Sie sind auf Seite 1von 180

10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

10 Minuten Philosophie
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Wilhelm Fink
10 Minuten Philosophie
Kristin Drechsler, Christoph Jamme (Hg.)
Umschlagabbildung:
Peter Zickermann
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;


detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede
Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des
Verlags nicht zulässig.

© 2019 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe


(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore;
Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Peter Zickermann, Bielefeld


Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn

ISBN 978-3-7705-6248-0 (paperback)


ISBN 978-3-8467-6248-6 (e-book)
Inhalt

Kristin Drechsler/Christoph Jamme


Philosophie im Pausenformat – Ein Widerspruch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Philosophie und Emotionen

Michael Gratzke
Die Zeit der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Andreas Fritzsche
Lust. Das Emotionale als Grundlage der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Antonio Roselli
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Ein ,völlige[r] Subjekt-Objekt-Wechsel‘: Anmerkungen zu den


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

erkenntnistheoretischen Implikationen der ‚Ergriffenheit‘ . . . . . . . . . . . . . . 15

Thorsten Bothe
Schlagfertigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Phänomenologie

Yvonne Förster
Überlegungen zu einer Philosophie der Mode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Kristin Drechsler
Der stumme Anspruch der Dinge und die Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

Isabel von Wilcke


Von der Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Yvonne Förster
Vom Träumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
vi Inhalt

Politik der Philosophie (I)

Nicolas Dierks
Die Rede vom Kampf des Neuen mit dem Alten. Wer hat eigentlich
gewonnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Christoph Jamme
Heideggers „Schwarze Hefte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

Andreas Jürgens
Davos ohne Legende? – Zur Disputation zwischen Ernst Cassirer
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

und Martin Heidegger 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Günter Burkart
Wissen und Gewissheit. Oder: Wann ist der Zweifel überflüssig? . . . . . . . . 73
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Politik der Philosophie (II)

Thomas Saretzki
Lügen – eine Kunst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Christina Schües
Orte der Nicht-Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Birgit Stammberger
Foucault und die nukleare Dimension der Biopolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Steffi Hobus
Mit-Sein und Prekär-Sein: Dimensionen des Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Roberto Nigro
Die Verweigerung der Arbeit: philosophische Implikationen einer
politisch-ästhetischen Praktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Inhalt vii

Zur Metaphysik

Martin Hailer
Gott denken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Thorsten Bothe
Hans Blumenberg. Metaphorologie – Unbegrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Kerstin Andermann
Natur und Norm. Spinozas immanente Ordnung der Natur . . . . . . . . . . . . . 127
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Paul Matthews
Über Grenzen zwischen Mensch und Tier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Kristin Drechsler
Was geht uns der Tod an? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Philosophie der Medien

Regine Herbrik
Es könnte auch anders sein – Was wir vom Spiel für wissenschaftliche
Erkenntniswege lernen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Jan Müggenburg
Lebhafte Artefakte oder „Wenn Roboter Hände schütteln“ . . . . . . . . . . . . . . 149

Sebatian Vehlken
California Thinking – Die drei ??? als Medienphilosophen . . . . . . . . . . . . . . 155

Holger Kuhn
Tim und Struppi im „Land der Philosophen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Kristin Drechsler/Christoph Jamme

Philosophie im Pausenformat – Ein Widerspruch?

„Was ist Philosophie?“ Diese Frage nach ihrer Selbstverständigung begleitet die
Philosophie seit ihren Anfängen. Dabei unterscheidet sich das philosophische
Denken von anderen Denkformen nicht nur inhaltlich, sondern bereits der
Art des Fragens nach. Es setzt ein bestimmtes Selbstverständnis nicht unge-
fragt voraus, sondern reflektiert als voraussetzungskritische Selbsterkenntnis
immer auch seinen eigenen Sinn. So ist es das Ziel der Philosophie seit ihren
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

sokratischen Anfängen in erster Linie, gewohnte Denkmuster aufzubrechen


und scheinbare Selbstverständlichkeiten zu erschüttern. Der Ansatz ist dabei
auch, gewohnte Begriffe infrage zu stellen, auf ihre Konsistenz hin zu über-
prüfen und gegebenenfalls zu revidieren – es liegt also in der Sache des Philo-
sophierens, sich der Alltagssprache zu widersetzen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Gerade aus diesen Gründen scheint ein Format wie die ‚10 Minuten Philoso-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

phie‘, das seit dem Sommersemester 2004 an der Leuphana Universität Lüne-
burg stattfindet, dem philosophischen Programm zunächst zu widersprechen.
Philosophie ist nichts, was man in 10 Minuten abhandeln kann, sondern bedarf
einer langwierigen intensiven Auseinandersetzung – so zumindest lautet eine
herrschende Überzeugung.
Dass dieses Format jedoch dem philosophischen Anspruch keineswegs ent-
gegensteht, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Philosophie
mehr ist als nur das Studium schwer zugänglicher Literatur. Schließlich lautet
eine philosophische Grundannahme, dass der Mensch per se ein philosophie-
rendes Wesen ist – so vermag er sich gewissen Fragen im Verlauf seines Lebens
nicht zu entziehen. Immanuel Kant fasst diese Fragen wie folgt zusammen:
Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?
Einfache Antworten auf diese Fragen darf man zwar nicht erwarten, dennoch
ermutigt die Philosophie seit Anbeginn, diese und ähnliche Fragen überhaupt
zu stellen und ihnen im alltäglichen ‚Gewusel‘ Raum zu geben.
Philosophieren reicht so gesehen weit über den akademischen Betrieb hi-
naus. Gerade deshalb ist ein niedrigschwelliges Format wie die ‚10 Minuten
Philosophie‘ kein Widerspruch zum philosophischen Selbstverständnis, son-
dern vielmehr eine Möglichkeit der Rückbesinnung auf ein menschliches
Grundbedürfnis.
In diesem Sinne möchte der vorliegende Band dazu einladen, ein wenig
in das weite Feld philosophischen Nachdenkens einzutauchen. Die hier ver-
sammelten Beiträge sind bewusst in ihrem skizzenhaften Charakter belassen

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_002


2 Kristin Drechsler / Christoph Jamme

worden, so dass in ihnen noch ein wenig der Klang des Hörsaals vernommen
werden kann.
Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Sophia Wagener, die mit ihrem
Einsatz maßgeblich zur Fertigstellung des Sammelbandes beigetragen hat.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Philosophie und Emotionen


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Michael Gratzke

Die Zeit der Liebe

Der Verfasser ist kein Philosoph, was ihn aber nicht davon abhält, bisweilen
zu philosophieren. Zehn Minuten zur Mittagszeit in einem Hörsaal sind hier
auf zehn kurze Abschnitte projiziert. Die ersten fünf beschäftigen sich mit
erlebten und imaginierten Zeitabschnitten in der Liebe – vom Augenblick bis
zur Ewigkeit. Die zweiten fünf zeichnen eine unvollständige Skizze der Liebe
von ihrer Vor- und Frühgeschichte bis zu ihrer immer schon angebrochenen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Zukunft.

1. Augenblick
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Wir verstehen die Liebe auf den ersten Blick als den frühen Ausdruck einer
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Liebe über den Augenblick, die Phase der Verliebtheit, die attachment phase
hinaus. Wir erleben im Laufe der Zeit wohl hunderte von augenblicklichen
Anziehungen zu anderen Menschen, von denen nur die wenigsten in der
Rückschau als Liebe auf den ersten Blick in die Beziehungs- und Lebensge-
schichte eingebaut werden. Das plötzliche Erleben einer romantischen oder
erotischen Anziehung kann so als Epiphanie der Liebe normalisiert werden,
sie muss es aber nicht. Der Philosoph Christian Maurer legt dies in seinen
Arbeiten zu LAFS (love at first sight) überzeugend dar. Er erinnert uns auch da-
ran, dass im Französischen die Liebe auf den ersten Blick keine Liebe ist, son-
dern ein coup de foudre; buchstäblich ein Donnerschlag. Dieser Donnerschlag,
das unerwartete, das Selbst erschütternde Ereignis wird erst nachträglich in
den Liebesdiskurs des Paares überführt, wenn sich denn zwei zu einem Paar
gefunden haben. (Gibt es eine Liebe auf den ersten Blick zu dritt?) Letztlich ist
die Liebe auf den ersten Blick also ein Liebesmythos und nicht als authenti-
sches Erleben im Augenblick aufgehoben.

2. Verfügbarkeit

Liebestechnologien (Dispositive) bringen Formen der Liebe hervor. Das Fahrrad


ist zum Beispiel eine Liebestechnologie, die seit dem späten 19. Jahrhundert
vor allem Frauen neue Möglichkeiten eröffnete. Der größere Bewegungsradius

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_003


6 Michael Gratzke

überstieg die geographische und zum Teil die soziale Endogamie dort, wo es
noch wenig öffentlichen (Nah-)Verkehr gab. Die Verstädterung tat ein Übriges.
Ausflugslokale, Tanzpaläste (heute: Clubs), Kinos sind Liebesdispositive, die
von privaten UnternehmerInnen zur Profitmaximierung betrieben werden. In
der Liebesforschung wird dies oft als eine Kolonisierung einer authentischen
Liebe verstanden. Nur wenige LiebesforscherInnen würdigen die produktive
Kraft der konsumkapitalistischen Liebesdispositive wie Eva Illouz. So wie
Machtwissen bei Foucault Sexualität herstellt, kann Liebe als Ausdruck von
Liebestechnologien gedeutet werden. Die umfassendste neue Liebestechno-
logie ist das Internet. Illouz steht dem online dating allerdings kritisch gegen-
über. Die Verfügbarkeit von potentiellen SexualpartnerInnen, seit Grindr und
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Tinder auf die Spitze des Komforts getrieben, zerstöre unsere Liebeskultur.
Die Frage ist aber, ob die Beschleunigung an sich schon einen qualitativen
Sprung bedeute. Die englische Romanliteratur beschreibt vortrefflich, wie in
der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts jede/-r wusste, wer das größte Erbe
erwarten durfte, welche der Schwestern hübscher war, und welcher Herr eine
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

zweifelhafte Vergangenheit hatte. Die sozialen Medien der Zeit waren andere,
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

aber sie durchdrangen das Leben nicht weniger effizient.

3. LebensabschnittspartnerInnen

In den 1990er-Jahren erklärten Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim die


Ehe zum Auslaufmodell. Neue Formen der Intimität, der Familienstruktur, der
zeitlichen Ordnung des Zusammen- und Getrenntlebens hätten die kleinbür-
gerliche Kleinfamilie nach dem Modell der Fünfzigerjahre obsolet gemacht.
Anthony Giddens sprach von einem demokratischen Aufbruch zu neuen
Formen der Intimität nach dem Modell schwuler (und lesbischer) Vergesell-
schaftung. Gleichberechtigte confluent love würde hierarchische romantic
love ablösen. Dies sind in der Rückschau zeitlich begrenzte Trends im Gewand
von Liebesutopien. Seitdem hat sich der Liebesdiskurs in den westlichen Län-
dern auf die Ehe als Grundform der Intimität zwischen nicht-verwandten Er-
wachsenen zurückbesonnen. Heten lieben nicht wie die Schwulen, sondern
die Schwulen (und Lesben) versöhnen sich mit dem heteronormativen Modell
der Ehe, einschließlich des Adoptionsrechts. Aus Papa-Mama-zwei-Kinder ist
Zwei-Papas- oder Zwei-Mamas-und-zwei-Kinder geworden. Mit Hilfe der Gen-
technik werden gleichgeschlechtliche Eheleute bald biologische Kinder mit-
einander haben können. Der Kulturkampf hat sich von der Dichotomie Ehe/
Nicht-Ehe zur Frage verschoben, wer alles heiraten darf. Die Fronten verlaufen
zwischen BefürworterInnen der Homo-Ehe oder Ehe-für-alle und oft religiös
Die Zeit der Liebe 7

motivierten Konservativen. Die beiden Seiten treffen sich in ihrer Wertschät-


zung der Ehe als privilegierter Lebensform.

4. Lebenslänglich

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie sich noch heute. Dem Ehe-
versprechen folgt traditionell ein Versprechen, zusammenzubleiben, „bis, dass
der Tod euch scheide“. Das Statistische Bundesamt stellt fest: „Im Jahr 2014
wurden in Deutschland rund 166 200 Ehen geschieden, das waren 2,1 % we-
niger als im Vorjahr. Nach den derzeitigen Scheidungsverhältnissen werden
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

etwa 35 % aller in einem Jahr geschlossenen Ehen im Laufe der kommenden


25 Jahre geschieden.“ Was diese Statistik uns nicht sagen kann, ist, wie viele
„eheähnlichen Gemeinschaften“, „Beziehungen“, Studi-Lieben, Miteinander-
Gehen-Paare sich trennen. Nur sehr wenige Liebesratgeber beschäftigen sich
mit der Trennung. Meg-John Barkers Rewriting the Rules ist eine Ausnahme:
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Liebesbeziehungen enden und das sei auch in Ordnung. Wir sollten das als
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

organischen Bestandteil des Liebens ohne Scham oder Schuld akzeptieren.


Ein bewusstes und einvernehmliches Entpaaren (uncoupling) wird jedoch
belächelt. Gwyneth Paltrow bestreitet inzwischen, diesen Begriff überhaupt
verwendet zu haben. Sollten wir aber nicht dieselben Wertmaßstäbe an das
Zusammen-Lieben und das Sich-Trennen anlegen?

5. Ewigkeit

Die Möglichkeit einer ewigen Liebe ist nur in der Religion gegeben, sei es
in einer traditionellen Religion oder der Liebe als (Ersatz-)Religion. Die Ro-
mantik (als Epoche und philosophische Tradition) verschiebt die Garantie
der (Einheit der) Liebe durch Gott in die Garantie der Liebe in der angenom-
menen Einzigartigkeit des liebenden Individuums. Damit verliert die Liebe
ihren äußeren Maßstab und zu einem gewissen Grad ihre Relationalität. Der/
die romantische Liebende beschäftigt sich vornehmlich mit der Frage, ob das
Liebesobjekt ein angemessener Ausdruck der eigenen Befindlichkeit darstelle.
Daraus, so Eva Illouz, erwächst der Erfolg der Psycho-Branche, die dem Indi-
viduum ein Forum bietet, auf dem es sich endlos selbst befragen kann. Wir
lieben nicht (mehr), um uns in dem/der anderen zu verlieren, sondern um uns
selbst zu finden. Einfach ist das nicht. Ohne allgemein anerkannte Verhaltens-
muster des Liebens, sind wir stets auf uns selbst gestellt. Das könnte auch den
erneuten Erfolg traditionaler Beziehungsmuster wie der Ehe erklären.
8 Michael Gratzke

6. Steinzeit

NaturwissenschaftlerInnen aus der Biologie, der evolutionären Psychologie,


den Neurowissenschaften und anderen Fachbereichen erklären die Liebe
zu einer anthropologischen Konstante und erforschen, sehr zur Freude der
Print- und Online-Medien, eine Vielzahl von Faktoren wie zum Beispiel Hor-
mone, Enzyme, Pheromone und Präferenzen in der Gesichtserkennung. Unser
Liebesverhalten dient in dieser Interpretation evolutionären Strategien zum
Schutz des (eigenen) Nachwuchses. Robin Dunbar legt dies in The Science of
Love and Betrayal anschaulich dar. Es ist für eine Population nutzbringend,
einen gewissen Anteil von Männern zu haben, die ihre Gene weit verteilen,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

und einen entsprechenden Anteil von Männern, die sich intensiv um (ihre)
Kinder kümmern. Frauen haben anscheinend unterschiedliche Präferenzen,
was die Gesichtszüge von Männern anbelangt, je nachdem, wo sie sich im
Menstruationszyklus befinden. Um den Eisprung herum ist das Interesse an
hypermaskulinen Alpha-Männchen größer. Was aber für die Menschen der
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Vorgeschichte ein nützliches Verhalten war, kann in der geschichtlichen Zeit


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

zu Konflikten führen. Es mag nützlich sein, dass Frauen fremdgehen; es ist


aber in der Regel nicht gesellschaftlich akzeptiert. NaturwissenschaftlerInnen
können diese Konflikte nicht erklären, denn menschliches Verhalten lässt sich
oft nicht auf Prinzipien der biologischen Nützlichkeit reduzieren. Minnesang
etwa (keine Aussicht auf Fortpflanzung mit der besungenen Dame) ist ein
soziales und ein ästhetisches Phänomen (Einüben höfischer Werte, Entwick-
lung einer modernen Subjektposition). Aus biologischer Sicht ist Minnesang
Zeitverschwendung.

7. Geschichte

Simon May beschreibt die Liebe heute als eine Verlängerung des 19. Jahrhun-
derts. Liebe sei keine anthropologische Konstante, sondern ein komplexes kul-
turelles Instrumentarium, das unserer „ontologischen Verwurzelung“ dienen
soll. Liebe schaffe Heimat in der Welt. May unterscheidet vier große Trans-
formationen der Liebe: In biblischer Zeit sei die Liebe zum Leitwert erhoben
worden. Bis in die frühe Neuzeit hinein wurde sie als Gnade Gottes verstan-
den. Die Romantik dagegen habe das liebende Individuum zum Souverän der
Liebe erklärt. Die vierte Transformation sei noch unvollendet: unser Streben
nach der Bestätigung des Selbst durch die Liebe. (Hier sind sich Illouz und
May einig.) In der enttraditionalisierten Welt des 21. Jahrhunderts ist die Lie-
be auf zweierlei Weise eine Herausforderung. Zum einen soll sie uns Heimat,
Die Zeit der Liebe 9

Selbstwert und ekstatisches Erleben vermitteln, was an sich schon zu viel auf
einmal ist. Zum anderen fordert uns die Liebe Aufmerksamkeit und Arbeit ab.
Für Simon May ist keine Liebe bedingungslos. Schon Gottes Liebe war an die
Bedingung geknüpft, dass wir uns Gott unterwerfen. Die Liebe als Religion der
Liebe hat dieses Erbe angetreten.

8. Gegenwart

Die großen Liebestheorien erklären die Liebe immer in Bezug auf ein Außer-
halb der Liebe. Für Freud ist die Liebe ein Oberflächenphänomen der Sexuali-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

tät. Für Luhmann dient sie der sozialen Kontrolle; in der Nahwelt der Liebe
werden die Werte der Fernwelt verhandelt. Die Naturwissenschaften sehen
die Notwendigkeit der Fortpflanzung. Nach Illouz in der Nachfolge Bourdieus
dient die Liebe dem sozialen Aufstieg: Die beste Partnerwahl ist die, in der
ich mich am besten verkaufe. (Diese Marktmetaphorik kennen wir seit Erich
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Fromms Die Kunst des Liebens.) Um herauszufinden, was Liebe heute bedeu-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

tet, sollten wir erforschen, was Liebe an sich heute bedeutet, ohne sie auf
eine Logik außerhalb der Liebe zu projizieren. Wenn wir uns der Liebe in der
Gegenwart ohne eine theoretische Vorverurteilung nähern, ist die angemesse-
ne Methodologie eine induktive. Wie erklären Menschen ihre Vorstellungen
von Liebe? Was sind die kulturellen Deutungsmuster im Alltagsdiskurs, in den
Medien, in der Kunst? Wie unterscheiden sich diese? Vom Standpunkt einer
induktiven Liebesforschung her ist es nicht relevant, ob ein Lebkuchenherz
vom Jahrmarkt ein Klischee ist, sondern was es für den/die Schenkenden und
die/den Beschenkte/n bedeutet. Eine ethnographische Liebesforschung nach
diesem Muster wird allerdings immer mit dem Problem zu kämpfen haben,
dass die Befragten sich auch immer am Erwartungshorizont der Forscher/
innen orientieren. Wir können nicht in die Köpfe der Menschen hinein­
schauen. Wenn wir es tun, dann nur mit den bildgebenden Verfahren der
Medizin, die uns nichts über die Liebe an sich verraten. Letztlich ist also auch
eine induktive Liebesforschung eine Diskursanalyse und keine Psychoanalyse.

