führen und ihm die Gefahr bewußt zu machen, in der er sich befindet. Dieses klare

44
Ebd. 1.5.4.
45
Ebd. 1.1.1: »Atqui omnibus ex conditionibus vestris, ο mortales, nullam magis admiror, nul-
lam magis exhorreo, quam quod miseriis vestris ex industria favetis et impendens periculum
dissimulatis agnoscere, considerationemque illam, si ingeratur, excluditis.«
46
Ebd.
662 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Bewußtsein, so behauptet >Augustinus<, ist dem Menschen prinzipiell zugänglich,


und zwar auf dem Wege der meditatio. Die meditatio spielt im Secretum denn auch
eine Schlüsselrolle. Immer wieder fordert >Augustinus< seinen Gesprächspartner dazu
auf, sich die Umstände seiner Lebenssituation meditativ zu vergegenwärtigen. So soll
er sich beispielsweise klar machen, daß er ein sterbliches Lebewesen ist. Zu diesem
Zweck soll er nicht abstrakt an den Tod denken, ihn nicht bloß aus der Ferne wie
etwas bloß Mögliches oder gar Fiktives betrachten, sondern er soll ihn sich als etwas
Wirkliches, fast schon Gegenwärtiges und ihn unmittelbar Betreffendes vor Augen
stellen: »non ut ficta sed ut vera, non ut possibilia sed ut necessario inevitabiliterque
Ventura et pene iam presentia«.47 Laut >Augustinus< vermag die meditatio die Schran-
ke zu überspringen, welche die Vorstellung von der Wirklichkeit trennt. Sie ver-
wandelt die imaginatio in experientia. Doch Franciscus, so klagt >Augustinus<, hat es
bei seinen geistlichen Studien immer an dieser meditativen Intensität fehlen lassen.
Hätte er nämlich die vielen guten Bücher, denen er seit seiner Kindheit begegnet ist,
nicht bloß zerstreut zur Kenntnis genommen, sondern ernsthaft darüber meditiert,
dann befände er sich nicht in der spirituellen Krise, unter der er gegenwärtig zu lei-
den hat. 48 Als den Königsweg zur Selbsterkenntnis und zur Heilung des gebrochenen
Willens empfiehlt >Augustinus< somit die meditative Lektüre geistlicher Werke, in
denen die Befindlichkeit der gefallenen Seele mit schonungsloser Offenheit darge-
stellt wird. Die Confessiones, auf die die Gesprächspartner im Secretum immer wieder
Bezug nehmen, werden als ein solches Werk gekennzeichnet.
Die Konversionsgeschichte, die >Augustinus< im Secretum erzählt, unterscheidet
sich nicht nur dadurch von dem Muster der Confessiones, daß sie den Willenskonflikt
des Sünders als eine Form der Selbstbetäubung darstellt. Auffälliger noch ist eine
andere Abweichung. >Augustinus< behauptet, daß er sich durch eine alta meditatio
in einen alterum Augustinum verwandelt habe. Die Umstände dieser Verwandlung
bleiben aber ungeklärt; insbesondere vermeidet es >Augustinus<, näher auf die Vor-
fälle im Mailänder Garten einzugehen, die in den Confessiones den Höhepunkt des
Konversionsgeschehens markieren. Zwar erinnert er an den Feigenbaum, in dessen
Schatten er die besagte meditatio durchführte, doch weder das tolle, lege noch das
dadurch veranlaßte Buchorakel werden im Secretum erwähnt. >Augustinus< erweckt
somit den Eindruck, als sei die Initiative zu seiner Bekehrung von ihm selbst
ausgegangen. 49 Während die Konversion des Sünders in den Confessiones auf eine
(indirekte) göttliche Intervention zurückzuführen ist, insinuiert >Augustinus<, daß

47
Ebd. 1.11.11.
Ebd. 1.2.2.
45
Vgl. Victoria Kahn: T h e Figure of the Reader in Petrarch's Secretum. In: PMLA 100 (1985).
S. 154-166, hier: S. 155: »In the Confessions the m o m e n t of conversion occurs when Augu-
stine, hearing a voice saying >tolle, lege,< picks up the Bible and reads a passage that he applies
instantly to himself. [...] In the Secretum, however, Augustinus omits any mention of this scene
of reading and stresses instead the willfulness of his conversion.«
Petrarcas Secretum 663

er sich v o n s e i n e r S e e l e n k r a n k h e i t selbst z u h e i l e n v e r m o c h t e . D i e i m Secretum


d a r g e b o t e n e S c h i l d e r u n g d e s K o n v e r s i o n s g e s c h e h e n s legt d i e A n n a h m e n a h e , d a ß
die Verstandeskräfte des M e n s c h e n ausreichen, u m sich o h n e f r e m d e H i l f e aus
s ü n d h a f t e r V e r b l e n d u n g z u b e f r e i e n . D e m z u f o l g e ist d e r W i l l e d e s j e n i g e n , d e r sich
klare S e l b s t e r k e n n t n i s v e r s c h a f f t , v o n sich aus s t a r k g e n u g , u m s e i n e P e r s ö n l i c h k e i t
v o n G r u n d a u f u m z u s c h a f f e n u n d sich das H e i l z u s i c h e r n . >Augustinus< g l a u b t
o f f e n b a r an d i e A u t o n o m i e d e r m e n s c h l i c h e n V e r n u n f t . E r b e f i n d e t sich s o m i t i m
W i d e r s p r u c h z u zwei K e r n d o g m e n d e r a u g u s t i n i s c h e n T h e o l o g i e : z u m D o g m a des
S ü n d e n f a l l s , w o n a c h d i e Seele des M e n s c h e n i n f o l g e d e r a d a m i t i s c h e n V e r f e h l u n g
so sehr g e s c h ä d i g t w u r d e , d a ß sie d i e H e r r s c h a f t ü b e r sich selbst v e r l o r e n h a t , u n d
z u m g n a d e n t h e o l o g i s c h e n G r u n d s a t z , d a ß k e i n M e n s c h d a z u in d e r Lage ist, sich
das H e i l aus e i g e n e r K r a f t z u v e r d i e n e n .
>Augustinus< v e r t r i t t i m Secretum folglich eine d e z i d i e r t u n a u g u s t i n i s c h e P o s i t i o n .
A u f diese p a r a d o x e r s c h e i n e n d e T a t s a c h e w i r d in d e r F o r s c h u n g s l i t e r a t u r w i e d e r h o l t
hingewiesen.50 U n t e r d e n Interpreten herrscht auch weitgehende Einigkeit darüber,
w i e sich d i e s e u n a u g u s t i n i s c h e P o s i t i o n g e n a u e r b e s t i m m e n l ä ß t : Es h a n d e l t sich
d a b e i u m e i n e n »christlich ü b e r f o r m t e f n ] Stoizismus«. 5 1 A u g u s t i n u s , d i e S y m b o l -
gestalt d e r c h r i s t l i c h e n S e l b s t h e r m e n e u t i k , w i r d s o m i t i m Secretum zu e i n e r S y m -
bolgestalt des c h r i s t l i c h e n H u m a n i s m u s u m g e d e u t e t . Sie r e p r ä s e n t i e r t d e n V e r s u c h ,
den christlichen G l a u b e n m i t der heidnisch-antiken Philosophie zu verschmelzen.52

50
Vgl. etwa den Befund von K. Heitmann: Augustins Lehre in Petrarcas »Secretum«. S. 302:
»Es bleibt nichts anderes übrig als zu konstatieren, daß der Augustin des >Secretum< nicht
nur völlig uncharakteristisch, sondern geradezu und ausgesprochenermaßen antiaugustinisch
ist.« — In Anlehnung an Heitmann stellt J. Küpper fest, daß Petrarca im Secretum »eine Figur
namens >Augustin< das Gegenteil dessen verkünden [läßt], was der historische Augustin gesagt
hat«. (J. Küpper: Das Schweigen der Veritas. S. 438f.).
" J. Küpper: Das Schweigen der Veritas. S. 436. — C. Trinkaus bezeichnet den >Augustinus<
des Secretum als »a kind of Christian Seneca« (The Poet as Philosopher. S. 24). Zu einem
ähnlichen Ergebnis gelangt auch F. Rico. Er attestiert >Augustinus< einen »[e]stoicismo atem-
perado, humanizado, cristianizado« (Vida u obra de Petrarca. S. 182). K. Heitmann führt
in seiner Studie den Nachweis, daß die von >Augustinus< im Secretum vertretene Konzeption
der Sünde auf der stoischen Affektenlehre basiert (Augustins Lehre in Petrarcas »Secretum«.
S. 287-290).
52
Laut K. Heitmann ist >Augustinus< die Verkörperung der »echt humanistischen [...] Vor-
stellung von der Harmonie zwischen der Weisheit der heidnischen Philosophen und der
Wahrheit der christlichen Offenbarung« (Augustins Lehre in Petrarcas »Secretum«. S. 303).
Ähnlich auch F. Rico: Vida u obra de Petrarca. S. 182f. Laut C. E. Quillen konstruiert
Petrarca im Secretum einen Augustinus, der die christliche Indienstnahme heidnischer
Philosophie autorisieren soll (Rereading the Renaissance. S. 196). — Zur Kritik an der
Deutung >Augustins< als einer Symbolgestalt des christlichen Humanismus vgl. J. Küpper:
Das Schweigen der Veritas. S. 438f. und passim. Laut Küpper handelt es sich bei dem
antiaugustinischen >Augustinus< des Secretum um eine in höchstem Maße »irritierende
Konstruktion«, die weder durch die Hypothese erklärt werden könne, daß Petrarca nur über
unzulängliche Kenntnisse der augustinischen Gnadentheologie verfügt habe, noch durch
die Annahme, daß >Augustinus< die Synthese antiken und christlichen Denkens repräsen-
tiere. Die erste Hypothese wird von Küpper mit überzeugenden Argumenten widerlegt: Er
664 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Diese Synthese betrifft nicht nur die dogmatischen Inhalte, sondern auch das psy-
chagogische Verfahren, das in der Dialogschrift zur Anwendung gelangt. Z u m einen
nämlich ist das Secretum der äußeren Form nach ein Beichtgespräch. 53 >Augustinus<
fungiert als Beichtvater, der die verborgenen Sünden seines Gesprächspartners zutage
zu fördern versucht. Als Beichtspiegel dient ihm dabei der gregorianische Katalog
der sieben Todsünden, die im zweiten und dritten Buch des Dialogs nacheinander
abgehandelt werden. Das Gespräch zwischen Franciscus und >Augustinus< markiert
folglich einen Akt der Gewissenserforschung, den der Dialogverfasser Petrarca an

weist nach, daß Petrarca mit den gnadentheologischen und anti-pelagianischen Schriften
Augustins gründlich vertraut war. Küpper zieht daraus den Schluß, daß das Konstrukt des
antiaugustinischen >Augustinus< Teil einer bewußt ins Werk gesetzten Strategie »kunstvoller
>Verhüllung«< ist (S. 427), die den Leser provozieren soll: Demnach vertritt Franciscus im
Secretum authentische augustinische Positionen, während >Augustinus< - sozusagen als advo-
catus diaboli — den Gegenpart übernimmt und im Sinne eines thomistischen Rationalismus
argumentiert. Laut Küpper inszeniert Petrarca im Secretum somit den Konflikt zwischen
zwei miteinander unvereinbaren philosophisch-theologischen Welterklärungsmodellen - den
Konflikt zwischen der scholastischen via antiqua und der nominalistisch-augustinischen via
moderna. Es handelt sich dabei jedoch um eine verhüllte, verrätselte Inszenierung - der Leser
wird dazu herausgefordert, den Rollentausch und die irreführende Benennung >Augustins<
zu durchschauen. Das Secretum wäre also so etwas wie ein anspruchsvolles intellektuelles
Ratespiel. Gegen diese Deutung, so scharfsinnig sie auch sein mag, läßt sich einiges einwen-
den. Zunächst einmal unterschlägt Küpper völlig die für das Secretum zentrale Problematik
der Selbsterkenntnis und die daran gekoppelte autobiographische Dimension des Textes.
Franciscus und >Augustinus< tauschen nicht bloß abstrakte theologische Argumente aus,
vielmehr ist der eine Gesprächspartner darum bemüht, den anderen zur Einsicht in seinen
Seelenzustand zu bringen und bei ihm ein Bewußtsein seiner Sündhaftigkeit wachzurufen.
Das praktische Bemühen um Selbsterkenntnis mag im Vergleich zum Kampf ganzer Welt-
erklärungsmodelle banal erscheinen (Küpper unterstellt den Interpreten, die den Text mit
der Selbstanalyse Petrarcas in Verbindung bringen, pauschal einen naiven Biographismus:
vgl. S. 428), nichtsdestotrotz führt der Text eben dieses Bemühen auf paradigmatische Weise
vor. Der Text besitzt also tatsächlich die Qualität einer Inszenierung, inszeniert wird aber
nicht die Unvereinbarkeit von Theorien, sondern ein praktisches Verfahren: >Augustinus<
verkörpert eine spezifisch christlich-humanistische Selbsttechnik, und die Effektivität dieser
Selbsttechnik wird im Secretum auf die Probe gestellt. Auch das Argument, das Küpper
gegen die Deutung >Augustins< als Symbolgestalt des christlichen Humanismus vorbringt,
vermag nicht zu überzeugen. Die Tatsache, daß Petrarca trotz seiner genauen Kenntnis der
augustinischen Gnadentheologie gerade den afrikanischen Kirchenvater zum Fürsprecher
heidnisch-antiker Ideen stilisiert, mag irritierend sein. Ist das, was den modernen Intepreten
irritiert, aber deshalb gleich schon als undenkbar abzulehnen? Nicht bloß im Secretum, auch
in seinen anderen Werken — in den Briefen etwa (vgl. vor allem Famiiiares II.9) oder in den
polemischen Schriften (vgl. insbesondere De sui ipsius et multorum ignorantia) — zeichnet
Petrarca das Bild eines Augustinus, der zutiefst in der antiken Kultur verwurzelt ist und
sich um die Versöhnung zwischen heidnischer Philosophie und christlichem Glauben be-
müht. In diesen Texten ist der Name Augustinus keine rätselhafte Chiffre, die den Leser zu
akrobatischen Deutungsanstrengungen herausfordert, sondern der Name für ein Programm
— für das Programm eines christlichen Humanismus.
53 Zur Beichte als Modell des im Secretum vorgeführten dialogischen Selbstgesprächs und zum
spätmittelalterlichen Beichtspiegel als Katalysator der frühhumanistischen Selbstdarstellung
vgl. T. C. Price Zimmermann: Confession and Autobiography in the Early Renaissance.
In: Renaissance. Studies in Honor of Hans Baron. Edited by Anthony Molho and John A.
Tedeschi. Firenze 1971. S. 119-140, hier: S. 127-135.
Petrarcas Secretum 665

sich selbst vollzieht.54 Z u m anderen betätigt sich >Augustinus< als ein Seelenführer
stoischer Provenienz: Er will seinem Gesprächspartner, der von gegensätzlichen
Leidenschaften hin- und hergerissen wird und ebenso orientierungs- wie antriebslos
dahinvegetiert, wieder zur Herrschaft über sich selbst und über sein Leben verhel-
fen. Er konzipiert die Selbsterkenntnis, zu der er Franciscus geleiten möchte, als ein
Element der humanistischen ars vttae.55
Der Dialog stellt somit nicht bloß einen Akt augustinischer Sündenanalyse,
sondern auch einen Akt stoischer Selbstbesinnung und Selbstermächtigung dar. Er
ist beides zugleich, christliche Selbsthermeneutik und humanistische Selbsttechnik,
wobei die letztere jedoch ein Übergewicht besitzt. Die alta meditatio, mittels derer
>Augustinus< sich, wie er behauptet, selbst aus dem Schlaf der Sünde zu wecken
vermochte, führt dieses Übergewicht vor Augen. In ihrer Struktur ähnelt sie der
Selbstbesinnung, die der römische Kaiser Marc Aurel im ersten Buch seiner au-
tobiographischen Schrift TA ΕΙΣ EA YTON durchführt. 56 Marc Aurel zieht darin
eine Bilanz seines inneren Werdegangs. Er führt sich vor Augen, welche Bildungs-
güter ihm vermittelt wurden und wie sein Vernunftvermögen sich entwickelt hat.
Durch die summarische Aufstellung will der Kaiser sich selbst zum eigenständigen
Gebrauch seiner Ratio und des erworbenen Wissens animieren. Er bestimmt das
Leitvermögen der Vernunft als »das, was sich selbst aufweckt und wandelt und zu
dem macht, zu dem es sich auch machen will«.57 Die Lebensbilanz fungiert somit
als eine Art Weckruf. Mit ihrer Hilfe versucht Marc Aurel, seine Vernunft aus ihrem
Schlaf herauszureißen. Er macht sich seine Fähigkeiten und geistigen Besitztümer
bewußt, um sich dazu zu nötigen, sie zweckentsprechend anzuwenden, das heißt:
sein Leben nach philosophischen Prinzipien einzurichten. Ahnliches gilt für die
alta meditatio >Augustins<. Sie dient nicht der zerquälten, retrospektiven Analyse
sündhaften Verhaltens. Die Selbsterkenntnis hat vielmehr in erster Linie einen prak-

54
Vgl. H. Baron: Petrarch's Secretum. S. 222: »Franciscus and Augustine personify two conflict-
ing strains of thought in Petrarch's mind (the conflict to which the title >De secreto conflictu
curarum mearum< refers), Franciscus representing Petrarch in general [...] and Augustine, the
voice of Petrarch's conscience, a teacher who uncovers the secret thoughts which Petrarch tries
to hide from himself, and at the same time a paternal friend who is prepared to let Petrarch's
nature have the last word in his inner struggles.«
55
Bezeichnenderweise verwendet >Augustinus< den Begriff der ars vitae im Kontext seiner Kritik
an dem Lektüreverhalten des Franciscus. Wie Seneca in den Lucilius-Briefen verurteilt er
diejenigen, die bloß über die ars vitae reden, ohne sie zu praktizieren: »Communis legentium
mos est, ex quo monstrum illud execrabile, literatorum passim flagitiosissimos errare greges
et de arte vivendi, multa licet in scolis disputentur, in actum pauca converti.« (Secretum
II.16.1.).
56
Dieses Beispiel stoischer Selbstbesinnung war Petrarca allerdings nicht bekannt. Zitate aus
Marc Aurels TA ΕΙΣ EA YTON tauchen in den Schriften der Humanisten erst zu Beginn des
16. Jahrhunderts auf; der Erstdruck (bei Andreas Gesner in Zürich) erfolgt erst im Jahre 1559.
(Vgl. P. Hadot: La citadelle interieure. S. 36). Das Schema der stoischen Selbstbesinnung,
von dem Marc Aurel Gebrauch macht, prägt jedoch auch die ethischen Schriften Senecas
und Ciceros, mit denen Petrarca bestens vertraut war.
57
Kaiser Marc Aurel: TA ΕΙΣ ΕΑΥΤΟΝ VI.8.
666 Von der Hermeneutik des Willens zur Asthetisierung der Selbsterkenntnis

tischen, vorwärtsgerichteten Zweck - sie soll den gebrochenen Willen des Sünders
wiederherstellen und ihn zur Bewältigung der Krise wie auch zur aktiven Gestaltung
seines Lebens befähigen. Die Beichte ist zugleich eine Besinnung des Individuums
auf die Stärke seines eigenen Vernunftvermögens.
Petrarca unternimmt im Secretum den Versuch, einen Akt der Selbstbesinnung
zu vollziehen, wie ihn seiner Ansicht nach auch Augustinus im Mailänder Garten
vollzogen hat. Er möchte das Beispiel des Kirchenvaters nachahmen und sich auf
dem Wege der meditatio seine miseria bewußt machen, um in sich selbst ein inten-
sives Verlangen nach moralischer Reform zu entzünden und zugleich auch die Kraft
zu ihrer Durchführung zu erlangen. Das Secretum ist eine solche meditatio. »[T]he
work«, so stellt Victoria Kahn zutreffend fest, »is primarily a reading of Augustine's
Confessions.«58 Petrarca unterzieht die Confessiones im Secretum einer meditativen
Lektüre. Er verwendet Augustins Bekenntnis als einen Spiegel, mit dessen Hilfe
er sich seine spirituelle Situation zu vergegenwärtigen und sich selbst aus seiner
Betäubung herauszureißen sucht. Um die im Text enthaltene Wahrheit über sein
Selbst nicht bloß undeutlich aus der Ferne wahrnehmen, sondern unmittelbar und
schmerzhaft erfahren zu können, um zu gewährleisten, daß sie ihn persönlich trifft
und in sein Inneres eindringt, tritt Petrarca mit dem Verfasser der Confessiones in
ein hermeneutisches Gespräch. Er appliziert sich den Text, indem er dem Verfasser
eine Stimme verleiht und sich von ihm ansprechen läßt. Die meditative Lektüre
der Confessiones, die dem Mustertext zur Wirkung verhelfen soll, vollzieht sich in
Gestalt eines fiktiven Dialogs mit ihrem Autor, dem die Rolle des Beichtvaters und
Psychagogen zugewiesen wird. Petrarca erweckt den Autor zu neuem Leben, damit
dieser ihn aus dem Schlaf der Sünde aufwecken möge.
Die Dialogform des Secretum erklärt sich also nicht bloß aus dem Verlangen, das
antike Muster des ciceronianischen Dialogs zu imitieren. 59 Sie markiert vielmehr die
Umsetzung des neuen humanistischen Lektüre- in ein autobiographisches Schreib-
verfahren. Petrarca stellt dieses Verfahren im Secretum auf die Probe. Er prüft, inwie-
weit das Gespräch mit dem Autor tatsächlich dazu geeignet ist, den Willen des Lesers
zu bestimmen und seine moralische Besserung einzuleiten. Der Ausgang dieses
Experiments entscheidet über die Frage, ob die Literatur für Petrarca ein Instrument
der praktischen Lebenskunst darstellt, oder ob sie eine ästhetische Gegenwelt bildet,
einen Fluchtraum, in den er sich zurückzieht, ohne verändernd auf seinen Charakter
einzuwirken. Anders formuliert: Der Ausgang des Experiments entscheidet darüber,
ob Petrarca sich als ein ethisches oder als ein ästhetisches Subjekt konstituiert.

58
V. Kahn: T h e Figure of the Reader in Augustine's Secretum. S. 155.
59
Petrarca weist im Proöraium d a r a u f h i n , daß er mit seinem Dialog an die Tradition Piatons
u n d Ciceros anknüpfen möchte. Vgl. Secretum. Prohemium 4.2.
Petrarcas Secretum 667

2. Das literarische Supplement der Wahrheit:


Die Schrift als ästhetischer Erfahrungsraum

Der Wille zur Selbsttäuschung

Im ersten Buch des Secretum erläutert >Augustinus< zunächst seine Konzeption der
Selbsterkenntnis. Er behauptet, daß ein jeder, der zum klaren Bewußtsein seines Un-
glücks - das heißt: seiner Sündhaftigkeit und seelischen Zerrissenheit - gelange, nicht
nur den Willen auspräge, sich aus seiner Lage zu befreien, sondern auch die Kraft
gewinne, diesen Befreiungsakt zu vollziehen.60 Daraus folgt, daß der Mensch nur
deshalb unglücklich ist, weil er unglücklich sein will. Doch >Augustinus< begnügt sich
nicht damit, Franciscus mit dieser provozierenden These zu konfrontieren. Sein Ziel
besteht vielmehr darin, den Gesprächspartner zu der Einsicht zu führen, daß die Be-
hauptung auf ihn selbst zutrifft. Franciscus soll zu dem Eingeständnis bewegt werden,
daß er unglücklich ist, weil er sein Unglück begehrt, und folglich noch nie mit ganzer
Seele danach verlangt hat, den Zustand innerer Zerrissenheit zu überwinden.
Um dieses Ziel zu erreichen, muß >Augustinus< auf selten seines Gesprächspartners
große Widerstände aus dem Weg räumen. Denn Franciscus hält >Augustins< These
schlichtweg für falsch. Er beruft sich dabei auf seine eigene Erfahrung: »Hoc igitur
unum est, quod me super ambigenda propositionis tue veritate solicitat, qua conaris
astruere neminem nisi sponte sua in miseriam corruisse, neminem miserum esse, nisi
qui velit; cuius rei contrarium in me tristis experior.«61 Franciscus ist, wie er genauer
ausfuhrt, schon häufig unglücklich gewesen, hat sehr darunter gelitten und infolge-
dessen auch das starke Verlangen nach wahrem Glück verspürt - und war doch nicht
dazu fähig, etwas an seiner Situation zu ändern. Er zieht daraus den Schluß, daß die
Verantwortung für sein Unglück nicht bei ihm selbst, sondern bei derfortuna (»in po-
testate fortune«) liegt.62 >Augustinus< dagegen zieht die Erfahrung in Zweifel, auf die
sich sein Gesprächspartner beruft. Er ist nicht bereit zu glauben, daß Franciscus jemals
ein aufrichtiges Verlangen nach Glück verspürt hat. Der Sünder hat sich selbst ein
solches allenfalls vorgespielt. >Augustinus< führt den Irrtum seines Gesprächspartners
auf die menschliche Neigung zur Selbsttäuschung zurück, in der er die eigentliche
Ursache seines Unglücks entdeckt: »Sed est [...] in animis hominum perversa quedam
et pestilens libido se ipsos fallendi, quo nichil potest esse funestius in vita.«63

Vgl. ebd. 1.1.2: » [ H e c inter te m e q u e conveniat, ut], sicut qui se miserum alta et fixa medica-
tione cognoverit cupiat esse non miser, et qui id optare ceperit sectetur, sie et qui id sectatus
fuerit, possit etiam adipisci.«
Ebd. 1.4.3. (»Das ist es, was mich dazu veranlaßt, die Wahrheit der von dir aufgestellten T h e s e
zu bestreiten: daß niemand unglücklich geworden ist, o h n e sich dafür zu entscheiden; d a ß
niemand unglücklich ist, ohne es zu wollen. D a s Gegenteil dieser B e h a u p t u n g erfahre ich
traurig an mir selbst.«).
Ebd. 1.2.4.
Ebd. 1.4.4.
668 Von der Hermeneutik des Willens zur Asthetisierung der Selbsterkenntnis

>Augustinus< beschreibt den menschlichen Willen zur Selbsttäuschung als ein psy-
chisches Phänomen, das nur schwer zu bändigen ist. D e n n dieser W i l l e ist allgegen-
wärtig; er dringt in jede noch so verborgene Falte der Seele ein. Erfahrungen, Erinne-
rungen, Gedanken, Gefühle — sie alle stehen in dem Verdacht, nicht das zu sein, als
was sie sich ausgeben. Das Individuum darf sich folglich nicht auf seine unmittelbare
Selbstwahrnehmung verlassen. Vielmehr gilt es, jeden Gedanken und jedes Gefühl
zu hinterfragen. Franciscus besitzt aber noch gar keine Vorstellung davon, wie sehr
ihn der Wille zur Selbsttäuschung beherrscht. Die Behauptung, mit der er sich gegen
den Vorwurf seines Mentors verteidigt, bringt seine diesbezügliche Ignoranz zum Vor-
schein: Er könne sich nicht daran erinnern, so erklärt er, sich jemals selbst getäuscht
zu haben. 64 Franciscus geht also davon aus, daß die Selbsttäuschung einen psychischen
Akt darstellt, der vom Agierenden bewußt vollzogen wird. >Augustinus< korrigiert diese
naive Auffassung. E r macht deutlich, daß der Wille zur Selbsttäuschung unterhalb der
Bewußtseinsschwelle wirksam ist: Gerade dann täuscht man sich am meisten, wenn
man das Gefühl hat, von Selbsttäuschung frei zu sein. 65 U m Selbsttäuschungen aufzu-
decken, genügt es daher nicht, das Gedächtnis zu befragen. >Augustins< Ausführungen
über die M a c h t der Selbsttäuschung legen den Schluß nahe, daß es notwendig ist, auf
andere, intensivere Formen der Selbstprüfung zu rekurrieren.
Franciscus m u ß also zur Kenntnis nehmen, daß die Selbsterforschung eine sehr
viel komplexere Angelegenheit ist, als er zunächst dachte. Diese Komplexität bringt
aber nicht nur ihn, sondern auch seinen M e n t o r in Bedrängnis. D e n n wie läßt sich
die A n n a h m e einer unbewußt wirksamen und alles durchdringenden Neigung zur
Selbsttäuschung mit der von >Augustinus< aufgestellten T h e s e vereinbaren, daß der
M e n s c h die freie Wahl hat, o b er unglücklich sein will oder nicht? W e n n Selbst-
erkenntnis eine derart schwierige Angelegenheit ist, wie ist es d e m Individuum
dann überhaupt möglich, sie aus eigener Kraft vollziehen? Diese Frage bewegt auch
Franciscus. D a h e r möchte er von >Augustinus< konkret wissen, wie die Neigung zur
Selbsttäuschung ausgeschaltet werden kann. D i e A n t w o r t , die ihm sein M e n t o r
erteilt, ist verblüffend. Er erinnert seinen Gesprächspartner an die Abmachung, die
sie zu Beginn ihres Gesprächs getroffen hätten: »Conventa sunt, ut fallaciarum la-
queis reiectis circa veritatis Studium pura cum simplicitate versemur.« 66 >Augustinus<
fordert Franciscus dazu auf, den Fallschlingen der Täuschung aus dem Weg zu gehen

Ebd. 1.4.5.
Ebd. 1.4.5. - Mit dieser Aussage nimmt >Augustinus< auf die Überlegungen zur Macht der
Selbsttäuschung Bezug, die im zehnten Buch der Confessiones angestellt werden. In Confessiones
X.38.63 etwa äußert Augustinus die Vermutung, daß er gerade dann der Sünde des Hoch-
muts erliege, wenn er sich dieser Sünde im Bekenntnis anklage. Die Aufdeckung der Sünde
partizipiert also an der Sünde, die aufgedeckt wird - so stark ist der menschliche Wille zur
Selbsttäuschung. Die Problematik unbewußter Selbsttäuschung ist ein zentrales Thema des
historischen Augustinus. Siehe oben, S. 549ff. Vgl. dazu auch A. Kablitz: Petrarcas Augusti-
nismus und die fieriture der Ventoux-Epistel. S. 36f. und passim.
Secretum 1.5.3.
Petrarcas Secretum 669

und sich einfältigen Herzens der Erforschung der Wahrheit zu widmen. Zeichnete
er eben noch das Bild eines heimtückischen, hinter jeder Seelenregung lauernden
Willens zur Selbsttäuschung, so behauptet er nun, daß es genüge, aufrichtig sein zu
wollen, um tatsächlich auch aufrichtig zu sein. Wer sich nicht selbst täuschen will,
der täuscht sich auch nicht selbst; wer aufrichtig und ehrlich nach der Wahrheit
strebt, dem wird sie auch zuteil - so lautet das simple Rezept, das >Augustinus< sei-
nem Gesprächspartner anbietet. Die Willenskraft des Sünders steht aber gerade in
Frage. Am Eingang des Dialogs hatte >Augustinus< erklärt, daß klare Selbsterkenntnis
die Voraussetzung dafür sei, den gebrochenen Willen des Sünders zu heilen. Hier
behauptet er nun das Gegenteil: Nur der kann Selbsterkenntnis erlangen, der mit
ganzem Herzen danach verlangt. >Augustinus< argumentiert zirkulär: Einerseits soll
die klare Erkenntnis den Willen restituieren, andererseits soll ein voller Wille zu klarer
Erkenntnis fuhren. Dieser Zirkel stellt die Möglichkeit täuschungsfreien Selbstwissens
radikal in Frage. Die Widersprüche, in die sich der Stoiker >Augustinus< bei seinem
Bemühen verstrickt, die Fähigkeit des Sünders zur Selbstheilung glaubhaft zu ma-
chen, lassen die Konturen eines sehr viel pessimistischeren, authentisch augustinischen
Menschenbildes erahnen: Das Individuum ist demnach immer nur so aufrichtig, wie
es aufrichtig sein will, doch seinen Willen hat es gerade nicht in der Gewalt.
>Augustinus< versucht, dem Willen zur Selbsttäuschung, in dem der Sünder be-
fangen ist, einen aufrichtigen Willen zur Wahrheit entgegenzusetzen. Doch die For-
derung nach rückhaltloser Aufrichtigkeit erweist sich als ein unzulängliches Mittel,
um Franciscus zur Selbsterkenntnis zu führen. >Augustinus< bittet seinen Gesprächs-
partner zunächst, noch einmal in sich zu gehen und sich ernsthaft zu prüfen: Hat er
in seinem Unglück tatsächlich das intensive Verlangen verspürt, sich aus seiner Lage
zu befreien? War da wirklich ein Wollen, dem kein Können entsprach? Franciscus
antwortet so aufrichtig, wie er nur kann: »Scio quidem, [...] quotiens volui nec potui;
quot lacrimas fudi, nec profuerint.« 67 Der Sünder ist weiterhin fest davon überzeugt,
daß er wollte, ohne zu können. So sehr er sich auch anstrengt, sich selbst gegenüber
ehrlich zu sein, er kann sich nicht zu dem Eingeständnis durchringen, daß er das
Unglück begehrte, unter dem er litt. Sein Wille zur Wahrheit scheint nicht stark
genug zu sein, um den Willen zur Selbsttäuschung aus dem Feld zu schlagen. >Au-
gustinus< sieht sich daher genötigt, seine Vorgehensweise zu ändern und Franciscus
auf der Suche nach Selbsterkenntnis eine weitergehende Hilfestellung zu leisten. Er
fordert Franciscus dazu auf, nicht sein Gedächtnis, sondern jene Instanz befragen,
die schlechthin nicht dazu fähig ist, die Unwahrheit zu sagen: sein Gewissen. Denn
das Gewissen, so behauptet >Augustinus<, ist ein unfehlbarer Richter unserer Gedan-
ken und Werke: » [ C J o n s c i e n t i a m ipse tuam consule. Illa optima virtutis interpres,
illa infallibilis et verax est operum cogitationumque pensatrix.« 68

67 E b d . 1.5.4.
68 E b d . 1.7.1.
670 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Es hat somit den Anschein, als könne der Gesprächsführer seinem Schützling
doch noch einen Ausweg aus dem Labyrinth der Selbsttäuschung weisen. »Augustinus*
geht davon aus, daß jeder Mensch in Gestalt des Gewissens ein untrügliches Organ
der Selbsterkenntnis besitzt. Das Gewissen läßt sich nicht täuschen. Wer auf sein
Gewissen hört, der wird unweigerlich zur Wahrheit seiner selbst geführt. Franciscus
folgt den Anweisungen seines Mentors und befragt seine conscientia. Sie gibt ihm zu
verstehen, daß er das Glück bislang in der Tat immer nur halbherzig begehrte, anstatt
ernsthaft danach zu verlangen.69 Endlich scheint er also zu wirklicher Selbsterkenntnis
durchdringen zu können; endlich beginnt er, aus dem Schlaf der Selbsttäuschung zu
erwachen. So jedenfalls deutet »Augustinus! das Eingeständnis seines Gesprächspart-
ners: »Profecimus aliquantulum; en incipis expergisci«, stellt er frohlockend fest.70
Doch diese Freude kommt zu früh. Nur wenig später stellt sich heraus, daß das
Vertrauen, das der Gesprächsführer in den Gewissensspruch des Franciscus setzt,
durch nichts gerechtfertigt ist. Mehr noch: >Augustinus< täuscht sich und seinen
Dialogpartner, wenn er das Gewissen zum untrüglichen Garanten der Wahrheit
erklärt. Das Gespräch wendet sich dem Thema der Vergänglichkeit zu. Der Mentor
klagt seinen Schützling an, sich die Todesverfallenheit alles Irdischen nicht mit hin-
reichender Deutlichkeit vor Augen geführt zu haben. Als Zeugen der Anklage ruft
er das Gewissen seines Gesprächspartners auf. Franciscus beteuert jedoch, daß sein
Gewissen ihm das Gegenteil bestätige: »lila contrarium dicit.«71 Daraufhin wirft »Au-
gustinus! ihm vor, sein Gewissen nicht richtig befragt zu haben. Eine verwirrte Befra-
gung könne zu unzuverlässigen Ergebnissen führen: »Ubi confusa preit interrogatio,
certum respondentis testimonium esse vix potest.«72 Es genügt also nicht, einfach nur
auf die Stimme des Gewissens zu hören. Auch das Gewissen kann täuschen, wenn
man nicht mit ihm umzugehen weiß. Man muß ihm die geeigneten Fragen stellen,
und man muß dazu fähig sein, seine Antworten richtig zu deuten. Pries »Augustinus*
das Gewissen eben noch als den unfehlbaren interpres der Gedanken und Gefühle
an, so behauptet er nun, daß seine Richtersprüche ihrerseits der Auslegung bedürfen.
Mit Hilfe des Gewissens durchleuchtet das Individuum seine Vorstellungen, spürt
es den verborgenen Regungen der Sünde nach. Es ist das Instrument par excellence
der Selbsthermeneutik. Doch seine Urteilssprüche verstehen sich nicht von selbst,
bringen die selbsthermeneutische Aktivität also nicht zum Erliegen. Auch sie müssen
vielmehr erst entziffert werden. Es wäre folglich fatal, wenn man die Aussagen des
Gewissens ungeprüft beim Wort nehmen würde. Das Gewissen, das von »Augusti-
nus< zunächst zum unfehlbaren Prüfstein der Wahrheit erhoben wurde, ist selbst eine
mögliche Quelle der Unwahrheit. Nicht einmal diese letzten Bastion der Gewißheit
ist gegen den Willen zur Selbsttäuschung gefeit.

69 Ebd. 1.7.2.
70 Ebd. (»Nun sind wir ein klein wenig weitergekommen, denn du beginnst zu erwachen.«).
71 Ebd. 1.8.4.
7Ϊ Ebd.
Petrarcas Secretum 671

Indem >Augustinus< den Gewissensspruch seines Dialogpartners in Zweifel zieht,


unterminiert er sein eigenes Vorhaben, Franciscus zur Einsicht in die Wahrheit
seiner selbst zu geleiten. Es scheint ihm offenbar gar nicht bewußt zu sein, daß er
auf diese Weise die Möglichkeit täuschungsfreier Selbsterkenntnis grundsätzlich
in Frage stellt. Doch >Augustins< (ungewollte?) Desavouierung des Gewissens hat
weitreichende Konsequenzen. Der >Augustinus< des Secretum wird üblicherweise als
eine Figur gedeutet, die das Gewissen Petrarcas repräsentiert.73 Der Text gilt als eine
Gewissenserforschung seines Autors. Es ergibt sich daher der paradoxe Befund, daß
>Augustinus<, der das Gewissen des Autors verkörpert, die Unzulänglichkeit des Ge-
wissens als Organ der Selbsterkenntnis und somit seine eigene Unzulänglichkeit als
Seelenführer aufdeckt. Tatsächlich sind Zweifel an den psychagogischen Fähigkeiten
>Augustins< durchaus angebracht. Immer wieder verstrickt er sich in Widersprüche;
immer wieder argumentiert er zirkulär. Nicht nur Franciscus, auch >Augustinus<
agiert im Secretum mitunter wie ein Betäubter. Der Dialog scheint folglich vorzu-
fuhren, was >Augustinus< gerade zu dementieren versucht: die irreduzible Unfähigkeit
des Menschen, gesicherte Selbsterkenntnis zu erlangen.
Dieser Eindruck findet seine Bestätigung durch einen weiteren signifikanten
Lapsus, der dem Gesprächsführer gegen Ende des ersten Buches unterläuft. >Au-
gustinus< erörtert die Verwirrung, die der adamitische Sündenfall in der Seele des
Menschen angerichtet hat. 74 Eine Folge der Erbschuld ist die Schwächung des
Willens, unter der Franciscus so sehr leidet. Der Gesprächsführer orientiert sich
mit seiner Auffassung des Sündenfalls allerdings nicht an dem Erbsünden-Dogma
des historischen Augustinus, das dieser in De civitate Dei entwickelt,75 sondern am
christlichen Piatonismus, wie er im Frühwerk des Kirchenvaters, vor allem aber von
Origenes und Ambrosius vertreten wird. Indem >Augustinus< die Willensschwäche
des Menschen aus der Verbindung der Seele mit dem Körper herleitet, argumen-
tiert er als Platoniker und nicht mehr als Stoiker.76 Der christliche Piatonismus hat
mit dem christlich überformten Stoizismus jedoch eines gemein: Er gesteht dem
Individuum die Fähigkeit zu, die Beeinträchtigung der Seele durch die Sünde aus
eigener Kraft zu überwinden. Auf der Basis dieses Gedankens versucht >Augustinus<,
seinem Gesprächspartner Mut zu machen. Es ist möglich, die irdischen Fesseln der

73 Hans Baron bezeichnet diesen Deutungsansatz als »an old-fashioned view«, die aber dennoch
unverändert ihre Gültigkeit besitze. Vgl. H. Baron: Petrarch's Secretum. S. 2 2 2 , S. 237f. — Ein
typisches Beispiel für diesen Deutungsansatz stellt das Kapitel »La presa di coscienza: II Secre-
tum« in Rocco Montanos italienischer Literaturgeschichte dar (Lo spirito e le lettere. Disegno
storico della letteratura italiana. Milano 1970. Vol. 1. S. 1 9 7 - 2 0 1 ) . Montanos These lautet
folgendermaßen: »S. Agostino nel dialogo e owiamente la coscienza religiosa che forza il poeta
a dichiarare le proprie debolezze, la vanitä, l'accidia, sopra tutto, cioe lo stato di sfiducia e di
rinunzia alia salvezza che έ il peccato piu grave del poeta.«
74 Secretum 1.8.3.
75 Vgl. dazu De civitate Dei, XIV. Buch.
76 Diesen Wechsel registriert auch K. Heitmann: Augustins Lehre in Petrarcas »Secretum«.
S. 289.
672 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Seele abzustreifen, so behauptet er, wenn man sich die Macht des Todes über alles
Körperliche, insbesondere aber die eigene Sterblichkeit immer wieder vor Augen
führt. In der beständigen meditatio mortis sieht >Augustinus< das Heilmittel, das es
dem Individuum erlaubt, seinen Willenskonflikt zu kurieren und sich einen »inte-
ger animus« zuzulegen.77 Deshalb will er seinen Gesprächspartner dazu überreden,
die meditatio sui, die ihm Einblick in seine Seelenlage verschaffen soll, durch eine
intensive meditatio mortis zu ergänzen. Doch Franciscus ist von dem, was ihm
sein Mentor vorträgt, nicht überzeugt. Er praktiziere die meditatio mortis schon
seit langem, so entgegnet er ihm, ohne daß sich dadurch irgendetwas an seinem
inneren Zustand verändert habe. Der Tod liege ihm immer im Sinn, gleichwohl
sei bei ihm noch keinerlei Besserung eingetreten. >Augustins< Reaktion auf diesen
Einwand seines Gesprächspartners ist vorhersehbar. Er wirft ihm vor, einer Selbst-
täuschung zum Opfer gefallen zu sein. Was Franciscus als meditatio bezeichne, das
sei keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Tod, sondern ein oberflächliches
Gedankenspiel. Er zweifle zwar nicht daran, daß der Tod ihm häufig in den Sinn
komme, das bedeute aber nicht, daß ihm seine eigene Sterblichkeit auch wirklich
bewußt werde und er sich diesen Gedanken ganz zu eigen mache: »Et ego quidem
non ambigo tibi [...] crebras cogitationes mortis occurrere, sed que nec satis alte
descendant nec satis tenaciter hereant.«78
>Augustinus< ist also der Ansicht, daß Franciscus sich der Realität seiner Sterb-
lichkeit nicht wirklich stellt. Er will ihm daher ein Erkennungszeichen, ein signum,
an die Hand geben, mit dessen Hilfe er leicht feststellen könne, ob seine meditatio
mortis aufrichtig oder unaufrichtig sei: Nur dann, so erklärt er, wenn er im Zuge
seiner Meditation eine heftige innere Erschütterung empfinde, wenn sie ihn in echte
Todesangst versetze, ihn erzittern und erbleichen lasse, wenn er die Agonie des Todes
schon zu fühlen meine, nur dann könne er sicher sein, die Selbsttäuschung über-
wunden und eine authentische meditatio vollzogen zu haben. 79 Franciscus ist seinem
Lehrer dafür dankbar, daß er ihn mit diesem signum ausgestattet hat. Denn dadurch
ist er nun in der Lage, den ihm gegenüber erhobenen Vorwurf zu entkräften. Seine
Todesmeditation weist nämlich das von »Augustinus« angegebene Kennzeichen der
echten meditatio tatsächlich auf. Diesmal erliegt Franciscus also offenbar keiner
Selbsttäuschung. Seine Todesgedanken sind aufrichtig und bringen ihm die Hin-
fälligkeit des Irdischen klar zu Bewußtsein. Wie ist aber unter dieser Voraussetzung
die Wirkungslosigkeit der meditatio zu erklären? Franciscus beteuert, daß er immer
wieder intensiv über den Tod nachdenke und dennoch unverändert in seinem Wil-
lenskonflikt gefangen bleibe. Es muß mithin noch ein anderes, bislang verborgenes

77
Secretum I.8.3f.
78
Ebd. 1.10.7. (»Und ich bestreite nicht, daß du dir häufig Gedanken über den Tod gemacht
hast, aber sie sind nicht tief genug in dein Inneres eingedrungen und haben dort nicht fest
genug Wurzel gefaßt.«).
79
Ebd. 1.8-11.
Petrarcas Secretum 673

Hindernis (»laten[s] obstacul[um]«) geben, das ihn davon abhält, seinen Willen zu
bestimmen.80 Franciscus fordert seinen Mentor auf, dieses Hindernis aufzudecken,
damit er es beseitigen könne: »[QJuid ergo me retinet?«, so fragt er verzweifelt.81
Diese Frage bringt >Augustinus< in einige Verlegenheit. Er versucht zunächst,
ihr auszuweichen. Erst nachdem Franciscus ihn wiederholt daran erinnert hat,82
unternimmt er den Versuch, eine Antwort zu formulieren. Diese Antwort ist ebenso
überraschend wie enttäuschend. Denn um das Hindernis zu bestimmen, das Fran-
ciscus davon abhält, aus seiner meditatio Nutzen zu ziehen, verweist >Augustinus< auf
die durch den Sündenfall bedingte Fesselung der menschlichen Seele an den Körper:
»Animam quidem tuam, sicut celitus bene institutam esse non negaverim, sie ex
contagio corporis huius, ubi circumsepta est, multum a primeva nobilitate sua de-
generasse ne dubites«.83 Der Körper schwächt die Seele, so fährt der Gesprächsführer
fort, und dies hat zur Folge, daß die Seele von vielerlei unterschiedlichen Gedanken
überflutet wird, ohne daß sie sich auf einen Gegenstand zu konzentrieren vermag.84
>Augustinus< verfällt also wieder in ein zirkuläres Argumentationsmuster. Das Übel,
das durch die meditatio eliminiert werden soll, ist zugleich auch dafür verantwortlich,
daß die meditatio nicht funktioniert. Die Todesmeditation soll die Spaltung der
Seele beseitigen, sie scheitert aber, weil die Seele gespalten ist. Anders formuliert:
Damit die meditatio erfolgreich sein kann, muß dasjenige als gegeben vorausgesetzt
werden, was durch die meditatio allererst hervorgebracht werden soll, nämlich ein
mit sich selbst einiger Wille, ein integer animus. >Augustinus< dreht sich mit seinen
Argumenten im Kreise. Ob er selbst sich dessen bewußt ist, bleibt offen. Franciscus
jedenfalls merkt nichts davon, daß sich sein Mentor in Widersprüche verwickelt. Im
Gegenteil, er erliegt der Illusion, etwas ganz Neues, Wesentliches über sich selbst
und seine miseria in Erfahrung gebracht zu haben. Er glaubt, daß es >Augustinus<
tatsächlich gelungen sei, die in seiner Seele verborgene Wunde aufzudecken. Daher
stimmt er ihm vorbehaltlos und mit großer Betroffenheit zu. »Heu mi misero!« so
entfährt es ihm: »Nunc profunde manum in vulnus adegisti.«85
Das erste Buch des Secretum endet mit der vermeintlichen Aufdeckung einer
tiefen seelischen Wunde. Franciscus glaubt, daß es ihm mit Hilfe seines Mentors
gelungen sei, einen Durchbruch zu erzielen und authentische Selbsterkenntnis zu
gewinnen. Er hofft, auf der Grundlage dieser Erkenntnis den Riß heilen zu können,
der seine Seele durchzieht. Doch diese Hoffnung beruht auf einer Täuschung. Fran-

80 Ebd. 1.12.5.
81 Ebd.
82 Ebd. I . 1 2 . 9 f . , I . 13.7.
83 Ebd. 1.15.1. (»Ich leugne nicht, daß deine Seele himmlischen Ursprungs ist, doch du darfst
nicht daran zweifeln, daß sie durch den Kontakt mit dem Körper, der sie einschließt, viel von
ihrem ursprünglichen Adel eingebüßt hat.«).
84 Ebd. 1.15.4f„ I. 1 5 . 1 0 - 1 3 .
85 Secretum 1.15.13. (»Weh mir, ich Elender! Jetzt hast du deine Hand tief in meine Wunde
gelegt.«).
674 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

ciscus übersieht den Widerspruch, in den sich >Augustinus< als Seelenftihrer verstrickt
und der die von ihm propagierte Methode der meditatio entwertet. >Augustinus< ist
folglich nicht der über jeden Zweifel erhabene Anwalt der Wahrheit, für den Fran-
ciscus ihn hält. Er hilft seinem Schützling nicht, die Wunde aufzudecken, er sorgt
vielmehr dafür, daß sie ihm weiterhin verborgen bleibt. Auf diese Weise wird er zum
Komplizen eben jener Selbsttäuschung, die er zu bekämpfen vorgibt. Anstatt seinen
Gesprächspartner aus dem Schlaf der Sünde zu wecken, trägt er dazu bei, seine
Betäubung aufrecht zu erhalten.
Die Figur des >Augustinus< gewinnt im Secretum mithin ein zwielichtiges An-
sehen. Es stellt sich die Frage, wie sein widersprüchliches Verhalten zu deuten ist.
Eine Deutungsmöglichkeit besteht darin, daß Petrarca durch die Zirkelschlüsse
und Irrtümer, in die sich nicht nur die Figur des Schülers Franciscus, sondern auch
diejenige des Lehrers >Augustinus< verstrickt, die unüberwindlichen Schwierigkeiten
veranschaulichen will, die dem Erwerb wahrer Selbsterkenntnis entgegenstehen.86
>Augustinus< verweist somit indirekt auf die theologische Position, die vom authen-
tischen Augustinus vertreten wird. Er straft den platonisch und stoizistisch gepräg-
ten Optimismus Lügen, den er selbst verkündet. Die Figur des >Augustinus< wäre
demnach als ein kunstvoller allegorischer Schleier anzusehen, der die eigentliche,
authentisch augustinische Wahrheit anzeigt und verrätselt, um den Leser des Dialogs
dazu zu animieren, sich ihrer zu bemächtigen.87 Denkbar ist aber auch eine andere
Deutungsmöglichkeit: Vielleicht besteht die Aufgabe des >Augustinus< gar nicht
darin, die Wahrheit aufzudecken - weder als schonungsloser Entlarver sündhafter
Selbsttäuschung, noch als allegorisch-paränetischer Impuls zur Entschleierung eines
Dogmas. Vielleicht besteht sie umgekehrt darin, die Wahrheit zu verschleiern und
auf Distanz zu halten. Möglicherweise erfüllt der Gesprächsführer die Funktion, die
unmittelbare Konfrontation des Sünders mit der Wahrheit zu verhindern, aufzu-
schieben oder abzumildern. Inszeniert Petrarca das Gespräch mit >Augustinus<, um
der Ursache für seine seelische Zerrissenheit auf den Grund zu gehen? Oder dient es
nur als Vorwand, um den Akt der Selbstreform hinauszuzögern und im Zustand der
inneren Spaltung verharren zu können? Ist die Fiktion des Dialogs ein schützender
Schleier, mit dem der Autor sich die für ihn unerträgliche Wahrheit vom Leib zu
halten sucht? Tatsächlich mehren sich im zweiten und dritten Buch des Secretum
die Anzeichen dafür, daß >Augustinus< als Psychagoge und Beichtvater eine dubiose
Rolle spielt. Er subvertiert die Selbsterkenntnis des Sünders in dem Maße, in dem
er sie zu befördern vorgibt.

86 Eine solche Darstellungsstrategie sieht Andreas Kablitz in Famiiiares IV. 1 am Werk: Petrarcas
Augustinismus und die Ecriture der Ventoux-Epistel.
87 So lautet die Deutungshyposthese, die J. Küpper vorträgt: Das Schweigen der Veritas.
S. 427.
Petrarcas Secretum 675

Der großzügige Inquisitor


Die zwielichtige Haltung >Augustins< kommt zu Beginn des zweiten Buchs deutlich
zum Vorschein. Nachdem er das vermeintlich grundlegende Übel aufgedeckt hat,
unter dem sein Gesprächspartner zu leiden hat, macht er es sich zur Aufgabe, die vie-
len kleineren Übel zu ermitteln, die ihn infolge dieser basalen Schwächung belasten.
Mit anderen Worten: Er versucht die Laster aufzudecken, denen Franciscus verfallen
ist. Als Richtschnur dient ihm dabei der Katalog der sieben peccata mortalia. An er-
ster Stelle steht die Sünde der superbia. >Augustinus< will nachweisen, daß Franciscus
durch sein gutes Aussehen, seine Beredsamkeit und vor allem durch seine Bildung
dazu verleitet wird, Stolz zu empfinden. Dabei gebe es für ihn überhaupt keine
Veranlassung, stolz zu sein, denn anstatt die erworbenen Bildungsgüter zum Zwek-
ke der moralischen Besserung zu nutzen, mache er davon einen rein literarischen,
auf die Beförderung seines weltlichen Ruhms abzielenden Gebrauch.88 Franciscus
weigert sich, diese Analyse seines Hochmuts zu akzeptieren. Er behauptet, daß er
auf seine Fähigkeiten keineswegs stolz sei, sondern sie im Gegenteil geringschätze.89
Angesichts des Widerstandes, den ihm sein Gesprächspartner entgegensetzt, müßte
>Augustinus< seine Sündenanalyse eigentlich fortsetzen und intensivieren. Der Wi-
derstand zeigt an, daß Franciscus der Selbsterkenntnis auszuweichen sucht, daß er
nicht wissen will, wie es wirklich um seine Seele bestellt ist. Offenbar hat ihn der
Wille zur Selbsttäuschung immer noch fest im Griff. >Augustinus< reagiert jedoch
anders als erwartet auf die Widerspenstigkeit seines Gesprächspartners. Anstatt
Franciscus mit Beispielen für sein stolzes Verhalten zu konfrontieren, bricht er die
Erörterung der superbia kurzerhand wieder ab:
Copiose possem adversus ista disserere; malo tarnen tibi conscientia tua quam sermo meus
incutiat pudorem. Non agam pertinaciter, neque tormentis verum extorquebo; quod generosi
solent ultores, simplici negatione contentus precabor ut post hac omni studio declines quod
hactenus te non admisisse contendis. 90

>Augustinus< gibt sich als ein milder und großzügiger Untersuchungsrichter zu


erkennen. Er will nicht bis zum Äußersten gehen; er verzichtet darauf, die psycha-
gogischen Folterwerkzeuge anzuwenden, mit denen er seinen Gesprächspartner zu
einem Geständnis zwingen könnte. Diese plötzliche Rücksichtnahme ist erstaun-
lich. Denn bislang hat >Augustinus< immer behauptet, daß nur die schonungslose
Aufdeckung der Wahrheit den Sünder dazu bewegen könne, sich für das Bessere zu

88 Ebd. II.2.6f.
85 Ebd. II.4.1-6.
50 Ebd. II.4.7. (»Ich könnte vieles gegen das, was du eben sagtest, hervorbringen; doch ich ziehe
es vor, daß nicht meine Rede, sondern dein Gewissen dir Scham einflöße. Daher werde ich
nicht insistieren und die Wahrheit nicht durch die Folter aus dir herauspressen. Ich bin ein
großzügiger Inquisitor; zufrieden damit, dir widersprochen zu haben, ermahne ich dich,
zukünftig das zu vermeiden, wovon du behauptest, daß du es bislang immer vermieden
hast.«).
676 Von der Hermeneutik des Willens zur Asthetisierung der Selbsterkenntnis

entscheiden. Das vom Gesprächsführer angepriesene Verfahren der meditatio hat ja


keinen anderen Zweck, als dem Sünder diese grausame Wahrheit fühlbar zu machen,
sie ihm auf derart penetrante Weise nahezubringen, daß er sie nicht mehr übersehen
kann. Wahre Selbsterkenntis muß schmerzen, andernfalls erzeugt sie kein Verlangen
nach einem neuen Leben. Doch hier, wo es um die Sünde der superbia geht, bleibt
>Augustinus< auf halbem Weg stehen.
Was ist der Grund für diese Halbherzigkeit? >Augustinus< deutet an, daß er seinen
Gesprächspartner nicht beschämen will. Der historische Augustinus bestimmt die
Scham als einen Affekt, der einen ambivalenten kognitiven Status besitzt: Durch das
Schamgefühl erkennt der Beschuldigte die Wahrheit an, mit der ihn sein Ankläger
konfrontiert, doch er verbirgt sie zugleich vor sich selbst.91 Scham ist eine Form
der Selbsttäuschung. Es ist also denkbar, daß >Augustinus< seinen Gesprächspartner
deshalb nicht zu einem Schuldgeständnis nötigt, weil er verhindern will, daß Fran-
ciscus sich schämt und die eingestandene Wahrheit somit gleich wieder verdrängt.
Die Alternative, die der Mentor statt dessen wählt, führt ihn aber auch nicht weiter.
Denn dadurch, daß er seine Sündenanalyse abbricht, ohne seine Vorwürfe zu kon-
kretisieren, vermittelt er seinem Gesprächspartner keinerlei Anreiz, sich von seiner
Selbsttäuschung zu befreien. Im Gegenteil, Franciscus kann sich in seiner Leugnung
der superbia sogar noch bestätigt fühlen. Offenbar befindet sich >Augustinus< in
einem Dilemma: Wenn er seinem Gesprächspartner die Wahrheit unverhüllt vor
Augen stellt, dann ruft er Abwehrinstinkte nach Art der Scham wach; wenn er darauf
verzichtet, die Wahrheit ganz zu enthüllen, dann leistet er dem perversen Begehren
des Sünders Vorschub, in seinem Unglück zu verharren.
Was es mit diesem Dilemma auf sich hat, wird im dritten Buch des Secretum
deutlich, und zwar im Kontext der Debatte, die um das Thema der antiken Literatur
entbrennt. >Augustinus< sieht sich genötigt, den Umgang seines Dialogpartners mit
den aus der Antike überlieferten Exempeln zu rügen. Den Anlaß bildet die Frage,
was Franciscus denn zu tun gedenke, wenn er beim Blick in den Spiegel seine ersten
grauen Haare entdecke. Franciscus antwortet mit dem Hinweis auf eine Reihe von
berühmten antiken Persönlichkeiten, die bereits in relativ jungem Alter ergraut
waren. Im einzelnen nennt er Domitian, Numa Pompilius und Vergil.92 Nicht ohne
Stolz gibt er zu verstehen, daß er eine Vielzahl solcher Exempel für alle Kalamitäten
des Lebens parat hält. Die Beispiele berühmter Menschen, die Ahnliches erlitten
oder durchgestanden haben, verleihen ihm die Kraft, sich gegen die fortuna und
ihre unvorhersehbaren Anschläge zu behaupten. Die exempla der Antike gelten ihm
als unverzichtbare Trost- und Stärkungsmittel, die ihm dabei helfen, sein Unglück
zu ertragen. 93

" Siehe oben, S. 549ff.


52
Secretum III. 11.6f.
93
Ebd. III. 11.9.
Petrarcas Secretum 677

>Augustinus< kritisiert die Vorgehensweise seines Gesprächspartners. Seiner An-


sicht nach mißbraucht Franciscus die Exempel der Antike zum Zwecke der Selbst-
täuschung. Der Rekurs auf das Beispiel der illustren Graubärte etwa dient ihm dazu,
den Gedanken an den Tod zu verdrängen, der sich in Gestalt dieses körperlichen
Zeichens ankündigt. Indem Franciscus das Spiegelbild seines alternden Gesichts
gegen den Spiegel der antiken Berühmtheiten vertauscht, versucht er, etwas von
dem Glanz ihres die Zeiten überdauernden Ruhms auf sich selbst zu übertragen
und sich somit eine Unsterblichkeit vorzugaukeln, die sein graues Haupthaar gerade
dementiert. Franciscus betäubt sich mit Hilfe der Exempel; er benutzt sie, um den
grausamen Realitäten des Alterns, der verfliegenden Zeit und des Todes aus dem
Weg zu gehen. Zwar konzediert >Augustinus<, daß das Exempel eine tröstende und
stärkende Funktion besitzt. Der Trost, den das Beispiel spendet, darf aber nicht in
Trägheit, Gleichgültigkeit oder Selbstzufriedenheit umschlagen: »non segnitiem
afferat, sed metum meroremque discutiat.« 94 Das Exempel soll Furcht und Trauer
vertreiben, doch es darf sie nicht ganz vertreiben, denn wer den Tod nicht fürchtet,
der hat keinerlei Anreiz, sich um sein Seelenheil zu kümmern. Das Exempel soll also
Furcht und Trauer dämpfen, ohne das Furcht- und Trauererregende des Todes zu
verdrängen oder zu verharmlosen.
>Augustinus< versucht sich an einer schwierigen Gratwanderung. Denn wo genau
zieht man die Grenze zwischen D ä m p f u n g und Verdrängung? Er definiert seine
Aufgabe als Seelenführer und Beichtvater so, daß er bei seinem Gesprächspartner
sowohl Furcht als auch Hoffnung hervorrufen möchte. 9 5 Das schier unlösbare Pro-
blem besteht jedoch darin, Furcht und Hoffnung in ein Gleichgewicht zu bringen.
Einerseits will er Franciscus sein Unglück und seine sündhafte Verderbtheit bewußt
machen, damit er endlich Anstrengungen unternimmt, sich zu ändern. Andererseits
darf er ihm nicht die ganze Wahrheit enthüllen, darf er ihm nicht in drastischer
Direktheit aufzeigen, wie schlimm es wirklich um ihn steht, denn in diesem Falle
besteht die Gefahr, daß heilsame Furcht in lähmende Verzweiflung umschlägt und
jeglicher Antrieb zur Selbstreform erstickt wird. 96 Deshalb muß >Augustinus< wie ein
großzügiger Inquisitor verfahren und seine Präsentation der Wahrheit abmildern.
Nur so kann er dafür sorgen, daß der Furcht des Sünders in der Hoffnung das Ge-
gengewicht erwächst. Allerdings führt die Abmilderung der Wahrheit allzu schnell
dazu, daß diese Hoffnung ins Kraut schießt und der Sünder sich in eine falsche
Sicherheit wiegt. Das Gleichgewicht zwischen Furcht und Hoffnung, zwischen
Selbsterkenntnis und Selbstbetäubung läßt sich letztlich nicht herstellen. Darin be-
steht >Augustins< Dilemma: Entweder er zeigt Franciscus die nackte Wahrheit in ihrer

94 Ebd. III. 11.11.


95 Ebd. 1.7.4: »Idcirco te alloquor ut et sperare doceam et timere.«
96 Vgl. ebd. II. 1.5: »Ultimum malorum o m n i u m desperatio est, ad quam nemo u m q u a m nisi
ante tempus accessit; ideoque hoc in primis scias velim: nichil esse desperandum.« Auf diese
Ermahnung >Augustins< erwidert Franciscus: »Sciebam, sed memoriam terror abstulerat.«
678 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

ganzen Brutalität auf und versetzt ihn somit ihn lähmende Verzweiflung, oder aber
er hüllt sie in einen dämpfenden Schleier ein und bestärkt seinen Gesprächspartner
auf diese Weise in seinem Willen zur Selbsttäuschung.
>Augustinus< beschränkt sich nicht darauf, die Problematik des Exempels mit
seinem Gesprächspartner zu erörtern. Vielmehr verkörpert er sie, er führt sie an sich
selbst vor. >Augustinus< Mf ja selbst ein literarisches Exempel. Im Proömium des Sec-
return fuhrt die Veritas ihn als ein nachahmenswertes Beispiel ein, das Franciscus als
Spiegel seiner Seele dienen soll.97 Darüber hinaus wird >Augustinus< durch die Veritas
beauftragt, an ihrer Statt das Gespräch mit Franciscus zu führen. Denn sie glaubt,
daß sie den Sünder verschrecken würde, wenn sie dieses Geschäft selbst übernähme. 98
Sie traut Franciscus die Fähigkeit nicht zu, die Wahrheit in unverhüllter Form zu
ertragen, deshalb soll ein exemplarischer Mensch an ihre Stelle treten. Tatsächlich
wird Franciscus durch den Glanz geblendet, der von der Figur der Veritas ausgeht.
Aus diesem Grunde ist er zunächst auch nicht dazu in der Lage, die weibliche
Gestalt als die Wahrheit zu identifizieren, wohingegen er >Augustinus< gleich auf
den ersten Blick wiedererkennt. 99 Erst nachdem die Veritas Franciscus darauf auf-
merksam gemacht hat, daß er sie in seinem Epos Africa portraitiert habe, begreift
er, mit wem er es zu tun hat. Er (er)kennt die Wahrheit nur in ihrer literarischen
Verkleidung - als Bestandteil seines eigenen Werks oder in Gestalt des Protagonisten
der Confessiones.
>Augustinus< fungiert mithin als literarischer Stellvertreter der Veritas. Er supple-
mentiert die Wahrheit.100 Wie Monnica in den Confessiones zwischen Augustinus und
Gott ins Mittel tritt, so tritt »Augustinus« im Secretum zwischen Franciscus und der
Wahrheit ins Mittel, wodurch er die eigentliche Konfrontation mit ihr aufschiebt.
Die fiktive Figur des >Augustinus< dient als Schleier, der die Wahrheit verhüllt, auf
Distanz hält und den Umgang mit ihr erträglich gestaltet. Doch zugleich lenkt sie
den Blick des Sünders von der Wahrheit ab und verleitet ihn dazu, in der supplemen-
tären Sphäre der literarischen Hülle zu verharren. Die abmildernde Verschleierung
der Wahrheit - das ist das Verfahren, das »Augustinus« als großzügiger Inquisitor
anwendet. Zugleich ist er selbst ein solcher Schleier, insofern er sich als literarisches
Konstrukt vor die Wahrheit stellt und sie auf diese Weise vorstellt.
Diese supplementäre Funktion erfüllt »Augustinus« auch in seiner Eigenschaft
als Repräsentant des Gewissens. Er vertritt Petrarcas Gewissen, das heißt: Er schiebt
den eigentlichen Akt der Gewissenserforschung, den endgültigen, die Wahrheit
enthüllenden Urteilsspruch des Gewissens auf. »Augustinus« hat offenbar seine ei-
gene supplementäre Rolle im Sinn, wenn er erklärt, daß das Gewissen als interpres
der Gedanken und Gefühle seinerseits interpretiert werden muß, daß sein Spruch

97
Ebd. Prohemium 3.2£
98
Ebd. Prohemium, 3.4.
95
Ebd. Prohemium 1.1.3, 1.3.1.
100
Zum Begriff des Supplements vgl. Jacques Derrida: De la grammatologie. S. 203-234.
Petrarcas Secretum 679

also nur zeichenhaft u n d verhüllt a u f die noch ausstehende Wahrheit des Selbst
verweist. 1 0 1
>Augustinus< ersetzt u n d verdrängt die Wahrheit, die Petrarca zur Selbsterkenntnis
hätte führen können. Diese Verdrängung der Wahrheit wird i m Secretum dadurch
veranschaulicht, daß die Veritas in ein undurchdringliches Schweigen verfällt, nach-
d e m sie >Augustinus< zu ihrem Stellvertreter ernannt hat. Sie bekundet zwar noch die
Absicht, d e m Gespräch zwischen >Augustinus< und Franciscus als Schiedsrichterin
beizuwohnen, doch n i m m t sie, wie J o a c h i m K ü p p e r zutreffend bemerkt, »die ihr
übertragene Rolle der arbitrierenden Instanz nicht wahr«. 1 0 2 O b w o h l nicht bloß
Franciscus, sondern gerade auch der Gesprächsführer i m Verlauf des D i a l o g s i m m e r
wieder Irrtümer begeht, sich selbst widerspricht und Unwahres von sich gibt, greift
die Veritas zu keinem Z e i t p u n k t korrigierend in die Debatte ein. Vielmehr überläßt
sie der zwielichtigen Gestalt des >Augustinus< das Feld. D a s literarische S u p p l e m e n t
usurpiert die Stelle der Wahrheit, w o d u r c h die S e l b s t t ä u s c h u n g des S ü n d e r s a u f
D a u e r gestellt wird. D i e fiktive Figur des >Augustinus< war ursprünglich als ein
Instrument der Wahrheitserkenntnis gedacht; a m E n d e dient sie Petrarca j e d o c h
dazu, sich die nackte Wahrheit v o m Leib zu halten. 1 0 3 D a s Gespräch mit >Augustinus<
mutiert v o m Mittel z u m Selbstzweck. 1 0 4 Petrarca unterhält sich mit einem fiktiven
Konstrukt, u m sich nicht mit sich selbst unterhalten zu müssen, u m der unmittel-
baren Begegnung mit seinem wahren Selbst auszuweichen.

D i e Asthetisierung des Selbstverhältnisses

>Augustinus< führt Franciscus letztlich nicht zur Wahrheit, sondern er usurpiert ihre
Stelle und schiebt ihre Erkenntnis auf. Die aufschiebende und betäubende W i r k u n g
des G e s p r ä c h s tritt a m Schluß noch einmal deutlich in E r s c h e i n u n g . N a c h d e m

101 Siehe oben, S. 670f.


102 J . Küpper: D a s Schweigen der Veritas. S. 4 7 4 .
103 >Augustinus< fungiert mithin als literarische Verhüllung der Wahrheit, ist dabei aber kein allego-
risches integumentum, das den Leser aufgrund seines opaken Rätselcharakters dazu animiert, die
Hülle zu durchdringen und die Wahrheit in ihrem nackten Sosein zu betrachten. J . Küpper geht
fehl, wenn er das Secretum im Lichte der integumentum-Lehre deutet und als ein allegorisches
Rätsel bestimmt (Das Schweigen der Veritas. S. 468f.; vgl. dazu auch oben, Kapitel X I , A n m .
52). Die Pointe des Dialogs besteht gerade darin, daß die Hülle sich gegenüber d e m Verhüllten
verselbständigt — der literarische Stellvertreter drängt die Wahrheit in den Hintergrund.
104 D e r historische Augustinus sieht in dieser U m d e u t u n g des Mittels z u m Zweck das Kenn-
zeichen der sündhaften Idolatrie. Er unterscheidet scharf zwischen uti und frui·. Allein das
Unvergängliche und Unendliche - also G o t t - ist ein legitimer G e g e n s t a n d des Genusses.
Alles andere hat seine Berechtigung nur als Mittel, das dazu genutzt werden muß, die fruitio
dei zu erlangen. Wer aus nützlichen Mitteln G c n u ß zu ziehen sucht, betreibt eine Vergötzung
des Irdischen. Siehe Augustinus: D e doctrina Christiana 1.3.3—1.7.7. Z u m Gegensatz uti—frui
bei Augustinus vgl. K. Flasch: Augustin. E i n f ü h r u n g in sein D e n k e n . S. 1 3 5 - 1 3 7 . — Z u der
bei Petrarca zu beobachtenden Tendenz, Literatur u n d Schrift in einen G e g e n s t a n d der fruitio
zu verwandeln, vgl. auch J . Freccero: T h e Fig Tree and the Laurel. S. 37f.; J . Robbins: Prodigal
Son / Elder Brother. S. 65f.
680 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

>Augustinus< seinen Schützling auf die Vielzahl seiner Sünden hingewiesen und ihm
insbesondere sein größtes Laster, nämlich seine Schreib- und Ruhmsucht, vorge-
halten hat, trifft der Beschuldigte nicht etwa reumütig die Entscheidung, ein neues
Leben zu beginnen. Vielmehr beschließt er, eine solche Entscheidung noch einmal zu
vertagen, um zuvor seine literarischen Projekte — das Epos Africa und das Geschichts-
werk De viris illustribus - zum Abschluß zu bringen.' 05 Er will schreiben, anstatt
sich um sein Seelenheil zu kümmern. Im Grunde macht er ja schon als Gesprächs-
partner >Augustins< und als Verfasser des Secretum nichts anderes: Er schreibt einen
literarischen Text und setzt diesen an die Stelle seiner eigentlichen Selbstreform.
Insofern hat der Wunsch, den Franciscus am Ende des Dialogs gegenüber seinem
Mentor äußert, ein durchaus zweideutiges Ansehen: Er wünscht, daß >Augustinus<
dauerhaft bei ihm bleibe. 106 Aus diesem Verlangen spricht zum einen die Furcht,
daß er nach dem Gespräch wieder in seine alte Selbstvergessenheit zurückfallen
könnte. >Augustinus< soll bleiben, um das Bewußtsein seiner Sündhaftigkeit wach
zu halten und einen solchen Rückfall zu verhindern. Da der Dialog mit >Augustinus<
aber seinerseits eine subtile Form des Selbstvergessens markiert, besagt der Wunsch
zugleich auch das Gegenteil: Der Mentor soll nicht gehen, damit Franciscus in der
Traumsphäre der literarischen Fiktion und des Schreibens verharren, damit er das
endgültige Erwachen hinauszögern kann. >Augustinus< reagiert auf das Ansinnen
seines Schützlings dadurch, daß er seine Rolle als Gewissens-Ersatz hervorhebt. Er
sichert Franciscus zu, daß er ihn solange nicht verlassen werde, wie dieser sich selbst
nicht verlasse.107 >Augustinus< ist bei Franciscus, solange dieser bei sich selbst ist und
sich durch Äußeres und Weltliches nicht ablenken läßt. Und umgekehrt: Franciscus
ist bei sich selbst, solange er bei >Augustinus< ist, das heißt: solange er sich mit ihm
unterhält. Der Mentor behauptet also, daß sein Schützling zumindest für die Dauer
des Gesprächs den Zustand der Zerstreuung und Betäubung verlassen habe und daß
es in seiner Hand liege, dieses Wachsein zu verlängern.
Diese Behauptung wird aber sogleich widerlegt. Zwar verspricht Franciscus
seinem Mentor, alle seine Kraft darauf zu verwenden, sich aus der Zerstreuung zu
sammeln und bei sich selbst zu bleiben: »Adero michi ipse quantum potero, et sparsa
anime fragmenta recolligam«. 108 Doch im gleichen Atemzug bricht er auch schon
sein Versprechen: »Sane nunc, dum loquimur, multa me magnaque, quamvis adhuc
mortalia, negotia expectant.« 109 Noch während er mit >Augustinus< diskutiert und
ihm gelobt, bei sich zu bleiben, verläßt sich Franciscus, um sich äußerlichen Gegen-
ständen zuzuwenden. Dieses widersprüchliche Gebaren ist Ausdruck einer höchst
zerstreuten Geisteshaltung, einer außerordentlichen Blindheit sich selbst gegenüber,

105
Secretum III. 18.7.
106
Ebd. III. 18.4.
107
Ebd. III. 18.5.
108
Ebd.
109
Ebd. III.18.6.
Petrarcas Secretum 681

an der auch die Tatsache nichts ändern kann, daß >Augustinus< ja immer noch da ist,
Franciscus also eigentlich ganz bei sich sein müßte. Obwohl >Augustinus< ihn nicht
verlassen hat, ist Franciscus nicht mehr bei sich selbst. Die Anwesenheit des Mentors
ist folglich nicht gleichbedeutend mit der Selbstgegenwart seines Schützlings. Auch
das Gespräch mit >Augustinus< kann die innere Sammlung des Sünders nicht ge-
währleisten. Es dient letztlich ebenso der Zerstreuung und der Ablenkung wie seine
übrigen literarischen Projekte. >Augustinus< unternimmt zwar noch einmal einen
letzten, eher halbherzigen Versuch, Franciscus aus dieser Zerstreuung zurückzuholen:
Er erklärt, daß es keine wichtigeren Angelegenheiten geben könne als die, die in
ihrem Gespräch zur Sprache gekommen seien. Doch sein Schützling reagiert darauf
nicht anders als zuvor. Er stimmt >Augustinus< zu (»fateor«), um gleich im nächsten
Satz die Absicht zu bekunden, seinen ganzen Fleiß nun den anderen, weltlichen An-
gelegenheiten widmen zu wollen (»aliam ob causam properam tarn studiosus ad reli-
quia«). 110 Seine Zustimmung ist geschwächt und gespalten. Franciscus ist weiterhin
in einem Willenskonflikt befangen. Er möchte der Aufforderung >Augustins< gerne
Folge leisten, aber er kann nicht. Er ist unfähig, sein Verlangen nach literarischer
Betätigung zu zügeln: »Sed desiderium frenare non valeo.«11'
Mit dieser Äußerung kehrt Franciscus wieder an den Ausgangspunkt des Dialogs
zurück. >Augustinus< war ja am ersten Gesprächstag angetreten, seinem Dialogpart-
ner zu beweisen, daß er immer dann, wenn er >ich kann nicht< sagt, eigentlich >ich
will nicht< sagen müßte. Doch Franciscus bleibt auch am Ende des Gesprächs bei
seinem >ich kann nicht<. Er hat offenbar keinen spirituellen Fortschritt erzielt. Am
Schluß ist er noch immer der gleiche, innerlich zerrissene Sünder wie am Anfang.
Der Text vollzieht somit eine einzige, große Kreisbewegung. >Augustinus< ist sich des-
sen bewußt. »In antiquam litem relabimur, voluntatem impotentiam vocas«, so stellt
er resigniert fest.112 Einmal mehr erweist er sich mithin als ein großzügiger Inquisitor.
Anstatt seine Folterwerkzeuge hervorzuholen, begnügt er sich mit dieser lapidaren
Feststellung. Er bemüht sich nicht mehr darum, seinen Schützling wach zu rütteln
und ihm seine Widerspenstigkeit auszutreiben. Vielmehr läßt er den Dingen ihren
Lauf: »Sed sic eat, quando aliter esse non potest,« mit dieser kryptischen Bemerkung
verabschiedet er sich von Franciscus.113
Wie ist sie zu verstehen? Schließt sich >Augustinus< etwa am Ende doch noch der
Meinung seines Schützlings an — gesteht er ihm zu, daß er anders will, aber nicht
anders kann? Oder handelt es sich um ein ironisches Zitat, welches das >ich kann
nicht< des Sünders als bloße Ausflucht entlarven soll? Die Bemerkung läßt beide
Deutungen zu - der Text bleibt am Ende offen. Er kann oder will sich nicht ent-
scheiden und ist in dieser Hinsicht genauso gespalten wie Franciscus oder Petrarca.