9. Potenzialität

Die Liebe an sich bleibt uns, den Liebenden und den Forschenden, unzugäng-
lich. Man kann sie mit der langue Ferdinand de Saussures vergleichen. Die
langue der Liebe ist ein denkbares Reservoir aller Potentialitäten der Liebe in
allen Kulturen und in allen Epochen. Wir erfahren die Liebe aber immer in
10 Michael Gratzke

der spezifischen parole der Liebe in bestimmten Liebeskulturen zu bestimm-


ten Zeiten. Dies ist die Performativität der Liebe: Liebe ist spezifisch, bezieht
sich aber offen und verdeckt auf die unerschöpfliche Potenzialität der Liebe.
Liebeswandel vollzieht sich in der unendlichen Abfolge sich in der Differenz
wiederholender Akte der Liebe. So wie die Geschlechterperformanz zugleich
an Geschlechternormen gebunden und als gelebtes und erlebtes Handeln sich
graduell verändert, können Liebeshandlungen in millionenfacher Wiederho-
lung neue Aspekte der Potenzialität von Liebe realisieren. Hieraus folgt eine
Sprechakt-Theorie der Liebe: Liebe ist, was Menschen aus Liebe sagen und tun.
Die Liebe an sich bleibt uns verborgen, doch sie muss sich in unendlicher, ver-
schiebender Wiederholung realisieren, um zu existieren.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

10. Zukunft

Jacques Derrida verbleibt in seiner Carte postale im Bezirk der Psychoana-


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

lyse, dessen Grenzen sein facteur (Faktor, Postbote) geduldig immer wieder
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

abschreitet. Hier, wie in anderen Texten, vergibt Derrida die Chance, die Lie-
besmodelle aus dem Gastmahl, auf die er anspielt, für seine Philosophie zu ak-
tivieren. Das Gastmahl führt performativ vor, wie sich Liebesmodelle der Liebe
annähern, um vor der Erreichung des Zieles von einem anderen Modell ein-
geholt zu werden. Liebe wird diskursiv hergestellt und verworfen. Deshalb ist
dieser grundlegende Text der Liebesphilosophie zirkulär angelegt. Alkibiades
holt Sokrates wieder ein und stellt die vorgebliche Endgültigkeit der Rede des
Philosophen in Frage. In den „Envois“, dem ersten Teil der Postkarte, spricht
Derrida diese Performativität des liebenden Sprechens en passant an. In einem
Eintrag vom 3. Juni 1977 heißt es, meine Liebe („mon amour“) werde durch
die Erklärung der Liebe realisiert. Eine Diskurstatsache wird hergestellt, wenn
jemand meine Liebe genannt wird. Das schreibende Ich in den „Envois“ weiß
allerdings nicht, ob der Brief an seinem Bestimmungsort ankommen wird. Der
Derrida-Schüler Jean-Luc Nancy führt in seinem Aufsatz „L’amour en éclats“
weiter aus, dass die Liebe nur insofern eine Singularität darstelle, als dass sie
in sich die Potenzialitäten der Liebe en éclats (in der Zersplitterung, im Leuch-
ten, im Lärm, im Skandal) berge. Die Liebe an sich bleibt uns Liebenden und
Forschenden unzugänglich, aber wie „Europa“ oder „Demokratie“ in Derridas
Das andere Kap und die souveräne Freundschaft in Die Politik der Freundschaft
ist sie ein Leuchtturm, auf den wir zusteuern können. Die Liebe ist immer in
der Zukunft (à venir).
Die Zeit der Liebe 11

Literatur

Barker, Meg-John, Rewriting the Rules. An integrative guide to love, sex and relationships,
New York: Routledge, 2013.
Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt
a. M.: Suhrkamp, 1990.
Derrida, Jacques, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992.
Derrida, Jacques, Die Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002.
Derrida, Jacques, Die Postkarte, Von Sokrates bis Freud und jenseits, Berlin: Brinkmann
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

& Bose, 1982.


Dunbar, Robin, The Science of Love and Betrayal, Main: Faber & Faber, 2012.
Fromm, Erich, Die Kunst des Liebens, Frankfurt a. M.: Ullstein, 1986.
Giddens, Anthony, Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in mordernen
Gesellschaften, Frankfurt a. M.: Fischer, 1993.
Illouz, Eva, Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Luhmann, Niklas, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M.: Suhr-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

kamp, 1994.
Maurer, Christian, „On ‚Love at first Sight‘“, in: Love and Its Objects: What Can We
Care For?, hg. v. Ders., Tony Milligan & Kamila Pacovská, Hampshire: Palgrave-
Macmillan, 2014, S. 160–174.
May, Simon, Love. A History, Yale University Press, 2011.
Nancy, Jean-Luc, „L’amour en éclats“, Alea Nr. 7, 1986.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Andreas Fritzsche

Lust. Das Emotionale als Grundlage der Ethik

Lust heißt griechisch ‚hedone‘ und ist immerhin so wichtig, dass nach ihr ein
Ethiktyp benannt ist, nämlich die hedonistische Ethik. Sie sagt, gut ist das, was
Lust bereitet, und böse ist das, was Schmerzen bringt. Mit der hedonistischen
Ethik werden Epikur, der Vater des rationalen Hedonismus, und auch Kallikles,
der Verkünder eines groben Hedonismus, verbunden.
Lust ist erst mal eine Leidenschaft, ein pathos, denn sie widerfährt uns und
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

wir verhalten uns mehr oder weniger passiv. Die Leidenschaft heftet uns aller-
dings an den Augenblick, so auch die Lust. Im Gegensatz zum Schmerz, Zorn
oder Traurigkeit ist die Lust ein angenehmes, positives Empfinden. Darum ge-
hen manche – wie Kallikles – so weit, um zu sagen, Glück sei Lust. Als Sokrates
dies hört, meinte er ziemlich frech, dann wären doch die Schweine, denen man
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gerade Futterschoten in den Trog schmeißt, die Glücklichsten, und derjenige,


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

der Krätze habe, sei der Glücklichste, denn er könne sich permanent lustvoll
kratzen. Als Kallikles das hörte, wurde er zornig. Dies sei geschmacklos, denn
es gäbe ja verschiedene Arten von Lust. In der Tat gibt es Unterschiede zwi-
schen Lust und Lust, denn es gibt ja nicht nur die „Ergötzungen des Tastsinns“,
sondern auch Freude.
Beim genauen Hinschauen können wir zwischen Vorfreude, der Lust beim
Tun und der Lust danach unterscheiden. Vorfreude sei die schönste Freude,
heißt es; und damit ist das lustvolle Begehren, die schmachtende Sehnsucht
und Freude beim Planen einer Reise gemeint. Die Lust beim Tun stellt sich als
Genuss und Taumel der Sinne ein; die Lust danach empfinden wir im erreich-
ten Gut, in der Ruhe und Entspannung.
Woher kommt die Lust? Weil Menschen, wie Pflanzen und Tiere, auch
Lebewesen sind, und weil Menschen wahrnehmen können, empfinden sie
Lust (und Schmerz). Menschen sind in einem Leib zuhause, sind mit Haut
und Haaren, aber auch mit Kopf und Herz lebendig; und als Lebewesen ha-
ben sie die Aufgaben der Biologie intus, nämlich (A) Selbsterhaltung und
(B) Arterhaltung. Die Alten nannten diese Aufgaben „appetitus naturalis“, also
ein urwüchsisches, ganz natürliches Streben. Leben will leben und will auch
Leben weitergeben. Ein Biologieprofessor sagte mir einmal, dass mit Lust und
Schmerz – mit Zuckerbrot und Peitsche – die Biologie Lebewesen navigiere.
Zum Beispiel meldet die Nase bei beißendem Gestank, dass die Luft schlecht
und Luftwechsel dringend angesagt ist; wenn es dagegen duftet, dann ist in der
Regel die Luft gut oder eine leckere Speise in der Nähe.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_004


14 Andreas Fritzsche

Was macht die Lust verdächtig? Wo liegt das Problem? Jeder von uns kennt
das Phänomen, dass Luststreben uns in heftige Turbolenzen stürzen kann. Wir
erleben uns in solchen Situationen als sehr widersprüchlich, zwischen Nach-
geben und Widerstand hin- und hergerissen und im Widerstreit mit uns selbst,
auf jeden Fall verwirrt. Bisweilen haben wir auch den Eindruck eines Defizits
und erleben uns ziellos, maßlos, haltlos und ungestaltet. Etwas fehlt dann, und
zwar das Menschliche. „Wie ein Schwein benimmst du dich“, kann ich dann
hören, und stelle fest, dass ich auf ein animalisches Niveau, um das vornehm
zu formulieren, gefallen bin.
Gibt es eine Lösung? Unser Streben nach Lust ist zutiefst menschlich, und
dieses gilt es zu respektieren. Damit die Lust eine menschliche Lust werden
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

kann, bedarf sie der Gestaltung durch ein Maß, einer Orientierung durch ein
Ziel und einer Balance durch die richtige Mitte; sie braucht die Ordnung durch
die Vernunft, denn die Vernunft ist nicht an den Reiz des Augenblicks gebun-
den und kann darum weiter sehen. Diese vernünftige Ordnung ist eine Tugend
und hat den Namen „temperantia“.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Es gibt eine ganz und gar – sozusagen exklusiv – menschliche Lust: Freude
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

heißt sie. Freude ist eine Lust, die mit Vernunft verbunden ist. Darum freu-
en wir uns, wenn wir ein gutes Buch lesen, jemandem zuhören, ein schönes
Gespräch führen oder eine Erkenntnis gewonnen haben. In der Freude sind
pathos und logos, Leidenschaft und Vernunft zusammen.
Was soll dieser Gedankengang über die Lust? Gewähre deinem Leib Respekt
und respektiere dein Streben nach Lust. Gib allerdings diesem Luststreben
eine menschliche, vernünftige Gestaltung und Orientierung. Übrigens steigert
das die Genussfähigkeit deutlich.

Literatur

Platon, Gorgias, Stuttgart: Reclam, 2013.


Antonio Roselli

Ein ,völlige[r] Subjekt-Objekt-Wechsel‘:


Anmerkungen zu den erkenntnistheoretischen
Implikationen der ‚Ergriffenheit‘

Das Substantiv Ergriffenheit, dessen Eintrag in Grimms Wörterbuch lediglich


einen Verweis auf die lateinischen Begriffe ‚commotio‘ und ‚stupor‘ aufweist,1
wird laut Duden als „tiefe Gemütsbewegung unter dem Eindruck eines feier-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

lichen Ereignisses, erhebenden Erlebnisses o. Ä.“ bestimmt.2 Neben dieser


allgemeinen Definition gibt es eine spezifischere Verwendung, die von den
1910er- bis in die 1950er-Jahren eine besondere Konjunktur erfährt:3 In diesem
Zeitraum wird die ‚Ergriffenheit‘ als kulturwissenschaftliches Konzept zum
gemeinsamen Nenner theoretischer Zusammenhänge, die eine Schnittstelle
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

zwischen philosophischen, ethnologischen, religionswissenschaftlichen und


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

ästhetischen Diskursen markieren.


Es lassen sich in diesem Kontext vier verschiedene Ebenen unterscheiden,
auf denen das Konzept ‚Ergriffenheit‘ wirksam ist. Erstens: Phänomenebene –
‚Ergriffenheit‘ als konkreter Effekt des Ergriffenwerdens. Zweitens: ‚Sichtbar-
machung‘ – im Sinne einer Kategorie, welche bestimmte Zusammenhänge,
Erfahrungen, Phänomene sichtbar und somit einer theoretischen Reflexion
zugänglich werden lässt. Drittens: Methodenreflexion – ‚Ergriffenheit‘ wird
zum Angelpunkt für eine grundlegende Reflexion über die Funktionsweisen
einer kulturwissenschaftlichen oder literarischen Hermeneutik, ihrer Prä-
missen und ihrer Gegenstandskonstitution. Viertens: ‚Zugangsbedingung‘ –
‚Ergriffenheit‘ trägt, als Kriterium zur Bestimmung derjenigen Subjekte, die an
der Wissenschaft teilhaben oder nicht teilhaben können, zu einer „Verknap-
pung […] der sprechenden Subjekte“4 bei. Auf diesen vier Ebenen strukturiert
das Konzept der ‚Ergriffenheit‘ unterschiedliche Disziplinen, so beispielsweise
die Religionswissenschaft (bei Rudolf Otto, Walter F. Otto oder Karol Kerényi),

1 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, online unter: http://woerter
buchnetz.de/DWB/?lemma=ergriffenheit (zuletzt: 20.05.2016).
2 Duden, online unter: http://www.duden.de/rechtschreibung/Ergriffenheit (zuletzt: 20.05.
2016).
3 Vgl. im Sinne eines Überblicks Michael Neumann, „Ergriffenheit: Figurationen der Berüh-
rung“, in: Die streitbare Klio. Zur Repräsentation von Macht und Geschichte in der Literatur,
hg. v. Elizabeth Guilhamon und Daniel Meyer, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2010, S. 27–42.
4 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M.: Fischer, 1991, S. 26.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_005


16 Antonio Roselli

die Ethnologie (bei Leo Frobenius und Adolf Ellegard Jensen) sowie die Litera-
turwissenschaft (bei Emil Staiger).
Die „Universalität des Pathischen“5, die nach dem Ethnologen und Sozio-
logen Wilhelm Emil Mühlmann in der begrifflichen bzw. konzeptionellen Ver-
wendung der ‚Ergriffenheit‘ sichtbar wird, kann man anhand der „Akttypen
des Erlebens und Erleidens mit ihren mannigfachen Spielarten“ beschreiben,
„denen allen gemeinsam ist, daß dem Subjekt etwas ‚widerfährt‘.“6 Die ent-
sprechende Terminologie ist somit immer eine „passivistische“: „Berührtsein,
Gefesseltsein, Erhobensein, Erschüttertsein, Gepacktsein, Ausgeliefertsein,
Überwältigtsein und Erfaßtsein.“7 Trotzdem weist dieses Phänomen auch eine
spielerische Dimension auf: „Ergriffenheit bedeutet immer ein Beherrscht-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

und Erfülltsein durch etwas; aber nicht unbedingt ein schweres, zwangsmäßi-
ges, auch nicht immer ein leidenschaftliches, oft nur ein spielerisches.“8
Auf einer tieferen Ebene, die an die in der dritten Funktion bereits erwähn-
te Methodenreflexion anschließt, verhandelt das Konzept der ‚Ergriffenheit‘
das Verhältnis von Subjekt und Objekt und die Frage nach dem Status des
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

(erkennenden, handelnden) Subjekts selbst im Spannungsfeld von Aktivität


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

und Passivität. Mühlmann hebt die anthropologischen Prämissen des Kon-


zepts der ‚Ergriffenheit‘ hervor, indem er die Bestimmung der „verstehende[n]
Methode“9 in kritischer Abgrenzung zu einer durch den Begriff der Handlung
geprägten Sozialwissenschaft entwickelt. Handel und Handlung als Defini-
tionsmerkmale des Menschen sind mit Mühlmann keine neutralen, sondern
wertende Kategorien: „Es ist die Emphase des eingreifenden Tuns, dessen
verändernde Wirkungen in der Umwelt unmittelbar sichtbar werden. Und
damit ist auch eine Abwertung der bloß kontemplativen oder meditativen
Haltung verbunden, und erst recht eine Abwertung der gesamten Sphäre des
‚Pathos‘.“10 Dagegen werde durch die Fokussierung der ‚Ergriffenheit‘ „der
Akzent […] in eine Richtung“ verschoben, „die dem Handlungsbegriff geradezu

5  Wilhelm Emil Mühlmann, „Ergriffenheit und Besessenheit als kulturanthropologisches


Problem“, in: Ergriffenheit und Besessenheit. Ein interdisziplinäres Gespräch über transkul-
turell-anthropologische und -psychiatrische Fragen, hg. v. Jürgen Zutt, Bern/München:
Francke, 1972, S. 69–79, hier S. 70.
6  Ebd.
7  Ebd.
8  Karl Kerényi, „Ergriffenheit und Wissenschaft“, in: Apollon. Studien über antike Reli-
gion und Humanität. Neuausgabe mit einer Folge von Betrachtungen über Mysterien des
Humanen, hg. v. Ders., Düsseldorf: Eugen Diederichs, 1953 [1936], S. 63–71, hier S. 65.
9  Wilhelm Emil Mühlmann, a.a.O., S. 69. Seine Kritik richtet sich besonders gegen Max
Weber.
10 Wilhelm Emil Mühlmann, a.a.O., S. 69.
Ein ,völlige[r] Subjekt-Objekt-Wechsel ‘ 17

entgegengesetzt“11 sei. Mühlmann sieht in der ‚Ergriffenheit‘ den Punkt, an dem


Gegenstand und Methode der Kulturanthropologie konvergieren (wobei seine
Ausführungen sich auf alle verstehenden Wissenschaften erweitern ließen):
„Die Methode muß dem Gegenstand kongenial sein und dann die Phänomene
distanzierend hinstellen; also Empathie mit nachfolgender Objektivierung.“12
Dieser „Korrelation zwischen Gegenstand und Methode“13 kommt eine zent-
rale Bedeutung zu, da sie ein Primat der Passivität voraussetzt, welches Mühl-
mann wiederum anthropologisch deutet. Es sind diese anthropologischen
Prämissen, die die ‚Ergriffenheit‘ in der Debatte um Rationalismus und Irra-
tionalismus zum politisch aufgeladenen – und von ihren Kritikern als latent
faschistoid empfundenen – Kampfbegriff avancieren lassen.14
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Die ‚Ergriffenheit‘ führt den/die BetrachterIn an die Grenze des Erfahrbaren,


des Rekonstruierbaren:

[S]o gilt es, sich der ungewöhnlichen Lage zu fügen und Ungewöhnliches zu
versuchen: Stellung zu nehmen in jener tiefsten erreichbaren Schicht des
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Entstehens von Werken der Kultur, wo Felsmaler und Philolog, aber auch der
Erschauer einer Göttergestalt, noch ganz unterschiedslose, undifferenzierte
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Quellen, Mittel oder Erleidende der Kulturschöpfung, wo sie – um dieses Wort


gleich auszusprechen – ‚Ergriffene‘ sind.15

In seinem Vortrag „Ergriffenheit und Wissenschaft“ verteidigt Kerényi die Le-


gitimität einer Wissenschaft, die von einem konstitutiven Moment der ‚Ergrif-
fenheit‘ ausgeht und ihren Ausgangspunkt somit in einer radikal subjektiven
Position sieht. Die zwei Pole ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ gehen dabei allerdings eine
Relation ein, die zugleich destabilisierende und stabilisierende Züge trägt. Die
Subjekt-Objekt-Relation wird nicht ausgehend von einem Primat des Sub-
jekts verstanden, worin dieses über die Welt (die Objekte) verfügt. Stattdessen
wird das Subjekt von der Außenwelt affiziert, in seinem vermeintlich festen,
umrissenen und klar definierten Subjektstatus in Frage gestellt. So zeichnet
Kerényi den Umgang mit Göttlichem als eine „Ausschließlichkeit des Umgangs“,

11 Ebd., S. 70.
12 Ebd., S. 71.
13 Ebd.
14 Vgl. z.B. de Ernesto Martino, „Fenomenologia religiosa e storicismo assoluto“ und „Stori-
cismo e irrazionalismo nella storia delle religioni“, beide in: Storia e metastoria. I fonda-
menti di una teoria del sacro, hg. v. Ders.; Marcello Massenzio, Lecce: Argo, 1995 [1954 und
1957], S. 47–74 und S. 75–96. Vgl. auch die Rekonstruktion bei Walter Burkert, „Griechische
Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne“, in: Les études classiques aux XIXe et
XXe siècles: Leur place dans l’histoire des idées, hg. v. Willem den Boer, Genève: Fondation
Hardt, 1980, S. 159–199, bes. S. 187ff.
15 Karl Kerényi, „Ergriffenheit und Wissenschaft“, a.a.O., S. 63.
18 Antonio Roselli

als „völliges Aufgehen des Subjekts in ihm“, der „sogar den Zustand zeitigen
[kann], der einen völligen Subjekt-Objekt-Wechsel hervorbringt: die Ergriffen-
heit. In der Ergriffenheit wird der Gegenstand zum Subjekt, zum Ergreifenden
und Richtunggebenden.“16 Gerade diese Umkehrung und das damit einherge-
hende Primat des Objekts bedingt die radikal subjektive Ausgangsposition, da
das Subjekt sich als ein vom Objekt ‚auserwähltes‘ erlebt.17
Dieses Moment des ‚Selbstverlusts‘ – der „offene[n], empfangende[n] Passi-
vität“18, so Kerényi, oder der „staunende[n] Achtung vor dem Gegenstand“19, so
Burkert, weist stets auch eine produktive Seite auf. Die Phase der ‚Ergriffenheit‘
wird, nach Frobenius und Jensen, durch Spiel und Mimesis gekennzeichnet:
„[I]n der Periode, da das Wesen der Pflanze den Menschen ergriffen hat, spielt
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

er, der Mensch, deren Rolle, denkt er, mimt er ihr Wesen“.20 ‚Ergriffenheit‘ und
‚Ausdruck‘ hängen somit unmittelbar zusammen. Die Kopplung von Passivi-
tät und Aktivität wird von Kerényi in seinem Artikel zu Frobenius’ Begriff der
Paideuma entsprechend emphatisch auf eine humanistische These zugespitzt:
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Es ist eine Fähigkeit zum Reagieren, also etwas wesentlich Passives, obwohl
gerade dieses Reagieren sich in Taten und Schöpfungen – Werken der Kultur –
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

auswirkt. Denn im Grunde genommen wählt man nie, sondern wird immer
gewählt: gewählt von bildnerischen Mächten, denen er sich nicht entziehen
kann. […] Mensch sein bedeutet soviel als dieses Ausgeliefert sein […].21

Eine progressive ‚Habitualisierung‘ lässt diese ursprünglich kreative Phase in


diejenige der „Anwendung“ übergehen: „[D]er Mensch lebt sich so eindringlich
hinein, daß das Wesen der Pflanze zur Naturerscheinung seiner Kultur wird,

16 Karl Kerényi, Umgang mit Göttlichem. Über Mythologie und Religionsgeschichte, Göttin-
gen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1955, S. 5.
17 Vgl. Karl Kerényi, „Ergriffenheit und Wissenschaft“, a.a.O., S. 68: „Denn das Grundgefühl
der Ergriffenheit ist dies: die Wahrheit hat mich gewählt und nicht ich sie. Und das ist
zugleich das Gefühl dafür, daß wir diese Wahl verantworten können. Wir setzen dafür
unsere Person ein: nicht auf Grund der Unklarheit und Unfreiheit, sondern auf Grund
des klaren Erkennens und des freien Dienstes.“ Siehe auch Kerényis Ausführungen zur
Identität von Religion und Wissenschaft (ebd., S. 70).
18 Karl Kerényi, „Landschaft und Geist“, in: Apollon. Studien über antike Religion und
Humanität. Neuausgabe mit einer Folge von Betrachtungen über Mysterien des Humanen,
hg. v. Ders., Düsseldorf: Eugen Diederichs, 1953 [1935], S. 90–104, hier S. 94.
19 Walter Burkert, Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, a.a.O.,
S. 191.
20 Leo Frobenius, Kulturgeschichte Afrikas. Prolegomena zu einer historischen Gestaltlehre,
Wuppertal: Peter Hammer, 1998 [1933], S. 39.
21 Karl Kerényi, „Paideuma“, in: Wege und Weggenossen II, hg. v. Ders., München: Albert
Langen & Georg Müller, 1988 [1938], S. 197–199, hier S. 198f.
Ein ,völlige[r] Subjekt-Objekt-Wechsel ‘ 19

und dies Spiel endet in der Anwendung der Pflanze – im Pflanzenbau[.]“22,


so wieder Frobenius, dessen positives Verständnis der ‚Ergriffenheit‘ zu einer
kulturkritischen und verfallsgeschichtlichen Diagnose der Gegenwart als ‚Zeit-
alter der Anwendung‘ führt.
Der Umschlag von Subjektivität in Objektivität lässt sich, in Anlehnung an
die von Emil Staiger geprägte Formel, als „begreifen, was uns ergreift“23 zu-
sammenfassen (Mühlmanns zitierte Formulierung einer „Empathie mit nach-
folgender Objektivierung“ kann als Variante von Staigers Forderung gelesen
werden). Ähnlich wie Kerényi stellt sich Staiger die Frage, ob es möglich sei,
eine Wissenschaft (in seinem Falle die Literaturwissenschaft) auf das „aller-
subjektivste Gefühl“, auf „Liebe und Verehrung“24 zu gründen. Diese Frage
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

führt unweigerlich weiter zu derjenigen, ob eine verstehende Wissenschaft


ohne ‚Ergriffenheit‘ möglich sei.
Die Verbindung von ‚Ergriffenheit‘ und Wissenschaft funktioniert wieder-
um als Inklusions- und Exklusionsmechanismus, da nur derjenige, der ergrif-
fen wurde, auch die Voraussetzung dafür mitbringt, in einer „nachfolgende[n]
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Objektivierung“ (Mühlmann) aus Gefühlen Wissenschaft entstehen zu lassen.


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Nur der/die Ergriffene hat Mitspracherecht in der Gemeinschaft der Ergrif-


fenen, zu deren Priester der (Literatur-)Wissenschaftler avanciert, der, mit
Staiger, begreifen soll, was uns ergreift.25 Auch, wenn der Faschismusverdacht
nicht überall greift – man denke an Walter F. Otto oder Karl Kerényi26 – und
der Irrationalismusvorwurf bei den genannten Autoren immer schon am
Anfang der eigenen Reflexion steht und somit mitgedacht wird, lösen diese
Wirkungen der ‚Ergriffenheit‘ dennoch Unbehagen aus.
Ob eine strengere Dialektik der ‚Ergriffenheit‘ es dagegen vermag, diese
noch zu retten – wie es der italienische Ethnologe Ernesto De Martino in den
1950er Jahren von links versucht hat, indem er die ‚Ergriffenheit‘ nicht als
etwas primäres, unmittelbares und unhinterfragbares, sondern als eine immer
schon kulturell vermittelte Praxis deutete – oder ob ihre Rettung überhaupt

22 Leo Frobenius, Kulturgeschichte Afrikas. Prolegomena zu einer historischen Gestaltlehre,


a.a.O., S. 39.
23 Emil Staiger, „Die Kunst der Interpretation“, in: Die Kunst der Interpretation, hg. v. Ders.,
München: DTV, 1971 [1955], S. 7–28, hier S. 8.
24 Vgl. ebd., S. 10.
25 Vgl. zu diesem Mechanismus bereits Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der
Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München: C. H. Beck, 2004 [1917],
S. 8 sowie Karl Kerényi, „Ergriffenheit und Wissenschaft“, a.a.O., S. 67: „Es gehört sogar zur
Theorie der Ergriffenheit, zu behaupten, daß es ohne Fähigkeit zum Ergriffensein kein
Begreifen dieses Kerns jeder Kultur gibt.“
26 Im Unterschied beispielsweise zu der Position Mühlmanns und, bis zu einem gewissen
Grad, auch derjenigen Staigers.
20 Antonio Roselli

wünschenswert sei, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden.27 Anknüp-


fungspunkte aber gibt es genug.

Literatur

Burkert, Walter, „Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne“, in:
Les études classiques aux XIXe et XXe siècles: Leur place dans l’histoire des idées, hg. v.
Willem den Boer, Genève: Fondation Hardt, 1980, S. 159–199.
Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M.: Fischer, 1991.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Frobenius, Leo, Kulturgeschichte Afrikas. Prolegomena zu einer historischen Gestaltlehre,


Wuppertal: Peter Hammer, 1998 [1933].
Kerényi, Karl, „Ergriffenheit und Wissenschaft“, in: Apollon. Studien über antike Reli-
gion und Humanität. Neuausgabe mit einer Folge von Betrachtungen über Mysterien
des Humanen, hg. v. Ders., Düsseldorf: Eugen Diederichs, 1953 [1936].
Kerényi, Karl, „Landschaft und Geist“, in: Apollon. Studien über antike Religion und
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Humanität. Neuausgabe mit einer Folge von Betrachtungen über Mysterien des
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Humanen, hg. v. Ders., Düsseldorf: Eugen Diederichs, 1953 [1935], S. 90–104.


Kerényi, Karl, „Paideuma“, in: Wege und Weggenossen II, hg. v. Ders., München: Albert
Langen & Georg Müller, 1988 [1938], S. 197–199.
Kerényi, Karl, Umgang mit Göttlichem. Über Mythologie und Religionsgeschichte, Göt-
tingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1955.
Martino, Ernesto de, „Fenomenologia religiosa e storicismo assoluto“, in: Storia e me-
tastoria. I fondamenti di una teoria del sacro, hg. v. Ders./Marcello Massenzio, Lecce:
Argo, 1995 [1954] S. 47–74.
Martino, Ernesto de, Katholizismus, Magie, Aufklärung. Religionswissenschaftliche
Studie am Beispiel Süd-Italiens, München: Trikont Dianus, 1982 [1959].
Martino, Ernesto de, Morte e pianto rituale nel mondo antico. Dal lamento pagano al
pianto di Maria, Turin: Bollati Boringhieri, 1958.
Martino, Ernesto de, „Storicismo e irrazionalismo nella storia delle religioni“, in: Storia
e metastoria. I fondamenti di una teoria del sacro, hg. v. Ders./Marcello Massenzio,
Lecce: Argo, 1995 [1957], S. 75–96.
Mühlmann, Wilhelm Emil, „Ergriffenheit und Besessenheit als kulturanthropologi-
sches Problem“, in: Ergriffenheit und Besessenheit. Ein interdisziplinäres Gespräch

27 Vgl. u. a. Ernesto de Martino, Katholizismus, Magie, Aufklärung. Religionswissenschaftliche


Studie am Beispiel Süd-Italiens, München: Trikont Dianus, 1982 [1959] und Ders., Morte
e pianto rituale nel mondo antico. Dal lamento pagano al pianto di Maria, Turin: Bollati
Boringhieri, 1958.
Ein ,völlige[r] Subjekt-Objekt-Wechsel ‘ 21

über transkulturell-anthropologische und -psychiatrische Fragen, hg. v. Jürgen Zutt,


Bern/München: Francke, 1972, S. 69–79.
Neumann, Michael, „Ergriffenheit: Figurationen der Berührung“, in: Die streitbare
Klio. Zur Repräsentation von Macht und Geschichte in der Literatur, hg. v. Elizabeth
Guilhamon/Daniel Meyer, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2010, S. 27–42.
Otto, Rudolf, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Ver-
hältnis zum Rationalen, München: C. H. Beck, 2004 [1917].
Staiger, Emil, „Die Kunst der Interpretation“, in: Die Kunst der Interpretation, hg. v.
Ders., München: DTV, 1971 [1955], S. 7–28.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Thorsten Bothe

Schlagfertigkeit

1. Anfangsteil (exordium)1

Schlagfertigkeit ist ein von der Rhetorik, auch der empirischen, wenig unter-
suchtes Phänomen, eine Forschungslücke, ein Forschungsdesiderat. Ob sie er-
lernbar ist oder nicht, scheidet von jeher die Geister und produziert ein Meer
an Ratgeberliteratur, das wenig schlagfertig, aber – bei gelungener Überredung
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

zum Kauf solch unsäglicher Bücher – unwissender und um so ärmer macht.


Schlagfertigkeit changiert als Thema zwischen rhetorisch gelungener Argu-
mentation und einer noch zu bestimmenden Philosophie des Schweigens.
Schlagfertigkeit nämlich, so ein geflügeltes Wort der Rhetorik, ist gerade
das, was einem drei bis vier Tage später erst einfällt. Dies verrät bereits, wer
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

nicht schlagfertig genug war oder geschwiegen hat, es zuvörderst gerne anders
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

oder besser oder überhaupt etwas gesagt hätte. Es lässt auch erahnen, dass die
Kunst zu beleidigen, also sogenannte ad hominem-Argumente (Argumente
gegen die Person, nicht zur Sache) im Spiel gewesen sein könnten. Ebenfalls
verrät uns das Sprichwort eine Abfolge der Rede, einen Schlagabtausch, der
offenbar abrupt endet oder aber nicht wieder erneut beginnt – Letzteres ist
die schwierigste Frage.

A) Erwecken von Aufmerksamkeit (attentum parare)


Ich erlaube mir, ein mehr oder minder lustiges Beispiel zu geben: Bei einem
Abendessen in der englischen high society soll eine gewisse Lady Astor einen
Gast, der ihr gegenübersaß, laut und sehr beifallsheischend mit folgendem Satz
vorwurfsvoll und in höchstem Maße missbilligend gemaßregelt haben: „Sie
sind ja völlig betrunken!“ Die Erwiderung, von keinem geringeren als Winston
Churchill ausgesprochen, kam promt: „Das ist sehr richtig, Sie aber sind häss-
lich, ich hingegen werde morgen früh nüchtern sein.“ Eine Antwort blieb aus.

B) Betroffenheit (tua res agitur)


Mir scheinen alle Menschen nach mehr Schlagfertigkeit zu streben: in Alltags-
situationen, im Brief- und E-Mailverkehr, in sozialen Netzwerken, im Seminar,
gar auf einigen Konferenzen, wo das Doktoranden-bashing noch verbreitet ist,

1 Die Gliederung des Beitrags folgt der Gliederung für eine kurze Musterrede aus Tim-
Christian Bartsch et al., Trainingsbuch Rhetorik, Paderborn: Schöningh, 2013, S. 41–50.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_006


24 Thorsten Bothe

aber auch bei Publikationen, wenn man rezensiert wird und feststellen muss,
das die Rezension, die schon lange nicht mehr der Information der potentiellen
Leser dient, zu einem Forum der persönlichen Abrechnungen verkommen ist.

C) Erwecken von Wohlgefallen (benevolum parare)


So scheint es nicht nur nützlich, eine elaborierte Theorie der Schlagfertigkeit
innerhalb der Rhetorik zu fordern, sondern auch von der Philosophie ihre Fun-
dierung im Hinblick auf den Komplex des Schweigens und die hate speech –
Worte können verletzen – einzufordern.

D) Ankündigung des Redezieles (propositio)


wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Folgendes will ich zeigen: Wie also funktioniert erstens Schlagfertigkeit, ist sie
rhetorisch doch lern- und lehrbar? Und zweitens, wenn der oder die Geschla-
gene verstummt, bricht dann die Rede ab oder beginnt sie gar nicht erst wie-
der? Letzteres wäre die eher philosophische Frage.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

2. Vorschau auf den Inhalt der Rede (partitio)

Ich möchte ein weiteres, weniger lustiges Beispiel geben, dass mir oft nicht
mehr historisch, sondern in letzter Zeit wieder politisch aktueller denn je
erscheint. Ich möchte Ihnen dieses weitere Beispiel im Hinblick auf die Ar-
gumentationsstruktur und rhetorische Topik, also die Lehre vom Auffinden
des Redestoffes, aufgliedern und zeigen, wie genau das Contra und damit die
Schlagfertigkeit funktioniert:

3. Erzählung (narratio)

„Der spätere Kardinal Graf Galen in Münster war während der Nazi-Herrschaft
der Regierung sehr unbequem und entsprechendem Druck ausgesetzt.“2 Ein-
mal predigte er von der Kanzel wieder besonders harsch und prangerte sowohl
die nationalsozialistische Familienpolitik als auch deren Kinder- und Jugend-
erziehung sehr hart an.
Ein Mann mit offensichtlich starkem nationalsozialistischen Hintergrund,
der seiner Ehefrau zuliebe diese wohl in den Gottesdienst begleitet hatte,
sprang sehr erbost auf und störte lauthals mit einem Zwischenruf: Wie gerade

2 Paul Herrmann, Reden wie ein Profi. Rhetorik für den Alltag, München: Orbis, 1992, S. 126f.
Schlagfertigkeit 25

ein Kirchenmann, unverheiratet und kinderlos überhaupt zu solchen Fragen


Stellung nehmen könne?!
Graf Galen – ganz reflexiver Rhetor – antwortete nach einer Kunstpause
sehr ruhig und bedacht: „Eine solche Kritik am Führer kann ich in meinem
Hause nicht dulden.“

4. Argumentation (argumentatio)

Was ist hier genau passiert? Wir freuen uns, dass der Nationalsozialist einen
Dämpfer erhalten hat und schweigt. Das ist gut und legitim, aber lassen wir die
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

emotionale Ebene erst einmal beiseite.