1.0 Ebd.
1.1 Ebd. III.18.7.
112 Ebd. III.18.8.
113 Ebd. (Hervorh. von mir, Ch. M.). (»Doch laß es laufen, wenn es nicht anders sein kann.«).
682 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Der Text bewegt sich von Anfang bis Ende in der Sphäre der Vorläufigkeit und der
Unentschiedenheit. Er schiebt jede definitive Festlegung auf.
Was bedeutet das aber für das Vorhaben Petrarcas, sich auf dem Wege der
meditatio selbst aus der sündhaften Betäubung herauszureißen? Das Secretum mar-
kiert den Versuch des Humanisten, die Confessiones einer meditativen Lektüre zu
unterziehen. Petrarca erweckt den Verfasser der Bekenntnisse als Gesprächspartner
zu neuem Leben, um sich dann seinerseits durch ihn aus seiner Betäubung wecken
zu lassen. Auf diese Weise versucht er, sich das in den Confessiones dargebotene
Exempel der Willensbestimmung und der inneren Sammlung zu applizieren. Der
Text soll in experientia überführt werden. Petrarca will sich mit seinem Vorbild Au-
gustinus identifizieren. Doch die meditatio scheitert. Es gelingt Petrarca nicht, sich
zu sammeln und >Augustinus< zum Bleiben zu bewegen, ihn in einen festen inneren
Besitz zu überführen. Er kann seinen Mentor nur äußerlich festhalten - dadurch,
daß er das Gespräch niederschreibt. Anstatt den Lehrer — nach stoischem Muster
- als Gewissensinstanz zu internalisieren, bannt er ihn in einen literarischen Text.
Die verlebendigende Lektüre, die dem literarischen Monument das Gesicht und die
Stimme des Autors verleiht, um seine appellative Kraft freizusetzen, hat schließlich
doch nur die Produktion eines neuen literarischen Monuments zur Folge.
>Augustinus< wird Petrarca somit, entgegen dem am Ende des Dialogs vorgetrage-
nen Wunsch, nicht permanent begleiten und überwachen können, sondern er wird
als literarische Figur in diesem Text eingeschlossen bleiben und immer nur so lange
ins Leben treten, wie ihn jemand liest. Petrarca weist dem Secretum innerhalb seines
CEuvres insofern eine Sonderstellung zu, als der Text nur für einen ganz bestimmten
Leser, nämlich für ihn selbst, konzipiert ist: »Non quem [sc. hunc librum] annu-
merari aliis operibus meis velim, aut unde gloriam petam [...] sed ut dulcedinem,
quam semel ex collocutione percepi, quotiens libuerit ex lectione percipiam.«114 Die
Niederschrift soll es Petrarca ermöglichen, die süße Freude, die er während des Ge-
sprächs mit »Augustinus« empfand, auf dem Wege der Lektüre immer wieder neu zu
erleben - aber eben nur für die Dauer der Lektüre. Nur solange er liest oder schreibt,
fühlt er sich dem Verfasser der Confessiones nahe. Lebendige Präsenz gewinnt Au-
gustinus allein in der Sphäre der Schrift und der Literatur. Der spirituelle Ertrag
des Dialogs läßt sich nicht aus dieser Sphäre ins praktische Leben transferieren.
>Augustinus< verschwindet spurlos aus Petrarcas Seele, sobald er das Buch oder den
Schreibstift aus der Hand legt. Die Gedanken und Gefühle, die durch die Lektüre
hervorgerufen werden, haben keinen festen Bestand: »libro [...] e manibus elapso
assensio simul omnis intercidit.«115

114 Ebd. Prohemium 3.5· (»Ich möchte nicht, daß dieses Buch meinen anderen Werken zuge-
rechnet wird, auch will ich damit keinen literarischen Ruhm erwerben [...]; sondern es geht
mir darum, daß ich, wann immer ich das Buch lese, die süße Lust aufs neue empfinden kann,
die ich während des Gesprächs empfunden habe.«).
115 Ebd. II.15.9.
Petrarcas Secretum 683

Der Begriff assensio, den Petrarca hier verwendet, verweist auf die stoische Kon-
zeption der inneren Zustimmung. Laut Seneca macht sich der Leser das Gelesene
dadurch ganz zu eigen, daß er den im Text enthaltenen Wahrheiten nach vorheriger
kritischer Prüfung aus voller Seele zustimmt. Petrarca jedoch beklagt sich darüber,
daß diese Zustimmung bei ihm keinen geistigen Besitzstand und keine stabile See-
lenhaltung zu begründen vermag. So sehr er dem, was er liest, auch zustimmt, es
ruft in seiner Seele keine nachhaltige Veränderung hervor. Die Lektüre vermittelt
dem Leser eine intensive Erfahrung, doch handelt es sich dabei um eine reine Lek-
türeerfahrung, die sich nicht in Lebenserfahrung umsetzen läßt. Beim Lesen führt
Petrarca ein Gespräch mit dem Autor - der Autor wird für ihn lebendig. Aber diese
lebendige Präsenz verflüchtigt sich in dem Moment, in dem er den Bereich der Li-
teratur wieder verläßt. Zwischen der Literatur und dem praktischen Leben besteht
mithin eine unüberbrückbare Kluft. Nur während er liest oder schreibt, identifiziert
sich Petrarca mit dem Autor, stimmt er seinen Ansichten zu. Nichts davon läßt sich
in seine Lebenspraxis hinüberretten; nichts davon bestimmt seine eigene Identität.
Petrarca macht beim Lesen die Bekanntschaft mit einem möglichen besseren Selbst,
aber er aktualisiert dieses Selbst nur für die Dauer der Lektüre oder des Schreibens.
Ihm ist keine reale, beständige Existenz beschieden. Das Selbst ist ein reiner Schreib-
und Lektüreeffekt; es besteht nur im Text und als Text.
Petrarca figuriert somit als der Entdecker einer spezifisch literarischen Form von
Subjektivität. Das literarische Subjekt, dem er zum Durchbruch verhilft, ist das
Produkt eines bestimmten Lektüre- und eines diesem korrespondierenden autobi-
ographischen Schreibverfahrens, wie es beispielhaft im Secretum zur Anwendung
gelangt. Entgegen der Behauptung Foucaults knüpft Petrarca mit seiner Entdeckung
ästhetischer Subjektivität aber nicht an die antike ars vitae an, sondern an die au-
gustinische Willenshermeneutik und an das dieser zugrundeliegende Konzept der
mütterlich kodierten Schrift.
Es fällt auf, daß Petrarca das Wort dulcedo verwendet, um das Gefühl zu beschrei-
ben, das der Dialog mit >Augustinus< bei ihm auslöst. Während des Gesprächs und
beim Wiederlesen desselben empfindet Petrarca eine süße Lust.116 Es kann nicht

116
Der Begriff dulcedo ist augustinischer Herkunft. Die dulcedo dei bezeichnet den vollkommenen
Genuß Gottes, wie er den rein geistigen Wesen, den Engeln etwa, zuteil wird. Den Men-
schen ist dieser Genuß verwehrt — er »ist den Glaubenden erst verheißen«: »Dulcedo ist ein
Mittel der göttlichen Pädagogik, die die Annehmlichkeiten des Daseins mit Bitterkeiten und
Drangsalen mischt, damit der Mensch die dulcedo der ewigen Wonnen suche.« (Cornelius
Mayer: Dulcedo. In: Augustinus-Lexikon. Bd. 2. Sp. 684-687, hier: Sp. 685.) Das Gespräch
zwischen >Augustinus< und Franciscus war seiner ursprünglichen Intention nach genau die-
sem pädagogischen Kalkül verpflichtet: Es sollte Petrarca durch eine Mischung von Furcht
und Hoffnung aus seiner Betäubung herausreißen und zur Suche nach den ewigen Wonnen
ermutigen. Doch für den Leser des Gesprächs wird die Suche selbst zu einem Gegenstand
der Wonne. Dulcedo empfindet er nicht erst bei Gott, sondern hienieden schon, und zwar in
der Literatur — durch die literarische Gestaltung und Distanzierung des inneren Konflikts,
der ihn eigentlich zur Suche antreiben sollte.
684 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

im Interesse >Augustins< liegen, bei seinem Gesprächspartner ein solches Gefühl


hervorzurufen. Seine Intention besteht vielmehr darin, Franciscus den defizitären
Zustand seiner Seele auf schmerzhafte Weise bewußt zu machen und ihn somit zur
Selbstreform anzustacheln. Freilich sieht er davon ab, seinen Schützling unvermittelt
mit der nackten Wahrheit zu konfrontieren. Um zu verhindern, daß Franciscus in
blinde Scham und lähmende Verzweiflung verfällt, um statt dessen ein heilsames Ge-
misch von Furcht und Hoffnung zu erzeugen, muß >Augustinus< wie ein großzügiger
Inquisitor verfahren und die Wahrheit in einen schützenden Schleier einhüllen. Das
Rezeptionsverhalten Petrarcas zeigt jedoch, daß sich die erstrebte Balance zwischen
Furcht und Hoffnung nicht herstellen und erst recht nicht aufrechterhalten Iäßt.
Von Furcht ist im Zusammenhang mit der Lektüre des Secretum überhaupt keine
Rede mehr, sondern nur noch von der süßen Lust, die der Text dem Leser bereitet.
Petrarca will sich seine Niederschrift wieder und wieder zu Gemüte führen - nicht
jedoch, um die darin enthaltenen Wahrheiten meditativ zu verinnerlichen, und auch
nicht, um sich selbst mit der furchtsamen Besorgnis um das eigene Seelenheil zu
affizieren, sondern einzig und allein zu dem Zweck, sich einen spirituellen Genuß
zu verschaffen. Als Leser seines eigenen Werkes nimmt er eine proto-ästhetische
Haltung gegenüber dem Schauspiel der Selbstenthüllung ein, das im Secretum vor-
geführt wird. Genauer: Er kann diese Haltung nur deswegen einnehmen, weil der
finale Akt der Selbstenthüllung gar nicht stattfindet, sondern immer wieder aufs
neue vertagt wird.
Hierin unterscheidet sich der Verfasser des Secretum von seinem Vorbild, dem
Autor der Confessiones·, hierin bekundet sich aber zugleich eine tiefe Verwandtschaft
zwischen der Vorgehensweise Petrarcas und dem autobiographischen Verfahren
Augustins. Denn auch in den Confessiones vermeidet es die göttliche Vorsehung, den
Sünder direkt mit der Wahrheit zu konfrontieren. Um den Sünder vor schamhafter
Selbstverkennung zu bewahren, offenbart sich ihm die Vorsehung nur sukzessive
und auf indirekte Weise - durch eine mütterlich codierte Zeichensprache, mit Hilfe
von Büchern und narrationes, welche die Enthüllung der Wahrheit in dem Maße
aufschieben, in dem sie sie vermitteln. Dieser Aufschub verfolgt jedoch den Zweck,
die hermeneutischen Fähigkeiten des Sünders auszubilden und seinen Willen zu stär-
ken. In der Konversionsszene müssen sich diese Fähigkeiten bewähren, denn auch
hier spricht die Vorsehung den Sünder nur mittelbar an und veranlaßt ihn somit
dazu, einen Deutungsraub zu begehen, der seinen Willen heilt und ihn in den Besitz
einer zwar weiterhin nur vorläufigen, aber fur die Belange der Praxis hinreichenden
Selbsterkenntnis bringt.
Petrarca dagegen verabsolutiert diese Vorläufigkeit. 117 Bei ihm haben der Auf-
schub und die indirekte Vorgehensweise keine erzieherische oder willensbestimmen-
de Funktion mehr. Die hermeneutische Befähigung des Sünders und der geheilte

117
So auch K. Stierle: Francesco Petrarca. S. 425^428.
Petrarcas Secretum 685

Wille setzen sich vielmehr gegenseitig voraus: »The problem is that to use the text
correctly, one already has to have the rectified will that the text is supposed to edu-
cate«, so beschreibt Victoria Kahn den Zirkel, der in den Confessiones zwar bereits
angelegt ist, der aber erst von Petrarca in aller Deutlichkeit herausgearbeitet und zur
Aporie gesteigert wird." 8 Dieser Zirkel läßt jeden spirituellen Fortschritt unmög-
lich erscheinen. Der Aufschub, der bei Augustinus noch ein pädagogisches Mittel
darstellt, wird bei Petrarca zum Selbstzweck. Er will den mit der Figur der Mutter
assoziierten Schonraum, den der Sünder in den Confessiones auf seinem Weg zu Gott
durchläuft, nicht mehr verlassen. Dieser Schonraum ist der Raum der Schrift. »In
Petrarch«, so kommentiert Brian Stock das im Secretum zum Ausdruck kommende
Verlangen nach Selbstverschriftlichung, »the textual record is autonomous and, like
its author, self-referential, which makes it possible, as it is not for Augustine, for the
individual to become in some sense its own book.«" 9
Petrarca verkehrt somit die der meditatio zugrundeliegende Intention in ihr
Gegenteil. Die meditative Lektüre und das ihr korrespondierende Schreibverfahren
dienen nicht mehr dazu, das Individuum aus seiner betäubten Selbstwahrnehmung
aufzuwecken. Petrarca liest und schreibt vielmehr, um sich zu betäuben. Diese
Strategie der Selbstbetäubung beruht auf einer Radikalisierung der augustinischen
Position. Während Augustinus daran glaubt, daß der Sünder nur mit providentieller
Hilfe aus dem Zustand der Selbsttäuschung und der Willensspaltung befreit werden
kann und daß diese Befreiung auf dem Wege der Lektüre erfolgt, geht Petrarca davon
aus, daß das Individuum rettungslos in seiner Selbsttäuschung gefangen bleibt, daß
die Lektüre mithin nicht nur ungeeignet ist, diese zu durchbrechen, sondern gar
ein privilegiertes Täuschungsinstrument darstellt. Die providentielle Hilfe, die dem
Protagonisten der Confessiones zuteil wird, ermöglicht letztlich seine Konversion,
wohingegen der als himmlischer Helfer entsandte >Augustinus< den Protagonisten
des Secretum im Kreise herumführt, ohne den geringsten Erkenntnisfortschritt zu
erzielen. Die von Petrarca betriebene »Radikalisierung der Augustinischen Anthro-
pologie« hat jedoch nicht bloß einen destruktiven Charakter - Petrarca beschränkt
sich nicht darauf, die »Fundamente mittelalterlicher Wirklichkeits- und Wahrheits-
konstitution« zu untergraben und die totale Unerreichbarkeit der Wahrheit für den
Menschen zu postulieren.120 Die Radikalisierung der negativen Anthropologie besitzt
vielmehr eine positive Kehrseite. Sie befreit das Subjekt von dem Zwang, um jeden
Preis mit sich selbst eins zu sein. Petrarca entdeckt die Literatur als einen eigenstän-
digen Erfahrungsraum - als einen Raum, in welchem er sich selbst als Einheit der
Widersprüche erleben kann. Indem er liest oder schreibt, erkennt er sich selbst als

118
V. Kahn: T h e Figure of the Reader in Petrarch's Secretum. S. 162.
1
" B. Stock: Alter Augustine. T h e Meditative Reader and the Text. Philadelphia 2001. S. 77.
120
Die These vom destruktiven Charakter des petrarkistischen Augustinismus vertritt Andreas
Kablitz in seiner höchst anregenden Studie: Petrarcas Augustinismus und die Ecriture der
Ventoux-Epistel. S. 64, S. 66.
686 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

ein gespaltenes Wesen, ohne unter dieser Spaltung leiden zu müssen. Lesend oder
schreibend hält er den Riß, der durch seine Seele geht, auf Distanz und macht ihn
zum Gegenstand lustvoller Betrachtung. Die Schrift wird für ihn zu einer Sphäre
spekulärer Schau; sie ermöglicht es ihm, dem Schmerz innerer Zerrissenheit eine
narzißtische Lust, eine dulcedo, abzugewinnen. 121 Petrarca etabliert auf der Basis der
augustinischen Anthropologie ein ästhetisches Selbstverhältnis.
Nirgendwo tritt Petrarcas Strategie der Selbstbetäubung so deutlich in Er-
scheinung wie in seiner Epistel über die Besteigung des Mont Ventoux. Der Brief
Famiiiares IV. 1 bezeugt nicht, wie in der Forschung noch immer behauptet wird,
die Entdeckung des neuen ästhetischen Erfahrungsraums der Landschaft. Vielmehr
führt er, wie im folgenden gezeigt werden soll, die Bemühungen des Briefschreibers
vor, die Begegnung mit der äußeren, sinnlichen, wie auch mit der inneren, spiri-
tuellen Wirklichkeit aufzuschieben, um sich im autonomen Erfahrungsraum der
Literatur ansiedeln zu können.

121
D a ß dies in besonderer Weise auch für das Buch des Canzoniere gilt, zeigt John Freccero auf:
T h e Fig Tree and the Laurel. S. 37, S. 39f.
XII. Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux:
Petrarcas Allegorie des Lesens

1. Sehen vs. Lesen

Petrarcas Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux galt lange Zeit als eine der
Gründungsurkunden der Neuzeit. Diese Einschätzung der Epistel ist vor allem auf
die einflußreiche Deutung Jacob Burckhardts zurückzuführen. Burckhardt bezieht
sich mit seiner Charakteristik Petrarcas als eines »der frühsten völlig modernen Men-
schen« auf Famiiiares IV. 1.1 Der Brief offenbare »die Bedeutung der Landschaft für
die erregbare Seele« des Humanisten. 2 Er dokumentiere die Entstehung eines ganz
neuen Verhältnisses zwischen dem Menschen und der Welt, denn Petrarca bekunde
darin seine Absicht, die Natur um ihrer selbst willen aufzusuchen: »er wiederholte
[...] nicht bloß, was die Alten gesagt hatten, sondern der Anblick der Natur traf ihn
unmittelbar.« 3 Der Brief bezeugt demnach die Befreiung des Blicks, die Emanzi-
pation des Betrachters von den Vorgaben der literarischen Tradition wie auch von
theologischer Bevormundung. Erstmals sieht ein Mensch die Natur als Landschaft;
erstmals interessieren ihn ihre Gegenstände nicht als literarische Versatzstücke oder
allegorische Bedeutungsträger, sondern um ihrer selbst willen. Die Natur gewinnt
einen Eigenwert. Sie wird nicht mehr gelesen, sie wird vielmehr gesehen. Das neue
Verhältnis zur Natur impliziert eine neue Beziehung des Menschen zu sich selbst.
Das >moderne< Subjekt entdeckt sich selbst in der Natur; die Natur wird zum
Spiegel seiner »erregbaren Seele«, seines Fühlens und Denkens. Laut Burckhardt
dokumentiert die Ventoux-Epistel somit nicht bloß eine neue Naturerfahrung, sie
stellt zudem eine innovative Form autobiographischen Schreibens dar, insofern sie
nämlich dieses subjektive Erleben unverhüllt zum Ausdruck bringt. Petrarca tritt der
Natur unmittelbar entgegen, sein Brief stellt diese Erfahrung mit der gleichen litera-
len Direktheit dar und markiert somit die Geburtsstunde der modernen säkularen
Selbstdarstellung, die der Schilderung individuellen Erlebens verpflichtet ist.4

1 Jacob Burckhardt: D i e Kultur der Renaissance in Italien. S. 2 0 0 .


2 Ebd.
3 Ebd. S. 2 0 1 .
4 Vgl. ebd. S. 2 2 3 : Burckhardt attestiert den Vertretern der italienischen Renaissance einen
»entwickelten Sinn für das Individuelle« und sieht darin die Voraussetzung für die Entstehung
der neuzeitlichen Autobiographie.
688 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Die enthusiastische Deutung des schweizerischen Kulturhistorikers hat in den


vergangenen Dezennien einiges von ihrer Strahlkraft eingebüßt. Das ist nicht zuletzt
auf die Arbeiten von Pierre Courcelle und Giuseppe Billanovich zurückzuführen,
die den von Burckhardt etablierten Mythos der Natur- und Selbstentdeckung mit
den Mitteln nüchterner Philologie entzaubert haben. Zwar existiert vor allem in
Deutschland eine Deutungstradition, die an Burckhardts These von der petrarkisti-
schen Entdeckung der Landschaft festzuhalten sucht.5 Doch auch die Vertreter dieser
Tradition argumentieren nun sehr viel differenzierter und versuchen der Tatsache
Rechnung zu tragen, daß in der Ventoux-Epistel nicht nur das Landschaftserleben
des Briefschreibers, sondern auch seine Beziehung zur christlichen Glaubenslehre
ein wichtige Rolle spielt. Das neue Naturverständnis, so lautet der Tenor ihrer Ana-
lysen, muß sich gegen starke Widerstände durchsetzen, die letztlich doch wieder die
Überhand gewinnen.
Pierre Courcelle hat die starke Präsenz christlicher, insbesondere augustinischer
Denkfiguren in Famiiiares IV. 1 detailliert herausgearbeitet/' Es kann demnach
keine Rede davon sein, daß Petrarca sich in der Ventoux-Epistel von theologischen
Zwängen befreit. Vielmehr ist die Erfahrung, von der er in seinem Brief berichtet,
auch, ja gerade religiöser und spiritueller Natur. Gleichwohl - diesen Schluß legt die
Untersuchung Giuseppe Billanovichs zur Entstehungszeit der Ventoux-Epistel nahe
- wäre es verfehlt, den Brief als einen authentischen Erfahrungsbericht aufzufassen.7
Petrarca beschließt seine Epistel mit der Behauptung, daß er sie unmittelbar nach
seiner Rückkehr vom Mont Ventoux zu Papier gebracht habe.8 Er datiert den Brief
auf den 13. April 1336. Billanovich führt eine Reihe von Beobachtungen an, die

5
Vgl. etwa Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen
Gesellschaft. In: ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a. M. 1974. S. 141-190;
Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. S. 397-400; Hans Robert Jauß: Ästhetische
Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 3 1983. S. 140-142; Karlheinz
Stierle: Petrarcas Landschaften. Zur Geschichte ästhetischer Landschaftserfahrung. Krefeld
1979; ders.: Petrarca. Fragmente eines Selbstentwurfs. S. 18-25; ders.: Francesco Petrarca.
S. 292—317, hier: S. 343. Vgl. ebd., S. 297, die programmatische Aussage: »Die tiefe Kor-
respondenz zwischen Entdeckung der Landschaft und Entdeckung des Selbst bei Petrarca
steht unter den Prämissen einer neuen Selbstmächtigkeit. Nur weil die Landschaft das Siegel
ihres Wahrgenommenseins gleichsam als Engramm trägt, kann es auch eine Korrespondenz
zwischen Landschaft und Subjekt geben, kann die Landschaft zur angeschauten Emblematik
des Selbst werden.«
6
Siehe P. Courcelle: Petrarque entre Saint Augustin et les Augustins du XIV6 siecle; vgl. auch
ders.: Les Confessions de Saint Augustin dans la tradition litteraire. S. 329—351, vor allem
S. 340ff.
7
Vgl. G. Billanovich: Petrarca e il Ventoso. In: Italia medioevale e umanistica 9 (1966).
S. 389-401 (dt.: Petrarca und der Ventoux. Aus dem Italienischen übersetzt von Elisabeth
Piras-Rüegg. In: Petrarca. Hg. von August Buck. Darmstadt 1976 [Wege der Forschung.
Bd. 353.]. S. 444-463).
8
Famiiiares IV. 1.35. - Die deutsche Ubersetzung der Zitate aus diesem Brief entnehme ich
Francesco Petrarca: Die Besteigung des Mont Ventoux. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und
hg. von Kurt Steinmann. Stuttgart 1995.
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 689

diese Angaben unglaubwürdig erscheinen lassen. Da ist zum einen der Hinweis des
Briefschreibers darauf, daß er bei seinem Aufstieg auf bequemen Seitenwegen getrö-
delt habe, während sein Begleiter, sein Bruder Gherardo, den steileren, aber direkten
Weg zum Gipfel gegangen sei. Der Briefschreiber selbst deutet diese Beschreibung
als Allegorie der unterschiedlichen Lebenswege, die er und sein Bruder eingeschla-
gen hätten. 9 Ein solcher Unterschied, so argumentiert Billanovich, bestand aber in
Wirklichkeit erst seit dem Jahre 1343, »nach Gherardos blitzartiger Bekehrung und
dessen Eintritt in die Kartause von Montreux«. 10 Da ist zum anderen der Adressat
des Briefes, der Augustinermönch Francesco Dionigi. Der Briefschreiber erweckt
den Eindruck, als weile sein Adressat im fernen Italien." Tatsächlich aber spricht
alles dafür, daß sich Dionigi zum vorgeblichen Zeitpunkt der Bergbesteigung in
Avignon aufhielt und somit gar keine Notwendigkeit bestand, ihm einen Brief zu
schreiben - Petrarca hätte ihn leicht persönlich aufsuchen können. 12 Da ist schließ-
lich die Jahresangabe 1336: Billanovich hält sie für ein rein symbolisches Datum.
Im Jahre 1336 war Petrarca nämlich zweiunddreißig Jahre alt — genauso alt wie
Augustinus zum Zeitpunkt seines Mailänder Konversionserlebnisses, auf das der
Briefschreiber mit seinem Bericht über das auf dem Gipfel vollzogene Buchorakel
Bezug nimmt. 13
Diese und viele andere Merkwürdigkeiten veranlassen Billanovich dazu, für die
Entstehung der Epistel einen sehr viel späteren Zeitpunkt anzunehmen als das Jahr
1336.14 Die Niederschrift des Briefes entspringt folglich nicht einem spontanen Ent-
schluß; sie steht keineswegs unmittelbar im Bann der darin geschilderten Ereignisse.
Es ist vielmehr durchaus denkbar, daß der Bericht über die Besteigung des Mont
Ventoux eine reine Fiktion ist. Zumindest muß man aber davon ausgehen, daß das
Ereignis den Gegenstand einer stark stilisierenden Darstellung bildet, die Petrarca
im Abstand von vielen Jahren und unter erheblichem Aufwand an literarischen und
rhetorischen Kunstmitteln angefertigt hat.
Dieses künstliche Arrangement und der fiktive Charakter des Briefes stehen im
Brennpunkt der neueren Forschung zur Ventoux-Epistel. Der Verdacht, daß der
Bericht über die Bergbesteigung eine Fiktion darstellt, wird vor allem durch die
Schilderung des Buchorakels genährt. Der Briefschreiber legt dar, daß ein spontaner
Impuls ihn auf dem Gipfel dazu veranlaßt habe, die handliche Ausgabe der Confes-
siones, die er immer mit sich führe, an einer beliebigen Stelle aufzuschlagen. Dabei
sei sein Blick zufällig auf eine Textpassage gefallen, die exakt auf die Situation des

9
Famiiiares IV. 1.12-15.
10
G. Billanovich: Petrarca und der Ventoux. S. 456.
11
Famiiiares IV. 1.18.
12
G. Billanovich: Petrarca und der Ventoux. S. 455f.
13
Ebd. S. 453.
14
Laut Billanovich verfaßte Petrarca die Ventoux-Epistel in der Mitte des Jahres 1353. Vgl. ebd.
S. 459.
690 Von der Hermeneutik des Willem zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Bergsteigers zugeschnitten ist: » D e u m testor ipsumque qui aderat, quod ubi primum
defixi oculos, scriptum erat: >Et eunt homines admirari alta m o n t i u m et ingentes
fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et occeani ambitum et giros siderum, et
relinquunt se ipsos.«<15 Die dem Zufall oder der Vorsehung zu verdankende Uber-
einstimmung zwischen Text und Wirklichkeit erscheint vielen Lesern der Epistel zu
schön, um wahr zu sein. Die Vermutung drängt sich auf, daß der Berichterstatter die
Fakten im Sinne der literarischen Vorlage frisiert, ja, daß er die Geschichte der Berg-
besteigung vielleicht allein um dieser effektvollen Ubereinstimmung willen erfunden
hat. Die solchermaßen geweckten Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Erzählten wer-
den durch den Schwur, den Petrarca dem Bericht über das Orakel voranschickt, nur
noch verstärkt. Es ist vor allem dieser Schwur, der dazu geeignet ist, den Unglauben
des Lesers hervorzurufen. 1 6 Der Schwur lenkt die Aufmerksamkeit des Rezipienten
auf die Wahrheitsproblematik; er fungiert sozusagen als Signal, das den Leser dazu
auffordert, die literale, historische Wahrheit des Berichteten in Frage zu stellen. 17
Der Rezipient wird nachgerade dazu gedrängt, den Text als Fiktion zu lesen. Doch
welcher Art ist die Fiktion, die der Briefschreiber präsentiert? U n d welcher Art ist
die Lektüre, zu der er den Rezipienten bewegen will?
Hierüber herrscht in der neueren Forschung weitgehend Einigkeit. Demnach
handelt es sich bei der Ventoux-Epistel u m eine Allegorie. Petrarca beschreibt nicht
die literale, körperlich vollzogene Besteigung eines Berges. Der körperliche Aufstieg
verweist vielmehr auf einen geistigen Vorgang: auf den ascensus der menschlichen
Seele zu Gott. 18 Dieser spirituelle Aufstieg wird durch das Buchorakel besiegelt, das
d e m Muster des augustinischen Konversionserlebnisses nachempfunden ist. Der
ascensus markiert zugleich eine Bekehrung, eine U m w e n d u n g des Blicks von außen

15 Familiares IV. 1.27 (mit Bezug auf Confessiones X.8.15). (»Gott rufe ich zum Zeugen an und
ihn eben, der dabei war, daß an der Stelle, auf die ich zuerst die Augen heftete, geschrieben
stand: >Und es gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die gewal-
tigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und
die Kreisbahnen der Gestirne - und verlassen dabei sich selbst.««).
16 Vgl. P. Courcelle: Les Confessions de Saint Augustin dans la tradition littiraire. S. 342: »Sur-
tout, un detail du recit de Petrarque peut provoquer un certain malaise, cette adjuration: >Deum
testor ipsumque qui aderat, quod ubi primum defixi oculos, scriptum erat...« Car de telles
adjurations et attestations sont procedes courants chez les aretalogues. L'on est done en droit
de se demander si Petrarque rapporte des faits en historien, avec une veracite parfaite.«
17 Vgl. Robert M. Durling: The Ascent of Mont Ventoux and the Crisis of Allegory. In: Italian
Quarterly 18 (1974). S. 7-28, hier: S. I6f.: »The oath calls attention to the possibility that this
is fiction [...]. The question of the seriousness of the letter is put there by Petrarch himself; he is
raising these questions that haunt his interpreters — the seriousness lies precisely in the necessity
of questioning the event.« - Vgl. auch Michael O'Connell: Authority and the Truth of Experi-
ence in Petrarch's »Ascent of Mont Ventoux«. In: Philological Quarterly 62 (1983). S. 507-520,
hier: S. 508: »It is his oath to the truth of what is surely a fiction that troubles one most. [...]
We are left therefore to query the nature of the >truth< that Petrarch swears to here.«
18 Vgl. Bartolo Martineiii: Petrarca e il Ventoso. Bergamo 1977. S. 152. - Martineiii führt die
Analogie zwischen Bergbesteigung und spirituellem Aufstieg auf biblische und patristische
Muster zurück. Vgl. ebd. S. 173-180.
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 691

nach innen, eine Transformation der sinnlichen cupiditas videndi in geistige cognitio
sui,19 Steht der Bergsteiger am Ausgangspunkt seiner Tour noch unter der Herrschaft
von Neugier und äußerlicher Schaulust, 20 so werden ihm auf dem Gipfel seine
inneren, spirituellen Augen geöffnet: »in me ipsum interiores oculos reflexi«.21 Die
Geschichte, die Petrarcas Ventoux-Epistel in allegorischer Form erzählt, ist, wie Jill
Robbins erläutert, »the story of a desire to see followed by a renunciation of seeing,
or, in Pauline terms, the story of the passage from spiritual blindness to a spiritual
sight that >sees< that it was blind.« 22 Das spirituelle Sehen, das der Bergsteiger auf
dem Gipfel betreibt, vermag die materielle Wirklichkeit zu durchschauen; es entlarvt
sie als bloßen Schein, der auf geistige Realitäten hin überstiegen werden muß. Unter
dem geistigen Blick des Wanderers verwandeln sich die Gegenstände der äußeren
Natur in Zeichen, die auf Spirituelles verweisen. Der Mont Ventoux etwa wird zu
einem mons Dei, den der Mensch zu seinem Heil ersteigt.23
Das geistige Sehen, dessen sich der Bergsteiger im Anschluß an die Durchführung
des Buchorakels befleißigt, ist also in Wirklichkeit ein Lesen. Die Welt, die zuvor ein
Objekt der sinnlichen Schaulust war, wird allegorisch lesbar. Zwar steht auch die
Schaulust in einer Beziehung zur Lektüre: Der Briefschreiber erklärt, daß eine Passage
bei Livius - sein Bericht über die Besteigung des Hämus durch den makedonischen
König Philipp V. - ihm den Anstoß dazu gegeben habe, den Mont Ventoux zu erklim-
men.24 Die Interpreten sind sich jedoch darin einig, daß diese spezifische Lektüre der
Ermächtigung des äußeren Gesichtssinns dient. Livius ist Historiker; sein Text besitzt
für den Bergsteiger nur eine Bedeutungsdimension, nämlich diejenige des sensus litte-
ralis. Der Text verweist auf die materielle Wirklichkeit; er lenkt den Blick des Lesers
nach außen.25 Die Lektüre stellt sich in diesem Fall in den Dienst des Sehens. Der
allegorische Aufstieg, den die Ventoux-Epistel beschreibt, fuhrt somit vom Sehen zum
Lesen, von der falschen (literalen) zur richtigen (allegorischen) Form der Lektüre.
Oder sollte zumindest dahin führen. Denn in der neueren Forschung herrscht
zwar Einigkeit darüber, daß die Ventoux-Epistel als Allegorie angelegt ist. Einige In-
terpreten vertreten aber die Auffassung, daß die allegorische Anlage nicht ausgeführt
wird, daß dem Briefschreiber der Durchbruch zur Spiritualität mithin letztlich nicht

" Ebd. S. 157.


20 Famiiiares IV. 1.1: »Altissimum regionis huius montem, [...] sola videndi insignem loci alti-
tudinem cupiditate ductus, ascendi.«
21 Ebd. IV. 1.29.
22 J. Robbins: Prodigal Son / Elder Brother. S. 52.
23 Vgl. Jens Pfeiffer: Petrarca und der Mont Ventoux (zu Famiiiares IV. 1). In: GRM 47 (1997).
S. 1-24, hier: S. 17.
24 Famiiiares IV. 1.2 (mit Bezug auf Titus Livius: Ab urbe condita XL.21f.).
25 Vgl. J: Robbins: Prodigal Son / Elder Brother. S. 5If.: »Reading Livy directs Petrarch to what
is outside, visible, available to the senses, and is thus the negative counterpart of the reading
of Augustine at the summit and the inner-directedness it inspires.« - Ahnlich äußert sich
Th. Greene: The Light in Troy. S. I l l : »[I]t is the >imitation< of Livy's king that provokes an
outward orientation, a disposition toward firm reference, and it is the imitation as well as the
reproof of Augustine that pull away from secure reference.«
692 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

gelingt. Ihrer Ansicht nach findet auf dem Gipfel keine definitive convenio statt: Das
Sehen werde durch das Lesen nicht endgültig verdrängt, vielmehr inszeniere der Brief
einen unauflöslichen Konflikt zwischen diesen beiden Modi des Weltzugangs, was
als Indiz für eine Schwächung der Allegorie anzusehen sei, eine »crisis of allegory«.26
Nicht ein neuer Typus der Naturwahrnehmung, sondern diese Entleerung der für
das Mittelalter zentralen allegorischen Darstellungsform mache den spezifisch >mo-
dernen< Charakter der Ventoux-Epistel aus.27
Zusammenfassend kann man also feststellen, daß die jüngere Forschung zu
Famiiiares IV. 1 den Deutungsansatz Burckhardts umkehrt. Burckhardt sieht in der
Epistel das Dokument eines neuen, unmittelbaren Weltzugangs - eines Sehens, das
an die Stelle der mittelalterlichen Bemühungen tritt, die Natur zu lesen. Die jüngere
Forschung interpretiert den Text hingegen als Allegorie, die den spirituellen Weg des
Individuums vom Sehen zum Lesen, von der sündhaften äußerlichen Schaulust zur
heilsamen inneren Selbstbetrachtung, von der >falschen<, am Literalsinn orientierten
humanistischen zur >richtigen<, christlich-allegorischen Lektüretechnik nachzu-
zeichnen sucht. Zwar streiten sich die Interpreten darüber, ob der Briefschreiber das
Gelingen oder Scheitern eines solchen Aufstiegs vorfuhrt, ob sich die Allegorie als
Lektüreverfahren und Darstellungsform mithin noch einmal zu behaupten vermag.28
Konsens besteht aber hinsichtlich der Annahme, daß die Opposition zwischen Sehen
und Lesen, Welt und Selbst, literaler und spiritueller Lektüre, die Struktur des Textes
bestimmt. Die meisten Interpreten gehen daher davon aus, daß die Ventoux-Epistel
aus zwei deutlich voneinander geschiedenen Teilen besteht: aus einem ersten Teil,
in dem der Protagonist der Erzählung durch die Lektüre eines heidnisch-antiken
Textes zur Schaulust verführt wird und sich der Außenwelt zuwendet, und aus einem
zweiten Teil, in dem er sich aufgrund seiner Augustinus-Lektüre darum bemüht, der
Schaulust zu entsagen und einen Akt der inneren Einkehr zu vollziehen.29
Diese Annahme soll im folgenden einer kritischen Uberprüfung unterzogen
werden. Die Opposition zwischen Sehen und Lesen, so viel läßt sich hier bereits

26
R. M. Durling: The Ascent of Mont Ventoux and the Crisis of Allegory. S. 22f.
27
A. Kablitz: Petrarcas Augustinismus und die Ecriture der Ventoux-Epistel. S. 62, S. 64.
28
Für das Gelingen des spirituellen Aufstiegs sprechen sich Courcelle, Billanovich, Martineiii
und Pfeiffer, mit gewissen Einschränkungen auch O'Connell aus. Die Entleerung der alle-
gorischen Form konstatieren dagegen Durling, Robbins, Stierle und Kablitz, mit gewissen
Einschränkungen auch Greene.
29
Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet die Studie von Andreas Kablitz. Kablitz zufolge ist
der Bergsteiger als Leser der Confessiones genauso in Täuschung und Irrtum befangen wie als
Leser des Livius. Von einem spirituellen Aufstieg oder gar einer Bekehrung kann demnach
keine Rede sein. Im Gegenteil, der Aufstieg ist in Wirklichkeit ein Abstieg, ein sündhaftes und
hochmütiges Unterfangen. Der Berg versinnbildlicht die superbia des gefallenen Menschen.
Laut Kablitz zeigt Petrarcas allegorischer Bericht die absolute Unfähigkeit des Sünders auf, sich
aus der Verstrickung in hochmütige Selbsttäuschung zu befreien. Die negative Anthropologie
Augustins werde insofern noch überboten, als Petrarca das Vertrauen in die Gewährung gött-
licher Gnade verloren habe, die allein die Wahrheits- und Selbsterkenntnis ermöglichen kann.
Vgl. A. Kablitz: Petrarcas Augustinismus und die Ecriture der Ventoux-Epistel. S. 37, S. 66.
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 693

sagen, spielt in der Ventoux-Epistel eine andere Rolle als die, die ihr in der neueren
Forschung zugeschrieben wird. Nach der herrschenden Meinung markiert das auf
dem Gipfel durchgeführte Buchorakel den Umschwung vom Sehen zum Lesen.
Tatsächlich findet ein derartiger Umschwung aber gar nicht statt, da der Bergsteiger
sich auch im ersten Teil des Briefes immer nur als Leser betätigt. Die der Livius-Lek-
türe zugeschriebene Funktion, dem Leser den Zugang zur Außenwelt zu eröffnen,
steht folglich in Frage. Der Leser wird vielmehr von dem widersprüchlichen Wunsch
angetrieben, in der Traumwelt der Literatur zu verbleiben und das Gelesene zugleich
auch äußerlich zu >sehen<. Ahnliches gilt für die Augustinus-Lektüre, die nicht den
Imperativen der Allegorese gehorcht, sondern dem Modell der augustinischen Wil-
lenshermeneutik verpflichtet ist. Das Verfahren, das der Bergsteiger als Leser der
Confessiones zur Anwendung bringt, unterscheidet sich in seinen Grundzügen nicht
von dem, dessen er sich bei der Livius-Lektüre bedient. Er unternimmt und obstru-
iert zugleich den Versuch, die Textpassage aus den Confessiones in einen persönlichen
Appell, in eine Art Weckruf zu verwandeln, die ihn aus seiner Traumwelt herausreißt.
In beiden Lektüre-Szenarien geht es folglich um das Problem der Umwandlung von
Text in Erfahrung, von Literatur in Lebenspraxis. Der Bericht über die Besteigung
des Mont Ventoux ist in der Tat eine Allegorie, allerdings keine traditionell christli-
che, sondern eine >moderne< Allegorie des Lesens.30 Sie macht die Aporien sichtbar,
in die sich der Leser bei seinem Versuch verstrickt, die Autoritäten der Tradition
wiederzubeleben und mit seiner eigenen Erfahrungswelt zu vermitteln.