Was hier vorliegt ist nicht einfach ein Gegenargument, sondern ein soge-
nanntes Spiegelargument, eine besondere Kreuzung aus Gegenargument und
bloßem Einwand. Beim Spiegelargument wird die Schlussregel des Gegners
stabil gehalten und nur die Prämissen werden so verändert, dass sich ein ent-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gegengesetztes Argument daraus ergibt. Zum bloßen Gegenargument hat dies


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

zwei Vorteile: Die Auswahl der Einwände ist gering, hier gleich null und die
Schlussregel kann nicht mehr angegriffen werden, da sie vom Gegner, in die-
sem Fall dem Zwischenrufer, selbst eingeführt worden ist. Ich erinnere: Wer
unverheiratet und kinderlos ist, kann zu familienpolitischen Fragen keine Stel-
lung nehmen.
Ob nun bewusst oder unbewusst, unser Zwischenrufer hat sich für sein
Argument einer klassischen rhetorischen Topik bedient, den Fundorten zu Per-
sonen. Diese Gemeinplätze sind historisch in der Rhetorik in sogenannten Lis-
ten ausgeprägt und tradiert, die genutzt werden, um Argumente zu generieren.
Muss man z.B. eine Geburtstagsrede halten, findet man in diesen Listen Be-
zeichnungen wie Familie, Nationalität, Alter, Geschlecht, Ausbildung, Charak-
ter, Physiognomie, Vorgeschichte, soziale Stellung usw. Unser Zwischenrufer
hat nun Beruf und Familie für sein Argument gewählt, aber deren Spiegelung
nicht bedacht. Wenn Graf Galen, was seine Personenbeschaffenheit anbe-
langt, nicht in der sozialen Stellung, also normrelevanten Position ist, um über
Familienpolitik zu sprechen, ist es der Führer auch nicht.
Nun schweigt – so ist es historisch verbürgt – der geschlagene Zwischen-
rufer in unserem Beispiel. Wie aber ist dieses Schweigen zu deuten und ist es
gar ein Marker für Schlagfertigkeit? Die Rhetorik kennt zwei Sprachfiguren, die
das Schweigen vorstellen können, die Aposiopesis, eingedeutscht Aposiopese,
den sogenannten Abbruch der Rede; „she is so beautiful, I can’t go on …“ –
wobei die schöne Literatur hier zahlreiche Beispiele kennt, wo emotionale
Überwältigung durch den Abbruch der Rede angezeigt wird. Die zweite Figur
26 Thorsten Bothe

ist die Praecisio, die Figur von gar nicht erst Anfangen zu sprechen. Z.B. Ge-
richtsfälle, die dadurch beschlossen werden, dass man sie gar nicht erst eröff-
net oder Musikstücke wie John Cages Berühmtes fürs Klavier, wo minutenlang
kein Ton erzeugt wird.3 Woher können wir wissen, dass der Zwischenrufer sich
geschlagen gab? Ob ihm wirklich die Worte fehlten?

5. Schlussteil (peroratio)

Sicher ist, dass sich ein schlagfertiges Argument aus einer guten Topik und
Kenntnis der Argumentationslehre entwickeln lässt. Unsicher hingegen, wie
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

das Schweigen, wenn es eintritt, zu verstehen ist. Als Ratlosigkeit, Zustimmung,


Hinhaltetaktik oder gar als ein stilles, performtes „Ich habe doch Recht“?

A) Zielsatz (conclusio)
Daher ist es richtig, vor einer elaborierten Theorie der Schlagfertigkeit, eine
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Fundierung ihrer rhetorischen Implikationen durch eine ausgearbeitete Phi-


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

losophie des Schweigens zu leisten. Was zugleich erklärt, warum es eine gute
rhetorische Theorie der Schlagfertigkeit noch nicht gibt und die Ratgeberlite-
ratur ihr Ziel nicht erreicht. Schlagfertigkeit wird erst lern- und lehrbar, wenn
man weiß, wann, ob und wie geschwiegen wird.

B) Handlungsaufforderung
Ich spare mir die in der peroratio, dem Schlussteil, der conclusio nachfol-
gende Handlungsaufforderung an das Publikum. Ich hoffe, ich konnte einen
anregenden Beitrag stiften und werde nun schweigen. Vielen Dank für die
Aufmerksamkeit!

Literatur

Bartsch, Tim-Christian/Hoppmann, Michael/Rex, Bernd F./Vergeest, Markus, Trai-


ningsbuch Rhetorik, Paderborn: Schöningh, 2013, S. 41–50.
Herrmann, Paul, Reden wie ein Profi. Rhetorik für den Alltag, München: Orbis, 1992.
Quinn, Arthur, Figures of Speech. 60 ways to turn a phrase, New York: Routledge, 1995.

3 Zur Differenz von Praecisio und Aposiopesis, der Praecisio als Figur einer „omission of
everything“ und Folgefigur der Aporie vgl. Arthur Quinn, Figures of Speech. 60 ways to turn
a phrase, New York: Routledge, 1995, S. 36–37.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Phänomenologie
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Yvonne Förster

Überlegungen zu einer Philosophie der Mode

Die Philosophie ist gemeinhin dafür bekannt, den Dingen auf den Grund zu
gehen, nach Prinzipien und unhintergehbaren Bedingungen zu suchen. Ihre
Überlegungen nehmen zumeist ihren Ausgangspunkt bei unumstößlichen
Gewissheiten, wie dem Cogito Descartes’ – das Ich denke, welches als solches
nicht bezweifelt werden kann. Die Mode ist demgegenüber ein Phänomen, das
zumindest auf den ersten Blick durch Vergänglichkeit, Unbeständigkeit und
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Oberflächlichkeit geprägt ist. Ein großer Kritiker der Kultur der Oberfläche war
Jean-Jacques Rousseau, der schreibt: „Die Kraft und Stärke des Körpers findet
man im bäurischen Gewand eines Landmanns, nicht aber im Prunkstaat eines
Hofmannes. Der Tugend, die Kraft und Stärke der Seele ist, ist der Putz völlig
fremd.“1 Rousseau betont den gesunden Körper und die starke Seele als Merk-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

male eines tugendhaften Menschen. Die Seele und die Tugenden stehen für
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

eine Innerlichkeit, der die Äußerlichkeit der Mode, des Putzes entgegengesetzt
wird. Eine solche Trennung ist dem Alltagsverständnis mitnichten unbekannt.
Gern wird dem Modenarren charakterliche Oberflächlichkeit und mangelnde
Tugend wie auch leichtes Leben unterstellt. Auch ist es ein bekannter Topos,
dass Mode soziale Rollenbilder konstituiert oder mindestens verstärkt. So
findet sich in der Damenmode immer wieder ein bestimmtes Bild der Frau,
welches eher dem männlichen Wunschdenken als der weiblichen Physis zu
entsprechen scheint. Man denke an die Einschnürung des Körpers in enge
Korsetts oder in jüngster Zeit die Stilettos aus dem Hause Manolo Blahniks.
Die Kritik der sozialen Funktion von Kleidernormen macht einen zentralen
Bestandteil der Modetheorie aus. Modetheorie zielt häufig auf die Beschrei-
bung gesellschaftlicher und sozialer Praktiken und Zusammenhänge ab, auf
Fragen sozialer Rollenzuschreibungen oder den Akzeptanzbedingungen von
Innovation. Solche Herangehensweisen lassen sich in erster Linie der Sozio-
logie oder Institutionentheorie zuordnen.
Demgegenüber möchte ich hier die Frage aufwerfen, ob eine Philosophie
der Mode denkbar ist und was diese leisten könnte. Dafür muss zunächst ge-
sagt werden, worin eine spezifisch philosophische Herangehensweise an das
Thema Mode bestehen könnte. Das ist nicht ganz einfach, da es sich um einen
Begriff handelt, dessen Grenzen und Bedeutungsdimensionen nicht klar

1 Jean-Jacques Rousseau, „Über Kunst und Wissenschaft“, in: Schriften zur Kulturkritik, hg. v.
Kurt Weigand, Hamburg: Meiner, 1995 [1750], S. 11.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_007


30 Yvonne Förster

umrissen sind. Dies schreckt Philosophen in der Regel nicht ab, man denke nur
an den eben erwähnten Begriff der Seele und frage sich, was dieser denn ge-
nau bedeutet – auch in diesem Fall wird man sich sehr schnell vor Unschärfen
und Widersprüche gestellt finden. Man könnte jedoch entgegnen, dass der Be-
griff der Mode anders als der der Seele gesellschaftlich instanziiert und durch
Institutionen vertreten wird. Damit sollte er Gegenstand der soziologischen
Analyse sein. Die Seele hingegen ist nicht direkt zugänglich, kann nicht einer
objektivierenden Untersuchung unterzogen werden. Sie fällt daher eher in das
Feld einer philosophischen Untersuchung, welche sich in theoretischer oder
spekulativer Hinsicht mit den Prinzipien des Lebendigen oder des spezifisch
Menschlichen auseinandersetzt.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Auch wenn dem Begriff der Mode scheinbar zu viel Empirie anhaftet und
zu viele Phänomene darunter zusammengefasst werden, die selbst nichts mit
philosophischen Fragestellungen zu tun haben, so muss das nicht heißen,
dass dieser Begriff der philosophischen Betrachtung nicht würdig wäre. Eini-
ge große Philosophen halten den Begriff der Mode zwar an unscheinbarem
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Platze. Jedoch geben sie zu erkennen, dass sie die Mode für ein Medium spe-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

zifischer Weisheit halten. Ein Beispiel soll an dieser Stelle genügen: ein Den-
ker der deutschen Romantik, Friedrich Schlegel. Er schreibt in seinem Roman
Lucinde folgendes:

Wie die weibliche Kleidung vor der männlichen, so hat auch der weibliche Geist
vor dem männlichen den Vorzug, daß man sich da durch eine einzige kühne
Combination über alle Vorurtheile der Cultur und bürgerlichen Conventionen
wegsetzen und mit einemmale mitten im Stande der Unschuld und im Schooß
der Natur befinden kann.2

Mode wird gern mit der weiblichen Kleidung assoziiert, da die männliche Klei-
dung scheinbar sehr viel weniger Variationsmöglichkeit besitzt – nur so viel
an dieser Stelle zum Geschlechterdiskurs. Auffällig an dieser Textpassage aus
der Epoche der Romantik, aus der Feder des Denkers der romantischen Iro-
nie ist, dass Mode genau mit dem Gegenteil dessen assoziiert wird, was Rous-
seau thematisierte. Für ihn ist Mode täuschende Oberfläche und schlechte
Künstlichkeit. Nach Schlegel führt eine bestimmte Form der Gestaltung die-
ser Oberfläche gerade zur Unschuld (Reinheit der Seele) und zur Natur – im
Gegensatz zur Künstlichkeit. In diesem Zitat wird weiterhin deutlich, dass es
eine Form der Mode gibt, die gerade nicht bürgerliche Konvention (und die
damit einhergehenden Konstruktionen von Geschlechterrollen) zementiert,
sondern sich über diese erhebt. Im aktuellen Diskurs würde man etwa mit

2 Friedrich Schlegel, Lucinde, Stuttgart: Reclam, 1999 [1799], S. 30.


Überlegungen zu einer Philosophie der Mode 31

Judith Butler von der Subversion des Bestehenden sprechen. Die kühne Kom-
bination, welche solches vermag, lässt den Aspekt des spielerischen Umgangs
mit Kleidung und Gedanken (hier ist ja nicht nur die Rede von Kleidung, son-
dern auch vom Denken) erahnen. Der Gedanke des Spiels ist in jener Zeit in al-
ler Munde, man denke nur an Kants „freies Spiel der Erkenntniskräfte“3 bei der
Betrachtung des Kunstschönen oder an das Schiller’sche Diktum vom Mensch,
der erst da ganz Mensch ist, da wo er spielt.4
Die kühne Kombination, von der Schlegel hier spricht, kann man als eine
Anspielung auf den Spielgedanken lesen. Im Text findet sich diese Passage in
der „Allegorie von der Frechheit“.5 Die Frechheit wird direkt mit dem Witz und
der Fantasie assoziiert, welche als Vermögen in dieser Allegorie über den klas-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

sischen Tugenden stehen, die sich in ihrer Tugendhaftigkeit als doppelbödig


und dogmatisch erweisen. Witz und Fantasie stehen für einen spielerischen,
freien Umgang des Denkens mit seinen Gegenständen. Was im ästhetischen
Bereich das Spiel ist, wird für den theoretischen Bereich von Schlegel auf den
Begriff der Ironie gebracht – und auch hier tritt wieder der Begriff des Wit-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

zes auf, sowie die Allegorie, die Paradoxie oder das Fragment. Schlegel führt
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

den Begriff der Ironie als philosophische Methode ein, um zu verdeutlichen,


dass es anders als die Systemdenker seiner Zeit meinen, gerade keine absolute,
definitive Wahrheit gibt. Vielmehr bewegt sich das philosophische Denken in
einem dazwischen, die Begriffe befinden sich in einem Schwebezustand wech-
selseitiger Bestimmung und Relativität.
So muss auch obiges Zitat mit ein wenig ironischer Distanz gelesen werden,
denn sicher denkt Schlegel bei der Rede vom „Schoß der Natur“ nicht an einen
Rousseau’schen Naturzustand, sondern eher an ein Jenseits der Konvention
oder an eine romantische Idylle, welche ihrerseits ein Produkt poetischer Fan-
tasie ist. Hier sei angemerkt, dass die Schlegel’sche Ironisierung ihren Gegen-
stand keinesfalls lächerlich zu machen beabsichtigt, im Gegenteil: Etwas zu
ironisieren bedeutet in diesem Zusammenhang gerade, die Gegenstände in
ihre Vieldimensionalität und Verflochtenheit anzuerkennen und sie nicht auf
einen Aspekt hin zu beschneiden.
Schlegel sagt also von der Mode, dass ihr eine besondere Kraft innewohnt,
nämlich neue Perspektiven innerhalb des Kulturellen und der Konvention zu
eröffnen. Der ästhetischen Geste wird eine theoretische zu Seite gestellt, in
Form des weiblichen Denkens. Ersetzen wir die Zuschreibung zum weiblichen

3 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996 [1790], S. 132.
4 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart: Reclam, 2000
[1794], S. 62f.
5 Friedrich Schlegel, Lucinde, a.a.O., S. 23ff.
32 Yvonne Förster

Geschlecht und sprechen von einer spezifischen Möglichkeit des Denkens,


dann stellt sich die Frage, was genau die Gemeinsamkeit von Mode und Den-
ken sein könnte. Was könnte hier naheliegender sein, als den Begriff der Iro-
nie in seiner philosophischen Gestalt in Anschlag zu bringen? Ironie ist seit
Schlegel eine mögliche Form philosophischen Denkens, die ihre Gegenstände
in gewisser Distanz hält, um sie nicht zu verabsolutieren. Ein solches Denken
kann man auch als eine ästhetisierende Form der Theorie bezeichnen, gerade
wegen der Distanz, die es ermöglicht, die Gegenstände des Denkens in ihren
Bedingtheiten und Perspektiven wahrzunehmen.
In Bezug auf den Begriff der Mode kann man einen Schritt weitergehen und
die ironische Haltung als eine Bedingung der Möglichkeit für Mode beschrei-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

ben. Das bedarf einer Erklärung. Zunächst haben wir mit der Frage nach den
Bedingungen von etwas den Umkreis philosophischer Fragen betreten. Da es
sich bei der Mode jedoch um ein sehr komplexes Phänomen handelt, müssen
auch Einschränkungen vorgenommen werden. Es geht mir in diesem Zusam-
menhang nicht um Kleidung im Großen und Ganzen und auch nicht um Phä-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

nomene, wie das „Pariser Modesystem“ oder die Frage nach dem Status: Haute
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Couture vs. H&M. Was mich interessiert, ist Mode, dort wo sie bewusst einge-
setzt und in ihren Möglichkeiten reflektiert wird. Das geht vom individuellen
Träger über die Präsentation von Kollektionen hin zu Mode als Kunst, wie sie
im Museum zu sehen ist. Nimmt man Mode in ihrer Bedeutung ernst, dann
ergeben sich mindestens zwei Charakteristika: Vergänglichkeit und freier, spie-
lerischer Umgang mit Zeichen und Symbolen. Diese beiden Bestimmungen er-
öffnen der Mode einen Spielraum, der geradezu prädestiniert ist, Mode zum
Medium ironischer Reflexivität zu machen.
Mode entspringt einem sehr alten menschlichen Bedürfnis, sein Äußeres zu
gestalten: Ein Beispiel bilden Körperbemalungen, derer sich Menschen schon
seit Urzeiten bedienen. Dieses Bedürfnis hat seinen Ursprung in der sozialen
Lebensweise. Wir sind Wesen, für die es existenziell notwendig ist, zu kommu-
nizieren, anderen mitzuteilen, was in uns vorgeht, was wir denken und wollen.
Dies geht nur über Ausdruck, über Veräußerung des Inneren durch Sprache,
Mimik, Gestik – kurz: der Gestaltung unserer Erscheinung, unserer Oberfläche.
Dies ist essentiell und hat nichts mit überflüssigem Tand oder Putzsucht zu tun.
Natürlich geht die Mode über die für die Kommunikation notwendige Gestal-
tung der Erscheinung hinaus, womit nun aber gerade spezielle Möglichkeiten
eröffnet werden. War es lange die Kleiderordnung, die uns auf soziale Rollen
oder Geschlechtsspezifika festlegte oder in bestimmten Grenzen immer noch
festlegt, so besteht mit der Mode in ihrer modernen Form die Möglichkeit, diese
auf nicht-ideologische Art in Frage zu stellen. Die Vergänglichkeit und die se-
mantische Offenheit von Mode führen dazu, dass ein Spiel mit individuellen
Überlegungen zu einer Philosophie der Mode 33

und kulturellen Identitäten entstehen kann. Stimmt man meiner Ausgangs-


hypothese zu, dass die Gestaltung der äußeren Erscheinung identitätsbildend
wirkt, dann verleiht es dieser Identität eine besondere Pointe, wenn sie durch
die sehr vergänglichen Mittel der Mode gebildet wird.
Wenn beispielsweise ein religiöses Symbol seinem Kontext entnommen
und in einem ästhetischen Zusammenhang eingesetzt wird, dann verliert es
seine semantische Determination, ohne jedoch die sichtbaren Spuren jener
religiösen Bedeutung zu verlieren. In den letzten Jahren tauchte der Schleier
in verschiedensten Formen immer wieder auf den Laufstegen auf. Eine Ge-
sichtsverhüllung kann nur dann als Mode getragen werden, wenn ihr religiöser
Kontext eingeklammert wird. Denn indem man ein solches Symbol in einen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

modischen Kontext integriert, wird es von seinem Bezug zu einer absoluten


religiösen Wahrheit gelöst und in einen per definitionem vergänglichen Kon-
text eingefügt. Die ursprüngliche Bedeutung bleibt als nur sichtbare präsent,
jedoch ohne normierende Wirkung.
Mode lebt von der Gradwanderung zwischen Individualität und Identifika-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tion mit einer sozialen Gruppe, dies hat Georg Simmel in seinem berühmten
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Aufsatz zur Mode in aller Deutlichkeit dargelegt.6 Damit ist sie nicht reine
Spielerei, sondern erfüllt eine präzise soziale Funktion. Die Systemtheoreti-
kerin Elena Esposito beschreibt dies als Paradoxon, denn Mode bezieht ihre
Konstanz aus der Vergänglichkeit.7 Damit stellt sie eine kulturelle Praxis dar,
welche den Umgang mit Veränderung und Heterogenität gewissermaßen
trainiert. Sie gibt die Möglichkeit, Veränderung zu leben, ohne dabei aus
gesellschaftlichen Normen auszubrechen oder existenziell betroffen zu sein.
Diese paradoxe Verfasstheit nähert die Mode ebenfalls der Ironie an – das
Paradox ist einer der zentralen Begriffe im Kontext der oben genannten Schle-
gelschen Ironie. Und auch in Bezug auf Mode ist Ironie durchaus im philo-
sophischen Sinne zu verstehen, denn was hier geschieht, ist eine ästhetische
Distanzierung von semantischen Festlegungen, welche die ursprünglichen
Bedeutungen nicht verschwinden lässt, sondern sie durch Einfügung in einen
neuen Kontext relativiert.
Die Ernsthaftigkeit, die dieser Funktion zugrunde liegt, führt dazu, dass so
auch eine Ironisierung im philosophischen Sinn möglich wird – indem näm-
lich die Gestaltung der eigenen Identität und die Orientierung an gesellschaft-
lichen Normen durch eine der Vergänglichkeit unterworfene Semantik der

6 Georg Simmel, „Die Mode“, in: Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphiloso-
phie, hg. v. Ingo Meyer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008 [1908], S. 78ff.
7 Elena Esposito, Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode, Frankfurt
a. M.: Suhrkamp, 2004, S. 173ff.
34 Yvonne Förster

Mode realisiert wird, kann auch ein Bewusstsein für die Kontingenz von Iden-
tität und Normen entstehen.
Die ironische Haltung in der Mode lässt sich entlang der Gedanken eines
weiteren prominenten Vertreters ironischen Denkens verallgemeinern. Richard
Rorty betont, dass die Einsicht in die Kontingenz von Überzeugungen und
Weltsichten die liberale Ironikerin (so bezeichnet er die Figur, welche das Ideal
der ironischen Einstellung verwirklicht) dazu führt, keine ihrer eigenen Über-
zeugungen und Ideale als absolut geltend zu setzen, sondern sie als eine Mög-
lichkeit in einer Pluralität anderer Möglichkeiten zu begreifen.8
Dieses ästhetische Spiel in einem Medium, welches dem Individuum im
wahrsten Sinne des Wortes auf den Leib rückt, macht Pluralität in einem Kon-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

text erfahrbar, der weder vollkommen der Realität enthoben ist (reines, fol-
genloses Spiel), noch vollkommen einem festen Regelwerk unterworfen ist.
Die Mode bildet ein Reich dazwischen, welches eine Schule der Ironie im phi-
losophischen Sinn sein kann. Dies ist jedoch nur unter der Bedingung einer
expliziten Reflexion auf das Modegeschehen möglich. An diesem Punkt geht
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Mode in Kunst über – sie zieht die Menschen dann nicht mehr an, sondern
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

macht sichtbar, was die Kunst des Schneiders gemeinhin zu verbergen sucht.
Auch der große Denker der ästhetischen Moderne, Walter Benjamin, betont
die Eigenart der Mode, Tendenzen der Zeit ins Material zu setzen. Mode als
Zeitkunst lebt von den Zitationen des Vergangenen als Zeichen einer mögli-
chen Zukunft. In diesem Sinn ist sie philosophisch relevant:

Das brennendste Interesse der Mode liegt für den Philosophen in ihren außeror-
dentlichen Antizipationen. […] Jede Saison bringt in ihren neuesten Kreationen
irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen
verstünde, der wüsste im voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst,
sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen. – Zweifellos liegt
hierin der größte Reiz der Mode, aber auch die Schwierigkeit, ihn fruchtbar zu
machen.9

Die zeitgenössische Mode bewegt sich an der Schnittstelle von Konsum und
Kunst. Die Schauen der avancierten Designer lassen das Material und die Kör-
per in einen Dialog treten, der der Reflexion einen Raum gibt und philoso-
phische Aspekte sichtbar macht: Das Hergestelltsein, die Spuren der Zeit (bei
den japanischen Designern Rei Kawakubo oder Yohji Yamamoto, die in den
1980ern die Pariser Modewelt revolutionierten), den Zusammenhang von Reli-
gion und Mode (bei Hussein Chalayan), die Medialität von Mode (bei Viktor &

8 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie, Solidarität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989, S. 127ff.
9 Walter Benjamin, Das Passagenwerk, 1. Bd., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982, S. 112.
Überlegungen zu einer Philosophie der Mode 35

Rolf). Solche Formen der Mode gewinnen ihren Ausdruck im Zusammenspiel


von Körper, Material und dem Zeichencharakter der Schnittformen. Jedoch
sind sie nicht als Sprache zu begreifen, weil der materiale Aspekt gegenüber
dem Zeichencharakter primär ist. Die Spezifik der Reflexivität im Medium von
Mode zu fassen, ist eine Aufgabe, die nach begrifflicher Arbeit philosophischer
Art verlangt.

Literatur
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Benjamin, Walter, Das Passagenwerk, 1. Bd., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982.


Esposito, Elena, Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode, Frank-
furt a. M.: Suhrkamp, 2004.
Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996 [1790].
Rorty, Richard, Kontingenz, Ironie, Solidarität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989.
Rousseau, Jean-Jacques, „Über Kunst und Wissenschaft“, in: Schriften zur Kulturkritik,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

hg. v. Kurt Weigand, Hamburg: Meiner, 1995 [1750].


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Schiller, Friedrich, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart: Reclam,
2000 [1794].
Schlegel, Friedrich, Lucinde, Stuttgart: Reclam, 1999 [1799].
Simmel, Georg, „Die Mode“, in: Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und
Kunstphilosophie, hg. v. Ingo Meyer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008 [1908].
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Kristin Drechsler

Der stumme Anspruch der Dinge und die Kunst

Während ein Alltagsverständnis die Attribute des Lebendigen, Aktiven und


Wandelbaren für gewöhnlich dem Menschen zuschreibt, wird unter einem
Ding meist etwas Lebloses, Berechenbares, dessen Bedeutung sich innerhalb
der Grenzen seiner Benutzbarkeit erschöpft, verstanden. Als passives Gegen-
stück menschlichen Handelns, scheint sein Spielraum klar definiert. Dinge
können deshalb auch als die stummen Teilhaber unserer alltäglichen Hand-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

lungen bezeichnet werden.


Martin Heidegger spricht dahingehend auch von einem „Sich-nicht-melden
der Welt“. Diese Welt, die sich nicht meldet, ist der umfassende Zusammen-
hang, in dem wir und die Dinge miteinander verflochten sind. Dies akzentu-
iert Heidegger in Sein und Zeit weiter, indem er die Unterscheidung von Ding
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

und Zeug in Anschlag bringt. Die Gebrauchsdinge nennt Heidegger Zeug. Mit
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

dieser begrifflichen Unterscheidung ist eine qualitative Bestimmung des Ver-


hältnisses von Mensch und Ding im alltäglichen Umgang angesprochen. So
sei das Zeug, also das ‚Zuhandene‘, durch seine „Dienlichkeit, Beiträglichkeit,
Verwendbarkeit und Handlichkeit“ charakterisiert.
Unsere Welt ist somit als ein sich stets im gebrauchenden Umgang kons-
tituierender Bezug gedacht, der aufs Engste mit dem zuhandenen Charakter
des Zeugs verwoben ist. Solange die Dinge in diesem Modus verbleiben und
stumm ihre jeweilige Funktion erfüllen, evozieren sie keine weitere Beachtung.
Doch das Zeug bleibt nicht immer dienlich, beiträglich, handlich oder ver-
wendbar. Vielmehr vermag es sich in den sogenannten „Modi der Auffälligkeit,
Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit“ von einem Zuhandenen zu einem Vor-
handenen zu wandeln, womit eine Widerständigkeit, Unzugehörigkeit und
Fremdheit des Dinges offenkundig wird, die auf dessen Eigenständigkeit und
Gegen-ständlichkeit, hier im genauen Sinne dieses Wortes, hinweist.
In diesen Momenten erregt das, was uns verfügbar war, plötzlich Erstaunen,
manchmal auch Furcht und es weist vor allem darauf hin, dass sich die Be-
deutung des vermeintlich vertrauten Dinges nicht allein innerhalb von Zweck-
zusammenhängen erschöpft.
Dies lässt auch die gegenwärtige kulturwissenschaftliche Auseinander-
setzung mit den Dingen vermuten, wo diese vermehrt als agierende Teilha-
ber in den Blick rücken. Anstatt die Frage nach dem Ding auf Grundlage des
Subjekt-Objekt-Dualismus, also als diejenige nach dem Sein des Objekts zu

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_008


38 Kristin Drechsler

stellen, wird hier die Aufmerksamkeit vielmehr auf die vielschichtigen Ver-
flechtungen zwischen Menschlichem und Dinglichem gerichtet.
Der entscheidende Wendepunkt eines Wandels der Dingwahrnehmung ist
jedoch bereits in der krisenhaften Zeit um 1900 auszumachen, wo eine Revi-
sion des Verhältnisses von Ding und Mensch geradezu programmatisch wird.
Neben der phänomenologischen Bemühung, einer Rückkehr zu den Sachen
selbst (Husserl), sind es besonders Beispiele künstlerischer Wahrnehmung,
denen in diesem Zusammenhang eine Sonderstellung zukommt. Dort werden
Erfahrungen laut, in denen von lebendigen, aufsässigen, zurückblickenden,
sich gegen den Menschen verbündenden Dingen die Rede ist. Zu nennen
sind hier beispielsweise Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Laurids Brigge, Hugo von Hofmannsthals Brief des Lord Chandos oder Robert
Musils Die Aufzeichnungen des Zögling Törleß, aber auch Franz Kafkas Erzäh-
lung Die Sorge des Hausvaters, in der ein Ding namens ‚Odradek‘ zum unlös-
baren Problem wird.
„Ein Ding ist eine unausdeutbare Deutbarkeit“, heißt es exemplarisch bei
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Hofmannsthal. Und bei Rilke klingt es ähnlich, wenn er von der Rose sagt: „Uns
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

aber bist du die volle zahllose Blume, / der unerschöpfliche Gegenstand“. Mit
dieser Beschreibung des Dinges als ‚unausdeutbar‘ und ‚unerschöpflich‘ ist
auch eine Nähe zur Phänomenologie angezeigt, wonach sich uns in der Wahr-
nehmung stets nur eine Seite des Gegenstandes gibt, wobei zugleich eine an-
dere verdeckt wird. Anders gesagt: es gibt eine Rückseite der gedeuteten und
uns vertrauten Welt und von dieser Rückseite her kommen die Dinge in ihrer
Unerschöpflichkeit zum Vorschein. Und zwar dann, wenn der gebrauchende
Umgang unterbrochen ist und wir uns mit dem ‚bloßen Ding‘ konfrontiert
sehen.
Diese Welt – also die Welt der Dinge – zu erfahren, verlangt eine Einstellung,
die sich als stummes, staunendes Vernehmen bezeichnen lässt. Während uns
die Dinge im gebrauchenden Umgang zu nah sind, um sie in ihrer Eigenstän-
digkeit zu erfahren und im wissenschaftlichen Vorstellen zu weit weg gestellt,
bedeutet ein stummes, staunendes Vernehmen eine Begegnung mit ihnen, die
nicht von Gegenüberstellungen, sondern lateralen Verflechtungen geprägt ist.
Francis Ponge, dessen Parteinahme für die Dinge für diese Haltung beispiel-
haft ist, spricht davon, dass „Nur, wer sich ganz in die Welt der Dinge einlässt“,
„die Wichtigkeit eines jeden Dinges [zu] erkennen“ vermag, also „das stumme
Flehen, die stummen Klagen, die sie erheben.“ Als „Botschafter der stummen
Welt der Dinge“, wie Ponge die Dichter nennt, tritt auch Rilke ein, der davon
schreibt, dass ihn selten ein Ding anspricht, „ohne die Aufforderung an ihn zu-
stellen, bedeutend hervorgebracht zu sein.“
Der stumme Anspruch der Dinge und die Kunst 39

Die unsichtbare Rückseite unserer vertrauten Welt ist sich also auch die Welt
der künstlerischen Dingerfahrung, wo ein stummer Anspruch, den die Dinge
stellen, vernommen wird und sich der Künstler auf die Suche nach einer an-
gemessenen Antwort auf diesen Anspruch begibt.
Die Begegnung mit den Dingen findet dann außerhalb ihrer kategorialen
oder funktionalen Bestimmungen für uns statt. Das staunende Vernehmen
verlangt vom Wahrnehmenden eine Haltung, die den Dingen weder zu nah
kommt noch sie zu weit weg stellt. Ponge schreibt hierzu: „Indem wir uns von
da wegnehmen, indem wir dadurch, dass wir uns entfernen, uns (soweit wie
möglich) zurückziehen, die Atmosphäre abkühlen lassen, können wir jedem
Gegenstand seinen vitalen (funktionierenden) Zusammenhang zurückgeben.“
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Die Begegnung mit der Welt der Dinge verlangt also zusammengefasst Zu-
rücknahme und erhöhte Aufmerksamkeit zugleich. So lässt sich auch das fol-
gende Haiku von Shiki verstehen:

Dort steht die Hacke,


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

niemand ist da
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

In dieser Hitze.

Die Hacke tut hier nichts, außer da zu sein. Sie steht da. Allein ohne mensch-
lichen Bezug. Denn „Niemand ist da“. Der Gebrauchsgegenstand Hacke ist
hier seinem Verweisungsbezug enthoben. Der Leser erfährt nicht, wo die Ha-
cke steht, ob sie an eine Mauer gelehnt ist, ob sie in die Erde getaucht ist. All
das bleibt verborgen. Alles, was wir in diesem Haiku erfahren, ist, dass sie dort
steht. Gerade die Unbestimmtheit des ‚dort‘ lässt sie ganz eigentümlich im
Raum des Gedichts hervortreten.
Wie die Hacke, die hier zu nichts gedrängt ist und nichts tut außer da zu
sein – und über die eigentlich noch viel mehr zu sagen wäre – sind auch die
Gegenstände auf den Stillleben Giorgio Morandis da.
Dem Maler war die Suche nach einer eigenen Gesetzmäßigkeit der Dinge
eine Lebensaufgabe. Der Aufenthalt vor oder vielmehr in den Dingen erhält
vor diesem hohen Anspruch den Charakter einer Bewährungsprobe. Das Wort
Aufenthalt ist hier ganz wörtlich zu nehmen, denn Morandi, der von sich
selbst sagte, dass er „das große Glück [hatte], ein ganz ereignisloses Leben zu
führen“, verbrachte sein ganzes Malerleben mit immer den gleichen Dingen.
Diese gewöhnlichen Dinge waren dem Maler unerschöpflich, so sagt er: „Ja, es
sind meine ganz gewöhnlichen Dinge. […] Warum sollte ich sie austauschen?
Sie eignen sich recht gut.“ Sie eignen sich gut für die Sehschulung, der Morandi
sich fortwährend unterzieht.
40 Kristin Drechsler

In einem langsamen intensiven Erfühlen und Ertasten platziert er seine Dinge


und bringt sie in einem langwierigen Prozess in Formation. Doch nicht nur
ordnet und verrückt er sie, sondern er präpariert sie auch, indem er sie teils mit
Farbe bestreicht oder mit unterschiedlichen Materialien bespannt.
Während die Dinge im alltäglichen, auf Orientierung ausgelegten Umgang
im zeughaften Modus eines stillen Teilhabers verweilen, rückt hier eine andere
Begegnung mit den Dingen ins Zentrum. Diese Alltagsdinge, die einfach nur
da sind, die auf nichts verweisen als auf den jeweiligen künstlerischen Raum,
aus dem sie uns entgegenblicken, scheinen zunächst wenig Sinn zu ergeben.
Wie die Hacke ganz allein dort in dieser Hitze steht und niemand mit ihr ist,
der sie zurück in ihren menschlichen Bezugsraum bringen könnte, so stehen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

auch Morandis Flaschen und Vasen ganz allein im Bildraum und blicken uns
schweigend an. Das Kunstwerk legt hier den Blick auf eine Begegnung mit den
Dingen frei, in der diese nicht einfach festgestellt werden, sondern vielmehr
erst mittels eines vernehmenden Zugangs entstehen. Es geht hierbei darum,
„die Dinge auf sich zukommen zu lassen“ und nicht nach ihrer Bedeutung für
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

uns zu fragen, sondern sie vielmehr in ihrer unerschöpflichen Bedeutsamkeit


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

stets von Neuem hervorkommen zu lassen.


Isabel von Wilcke

Von der Endlichkeit

Endlichkeit – sie ist räumlich, zeitlich und gedanklich auf etwas begrenzt.
Der Endlichkeit steht die Unendlichkeit gegenüber. Die Unendlichkeit kann
nicht gedacht werden. Die Endlichkeit schon. Die Endlichkeit begrenzt etwas.
Sie setzt eine Grenze. So ist beispielsweise ein Gegenstand, ein Ding auf sei-
nen materiellen Umfang begrenzt. Sei es ein Ball, ein Metalldöschen, ein Stift
oder ein Buch. Exemplarisch sei an dieser Stelle der Teilband II.21 aus Walter
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Benjamins Gesammelten Schriften genannt. Der Band GS II.2 umfasst 404


Seiten zuzüglich Inhaltsverzeichnis, Deckblatt und Buchumschlag. Dieser
Teilband der Gesammelten Schriften ist, wie andere Gegenstände, durch eine
Begrenztheit seines materiellen Umfangs gekennzeichnet. Der Buchumschlag
bildet die Grenze. Somit verfügt dieses Buch über eine Raum-Endlichkeit. Der
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

zweite Aspekt der Endlichkeit ist der der Zeit. Den als Beispiel herangezoge-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

nen Teilband von Walter Benjamins Gesammelten Schriften gibt es als einfache
Paperback-Ausgabe und auch in einer hochwertigeren Leinen-Version. Es steht
zu vermuten, dass die Paperback-Publikation von der teureren in Leinen ge-
bundenen Ausgabe überdauert, also überlebt wird. Endlichkeit ist endlich, weil
sie zeitlich begrenzt ist. Und somit wäre man schon bei dem dritten Aspekt
von Endlichkeit, nämlich dem Gedanklichen: Endlichkeit endet. Dennoch sei
erwähnt, dass bei dem dritten Aspekt von Endlichkeit im Grunde ein Para-
doxon vorliegt: Zwar ist Endlichkeit räumlich, zeitlich und gedanklich endlich,
doch werden unsere Gedanken mittels neuer Impulse, die wir beispielsweise
durch ein Buch erhalten haben, immer wieder von Neuem angestoßen. Des-
wegen endet die Dimension eines Buches nicht so einfach; es überdauert sein
eigenes Dasein in den Gedanken des Lesers.
Was also ist endlich? Die Antwort: das Leben ist endlich. Das Sterben steht
als Grenze zwischen Leben und Tod. Der Tod steht für Endlichkeit. Woody
Allen sagte einmal: „Ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich möchte nur nicht
dabei sein, wenn’s passiert.“ Um eines glücklichen Lebens willen haben wir uns
heutzutage in unserer westlichen Gesellschaft vornehmlich darauf eingerich-
tet, nicht an den Tod und insbesondere nicht an den eigenen Tod zu denken,
ihn gewissermaßen einfach totzuschweigen.