2. Der Berg als Metapher des Selbst

Der Bergsteiger als Philologe


Der Briefverfasser eröffnet seinen Bericht mit der Feststellung, daß er den Mont
Ventoux allein aus dem Verlangen heraus bestiegen habe, die außergewöhnliche
Höhe des Orts zu sehen (»sola videndi insignem loci altitudinem cupiditate«). 3 '
Dieses Verlangen, so erklärt er, ist nicht spontan in ihm entstanden. Der Wunsch,
den Berg zu besteigen, verfolgt den Briefschreiber vielmehr schon seit vielen Jahren.
Er reicht bis in seine Kindheit zurück: »Multis iter hoc annis in animo fuerat; ab
infantia enim his in locis, ut nosti, fato res hominum versante, versatus sum; mons
autem hie late undique conspectus, fere semper in oculis est.«32

30 Z u m Konzept der Allegorie des Lesens vgl. Paul de Man: Allegories o f Reading. Figural
Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust. New Haven 1 9 7 9 . S. 2 0 5 , S. 2 4 5 .
31 Famiiiares IV. 1 . 1 .
32 Ebd. (»Viele Jahre lang hatte mir diese Besteigung im Sinn gelegen; seit meiner Kindheit
habe ich mich nämlich, wie D u weißt, in dieser Gegend aufgehalten, wie eben das Schicksal
mit dem Leben der Menschen sein wechselvolles Spiel treibt. Dieser Berg aber, der von allen
Seiten weithin sichtbar ist, steht mir fast i m m e r vor Augen.«).
694 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Diese wenigen Worte bieten in höchst konzentrierter Form eine Analyse des
Begehrens, das Petrarca zur Besteigung des Mont Ventoux motiviert hat. Paradoxer-
weise fuhrt er seine cupiditas videndi auf die außerordentliche Sichtbarkeit des Berges
zurück. Der Mont Ventoux überragt alle übrigen Berge der Gegend. Von welcher
Seite aus man sich ihm auch zuwendet, er drängt sich beherrschend ins Blickfeld.
Den Bewohnern der Region steht er somit immer vor Augen. Er ist eine dominie-
rende und zugleich vertraute Erscheinung. Vertraut ist er auch dem Briefschreiber
Petrarca, der - sieht man von einem dreijährigen Studienaufenthalt in Bologna ab
- seit seiner Kindheit, genauer: seit dem Jahre 1313, in dieser Gegend weilt und
somit im Angesicht des Berges aufgewachsen ist.
Die Vertrautheit des Berges und seine ständige Sichtbarkeit können das Begeh-
ren, ihn zu besteigen, aber nicht hinreichend erklären. Im Gegenteil: Warum sollte
man betrachten wollen, was man ohnehin immer sehen kann? Warum sollte man
kennenzulernen wünschen, was einem bereits vertraut ist? Die Visibilität des Mont
Ventoux muß folglich eine besondere Qualität besitzen, welche die Schaulust des
Briefschreibers nicht etwa befriedigt, sondern allererst wach ruft. Tatsächlich gibt
sich der Berg dem Briefverfasser nicht einfach zu sehen. Vielmehr verbirgt er sich
in dem Maße, indem er sich zeigt. Einerseits drängt sich der Mont Ventoux den
Bewohnern der Gegend auf, indem er seinen alles überragenden Gipfel präsentiert.
Andererseits entzieht sich dieser Gipfel der Betrachtung: Er befindet sich in einer
unzugänglichen Höhe; steile Felsmassen verwehren den Neugierigen den Zutritt, 33
so daß er sich immer nur von Ferne erspähen läßt. Bezeichnenderweise richtet sich
die cupiditas videndi des Briefschreibers zunächst allein auf diesen Ort. Es geht ihm
erst einmal gar nicht darum, den Gipfel als Aussichtspunkt zu nutzen, um von dort
aus die Landschaft zu betrachten, sondern er will den Gipfel selbst - »insignem loci
altitudinem« - sehen. Er will sehen, was der Berg ihm zeigt, aber im Zeigen zugleich
auch vorenthält.
Die Ursache für das Begehren, das den Briefschreiber seit seiner Kindheit ergrif-
fen hat, ist also die den Mont Ventoux kennzeichnende Ambivalenz. Der Berg wirkt
auf den Betrachter zugleich vertraut und fremd, er ist nah und doch fern, allgegen-
wärtig und doch nie ganz da. Er hat das Ansehen eines Rätsels, das es zu lösen gilt.
Der Mont Ventoux präsentiert sich dem Betrachter als ein Zeichen, das nach Entzif-
ferung verlangt. Petrarcas Wunsch zu sehen ist zugleich auch ein Wunsch zu lesen.
Das Ansehen eines Zeichens besitzt der Berg jedoch nicht fiir jedermann, sondern
allein für den Briefschreiber. Der Berg übt auf Petrarca eine besondere Anziehungs-
kraft aus. W i e der Mont Ventoux unter den Bergen der Umgebung hervorsticht,
so hebt sich Petrarca von den übrigen Bewohnern der Gegend ab - eben aufgrund
seines Verlangens, den Berg zu besteigen, eines Verlangens, das der Briefschreiber
als ungewöhnlich charakterisiert. Auf die gewöhnlichen Anwohner macht der Mont

33
Vgl. Ebd. IV. 1.6: »est enim prerupta et pene inaccessibilis saxose telluris moles«.
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 695

Ventoux keinen besonderen Eindruck. Ihre Gleichgültigkeit rührt daher, daß der Berg
ihnen allzu sehr vertraut ist, daß sie ihm zu nahe stehen, um seine Sonderstellung
wahrnehmen zu können. Der Briefschreiber fuhrt fur diese durch Gewohnheit und
Intimität hervorgerufene Verzerrung der Wahrnehmung einen aufschlußreichen Beleg
an. Die Waldbewohner (»silvestres«) - diejenigen also, die in unmittelbarer Nähe
zum Berg leben - nennen ihn »Söhnlein« (»Filiolum«), obwohl doch aufgrund seiner
überragenden Größe die Bezeichnung »pater« weitaus angemessener wäre: Petrarca
jedenfalls erklärt sich dazu bereit, ihn als »pater omnium vicinorum montium« an-
zuerkennen. 34 Der Nahblick der gewöhnlichen Anwohner hindert diese somit daran,
die wahre Größe des Berges zu erfassen. Sie vermögen ihn nicht richtig einzuschät-
zen, weil sie ihn immer vor Augen haben. Der Terminus silvestres impliziert zudem,
daß diese Unfähigkeit etwas mit der mangelnden Bildung der Anwohner zu tun hat,
die als Bauern und Hirten unmittelbar von der Natur leben und sie deshalb nicht als
Natur wahrnehmen können. Die Waldbewohner sind illitterati·, sie sind, anders als
der Briefschreiber, den Umgang mit Zeichen und Buchstaben nicht gewohnt. Sie
sind unfähig, den Berg zu sehen, weil sie nicht lesen können.
Um der wahren Größe des Mont Ventoux gerecht werden und seinen Zeichen-
charakter erkennen zu können, bedarf es folglich eines gewissen Abstands. Nur aus
der Distanz hebt der Berg sich aus seinem Umfeld heraus. Obwohl auch Petrarca zu
den Anwohnern gehört, ist er dazu in der Lage, einen solchen Abstand einzuneh-
men. Denn er ist, wie er gleich am Eingang des Briefes deutlich macht, ein Exilant:
Er wohnt zwar in Sichtweite des Mont Ventoux, aber er ist dort nicht wirklich zu
Hause. Vielmehr hat es ihn durch eine launische Wendung des Schicksals (»fato
res hominum versante«) dorthin verschlagen. Petrarca ist ein Vertriebener; seine
eigentliche Heimat ist Italien. Wenngleich er schon seit Jahren in Südfrankreich lebt,
bleibt er dort doch immer ein Fremder. Während die silvestres also vollkommen im
Hier und Jetzt aufgehen, hat der Briefschreiber ein gebrochenes Verhältnis zu seiner
Wohnstätte: Er ist dort nie ganz angekommen; er hat sich nie ganz eingefügt.
Doch gerade diese Distanz öffnet ihm die Augen für das Außergewöhnliche des
Mont Ventoux. Sie bringt ihn paradoxerweise zugleich auch in eine intime Nähe
zum Berg. Er kann sich mit ihm identifizieren, weil er Abstand hält. Der Briefschrei-
ber insinuiert, daß er eine persönliche Beziehung zum Berg etabliert hat - er fühlt
sich ihm verbunden. Ähnlichkeiten und Ubereinstimmungen werden angedeutet:
Beide, der Berg und der Briefverfasser, sind Außenseiter; beide fallen auf, fallen aus
ihrem jeweiligen Umfeld heraus; beide sind aufgrund ihrer exponierten Situation
in besonderer Weise den Stürmen ausgesetzt — der eine den heftigen Winden, die
ihm, wie der Briefschreiber vermerkt, den treffenden Namen »Ventosus« eingebracht
haben; 35 der andere den Stürmen des Schicksals, die ihn in der Welt umhertreiben

34 Ebd. IV. 1.16.


35 Ebd. IV. 1.1.
696 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

und nirgends zur Ruhe kommen lassen. Petrarca erkennt in dem Berg mithin einen
Spiegel seines Exilantendaseins. Doch der Mont Ventoux präsentiert ihm zugleich
auch ein anderes Bild, ein Gegenbild: Der den Winden trotzende Berg verkörpert
die unerschütterliche Standfestigkeit, die dem entwurzelten Individuum fehlt. Der
Berg ist ein Zeichen fur das, was Petrarca ist, aber auch für das, was er sein will. Er ist
ein Sinnbild seines defizitären Ist-Zustands und des von ihm angestrebten Soll-Zu-
stands, der stabilen Seelenhaltung des stoischen Lebenskünstlers. Der Briefschreiber
wird daher nicht erst, wie die neuere Forschung behauptet,36 auf dem Gipfel durch
das Buchorakel zur Selbsteinkehr veranlaßt. Die Bergbesteigung steht vielmehr von
Anfang an im Zeichen spekulärer Selbstbetrachtung. Der Aufstieg führt den Brief-
schreiber zum Ausblick auf die Landschaft seiner eigenen Seele.
Am Eingang von Famiiiares IV. 1 unternimmt Petrarca den Versuch, die cupiditas
videndi herzuleiten, die ihn dazu antrieb, den Mont Ventoux zu erklimmen. Er
führt sein Begehren auf die Tatsache zurück, daß er als Exilant in einer distanzier-
ten, gebrochenen Beziehung zu seiner Umgebung steht und daß diese Distanz es
ihm erlaubt, den Berg als distinktes Objekt wahrzunehmen, das Zeichencharakter
besitzt. Der Briefschreiber steigt auf den Mont Ventoux, um das Zeichen des Bergs
zu entziffern. Der cupiditas videndi liegt mithin eine cupiditas legendi zugrunde. Der
Aufstieg, der das Sehen ermöglichen soll, repräsentiert zugleich auch eine Lektüre.
Es ist daher danach zu fragen, welche Form diese Lektüre annimmt und wie die
Beziehung zwischen Schaulust und Leselust konkret beschaffen ist. Will Petrarca
unmittelbar sehen und erfahren, worauf der Berg verweist? Zielt er darauf ab, Les-
barkeit in Sichtbarkeit zu verwandeln und die Sphäre mittelbarer Zeichen auf eine
authentische experientia hin zu überschreiten? Oder dient der Aufstieg umgekehrt
dem Zweck, die sichtbare Natur in lesbare Zeichen zu transformieren? Will er durch
den Aufstieg Abstand zu seiner Umgebung gewinnen, will er das allzu Vertraute
distanzieren, um auf diese Weise seine Signifikanz hervortreten zu lassen? Oder sind
diese beiden Tendenzen gar auf aporetische Weise miteinander verknüpft? Gebiert
die cupiditas legendi, welche die Gegenstände distanziert und in Zeichen verwandelt,
eine cupiditas videndi, die auf die Uberwindung des Abstands aus ist, dadurch aber
die Zeichen ihrer Signifikanz beraubt und unlesbar macht?
Der Fortgang der Erzählung bietet zunächst keine klaren Anhaltspunkte, um
diese Fragen zu beantworten. Im Gegenteil, sie stellen sich alsbald mit noch grö-
ßerer Dringlichkeit. Denn der Briefschreiber berichtet, daß er den entscheidenden
Anstoß, das Vorhaben der Bergbesteigung endlich in die Tat umzusetzen, einem
Lektüreerlebnis verdankt:
Cepit impetus tandem aliquando facere quod quotidie faciebam, precipue postquam relegenti
pridie res romanas apud Livium forte ille michi locus occurrerat, ubi Philippus Macedonum
rex - is qui cum populo Romano bellum gessit - Hemum montem thesalicum conscendit, e

36
Vgl. B. Martineiii: Petrarca e il Ventoso. S. 152.
Der Bericht über die Besteigung des Moni Ventoux 697

cuius vertice duo maria videri, Adriaticum et Euxinum, fame crediderat, vere ne an falso satis
comperti nichil habeo, quod et mons a nostro orbe semotus et scriptorum dissensio dubiam
rem facit. Ne enim cuntos evolvam, Pomponius Mela cosmographus sic esse nichil hesitans
refert; Titus Livius falsam famam opinatur; michi si tarn prompta montis illius experientia
esset quam huius fuit, diu dubium esse non sinerem.57

Petrarca faßt erst dann den Entschluß, die seit langem geplante Bergbesteigung auch
tatsächlich durchzuführen, als er in der antiken Literatur auf ein passendes Vorbild
stößt, dem er nacheifern kann. Der unmittelbare Anlaß für den Aufstieg a u f den
M o n t Ventoux ist ein Lektüreerlebnis. Dieses Faktum läßt zwei konträre Deutungen
zu. Z u m einen ist es möglich, das Lektüreerlebnis auf das humanistische Konzept
der ars vitae zu beziehen. Im Rahmen der ars vitae k o m m t der Lektüre die Aufgabe
zu, den Willen des Lesers zu formen. Eben dies scheint hier der Fall zu sein: D i e
Livius-Lektüre verwandelt den bloßen Wunsch des Briefschreibers, den Gipfel
des M o n t Ventoux zu erklimmen, in einen festen Entschluß. D a s antike Exempel
erlöst Petrarca aus seiner Untätigkeit - es bestimmt seinen Willen; es motiviert
ihn zum Handeln. Folglich hat es den Anschein, als beweise die antike Literatur
an dieser Stelle ihre lebendige Aktualität, ihren Nutzen für das >moderne< Leben.
Sie bahnt dem Individuum den Weg zur Praxis; sie eröffnet ihm den Z u g a n g zur
Außenwelt und stellt sich in den Dienst einer neugierigen Betrachtung dieser Welt,
eines unbefangenen Sehens.38 D a s S t u d i u m des Altertums, das der Briefschreiber
betreibt, erscheint somit gerechtfertigt: Es stellt keine Flucht aus der Wirklichkeit
dar, sondern es vermittelt dem Leser das Rüstzeug, das er braucht, u m sich mit ihr
auseinanderzusetzen.
Dieser optimistischen, dem Konzept der ars vitae verpflichteten D e u t u n g der
Rolle, die das Exempel des Königs Philipp ftir den Bergsteiger spielt, läßt sich frei-
lich eine ganz andere Interpretation gegenüberstellen. Denkbar ist es nämlich auch,
daß die Livius-Lektüre den M o n t Ventoux in eine literarische Landschaft integriert.
Demnach ist es Petrarca erst in dem M o m e n t möglich, den Berg zu betreten, in dem
Literatur und Geschichte das bloße Naturobjekt überlagern. Der H ä m u s , ein hi-
storischer und literarischer Berg, schiebt sich vor den M o n t Ventoux und macht ihn

37 Famiiiares IV. 1.2. (»Es ergriff mich nun das ungestüme Verlangen, endlich einmal auszufuhren,
was ich täglich hatte ausführen wollen, besonders nachdem mir am Vortag, als ich die römi-
sche Geschichte bei Livius nachlas, zufällig jene Stelle begegnet war, wo Philipp, der König
von Makedonien — derselbe, der mit dem römischen Volk Krieg geführt hat — den Haemus,
einen Berg in Thessalien, bestieg. Er hatte nämlich dem Gerücht Glauben geschenkt, man
könne von seinem Gipfel aus zwei Meere sehen, das Adriatische und das Schwarze Meer.
Ob zu Recht oder Unrecht, habe ich nicht genügend in Erfahrung bringen können, weil
die Sache dadurch unsicher wird, daß der Berg von unserer Welt weit entfernt ist und die
Schriftsteller darüber verschiedener Meinung sind. Um deswegen nicht alle nachzuschlagen:
der Kosmograph Pomponius Mela berichtet ohne Bedenken, daß es so sei, Titus Livius hält
das Gerücht für falsch; wäre es für mich so leicht möglich, jenen Berg zu erkunden, wie es
bei diesem hier der Fall war, ich würde die Frage nicht lange unentschieden lassen.«).
38 Vgl. Th. Greene: The Light in Troy. S. 110f.; J. Robbins: Prodigal Son / Elder Brother.
S. 51 f.
698 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

somit lesbar. Der leeren Tafel der Natur werden kulturelle Bedeutungen eingeschrie-
ben: Der Berg, der in seiner schieren, massiven Materialität, in seiner sprachlosen,
auf die Darbietung der Oberfläche reduzierten Sichtbarkeit abweisend wirkt, gewinnt
mit einem Mal eine historische Tiefendimension und öffnet sich dadurch dem gei-
stigen Blick des Humanisten. Die Tatsache, daß der Mont Ventoux als Zeichen eines
individuellen Selbst lesbar ist, genügt offenbar nicht, um Petrarca zum Aufstieg zu
motivieren. Das persönliche Zeichen muß vielmehr an einen überpersönlichen, his-
torischen und kulturellen Bedeutungsraum angeschlossen werden - nur so gewinnt
das Naturobjekt das Ansehen eines Textes, der die Mühe der Entzifferung lohnt. Die
Livius-Lektüre ermöglicht es dem Briefschreiber, den Mont Ventoux zu besteigen,
ohne die Sphäre der Literatur zu verlassen. Die literarische Überformung des wirkli-
chen Berges ist die Voraussetzung dafür, daß Petrarca den Aufstieg in Angriff nehmen
kann, denn sie befreit ihn von der Notwendigkeit, sich unmittelbar mit der Realität
auseinanderzusetzen, sie befreit ihn vom Zwang des bloßen Sehens.
Welche dieser beiden Deutungen trifft auf Petrarca zu? Es sieht zunächst ganz
danach aus, als sei der Briefverfasser das Projekt der Bergbesteigung im Geiste der
humanistischen ars vitae angegangen. Bezeichnenderweise taucht in der soeben
zitierten Briefpassage der Schlüsselbegriff der experientia auf. Offenkundig unter-
nimmt Petrarca den Aufstieg, um neue Erfahrungen zu machen. Die antike Literatur
soll ihm dabei die Orientierung erleichtern, doch darf sie sich der unmittelbaren
Erfahrung des Neuen nicht in den Weg stellen. Für diese Einstellung des Bergsteigers
gibt es einen aufschlußreichen Beleg. Der Briefschreiber vermeidet es nämlich, sich
der Autorität des Exempels, das er bei Livius gefunden hat, blind zu unterwerfen.
Vielmehr unterzieht er das Beispiel einer sorgfältigen Prüfung. Er ahmt sein Vorbild
nach, indem er es kritisiert, und stellt somit seine Selbständigkeit wie auch seine
Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen unter Beweis.
Tatsächlich ist das Beispiel des makedonischen Königs Philipp, der den Hämus
bestieg, um das Terrain für seinen geplanten Feldzug gegen Rom zu sondieren, in
mehrerlei Hinsicht problematisch. Philipp erklomm den Berg, weil er einer fama
Glauben schenkte - dem Gerücht, daß man vom Gipfel des Hämus aus sowohl das
Adriatische als auch das Schwarze Meer, sowohl die Alpen als auch die Donau sehen
könne. Der König folgte also einer fremden, aber zweifelhaften Autorität. Er verließ
sich auf das bloße Hörensagen, auf die »vulgata opinio«, wie Livius - kritischer noch
als Petrarca — formuliert. 39 Anstatt sich bei Leuten zu erkundigen, die den Hämus
aus eigener Erfahrung kannten, vertraute er auf die Berühmtheit des Bergs, auf
seinen großen Namen. Die außergewöhnliche Größe des Hämus war für ihn also
weniger ein physisches als ein sprachliches Phänomen. Für diese Leichtgläubigkeit,

35
Vgl. Titus Livius: Ab urbe condita. Bd. 6: Libri XXXVI-XL. Edited by P. G. Walsh. Oxford
1999. XL.21.2: »Cupido eum ceperat in verticem Haemi montis escendendi, quia volgatae
opinioni crediderat Ponticum simul et Hadriaticum mare et Histrum amnem et Alpes conspici
posse«.
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 699

so berichtet Livius, wurde Philipp bestraft. Denn als der König den Gipfel nach
großen Mühen erreichte, war ihm der Ausblick durch dichten Nebel verwehrt. 40 Um
seinen Mißerfolg zu verbergen, unterließ es Philipp nach seiner Rückkehr, auch nur
irgendetwas zu sagen, was das umlaufende Gerücht hätte in Frage stellen können. 41
Folgt man der Darstellung des Livius, so gibt der makedonische König mithin ein
schlechtes Vorbild ab. Ungeprüft machte er sich die Meinung des Volks zu eigen, und
auch nachdem er diese durch eigene Erfahrung widerlegt hatte, unternahm er nichts,
um das falsche Gerücht aus der Welt zu schaffen. Im Gegenteil, anstatt die Nebel der
fama zu zerstreuen, hat er sie durch sein Schweigen nur noch verdichtet. Wer Philipp
zum Gegenstand einer unreflektierten Nachahmung macht, läuft folglich Gefahr,
sich wie der König in einem sprachlich erzeugten Nebel zu verirren.
Doch Petrarca bemüht sich gerade darum, dieser Gefahr zu entgehen. Eine Stütze
scheint ihm dabei die kritische Sichtweise des Historikers Livius zu bieten, der das
Unterfangen des Königs als töricht zu entlarven sucht. Anders als Philipp hält Livius
die vulgata opinio für falsch. Er ist davon überzeugt, daß es unmöglich ist, vom Gip-
fel des Hämus aus zwei Meere zu sehen. Doch worauf gründet sich diese Gewißheit?
Als einzigen Gewährsmann für seine Ansicht vermag Livius den makedonischen
König anzuführen, der aber, wie der Historiker selbst hervorhebt, gerade kein Au-
genzeuge ist, da er ja aufgrund des Nebels nichts zu sehen und somit das Gerücht
weder zu verifizieren noch zu falsifizieren vermochte. Auch Livius präsentiert kein
sicheres Wissen, sondern eine bloße opinio. Trotz seiner kritischen Haltung trägt
mithin auch er dazu bei, den Nebel der fama zu verdichten. Seine Verblendung ist
wohl darauf zurückzuführen, daß er als römischer Geschichtsschreiber gegenüber
Philipp, dem Feind Roms und dem Bundesgenossen Hannibals, voreingenommen
ist. Petrarca will sich von dieser Voreingenommenheit nicht anstecken lassen. Seine
Entschlossenheit, den Nebel der Uberlieferung zu durchdringen, bekundet sich
darin, daß er sich der Ansicht des Livius nicht vorbehaltlos anschließt, obwohl er
dem römischen Historiker sonst immer große Verehrung entgegenbringt und ihn
als eine der bedeutendsten Autoritäten anerkennt. 42 Zwar zitiert der Briefschreiber
die Meinung dieser Autorität, aber er zitiert auch eine Gegenmeinung, diejenige des
Kosmographen Pomponius Mela nämlich, der in seinem Werk De chorographia ganz
selbstverständlich davon ausgeht, daß man von der Spitze des Hämus aus sowohl die
Adria als auch das Schwarze Meer erblicken könne. 43
Petrarca skizziert somit einen kritischen Quellenvergleich; er appliziert eine
Methode, die, wie er in der Praefatio zu De viris illustribus erklärt, in der Regel dazu

40 Ebd. XL.22.4.
41 Ebd. XL.22.6.
42 Zur Wertschätzung des Livius durch Petrarca vgl. Pierre de Nolhac: Petrarque et r h u m a n i s m e .
Paris 1892. S. 2 2 4 - 2 4 1 .
43 Pomponii Melae de chorographia libri tres. Introduzione, edizione critica e commentario a
c u r a d i Piergiorgio Parroni. R o m a 1984.11.17.
700 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

geeignet ist, die fama von der Veritas zu differenzieren. 44 Doch im vorliegenden Fall
fuhrt auch der Quellenvergleich nicht zum gewünschten Erfolg. Der Briefschreiber
kann sich nicht entscheiden, wer Recht hat, Livius oder Pomponius Mela. Es bleibt
ihm daher nichts anderes übrig, als die ultimative Autorität in Erkenntnisfragen
anzurufen — die experientia. Die Frage, ob der Ruhm, der dem Hämus anhängt,
gerechtfertigt ist, ob die gewaltige Größe des Bergs der menschlichen Einbildungs-
kraft entspringt oder auf Tatsachen beruht, läßt sich letztlich nur durch den per-
sönlichen Augenschein beantworten. Petrarca erklärt sich umstandslos dazu bereit,
im Dienste der historischen Wissenschaft eine Expedition zum Gipfel des Hämus
zu unternehmen. Er will die Nebel, die diesen Berg in Gestalt von zweideutigen
und einander widersprechenden Zeugnissen umlagern, ein fur alle Mal vertreiben.
Allein das lästige Faktum, daß der Hämus in einer von Südfrankreich weit entfernten
Weltgegend liegt, hält den Briefschreiber davon ab, dieses Unternehmen sogleich
auszuführen. Doch der Mont Ventoux bietet sich als Ersatz an. Er scheint ein geeig-
netes Versuchsobjekt zu sein, um die Größe der Berge und die Weite der Aussicht
zu studieren, die sie zu gewähren vermögen. Der Briefschreiber suggeriert jedenfalls,
daß er den Mont Ventoux mit der gleichen Geisteshaltung zu besteigen gedachte,
mit der er den Hämus bestiegen hätte, wenn ihm dies denn möglich gewesen wäre:
als autonomes Vernunftsubjekt, das der Wahrheit der überlieferten Texte durch
kritische Prüfung auf den Grund zu gehen und diese eben dadurch zu neuem Leben
zu erwecken versucht.
Petrarca etabliert also eine Analogie zwischen der Besteigung des Mont Ventoux
und seiner Tätigkeit als humanistischer Historiker und Philologe. Der Aufstieg auf
den Berg ist zugleich als Abstieg in die Tiefen der Vergangenheit konzipiert. Der
Bergsteiger will den Wahrheitsgehalt der alten Zeugnisse erproben; er will heraus-
finden, inwieweit das antike Exempel sich auch in der Gegenwart bewährt. Der
Aufstieg verheißt die Möglichkeit, die Wahrheiten der Alten, von denen er bislang
immer nur gelesen hat, unmittelbar zu sehen. Am Ziel seines Weges soll eine expe-
rientia stehen — eine Erkenntnis, die das Wissen der Antike aktualisiert und direkt
erfahrbar macht. Zu Beginn seiner Erzählung zeichnet der Briefschreiber somit das
heroische Bild eines Individuums, das dazu entschlossen ist, die Nebel der fama zu
durchstoßen und der Wahrheit unmittelbar ins Gesicht zu schauen.
In den einleitenden Sätzen von Famiiiares IV. 1 verleiht der Briefschreiber dem
Mont Ventoux das Ansehen einer komplexen Metapher. Zum einen stellt Petrarca
eine Beziehung zwischen dem Berg und seiner Exilsituation her. Der Berg ist ein
Spiegelbild seiner Heimatlosigkeit und Isolation. Er symbolisiert zugleich das
Begehren, die unterbrochene Verbindung zur Heimat wiederherzustellen: Petrarca
hofft, von seinem Gipfel aus Italien sehen zu können. Zum anderen assoziiert der
Briefschreiber den Mont Ventoux mit dem Altertum. Er konzipiert den Aufstieg als

44
Vgl. E. Keßler: Petrarca und die Geschichte. S. 26.
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 701

eine E x p e d i t i o n in die ferne Vergangenheit. D e r Blick v o m G i p f e l soll ihn also nicht


bloß mit seiner geographischen H e i m a t (Italien), s o n d e r n a u c h mit seinen historisch-
kulturellen Wurzeln, m i t d e m antiken R o m , in K o n t a k t bringen. D u r c h d e n A u f s t i e g
sollen also räumliche wie a u c h zeitliche D i s t a n z e n ü b e r w u n d e n werden.
Ist diesem Vorhaben E r f o l g beschieden? G e l i n g t es d e m Bergsteiger, seine H e i m a t
zu sehen? Tritt das r ä u m l i c h u n d zeitlich E n t f e r n t e u n m i t t e l b a r vor sein A u g e ? E s
hat in der T a t zunächst d e n A n s c h e i n , als k ö n n e der Bergsteiger seinen T r a u m v o n
der U b e r w i n d u n g des A b s t a n d s realisieren. Bei s e i n e m ersten Blick v o m G i p f e l wird
Petrarca d u r c h das, was er sieht, überwältigt. D i e plötzliche N ä h e des E n t f e r n t e n
wirkt a u f ihn wie ein S c h o c k . :

Primum omnium spiritu quodam aeris insolito et spectaculo liberiore permotus, stupenti similis
steti. Respicio: nubes erant sub pedibus; iamque michi minus incredibiles facti sunt Athos et
Olimpus, dum quod de illis audieram et legeram, in minoris fame monte conspicio. Dirigo
dehinc oculorum radios ad partes italicas, quo magis inclinat animus; Alpes ipse rigentes ac
nivose, per quas ferus ille quondam hostis romani nominis transivit, aceto, si fame credimus,
saxa perrumpens, iuxta michi vise sunt, cum tarnen magno distent intervallo. Suspiravi, fateor,
ad italicum aerem animo potius quam oculis apparentem, atque inextimabilis me ardor invasit et
amicum et patriam revidendi, ita tarnen ut interim in utroque nondum virilis affectus mollitiem
increparem, quamvis excusatio utrobique non deforet magnorum testium fulta presidio. 45

D e r erste Blick v o m G i p f e l markiert, wie es scheint, eine t r i u m p h a l e R e c h t f e r t i g u n g


des v o m H u m a n i s t e n f ü r die antike Literatur e r h o b e n e n W a h r h e i t s a n s p r u c h s , aber
a u c h einen T r i u m p h seines Lektüreverfahrens, d a s zwischen Literatur u n d E r f a h -
r u n g zu vermitteln sucht. D e r Bergsteiger sieht m i t seinen eigenen A u g e n , was er
zuvor bei d e n antiken A u t o r e n nur zu lesen v e r m o c h t e . D i e gewaltige G r ö ß e der
Berge, die i h m bislang b l o ß d u r c h die V e r m i t t l u n g der literarischen fama bekannt
war, wird i h m u n m i t t e l b a r anschaulich. D a s , was die Alten über die b e r ü h m t e s t e n
E r h e b u n g e n der A n t i k e geschrieben h a b e n u n d was a u f Petrarca m i t u n t e r wie eine
E r d i c h t u n g oder U b e r t r e i b u n g wirkte, erweist sich als unbestreitbare Tatsache. D a ß
diese Berge a u f g r u n d ihrer außergewöhnlichen H ö h e s o g a r die W o l k e n ü b e r r a g e n ,
ist, wie der Briefschreiber n u n selbst erfährt, keine E r f i n d u n g der Dichter, s o n d e r n

45 Famiiiares IV. 1.17f. (»Zuerst stand ich, durch den ungewohnten Hauch der Luft und die ganz
freie Rundsicht bewegt, einem Betäubten gleich da. Ich schaue zurück nach unten: Wolken
lagen zu meinen Füßen, und schon wurden mir der Athos und der Olymp weniger sagenhaft,
wenn ich schon das, was ich über sie gehört und gelesen, auf einem Berg von geringerem Ruf
zu sehen bekomme. Ich wende dann meine Blicke in Richtung Italien, wohin mein Herz sich
stärker hingezogen fühlt. Die Alpen selber, eisstarrend und schneebedeckt — über die einst jener
wilde Feind des römischen Namens stieg, der, wenn wir der Überlieferung glauben dürfen, mit
Essig sich durch den Felsen einen Weg brach - , sie zeigten sich mir ganz nah, obwohl sie durch
einen großen Zwischenraum getrennt sind. Ich seufzte, ich gestehe es, nach italischer Luft, die
mehr dem Geist als den Augen erschien, und ein unauslöschliches, brennendes Verlangen
erfaßte mich, sowohl den Freund als auch das Vaterland wiederzusehen; so jedoch, daß ich
fürs erste an beiden Anwandlungen ihre noch unmännliche Verzärtelung tadelte, wenngleich
mir für jede von ihnen leicht eine Entschuldigung zur Hand wäre, die sich auf den Beistand
bedeutender Zeugen stützen könnte.« [Ubersetzung modifiziert]).
702 Von der Hermeneutik des Willem zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

ein nachprüfbares physisches Phänomen. Er kann den Athos, den Olymp und den
Hämus, die er bislang immer nur im Dunstkreis ihres großen, literarisch bezeugten
Ruhms wahrzunehmen vermochte, 46 nun endlich klar erkennen. Die Nebel der fama
reißen auf, die dahinter verborgene Wahrheit tritt deutlich sichtbar hervor. Literatur
verwandelt sich in erfahrbare Wirklichkeit - allerdings nur für den, der richtig mit
den Texten der Alten umzugehen weiß, der es mithin (wie der Briefschreiber selbst)
versteht, die fama der Uberlieferung einer kritischen Prüfung zu unterziehen und
die Texte zum Sprechen zu bringen. Während der leichtgläubige Makedonerkönig
sich in den Nebeln des Ruhms verirrt, die den Hämus umlagern, scheint es dem
kritischen Leser Petrarca zu gelingen, diese Wolken hinter sich zu lassen und einen
Standpunkt zu erreichen, der ihm freie Aussicht gewährt - der das Entfernte un-
mittelbar vor seine Augen rückt. Auf dem Gipfel des Mont Ventoux fühlt sich der
Bergsteiger sowohl seiner Heimat Italien als auch seiner antiken Heimat - verkörpert
durch Hämus, Athos und Olymp - ganz nah.
Es scheint mithin so, als gelinge dem Bergsteiger der Durchbruch von der fama
zur experientia. Doch dieser Schein trügt. Die genaue Analyse zeigt auf, daß der
erste Blick vom Gipfel keineswegs die Uberwindung räumlicher und zeitlicher
Distanzen sowie den erhofften Umschlag vom Lesen zum Sehen bedeutet, ja daß
dieser Umschlag nicht einmal erstrebt wird. Der Briefschreiber selbst exponiert den
Scheincharakter der Gipfelschau. Er weist nämlich daraufhin, daß die Aussicht ihm
kein klares Bild der Dinge vermittelt, sondern ihn betäubt: »stupenti similis steti.«
Was er von dort oben sieht, wirkt auf ihn traumhaft und irreal. Die Gipfelschau, die
Petrarca aus der Traumsphäre der fama heraus- und in die Erfahrungswelt hineinfüh-
ren sollte, versenkt ihn doch wieder nur in eine Art von Traum. Er nimmt die Dinge
wie durch einen Schleier hindurch wahr - offenkundig hat er den Nebelbereich des
Ruhms und der Dichtung eben doch nicht ganz hinter sich lassen können.
Tatsächlich ist es um die Aussicht, die ihm der Berg gewährt, nicht besonders gut
bestellt. Er sieht vom Gipfel aus nicht viel, und das Wenige, was er sieht, ist eher dazu
geeignet, seine Vorstellungstätigkeit anzuregen, als seine Schaulust zu befriedigen,
drängt ihn also wieder in die Traumsphäre der fama zurück. Athos und Olymp etwa
werden für ihn nicht wirklich sichtbar, vielmehr erlaubt ihm der Eindruck, den der
kleinere und weniger ruhmvolle Berg (»minoris fame mon[s]«) auf ihn macht, das
Aussehen der antiken Bergriesen zu erschließen. Der Mont Ventoux vermittelt ihm
davon eine ungefähre Vorstellung, der Briefschreiber >sieht< die Berge des Altertums
folglich nur mit dem inneren Auge der Einbildungskraft. Seinen leiblichen Augen
präsentiert sich statt dessen das mächtige Gebirge der Alpen. Doch bezeichnen-
derweise nimmt Petrarca die Alpen nicht als einen Gegenstand wahr, der aufgrund

46 J. Pfeiffer listet eine Reihe von Textstellen aus der antiken Literatur auf, die den Ruhm dieser
Berge begründen. Er verweist insbesondere auf Plinius, Pomponius Mela, Solinus und Isidor.
Vgl. J . Pfeiffer: Petrarca und der Mont Ventoux. S. 12f.
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 703

seiner erhabenen Erscheinung einer eingehenden Betrachtung würdig ist, sondern


als ein Hindernis, das ihm den Blick auf das heimatliche Italien versperrt. Die Alpen
bilden eine Barriere, die den Bergsteiger davon abhält, seine Heimat zu sehen. Diese
Barriere ist dafür verantwortlich, daß Italien nur vor seinem geistigen, nicht vor
seinem leiblichen Auge erscheint (»animo potius quam oculis apparen[s]«).
Der Wunsch, auf dem Gipfel eine direkte Beziehung zu seiner Heimat zu etablie-
ren, erfüllt sich mithin nicht. Weder die antike Vergangenheit noch die geographi-
sche Heimat wird unmittelbar zum Gegenstand der experientia. Petrarca wird durch
die fragmentarische Wahrnehmung der Landschaft vielmehr dazu animiert, sich die
verlorene Heimat mittels der imaginatio zu vergegenwärtigen, sich in das ferne Italien
hinüberzuträumen. Die cupiditas videndi, die ihn auf den Berg getrieben hat, findet
auf dem Gipfel keine Befriedigung. Im Gegenteil, der gestörte Blick auf die Heimat
heizt dieses Verlangen nur noch stärker an und erzeugt einen unstillbaren »ardor [...]
revidendi«. Der mühsame Aufstieg scheint den Briefschreiber seinem Ziel folglich
um keinen Schritt näher gebracht zu haben. Auch auf dem Gipfel muß er sich noch
immer als Leser betätigen, der in dem, was er sieht, einen zeichenhaften Verweis
erkennt, eine in der Phantasie zu restituierende Ruine der verlorenen Heimat.
Doch ist das Sehen der Heimat überhaupt sein Ziel? Richtet sich das Verlangen
des Bergsteigers wirklich darauf, eine unmittelbare, durch experientia verbürgte
Verbindung zu Heimat und Altertum herzustellen? Der Brief Famiiiares IV. 1 steht
von Anfang an im Zeichen einer merkwürdigen Ambivalenz: Jeder Schritt, den der
Protagonist der Erzählung unternimmt, läßt sich gleichermaßen als Manifestation
seiner cupiditas videndi und als Ausdruck eines konträren Verlangens, einer cupiditas
legendi, deuten. Das gilt auch ftir das Verhalten des Bergsteigers auf dem Gipfel. Nur
vordergründig verweist es auf den Wunsch, das Lesen in ein Sehen zu überführen.
Tatsächlich handelt es sich dabei um die allegorisch verschlüsselte Desavouierung
dieses Wunsches wie auch des daran gekoppelten Lektüreverfahrens. Denn die Alpen
stellen nicht bloß eine Schranke dar, die sich dem Blick des Gipfelstürmers in den
Weg stellt. Sie fungieren auch als ein natürlicher Schutzwall, der die Feinde Roms
daran hindern soll, in das Heimatland einzudringen. Petrarca erinnert an Hannibal
und an sein durch Livius bezeugtes Bemühen, sich mit Hilfe von Essig einen Weg
durch die Felsbarriere des Gebirges zu sprengen. 47 Hannibal war im Kampf gegen
Rom mit König Philipp von Makedonien verbündet. Der römische Gegenspieler
dieser beiden antiken Bergsteiger war Scipio Africanus, dem Petrarca mit seinem
Epos Africa ein Denkmal gesetzt hat. Es liegt eine unübersehbare Ironie darin, daß
sich der Briefschreiber bei seinem Aufstieg auf den Mont Ventoux und bei seinem
Versuch, die Barriere zu überwinden, die ihn von seiner Heimat trennt, ausgerechnet
die gefährlichsten Feinde Roms zum Vorbild nimmt.

47
Titus Livius: Ab urbe condita. Bd. 3: Libri XXI-XXV. Edited by Charles Flamstead Walters
u. Robert Seymour Conway. Oxford 1950. XXI.37.2.
704 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Hannibal und Philipp repräsentieren mithin die selbstdestruktive Tendenz,


die dem humanistischen Lektüreverfahren innewohnt. Sie versinnbildlichen den
Historiker, der durch die kritische Prüfung der fama eine unmittelbare Verbindung
zur Vergangenheit herzustellen bemüht ist, der aber eben dadurch den Gegenstand
zerstört, dessen er sich bemächtigen will. Denn der Fortbestand des Vergangenen
ist an die Existenz der fama, des Ruhms und des Namens, gekoppelt. Es lohnt sich,
genau auf die Formulierungen des Briefschreibers zu achten: Petrarca bezeichnet
Hannibal nicht bloß als einen Gegner Roms, sondern als einen Feind des römischen
Namens (»hostis romani nominis«). Er deutet somit eine Parallele zwischen der In-
vasion des karthagischen Feldherrn und dem humanistischen Lektüreverfahren an,
das der hinter dem Namen verborgenen Wahrheit auf den Grund zu gehen sucht.
Das Bestreben, die fama auf eine authentische experientia hin zu überschreiten,
kommt einem feindlichen Akt, einer Zerstörung des Namens und somit auch der
bezeichneten Sache, gleich. Die Heimat, nach der sich der Briefschreiber sehnt,
existiert nur im Medium der Sprache und der Literatur. Allein mit Hilfe der imagi-
natio kann man in sie eindringen. Jedes Bemühen, sie unmittelbar zu >sehen< oder zu
>erfahren<, führt unweigerlich zu ihrer Vernichtung. Daher weist der Briefschreiber
sich selbst in ungewöhnlich scharfer Form ob des unmännlichen ardor revidendi
zurecht, den er beim Anblick der Alpen empfindet. So groß die Begierde auch sein
mag, diese Barriere niederzureißen, um den Freund und das Vaterland (»et amicum
et patriam«) Wiedersehen zu können - der Briefverfasser zeigt sich entschlossen, ihr
zu widerstehen. Mehr noch: In dem Moment, in dem er diese Worte niederschreibt,
stellt er seine Entschlossenheit unter Beweis. Denn zum vorgeblichen Zeitpunkt der
Niederschrift weilt der angesprochene Freund (gemeint ist Francesco Dionigi, der
Adressat des Briefes), wie Giuseppe Billanovich glaubhaft machen kann, gar nicht
jenseits der Alpen, sondern im benachbarten Avignon, wo ihn Petrarca jederzeit hätte
aufsuchen können.48 Der Briefschreiber bekämpft also tatsächlich sein Verlangen,
den Freund und die Heimat wiederzusehen, und zwar dadurch, daß er ihn nach
Italien verpflanzt und ihm schreibt, anstatt unmittelbar mit ihm zu sprechen. Der
Freund wird in ein imaginäres, literarisches Vaterland transponiert, in den Raum
der Schrift. Der Briefverfasser distanziert den Freund und das Heimatland, damit er
ihnen mit Hilfe der imaginatio um so näher kommen kann.
Der Aufstieg auf den Mont Ventoux markiert folglich nicht den Versuch, die
Barriere zwischen lectio und experientia, zwischen Literatur und Wirklichkeit zu
eliminieren. Petrarca identifiziert sich weder mit Hannibal noch mit Philipp. Im
Gegensatz zu diesen Zerstörern und Invasoren wahrt er vielmehr die Distanz zu
dem Land, in das er einzudringen begehrt, weil nur sie ihn damit verbinden kann.
Er versucht, die Barriere selbst zu seiner (Ersatz-)Heimat zu machen. Wie der
Hämus, der sich zwischen zwei Meeren befindet, markiert der allegorische Berg, den

48 G . Billanovich: Petrarca und der Ventoux. S. 455f.


Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 705

der Briefschreiber erklimmt, eine Schwelle — eine Grenze, die zugleich trennt und
verbindet. Petrarca widersteht der Versuchung, diese Schwelle zwischen Altertum
und Neuzeit, zwischen Hier und Dort zu verlassen, um unmittelbar zu >erfahren<,
was nur in Gestalt der literarischen fama existieren kann. Er besteigt den Mont
Ventoux nicht, um zu sehen, sondern um zu lesen - um Abstand zur Wirklichkeit
zu gewinnen und sie mit einem Dunstschleier aus Namen und Worten einzuhüllen.
Der allegorische Berg bezeichnet das Interstitium der Schrift. Als solches ist er die
Stätte eines doppelten Exils.

Asthetisierender Lebensrückblick

Der Blick in Richtung Italien bringt den Bergsteiger auf den Gedanken, einen
Rückblick auf sein vergangenes Leben zu werfen: »Occupavit inde animum nova
cogitatio atque a locis traduxit ad tempora.«49 Petrarca läßt die Jahre Revue passieren,
die seit seinem letzten Aufenthalt in der italienischen Heimat verflossen sind. Dabei
schwelgt er jedoch nicht in nostalgischen Erinnerungen, vielmehr unternimmt er
den Versuch, seine spirituelle Entwicklung nachzuzeichnen und die Position zu
bestimmen, die seine Seele auf ihrer Pilgerschaft zu Gott erreicht hat. In diesem
Zusammenhang beruft sich der Briefschreiber erstmals auf das Vorbild des Augus-
tinus.50 Der äußerlichen Gipfelschau, die eng mit der Lektüre heidnisch-antiker
Texte zusammenhängt, folgt also ein Akt der inneren Einkehr, eine dem Geist des
Christentums verpflichtete Betrachtung der eigenen Seele.
Das ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen zeigt es sich, daß der
Wechsel vom äußeren zum inneren Sehen - von der cupiditas videndi zur cognitio
sui, von der curiositas zur memoria - nicht erst, wie in der Forschungsliteratur immer
wieder zu lesen ist,51 durch das Buchorakel eingeleitet wird. Bereits hier, unmittelbar
im Anschluß an den ersten Blick, den er auf die zu seinen Füßen liegende Land-
schaft wirft, wendet sich der Bergsteiger der seelischen Innenwelt zu. Zum anderen
ist darauf hinzuweisen, daß diese Wendung nach innen keinen dramatischen Um-
schwung - etwa nach Art eines Konversionserlebnisses — darstellt. Die Seelenschau
knüpft vielmehr nahtlos an die Betrachtung der Landschaft an, und zwar deshalb,
weil es sich schon bei dieser nicht bloß um einen äußeren Raum handelt, sondern
zugleich auch um einen Gedächtnisraum, der die Spuren der Kultur- und der Indi-
vidualgeschichte aufbewahrt.52 Ein gewaltsames Sich-Losreißen vom Äußerlichen,

49 Famiiiares IV. 1.19. (»Ein neuer Gedanke nahm mich darauf in Beschlag und führte mich von
der Betrachtung des Raumes hin zu der der Zeit.«).
50 Ebd. IV. 1.20.
51 Vgl. B. Martineiii: Petrarca e il Ventoso. S. 152.; J. Pfeiffer: Petrarca und der Mont Ventoux.
S. 4.
52 So auch A. Kablitz: Petrarcas Augustinismus und die ecriture der Ventoux-Epistel. S. 51 f.:
»Der Blick in die Landschaft also setzt die memoria in Gang, und schon dies allein führt zum
Augustinus der Confessiones zurück«.
706 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

eine abrupte Wendung nach innen, ist nicht erforderlich, da sich der Betrachter der
Landschaft bereits in einem geistigen Innenraum befindet. Die spirituelle Selbstbe-
trachtung markiert daher lediglich eine leichte Akzentverschiebung: Eine Spielart
des Rückblicks (die Erinnerung an die Heimat und an die Antike) wird durch eine
andere (die Erinnerung an die Fährnisse der eigenen Seele) abgelöst.
Auch was die Form der Betrachtung anbetrifft, gibt es keine umwälzende Ver-
änderung: In beiden Fällen handelt es sich um einen Blick aus der Ferne, um den
Versuch des Individuums, sich von einer herausgehobenen Schwellenposition aus
einen Überblick zu verschaffen. Darin unterscheidet sich die Seelenschau Petrarcas
von der Selbstanalyse, die der Verfasser der Confessiones durchführt. Zwar leitet
der Bergsteiger seine introspektiven Bemühungen mit einem Zitat aus dem Be-
kenntniswerk des Kirchenvaters ein: »Tempus forsan veniet, quando eodem quo
gesta sunt ordine universa percurram, prefatus illud Augustini tui: »Recordari volo
transactas feditates meas et carnales corruptiones anime mee, non quod eas amem,
sed ut amem te, Deus meus<.«53 Doch Petrarca evoziert das augustinische Beispiel
der autobiographischen Rückschau nur, um die Form der Selbstbetrachtung, die
er auf dem Gipfel anstellt, davon abzugrenzen: Anders als der Verfasser der Con-
fessiones will der Bergsteiger sich die Vielzahl seiner sündhaften Verfehlungen nicht
im einzelnen und in der zeitlichen Folge, in der er sie beging, vergegenwärtigen; er
hat nicht vor, sich die Stationen seines bisherigen Lebensweges detailliert vor Augen
zu führen. Denn im Gegensatz zu Augustinus hat er das Ende dieses Weges noch
nicht erreicht - er ist noch nicht im sicheren Hafen angekommen (»nondum enim
in portu sum«).5"® Seine Absicht besteht vielmehr darin, sich einen globalen Uber-
blick zu verschaffen und eine Zwischenbilanz zu ziehen. Dabei schaut er einerseits
auf die vergangenen zehn Jahre seines Lebens zurück, um sich der Fortschritte, die
er in seiner spirituellen Entwicklung gemacht hat, zu vergewissern. Andererseits
blickt er auch in die Zukunft voraus. Vor drei Jahren, so stellt er zunächst fest, ist
dem sündhaften Begehren, das sein Inneres zuvor alleine beherrschte, der Liebe
zu Laura nämlich, ein Gegner erwachsen. Seitdem tobt in seiner Seele der Kampf
zwischen zwei konträren Willensregungen, wobei das neue, auf himmlische Güter
gerichtete Verlangen immer stärker zu werden scheint.55 Daher wagt Petrarca eine
Prognose: Wenn seine innere Entwicklung sich weiterhin so günstig gestaltet, dann
ist es möglich, daß er in zehn Jahren jenen gesicherten Endpunkt erreicht haben
wird, von wo aus er, wie Augustinus, eine gründliche und systematische Darstellung

53 Famiiiares IV. 1.20 (mit Bezug auf Confessiones II. 1.1). (»Die Zeit wird vielleicht einmal
kommen, da ich in derselben Abfolge, in der es sich abspielte, alles schildern kann, wobei ich
folgenden Satz deines Augustinus vorausschicken werde: >Ich will mir ins Gedächtnis rufen
meine durchlebten Niederträchtigkeiten und die fleischliche Verderbnis meiner Seele, nicht
weil ich diese liebte, sondern um dich zu lieben, mein Gott.<«).
54 Ebd. IV. 1.19.
55 Ebd. IV. 1.22.
Der Bericht über die Besteigung des Moni Ventoux 707

seines Lebensgangs - inklusive einer ins einzelne gehenden Untersuchung aller seiner
Sünden - in Angriff nehmen könnte.56
Petrarca vergleicht die spirituelle Bestandsaufnahme, die er auf dem Gipfel des
Mont Ventoux unternimmt, mit dem Bekenntniswerk des Augustinus. Der Vergleich
ist einerseits ein Instrument der Selbstprüfung, andererseits dient er dazu, die Tatsa-
che zu rechtfertigen, daß der Bergsteiger vom augustinischen Modell introspektiver
Analyse abweicht. Laut Petrarca hat Augustinus zum Zeitpunkt der Abfassung der
Confessiones das Ziel seiner spirituellen Wanderung bereits erreicht und seinen Wil-
lenskonflikt überwunden; er vermag sich daher in aller Ausführlichkeit mit seinen
vergangenen Sünden auseinanderzusetzen und ein Bekenntnis abzulegen. Er selbst
dagegen, so erklärt der Briefschreiber, steckt noch mitten im Willenskampf, hat also
nur eine Teilstrecke des Wegs bewältigt und kann es sich aus diesem Grunde nicht
erlauben, derart intensiv auf seine Sünden einzugehen wie der Autor der Confessiones.
Er blickt deshalb nur wie von Ferne auf sein sündhaftes Leben, um seinen spiritu-
ellen Standort ungefähr zu bestimmen. Genauigkeit und gründliche Analyse liegen
nicht in seiner Absicht.
Die Begründung, die Petrarca dafür liefert, daß er keine Selbstprüfung nach au-
gustinischem Muster durchführt, erscheint widersinnig. Sie läßt sich in einem Satz
zusammenfassen: Er will seine Sünden deswegen nicht genau untersuchen, weil er
selbst noch ein Sünder ist. Doch diese Scheu vor dem genauen Hinsehen nimmt
der Selbsterkenntnis jeglichen praktischen Nutzen. Ist es nicht gerade für den, der
noch unterwegs und somit der Gefahr der Verirrung ausgesetzt ist, wichtig, seinen
Standort genau in Erfahrung zu bringen? Ist ein klares Bewußtsein der eigenen Sünd-
haftigkeit nicht die Voraussetzung dafür, daß der Sünder alle seine Willenskräfte
mobilisiert, um seine fleischlichen Begierden auszumerzen? Schwächt der Bergstei-
ger also nicht dadurch seinen guten Willen, daß er sich mit einem summarischen
Überblick über sein Dasein begnügt? Sowohl der Verfasser der Confessiones als auch
die fiktive Figur namens >Augustinus<, die in Petrarcas Secretum auftritt, halten auf
diese Fragen eine eindeutige Antwort parat. Ihrer Ansicht nach benötigt der Sünder
eine Selbsterkenntnis, die ihm die Verworfenheit seines gegenwärtigen Zustands
möglichst klar und konkret vor Augen führt. Laut »Augustinus* empfindet nur der,
der das Häßliche seiner Sünde in aller Deutlichkeit sieht, das ernsthafte Verlangen,
sich davon zu befreien. Der historische Augustinus setzt die Akzente anders, erhebt
aber die gleiche Forderung: Allein derjenige, so argumentiert er, dem das ganze, un-
geheure Ausmaß seiner Verderbnis bewußt wird, vermag einzusehen, daß er davon
nicht ohne göttliche Gnadenhilfe geheilt werden kann. Wer den Zustand seiner
Seele nur von Ferne und wie im Überblick zu erfassen sucht, wer lieber auf das Ziel
des Heilswegs schaut, als sich mit der Frage zu beschäftigen, wie der Weg dorthin zu
bewältigen sei, der täuscht sich selbst und flieht vor der schmerzhaften Erkenntnis

56 Ebd. IV. 1.23.


708 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung dtr Selbsterkenntnis

seiner sündhaften Schwäche. Bezeichnenderweise assoziiert der Verfasser der Con-


fessiones diese defizitäre Form der Selbsterkenntnis mit einem Blick vom Berge: »Et
aliud est de silvestri cacumine videre patriam pacis et iter ad eam non invenire et
frustra conari per invia [...], et aliud tenere viam illuc ducentem cura caelestis impe-
ratoris munitam«. 57 Der Ausblick, den der Berg gewährt, markiert eine gefährliche
Täuschung. Zwar vermag der Sünder vom Gipfel aus das himmlische Vaterland zu
erkennen, doch dabei verliert er den Weg aus den Augen, der ihn dorthin führen
könnte. Er glaubt, auf dem Berg die gewünschte Übersicht erlangen zu können, in
Wirklichkeit aber verirrt er sich in der Wildnis, die den Berg überwuchert - in der
Wildnis der Sünde.
Aus augustinischer Perspektive begeht Petrarcas Bergsteiger genau diesen Fehler.
Er verirrt und täuscht sich justament in dem Moment, in dem er den Überblick
über seine spirituelle Situation zu gewinnen meint. Ein Indiz dafür ist die Tatsache,
daß die Seelenschau bei ihm nicht etwa das Gefühl der Zerknirschung und der Ver-
zweiflung hervorruft, sondern eine gewisse Zufriedenheit. So sieht er darin, daß seine
Liebe zu Laura mit seiner Liebe zu Gott im Streit liegt, ein positives Zeichen, das
ihn zu den besten Hoffnungen hinsichtlich seines künftigen Seelenheils berechtigt.
Die Selbstbetrachtung erzeugt in dem Briefschreiber, wie Andreas Kablitz darlegt,
das »Bewußtsein eines moralischen Fortschritts«; der Sünder empfindet »Freude
über den bisherigen Erfolg«, anstatt die Heillosigkeit seines sündhaften Zustands zu
beklagen.58 Laut Kablitz geht die Selbsttäuschung des Bergsteigers hier so weit, daß
er »jenem Irrtum anheim[fällt], dessen Aufdeckung zu den dringlichsten Anliegen
des Augustinus gehört: dem Glauben, aus eigener Kraft zu vermögen, was allein
Gottes Gnade wirken kann.«59 Die spirituelle Bilanz, die Petrarca auf dem Gipfel
zieht, verleitet ihn demnach zu der Annahme, sich durch beharrliche moralische
Anstrengungen selbst von der Sünde heilen zu können. Das würde bedeuten, daß er
der Irrlehre des von Augustinus heftig bekämpften Pelagianismus erliegt.60
Doch Kablitz geht fehl, wenn er dem Bergsteiger einen pelagianischen Willen zur
Selbstheilung unterstellt. Er übersieht das Spezifische der von Petrarca auf dem Gip-
fel durchgeführten Selbstbetrachtung, das sie mit der aberranten Gewissensprüfung
des Secretum verbindet - die Tatsache nämlich, daß sie den Willen zur Selbstheilung
betäubt. Der Pelagianismus glaubt wie der Stoizismus, dem er in vielerlei Hinsicht
verwandt ist, an die Autonomie der menschlichen Vernunft und somit auch an die

57
Confessiones VII.21.27. (»Es ist etwas anderes, von einem waldüberwucherten Berg aus das
Vaterland des Friedens zu sehen, aber den Weg dorthin nicht zu finden, sich in unwegsamem
Gelände vergeblich abzumühen [...]; und etwas anderes, den Weg dorthin unter dem Schutz
des Himmelskaisers zu gehen«.).
58
A. Kablitz: Petrarcas Augustinismus und die ecriture der Ventoux-Epistel. S. 52f.
55
Ebd. S. 53.
60
Z u m Pelagianismus und zu Augustins Kampf gegen Pelagius vgl. P. Brown: Religion and
Societey in the Age of St. Augustin. S. 183-226; ders., Augustine of Hippo. S. 340-352.
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 709

Fähigkeit des Individuums, eine moralische Selbstreform durchführen zu können.


Man könnte ihn mithin als eine Vorform jener christlich-humanistischen ars vitae
bezeichnen, die Petrarca in seinen moralphilosophischen Schriften propagiert. Die
Selbstreform des Lebenskünstlers setzt jedoch voraus, daß er über adäquate Selbst-
erkenntnis verfügt. Auch im Rahmen der stoischen Philosophie gibt es ja so etwas
wie eine spirituelle Bestandsaufnahme, die das Individuum unternehmen muß,
um die Selbstreform in Gang zu setzen. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert
das erste Buch aus Marc Aurels TA ΕΙΣ EA YTON.&] Marc Aurel zieht darin eine
Bilanz seines philosophischen Bildungsgangs. Sie fungiert als eine Art Weckruf, mit
dessen Hilfe der Verfasser seine Vernunft aus ihrem Schlaf herauszureißen sucht.
Wäre Petrarcas Bergsteiger ein Pelagianer, dann müßte seine Bestandsaufnahme
in ihren Grundzügen derjenigen Marc Aurels ähneln. Zumindest müßte sie ihn
unter Entscheidungsdruck stellen und zum Handeln animieren - sie müßte ihm
die unabdingbare Notwendigkeit vor Augen führen, jetzt gleich mit dem Werk der
Selbstreform zu beginnen. Dies ist aber gerade nicht der Fall. Der Briefschreiber
schaut vielmehr wie ein Unbeteiligter auf den Willenskonflikt, der sich in seiner
Seele abspielt, und beruhigt sich mit der Aussicht, daß der innere Kampf in ferner
Zukunft ein positives Ende finden wird.62 Das Schauspiel, das sich seinem inneren
Auge darbietet, veranlaßt ihn nicht zum Eingreifen. 63 Der Bergsteiger sieht keinerlei
aktuelle Notwendigkeit, auf seinen Willen einzuwirken. Der innere Konflikt hat
für ihn vielmehr das Ansehen eines Naturvorgangs, der auch ohne sein Zutun nach
einem vorgegebenen Schema abläuft. Die Willensregungen, die da miteinander im
Streit liegen, scheinen gar nicht seine eigenen zu sein. Er leidet nicht unter dem
Kampf, der seine Seele zerreißt. Denn anstatt sich, wie Augustinus oder Marc Aurel,
seinen inneren Zustand zu vergegenwärtigen, hält er ihn auf Distanz, hüllt er ihn
in einen verklärenden Nebel ein. Der Bergsteiger verfährt bei seiner Selbstprüfung
genauso wie der Verfasser des Secretum: Er ist ein milder Inquisitor, er weckt sich
nicht aus seinem moralischen Schlaf, im Gegenteil, er betäubt sich selbst.

61
Vgl. dazu Kapitel VI.4 dieser Untersuchung.
62
Die Aussicht, noch weitere zehn Jahre mit einem gespaltenen Willen leben zu müssen, ruft
bei dem Bergsteiger keine Besorgnis hervor. Nicht einmal die Möglichkeit eines vorzeitigen
Todes scheint ihn zu ängstigen. Vgl. dagegen Confessiones VI. 11.18f.: Augustinus blickt auf
die letzten elf Jahre seines Lebens zurück und stellt mit Entsetzen fest, daß er noch immer in
demselben sündhaften Schlamm steckt und seit der Lektüre des Hortensius keine Fortschritte
auf dem Weg zu Gott gemacht hat. Diese erschreckende Bilanz fuhrt dazu, daß der Willenskon-
flikt erneut in ihm aufbricht - er schwankt hin und her: Mal steht er kurz davor, sich für ein
neues Leben zu entscheiden, mal scheut er wieder vor diesem Schritt zurück. Bei Augustinus
führt die spirituelle Bestandsaufnahme also dazu, daß der Willenskonflikt aktualisiert wird,
bei Petrarca hingegen hat sie den gegenteiligen Effekt: Sie neutralisiert den Konflikt, ohne ihn
ganz zu eliminieren; sie verwandelt ihn in einen Gegenstand distanzierter, quasi ästhetischer
Betrachtung.
63
Vgl. R. M. Durling: T h e Ascent of Mont Ventoux and the Crisis of Allegory. S. 13: »[Petrarch]
gets out of involvement, looks backward and forward calmly.«
710 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Der Fernblick, den Petrarca vom Gipfel des Mont Ventoux aus genießt, ver-
sinnbildlicht also nicht bloß ein bestimmtes Lektüreverfahren, sondern auch eine
spezifische Form der Seelenschau, die sowohl dem augustinischen als auch dem
stoischen Modell der Selbstprüfung widerspricht. Der Fernblick auf das eigene Selbst
ermöglicht es Petrarca, die Willensentscheidung, zu der ihn die Nahsicht - die di-
rekte, ungeschönte Wahrnehmung seiner inneren Zerrissenheit - nötigen würde, auf
einen unbestimmten Zeitpunkt zu vertagen. Er verharrt in der Unentschiedenheit
und kostet diese aus. Er richtet sich sozusagen häuslich im Zwiespalt seiner Willens-
regungen, im Interstitium zwischen sündhafter Vergangenheit und rechtschaffener
Zukunft ein. 64 Der allegorische Berg markiert auch hier eine Schwelle - einen fik-
tiven Standpunkt zwischen den Zeiten, einen dem praktischen Leben enthobenen
Ort aberranter Überschau.

3. Schreiben als Selbstbetäubung

Flucht in die Literatur


Die Ankunft des Bergsteigers auf dem Gipfel des Mont Ventoux hat - entgegen
der Erwartung, die der Briefschreiber zunächst weckt — nicht etwa zur Folge, daß
das Lesen in ein Sehen überführt, daß das Exempel der Antike unmittelbar durch
experientia beglaubigt wird. Der Wanderer, der von der Spitze des Berges aus die
Landschaft betrachtet, verhält sich so wie der Leser antiker Literatur, der das Alter-
tum in seiner Vorstellung zu neuem Leben erweckt: Er betrachtet die Heimat, die
durch ein Hindernis verdeckt ist, im Medium der Imagination. Auch der Blick, den
er in seine eigene Seele wirft, ist ein solcher träumerischer Fernblick. Er dient dazu,
die schmerzhafte Realität des gespaltenen Willens in den Bereich des Imaginären zu
entrücken und zum Objekt einer interesselosen Schau zu erheben.
Der Bergsteiger bewegt sich mithin in einer Traumsphäre. Er verliert schließlich
jeden Bezug zur Wirklichkeit, so daß er nicht einmal mehr weiß, an welchem Ort
er sich befindet: »quem in locum, quam ob causam venissem, quodammodo vide-
bar oblitus«. 65 Dieser Zustand der Geistesabwesenheit bleibt seinem Begleiter, dem
Bruder Gherardo, nicht verborgen. Er erinnert ihn daran, daß er nicht zum Träu-
men, sondern zum Sehen auf den Gipfel gestiegen sei, woraufhin der Briefschreiber
- wie ein aus dem Schlaf Gerissener (»velut expergefactus«) - seine Augen aufreißt
und sich wieder der Außenwelt zuwendet. 66 Diesmal schaut er nach Westen, in die
seiner italienischen Heimat entgegengesetzte Richtung. Zum ersten Mal auf seiner
Bergtour nimmt Petrarca dabei die äußere Wirklichkeit in unverstellter Form wahr.

64
Siehe oben, Kapitel IX, Anmerkung 446.
65
Famiiiares IV. 1.24.
66
Ebd.
Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis 711

Doch gerade diese ungehinderte Aussicht bringt ihm die Schwäche der menschlichen
Sehkraft zu Bewußtsein. Während die Alpen den Blick nach Südosten blockieren
und den Betrachter folglich dazu nötigen, sich Italien mit Hilfe der imaginatio zu
vergegenwärtigen, stoßen die Augen im Westen auf keine Barriere. Paradoxerweise
führt das Fehlen von Hindernissen aber dazu, daß der Bergsteiger weniger sieht.
Der den Alpen korrespondierende Grenzwall (»[l]imes«) der Pyrenäen, der Spanien
gegenüber Frankreich abschirmt, entzieht sich seiner Wahrnehmung. Folglich ist die
iberische Halbinsel für den Bergsteiger nicht zu sehen — weder mit den leiblichen
Augen noch mit den Augen der Phantasie: »inde non cernitur«.67 Dieses Nicht-Sehen
kann sich der Bergsteiger nur durch die Sterblichkeit und Fragilität des menschlichen
Sehvermögens erklären (»sola fragilitate mortalis visus«).68
Die freie Aussicht — das von der Imagination bereinigte bloße Sehen — wird also
mit dem Tod assoziiert. Das gilt nicht nur fur den Blick, der bis zum limes der Py-
renäen vorzudringen sucht, sondern auch für die Wahrnehmung der Gegenstände,
die diesseits des Grenzwalls liegen. Trotz ihrer großen Entfernung treten sie dem
Bergsteiger mit außerordentlicher Klarheit vor Augen: »preclarissime videbantur«.69
Auffälligerweise handelt es sich bei diesen Objekten - von einer Ausnahme (den
Bergen bei Lyon) abgesehen - ausschließlich um Gewässer: Petrarca nennt den
Golf von Marseille, das Meer, das an die Küste von Aigues Mortes brandet, und das
Flußtal der Rhone.70 Das klare Element des Wassers versinnbildlicht die ungetrübte
Aussicht, die sich dem Betrachter darbietet. Nichts an dieser Landschaft ist rätsel-
haft, nichts weist über sich selbst hinaus. Sie bietet keinerlei Anhaltspunkt für eine
Lektüre. Ihre vollkommene Transparenz verdammt den Betrachter zu einem reinen
Sehen. Es ist kein Zufall, daß Petrarca bei der Auflistung der wahrgenommenen
Gegenstände den Küstenort Aigues Mortes (»Aquas Mortuas«) erwähnt,71 während
er andere, an sich bedeutendere Städte (Toulon, Arles, Nimes, Montpellier) mit
Schweigen übergeht. Ihm kommt es auf die Signifikanz dieses Namens an: Die Ge-
wässer, die der Bergsteiger so deutlich zu erkennen vermag, sind tote Wasser, aquae
mortuae-, das reine Sehen ist ein totes, tötendes Sehen. Im Gegensatz zur humanis-
tischen Lektüre, die den Text und seinen Autor zum Leben zu erweckt, mortifiziert
das reine Sehen seinen Gegenstand. Dort, wo kein Hindernis den Betrachter zum
Gebrauch seiner imaginatio animiert, wo kein Zeichen sich vermittelnd zwischen
ihn und den Gegenstand seiner Wahrnehmung stellt, da drängt sich ihm die schiere
Materialität und Äußerlichkeit der Dinge auf, der er nur eine Bedeutung abzuge-
winnen vermag: diejenige des Todes. Die Gegenstände, deren der Bergsteiger bei
seinem Blick in Richtung Westen gewahr wird, sind ihm entweder zu nahe oder

67
Ebd. IV. 1.25.
68
Ebd.
69
Ebd.
70
Ebd.
71
Ebd.
712 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

zu fern. Der Zwischenraum fehlt - der Schwellenbereich, in dem die Dinge nicht
mehr ganz präsent, aber auch noch nicht ganz abwesend sind, in dem sie als Ruinen
fortbestehen und den Betrachter somit dazu herausfordern, sie in seiner Vorstellung
zu restituieren.
Das Fehlen dieses Zwischenbereichs bringt den Bergsteiger in Verlegenheit. Er
vermag den nackten Anblick klar umrissener, unmittelbar gegenwärtiger Dinge nicht
zu ertragen. Kaum hat er seine Augen geöffnet und sich der Außenwelt zugewandt,
so versucht er daher auch schon wieder, ihr zu entfliehen. Da er die Landschaft
nicht lesen kann, greift er zum Buch. Aus Scheu vor dem reinen Sehen nimmt der
Bergsteiger die kleine, faustgroße Ausgabe der Confessiones in die Hand, die er, wohl
um für Notfälle dieser Art gerüstet zu sein, immer mit sich führt. 72 Er zieht sich also
aus der transparenten Sphäre der Blicke in die trübe, neblige Welt der Schrift und
der Literatur zurück. Der Bergsteiger öffnet sein Buch, damit er die Wirklichkeit,
die ihm allzu nah auf den Leib gerückt ist, wieder in einen Dunstschleier einhüllen
und auf Distanz bringen kann.
Die kurze Zeitspanne, während welcher Petrarca auf dem Gipfel tatsächlich
in eine unmittelbare Beziehung zur Außenwelt tritt, markiert eine Bedrohung
für sein fragiles Selbst. Entgegen der Behauptung Burckhardts findet Petrarca in
der Natur eben nicht den geeigneten Spiegel für seine »leicht erregbare Seele«. 73
Gerade aufgrund ihrer ungewöhnlichen Transparenz wirkt die Landschaft, der er
sich im Westen zuwendet, auf ihn stumm und abweisend. Sie bietet ihm keine
Objekte dar, in denen er sich wiedererkennen oder mit denen er sich identifizieren
könnte. Die Landschaft erscheint gesichtslos; ihre wässerige Beschaffenheit hin-
dert den Bergsteiger daran, ihr eine prägnante Physiognomie zuzuweisen. In ihrer
Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit präsentiert sie ihm ein Bild des Todes.
Diese Krise der (Selbst-)Wahrnehmung veranlaßt den Bergsteiger dazu, Zuflucht
bei einem Buch zu suchen. Er hofft, im Buch den Zuspruch finden zu können,
den ihm die Natur verweigert. Das humanistische Lektüreverfahren, dessen sich
Petrarca bedient, zielt ja letztlich genau darauf ab: Indem der Leser den Text auf die
individuelle Persönlichkeit des Autors bezieht (indem er ihn sozusagen in der Seele
des Autors, als Ausdruck seines Denkens liest), verleiht er den toten Buchstaben ein
menschliches Gesicht und eine lebendige Stimme, durch die er sich dann seinerseits
angesprochen fühlen kann. Im Falle des kleinen Büchleins, das der Bergsteiger auf
dem Gipfel des Mont Ventoux zur Hand nimmt, fällt es dem Leser nicht schwer,
eine solche persönliche Beziehung herzustellen. Das Buch erinnert ihn gleich an
zwei Individuen, denen er besonders nahe steht: an den Verfasser Augustinus, den er
als seinen spirituellen Mentor betrachtet, und an Francesco Dionigi, den als »pater
amantissime« apostrophierten Empfänger des Briefes, der ihm die handliche kleine

72 Ebd. IV. 1.26.


73 J. Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. S. 200.
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 713

Ausgabe geschenkt hatte. 74 Zudem sind die Confessiones, wie der Briefschreiber
versichert, von Anfang bis Ende mit nützlichen Wahrheiten gefüllt — wo immer
man sie aufschlägt, tritt einem eine heilsame Lehre entgegen. 75 Man muß also nicht
lange suchen, um darin einen passenden Ratschlag zu finden. Vielmehr ist alles, was
da steht, in gewisser Weise passend, denn es stammt aus dem Herzen väterlicher
Ratgeber, deren persönlicher Zuneigung sich Petrarca sicher ist.
Kein Buch könnte also geeigneter sein, ihm in der Situation der Gefährdung
Beistand zu leisten. An welcher Stelle er das Werk auch aufschlägt, er erwartet, eine
vertraute Stimme zu hören; er hofft, dabei auf eine Aussage zu treffen, mit der er
etwas anfangen kann, die ihm über das feindselige Schweigen der Natur hinweghilft
und ihn somit wieder mit sich selbst in Einklang bringt. Diese Erwartung erfüllt
sich auf spektakuläre Weise:
Forte autem decimus illius operis liber oblatus est. Frater expectans per os meum ab Augustino
aliquid audire, intentis auribus scabat. Deum testor ipsumque qui aderat, quod ubi primum
defixi oculos, scriptum erat: >Et eunt homines admirari aha montium et ingentes fluctus maris
et latissimos lapsus fluminum et occeani ambitum et giros siderum, et relinquunt se ipsos<.76

Dem Bergsteiger, der die Confessiones wie ein Orakel befragt, wird nicht bloß ir-
gendeine erbauliche Wahrheit zuteil, die ihm Stoff zum Nachdenken liefert und ihn
somit von der Wahrnehmung der feindlichen Außenwelt ablenkt. Vielmehr wird
er mit einer Textpassage konfrontiert, die genau auf seine gegenwärtige Situation
zugeschnitten ist. Der Mensch, der sich in die Höhe begibt, um die großen Werke
der Natur zu bewundern, und der dabei sich selbst im Stich läßt: Das klingt wie eine
exakte Beschreibung des Bergsteigers und seines Unterfangens. Der Briefschreiber
jedenfalls erkennt sich darin sofort wieder. Versuchte er eben noch vergeblich, die
äußere Natur als Reflexionsmedium zu nutzen, so präsentieren ihm die Confessiones
nun ein Spiegelbild, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Das Buch
enthüllt ihn sich selbst. 77 Petrarca kann nicht glauben, daß die vollkommene Uber-
einstimmung zwischen dem Text und seiner Person auf einem Zufall beruht. Er

74 Famiiiares IV. 1.26. — Die Anrede »pater amantissime« findet sich in Famiiiares IV. 1.36.
75 Ebd. IV. 1.26.
7<i Famiiiares IV. 1.27 (unter Bezugnahme auf Confessiones X . 8.15). (»Zufällig aber bot sich mir
das zehnte Buch dieses Werkes dar. Mein Bruder stand voller Erwartung, durch meinen Mund
etwas von Augustinus zu hören, mit gespitzten Ohren da. G o t t rufe ich zum Zeugen an und
ihn eben, der dabei war, daß an der Stelle, auf die ich zuerst die Augen heftete, geschrieben
stand: »Und es gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die gewal-
tigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und
die Kreisbahnen der Gestirne - und verlassen dabei sich selbst·.«).
77 »Petrarch's reading o f Augustine has [...] a specular structure. W h e n Petrarch reads the Au-
gustinian oracle, the oracle reads him. [...] When Petrarch recognizes himself in Augustine's
words, he appropriates being read as self-reading: he reads himself being read. Reading for
conversion, whether it is called self-recognition, appropriation or application, describes a
relationship between a self and a text that is (1) specular and (2) totalizing.« (J. Robbins:
Prodigal Son / Elder Brother. S. 57.).
714 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

ist vielmehr davon überzeugt, der Empfänger einer Botschaft zu sein, die für ihn
allein bestimmt ist: »Nec opinari poteram id fortuito contigisse, sed quicquid ibi
legeram, michi et non alteri dictum rebar«.78 Der Bergsteiger hört beim Lesen also
nicht bloß eine vertraute Stimme, sondern er fühlt sich durch diese Stimme direkt
angesprochen. Er beruft sich auf illustre Vorbilder, um sein Gefühl zu rechtfertigen.
Zum einen erinnert er an das Buchorakel, das Augustinus im Mailänder Garten
durchführte, zum anderen verweist er - auch dies in Anlehnung an den Verfasser
der Confessiones - auf das Schriftwort, das der Wüstenvater Antonius beim Eintritt
in eine Kirche vernahm und als an ihn persönlich gerichteten Befehl zur Umkehr
begriff.79
Der Briefschreiber deutet die Lektüre, die er auf dem Gipfel des Mont Ventoux
unternimmt, somit im Lichte paradigmatischer Konversionsgeschichten. Er stilisiert
das Lektüreerlebnis zu einem Erweckungserlebnis. Der Griff zum Buch ist zunächst
der Ausdruck seines Bedürfnisses, der nackten Wirklichkeit zu entfliehen und
sich durch Literatur zu betäuben. Doch das Buch gewährt ihm diesmal nicht den
gewünschten Fluchtraum, vielmehr konfrontiert es ihn mit einer anderen, ebenso
nackten Wirklichkeit: mit der schonungslosen Wahrheit über ihn selbst. War es
ihm bei seiner ersten, im Anschluß an den Blick auf die Heimat unternommenen
Selbstanalyse noch gelungen, diese Wahrheit auf Distanz zu halten, so scheint ihm
nun jede Möglichkeit genommen zu sein, der unbequemen Einsicht auszuweichen:
Sein Mentor Augustinus spricht ihn ganz persönlich an und hält ihm sein Spiegelbild
unmittelbar vor Augen. Er zwingt ihn, seinen Seelenzustand klar zur Kenntnis zu
nehmen und daraus die nötigen praktischen Konsequenzen für seine Lebensführung
zu ziehen. Es hat also den Anschein, als werde der Bergsteiger durch die Lektüre
der Confessiones aus seiner Betäubung herausgerissen. Der humanistische Leser, der
den verstorbenen Autor wieder ins Leben ruft, wird hier offenbar seinerseits durch
den Autor zu einem neuen Leben erweckt. Erstmals scheint der Leser nicht bloß zu
träumen, sondern das Gelesene in eine echte experientia verwandeln zu können. Der
Text, den Petrarca auf dem Mont Ventoux liest, scheint die Schranke zwischen der
imaginatio und der realen Erfahrungswelt zu überschreiten.
Der Briefschreiber leistet dieser optimistischen Deutung Vorschub, indem er den
Modellcharakter der augustinischen Lektürekonversion herausstreicht. Doch zu-
gleich gibt er zu erkennen, daß sie letztlich nicht auf ihn zutrifft. Der Briefschreiber
ist unfähig, dem Beispiel Augustins zu folgen. Tatsächlich vermag ihn die Lektüre
der Confessiones gerade nicht aufzuwecken. Im Gegenteil, sie betäubt ihn: »Obstu-
pui,« so beschreibt der Briefschreiber seine erste Reaktion auf den vermeintlichen
Orakelspruch.80 Der Text, der im Begriff steht, die Schwelle zur Wirklichkeit zu