1 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.2 [GS II.2], Aufsätze, Essays, Vorträge, hg. v.
Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2014.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_009


42 Isabel von Wilcke

In der mittelalterlichen Scholastik und Theologie beruht die Differenzierung


zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit auf dem Gegensatz von den von Gott
geschaffenen Dingen und Gott selbst. Die Zuordnung von göttlichem Unend-
lichem und geschaffenem Endlichem findet ihre Fortsetzung in der Philoso-
phie Baruch de Spinozas, wo als endlich die Dinge bezeichnet werden, die
durch andere begrenzt werden. Spinoza erkannte: „Der freie Mensch denkt an
nichts weniger, als an den Tod, und seine Weisheit ist nicht eine Betrachtung
des Todes, sondern des Lebens.“2 Auch weitere Philosophen erklären den Tod
zu einem Tabuthema und verbannen ihn als nicht-philosophisches Thema aus
ihrem Denkbereich. In anderen angrenzenden Gebieten, nämlich der biome-
dizinischen Ethik, der Soziologie, der Geschichtsschreibung, der Kunst und
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

auch der Literatur ist er ein vielfach bedachtes Thema. Dabei lehrte uns be-
reits die abendländische Philosophie, was Philosophieren bedeutet: in Platons
Dialog Phaidon3 erklärt Sokrates bevor er freiwillig und wohlbemerkt ohne
Missmut4 den Schierlingsbecher trinkt: Philosophieren sei sterben lernen.5
Auch in Erzählungen, Mythen und Märchen begegnet uns der Tod ständig. In
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

der eingangs exemplarisch genannten Publikation Benjamins Gesammelter


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Schriften II.2 befindet sich auch der Essay „Der Erzähler“.6 Dort klagt Benjamin
an: „Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende zu, weil die epische Seite der
Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt.“7 Mit dieser Beobachtung hat Benjamin
Recht. Unter den postmodernen Bedingungen verschwindet die handwerk-
liche Kunst des Erzählens zugunsten der Information zunehmend. Glück-
licherweise arbeiten bis heute Schriftsteller gegen diesen Missstand an. In
Bezugnahme auf Paul Valéry beklagt Benjamin, dass der heutige Mensch nicht
mehr an dem arbeite, was sich nicht abkürzen ließe.8 Benjamins Antizipa-
tion und kulturkritische Weitsicht ist auch aus seinem berühmten Essay Das
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit9 bekannt, in dem

2 Baruch de Spinoza, „Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt“, in: Sämtliche Werke,
Bd. 2., Ethik Pars IV, Propositio 67, übersetzt und mit Anmerkungen von Otto Baensch und
mit einer Einleitung von Rudolf Schottlaender, Hamburg: Meiner, 1994, S. 247.
3 Platon, Phaidon, Stuttgart: Reclam, 2012.
4 Vgl. ebd., S. 117b.
5 Ebd., S. 61d, S. 67c, S. 67d.
6 Walter Benjamin, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: Gesammelte
Schriften, Bd. II.2, Aufsätze, Essays, Vorträge, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schwep-
penhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2014, S. 438–465.
7 Walter Benjamin, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, a.a.O., S. 442.
8 Vgl. ebd., S. 448.
9 Vgl. Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“,
in: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom
Scholem, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 2. Aufl., Frankfurt a. M.:
Von der Endlichkeit 43

er vorhersah, inwieweit sich die Rezeption von Kunst ändern würde. Benja-
mins Weitsicht wird auch in dem Erzähler-Essay deutlich, in dem er mittels
Gesellschaftsbeobachtungen der 1930er Jahre den Abkürzungs- und Effekti-
vitätszwang kritisiert – wohlbemerkt vor der Digitalisierung mittels Twitter,
Instagram, facebook, etc.
Doch nicht nur die Praktik des Erzählens verschwindet, das Erzählte ver-
ändert sich auch. Im Roman beispielsweise handelt es sich Benjamin zufolge
nicht mehr um die Moral der Geschichte, sondern um den Sinn des Lebens.
Der Sinn könne aber in einer Geschichte erst dann erkannt werden, wenn das
im Roman erzählte Leben einer Person als abgeschlossen unterstellt werde.10
Für den Roman ergebe sich daraus ein bestimmtes Tempus: „Ein Mann, […]
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

der mit fünfunddreißig Jahren gestorben ist, wird dem Eingedenken an jedem
Punkt seines Lebens als ein Mann erscheinen, der mit fünfunddreißig Jah-
ren stirbt.“11 Mit diesem Eingedenken werde das Wesen der Romanfigur am
besten dargestellt, da sich der Sinn des Lebens erst vom Tode her erschließe.12
Beschrieben wird das Verhältnis des Eingedenkens zur Zeit. Benjamin gelingt
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

es, das Genre des Romans und dessen Lektüre mit dem Tod zusammen zu brin-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

gen. Der Tod stellt die Grenze dar, von der her das Leben wie im Eingedenken
betrachtet wird. In vielen traditionellen Erzählwerken fällt der Schluss der
Erzählung mit dem Tod des Protagonisten bzw. der Protagonistin zusammen.
Womit das Schicksal des Romanhelden bzw. der Romanheldin im Werk ab-
geschlossen vorliegt. Ungeachtet des Vorwärtsströmens der Romanhandlung
wird in jedem Augenblick ihres fiktiven Lebens die Romanfigur als bereits
erfüllt empfunden, da bekannt ist, dass sie in den Grenzen des ästhetischen
Werkes aufgeht.
Obwohl das philosophische Denken in der traditionellen Philosophie als
Vorbereitung auf den Tod, als ein immer erneutes Hinterfragen von Leben und
Tod verstanden wird, lassen zahlreiche zeitgenössische Philosophen die Frage
nach dem eigenen Tod unbedacht. Woran mag das liegen? Werden die grund-
legenden Fragen nach dem Sinn und dem letzten Grund des menschlichen
Lebens tatsächlich als nicht mehr diskussionswürdig empfunden? Oder ist
der Tod geklärt, weil er endlich ist, und ist folglich somit auch die Endlichkeit

Suhrkamp, 1974. S. 471–508. Wobei anzumerken ist, dass es insgesamt vier Fassungen des
Kunstwerk-Aufsatzes gibt – drei deutsche und eine französische Version. Interessant hier-
zu: Walter Benjamin, Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe Bd. 16: Das Kunstwerk
im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, hg. v. Burkhardt Lindner, Frankfurt
a. M.: Suhrkamp, 2013.
10 Walter Benjamin, GS II.2, a.a.O., S. 456.
11 Ebd.
12 Vgl. ebd.
44 Isabel von Wilcke

geklärt? Vielleicht mag es auch sein, dass wir im Rahmen der zeitgenössischen
Eventgesellschaft ganz epikureisch sind. Gemäß der antiken Lustlehre der
Epikureer wurde der Tod noch als etwas begriffen, was uns nichts anzugehen
habe, da er nicht sei, wenn wir sind und wir nicht mehr sind, wenn er ist. Zwar
hatte der Tod über Jahrtausende hinweg einen bedeutenden Platz in der Kul-
tur der Menschheit eingenommen, doch ist er in der zeitgenössischen westli-
chen Gesellschaft seit langem aus den Gesprächen des Alltags verschwunden.13
Kommen wir noch ein letztes Mal zurück auf Benjamins Erzähler. Dort wer-
den weitere Aspekte unseres Umgangs mit dem Tod auf den Punkt gebracht:

[…] im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts hat die bürgerliche Gesellschaft


wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

mit hygienischen und sozialen, privaten und öffentlichen Veranstaltungen einen


Nebeneffekt verwirklicht, der vielleicht ihr unterbewußter Hauptzweck gewesen
ist: den Leuten die Möglichkeit zu verschaffen, sich dem Anblick von Sterbenden
zu entziehen. Sterben, erstmals ein öffentlicher Vorgang im Leben des Einzelnen
und ein höchst exemplarischer (man denke an die Bilder des Mittelalters, auf
denen das Sterbebett sich in einen Thron verwandelt hat, dem durch weitgeöff-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

nete Türen des Sterbehauses das Volk sich entgegen drängt) – sterben wird im
Verlauf der Neuzeit aus der Merkwelt der Lebenden immer weiter herausge-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

drängt. Ehemals kein Haus, kein Zimmer, in dem nicht schon einmal jemand
gestorben war. […] Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben
geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie werden, wenn es mit ihnen
zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien oder in Krankenhäusern verstaut.14

Benjamin erkennt richtig: Es ist selten geworden, jemanden sterben zu sehen.


Die Sterbenden sind gewissermaßen von der Gemeinschaft der Lebenden
ausgeschlossen. Ebenso steht es mit Krankheiten. Ist jemand lebensbedroh-
lich – beispielsweise an Krebs – erkrankt, verschweigen es nicht selten die
Erkrankten zunächst. Zum einen, um den mitleiderregenden Blicken zu ent-
gehen, den inkompetenten Kommentaren wie „das wird schon“, oder „Du wirst
bald wieder gesund“. Zum zweiten werden Krankheiten auch verschwiegen,
weil es insbesondere in den 1970er-Jahren Thesen gab, denen zufolge bösartige
Tumorerkrankungen wie Krebs selbst verschuldet seien. Die Soziologin Susan

13 Dass in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Praktiken im Umgang mit dem Tod


vorherrschen, verdeutlicht Macho in seiner kulturkritischen Publikation anschaulich.
Zwar kommt der Tod logischerweise in allen Kulturen vor, wird aber auf verschiedene
Weise konnotiert. Beispielsweise werden in einigen Kulturen Tote als lediglich Schlafende
angesehen; in anderen Kulturen wiederum ist Ohnmacht bereits ein Synonym für Tod.
Vgl. Thomas Macho, „Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich“, in: Der Tod
als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Todesriten im Alten Ägypten, hg. v. Jan Ass-
mann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000, S. 89–120, hier insbes. 95ff.
14 Walter Benjamin, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, a.a.O.,
S. 449.
Von der Endlichkeit 45

Sontag nimmt dazu in Illness as metaphor15 klar Stellung und räumt mit dem
Mythos auf, Krebskranke würden nur deshalb dieser Krankheit erliegen, da das
eigene Gleichgewicht aus Körper, Geist und Seele aus der Balance sei. Doch
es gibt noch einen dritten, wesentlich profaneren Aspekt, weshalb lebensbe-
drohliche Krankheiten aus den Gesprächen des Alltags verschwunden sind:
Bestseller-Autor John Green brachte es in The Fault in our stars16 treffend auf
den Punkt: Nostalgie sei nicht nur ein Nebeneffekt von Krebserkrankungen,
sondern nostalgisch sei man erst dann, wenn man sich im Prozess des Sterbens
befände. Krebs ist Tod.17 Und über den Tod spricht man eben nicht, oder nur
ungern, denn er löst im Gesprächspartner einen Schauder aus, ein Zusammen-
zucken, ein Unbehagen, das sich vermischt mit der Angst vor dem eigenen Tod
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

oder dem Tod derer, die man liebt.


Eingangs wurde die Behauptung aufgestellt, man könne die Unendlich-
keit nicht begreifen, die Endlichkeit schon. Trifft diese These zu? Da wir – mit
Benjamins Worten – die sogenannten „Trockenwohner der Ewigkeit“18 sind,
ist uns die Möglichkeit genommen, den Tod zu begreifen. Begreifen kommt
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

etymologisch von greifen. Den Verschiedenen oder Verstorbenen können und


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

dürfen wir zumeist aus hygienischen Gründen nicht mehr greifen. Somit ist
uns auch die Möglichkeit genommen, die von nun an währende Abwesenheit
des einst mit uns Lebenden, nun Gestorbenen zu verstehen. Die Möglichkeit
des Abschieds wird uns genommen. Um die Endlichkeit schön zu gestalten,
passen wir sie an. Machen den Tod schön, ästhetisieren ihn, inszenieren ihn.
Die Beerdigung wird derart gestaltet, dass sie nicht zu deutlich den Gedanken
an den Sieg des Todes aufkommen lässt, der unvermeidlich einen jeden von
uns erwartet. Er wird getarnt und verkleidet. Das Nachdenken über den Tod
wird gemieden wie die Pest. Alles soll schön sein, so auch das Sterben. Aber
Sterben ist nicht schön, es ist scheiße.19 Keiner will freiwillig sterben, denn es
gibt noch so viel zu tun. Doch sterben muss jeder – gefühlt fast immer zu früh.
So, wie wir ohne eigenen Willen auf die Welt kommen, darf auch der eigene
Abgang nicht mitbestimmt werden. Das Leben scheint ungerecht.

15 Susan Sontag, Illness as metaphor and AIDS and its Metaphors, New York: Picador, 2001.
16 John Green, The Fault in our Stars, New York: Dutton Books, 2012.
17 Vgl. ebd.
18 Walter Benjamin, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, a.a.O.,
S. 449.
19 So, wie es sich nicht gehört, über das Sterben, den Tod und die eigene Endlichkeit zu
sprechen, so schickt es sich auch nicht, Kraftausdrücke in einen Vortrag oder gar eine
Publikation einzuweben. In diesem Kontext einen derart starken Ausdruck zu verwen-
den, ist gewiss unüblich, aber die Verfasserin dieses Textes bittet um Nachsicht. Kein an-
deres Wort schien adäquat, das brachiale Ereignis der Endlichkeit und das Sterben zu
beschreiben.
46 Isabel von Wilcke

Als Beispiel sei hier Tolstois Der Tod des Iwan Iljitsch20 genannt. Iljitsch ist
krank. Unheilbar krank. Alle wissen das. Dennoch wird ihm gegenüber nur
von einer Krankheit gesprochen, die wie jede Krankheit prinzipiell heilbar sei.
Tolstoi schildert beeindruckend den von Iljitsch in seiner Reflexion auf seinen
Zustand erfahrenen Widerspruch zwischen dem theoretischen Wissen, dass
alle Menschen sterblich sind und jeder einzelne Mensch daher sterblich ist,
und dem praktischen Wissen, das sich im praktischen Lebensvollzug von die-
sem theoretischen Wissen aber nicht betroffen fühlt.

Es war Iwan Iljitsch klar, daß er sterben müsse, und darum befand er sich im
Zustand ständiger Verzweiflung. In seinem tiefsten Innern wußte Iwan Iljitsch,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

daß er sterben müsse, allein er wollte sich nicht nur nicht an diesen Gedanken
gewöhnen, sondern konnte ihn einfach nicht begreifen, die nackte Tatsache
nicht begreifen.21

Tolstois Iwan Iljitsch zeigt uns: Sterben tun immer die anderen, nie man selbst.
Gespräche über Tod und Endlichkeit kehren aber langsam wieder zurück. In
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Fernsehfilmen, Krimiserien, Nachrichten, digitalen Bildern zum Weltgesche-


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

hen, in der darstellenden Kunst, in den Erzählungen des eigenen Umfelds, usw.
wird uns täglich der Tod vor Augen geführt. Im Grunde lächelt uns diese The-
matik im eigenen Spiegelbild jeden Morgen an. Nach der Geburt beginnt der
Zerfall.
Eine Art Metaphysik der Endlichkeit lässt sich durch die Lektüre von Martin
Heideggers bekannten Todesanalysen in Sein und Zeit22 gewinnen. Durch Hei-
degger wurde der Tod im 20. Jahrhundert zu einem zentralen Thema der Phä-
nomenologie. Die Bezüglichkeit des Menschen auf den Tod, also das Sein zum
Tode, wird von Heidegger als Existential des Daseins und somit als grundsätz-
liches Moment der menschlichen Seinsweise begriffen. Ganz im Gegensatz
zum epikureischen Räsonnement begreift Heidegger den Tod als das zentrale
Moment des menschlichen Seins. Heidegger zufolge wurzelt jegliches Seins-
verständnis im als wesentlich endlich bestimmten Dasein. Das Dasein kann
nur dann in seinem ursprünglichen Sinne interpretiert werden, wenn auch
seine Ganzheitlichkeit in den Blick gebracht worden ist. Wobei die sogenannte
Ganzheitlichkeit das Ganzseinkönnen des Daseins ist, was wiederum nichts
Geringeres darstellt als Heideggers berühmtes Postulat des „Sein zum Tode“23.

20 Leo Tolstoi, Der Tod des Iwan Iljitsch, übersetzt von Johannes von Guenther, Nachwort von
Konrad Fuhrmann, Stuttgart: Reclam, 1992.
21 Ebd., S. 57.
22 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, 17. Aufl., 1993.
23 Vgl. ebd., S. 46ff.
Von der Endlichkeit 47

Die Strukturen des Daseins werden auf die Endlichkeit ihres zeitlichen Hori-
zonts hin freigelegt. Somit erschließt sich das Dasein über die Seinsmöglich-
keit sein grundsätzliches Verständnis für die ihm zugehörige begrenzte und
endliche Lebensdauer. Eingangs wurde damit begonnen, den Terminus der
Endlichkeit in Abgrenzung zur Unendlichkeit und der Grenze zu erläutern.
Wir leben gefangen in unserer eigenen Endlichkeit und sehnen uns teilwei-
se nach Grenzenlosigkeit. Doch wer die Grenzen aus den Augen verliert und
damit auch den Tod, der vergisst nicht nur, was ihm bevorsteht, sondern der
verspielt die eigene Existenz. Denn wer die Endlichkeit aus den Augen verliert,
der verliert sich selbst aus den Augen.
Mit Bezugnahme auf Platons Verfügung, der zufolge Philosophieren sterben
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

lernen sei,24 sagte übrigens Jaques Derrida in seinem letzten Interview kurz
vor seinem Krebstod 2004: „Ich habe nicht gelernt, den Tod zu akzeptieren.“25

Literatur
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Benjamin, Walter, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar-


keit“, in: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno
und Gershom Scholem, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 2.
Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974. S. 471–508.
Benjamin, Walter, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in:
Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Aufsätze, Essays, Vorträge, hg. v. Rolf Tiedemann und
Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2014, S. 438–465.
Benjamin, Walter, Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Aufsätze, Essays, Vorträge, hg. v. Rolf
Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2014.
Benjamin, Walter, Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe Bd. 16: Das Kunstwerk
im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, hg. v. Burkhardt Lindner, Frank-
furt a. M.: Suhrkamp, 2013.
Derrida, Jaques/Birnbaum, Jean, „Das Leben, Das Überleben. Vom Ethos des Denkens
und von der Chance des europäischen Erbes“, in: Lettre international. Europas Kul-
turzeitung, Berlin, Heft Herbst 2004.
Green, John, The Fault in our Stars, New York: Dutton Books, 2012.
Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, 17. Aufl., 1993.

24 Vgl. Platon, Phaidon, a.a.O., 61d, 67c, 67d.


25 Jacques Derrida, Jean Birnbaum: „Das Leben, Das Überleben. Vom Ethos des Denkens und
von der Chance des europäischen Erbes“, in: Lettre international. Europas Kulturzeitung,
Berlin, Heft Herbst 2004, S. 10–13.
48 Isabel von Wilcke

Macho, Thomas, „Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich“, in: Der Tod
als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Todesriten im Alten Ägypten, hg. v. Jan
Assmann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000, S. 89–120.
Sontag, Susan, Illness as metaphor and AIDS and its Metaphors, New York: Picador,
2001.
Spinoza, Baruch de, „Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt“, in: Sämt-
liche Werke, Bd. 2., Ethik Pars IV, Propositio 67, übersetzt und mit Anmerkungen
von Otto Baensch und mit einer Einleitung von Rudolf Schottlaender, Hamburg:
Meiner, 1994.
Platon, Phaidon, Stuttgart: Reclam, 2012.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Tolstoi, Leo, Der Tod des Iwan Iljitsch, übersetzt von Johannes von Guenther, Nachwort
von Konrad Fuhrmann, Stuttgart: Reclam, 1992.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Yvonne Förster

Vom Träumen

Der Traum fasziniert. Er ist allgegenwärtig, jeder weiß von dem einen oder an-
deren, wiederkehrenden oder einmaligen, schönen oder verstörenden Traum
zu berichten. Träume sind Phänomene des Schlafs aber auch des Wachlebens.
Der Tagtraum, die Utopie, die Halluzination, der Rausch – alle erzeugen eine
Welt jenseits der Wahrnehmung. Dieses Jenseits der Wahrnehmung wurde
philosophiegeschichtlich zu einem Topos. Zwar findet sich der Traum sel-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

ten als eigenständiges Thema, vielmehr bildet er das Gegenbild zur rational
strukturierten Welt des wachen Verstandes. Im Traum gibt es Sprünge, Dis-
kontinuitäten und nicht logisch erklärbare Phänomene. Nicht einmal die Per-
sönlichkeitsstruktur selbst ist im Traum stabil. Manchmal sind wir zugleich
Beobachter und Handelnde oder wir identifizieren eine Person, deren Identi-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tät sich jedoch im Traumverlauf verändert, ohne dass das dem Träumenden
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

auffiele. Identität und Kontinuität, die zentralen Merkmale der im Wachleben


wahrgenommenen Realität verlieren ihre Kraft und werden gebrochen. In phi-
losophischen Abhandlungen steht der Traum in seiner Brüchigkeit und Kon-
tingenz meist im Gegensatz zur Gesetzmäßigkeit und Kontinuität der Welt des
Verstandes. In seinen Meditationes de prima philosophia nutzt Descartes den
Traum um seinen radikalen Zweifel an der Erkenntnis der Sinne auszudrücken:

Na großartig! Als ob ich nicht ein Mensch wäre, der gewöhnlich nachts schläft,
und dem in Träumen dasselbe widerfährt wie jenen wachen Geisteskranken,
oder zuweilen sogar noch weniger Wahrscheinliches! Wie oft nämlich bin ich
nachts im Schlaf von eben solchen Alltäglichkeiten überzeugt, wie etwa, daß ich
hier bin, einen Mantel trage, beim Feuer sitze – während ich doch entkleidet im
Bett liege! […] Wenn ich aufmerksamer daran denke, sehe ich so unverhohlen,
daß der Wachzustand niemals aufgrund sicherer Anzeichen vom Traum unter-
schieden werden kann, daß ich erstaune; und dieses Erstaunen bestärkt mich
fast sogar noch in meiner Meinung, zu träumen.