78 Famiiiares IV. 1.30.


75 Ebd. IV. 1.31 f.
80 Ebd. IV. 1.28.
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 715

überschreiten, betäubt den Geist und die Sinne des Lesers. D i e Übereinstimmung
zwischen dem Text und der Wirklichkeit, die den Leser aus der Traumsphäre der
Literatur herausholen soll, wirkt ihrerseits traumhaft u n d unwirklich. A u c h bei
seinem ersten Blick v o m Gipfel hatte Petrarca ja geglaubt, unmittelbar sehen zu
können, was bei den Alten zu lesen war. Auch diese Wahrnehmung war die eines
Betäubten. Ahnliches gilt fur die Aussicht auf sein Inneres, die ihm die Confessiones
eröffnen. Er gewinnt Einblick in seine Seele, aber keine Klarsicht. Mehr noch: Nicht
nur der Leser des Orakeltexts, auch sein Verfasser erweist sich als ein Betäubter.
Der Textauszug, den Petrarca auf dem M o n t Ventoux liest, entstammt d e m zehn-
ten Buch der Confessiones. Er steht am Anfang jener großen Meditation über das
menschliche Gedächtnis, die als Uberleitung vom narrativen zum exegetischen Teil
des augustinischen Bekenntniswerks fungiert. Der Satz, der dem Bergsteiger in die
Augen fällt und den er in seiner Epistel zitiert, schließt unmittelbar an die folgende
Passage an:
Magna ista vis est memoriae, magna nimis, deus meus, penetrale amplum et infinitum. Q u i s
ad fundum eius pervenit? Et vis est haec animi mei atque ad meam naturam pertinet, nec
ego ipse capio totum, quod sum. Ergo animus ad habendum se ipsum angustus est, ut ubi sit
quod sui non capit? Numquid extra ipsum ac non in ipso? Q u o m o d o ergo non capit? Multa
mihi super hoc oboritur admiratio, stupor apprehendit me.8I

Ehe Augustinus sich daran begibt, die Funktionsweise des menschlichen Gedächt-
nisses einer genauen Analyse zu unterziehen, versucht er, sich einen Uberblick über
diese rätselhafte Seelenkraft zu verschaffen. Er schaut gleichsam aus der Ferne auf
seine memoria. Aus dieser Perspektive wirkt sie auf ihn wie ein gewaltiger, uner-
gründlicher Innenraum. Sein Blick fällt sozusagen in eine bodenlose Tiefe. Er kann
gerade noch erahnen, daß dieser große Innenraum aus lauter kleineren Innenräumen
besteht und sich in einer unendlichen Flucht von K a m m e r n und H ö h l e n immer
weiter ausdehnt. Der Betrachter sieht sich daher zu dem Eingeständnis genötigt, daß
sein begrenzter Geist die grenzenlose Tiefe der memoria nicht zu erfassen vermag.
U n d doch ist dieses Unendliche ein Teil seines endlichen Selbst. Die Aporie des im
Begrenzten enthaltenen Unbegrenzten verursacht bei Augustinus ein Schwindelge-
fühl - er gleicht dem Bergsteiger, zu dessen Füßen sich plötzlich ein unermeßlicher
Abgrund auftut. Freilich ist der Schwindel, den die W a h r n e h m u n g des inneren,
intellektuellen A b g r u n d s hervorruft, sehr viel wertvoller als die entsprechende
Empfindung des Bergsteigers. Augustinus verurteilt die stumpfsinnige Bewunderung
derer, die sich den vermeintlich erhabenen Gegenständen der äußeren S c h ö p f u n g

81 Confessiones X.8.15. (»Groß ist sie, die Kraft des Gedächtnisses; gewaltig ist sie, mein Gott,
ein weiter, ein unendlicher Innenraum. Wer ist je bis zu seinem Grund vorgedrungen? Und
doch handelt es sich um eine Kraft meines Geistes, und sie gehört zu meinem Wesen, aber
ich selbst fasse nicht das Ganze, das ich bin. Sollte also der Geist zu eng sein, um sich selbst
zu enthalten? Und wo soll das von ihm sein, was er nicht erfaßt? Etwa außerhalb seiner und
nicht in ihm? Wieso also erfaßt er es nicht? Großes Erstaunen darüber steigt in mir auf;
Betäubung erfaßt mich.« [Hervorhebung von mir, Ch. M.]).
716 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

- den Bergen, Meeren und Sternen - zuwenden. Das Gefühl der Betäubung er-
scheint ihm also nur dann gerechtfertigt, wenn es aus der Introspektion hervorgeht.
Das Schwindelgefühl etwa, das durch die Einsicht in die aporetische Verfaßtheit des
menschlichen Geistes erzeugt wird, ist legitim. Gleichwohl ist es kein Selbstzweck.
Der Zweck der inneren Einkehr besteht nicht darin, daß sich das Individuum an
dem Uberblick über die unendlichen Weiten seiner memoria berauscht oder sich
an seiner eigenen Widersprüchlichkeit delektiert. Laut Augustinus ist dieser innere
Fernblick nur eine Momentaufnahme, die nicht um ihrer selbst willen genossen
werden darf, sondern auf Gott, den Schöpfer der memoria., bezogen werden muß.
Die eigentliche Gedächtnismeditation beginnt aber erst dann, wenn das Individuum
sich dazu durchringt, die Position des Uberblicks zu verlassen und in die Tiefe des
Innenraums hinabzusteigen.
Dort, in der Tiefe, sieht die memoria ganz anders aus. Aus der Nähe betrachtet,
macht sie nicht mehr den Eindruck einer erhabenen inneren Landschaft, sie wirkt
vielmehr wie ein undurchdringliches Labyrinth von Höhlen und Gängen. Nach
augustinischer Auffassung weist der Höhlenbau der memoria nämlich keine klar
erkennbare Struktur auf. Im Gegenteil, das Gedächtnis ist der Ort einer gewal-
tigen inneren Dispersion. 82 Die res, die in der memoria gespeichert sind, werden
nicht, wie in den Gedächtnisarchitekturen der antiken Mnemonik, systematisch
geordnet an sorgsam eingerichteten loci aufbewahrt. 83 Sie liegen verstreut umher,
in weit voneinander entfernten, mitunter nur schwer zugänglichen Kammern.
Um sich zu erinnern, genügt es also nicht, einen Blick von oben auf die memoria
zu werfen. Sich erinnern heißt vielmehr: das Zerstreute einsammeln, es zu einem
Ganzen zusammenfügen und durch konzentrierte Betrachtung zusammenhalten,
damit es sich nicht wieder in unzugängliche Höhlen zurückzieht (»ea, quae passim
atque indisposite memoria continebat, cogitando quasi colligere atque animadver-
tendo curare«).84 Unter dieser Voraussetzung gewinnt die augustinische Devise der
Selbsteinkehr ein problematisches Ansehen. Immer wieder fordert Augustinus seine
Mitmenschen dazu auf, sich aus der Zerstreuung an die sinnlichen Gegenstände der
Außenwelt zu sammeln und sich ihrem Inneren, dem göttlichen Einheitsgrund ihres
Geistes, zuzuwenden. Doch es zeigt sich, daß die Innenwelt des gefallenen Menschen
genauso durch Zerstreuung und Vielheit gekennzeichnet ist wie die körperliche
Außenwelt. Das Individuum findet darin Einheit und Ordnung nicht einfach vor,
es muß sie vielmehr durch Erinnerungsarbeit allererst herstellen. Das gilt sowohl
für die >transzendentale< Erinnerung - für den Versuch, Gott selbst in den Tiefen
der memoria aufzuspüren — als auch für die Bemühungen des Individuums, sich den

82
Vgl. dazu J. Coleman: Ancien: and Medieval Memories. S. 90. — Siehe auch oben, S. 357ff.
83
Zu den Gedächtnisarchitekturen der antiken Mnemonik vgl. die klassische Studie von Frances
A. Yates: The Art of Memory. London 1966. S. 17^ί1.
84
Confessiones X. 11.18.
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 717

Zusammenhang seines vergangenen Lebens zu vergegenwärtigen. Was die letzteren


anbetrifft, so ist die visuelle Metapher des Rückblicks nach augustinischer Auffas-
sung nicht dazu geeignet, die Funktionsweise der autobiographischen Erinnerung zu
veranschaulichen. Wer die Erinnerung mit einem Rückblick vergleicht, der versteht
darunter keine bewußte Tätigkeit des Ordnens, Sammeins und Zusammenfügens,
sondern die passive Wahrnehmung eines Zusammenhangs, der sich je schon gebildet
hat. Die Metapher des Rückblicks impliziert, daß der sich Erinnernde eine erhöhte
Position einnimmt, von wo aus der Zusammenhang seines Lebens sich ihm wie von
selbst darbietet. 85 Augustinus konzipiert den Erinnerungsvorgang jedoch nicht als
ein solches distanziertes Schauen, sondern als einen Akt der Entzifferung, der das
Individuum vor die Notwendigkeit stellt, in die Tiefe seiner memoria einzudringen,
Verborgenes und Vergessenes aufzudecken, die disparaten Gedächtnisspuren zu
sammeln und Zusammenhänge somit allererst zu etablieren. Es ist diese mühsame
Tätigkeit der Selbstentzifferung, der Augustinus im narrativen Teil der Confessiones
nachgeht.
Augustinus kontrastiert die Bewunderung, die der Betrachter der Natur ange-
sichts ihrer erhabenen Erscheinungen empfindet, mit dem Staunen, das den Men-
schen überkommt, sobald er der Unergründlichkeit seiner eigenen Seele gewahr
wird. Er gibt diesem Staunen gegenüber jener Bewunderung den Vorzug, macht
aber zugleich auch deutlich, daß die Selbstbetrachtung sich nicht in einem derarti-
gen stupor erschöpfen darf. Wer seine Seele nur aus der Perspektive des Überblicks
betrachtet, der hat den Zustand der Zerstreuung eben noch nicht überwunden, der
bereitet die eigentliche Tätigkeit der inneren Sammlung allenfalls erst vor. Denn um
sich wirklich aus der Zerstreuung zu sammeln, muß das Individuum in jene tieferen
Schichten seiner Seele vordringen, die der bloßen Uberschau verborgen bleiben,

85 Diese Konzeption der Erinnerung wird etwa von Wilhelm Dilthey und seinem Schüler Georg
Misch vertreten. Beide stützen ihre Konzeption auf die großen entwicklungsgeschichtlichen
Autobiographien des 19. Jahrhunderts. Dilthey bestimmt das Erinnern als das rückblickende
Erfassen des individuellen Lebenszusammenhanges unter der Kategorie der Bedeutung. Erin-
nert werden nur die bedeutenden Erlebnisse, das Unbedeutende wird vergessen. Erinnern ist
also kein bewußtes Ordnen, sondern ein spontaner Vorgang. Es bezeichnet die Wahrnehmung
einer Ordnung, die im Erleben selbst schon konstituiert wird, insofern das Erlebnis nämlich
seinerseits eine Einheit von Wahrnehmung und Reflexion darstellt - eine spontane Deutung des
Geschehens und seine Einordnung in den bereits existierenden Lebenszusammenhang. Unter
dieser Voraussetzung kann Dilthey formulieren: »[E]in Zusammenhang ist im Leben selber
gebildet worden, von verschiedenen Standorten desselben aus, in beständigen Verschiebungen.
Da ist also das Geschäft historischer Darstellung schon durch das Leben selber halb getan.«
(W. Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. S. 2 4 7 . )
Vgl. auch Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. 1.1. S. 9f., S. I4f.: »Schließlich
hat, wer es unternimmt, die Geschichte seines eigenen Lebens zu schreiben, dieses als ein
Ganzes vor sich, das seine Bedeutung in sich trägt. In diesem einheitlichen Ganzen haben alle
Tatsachen und Gefühle, Handlungen und Reaktionen, die er aus dem Gedächtnis hervorzieht
[...], ihren bestimmten Platz, dank ihrer Bedeutung für das Ganze. [...] [D]ieses gesteigerte
Durchleben, das rückschauend aus dem Ganzen gestaltet, schafft eine Ausdrucksform, die
nicht anders als wahr sein kann.«
718 Von der Hermeneutik des Willens zur Astbetisierung der Selbsterkenntnis

muß es die verschütteten und zerstreuten Inhalte der memoria zutage fördern und
zu einem Ganzen zusammenfugen. Die nachdrückliche Mahnung Augustins, diesen
entscheidenden zweiten Schritt der Selbstbetrachtung nicht zu unterlassen, wird von
Petrarca auf dem Mont Ventoux bezeichnenderweise überlesen. Das Buchorakel lenkt
seine Augen ausgerechnet auf die Passage aus dem zehnten Buch der Confessiones, in
der Augustinus das schlechte Staunen des Naturbetrachters dem besseren stupor des
Selbstbetrachters gegenüberstellt. Mehr als diese Passage will der Bergsteiger aber gar
nicht zur Kenntnis nehmen. Er gibt sich mit den wenigen Worten zufrieden, die
ihm auf den ersten Blick entgegentreten: »michi in paucis verbis que premisi, totius
lectionis terminus fuit«. 86 Petrarca liest nicht weiter. Hätte er weitergelesen, dann
wäre er auf die Forderung gestoßen, sich nicht damit zu begnügen, die Größe der
Seele aus der Ferne zu bewundern, sondern in diesen Innenraum hinabzusteigen,
um seine teils erhabenen, teils schmutzigen und beschämenden Geheimnisse zu er-
gründen. Dadurch, daß er seine Lektüre abbricht, weicht Petrarca dieser Forderung
aus. Zwar liest er den Orakelspruch als an ihn persönlich adressierte Aufforderung,
einen Akt der Selbsteinkehr zu vollziehen. Doch versteht er unter Selbsteinkehr eben
jenen betäubenden Panoramablick auf die eigene Seele, den Augustinus als unzu-
länglich entlarvt. Das Buchorakel veranlaßt Petrarca zu der Feststellung, daß nichts
bewundernswert sei außer der Seele (»nichil preter animum esse mirabile«). 87 Anstatt
die Erscheinungen der äußeren Natur zu bestaunen, bestaunt er nun den Adel des
menschlichen Geistes (»nobilitatem animi nostri«). 88 Er nimmt sich vor, den Gipfel
menschlicher Betrachtung (»altitudinefm] contemplationis humane«) zu erklimmen,
von wo aus die wahre Größe der Seele erkennbar wird. 89 Die conversio, die durch das
Buchorakel ausgelöst wird, besteht für den Bergsteiger also lediglich darin, daß er die
äußere durch eine innere Gipfelschau ersetzt. Er betrachtet sein Selbst aus der Höhe
und aus der Ferne, um es wie ein Wunder bestaunen zu können.
Der Akt der inneren Einkehr, den Petrarca auf Veranlassung des Buchorakels
durchführt, unterscheidet sich somit nicht von der Selbstanalyse, die er im Anschluß
an seinen Blick in Richtung Italien unternahm. Wiederum hält er das Selbst und
seine Widersprüche auf Distanz, um es zum Gegenstand ästhetischen Genusses zu
machen; wiederum zieht er die betäubte Wahrnehmung dieses Selbst der praktischen
Bemühung um seine Besserung vor; wiederum schiebt er die eigentliche Tätigkeit
der inneren Sammlung auf. Der Briefschreiber evoziert zwar das Muster der augu-
stinischen Konversion, macht sich dieses aber gerade nicht zu eigen. Sein Selbst wird
keiner umwälzenden Veränderung unterworfen. Petrarca bleibt, was er während der
gesamten Bergtour und auch vorher schon immer war - ein narzißtisch auf sein
Selbst fixierter Beobachter, der sich betäubt, um in dieser Wahrnehmung verharren

86
Famiiiares IV. 1.32.
87
Ebd. IV. 1.28.
88
Ebd. IV. 1.32.
89
Ebd. IV. 1.33.
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 719

zu können. Der Text, den er wie ein Orakel behandelt, richtet sich gegen diejenigen,
die sich selbst verlassen (»[qui] relinquunt se ipsos«). Tatsächlich hat der Bergsteiger
sein Selbst während des Aufstiegs ja nie wirklich verlassen. Er ist — sieht man einmal
von dem Blick in Richtung Westen ab, der ihn kurzzeitig aus seinem inneren Gleich-
gewicht brachte — mit der Außenwelt nie richtig in Kontakt getreten. Vielmehr hat
er sich von Anfang an in eine spekuläre Traumwelt eingesponnen. Der Bergsteiger
liest den Orakeltext daher nicht als Aufruf zu einer radikalen Veränderung, sondern
als die vorgeblich vom Mentor Augustinus autorisierte Bestätigung seines bisherigen
Kurses. Sie berechtigt ihn scheinbar dazu, dort zu bleiben, wo er sich schon immer
befand: in einer Umlaufbahn, die ihn in sicherer Entfernung zu den Abgründen
seiner Seele um sein Selbst kreisen läßt. Eine >echte< Konversion nach augustinischem
Muster würde ihn aus dieser Kreisbahn herausreißen. Sie würde ihn dazu zwingen,
sein Selbst zu verlassen und sich dem anderen zu öffnen.

Verweigerung der karitativen Mit-Teilung

W i e sehr Petrarca vor diesem Schritt zurückschreckt, zeigt das Verhalten, das er wäh-
rend der Lektüre des Orakeltexts gegenüber seinem Bruder an den Tag legt. Uber-
haupt ist das Verhältnis Francescos zu seinem jüngeren Bruder Gherardo gut dazu
geeignet, die Beziehung zu beleuchten, die der Bergsteiger zu sich selbst unterhält.
Der Briefschreiber beschreibt das Verhältnis zu Gherardo als eng, aber nicht ganz
unproblematisch. Die Gründe, die ihn dazu bewogen, den jüngeren Bruder mit auf
den Berg zu nehmen, sind in dieser Hinsicht aufschlußreich. Ursprünglich hatte er
beabsichtigt, sich beim Aufstieg auf den Mont Ventoux durch einen seiner Freunde
begleiten zu lassen. Doch so sehr er sich auch im Kreise seiner Bekannten umsah,
er vermochte keinen zu finden, dessen Wünsche und Gewohnheiten vollkommen
mit den seinigen übereinstimmten. Diese Übereinstimmung — »exactissima illa vo-
luntatum omnium morumque concordia« — schien ihm aber für die Durchführung
seines Vorhabens unerläßlich zu sein. 90 Der Briefschreiber vertritt nämlich die (aus
christlicher Sicht ziemlich unorthodoxe) Auffassung, daß das paulinische Wort von
der Liebe, die alles erträgt, nur für den gilt, der zu Hause weilt (»domi«), nicht aber
für den, der in der Fremde unterwegs ist (»in itinere«)." Da unter seinen Freunden
kein geeigneter Kandidat zu finden war, wandte er sich seinem Zuhause zu (»ad do-
mestica vertor«), um die Suche im Familienkreis fortzusetzen, und zwar mit Erfolg:
Sein Bruder erklärte sich bereit, ihn auf seiner Tour zu begleiten. 92
Petrarca wählte den Bruder mithin deshalb als Begleiter aus, weil er glaubte, daß
dieser ihm vollkommen ähnlich sei. Er sah in Gherardo zunächst keinen anderen,
keine eigenständige Persönlichkeit, sondern ein zweites Selbst. Der Bruder sollte die

50 Ebd. IV. 1.3.


" Ebd. IV.1.4 (mit Bezug auf 1. Kor. 13.7).
92 Ebd. IV.1.5.
720 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

Funktion eines Spiegels erfüllen. Er war als eine Art Schutzschild gegen das Fremde
und Unbekannte gedacht, dem sich der Wanderer auf seiner Expedition aussetzen
würde. Petrarca hatte offenbar das Bedürfnis, sein Zuhause in Gestalt des Bruders
mit auf den Weg zu nehmen. Er wollte sich in die Fremde begeben, ohne dieses
Zuhause zu verlassen; er wünschte, dem anderen begegnen zu können, ohne aus sich
selbst heraustreten zu müssen. Francesco hatte die Absicht, den Bruder als ein Me-
dium zu nutzen, das sich schützend zwischen sein Selbst und das andere stellen und
dem Fremden einen vertrauten Anstrich verleihen sollte. Doch Gherardo konnte
oder wollte die Erwartungen nicht erfüllen, die der Bergsteiger in ihn setzte. Schon
beim Aufstieg demonstrierte er seine Eigenständigkeit, indem er einen anderen Weg
als Francesco einschlug, um die Spitze des Berges zu erklimmen. 93 Der Bruder war
es auch, der den Bergsteiger auf dem Gipfel aus seiner Träumerei aufschreckte und
ihn dazu nötigte, den Blick nach Westen zu wenden.
Gherardo begnügt sich folglich nicht mit der Rolle, die Francesco ihm zugedacht
hat. Er weigert sich, die Funktion eines Spiegels auszuüben und seinen Bruder gegen
das andere abzuschirmen. Im Gegenteil, er bemüht sich, dieses andere zur Geltung
zu bringen und Francesco aus seiner Selbstversunkenheit herauszureißen. Der Berg-
steiger sieht in Gherardo daher schließlich keinen Schutzschirm mehr, sondern eine
Gefahr — eine Verkörperung jenes anderen, dem er auszuweichen sucht. Das ist wohl
auch der Grund dafür, daß er den jüngeren Bruder von dem Buchorakel ausschließt.
Denn als Francesco auf dem Gipfel zu seiner Ausgabe der Confessiones greift, öffnet
Gherardo gespannt seine Ohren. 94 Er geht also ganz selbstverständlich davon aus,
daß der ältere Bruder die Lektüre mit ihm zu teilen gedenkt. Doch Francesco liest
den Text still für sich, ja er fordert Gherardo dazu auf, ihn dabei nicht zu stören,
und erteilt dem Wunsch nach brüderlichem Austausch somit eine brüske Abfuhr:
»audiendi[] avidum fratrem rogans ne michi molestus esset, librum clausi«.95
Der Bergsteiger macht hier offenbar Ernst mit seiner Absicht, das Gebot der
Caritas nur zu Hause, nicht aber unterwegs in der Fremde zu beachten. Seine Wei-
gerung, dem jüngeren Bruder einen Liebesdienst zu erweisen, fällt um so deutlicher
ins Auge, als sie eine Abweichung von dem augustinischen Modell der Konversion
darstellt. Augustinus wird bei der Durchführung seines Buchorakels im Mailänder
Garten von seinem Freund Alypius begleitet. Zwar liest auch der Kirchenvater den
Orakeltext still für sich allein. Doch unmittelbar im Anschluß an die Lektüre teilt er
sich seinem Freund mit - er zeigt ihm die Textstelle, die er gerade gelesen hat, und
berichtet über den Entschluß zur Umkehr, den er aufgrund der Lektüre gefaßt hat.
Daraufhin liest Alypius an der Stelle weiter, wo Augustinus seine Lektüre abgebro-
chen hatte; auch er stößt dort auf eine Botschaft, die für ihn persönlich bestimmt

93
Ebd. IV.1.9ff.
94
Ebd. IV. 1.27: »Frater expectans per os meum ab Augustino aliquid audire, intentis auribus
stabat.«
95
Ebd. IV. 1.28.
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 721

zu sein scheint und die ihn seinerseits zur Umkehr bewegt. Die in den Confessiones
geschilderte Konversion ist somit ein intersubjektiver Vorgang. Sie vollzieht sich
im Wechsel von innerer Einkehr und bekenntnishafter Öffnung gegenüber dem
anderen. Für Augustinus ist es undenkbar, daß ein Individuum seine Bekehrung für
sich behält. Die Mitteilung des Erlebten gilt ihm vielmehr als ein unverzichtbarer
Bestandteil des Konversionsgeschehens. Denn nur sie bringt den exemplarischen
Wert der Bekehrung zur Geltung; nur sie kann dafür sorgen, daß die Konversion
kein sporadisch auftretender Einzelfall bleibt, sondern sich in einer Kettenreaktion
von Individuum zu Individuum fortpflanzt. Durch seine Weigerung, Gherardo an
seiner Lektüre zu beteiligen, läßt Petrarca diese Kette abreißen: »Petrarch, in denying
his brother an oracle, in excluding him from conversion, brings to halt the chain
reaction his conversion could and should set off.« 96
Doch warum enthält Petrarca seinem Bruder das Orakel vor? Wieso handelt er
dem christlichen Liebesgebot und dem augustinischen Vorbild zuwider? Es hat den
Anschein, als empfinde der Bergsteiger die Anwesenheit seines jüngeren Bruders als
Bedrohung. Wie aber sieht diese Bedrohung genau aus? Offenbar fürchtet Petrarca,
daß Gherardo ihm etwas wegnehmen will. Michael O'Connell - einer der wenigen
Interpreten, der das unkaritative Verhalten des Bergsteigers einer näheren Betrach-
tung für wert hält - vermutet, daß Petrarcas Weigerung, sich mitzuteilen, nicht auf
mangelnde Bruderliebe, sondern auf die ernsthafte Sorge um seine eigene Bekehrung
zurückzuführen ist. Die Abschottung gegenüber Gherardo ist demnach ein Indiz
dafür, daß Petrarca sich die durch das Orakel vermittelte Wahrheit ganz aneignen
und applizieren will. Er muß seinen Bruder zum Schweigen bringen, um besser auf
Augustinus hören zu können. O'Connell spricht in diesem Sinne von »Petrarch's
desire to appropriate the event and make it his own.«97 Doch diese Formulierung ist

96 J . Robbins: Prodigal Son / Elder Brother. S. 58.


97 M. O'Connell: Authority and the Truth o f Experience in Petrarch's »Ascent o f M o n t Ventoux«.
S. 516. — Die Deutung, die Jill Robbins vorschlägt, zielt in eine ähnliche Richtung, ist aber sehr
viel raffinierter: Sie weist daraufhin, daß Gherardo zum Zeitpunkt der Abfassung von Famiiiares
IV. 1 seine Bekehrung bereits hinter sich hatte (er war 1343 in den Orden der Karthäuser einge-
treten). Petrarca, so argumentiert sie, enthält Gherardo das Orakel deshalb vor, weil er ihm die
Rolle des älteren Bruders aus der biblischen Parabel vom verlorenen Sohn aufzwingen möchte.
Petrarca, der eigentlich der Altere ist, will die Position des jüngeren Bruders übernehmen, um
allein in den Genuß der väterlichen Vergebung gelangen und sein Leben in eine Geschichte
verwandeln zu können: »Since Gherardo has already undergone the renunciation o f the senses
[...] that Petrarch's narrative is anticipating, Gherardo's dramatic story o f conversion could usurp
Petrarch's. In order to counter this threat in >The Ascent o f Mont Ventoux< (which is, after all,
Petrarch's and not Gherardo's story), Petrarch flatens out Gherardo's story. Instead o f an already
(adverted and) converted Gherardo, we find an already righteous Gherardo, one who has never
strayed from the right pass — which is quite a different story, and not much o f a story at that. [...]
In a metaleptic reversal, Petrarch will be, as it were, younger and Gherardo older. By granting
Gherardo priority and thereby assigning him the role o f elder brother to be surpassed, Petrarch
establishes himself as the sole protagonist o f a drama o f salvation. To the same end, Petrarch, in
>The Ascent o f Mont Ventoux«, reverts Gherardo from already converted to already righteous,
does not pass the book on, does not read further.« (Prodigal Son / Elder Brother. S. 60f.).
722 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästbetisierung der Selbsterkenntnis

mißverständlich. Petrarca eignet sich das Orakel gerade nicht in der Weise an, daß er
der darin enthaltenen Wahrheit über sein Selbst aus ganzer Seele zustimmt (assensio)
und sie sich appliziert. Vielmehr scheint ihn das gegenteilige Verlangen zu motivieren
— der Wunsch nämlich, die vollständige Aneignung des Orakelspruchs und die damit
verbundene Bestimmung seines Willens zu verhindern oder aufzuschieben.
Denn ginge es ihm wirklich darum, sich die ganze Wahrheit über sein Selbst
bewußt zu machen und eine innere Umkehr zu vollziehen, dann müßte er gerade
darauf bedacht sein, sich gegenüber einem anderen - seinem Bruder etwa - zu öff-
nen. Laut Augustinus vollendet sich die Konversion erst im Akt der Mitteilung. Die
Mitteilung ist nicht nur insofern ein integraler Bestandteil der Bekehrung, als sie
ihren exemplarischen Charakter zur Geltung bringt. Sie ist insbesondere auch eine
hermeneutische Notwendigkeit. Die karitative Hermeneutik Augustins besagt, daß
die Wahrheit sich nur durch ihre Weitergabe aneignen läßt. Um vollständige Selbst-
erkenntnis zu erlangen, braucht das Individuum die Mithilfe eines anderen. Das
Individuum versteht sich selbst nur im Verstehen des anderen, dem es sich mitteilt.
Auch das Buchorakel im Mailänder Garten offenbart Augustinus nicht schlagartig
die ganze Wahrheit über ihn selbst. Vielmehr setzt es den eigentlichen Prozeß der
Selbsterkenntnis allererst in Gang. Augustinus macht sich diese Wahrheit zu eigen,
indem er sie an andere weitergibt: an Alypius, an seine Mutter und schließlich - in
Gestalt der Confessiones - an die ganze Gemeinschaft der Christen. Die Konversion
begründet einen hermeneutischen Dialog, den der Bekehrte mit seinen Mitmen-
schen und mit Gott führt und in dessen Verlauf er ein tieferes Verständnis seiner
selbst gewinnt.
Wäre Petrarca also tatsächlich darauf aus, sich den Orakelspruch zu applizieren
und vollständige Selbsterkenntnis zu erlangen, dann müßte er das Orakel mit
seinem Bruder teilen. Doch indem er das Orakel für sich behält, vermeidet er die
vollständige Aneignung der Wahrheit. Er hält die Erkenntnisse, die ihm Augustins
Text vermittelt, auf Distanz; er verweigert diesen Erkenntnissen seine rückhaltlose
innere Zustimmung. Das Verhalten des Bergsteigers läßt nur einen Schluß zu: Er will
nicht wissen, wie es genau mit ihm steht. Aus diesem Grunde bricht er die Lektüre
des Orakeltextes vorzeitig ab; aus diesem Grunde auch schweigt er gegenüber dem
Bruder. Petrarca fürchtet nicht etwa, daß Gherardo ihm etwas wegnehmen könnte,
er hat eher Angst davor, zu viel von ihm zu erhalten - eine allzu gründliche Einsicht
in seine Seele nämlich, eine hermeneutische Hilfestellung, die ihn mit den tieferen
Schichten seines Selbst bekannt machen und ihn somit dazu nötigen würde, die
Position des distanzierten Überblicks aufzugeben. Das Gespräch mit dem Bruder
könnte jene Aktivität der inneren Sammlung initiieren, die Petrarca zugunsten des
betäubenden Fernblicks auf seine Seele vertagen möchte. Er will verhindern, daß
Gherardo ihn aus dieser Betäubung weckt.
Der Bergsteiger will den betäubenden Fernblick auf seine Seele perpetuieren,
den ihm das Buchorakel eröffnet hat. Daher wahrt er im Anschluß an die Lektüre
ein striktes Schweigen. Anstatt mit anderen über das Erlebnis zu sprechen, versucht
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 723

er, sich möglichst lange in diesem Erleben zu halten. Er bemüht sich darum, die
erhabene Aussicht auf die innere Landschaft seiner Seele mit seinem geistigen Auge
festzuhalten. Während des Abstiegs vom Berge richtet er seine Aufmerksamkeit nur
auf dieses eine: »ex ilia hora non fuit qui me loquentem audiret donec ad ima perve-
nimus; satis michi taciti negotii verbum illud attulerat.«98 Petrarca steigt körperlich
vom Mont Ventoux hinab, doch zugleich tut er alles, um den seelischen Abstieg vom
Gipfel so lange wie möglich hinauszuzögern. Er versucht, die träumerisch-distan-
zierte Selbstwahrnehmung aufrechtzuerhalten, und reduziert zu diesem Zweck den
Kontakt mit der Außenwelt auf ein Minimum.
Doch der Fernblick auf die eigene Seele erweist sich als labil. Der Eindruck
beginnt zu schwinden, sobald Petrarca das Buch aus der Hand legt. Der Bergsteiger
befindet sich folglich in einem Dilemma: Teilt er sich einem anderen mit, so wird er
dazu genötigt, sein in Widersprüchen befangenes Selbst aus der Nähe zu betrachten
und etwas zur Behebung des inneren Zwiespalts zu unternehmen. Schottet er sich
hingegen rigoros nach außen hin ab, so verflüchtigt sich der stupor, der seiner Seele
trotz ihrer Zerrissenheit ein integrales Ansehen verleiht. Nach der Ankunft in der
Herberge, in der die kleine Gesellschaft sich von den Strapazen der Wanderung
erholen will, eilt der Wanderer deshalb sogleich an das Schreibpult, um die kostbare
Selbstwahrnehmung, die ihm das Orakel vermittelt hat, in schriftlicher Form zu
fixieren, solange sie noch frisch ist: »Interim ergo, dum famulos apparande cene
Studium exercet, solus ego in partem domus abditam perrexi, hec tibi, raptim et ex
tempore, scripturus; ne, si distulissem, pro varietate locorum mutatis forsan affecti-
bus, scribendi propositum deferveret.«99
Mit dem Begriff propositum spielt Petrarca noch einmal auf das im achten
Buch der Confessiones geschilderte Konversionsgeschehen an. Augustinus berichtet
dort, daß er seinem Freund AJypius direkt im Anschluß an das Buchorakel sein
»propositfum] bon[um]« eröffnet habe - seinen Entschluß, ein neues Leben zu
führen. 100 Der Begriff verweist somit auf den geheilten Willen des Bekehrten, auf
die Ausbildung einer stabilen Seelenhaltung. Augustinus legt sich gegenüber AJypius
(und gegenüber allen Lesern der Confessiones) auf seine neue Identität fest; indem er
sich öffentlich dazu bekennt, macht er sich sein neues Selbst zu eigen. Sprechend
wird er zu dem, wovon er spricht. Petrarca dagegen berichtet seinem väterlichen
Ratgeber Francesco Dionigi über ein propositum ganz anderer Art — ein propositum
scribendi. Bei ihm tritt der Entschluß zu schreiben an die Stelle des Entschlusses, ein

98
Famiiiares IV. 1.29. (»Von jener Stunde an konnte keiner mich reden hören, bis wir ganz unten
angelangt waren; jenes Wort hatte mir genügend stumme Beschäftigung gebracht.«).
99
Ebd. IV. 1.35. (»Während das Bereiten des Mahls die Diener in Beschlag nahm, ging ich
unterdessen allein in einen abgelegenen Teil des Hauses, um Dir dies in hastiger Eile und
aus dem Stehgreif zu schreiben, damit nicht, wenn ich es aufschöbe, durch den Ortswechsel
sich die innere Stimmung vielleicht entsprechend ändere und der Vorsatz zum Schreiben
verglühe.«).
100
Confessiones VIII. 12.30.
724 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

neues Leben zu beginnen.101 Denn die Selbstwahrnehmung, die durch das Buchora-
kel auf dem Mont Ventoux ausgelöst wird, läßt sich nicht in eine feste Seelenhaltung
überführen. Die spekuläre Fernsicht auf das Selbst ist außerordentlich fragil. Bei dem
stupor, den der Selbstbetrachter genießt, handelt es sich lediglich um eine vergäng-
liche Stimmung (affectio). Sie ist so vergänglich, daß selbst der Entschluß, darüber
zu schreiben, durch die bloße Veränderung der äußeren Umstände wieder ins
Wanken gebracht werden könnte. Daher duldet die Niederschrift, die dazu beiträgt,
den eigentlichen Akt der Umkehr aufzuschieben, ihrerseits keinen Aufschub. Das
neue Selbst, das dem Bergsteiger durch das Orakel enthüllt wird, ist ein flüchtiges
Traumgebilde. Anders als Augustinus schreibt Petrarca nicht, um dieses neue Selbst
zu inkorporieren - um das, was er mit seinem geistigen Auge sieht, auch zu sein. Das
Schreiben dient vielmehr als Ersatz für eine Inkorporation, die weder möglich noch
erwünscht ist. Das neue Selbst, das sich dem Bergsteiger offenbart, existiert allein in
der Schrift. Es ist ein Effekt der Lektüre und kann nur in Schriftform aufbewahrt
werden. Außerhalb des Buches ist es gar nicht lebensfähig. Nur während er liest
oder schreibt, kann Petrarca die betäubende Fernsicht auf seine Seele genießen. Die
Schrift ist ftir ihn ein Instrument der Selbstbetäubung - mittels der Schrift verschafft
er sich den Abstand, den er braucht, um dieses neue, andere Selbst wahrzunehmen zu
können. Das Orakel markiert folglich auch für ihn den Beginn eines neuen Lebens,
aber er vermag dieses Leben nirgendwo anders als in der Literatur zu führen. Es geht
nicht mehr, wie von den Verfechtern der philosophischen ars vitae gefordert, darum,
durch die Literatur auf die praktische Lebensgestaltung einzuwirken. Die Literatur
gewinnt vielmehr das Ansehen einer eigenständigen, alternativen Lebenssphäre.
Der Text, den Petrarca angeblich unmittelbar nach seiner Rückkehr vom Mont
Ventoux zu Papier bringt, um die flüchtige affectio festzuhalten, ist die vorliegende
Epistel Famiiiares IV. 1. Er schreibt das Erlebte also nicht nur für sich selbst nieder,
sondern er wendet sich dabei an einen konkreten Adressaten. Mehr noch: Petrarca
weist dem Briefempfänger, dem Augustinermönch Francesco Dionigi, die Rolle eines
Beichtvaters zu: »Vide itaque, pater amantissime,« so apostrophiert er seinen Freund,
»quam nichil in me oculis tuis occultum velim, qui tibi nedum universam vitam
meam sed cogitatus singulos tarn diligenter aperio«.102 Der Briefschreiber bekundet
seine Absicht, dem Adressaten Einblick in sein Inneres zu gewähren, und zwar nicht
bloß in Gestalt eines allgemeinen Überblicks. Vielmehr möchte er ihn in allen Ein-
zelheiten mit seinen Gedanken und Gefühlen vertraut machen. Ringt er sich also
doch noch dazu durch, ein Bekenntnis nach augustinischem Muster abzulegen? Ist

101
Vgl. Victoria Kahn: T h e Figure of the Reader in Petrarch's Secretum. In: PMLA 100 (1985).
S. 154-166, hier: S. 163: »[T]he m o m e n t of conversion is deferred by the act of writing itself.
[...] the m o m e n t of self-identity is deferred, the present task of writing insisted on«.
102
Famiiiares IV. 1.36. (»Sieh also, liebster Vater, wie ich nichts in mir vor Deinen Augen verborgen
halten möchte, der ich Dir nicht nur mein gesamtes Leben, sondern auch jeden einzelnen
Gedanken so gewissenhaft eröffne.«).
Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux 725

er schließlich doch dazu bereit, das Orakel mit einem anderen zu teilen und es sich
auf diese Weise ganz anzueignen? Nimmt er das Projekt der inneren Sammlung, das
er immer wieder zu vertagen suchte, doch noch ernsthaft in Angriff?
Es wäre voreilig, diese Fragen mit Ja zu beantworten, nur weil der Briefschreiber
sporadisch von der Rhetorik der Selbstentblößung Gebrauch macht. Zwar öffnet
Petrarca gegenüber Francesco Dionigi sein Herz, aber er führt mit ihm keinen
hermeneutischen Dialog, wie Augustinus ihn in den Confessiones mit G o t t und
seinen Mitmenschen fuhrt. Charakteristisch für diesen Dialog ist das Bemühen des
Bekenntnissubjekts, sich mit den Augen des abwesenden anderen zu sehen, dem es
sich offenbart. Der Bekennende beurteilt sein Handeln und Denken im Vorgriff
auf das Urteil des anderen, ist sich dabei aber stets der Fehlbarkeit und Vorläufigkeit
seiner Interpretation bewußt. Auf diese Weise unterwirft er sein Leben einer verein-
heitlichenden Deutungsperspektive. Nachträglich konstruiert er einen Zusammen-
hang, der seine disparaten Handlungen und Gedanken miteinander verknüpft, und
sammelt sich somit aus der Zerstreuung.
Petrarca dagegen unternimmt in Famiiiares IV. 1 nirgendwo den Versuch, sich
mit den Augen seines Briefadressaten zu betrachten. Er setzt Dionigi in die Position
des Beichtvaters ein, doch klagt er sich ihm gegenüber nicht der Sünde an. Zwar
interpretiert der Bergsteiger das Buchorakel als eine an ihn persönlich gerichtete
Botschaft seiner Mentoren Augustinus und Dionigi, die den Aufstieg auf den Mont
Ventoux als eine sündhafte Verfehlung verurteilt. Der Briefschreiber macht sich dieses
Urteil aber nicht zu eigen. Er schildert die Livius-Lektüre, die Bergbesteigung und
den Gipfelblick, ohne diese Handlungen aus der Perspektive des reuigen Sünders zu
kommentieren. 103 Mit keinem Wort gibt er zu verstehen, daß er um die Äußerlich-
keit und Weltverfallenheit dieser Handlungen weiß. 104 Ebensowenig unternimmt