Mit der Gegenüberstellung von Traum und Wachleben arbeiten die großen
Denker der Neuzeit, von Descartes über Locke und Leibniz bis zu Kant: Der
Traum ist eine Figur, an der sich Innen- und Außenwelt des denkenden Sub-
jekts explizieren und exemplifizieren lassen.1 Der Traum wird zum erkenntnis-
theoretischen Argument. Das Traumbewusstsein ist eine sehr spezielle Art des

1 Vgl. dazu Petra Gehring, Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung, Frank-
furt a. M: Campus, 2008, S. 59ff.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_010


50 Yvonne Förster

Bewusstseins. Jean-Paul Sartre will in seinem Text über das Imaginäre zeigen,
dass „der Traum die vollkommene Verwirklichung eines geschlossenen Imagi-
nären ist“.2 Im Traum ist das Bewusstsein laut Sartre verzaubert und in seiner
eigenen Vorstellungskraft gefangen – auch das Wissen des luziden Träumers
(auch Klarträumer genannt) um seinen Traumzustand sei letztlich nur ge-
träumt. Wirkliche Reflexivität, die das Wachleben auszeichnet, die Möglich-
keit, etwas als real oder fiktiv zu identifizieren, sei im Traum ausgeschaltet;
das Bewusstsein der „Kategorie des Realen“3 beraubt. Dieser Unterschied zum
Wachleben hat laut Sartre klare Konsequenzen: So gibt es für den Träumenden
beispielsweise weder einen Unterschied zwischen Erinnerung und Traumbe-
wusstsein noch ein Möglichkeitsbewusstsein.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Es ist der Grenzcharakter des Traumes – zwischen Wachleben und Tief-


schlaf zu stehen – der ihn für Fragen nach der Natur des Bewusstseins interes-
sant macht. Seine wissenschaftliche Erforschung begegnet jedoch einem nicht
zu unterschätzenden Hindernis: Träume sind nur subjektiv zugänglich und
können nur nachträglich berichtet werden. Bereits Heraklit schrieb im 5. Jahr-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

hundert v. Chr.: „Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt; im Schlaf
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

wendet sich jeder der eigenen zu.“


Die Welt des Traums ist keine geteilte, wir können uns ihrer Gegenstän-
de nicht intersubjektiv versichern. Wie kann also der Traum ein echter For-
schungsgegenstand sein, wenn er nur dem träumenden Subjekt zugänglich
ist? In der modernen Schlaf- und Traumforschung äußert sich diese erkennt-
nistheoretische Hürde in der gewagten These, Träume könnten unter Um-
ständen gar keine mentalen Zustände während des Schlafens sein. Vielmehr
wäre es denkbar, dass die Erinnerung an Geträumtes etwas ist, das im Prozess
des Aufwachens ins Bewusstsein sein tritt. Möglicherweise täuschen wir uns,
wenn wir die Traumeindrücke als Erinnerungen an ein Erlebnis im Schlaf
auffassen. Ihnen muss gar nicht notwendig ein Erlebnis während des Schlafs
entsprechen, sie sind unter Umständen nur „als-ob“-Erinnerungen, mentale
Gehalte, die sich als Erinnerungen geben, ohne dass ihnen etwas vorausging,
was erinnert werden könnte. Die These, Träume könnten Phänomene des Er-
wachens sein, geht auf den französischen Schlafforscher Alfred Maury zurück,
der im ausgehenden 19. Jahrhundert Träume empirisch erforschte. Die zeit-
genössische Traumforschung kann auf die bildgebenden Verfahren der Neuro-
wissenschaft zugreifen und damit den Traum aus seiner Eingeschlossenheit
ins Subjekt ein Stück weit ans Licht der Wissenschaft holen.

2 Jean-Paul Sarte, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft, Rein-


bek: Rowohlt, 1980, S. 263.
3 Ebd. S. 279.
Vom Träumen 51

Im Rahmen einer Veranstaltung der Max-Planck-Gesellschaft diskutierten


im Jahr 2013 renommierte Schlafforscher4 zum Thema „Traum als Schlüssel
zum Bewusstsein“. Vor dem Hintergrund der ausgesprochen schwierigen Zu-
gänglichkeit des Traums im wissenschaftlichen Sinn erscheint es zunächst
verwunderlich gerade diesen als Schlüssel zum „schwierigen Problem“ des
Bewusstseins zu finden, wie es David Chalmers bezeichnet. In der Diskussion
ging es größtenteils darum, wann eigentlich geträumt wird, welche Funktion
Träume haben könnten und inwiefern man bereits jetzt Daten aus bildgeben-
den Verfahren inhaltlich dekodieren kann. Dies funktioniert offenbar bei ein-
fach strukturierten Gedanken, nach genauer und wiederholter Beobachtung
der Versuchsperson. Fraglich ist aber, ob sich Gedanken im Traum genauso ab-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

bilden, wie solche aus dem Wachleben: Ob also beispielsweise der Gedanke
1+1=2, wenn er im Traum gedacht wird, dieselben neuronalen Korrelate hätte,
sich also neuronal auf die gleiche Art realisieren würde, wie im Wachleben.
Hier deutet sich ein Forschungsfeld an, das über die Beobachtung von Hirn-
aktivität hinausgeht und einen interdisziplinären Ansatz erfordert.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Jennifer M. Windt und Thomas Metzinger haben sich aus philosophischer


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Perspektive mit dem Traum und seiner empirischen Erforschung beschäftigt.


Sie betonen, dass der Gehirnzustand während des Träumens dem Wachsein
ähnlich ist, weil es sich um einen globalen und integrativen Aktivierungszu-
stand handelt, ohne dass es jedoch Sinneseindrücke gäbe, die in einem sol-
chen Zustand verarbeitet würden:

Another important point is that dreams are a second global state-class aside
from wakefulness. Unlike hallucinations, which are typically restricted to an
isolated type of phenomenal content in one or two of the sensory modalities a
pattern on the wall, or strange sounds or voices dreams usually integrate several
different types of imagery into a complex, multimodal, and sequentially orga-
nized model of the world.5

Auch wenn Träume erkenntnistheoretisch problematisch sind, spricht


doch vieles für die alltägliche Auffassung, dass Träume Erlebnisse während
des Schlafs sind. Ein gewichtiger Einwand gegen die Idee, dass Träume im

4 
Dr. Michael Czisch, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Psychiatrie,
München, Prof. Dr. John-Dylan Haynes, Bernstein Center der Charité -Universitätsmedizin
Berlin, Prof. Dr. Michael Schredl, Leiter des Schlaflabors am Zentralinstitut für seelische Ge-
sundheit, Mannheim, online unter: http://hpd.de/node/15742 [zuletzt: 05.01.2018].
5 Thomas Metzinger; Jennifer M. Windt, „The Philosophy of Dreaming and Self-Conscious-
ness: What Happens to the Experiental Subject during the Dream State?“, in: The New Sci-
ence of Dreaming. Cultural and Theoretical Perspectives, hg. v. Deirdre Barrett und Patrick
McNamara, Westport: Praeger, Vol. 3, 2007, S. 193–247, hier S. 195.
52 Yvonne Förster

Augenblick des Erwachens entstehen, ist das Phänomen des luziden Träu-
mens. Der luzide Traum ist sowohl wissenschaftlich als auch in seiner Erleb-
nisqualität interessant. Man spricht von luziden Träumen oder Klarträumen,
wenn der Träumende während des Traums ein Bewusstsein vom Träumen ent-
wickelt; wenn er also weiß, dass er träumt und dann entsprechend den Traum
manipulieren kann. Klassische Beispiele für solche Manipulationen sind Flie-
gen oder durch Wände gehen. Ganze Welten des Traums zu manipulieren
führt hingegen schnell zum Abbruch des Traums. Das Gefühl, im Traum Wel-
ten erschaffen zu können, ist verlockend und hat kulturgeschichtlich unzäh-
lige Methoden, luzides Träumen zu trainieren, hervorgebracht. Die lebhafte
Qualität dieses Traumerlebens regt vor allem auch kinematographische Ima-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

ginationen an. Im Film Inception (Christopher Nolan, USA 2010) werden ge-
meinsame Träume benutzt, um dem Träumenden im Traum einen Gedanken
einzupflanzen, der ins Wachleben fortwirkt. Wenn der Protagonist Cobb im
Traum auf Fischer trifft, dem ein Gedanke vermittelt werden soll, weist Cobb
ihn darauf hin, dass er träumt, indem er Fischer fragt, wie er in dieses Hotel
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gekommen sei. In dem Moment, in dem Fischer erkennt, dass seine Welt in
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

diesem Moment eine Geträumte ist, beginnt sie, aus den Fugen zu geraten,
alles droht zusammenzubrechen.
Der luzide Traum ist natürlich auch wissenschaftlich interessant, denn er
ist mit dem klaren Bewusstsein, gerade zu träumen, verbunden und lässt sogar
eine Kommunikation zwischen dem Träumenden und dem Beobachter oder
Forscher zu. Wenn der luzide Traum einsetzt, können geübte Träumer Signale
wie zum Beispiel Augenbewegungen setzen, die dem Forscher Anhaltspunk-
te über den Zustand des Schlafenden geben und damit eine genauere Inter-
pretation der Daten aus den bildgebenden Verfahren ermöglichen. Solche
signal-verifizierten Untersuchungen luziden Träumens wurden bereits in den
frühen achtziger Jahren im Labor von Stephen LaBerge, dem Vorreiter der Er-
forschungen des luziden Traums, durchgeführt. Ein Bewusstsein vom Traum-
zustand, wie im Falle des luziden Träumens ist selbst ein Grenzphänomen.
Es verbindet das Wachbewusstsein mit der Traumwelt und ermöglicht es, aus
dieser Traumwelt heraus in die Wachwelt zu kommunizieren. In der Traumfor-
schung benutzt man Morsecode-ähnliche Signale, um den Zustand des Träu-
mens zeitlich zu identifizieren. Ballt ein Träumender im Zustand des luziden
Traums seine Faust, dann geschieht dies zwar nicht auch in Realität, denn die
Schlaflähmung hat ihn fest im Griff. Das Ballen der Faust jedoch gibt einen der
wenigen sehr eindeutig identifizierbaren und dekodierbaren Hirnzustände im
fMRT ab. Wenn im Traum die Faust geballt wird, dann hat dies ein spezifisches
neuronales Aktivierungsschema zu Folge. Auf diese Weise kann festgestellt
werden, wann der luzide Träumende im Traum angelangt ist.
Vom Träumen 53

In der aktuellen Forschung argumentieren insbesondere Jennifer M. Windt6


und Evan Thompson7 für eine differenzierte Betrachtung des Traums in all sei-
nen Schattierungen. Beide AutorInnen kritisieren die scharfe Trennung von
Bewusstsein als rational kontinuierlichem Zustand und Traum als irrationalem
diskontinuierlichem Zustand. Aus diesem Grund ist gerade der luzide Traum
in seinen verschiedenen Ausformungen ein wichtiges Forschungsgebiet, weil
sich an ihm die Übergängigkeit der verschiedenen Bewusstseinsmodi verdeut-
lichen lässt. Auf diese Weise lässt sich zeigen, dass es nicht einfach Wachbe-
wusstsein und bewusstlosen Schlaf gibt, sondern viele Zustände dazwischen.
Sowohl Windt als auch Thompson gehen so weit, den traumlosen Schlaf selbst
als eine subtile Form des Bewusstseins zu interpretieren.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Die feinkörnige Beschreibung verschiedener Modi von Bewusstsein findet


sich in erster Linie in phänomenologischen Ansätzen. Um das Phänomen des
Traums für die Erforschung des Bewusstseins fruchtbar zu machen, ist es not-
wendig, Unterscheidungskriterien für die verschiedenen Modi von Bewusst-
sein zu finden. Dabei ist Erfahrungsqualität des Subjekts ebenso maßgeblich
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

wie deren neuronale Grundlage. Unterschiede in der neuronalen Realisierung


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

werden erst im Abgleich mit erstpersonaler Beschreibung wirklich greifbar.


Was uns Träume über Bewusstsein überhaupt lehren können, liegt in diesen
feinen Unterscheidungen. Die Frage, wie weit sich Bewusstsein erstreckt, kann
ein Weg sein, es in sich selbst genauer zu bestimmen. Ausgehend von einer
genauen Erfassung des Traums lässt sich die Frage nach den Grenzen von
Bewusstsein angehen, weil im Traum das sich seiner Selbst und der Außen-
welt bewusste Subjekt einen Grenzfall darstellt, der besonders im Falle des
luziden Träumens erscheint. Hier kann in einem interdisziplinären Ansatz
der hirnphysiologische Unterschied zwischen Hintergrundbewusstsein und
reflexivem Selbstbewusstsein anhand einer Kombination aus bildgebenden
Verfahren und phänomenologischer Zustandsbeschreibung herausgearbeitet
werden.
Im westlichen Denken hat Bewusstsein seine Grenze beim traumlosen
Schlaf. Dafür argumentierte schon John Locke in seinem Essay Concerning Hu-
man Understanding von 1690. Aus diesem Grund sind, wie bereits angedeutet,
Schlaf und Traum gern als Negativfolie zur wachen Rationalität herangezogen
worden. In buddhistischen Texten hingegen wurde die Möglichkeit diskutiert,
Bewusstsein als eine sich im Schlaf fortsetzende Kontinuität zu denken, die

6 Vgl. Jennifer M. Windt, Dreaming. A Conceptual Framework for Philosophy of Mind and
Empirical Research, Massachusetts: MIT Press, 2015.
7 Vgl. Evan Thompson, Waking, Dreaming, Being. Self and Consciousness in Neuroscience, Medi-
tation, and Philosophy, New York: Columbia University Press, 2014.
54 Yvonne Förster

über den Traum hinaus in den Tiefenregionen des Schlafs bestehen bleibt.
Auch wird die Möglichkeit diskutiert, dass es Formen des Bewusstseins ohne
Gegenstand gibt – eine Idee, welche phänomenologische geschulten Geistern
ganz abwegig erscheinen muss, denn dort ist Bewusstsein per definitionem
immer Bewusstsein von Etwas. Der Traum kann in diesem Zusammenhang
als ein Ausgangspunkt für eine Reise in die Grenzregionen von Bewusstsein
dienen, welche vielleicht weiter entfernt liegen, als gemeinhin angenommen.
Eine Frage, welche auf diesem Weg immer wieder gestellt werden muss, ist
die nach den notwendigen und hinreichenden Bestimmungen von Bewusst-
sein. Was muss gegeben sein, damit wir bereit sind, den fraglichen mentalen
Zustand als Bewusstsein anzusprechen? Weiterhin schwierig erfassbar bleibt
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

jedoch die Erlebnisqualität von Bewusstsein, die erstpersonale Erfahrung. Von


Berichten aus dieser Welt jedoch lebt die Traumforschung. Die Beobachtung
eigener Bewusstseinszustände ist in der zeitgenössischen westlichen Kultur
kaum als Kulturtechnik präsent. Buddhistische Meditationsformen hingegen
stellen eine Vielzahl kulturell entwickelter Formen der Selbstwahrnehmung
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

zur Verfügung. Dies ist eine Wissensform, welche derzeit Eingang in die Labore
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

findet. Geübte Meditierende arbeiten zusammen mit Neurowissenschaftlern


und Philosophen, um den Bereich der erstpersonalen Erfahrung im Traum
und Schlaf methodisch zu erschließen. Diese Forschungen laufen unter dem
Begriff der kontemplativen Neurowissenschaft. Ein Fundus an wissenschaft-
lichen Artikeln zu diesem neuen Gebiet findet sich auf der von Jennifer Windt
und Thomas Metzinger etablierten Internetseite „open-mind.net“. Es ist zu
hoffen, dass die Allianz bewusstseinsphilosophischer, kontemplativer und
neurowissenschaftlicher Ansätze etwas Licht ins Dunkel des schwierigen Pro-
blems Bewusstsein bringt.

Literatur

Descartes, Réné, Meditationes de prima philosophia, hg. v. Christian Wohlers, Hamburg:


Felix Meiner, 2009 [1641].
Gehring, Petra, Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung, Frankfurt
a. M.: Campus, 2008.
Heraklit, DK I 171, B89.
LaBerge, Stephen, Lucid Dreaming, Los Angeles: J. P. Parcher, 1985.
Locke, John, An Essay Concerning Human Understanding, New York: Prometheus, 1995
[1690].
Vom Träumen 55

Metzinger, Thomas/Windt, Jennifer M., „The Philosophy of Dreaming and Self-


Consciousness: What Happens tot he Experiental Subject during the Dream State?“,
in: The New Science of Dreaming. Cultural and Theoretical Perspectives, hg. v. Deirdre
Barrett und Patrick McNamara, Westport: Praeger, Vol. 3, 2007, S. 193–247.
Sarte, Jean-Paul, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft,
Reinbek: Rowohlt, 1980.
Thompson, Evan, Waking, Dreaming, Being. Self and Consciousness in Neuroscience,
Meditation, and Philosophy, New York: Columbia University Press, 2014.
Windt, Jennifer M., Dreaming. A Conceptual Framework for Philosophy of Mind and
Empirical Research, Massachusetts: MIT Press, 2015.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Politik der Philosophie (I)


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Nicolas Dierks

Die Rede vom Kampf des Neuen mit dem Alten.


Wer hat eigentlich gewonnen?