103 Vgl. T h . Greene: T h e Light in Troy. S. 108.


104 Andreas Kablicz deutet diese Blindheit des Erzählers gegenüber der Sündhaftigkeit seines Tuns als
Bestandteil einer großangelegten »Inszenierung unerkannt bleibender Selbsttäuschung« (Petrarcas
Augustinismus und die Ecriture der Ventoux-Epistel. S. 37). Indem Petrarca eine Erzähler-Figur
präsentiert, die in Selbsttäuschung befangen ist, betreibt er die »Bloßlegung der Selbsteinschät-
zung als Verirrung in sündhaften Irrtum«, und zwar mittels einer »Struktur der Subvertierung des
Ausdrücklichen durch das Implizierte« (ebd.). Doch um den Brief als entlarvende Inszenierung
unentrinnbarer Selbsttäuschung deuten zu können, muß Kablitz dem Autor des Textes jenen
totalen Durchblick zuerkennen, den er dem Erzähler abspricht. Der Text »setzt ein Bewußtsein
der Wahrheit voraus, aber dieses Bewußtsein kann sich nicht mehr anders zur Geltung bringen
als auf dem Umweg einer Repräsentation ihrer Negation« (ebd. S. 63). Laut Kablitz ist die
Epistel eine bewußt inszenierte Demonstration der Unmöglichkeit, der Selbsttäuschung zu
entgehen, doch als solche setzt sie die Existenz einer Autor- und Inszenatorinstanz voraus, die
von jeglicher Täuschung frei ist. Dieser Widerspruch verweist auf das Ideologem, das seiner (im
übrigen brillanten) Deutung zugrunde liegt. Es lautet: Der literarische Text hat immer Recht; er
weiß es immer besser; er besitzt einen überlegenen kognitiven Status; er täuscht sich nie - wenn
Täuschung darin vorkommt, dann handelt es sich um eine bewußt inszenierte Täuschung, die
dazu dient, diese zu demaskieren. Doch Petrarcas Text bietet in diesem Falle nicht den geringsten
Hinweis darauf, daß die Täuschungen die er präsentiert, gewollte Inszenierungen darstellen.
Man muß daher die Möglichkeit zumindest in Betracht ziehen, daß alle drei - der Erzähler,
726 Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis

er den Versuch, den verborgenen Regungen der Sünde in diesem Verhalten auf den
Grund zu gehen. Vielmehr berichtet er neutral und distanziert über das, was er tat
und was er jeweils dabei dachte. Der Briefschreiber bringt in seiner Erzählung somit
keine totalisierende Deutungsperspektive zur Geltung. Er sammelt sich nicht aus der
Zerstreuung, sondern er zeichnet den wechselhaften Verlauf seines widersprüchlichen
Verhaltens auf ebenso sprunghafte Weise nach. Das Denken des Briefschreibers zer-
fällt in eine Folge von cogitatus singuli, von unverbundenen und disparaten Gedanken.
Die Aufgabe, das Disparate zur Einheit zusammenzuführen und darüber ein totalisie-
rendes Urteil zu fällen, wird voll und ganz dem Briefempfänger übertragen.
Auch Augustinus delegiert das definitive Urteil über sein Leben an den anderen
weiter. Doch er tut dies, um die hermeneutische Arbeit mit dem anderen zu teilen.
Indem er das Urteil an den anderen weitergibt, eignet er es sich an. Der Aufschub des
Urteils ist zugleich ein Vorgriff auf das endgültige Verdikt, das aber immer als noch
ausstehend gekennzeichnet wird. Augustinus bettet seine narratio in ein Gespräch
mit Gott ein, um das Urteil des anderen antizipieren und zugleich als Antizipation
markieren zu können. Petrarca hingegen zerstört dieses Gleichgewicht von Antizi-
pation und Aufschub. Ihm geht es nur noch darum, den definitiven Urteilsspruch
zu vertagen. Er verleiht seinem Bericht eine epistolare Form, damit er das Urteil
vollends dem Briefempfänger überlassen kann. Er bürdet die Aktivität der Samm-
lung und der Synthese ganz dem anderen auf. Wenn Giuseppe Billanovich mit seiner
Vermutung Recht hat, daß Petrarca die Epistel erst im Jahre 1353 verfaßt hat, dann
handelt es sich dabei gar um einen unendlichen Aufschub, denn der Briefempfänger
Dionigi war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. 105 Petrarca schreibt also einen Brief, auf
den er keine Antwort erhalten wird. Er wird das Urteil des anderen nie in Erfahrung
bringen, er wird sich folglich auch nie ganz aus seiner Zerstreuung sammeln, sondern
immer in jenem nebeligen Gipfel- und Schwellenbereich verbleiben, von wo aus er
das Widersprüchliche seines Denkens und Tuns erfassen kann, ohne darunter zu
leiden. Der infinite Aufschub des Urteils erlaubt es ihm, sein Selbst im betäubenden
Überblick wahrzunehmen und als Einheit des Disparaten zu (v)erkennen.

der Text und der Autor - gleichermaßen in der Täuschung befangen sind. Die neue ästhetische
Subjektivität, die Petrarca aus der Taufe hebt, «feine spezifische Form der Selbsttäuschung, der
Selbstblendung, der Selbstvergessenheit. Das Ästhetische ist hier nicht eine überlegene Form des
Wissens; es entspringt vielmehr einem dezidierten Willen zum Nicht-Wissen. Die Bereitschaft,
dem literarischen Text ein überlegenes ironisches Wissen zuzuschreiben, teilt Kablitz übrigens
mit der de Manschen Spielart des Dekonstruktivismus. Diese Neigung tritt besonders deutlich
in de Mans Aufsatz »The Rhetoric of Blindness« zutage, in dem er seine Konzeption der de-
konstruktiven Lektüre gegenüber derjenigen Jacques Derridas abgrenzt. Vgl. Paul de Man: T h e
Rhetoric of Blindness: Jacques Derridas Reading of Rousseau. In: ders.: Blindness and Insight.
Essays in the Rhetoric of Contemorary Criticism. London 2 1983. S. 102—141, hier: S. 136: »[I
call] >literaryi, in the full sense of the term, any text that implicitly or explicitly signifies its own
rhetorical mode and prefigures its own misunderstanding as the correlative of its rhetorical nature;
that is, of its >rhetoricity.< It can do so by declarative statement or by poetic inference.«
105
Dionigi verstarb am 31. April 1342 in Neapel. Vgl. G. Billanovich: Petrarca und der Ventoux.
S. 460f.
Schlußbetrachtung

Resümee
Die vorliegende Studie unternimmt den Versuch, das Phänomen der buchgestütz-
ten Subjektivität, das für die europäische Kultur bis in die Frühe Neuzeit hinein
kennzeichnend ist, genealogisch zu erfassen. Sie versteht sich — in Anlehnung an das
Spätwerk Michel Foucaults - als Beitrag zu einer Problemgeschichte abendländischer
Subjektivität, die nicht die abstrakten Theorien, sondern die konkreten Praktiken
analysiert, derer sich die Individuen bedienen, um sich als Subjekte zu konstituie-
ren. Zu diesen Praktiken gehört auch das Lesen und das Schreiben. Durch Lesen
und Schreiben erlangt das Individuum nicht bloß Einsicht in die Beschaffenheit
der Welt und seiner selbst, lesend und schreibend macht es sich diese Wahrheiten
vielmehr auch zu eigen, identifiziert sich mit ihnen und bringt sie in seiner Psyche
zur Wirkung. Lesen und Schreiben figurieren für lange Zeit als die wichtigsten
Instrumente der Selbsterkenntnis und der Selbstgestaltung. Die Art und Weise,
wie gelesen wird, unterliegt dabei tiefgreifenden geschichtlichen Transformationen.
Den verschiedenen Lektüretechniken korrespondieren unterschiedliche Formen
der Selbstverschriftlichung. Der vorliegenden Untersuchung geht es darum, dieses
Wechselverhältnis zwischen Selbstlektüre und Selbstverschriftlichung in seiner
historischen Variabilität aufzudecken und somit die Geschichte der buchgestützten
Subjektivität zugleich auch als Vorgeschichte der neuzeitlichen Autobiographie
kenntlich zu machen.
Die Genealogie der buchgestützten Subjektivität reicht sehr viel weiter in die Ver-
gangenheit zurück, als man erwarten würde. Ihre Wurzeln liegen in der klassischen
Antike. Die Philosophie des klassischen Zeitalters postuliert zwar die unauflösliche
Einheit von Wissensbildung und Subjektkonstitution. Sie orientiert sich am Ideal
eines ungegenständlichen Wissens, das sich in Gestalt einer bestimmten Seelenhal-
tung manifestiert. In der Praxis der ethischen paideia läßt sich dieses Ideal jedoch
nicht verwirklichen. Das Wissen liegt immer erst in gegenständlicher Form vor
und muß in einem gesonderten Verfahrensschritt mit dem Individuum zur Einheit
verbunden werden. Die gegenständliche Wissensform par excellence ist das Buch.
Trotz seiner vehementen Schriftkritik kann auch Piaton nicht umhin, im Rahmen
seiner philosophischen paideia von geschriebenen Texten Gebrauch zu machen. Er
entwickelt daher Verfahrensweisen, die darauf abzielen, die Gegenständlichkeit des
Geschriebenen zu verschleiern. Dazu gehört zum einen die neue Technik der stum-
728

men Lektüre, zum anderen die dieser Technik korrespondierende Darstellungsform


des geschriebenen Dialogs - der dramatisierenden mimesis eines philosophischen
Lehrgesprächs. Der Leser, der die Dialogschrift einer stummen Lektüre unterwirft,
versetzt sich in die Position des Augen- und Ohrenzeugen. Er täuscht sich mit der
Vorstellung, dem Gespräch unmittelbar als Zuschauer beizuwohnen. Da der Leser
aber an der Herstellung dieser Illusion aktiv beteiligt ist, hat die visualisierende
Lektüre zugleich auch einen praktischen Übungseffekt. Ohne sich dessen bewußt
zu sein, ahmt der Leser das Sprachgebaren der handelnden Personen nach. Er verle-
bendigt und vergegenwärtigt sich die Dialogfiguren und übt sich somit mimetisch
in ihre logoi ein.
Bei Aristoteles stellt sich das Problem der Gegenständlichkeit des ethischen
Wissens in einer anderen Form. Er bestimmt die Tugend und die durch sie gewährlei-
stete Eudämonie als energeia, als sich selbst genügende und in sich selbst vollendete
Tätigkeit. Denn wäre sie ein gegenständliches ergon, dann könnte sie wie das vom
Handwerker hergestellte Werkstück entäußert und vom Moralsubjekt abgespalten
werden. Um die entfremdende Vergegenständlichung von Tugend und Glück zu
verhindern, plädiert Aristoteles dafür, die theoretische Unterweisung im Bereich der
moralischen Bildung auf ein Minimum zu reduzieren. Theoretischer Unterricht, der
auf Bücher rekurriert, ist nur etwas für Fortgeschrittene, die bereits tugendhaft sind.
Erwerben läßt sich die Tugend jedoch allein durch praktische Einübung in tugend-
haftes Verhalten. Aristoteles wertet das Konzept der Übung somit ganz entschieden
auf. Allerdings zeigt es sich, daß die durch praktische Übung erworbene Tugend so
eng mit dem Moralsubjekt verbunden ist, daß es sein eigenes Verhalten nicht zu be-
urteilen vermag. Um ein Urteil fällen und sein Glück ermessen zu können, muß sich
das Individuum objektivieren und sein tugendhaftes Tun eben doch in Gestalt eines
ergon aus sich herausstellen. Wie Piaton ist auch Aristoteles dazu genötigt, die Unab-
dingbarkeit gegenständlicher Wissensformen anzuerkennen, und wie sein Vorgänger
versucht auch er, ihren gegenständlichen Charakter zu verschleiern: zum einen im
Rahmen seiner Ethik der Freundschaft (der Freund als mit dem Selbst verbundener
Gegenstand ethischer Bemühungen), zum anderen in Gestalt der musikalischen
Übung (das Musikstück als Entäußerung des tugendhaften Charakters, das aufgrund
seiner Flüchtigkeit vor Mißbrauch gefeit ist). Die naheliegende Möglichkeit, daß
das Individuum durch Selbstverschriftlichung oder durch narrative Formen der
Selbstobjektivierung zu einem Bewußtsein seines moralischen Werts gelangt, taucht
zwar am Horizont der aristotelischen Überlegungen zum Wesen des Glücks für einen
kurzen Moment auf (Beispiel des Priamos), wird aber brüsk zurückgewiesen. Die
direkte Selbstdarstellung erscheint in der klassischen Antike nicht als ein gangbarer
Weg, da sie die offenkundige Vergegenständlichung des Selbst und somit das Her-
ausfallen desselben aus der kosmischen Ordnung impliziert.
Aristoteles schreibt der Urteilskraft (phronesis) in seiner Ethik eine Schlüsselrolle
zu. Da die aristotelische pbronesis aber ein Produkt der rein praktischen Übung ist,
weist sie ein Defizit auf: Das Moralsubjekt ist nicht dazu fähig, sein eigenes Tun zu
Schlußbetrachtung 729

bewerten. Die rhetorische und philosophische Ausbildung des hellenistischen Zeital-


ters bemüht sich darum, dieses Defizit zu beheben. Eine Vorreiterrolle kommt dabei
der Rhetorik zu. In der Rhetorik setzt sich schon früh die Auffassung durch, daß es
nicht genügt, sich fleißig im Reden zu üben, um ein guter Redner zu werden. Das
Urteilsvermögen läßt sich vielmehr nur dadurch schulen, daß der angehende Rhetor
die Reden, mit denen er Umgang pflegt, in schriftlicher Form vergegenständlicht.
Er soll die schriftlich abgefaßten Musterreden seiner Lehrer gründlich studieren,
um die Kunstmittel zu erfassen, die darin eingegangen sind. Er soll aber auch seine
eigenen Reden in schriftlicher Form komponieren, denn nur so ist er in der Lage,
seine Hervorbringungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Das indicium des
angehenden Redners bildet sich durch Lektüre- und Schreibübungen.
Der Versuch, eine kritische Distanz zwischen dem Subjekt und seiner eigenen
Rede zu eröffnen, wird auch in den hellenistischen Philosophenschulen, insbeson-
dere aber von den Stoikern unternommen. Der Lehrer ist darum bemüht, seinen
Schüler auf Abstand zu halten. Anstatt ihn in ein Gespräch zu verwickeln und direkt
auf seine besondere Situation einzugehen, trägt er die philosophischen Wahrheiten in
zusammenhängender Rede vor und vermeidet es dabei, Aneignungshilfen zu geben.
Der Schüler soll die Wahrheiten nicht unreflektiert in sich aufnehmen, sondern
einer sorgfältigen Prüfung unterziehen, um sie dann - in einem zweiten Schritt
- auf sich selbst anzuwenden. Die Einrichtung eines Abstands zwischen Lehrer und
Schüler zielt darauf ab, die dialektische Struktur zu verinnerlichen: An die Stelle des
Lehrgesprächs soll das Selbstgespräch des Schülers treten, das dieser auf Veranlassung
der Lehrerworte führt.
Dieser neue Abstand zwischen Lehrer und Schüler läßt sich am besten mit
Hilfe der Schrift etablieren. Die schriftliche Unterweisung gilt nun erstmals nicht
als minderwertiger oder gar gefährlicher Ersatz für den mündlichen Unterricht.
Im Gegenteil, gerade die in schriftlicher Form vorliegende Lehrerrede kann den
angehenden Philosophen dazu animieren, die erwünschte Haltung kritischer
Wachsamkeit auszubilden. In diesem Sinne unternimmt Seneca in seinen Lucilius-
Briefen den Versuch, seinen Freund allein auf dem Wege des Schriftverkehrs zu einer
philosophischen Lebensweise zu erziehen. Die Erziehung zur Philosophie beinhaltet
auch eine Erziehung zum richtigen Lesen. Der neuen pädagogischen Methode kor-
respondiert ein spezifisches Lektüreverfahren. Das Lesen steht nicht mehr, wie noch
bei Piaton, in Analogie zur visuellen Schau; der Leser übt sich nicht mehr unbewußt
in die philosophischen logoi ein. Laut Seneca soll sich der Leser die logoi vielmehr
ganz bewußt zu eigen machen, indem er von seinem Urteilsvermögen Gebrauch
macht. Seneca favorisiert eine >kannibalische< Lektüre: Der Leser soll die >Haut<
seines Lehrers, der sich in einem Text >verkörpert< hat, durchdringen und so an
die darin enthaltenen >nahrhaften< Wahrheiten gelangen. Er soll sich ihrer auf dem
Wege literarisch-reflexiver Verdauungstätigkeit bemächtigen — dadurch nämlich, daß
er die übernommenen Wahrheiten seinerseits in einem neuen Werk >inkorporiert<.
Dieses corpus zeichnet sich idealiter durch seine Integrität und Geschlossenheit aus
730

und bezeugt somit die charakterliche Stärke seines Verfassers - die beständige Auf-
merksamkeit seines indicium.
Die stoische Philosophie befördert also die Entstehung einer Praxis der indirek-
ten literarischen Selbstdarstellung. Der kohärente, stringent argumentierende und
in sich geschlossene Text verweist auf die feste Seelenhaltung seines Verfassers. Ein
einheitliches Werk läßt darauf schließen, daß sein Urheber mit sich eins ist. Doch
nicht nur die indirekte, auch die direkte Selbstdarstellung gelangt im Rahmen der
stoischen ars vitae zum Durchbruch. Zum ersten Mal startet ein Individuum den
Versuch, sein Selbst unmittelbar zu verschriftlichen und es in Gestalt eines Textes
zu objektivieren. Marc Aurel eröffnet die zwölf Bücher seiner Aufzeichnungen mit
einem Rückblick auf sein bisheriges Leben. Darin verzeichnet er alle Kenntnisse
und Bildungseinflüsse, die er seinen Erziehern zu verdanken hat. Es handelt sich bei
dieser Retrospektive aber nicht um die narrative Vergegenwärtigung vergangener
Ereignisse, sondern um eine summarische, stichpunktartige Aufstellung, die im
Gegenteil darauf abzielt, einen Abstand zwischen dem Verfasser und seinem ver-
gangenen Leben zu etablieren. Mittels der Aufstellung verwandelt Marc Aurel die
Vergangenheit in ein beherrschbares Objekt und löst sie von sich ab. Er befreit sich
aus der Abhängigkeit von seinen Lehrern und macht sich das, was sie ihm gaben,
ganz zu eigen. Die Lebensrückschau erlaubt es ihm, die Position des anderen zu
verinnerlichen und als sein eigener Lehrer zu agieren. Sie initiiert das Selbstgespräch,
das der Kaiser in den Büchern II bis XII führt. Die direkte Selbstverschriftlichung
Marc Aurels steht im Zeichen der Autarkie und der Autonomie.
Das theologische und autobiographische Werk des Kirchenvaters Augustinus
markiert den Ubergang von den antiken Selbsttechniken zu einer neuen Form
von rapport ä soi: der christlichen Selbsthermeneutik. Dieser Wechsel erfolgt nicht
abrupt. Es handelt sich dabei vielmehr um einen mit zahlreichen Widersprüchen
behafteten Prozeß. Das dialogische Frühwerk Augustins ist dazu geeignet, diesen
zu veranschaulichen. Augustinus vollzieht darin zunächst die Entwicklung nach,
die für die Philosophie des hellenistischen Zeitalters kennzeichnend ist: den Schritt
von der dialogischen Interaktion zwischen Lehrer und Schüler zum Selbstgespräch
des Philosophen, der sich in meditativer Einkehr der Wahrheit zu versichern sucht.
In De ordine fuhrt Augustinus das Scheitern seiner Bemühungen vor, seine Schüler
mittels des Dialogs zur Einsicht in den ordo rerum zu fuhren. Er zieht daraus die
Konsequenz, daß diese Einsicht nur auf dem Wege des Soliloquiums, des inneren
Zwiegesprächs zwischen dem Wahrheitssucher und seiner eigenen Vernunft, zu
erlangen sei. Die Soliloquia setzen ein solches Gespräch in Szene, bezeugen aber
zugleich auch sein Mißlingen. Dem Soliloquisten wird die Einsicht in das Wahre
nur in Gestalt von sporadischen Erleuchtungen zuteil, die sich mit dialektischen
Mitteln nicht bändigen lassen. Die abstrahierende collectio, welche die analytisch
gewonnenen Teilerkenntnisse in eine totalisierende Wahrheitsschau überfuhren soll,
scheitert. An ihre Stelle tritt die narratio, die den Erkenntnisprozeß nicht auf die
von Akzidentellem bereinigten Denkresultate reduziert, sondern im Gegenteil den
Schlußbetrachtung 731

kontingenten Umständen ihrer Gewinnung Rechnung trägt u n d gerade darin den


zeichenhaften Vorschein einer alles umfassenden O r d n u n g sieht. Die umständliche
diegesis des Gesprächs ersetzt die dramatisierende mimesis, wie sie für den platoni-
schen Dialog charakteristisch ist.
Augustinus geht also darin über die hellenistische u n d spätantike Philosophie
hinaus, daß er das Soliloquium als ungeeignet erweist, dem Individuum zur Selbst-
und Gotteserkenntnis sowie zur Ausbildung einer festen Seelenhaltung zu verhelfen.
Hinter dieser Einsicht in die Unzulänglichkeit des Selbstgesprächs steckt eine neue
Anthropologie, die in der Erbsünden- u n d Gnadentheologie des Kirchenvaters
systematisch entfaltet wird. Sie bildet wiederum die Basis für ein innovatives herme-
neutisches Konzept. Das menschliche Individuum besitzt demnach eine verborgene
Innen- und Tiefendimension, die der Entzifferung bedarf. Da seine Seele durch die
Erbsünde geschwächt ist, ist die Einsicht, die es im Inneren erlangt, aber stets nur
unvollkommen. Die innere Einkehr genügt sich niemals selbst. Das Individuum
m u ß sich vielmehr nach außen hin öffnen und das innerlich Geschaute in Form ei-
nes Bekenntnisses mitteilen, mit anderen teilen. N u r dadurch, daß es die Erkenntnis
weitergibt, kann es sie in einen (vorläufigen) Besitz überfuhren. Das Individuum ver-
steht sich selbst im Verstehen des anderen, dem es sich mitteilt. Die hermeneutische
Hilfeleistung des anderen steht im Zeichen der Caritas. Das Individuum unterwirft
sich mit seinem Bekenntnis nicht bedingungslos der väterlichen Autorität einer pa-
storalen Kontrollinstanz, die ihm sein Bild der Wahrheit aufzwingt. Der andere soll
dem Bekennenden vielmehr mit dem gleichen Verständnis entgegenkommen, mit
dem sich die Mutter auf das hilflose Gestammel ihres infans einläßt. Seine hermeneu-
tische Hilfestellung ist nur ein Deutungsvorschlag, der seinerseits der Entzifferung
bedarf, so daß endgültige Gewißheit niemals erreicht werden kann. Das Individuum
spricht immer nur im Vorgriff auf das Verstehen des anderen, dessen Position es sich
aber letztlich nicht anzueignen vermag. Wo die stoische Selbsttechnologie darauf
abzielt, die Figur des anderen zu verinnerlichen, da verweist Augustinus auf die
Unmmöglichkeit einer solchen Internalisierung und somit auf die Unabschließbar-
keit des selbsthermeneutischen Prozesses.
Augustinus setzt die karitative Hermeneutik der Mit-Teilung, die er in De cate-
chizandis rudibus und De doctrina christiana theoretisch erörtert, in seinem großen
Bekenntniswerk praktisch um. Er teilt in den Confessiones keine fertige Selbster-
kenntnis mit, sondern er verfertigt diese allererst im hermeneutischen Dialog mit
Gott und den Menschen, vor denen er sich enthüllt. Die Bekenntnisse sind daher
nicht das Paradebeispiel einer totalisierenden Selbstdarstellung, als das sie die litera-
turwissenschaftliche Autobiographieforschung zu präsentieren pflegt. Die im achten
Buch geschilderte Konversion markiert keine Epiphanie, die den Autobiographen
dazu befähigt, sein Leben als Einheit aufzufassen. In der Konversionsszene wird Au-
gustinus nicht direkt von Gott angesprochen, vielmehr empfängt er eine zweideutige
Botschaft, die er sich nur durch einen >Deutungsraub< aneignen kann. Der Makel
der Ungewißheit, der dem Konversionserlebnis infolgedessen anhaftet, veranlaßt
732

den Autobiographen dazu, in seiner Vergangenheit nach Zeichen zu fahnden, die


auf das Bekehrungsgeschehen vorausweisen. Einerseits soll die Bekehrung Licht auf
sein vergangenes Leben werfen, andererseits soll dieses die Deutung der Ereignisse
im Mailänder Garten als Konversion glaubhaft machen.
Die Einheit des Lebens, das Augustinus zur Darstellung bringt, steht somit unter
einem Vorbehalt. Der Autobiograph trägt ihm zum einen dadurch Rechnung, daß
er das Ende seiner Lebensgeschichte offen gestaltet. Anstatt sie in der Schilderung
seiner Bischofsweihe und somit in der Übernahme einer Position väterlicher Au-
torität kulminieren zu lassen, beschließt er den narrativen Teil der Confessiones mit
dem Tod der Mutter, deren Nachfolge er in gewisser Weise antritt. Zum anderen
verzichtet er darauf, sich durch sein Gedächtnis einen klar markierten Beginn seiner
Lebensgeschichte vorgeben zu lassen, und bekennt sich statt dessen zu den frem-
den, unsicheren Anfängen der infantia, die im Zeichen der totalen Abhängigkeit,
insbesondere aber der Bindung an die Mutter stehen. Während der Verfasser der
stoischen Selbstdarstellung darum bemüht ist, solche Verbindungen zu kappen
und das Subjekt in die autonome Lehrer- und Vater-Position einzusetzen, hält das
augustinische Bekenntnissubjekt den als heteronom markierten Ursprüngen seiner
selbst die Treue.
Die von Augustinus betriebene Umkodierung der pastoralen Instanz nach dem
Leitbild der mütterlichen Fürsorge ist einer der Gründe dafür, daß die Confessiones
im Mittelalter nicht den Status eines verbindlichen Musters der Selbstanalyse erlangt
haben. Die im Bekenntniswerk vollzogene Aufweichung der pastoralen Autorität
und das damit verbundene Bemühen, dem Sünder die Deutungshoheit über sein
Innenleben zu übertragen, stellen die Schlüsselgewalt der Geistlichkeit in Frage, die
seit dem Laterankonzil von 1215 eine zunehmende Stärkung erfährt. Die eigentliche
Rezeption der Confessiones setzt daher erst am Ausgang des Mittelalters ein, als die
bis dahin dominierende Basisideologie der Scholastik von Seiten des Nominalismus
und des frühen Humanismus unter Druck gerät. In dieser Situation wird das augu-
stinische Bekenntniswerk zum Ansatzpunkt für die Herausbildung einer spezifisch
neuzeitlichen Form von Subjektivität.
Das autobiographische Werk Francesco Petrarcas bietet dafür ein anschauliches
Beispiel. Petrarca unternimmt den paradoxen Versuch, die antike ars vitae mit der
christlichen Selbsthermeneutik zu verknüpfen. Er bemüht sich darum, das stoische
Verfahren der Selbstformung durch Lektüre und die augustinische Praxis der Sün-
denanalyse zusammenzuführen. In diesem Bemühen stilisiert er Augustinus zum pa-
radigmatischen Leitbild eines dezidiert christlichen Humanismus. Die Zusammen-
fuhrung von stoizistischer Selbstkultur und augustinischer Selbstanalyse erfolgt unter
erschwerten Bedingungen. Denn Petrarca ist sich des historischen Abstands bewußt,
der ihn von seinen Vorbildern trennt. Er entwickelt daher ein Lektüreverfahren,
das es ihm ermöglichen soll, diesen Abstand zu überbrücken. Petrarca konzipiert
das Lesen als ein Gespräch mit dem Autor. Der Leser aktualisiert den überlieferten
Text, indem er ihm das Gesicht und die Stimme des historischen Autors verleiht und
Schlußbetrachtung 733

sich von dieser imaginären Instanz ansprechen läßt. Er liest den Text als Ausdruck
und Abbild der individuellen Persönlichkeit seines Verfassers. Abbild des Autors ist
der Text aber nicht insofern, als er — wie bei Seneca — durch seine Kohärenz und
Geschlossenheit auf die charakterliche Integrität seines Produzenten verweist. Der
überlieferte Text ist keine geschlossene Einheit, sondern Ruine und Fragment, und
er verweist auch nicht auf ein integrales Selbst, sondern auf eine widersprüchliche
und zerrissene Persönlichkeit. Nur als widersprüchliche Gestalt kann der Autor aus
seiner monumentalen Entrückung hervorgeholt und in eine >menschliche< Nähe
zum Leser gebracht werden. Die Widersprüchlichkeit der Autorpersönlichkeit hin-
dert den Leser allerdings daran, sich rückhaltlos mit seinem Vorbild zu identifizieren.
Die gebrochene Identifikation des >modernen< Rezipienten mit dem Autor stellt die
Möglichkeit in Frage, sich die überlieferten Wahrheiten vollkommen anzueignen
und der ethischen Selbstformung dienstbar zu machen.
Die vollkommene Aneignung der Wahrheit und die dadurch hervorgerufene
Transformation des Selbst ist von Petrarca aber letztlich auch gar nicht intendiert.
Entgegen seinen programmatischen Aussagen zielt er auf die Errichtung eines äs-
thetischen Selbstverhältnisses ab, dessen Zweck nicht darin besteht, verändernd auf
die als widersprüchlich erfahrene eigene Persönlichkeit einzuwirken, sondern darin,
einen Standpunkt zu finden, der es ihm ermöglicht, aus der Betrachtung seines
Selbst, so mangelhaft und widersprüchlich dieses unter ethischen Gesichtspunkten
auch erscheinen mag, einen narzißtischen Genuß zu ziehen. Das Secretum fuhrt diese
Flucht aus der Ethik in die Ästhetik deutlich vor Augen. Es inszeniert eine paradig-
matische Lektüre des augustinischen Bekenntniswerks. Petrarca tritt mit dem Autor
der Confessiones in ein Gespräch - vorgeblich, um sich die in dem Text enthaltenen
Wahrheiten zu applizieren. Der als Gesprächspartner zu neuem Leben erweckte
Augustinus soll Petrarca mit der Wahrheit über seinen Seelenzustand konfrontieren,
ihn aus dem Schlaf der Sünde aufwecken und zur Durchführung einer radikalen
Selbstreform animieren. Doch >Augustinus< verstrickt sich in Widersprüche. Seine
Argumentation ist nicht schlüssig. Zwar führt er seinen Schützling zur Einsicht
in die Zerrissenheit seiner Seele, doch ist diese Einsicht nicht klar genug, um den
Sünder zur Umkehr zu bewegen. Anstatt die grausame Wahrheit zu demaskieren,
hüllt er sie in einen begütigenden Schleier. Er selbst ist als literarische Figur dieser
Schleier, der die Konfrontation mit der nackten Wahrheit aufschiebt. Das Gespräch
mit >Augustinus< verliert seinen instrumentellen Charakter. Es ist kein Mittel zur
moralischen Selbstreform mehr, es wird zum Selbstzweck. Petrarca gibt zu, daß
ihm die Auseinandersetzung mit >Augustinus< nicht etwa Pein, sondern einen süßen
Genuß (»dulcedo«) bereitet, der jedoch in dem Moment verschwindet, in dem er
das Buch und den Schreibstift aus der Hand legt. Das ästhetische Selbstverhältnis,
das ihm seine Persönlichkeit als Einheit der Widersprüche erfahrbar macht, existiert
immer nur solange, wie er liest oder schreibt. Es handelt sich um ein textuelles
Selbst, das sich nicht aus der Literatur in den Bereich der moralischen Lebenspraxis
transponieren läßt.
734

Eine emblemarische Ausprägung findet dieses ästhetische Selbstverhältnis in der


panoramatischen Gipfelschau, die Petrarca in Famiiiares IV. 1 beschreibt. Der Blick
vom Gipfel des Mont Ventoux markiert zugleich den Lebensrückblick des Brief-
schreibers. Er überschaut seinen bisherigen Lebensweg — nimmt die Verirrungen
wahr, die er sich hat zuschulden kommen lassen, die Bemühungen um Selbstkorrek-
tur, den Konflikt einander widerstrebender Neigungen, der in seiner Seele tobt. Bei
Marc Aurel erfüllt der Lebensrückblick eine paränetische Funktion: Mit seiner Hilfe
nötigt sich der Kaiser dazu, die immer wieder aufgeschobene Selbstreform endlich zu
vollziehen. Bei Augustinus bildet der erhabene Fernblick auf die Abgründe der Seele
den Auftakt zu einer langwierigen Entzifferungsarbeit: Der Autobiograph steigt in
die Tiefen der memoria hinab, um seine Sünden aus der Nähe zu betrachten und sich
seine Verderbtheit bewußt zu machen. Petrarca dagegen findet an diesem distanzier-
ten Blick aus der Höhe sein Genügen. Er enthüllt ihm die Widersprüche, die sein
Leben kennzeichnen, aber er erzeugt auch den Eindruck, daß diese Diskrepanzen
Teil eines Ganzen sind, das seine individuelle Persönlichkeit ausmacht. Im Rückblick
sieht er sich selbst als idiosynkratische Einheit der Widersprüche.

Ausblick: Michel de Montaignes essayistische Selbstenteignung


Der Lebensrückblick, den Petrarca in Famiiiares IV. 1 in Form der Gipfelschau ver-
sinnbildlicht, deutet in zweierlei Hinsicht auf die autobiographischen Praktiken der
Neuzeit voraus — je nachdem, ob man das Moment der Einheit oder dasjenige der
Widersprüchlichkeit akzentuiert. Er verweist einerseits auf die entwicklungs- und
bildungsgeschichtlichen Selbstdarstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts, die dem
Erinnerungsvermögen des Autobiographen eine einheits- und identitätsstiftende
Funktion zuschreiben. In diesem Sinne kontrastiert etwa Johann Gottfried Herder
den Verfasser eines religiösen Bekenntnisses mit dem Erzähler einer pragmatischen
Lebensgeschichte. Ersterer versenkt sich in sein Inneres, grübelt jeder einzelnen
sündhaften Regung nach und erkennt sich eben deshalb immer »nur Stückweise«;
bei ihm wird »Ein Tag oder Eine Stunde vom Ganzen abgerissen, und dergestalt furs
ganze Leben genommen [...], als ob mit ihnen der Strom der Zeit stille stände«.1
Letzterer hingegen vermeidet es, den verborgenen Inhalten seines Gedächtnisses
nachzuforschen. Er läßt sich vielmehr den Stoff seiner Lebensgeschichte durch die
frei agierende Erinnerung vorgeben, die spontan eine Auswahl trifft und dem Auto-
biographen auf diese Weise ein narzißtisch verklärtes, integrales Idealbild seines Ichs

' Johann Gottfried Herder: Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst. In: ders.:
Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 18. Berlin 1883. S. 3 5 9 - 3 7 6 , hier: S. 368f.
— Zu Herders Autobiographiekonzeption vgl. Christian Moser: Der »Traum der schreibenden
Person von sich selbst«. Autobiographie und Subjektkonzeption bei Johann Gottfried Herder.
In: Herder Jahrbuch 1996. Hg. von Wilfried Malsch, Hans Adler und Wulf Koepke. Stuttgart
und Weimar 1997. S. 3 7 - 5 6 .
Schlußbetrachtung 735

präsentiert, den »glänzende[n] Traum von uns selbst, das Aggregat unserer geheimen
Kräfte, Anstrebungen und Wünsche.« 2
Petrarcas Lebensrückblick vermittelt ihm aber nicht nur die Illusion der Integrität
seines Selbst. Er zeigt ihm auch die Widersprüche auf, die dieses Selbst kennzeich-
nen. Der Rückblick macht seine innere Zerrissenheit sichtbar, ohne daß er darunter
leidet. Er erkennt, daß er nicht mit sich selbst übereinstimmt, und fühlt sich doch
nicht dazu genötigt, etwas dagegen zu unternehmen. Vielmehr beugt er sich mit
einer gewissen Neugier und Befriedigung über die Komplexität, die sein Innenleben
charakterisiert. Dieses von moralischen Zwängen entlastete Interesse an der wider-
sprüchlichen Verfaßtheit der eigenen Persönlichkeit weist auf die Selbstversuche
voraus, die Michel de Montaigne in seinen Essais anstellt. 3
Tatsächlich schlägt Montaigne einen ganz ähnlichen Weg wie sein frühhumanisti-
scher Vorläufer ein. Das gilt auch für sein Verhältnis zur Uberlieferung. Sein Haupt-
anliegen, so erklärt er, besteht nicht darin, sich ein Sachwissen anzueignen oder sein
Urteilsvermögen im Sinne des stoischen Ideals der constantia zu festigen. Der Essayist
richtet seine Aufmerksamkeit weniger auf die in den Texten überlieferten res und
sententiae als auf die Persönlichkeiten ihrer Verfasser. Wenn er die Schriften der Alten
liest, dann urteilt er nicht über ihren Wahrheitsgehalt, er prüft nicht, ob er den darin
geäußerten Ansichten mit ganzer Seele zustimmen kann. Die Ansichten interessieren
ihn vielmehr nur insofern, als sie den Charakter des Verfassers zum Ausdruck brin-
gen. Es ist die Persönlichkeit des Autors, nicht die sachbezogene Wahrheit, mit der
Montaigne als Leser in Verbindung treten will: »Et tous les jours [je] m'amuse ä lire
en des autheurs, sans soin de leur science, y cherchant leur fa^on, non leur subject.
Tout ainsi que je poursuy la communication de quelque esprit fameux, non pour
qu'il m'enseigne, mais pour que je le cognoisse.«4 Wie Petrarca so konzipiert auch
Montaigne die Lektüre als ein Gespräch mit dem Autor. Auch er will herausfinden,
wie der Autor dachte und fühlte. 5
Das Interesse am Autor ist bei ihm allerdings etwas anders gelagert als bei Petrar-
ca: Der Leser Montaigne sieht in der Verfasserpersönlichkeit nicht die exemplarische
Verkörperung eines sittlichen Ideals, das den >modernen< Mangel an experientia zu
kompensieren vermag, er strebt vielmehr nach anthropologischer Erkenntnis, er

2
J. G. Herder: Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst. S. 370.
3
Zu den Affinitäten zwischen Petrarca und Montaigne vgl. auch K. Stierle: Francesco Petrarca.
S. 179-184, S. 2 1 6 - 2 2 2 .
4
Montaigne: Essais S. 906.
5
Steven Rendall sieht in Montaigne den Vorkämpfer für eine neue Form des Lesens: »The
emergence of the Author is associated with a demand for a different kind of reading, whose
goal is not the transfer and application of traditional wisdom to new contexts, but rather the
determination of what the author had in mind.« (S. Rendall: Distinguo. Reading Montaigne
Differently. Oxford 1992. S. 70.) Rendall übersieht dabei, daß diese Lektüretechnik im
16. Jahrhundert gar nicht mehr neu ist. Vielmehr wurde sie bereits im Frühhumanismus
praktiziert (Petrarca); ihre Wurzeln liegen in der augustinischen Willenshermeneutik.
736

sucht in den Charakteren der Autoren die diversen Erscheinungsformen der mensch-
lichen Natur. »[J]'ay une singuliere curiosite«, so begründet er etwa seine Vorliebe
für das Genre des Briefes, »[...] de connoistre Tame et les na'ifs jugemens de mes
autheurs.« 6 Dem Wunsch, die menschliche Natur in der Vielfalt ihrer Ausprägungen
kennenzulernen, entspricht das Verlangen des Essayisten, seine eigene Natur bekannt
zu machen: »Je suis affame de me faire connoistre«. 7 Er schreibt die Essais nicht, um
Sachkenntnisse mitzuteilen. Vielmehr will er sein Selbst zur Darstellung bringen,
und zwar in seiner natürlichen, unverbildeten Form: »C'est icy purement Γ essay de
mes facultez naturelles, et nullement des acquises [...]. Ce sont icy mes fantasies, par
lesquelles je ne tasche point ä donner ä connoistre les choses, mais moy«. 8 Die Essais
sind weder ein theoretischer Text, in dem philosophische Sachfragen erörtert werden,
noch sind sie Teil einer ethopoetischen Praxis, bei der es darum geht, verändernd
auf das Selbst des Leser-Schreibers einzuwirken. Der Verfasser der Essais formt sich
nicht selbst, sondern er zeigt die Form auf, die sein Selbst bereits besitzt: »Les autres
forment l'homme; je le recite et en represente un particulier bien mal forme«. 9
Die Form, die den Essayisten interessiert, ist nicht diejenige, die dem Selbst durch
Erziehung und Kulturisation aufgeprägt wird. Er hat es vielmehr auf die Erkenntnis
und Darstellung der Form abgesehen, die dem Individuum von Natur aus zu eigen
ist. Jeder Mensch, so argumentiert er, besitzt eine solche ursprüngliche, partikulare
Form, die durch Bildungseinflüsse zwar überdeckt, aber nie ganz ausgelöscht werden
kann: »une forme sienne, une forme maistresse, qui luicte contre l'institution«. 10
Montaigne macht es sich zur Aufgabe, die Öffentlichkeit über seine forme maistresse
in Kenntnis zu setzen. Der Zweck der Essais ist, wie er programmatisch in seiner
Vorrede »Au lecteur« verkündet, die Repräsentation seines natürlichen Selbst. Dazu
bedarf es keines großen wissenschaftlichen Aufwands, keiner ausgeklügelten Ver-
fahrensweise, sondern lediglich der Bereitschaft des Autoportraitisten, sich selbst
gegenüber aufrichtig zu sein. »C'est icy un livre de bonne foy, lecteur«, mit dieser
Behauptung eröffnet Montaigne das Buch der Essais·. »Je veus qu'on m'y voie en ma
fagon simple, naturelle et ordinaire, sans contantion et artifice: car c'est moy que
je peins. Mes defauts s'y liront au vif, et ma forme nai'fve, autant que la reverence
publique me l'a permis.«' 1
Montaigne präsentiert in den Essais eine Alternative zum stoischen Modell der
>kannibalischen< Lektüre und des ethopoetischen Schreibens. Er liest die Texte der
antiken Autoren als Abbilder ihrer Persönlichkeit; sein eigener Text ist als Selbstpor-
trait konzipiert. Der Essayist entwickelt das frühhumanistische Lektüreverfahren

6 Montaigne: Essais. S. 394.


7 Ebd. S. 824.
8 Ebd. S. 387.

9 Ebd. S. 782.
10 Ebd. S. 7 8 9 .
" Ebd. S. 9
Schlußbetrachtung 737

Petrarcas insofern weiter, als er die individuelle Persönlichkeit des Autors auf die
Kategorie der naturgegebenen Form zurückführt. Die Urteile, die Petrarca über die
Charaktere der antiken Autoren fällt, sind zumeist noch immer moralische Urteile.
Montaigne dagegen interessiert sich für die Natur des Menschen, wie sie jenseits der
Moral in Erscheinung tritt. Er will in Erfahrung bringen, wie das Individuum an
sich, in seiner Naturwahrheit beschaffen ist - unabhängig von dem, was es erlernt
und welche kulturellen und moralischen Werte es verinnerlicht hat. In den Essais
verfolgt er das Ziel, der Naturwahrheit seiner selbst auf den Grund zu gehen.
Diesem programmatisch erhobenen Anspruch wird der Text jedoch nicht gerecht.
Die Essais sollen das natürliche, unverbildete Selbst darstellen, tatsächlich aber sind
sie randvoll mit Bildungswissen, mit Zitaten und Lesefrüchten, angefüllt. Das Selbst
soll anstelle der choses im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, und doch ist jeder
einzelne Essay in erster Linie einem bestimmten Thema gewidmet, während das Ich
des Schreibers sich immer nur am Rande zur Geltung zu bringen vermag. 12 Die indi-
viduelle forme maistresse des Schreibers soll die Form der Selbstdarstellung bestimmen,
gleichwohl determiniert die topische Struktur des kollektiven Gedächtnisses den
Aufbau der Essais: Das Buch ist ein Inventar von loci communes, von Gemeinplätzen,
die allen gehören, mit deren Hilfe das Selbst seine partikulare Natur also nur mittelbar
darzustellen vermag.13 Mit einem Wort: Das natürliche Selbst wird in den Essais nicht
direkt, sondern nur auf dem Umweg über die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses
repräsentiert. Der Essayist hat offenbar keinen unmittelbaren Zugang zu seiner forme
maistresse. Er muß sein Selbst lesen-, er ist immer noch angewiesen auf den Spiegel der
Bücher. Die Essais sind kein direktes Abbild des natürlichen Selbst; dieses Selbst bringt
sich vielmehr durch die Vermittlung kulturell kodierter choses zum Ausdruck.
Montaigne ist nicht dazu in der Lage, sein natürliches Selbst unabhängig von
den Inhalten der kulturellen Überlieferung zur Darstellung zu bringen. Dieser W i -
derspruch verweist auf den ambivalenten Status, den die Uberlieferung in den Essais
besitzt. Einerseits ist ein Geltungsverlust der tradierten Wissensinhalte zu konstatie-
ren: Das Wissen ist nicht mehr stark genug, um das Selbst des Lesers zu formen; der
Leser vermag sich das Wissen nicht mehr vollkommen anzueignen. Auf der anderen
Seite kann sich das Subjekt dem Geltungsanspruch des Überlieferten aber auch nicht
völlig entziehen. Ihm fehlt die Kraft, ganz aus der Tradition auszubrechen und sein
Selbst als ein reines Naturobjekt zu betrachten. Diese Ambivalenz ist kennzeichnend

12 Vgl. Gerhart von Graevenitz: Das Ich am Rande. Z u r T o p i k der Selbstdarstellung bei Dürer,
Montaigne und Goethe. Konstanz 1989.
13 Laut Michel Beaujour ist dieses Paradox konstitutiv für die Textsorte des autoportrait, der M o n -
taignes Essais angehören: »II n'y a pas d'autoportrait qui ne soit aux prises avec la chose, ou res·, le
lieu commun. L'autoportrait se constitue ineluctablement en tant que topographie, ou descrip-
tion, parcours et destruction de lieux, ce qui implique un horizon rhetorique, mythologique et
encyclopedique. [...] [C'est] un type de memoire ä la fois tres archai'que et tres moderne par quoi
les evenements d'une vie individuelle sont Eclipses par la rememorarion de toute une culture,
apportant ainsi un paradoxal oubli de soi.« (Μ. Beaujour: Miroirs d'encre. S. 21, S. 26.)
738

für Montaignes Konzept der Applikation. Er erläutert dieses Konzept im dreizehnten


Kapitel des dritten Buches (»De l'experience«), in dem er sich unter anderem mit der
Problematik des Interpretierens auseinandersetzt:
Toutes choses se tiennent par quelque similitude, tout example cloche, et la relation qui se tire
de l'experience est tousjours defaillante et imparfaicte; on joinct toutesfois les comparaisons
par quelque coin. Ainsi servent les loix, et s'assortissent ainsin a chacun de nos affaires, par
quelque interpretation destoumee, contrainte et biaise. 1 4

Die Vorschriften des Gesetzes und die Wahrheiten der Uberlieferung können nur
durch eine »interpretation destournee« auf die je besondere Situation appliziert wer-
den: Jede Anwendung eines Wissenssatzes markiert zugleich eine >Abwendung<, eine
Verfehlung oder Verfälschung der ihm innewohnenden Wahrheit; jedes Beispiel weicht
von der Regel ab, die es bewahrheiten soll. Überlieferte Wahrheiten können also nie
ganz assimiliert werden. Es bleibt immer ein Moment des Nicht-Angeeigneten und des
Fremden, der Differenz und der Distanz. Gleichwohl begründet die Folge der Fehllek-
türen, die fortgesetzte Entfremdung, so etwas wie eine Tradition, einen geschichtlichen
Zusammenhalt: Die universale Bewegung der Abweichung konstituiert eine prekäre
Form der Kontinuität. Der Leser bleibt auf die von ihm verfehlte und somit abwesende
Wahrheit bezogen. Montaigne erläutert dieses paradoxe Ineinander von Diskontinuität
und Kontinuität durch ein Bild. Die antike Überlieferung, so erklärt er, gleicht jenen
alten Gebäuden, »ausquels l'aage a desrobe le pied, sans crouste et sans cyment, qui
pourtant vivent et se soustiennent en leur propre poix«. 15 Auch ohne ein tragendes
Fundament, auch ohne den Mörtel, der den Zusammenhalt des Ganzen üblicherweise
gewährleistet, vermag das Gebäude fortzubestehen - allein aufgrund der Schwere sei-
ner einzelnen Bestandteile, die sich noch im Prozeß der Desintegration wechselseitig
stützen. Die universale Bewegung des Zerfalls erzeugt eine einheitliche Struktur.
Dadurch, daß alle Bestandteile sich aus dem Ganzen zu lösen suchen und der Verein-
zelung zustreben, wird das Ganze in seinem Bestand nicht bedroht, sondern erhalten.
»[NJaturellement«, so formuliert Montaigne, »rien ne tombe lä oü tout tombe. La
maladie universelle est la sante particuliere«.16 Die universale Abweichung erzeugt eine
gewisse Stabilität, die eben nicht als Inkorporation des Alten aufgefaßt werden darf,
denn dieses (das Fundament, die ursprünglich gemeinte Bedeutung) existiert nicht
mehr. Tradition kann sich nur als permanenter Bruch mit der Tradition etablieren.
Doch eben weil der Traditionsbruch fiir die Tradition konstitutiv ist, kann es so etwas
wie einen Ausstieg aus der Tradition nicht geben. Weder die vollständige Aneignung
des Überlieferten noch der radikale Bruch mit der Tradition ist nach Montaignes Auf-
fassung möglich. Die Überlieferung bleibt als nie ganz zu assimilierendes Fremdes, als
nie ganz zu objektivierender Bestandteil der eigenen Geschichte wirksam.

14 Montaigne: Essais. S. 1047.


15 Ebd. S. 9 3 8 .
16 Ebd. — H u g o Friedrich bezeichnet diese Gedankenfigur als die »Grundparadoxie« Montaignes.
Vgl. H . Friedrich: Montaigne. S. 186.
Schlußbetrachtung 739

Mit diesem Modell der Applikation demonstriert Montaigne zum einen sein
historisches Bewußtsein, seinen Sinn für die geschichtliche Alterität der tradierten
Texte. Zum anderen vermag er mit seiner Hilfe die zeitgenössische historische Si-
tuation zu klären, sprich: der unüberschaubaren Vielfalt konkurrierender Weltdeu-
tungen Rechnung zu tragen, ohne ein vollkommen azentrisches Diskursuniversum
postulieren zu müssen. Alle diese einander widersprechenden Diskurse sind auf
ein Zentrum bezogen, das gerade aufgrund seiner Abwesenheit und irreduziblen
Fremdheit fortzuwirken vermag. Vor allem aber eröffnet das Modell dem Essayisten
die Möglichkeit einer neuen Form von Selbstdarstellung. Montaigne wendet sein
Modell mit großer Konsequenz auf seine eigene Persönlichkeit an. Wie die kulturelle
Uberlieferung insgesamt auf einer nie ganz angeeigneten geschichtlichen Grundlage
ruht, so stellt auch die forme maistresse des Individuums einen Fremdkörper im Sub-
jekt dar: Das Eigene, Eigentliche des Selbst ist zugleich das ganz Andere.
Denn die forme maistresse des Individuums ist - entgegen der programmatischen
Ankündigung des Essayisten - weder eine reine Gabe der Natur noch ein Produkt
der ethischen Selbstformung. Das geht aus dem Beispiel hervor, das Montaigne
zur Veranschaulichung seiner forme maistresse anführt. Er berichtet, daß die erste
Sprache, die er als Kleinkind erlernte, nicht das Französische oder Gascognische war,
sondern das Lateinische. Obwohl er sich dieser Sprache schon seit Jahrzehnten nicht
mehr bedient hat, sind die ersten Worte, die er bei heftigen Erschütterungen hervor-
stößt, nie französisch, sondern lateinisch. In diesen spontanen Äußerungen bringt
sich seine forme maistresse zur Geltung.'7 Sie ist also keine reine Natur, sondern ein
Produkt der frühkindlichen Erziehung. Unter forme maistresse versteht Montaigne
all jene charakterlichen Prägungen, die das Individuum erfahren hat, noch ehe es im
Besitz einer ausgebildeten Vernunft war. Sie ist teils ein Produkt der fortune, teils ein
Produkt der Erziehung, entzieht sich aber in jedem Fall der Kontrolle des betroffenen
Individuums. Montaigne assoziiert sie mit der Person des Vaters. Sein Vater war es,
der dafür Sorge trug, daß er das Lateinische vor dem Französischen erlernte; seinem
Vater hat er auch eine andere »infusion et insinuation fatale« zu verdanken, die seine
forme maistresse bestimmt: den Nierenstein, unter dem Montaigne wie sein Erzeuger
zu leiden hat.18 Der Nierenstein (»pierre«) literalisiert den väterlichen Namen (Pierre
de Montaigne) und schreibt ihn dem Körper des Sohnes mit blutiger Schrift ein.19
Der Stein, der das väterliche Erbe repräsentiert, ist ein Fremdkörper. Er bestimmt
das Individuum in seinem Innersten und bleibt ihm doch äußerlich. Der Ursprung
des Subjekts ist diesem fremd und entzieht sich seiner Verfügung. Während sich

17 Montaigne: Essais. S. 7 8 8 .
" Ebd. S. 7 4 1 f.
" Zur Reflexion auf das Vater-Sohn-Verhältnis und die von den Vorfahren weitergegebene Krankheit
vgl. das ganze Kapitel 11.37 (»De la ressemblance des enfans aux peres«), - Den Hinweis auf die
Einschreibung des väterlichen Namens durch den Nierenstein verdanke ich der höchst anregenden
Studie von Antoine Compagnon: Nous, Michel de Montaigne. Paris 1980. S. 170f.
740

Montaigne in der Erstfassung der Essais von 1580 noch entschlossen zeigt, sich
diesen Ursprung nachträglich durch »discours«, durch rationale Begründung der im
Selbst vorgefundenen idiosynkratischen Prägungen und Neigungen, anzueignen, 20
gibt er dieses Unterfangen später auf. Das väterliche Erbe soll keiner >kannibalischen<
Lektüre unterzogen werden. 21 Montaigne will das Fremde im Eigenen nicht assi-
milieren; er will damit nicht eins werden. Sein Ziel besteht vielmehr darin, es zu
beobachten und zu erforschen. Der Autobiograph wird zum neugierigen Betrachter
seiner eigenen Alterität, zum Ethnologen seiner selbst. Essai und exercitation dienen
dem Schreibenden nicht mehr dazu, sich die Wahrheit des Fremden zu eigen zu
machen, im Gegenteil, mit ihrer Hilfe versucht er, das Eigene zu verfremden. Denn
das, was man sich ganz angeeignet hat, so erklärt er, läßt sich eben deshalb nicht
mehr erkennen. Es gibt in uns gewisse Eigenschaften und Neigungen, die so sehr
mit uns eins sind, daß sie sich der Wahrnehmung entziehen - »des conditions et des
propensions si propres et si incorporees en nous, que nous n'ayons pas moyen de les
sentir et reconnoistre.«22 Doch eben darum geht es Montaigne: das Eigene nicht nur
zu erkennen, sondern auch zu fühlen; das Selbst bis in die verborgensten Winkel
hinein auszuleuchten, um es zu einem Gegenstand des Genusses zu machen. Damit
ihm die forme maistresse fühlbar werden kann, muß er sich ihrer entäußern und
enteignen. Der Selbstgenuß setzt paradoxerweise die Selbstenteignung voraus.
Besonders deutlich wird der Zusammenhang zwischen Selbstgenuß und Selbst-
enteignung in dem Essay über die Übung (»De l'exercitation«, Kapitel II.6). Mon-
taigne erinnert zunächst an das antike Verständnis der exercitatio·, wonach die bloße
Kenntnis moralischer Prinzipien nicht genügt, um das Handeln des Individuums
zu bestimmen. Es gilt vielmehr, sich die Prinzipien durch geistige und praktische
Übung zu eigen machen, damit das Wissen sich zu einer Handlungsdisposition
verfestigt. 23 Im Anschluß daran präsentiert der Essayist ein Beispiel für den Nutzen
der Übung, das er seiner eigenen Erfahrung entnimmt. Doch dieses Beispiel stellt
die eingangs referierte herkömmliche Konzeption der exercitatio radikal in Frage. Es
weicht von der Regel ab, die es exemplifizieren soll, ja es verkehrt sie in ihr Gegenteil.
Montaigne berichtet darüber, wie er bei der Rückkehr von einem Ausritt mit einem
entgegenkommenden Reiter zusammenstieß, vom Pferd stürzte und in eine tiefe
Ohnmacht fiel. Diese Ohmmacht bezeichnet er als eine Übung - eine Einübung in

20
In der a-Fassung bekundet Montaigne den Wunsch, seine Vorurteile nachträglich in begrün-
dete Urteile zu verwandeln: »Car toutes ces conditions qui naissent en nous sans raison, elles
sont vitieuses, c'est une espece de maladie qu'il faut combatre; il peut estre que j'y avois cette
propension, mais je l a y appuyee et fortifiee par les discours qui m'en ont estably l'opinion
que j'en ay.« (Essais. S. 743.).
21
Als Paradigma eines solchen Umgangs mit dem väterlichen Erbe gilt Montaigne die Sitte jener
indischen Kannibalen, die ihre verstorbenen Väter verspeisen, anstatt sie zu beerdigen. Vgl.
Essais. S. 115, S. 565.
22
Ebd. S. 615f.
23
Ebd. S. 350.
Schlußbetrachtung 741

den Tod. An die Stelle der stoischen meditatio mortis, die dem Subjekt seine Sterb-
lichkeit bewußt machen, ihm den Tod als ein natürliches und notwendiges Phäno-
men vor Augen führen, ihn somit von seiner Todesfurcht befreien und stärkend auf
sein Selbst einwirken soll, tritt bei Montaigne ein blackout des Bewußtseins. Mittels
der stoischen meditatio mortis macht sich das Subjekt ein Wissen über den Tod zu
eigen; es steigert dadurch sein Bewußtsein - auch das Bewußtsein seiner selbst.
MontaignesTodes-Übung markiert dagegen den Verlust des Selbstbewußtseins: Der
Ohnmächtige weiß weder, was mit ihm geschieht, noch wo er sich befindet, noch
wer er überhaupt ist.24 Er macht die Erfahrung der Desintegration seines Selbst.
Der Verlust des Selbstbewußtseins ist allerdings nicht mit dem Verlust von Be-
wußtsein überhaupt gleichzusetzen. Denn Montaigne kann sich sehr genau daran
erinnern, was er während der Ohnmacht fühlte und dachte. Die Vorstellungen, die
in ihm entstanden, trennten sich von ihm ab; sie berührten seine Seele nur an ihrer
Oberfläche, ohne sich ihr fest einzudrücken: »C'estoit une imagination qui ne fai-
soit que nager superficiellement en mon ame«.25 Alles Schwere verlor sein Gewicht,
alles Feste wurde flüssig.26 Die einzelnen Bestandteile seines Selbst, seine Gefühle
und Wünsche, gewannen ein Eigenleben - sie gehörten ihm nicht mehr an: »Or
ces passions qui ne nous touchent que par l'escorse, ne se peuvent dire nostres.«27
Der ohnmächtige Montaigne beobachtete seine Seele wie von außen; er nahm
seine inneren Regungen wahr, als wären sie die eines anderen. Diesen Zustand der
Selbstentfremdung empfand er nicht etwa als peinvoll, sondern als süß: »je senty une
infinie douceur«.28 Der Sturz vom Pferd vermittelte ihm die beglückende Erfahrung
der Nicht-Identität; er befreite ihn von dem Zwang, mit sich selbst eins zu sein.
Montaigne entwirft in »De l'exercitation« ein Gegenmodell zur antiken askesis
und exercitatio. Die Übung dient bei ihm nicht der Aneignung fremden Wissens,
der Stabilisierung des Selbst und der Bestimmung seiner Identität. Im Gegenteil, sie
desintegriert das Subjekt, sie entfremdet es sich selbst und löst es aus seiner Bindung
an ein fixes Identitätsmuster. Montaignes exercitatio ist eine Übung im Anderswer-
den.29 Paradoxerweise ist diese Selbstenteignung die Vorbedingung dafür, daß sich
das Selbst in seiner Totalität erfahrbar wird. Nur dadurch, daß es das Eigene von

M Ebd. S. 356.
25 Ebd. S. 354.
26 Vgl. ebd. S. 357: »Je me laissoy couler si doucement et d'une ί ϊ ς ο η si douce et aisee que je ne
sens autre action moins poisante que celle-lä estoit.«
27 Ebd. S. 356.
28 Ebd.
29 Als eine solche Übung im Anderswerden - »comme epreuve modificatrice de soi-meme [...] et
non comme appropriation simplificatrice d'autrui« - bezeichnet M. Foucaut seine Beschäfti-
gung mit der ihm fremden Materie der antiken Ethik (L'usage des plaisirs. S. 16). Die Askese
als Selbstenteignung stellt allerdings eine spezifisch neuzeitliche, nicht, wie Foucault insinuiert,
eine antike Form der Selbstpraxis dar. Von einer derartigen »esthetique de l'existence« kann
erst bei Petrarca und Montaigne die Rede sein, in deren Fußstapfen Foucault mit seinem
Exerzitium des Sich-selbst-Fremdwerdens tritt.
742

sich abtrennt, vermag es dieses in einen Gegenstand der Selbstwahrnehmung zu


verwandeln. Selbsterfahrung ist an Selbstentfremdung gekoppelt. Das Selbst ist sich
allein dort ganz gegenwärtig, wo es sich des Eigenen entäußert. Das Schreiben der
Essais ist ein solches Exerzitium der Selbstenteignung. Montaigne bezeichnet sein
Buch als ein Bekenntnis - er spricht von »ma confession«.30 Es handelt sich dabei
um ein Bekenntnis ganz besonderer Art. Zwar verpflichtet sich der Essayist dazu,
aufrichtig zu sein und die Wahrheit über sich selbst zu sagen, aber er vermeidet es,
sich auf diese Wahrheit festzulegen. Er identifiziert sich nicht rückhaltlos mit seinen
Äußerungen, sondern läßt die Möglichkeit von Abweichungen und Änderungen
immer offen. Ais Schreiber der Essais erprobt Montaigne die verschiedenen Facetten
seines Selbst; er experimentiert mit den unterschiedlichsten Ansichten, ohne sie sich
je ganz anzueignen, ohne sich je an das zu fesseln, was er bereits gesagt hat. Weder
ist der Verfasser mit seinem Text eins, noch stimmt der Text mit sich selbst überein.
»J'adjouste, mais je ne corrige pas.«31 Montaigne hat keine Scheu davor, sich in
seinen Äußerungen zu widersprechen. Das Buch der Essais ist kein integrales corpus,
kein kohärenter contextus, der die Materialien, die er in sich aufnimmt, im Zeichen
eines alles beherrschenden Autor-Selbst assimiliert, sondern eine diskontinuierliche
Folge von Selbsterprobungen, in denen der Schreiber sich immer aufs neue seiner
selbst entfremdet. Gleichwohl bildet diese diskontinuierliche Folge eine Einheit:
»Mon livre est tousjours un.« 32 Die fragmentarischen Selbsterprobungen schließen
sich in dem Maße zu einer Einheit zusammen, in dem sie voneinander abweichen.
Wie im Falle der antiken Überlieferung begründet die universale Bewegung der
Abweichung einen prekären Zusammenhalt. Indem der Essayist sich immer wieder
neu seiner selbst entfremdet, sich immer wieder neu vom Eigenen abstößt, verweist
er auf sein Selbst, das den abwesenden Ursprung dieser zentrifugal wirkenden Kräfte
markiert.

30
Ebd. S. 636.
31
Ebd. S. 941.
32
Ebd.
Literaturverzeichnis

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zung. Begründet von Ernst Grumach, hg. von Helmut Flashar. Bd. 8. Berlin 5 1983.
- Metaphysik. Übersetzt von Hermann Bonitz, auf der Grundlage der Bearbeitung von Hector
Carvallo und Ernesto Grassi neu hg. von Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg 2 I 9 9 9 .
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Übersetzung. Begründet von Ernst Grumach, hg. von Helmut Flashar. Bd. 6. Berlin ' 1991.
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Y. Congar. Traduction de G. Finaert. Bruges et Paris 1963 (Bibliotheque Augustinienne).
- De catechizandis rudibus. Hg. von I. B. Bauer. In: Aurelii Augustini Opera. Bd. XIII.2.
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Adeodatas 325, 347, 566, 576 50f., 65, 67f., 77, 81, 115, 327, 376, 688
Alkibiades 5 1 , 7 9 - 8 7 , 9 1 , 9 6 - 1 0 5 , 107-112, Bornscheuer, Lothar 243, 249
114-117, 120-128,134f„ 189,256,260f„ Borsche, Tilman 355f., 360, 451
276, 7 4 7 , 7 5 0 , 751 Brickhouse, Thomas C. 8 9 - 9 1 , 1 0 5
Alkidamas 209 Brown, Peter 322, 325f., 3 3 1 , 3 5 6 , 378, 387,
Alypius 325, 336, 458, 528, 530f„ 535f., 389, 421, 442, 447, 468, 485, 491, 494,
548f., 557-560, 564, 576f„ 720, 722f. 506f., 538, 553, 554, 578, 708
Ambrosius 429, 458, 4 8 1 - 5 0 0 , 5 0 5 - 5 0 8 , Brunner, Peter 409f., 412, 416f.
511-514, 526, 534, 576, 578, 581, 5 8 3 - Bunyan, John 2f., 5
585, 5 9 2 , 6 5 2 , 6 7 1 Burckhardt, Jacob 600f„ 687f., 692, 712
Antonius, Marcus 239-250 Bynum, Caroline Walker 592
Antonius Aegyptius 6, 409, 526, 528, 5 3 0 - Cairns, Douglas L. 552
533, 538-540, 571-574, 576, 651, 654, Carruthers, Mary 15f., 70
714 Cassianus, Johannes 3 2 0 - 3 2 2 , 4 0 9
Anz, Heinrich 12f. Cave, Terence 2 1 7 , 2 3 4
Apelt, Otto 8 0 , 1 1 6 Chartier, Roger 27f.
Aristoteles 18-22, 33, 35, 3 9 - 4 1 , 4 5 - 4 7 , Chateaubriand, Francois Reni de 10
57-59, 64, 77, 80, 92, 111-114, 117f., Cicero, Marcus Tullius 41, 59, 80, 203, 216,
133, 163-203, 205-208, 210, 212, 253, 226, 2 3 9 - 2 5 3 , 4 6 6 - 4 7 5 , 478, 601, 604,
264, 267, 2 7 5 - 2 7 7 , 282, 291, 4 7 6 - 4 7 8 , 61 lf., 6 1 4 , 6 2 5 - 6 3 1 , 6 3 3 - 6 3 5 , 6 3 7 , 6 4 0 ,
483, 5 2 4 , 6 1 0 , 6 4 0 , 728 6 5 1 , 6 5 6 , 665f.
Assmann, Aleida 8 , 2 1 Colish, Marcia L. 355, 395, 398, 508
Assmann, Jan 8 , 2 1 Compagnon, Antoine 739
Athanasius Alexandrinus 4 0 9 , 4 3 6 , 530-532, Courcelle, Pierre 3 1 , 8 1 , 1 8 9 , 4 6 8 , 4 8 5 , 4 9 9 -
538f„ 571 f. 501, 504, 511, 533, 541-544, 560, 562,
Auerbach, Erich 405 591 f., 650, 688, 690, 692
Augustinus, Aurelius 1,3, 5 - 8 , 1 0 - 1 2 , 2 5 - 2 7 , Crassus, Lucius Licinius 2 3 9 - 2 5 0
309, 320-419, 421-424, 4 2 7 - 5 3 2 , 5 3 5 - Curtius, Ernst Robert 2
537, 540-571, 573-587, 591-595, 616, Deleuze, Gilles 55
6 5 0 - 6 8 5 , 6 8 9 , 692f„ 7 0 5 - 7 0 9 , 7 1 2 - 7 2 6 , Demetrius von Phaleron 641
730-734 Demokrit 552
Balogh, Josef 130, 1 3 2 , 4 8 9 Deogratias 392, 395, 400, 403
Baron, Hans 6 5 9 , 6 6 5 , 6 7 1 Derrida, Jacques 4 5 , 7 3 , 1 1 3 - 1 1 5 , 3 0 6 , 3 5 2 ,
Baxter, Richard 15 359, 448, 462, 495, 678, 726
Bayly, Lewis 14 Descartes, Rene 4f., 301
Beaujour, Michel 2, 11, 424, 737 Detel, Wolfgang 1 7 0 , 1 7 4 , 1 9 4
Benedict, Ruth 551 f. Dilthey, Wilhelm 431, 439f., 601, 717
Benton, John F. 592 Diogenes Laertius 265, 305
Bien, Günther 22 Dodds, E. R. 551
Billanovich, Guiseppe 609, 616, 650, 688f„ Duchrow, Ulrich 355f., 386, 389f., 409, 415,
692, 704, 726 4 3 3 , 4 6 1 , 5 0 5 , 529
Dünne, Jörg 1 1 , 5 5 , 4 2 4 , 5 8 8
762 Namensverzeichnis

Epiktet 71, 222, 259-267, 272, 277, 300, Hauskeller, Michael 33, 51, 173f., 197, 288
3 0 4 , 3 1 3 , 3 1 5 , 3 3 7 , 549 Havelock, Eric A. 43, 364
Epikur 50, 118, 224, 284, 288, 630f. Heitmann, Klaus 598, 649f., 663, 671
Erler, Michael 148, 284, 287f. Herder, Johann Gottfried 734f.
Eukleides 150-157, 162, 246f. Hermagoras von Temnos 243
Evagrius von Antiochien 409 Herzog, Reinhart 422, 427, 431f., 435, 447,
Faustus von Mileve 498 544f„ 565, 571, 582, 586, 654
Feldmann, Erich 392, 500f„ 545 Hossenfelder, Malte 50
Felman, Shoshana 99f. Hugo von St. Viktor 15
Fetz, Reto Lucius 51, 79, 107 Iamblichos 80
Flasch, Kurt 327, 349, 356, 378f., 389, Mich, Ivan 16, 130, 609
405, 432, 441, 468, 475, 482, 566, Iser, Wolfgang 143
577, 679 Isidor von Sevilla 647f., 702
Forschner, Maximilian 33,41,46, 59, 264, Isokrates 203, 204, 205-210, 212-214, 216,
280, 286, 292 222, 253
Foucault, Michel 9, 18, 23-25, 27f., 34, Jaeger, Werner 204
49, 51-63,65-71,76,81-85,117,170, Jauß, Hans Robert 21, 688
194f., 255-258, 265, 268, 272, 285, Jousse, Marcel 7
288-292, 298, 302, 319-324, 387f., Kablitz, Andreas 650, 668, 674, 685, 692,
539, 573, 588, 595, 600f„ 659, 683, 705, 708, 725f.
727, 741 Kahn, Victoria 662, 666, 685, 724
Freccero, John 423-426, 430f„ 446, 455, Kempen, Ludwig van 636, 642, 644
459,513, 560, 566, 679,686 Kennedy, George 206, 209, 215, 226, 243f.,
Freud, Sigmund 100 249
Friedländer, Paul 80, 86, 96, 102, 107 Keßler, Eckhard 602, 605f., 608f„ 612, 649,
Friedrich, Hugo 4, 738 700
Fronto 311 Kierkegaard, Sören 600
Fuhrmann, Manfred 71, 159, 215, 237, Kilgour, Maggie 429, 495, 585
239f., 245 Knox, Bernard 132, 489
Funke, Gerhard 40, 61, 160 Konersmann, Ralf 26, 81, 189
Gadamer, Hans-Georg 12f., 15, 17-24, Krämer, Hans Joachim 136f„ 139, 148
169, 171 F. Kristeller, Paul Oskar 649
Gaiser, Konrad 38, 63, 67, 136, 137 Kube, Jörg 84, 105f., 206
Gerhardsson, Birger 171 Küpper, Joachim 602, 650f., 663f., 674,
Gilson, Etienne 5 , 6 0 2 , 6 5 1 679
Goethe, Johann Wolfgang 10, 643 Kurz, Dietrich 84, 104-106
Goldschmidt, Victor 111 Lactantius, Lucius Caecilius Firminia-
Gorgias 92 nus 647f.
Greenblatt, Stephen 60 Leclercq, Jean 7, 16, 321
Greene, Thomas 60, 208, 24lf„ 247, 601, Lejeune, Philippe 10f., 423
607, 612, 633, 638, 646, 648, 691f., Licentius 326,331-345,348-351,360f„ 364,
697, 725 367, 378-384
Guibert de Nogent 592 Livius, Titus 609, 612, 618, 638, 691-693,
Gurjewitsch, A.J. 592 697-700, 703, 725
Gusdorf, Georges 423, 425, 432, 439 Long, Α. A. 33, 41, 64, 286, 289, 305
Hadot, Ilsetraut 283, 463 Loraux, Patrice 47, 152, 154, 247
Hadot, Pierre 7, 42, 58, 60f„ 66, 71, 85, Louth, Andrew 329, 351, 396, 502, 507,
148, 195, 257f., 263, 272, 284f„ 3 0 0 - 586
305, 307-312, 314, 321f„ 514, 571, Lucilius 47f., 127, 279-285, 292-298, 300,
599-601, 665 303, 310, 354, 552, 617, 628, 631, 644,
Haller, William 14 665, 729
Harpham, Geoffrey Galt 425, 495, 513, Lucretius Carus, Titus 118, 222, 224
530-533, 571, 582, 584 Lüdemann, Susanne 426, 430f„ 439f., 467,
513,557, 564
Namensverzeichnis 763

Lysias 2 0 5 , 2 1 1 - 2 1 3 Polos 92-95, 102


Macrobius, Ambrosius Theodosius 647f. Ponticianus 512, 528-533, 535f., 541, 5 4 7 -
Man, Paul de 644, 693, 726 550, 560, 575
Marcus Aurelius Antoninus 71, 3 0 0 - 3 1 6 , Priamos 180f„ 187, 728
352f„ 384, 570f„ 573, 665, 709, 730, Proklos 80
734 Quillen, Carol Everhart 608, 616, 629, 633,
Margerie, Bertrand de 148, 485, 493 640f., 645f., 649, 653, 663
Marrou, Henri-Iren^ 206, 209f., 225, 327, Quintiiianus, M. Fabius 203, 2 1 5 - 2 3 9 , 253,
346, 389, 463 283, 315, 336, 339, 363, 612, 632f.
Martineiii, Bartolo 690, 692, 696, 705 Rabbow, Paul 7, 15, 58, 66, 203
Mayer, Cornelius P. 355, 415, 421, 683 Ratzinger, Josef 421
Mead, Margaret 551 f. Reventlow, Henning Graf 16, 148
Mela, Pomponius 697, 699f., 702 Rico, Francisco 616, 650, 659, 6 6 3
Misch, Georg 10,304£, 307f., 3 1 5 , 4 2 3 , 4 3 9 , Ritter, Joachim 688
591-593,717 Robbins, Jill 4 2 3 ^ 2 7 , 4 3 0 f „ 467, 513,521 f.,
Mittelstraß, Jürgen 42, 85, 89, 135, 143 524, 564, 679, 691f., 697, 713, 721
Monnica 325,385,458,464f., 479-481,484, Rousseau, Jean-Jacques 10f., 566
575, 586f„ 678 Rutherford, R. B. 301-305, 3 0 7 - 3 0 9 , 31 lf.,
Montaigne, Michel de 3f., 600, 7 3 5 - 7 4 2 315
Moog-Grünewald, Maria 34 Saenger, Paul 129f., 132, 220
Moritz, Karl Philip 31 Sartre, Jean Paul 5 5 , 6 0 , 5 5 3
Morris, Colin 592 Schildknecht, Christiane 39, 94
Müller, Jan-Dirk 609 Schleiermacher, Friedrich 79f., 136, 144-150,
Müller, Klaus-Detlef 425, 432, 439 155
Nebridius 336, 353 Schmid, Wilhelm 55
Nietzsche, Friedrich 52, 55, 60, 600 Schobinger, Jean-Pierre 355f., 472,475f., 526,
Niggl, Günter 423 543, 561
Nock, A . D . 3 1 2 , 3 2 7 , 4 6 8 Schöne, Albrecht 640, 643
Nolhac, Pierre de 699 Seneca, L. Annaeus 4 6 - 4 9 , 71, 126f., 222,
Nussbaum, Martha C. 41, 50,61,67, 84,105, 257, 279-300, 302-304, 307, 310, 313,
164, 168, 170, 172, 178, 180, 184, 192f„ 315,353f., 373, 549, 552, 599,603f., 612,
196, 257, 272, 284, 287f., 377, 612 614f„ 617f., 6 2 0 , 6 2 4 - 6 2 6 , 6 2 8 , 6 3 1 - 6 3 4 ,
O'Connell, Michael 6 9 0 , 6 9 2 , 7 2 1 640, 644, 647, 663, 665, 683, 729, 733
O'Connell, Robert J. 467f., 500, 504 Sherman, Nancy 164, 169, 171f., 184, 186,
Ong, Walter J. 4 3 , 3 6 4 192, 196, 200
Origenes 329, 405, 485, 489, 4 9 2 ^ 9 5 , 507, Simon, Gerard 38, 118f.
526, 671 Simplicianus 485, 512-519, 525f., 547, 560,
Oster, Patricia 648 575f.
Pascal, Blaise 301 Smith, Nicholas D. 8 9 - 9 1 , 1 0 5
Pascal, Roy 422f„ 425, 432, 439 Snell, Bruno 84, 105
Pepin, Jean 148,494 Sokrates 3 4 , 4 7 , 7 2 , 7 9 - 1 2 8 , 131f., 137, 139,
Perkins, William 13f. 143, 150-155, 162, 1 8 9 , 2 1 1 - 2 1 3 , 246f„
Petrarca, Francesco 588, 596-715, 718-726, 259f., 261, 268, 270, 276, 294, 334, 339,
732-735, 737, 741 342
Pfeiffer, Helmut 82f„ 86, 291 Starobinski, Jean 424
Piaton 22, 27,34f„ 3 7 - 3 9 , 4 2 ^ i 9 , 5 8 , 6 2 - 6 4 , Steiner, George 172
69, 72-77, 79-163, 178, 186, 189f., 193, Stierle, Karlheinz 602, 607, 623, 635, 649,
196, 198, 203, 205£, 211-213, 221, 224, 684, 688, 692, 735
239, 246f„ 251, 257, 291, 305-307, 342, Stock, Brian 5, 25, 27, 353f., 409, 447, 451,
350, 352, 358, 364, 376, 380, 386, 480, 468,475f., 4 9 0 , 4 9 3 , 507f., 518, 526, 528,
489, 547, 7 2 7 - 7 2 9 557, 560, 685
Plotin 148, 328f„ 489, 499, 507, 515 Svenbrojesper 130, 132-134,137, 153,221,
Plutarch 80, 258, 266-279, 298, 313, 549 489
Pohlenz, Max 33f., 41, 64
764 Namensverzeichnis

Szlezäk, Thomas Alexander 39, 136-143, Vlastos, Gregory 34, 86, 88-91, 306
145-147, 150 Voss, Bernd Reiner 347, 350, 362, 370, 375,
Taylor, Charles 32, 35, 38, 39, 50, 51, 57, 385
77, 79 Weinrich, Harald 45, 73
Teresa von Avila 446, 593, 595 "Weintraub, Karl Joachim 10, 422, 593
Terpsion 150f„ 153 Wenzel, Horst 609
Theiler, Willy 3 0 1 , 3 0 9 , 3 1 4 , 4 9 9 Wieland, Wolfgang 32, 34, 36, 39, 44, 72,
Thraede, Klaus 294, 640f. 105, 134, 137, 140, 143
Trinkaus, Charles 602, 605, 650, 663 Xenophon 80, 85
Trygetius 326, 331, 333, 337f., 344, 381 f. Yates, Frances A. 716
Vance, Eugene 456-459, 513, 582 Zenobius 325f., 328, 336, 348, 350, 382
Vernant, Jean-Pierre 32 Zink, Michel 592
Victorinus, Marius 499, 514-520, 522, 526f.,
575f., 651

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