Ist der Kampf des Neuen mit dem Alten noch im Gange – oder ist er bereits
beendet? Kann der Kampf des Neuen mit dem Alten überhaupt beendet
werden – oder handelt es sich dabei um ein Grundgesetz der menschlichen
Entwicklung?
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Nach meiner Überzeugung ist nichts, was wir Menschen tun, von ewiger
Dauer. Solange es Menschen sind, die als Verfechter des Neuen oder des Alten
kämpfen, kann der Kampf auch beendet, vielleicht sogar vermieden werden.
Dieser Vorschlag allein hätte – ohne Übertreibung – im 20. Jahrhundert, auch
in Deutschland, disziplinarische Maßnahmen nach sich gezogen. Wenn in den
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

1950er- und 1960er-Jahren jemand z.B. an der Humboldt-Universität Berlin ab-


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

gestritten hätte, dass der Kampf des Neuen mit dem Alten das Grundgesetz
menschlicher Entwicklung ist, dann hätte ihm die Exmatrikulation gedroht,
die Zwangsemeritierung und Schlimmeres.
Wie kann das sein? Ist „Der Kampf des Neuen mit dem Alten“ nicht bloß
eine philosophische Allgemeinheit, nur so eine Redeweise? Ja – aber sie hat
eine düstere Geschichte, die ich im Folgenden beleuchten will.
Als die Rede vom Kampf des Neuen mit dem Alten Anfang des 19. Jahrhun-
derts aufkam, meinte man damit (auch angesichts der Französischen Revo-
lution) die kämpferischen Umbrüche, zu denen es in der Geschichte hin und
wieder kommt – also jeweils eine Phase.
Friedrich Schlegel etwa schrieb 1815 über die Literatur der Renaissance, dass
es dort zu einem Kampf zwischen dem Alten, Fremden und Vergangenen einer-
seits mit dem Neuen, Eigenen und Gegenwärtigen andererseits gekommen
sei. Gegenüber dem Bildungskanon antiker Autoren forderte Schlegel größere
Anerkennung für zeitgenössische Literatur.
Mitte des 19. Jahrhunderts, im revolutionären Programm von Sozialismus
und Kommunismus, etwa bei Marx und Engels, ist das zu bekämpfende Alte
nicht mehr die fremde Vergangenheit, sondern die entfremdete Gegenwart.
Das eigene, lebendige Neue, dem die revolutionären Bemühungen gelten, liegt
noch in der Zukunft.
Zu Zeiten von Marx und Engels wurde dieser Kampf verloren. Gewonnen
wurde er in der russischen Oktoberrevolution von 1917. Das Neue war aus der
Zukunft in die Gegenwart gerückt – und war damit die Phase des Kampfes

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_011


60 Nicolas Dierks

nicht beendet? Politisch gewonnen war der Kampf und doch wurde erklärt,
dass er noch lange nicht beendet werden könne. Dies ist der folgenschwere
Moment, in dem die Redensart vom Kampf des Neuen mit dem Alten den Sta-
tus eines universalen Gesetzes menschlicher Entwicklung zugesprochen bekam.

Wir werden niemals, solange es Klassen gibt, einen Zustand haben, wo wir
sagen können: nun, Gott sei Dank, es ist alles gut. Niemals wird dies der Fall
sein Genossen. […] Der Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen
dem Absterbenden und dem Neuentstehenden – das ist die Grundlage unserer
Entwicklung.1
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Diese Worte sprach Joseph Stalin in einer Rede auf dem XV. Parteitag der
KPdSU im Dezember 1927 – also kurz nachdem er seinen letzten Widersacher
Trotzki aus der Partei hatte ausschließen lassen. Kurz darauf begann Stalin sei-
ne politischen Säuberungsaktionen. War der Kampf des Neuen mit dem Alten
bei Friedrich Schlegel sowie Marx und Engels noch eine historische, bzw. pro-
to-soziologische Beobachtung, verkündete Stalin ihn als universales Gesetz.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Nach Stalins Auffassung rechtfertigte dieses staatliche Überwachung, Zensur


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

und Terror. Mit dem Erscheinen von Stalins Schrift Über dialektischen und
historischen Materialismus wurde die „Lehre des Genossen Stalin“ 1938 zur
Staatsdoktrin erklärt.
Nach der Gründung der DDR wurde die Redeweise vom Kampf des Neuen
mit dem Alten durch das SED-Regime systematisch verbreitet. 1951 widmete
man ihr in den Lehrmaterialien für Parteischulen, Fernunterricht und Selbst-
studium einen eigenen Band: Der Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen
als Entwicklungsgesetz der Gesellschaft. 1954 erschien im Ost-Berliner Kinder-
buchverlag der Jugendroman Tinko, in dessen Klappentext es heißt: „Mit Tinko
erleben wir den Kampf des Neuen mit dem Alten im Dorf.“ Der Roman bekam
1955 den Nationalpreis der DDR, wurde als Schulliteratur zugelassen, verfilmt
und der Autor, Erwin Strittmatter, wurde inoffizieller Mitarbeiter der Stasi.
Bisweilen trieben die Verbreitungsmaßnahmen auch seltsame Blüten, wie
etwa die Programmatische Erklärung der ZAG Volks- und Laientanz der DDR
vom Januar 1958 zeigt. Dort heißt es:

[…] die aus der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem Kampf des
Neuen mit dem Alten erwachsenen Konflikte müssen Inhalt und Form unsrer
neuen thematisch aktuellen Tänze bestimmen.2

1 Vgl. Joseph W. Stalin, Werke, Bd. 10, August-Dezember 1927, Berlin: Dietz, 1953, S. 287, hier:
S. 162.
2 Zit. n.: Volker Klotzsche/Sigrid Römer, Tanz in Sachsen. Betrachtung zum Amateur- und Volks-
tanz im 20. Jahrhundert, Norderstedt: Books on Demand, 2006, S. 79.
Die Rede vom Kampf des Neuen mit dem Alten 61

Solche Tänze wurden tatsächlich erfunden und jahrelang in Laientanzgrup-


pen verbreitet. Sie trugen dramatische Titel, wie „Wir wollen das Leben“ oder
auch „Tanz gegen den Atomtod“. Wenn das auch heute leicht bizarr anmutet,
so ist es doch beklemmend, wie „die Lehre des Genossen Stalin“ vom Kampf
des Neuen mit dem Alten noch die entlegensten Lebensbereiche infiltrierte.
Auch die „Freiheit der Wissenschaft“ an ostdeutschen Universitäten war in
jener Zeit prekär. Denunziation und staatliche Eingriffe waren an der Tages-
ordnung. Im Jahre 1958, kurz nach der Zwangsemeritierung des zunehmend,
aber viel zu spät kritisch gewordenen Ernst Bloch, hatte der Leopoldina-
Präsident Kurt Mothes den Mut zur öffentlichen Kritik.
Die Antwort kam von Walter Ulbricht. Sie lautete: „[…] dass […] beim Auf-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

bau des Sozialismus in der DDR ein ‚ständiger Kampf des Neuen mit dem
Alten‘“ vor sich gehe. Die damit verbundene Unruhe halte er „für absolut un-
erlässlich und gesetzmäßig“.3 Im Nachklang der Debatte wurde der „Operative
Vorgang Komet“ gestartet, mit dem Mothes Hochverrat nachgewiesen werden
sollte.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Dass die „Lehre des Genossen Stalin“ Ende der 1950er bereits als dogmati-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

sches Scheinargument durchschaut war, das zeigen die Reaktionen in Publi-


kationen des Verlags „Kultur und Fortschritt“, einem Organ der „Gesellschaft
für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“. 1958 werden dort in der Reihe „Sowjet-
wissenschaft“ nochmals die Fronten geklärt:

Obwohl der Kampf des Neuen mit dem Alten die innere Quelle der Entwicklung
einer jeden […] Gesellschaft in allen Etappen ihrer Entwicklung ist, hemmen die
herrschenden Klassen in der Ausbeutergesellschaft […] stets das Wirken dieses
Gesetzes, behindern den Kampf des Neuen mit dem Alten, versuchen das Neue
mit dem Alten zu versöhnen.4

Wer die objektive Gültigkeit des Gesetzes bezweifelte oder sein natürliches
Wirken behinderte, z.B. durch eine versöhnliche Einstellung – das konnte nur
der Klassenfeind sein.
Ulbricht eiferte dem Vorbild von Stalins Machtergreifung mit derselben
rhetorischen Figur nach – und sogar fast im gleichen Zeitabstand zur je-
weiligen Staatsgründung (1917–1927; 1949–1960). Nach der Sicherung seiner
unbeschränkten Macht in der DDR hielt Ulbricht im Oktober 1960 einen

3 Zit. n.: Joachim Kaasch/Michael Kaasch, „Die Leopoldina und ihre Mitglieder 1945–1961“,
in: Hochschule im Sozialismus: Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena
(1945–1990), Bd. 1, hg. v. Tobias Hossfeld et al., Köln/Weimar: Böhlau, 2007, S. 775.
4 Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, Heft 7, Berlin: Verlag Kultur und
Forschung, 1958, S. 781.
62 Nicolas Dierks

programmatischen Vortrag vor der Volkskammer. Er behauptete – wenige Mo-


nate vor dem Bau der Berliner Mauer – es bestehe zwischen der Staatspolitik
und den Interessen der Bürger kein Widerspruch, denn „im Kampf des Neuen
mit dem Alten sei die sozialistische Menschengemeinschaft geboren“.5
Die friedliche deutsche Revolution von 1989 hat die „Lehre des Genossen
Stalin“ sowohl widerlegt, als auch ihre Rolle zur Legitimierung staatlicher Re-
pression obsolet gemacht.
Wer hat also den Kampf des Neuen mit dem Alten gewonnen – diese Fra-
ge wollte ich ja beantworten. Ich würde sagen: Das muss man historisch von
Fall zu Fall entscheiden. Verloren aber haben – Gott sei dank! – diejenigen, die
behaupteten, dieser Kampf sei ein Naturgesetz und rechtfertige jedes Mittel.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Insofern sollte es uns heute weniger darum, wer nun gewonnen oder verloren
hat, sondern um neue Deutungen der Verhältnisse von Neuem und Altem –
vor allem um Deutungen mit größerem Hang zu friedlicher Diversität.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Literatur
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Kaasch, Joachim/Kaasch, Michael, „Die Leopoldina und ihre Mitglieder 1945–1961“, in:
Hochschule im Sozialismus: Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität
Jena (1945–1990), Bd. 1, hg. v. Tobias Hossfeld et al., Köln/Weimar: Böhlau, 2007.
Klotzsche, Volker/Römer, Sigrid, Tanz in Sachsen. Betrachtung zum Amateur- und Volks-
tanz im 20. Jahrhundert, Norderstedt: Books on Demand, 2006.
Scharikow, A., „Der Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen als Entwicklungs-
gesetz der Gesellschaft“, in: Lehrmaterialien für Parteischulen, Fernunterricht und
Selbststudium. Kursus: Dialektischer und historischer Materialismus, Berlin: Dietz,
Heft 4, 1951.
Schlegel, Friedrich, Geschichte der alten und neuen Literatur. Vorlesungen gehalten zu
Wien im Jahre 1812, Bd. I u. II, Wien: Schaumburg und Comp., 1815.
Stalin, Joseph W., Über dialektischen und historischen Materialismus, Offenbach: Olga
Benario und Herbert Baum, 1997 [1938].
Stalin, Joseph W., Werke, Bd. 10, August–Dezember 1927, Berlin: Dietz, 1953.
Strittmatter, Erwin, Tinko, Berlin: Kinderbuchverlag, 1954.
Werkentin, Falco, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Vom bekennenden Terror zur
verdeckten Repression, Berlin: Ch. Links, 1997.

5 Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Vom bekennenden Terror zur ver-
deckten Repression, Berlin: Ch. Links, 1997, S. 226.
Christoph Jamme

Heideggers „Schwarze Hefte“

Die zeitweilige Machtsteigerung des Judentums aber hat darin ihren Grund,
dass die Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen Entfaltung,
die Ansatzstelle bot für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität
und Rechenfähigkeit, die sich auf solchem Wege eine Unterkunft im ‚Geist‘ ver-
schaffte, ohne die verborgenen Entscheidungsbezirke von sich aus je fassen zu
können. Je ursprünglicher und anfänglicher die künftigen Entscheidungen und
Fragen werden, umso unzugänglicher bleiben sie dieser ‚Rasse‘.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Die Juden ‚leben‘ bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon
nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die uneinge-
schränkte Anwendung zur Wehr setzen.

Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die me-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

taphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin un-
gebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als ‚weltgeschichtliche‘
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Aufgabe übernehmen kann.

Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland herausgelassenen


Emigranten, ist überall unfassbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nir-
gends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das
beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern.

Solche Sätze lesen zu müssen ist abstoßend und unerträglich, und es sind
genau solche Sätze, die beim Erscheinen von Heideggers drei Bänden Überle-
gungen (Schwarze Wachstuchhefte) von 1931 bis 1941 (veröffentlicht als Bände
94–96 der Gesamtausgabe von Peter Trawny im Jahre 2014) für einen gehöri-
gen Skandal gesorgt haben. In diesen Heften wird erschreckend deutlich, dass
auch das Ende von Nazideutschland und die Konfrontation mit der Ermor-
dung der europäischen Juden Heidegger nicht zum Umdenken bewegt haben.
In seinem Buch Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung und
in vielen nationalen und internationalen Auftritten in Medien und auf Tagun-
gen hat der Herausgeber der drei Bände der Überlegungen, Peter Trawny, sich
sogar zu der These verstiegen, Heideggers eigene spätere Philosophie sei sys-
tematisch antisemitisch. Was ist von einer solchen These zu halten? Will sich
hier ein bisher eher farbloser Wuppertaler Philosoph, der in der Vergangenheit
mit Heidegger-Deutungen im frommen Stil der 1950er-Jahre aufgefallen oder
eher nicht aufgefallen war (und den die Nachlassverwaltung deshalb auch als
linientreu eingeschätzten Herausgeber beauftragt hatte), hier mit Hilfe des

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_012


64 Christoph Jamme

von ihm edierten Materials zu einer medialen Aufmerksamkeit verhelfen, die


ihm sonst nicht zu teil geworden wäre (was natürlich den besonderen Zorn der
Heidegger-Erben und -Getreuen wie Friedrich Wilhelm von Herrmann hervor-
gerufen hat)?
Einige Relativierungen des skandalisierten Antisemitismus seien gestattet.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die dreizehn Textstellen in zwei von
insgesamt drei Bänden der Überlegungen, in denen Heidegger in seinsge-
schichtlich-kritischer Perspektive zu „internationalem Judentum“ und „Welt-
judentum“ Stellung nimmt, „kaum 21/2 Seiten DIN A4 füllen im Verhältnis
zu den 1.250 Seiten der drei Bände ‚Überlegungen‘ “. Diese dreizehn knappen
Textstellen sind „keine gedanklich-systematischen ‚Bausteine‘, das heißt keine
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

konstitutiven Gedankenzüge im Gefüge des Seinsgeschichtlichen Denkens“,


sondern nur Beispiele, von denen es viele gibt, Beispiele für die Bodenlosigkeit,
das Geschichtslose, das bloße Rechnen mit dem Seienden, die leere Rationali-
tät und Rechenfähigkeit, kurz: für das Versäumnis der Seinsfrage. Heidegger
bezieht also den Geist des „internationalen Judentums“ in den neuzeitlichen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Gegenwartsgeist ein. Auf einer Tagung in Siegen stellte Ch. Geulen vor kurzem
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

die bedenkenswerte These auf, Heidegger habe gar keine weltanschaulichen


Überzeugungen gehabt. Er ließ sich vielmehr vom politischen Diskurs treiben,
dessen jeweils aktuelles Vokabular er sich philosophierend anverwandelte.
Heidegger, auch darauf muss man hinweisen, wetterte nicht nur gegen das
Judentum, sondern gleichermaßen gegen Christentum, Bolschewismus, Natio-
nalsozialismus, Amerikanismus als Spielarten der Seinsvergessenheit.
Auffällig ist auch, dass die antisemitischen Ausfälle mit einer Kritik des Na-
tionalsozialismus einhergehen (so wird „Rasse“ immer in Anführungsstrichen
geschrieben). Dieter Thomä hat in Siegen1 auf die erklärungsbedürftige Tat-
sache aufmerksam gemacht, dass Heideggers fanatischer Antisemitismus erst
einsetzte, als er sich enttäuscht von Hitler abwandte. Erst dann sei Heidegger
mit aller Niedertracht über die Juden, als „Konkursgewinnler des untergehen-
den Abendlandes“, hergefallen.
Weit unerträglicher als alle antisemitischen Äußerungen, die im Kontext
von Heideggers ja seit langem bekannter Nähe zum Nationalsozialismus auch
nicht wirklich überraschen können, ist aber die „wirklich verheerende den-
kerische Qualität dieser Notizen“ (so Gumbrecht in seinem FAZ-Blog vom
25.04.2015), sind das Selbstmitleid und die Larmoyanz, die aus jeder Zeile der
Überlegungen sprechen. Heidegger beklagt den Entzug seiner Lehrerlaubnis
als Katastrophe für das Abendland, und dies in endlosen Redundanzen, die am

1 Vgl. Dieter Thomä, „Schwierigkeiten mit der Demokratie. Gehlen, Carl Schmitt und Hei-
degger über das Politische“, Vortrag an der Universität Siegen, 31.01.2007.
Heideggers „Schwarze Hefte “ 65

Ende nur noch anöden. Wären es rein private Aufzeichnungen, dann könnte
man es noch akzeptieren, aber sie waren ja ausdrücklich zur Veröffentlichung
bestimmt – als Schlussstein der monumentalen, minutiös geplanten Gesamt-
ausgabe. Dokumentieren wollte Heidegger seine unausgesetzten Bemühungen
um die einzige Frage nach der Wahrheit des Seyns – bleibend dokumentiert ist
aber nur eine Blindheit gegenüber sich selbst und den Zeitläufen, die in der
Philosophie ihresgleichen sucht. Doch auch nach der Veröffentlichung dieser
Hefte lässt sich die Größe Heideggers nicht bestreiten, was sich allein schon an
seiner Wirkung ablesen lässt. Sein und Zeit ist und bleibt ein Jahrhundertbuch.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Literatur

Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, 17. Aufl., 1993.
Heidegger, Martin, Überlegungen, II–XV, Schwarze Hefte 1931–1948, Gesamtausgabe
Bd. 94–96, hg. v. Peter Trawny, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2014.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Herrmann, Friedrich Wilhelm von, „Die Stellung von Martin Heideggers ‚Notizbü-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

chern‘ oder ‚Schwarzen Wachstuchheften‘ in seinem Gesamtwerk“, in: Martin Hei-


degger. Die Wahrheit über die Schwarzen Hefte, Philosophische Schriften, Bd. 94,
hg. v. Ders./Francesco Alfieri, Berlin: Duncker & Humblot, 2017, S. 31–35.
Trawny, Peter, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Frankfurt
a. M.: Klostermann, 3. Aufl., 2015.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Andreas Jürgens

Davos ohne Legende? – Zur Disputation zwischen


Ernst Cassirer und Martin Heidegger 1929

„Stattgefunden hat die Davoser Disputation, soviel steht fest. Alles andere an
dem legendären Gipfeltreffen zwischen Heidegger und Cassirer ist – Legen-
de.“1 Dominik Kaegis süffisant-lapidarer Verweis des Zusammentreffens der
beiden Philosophen in die hagiographischen Annalen der Philosophie des 20.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Jahrhunderts ist angebracht und problematisch zugleich. Zutreffend ist, dass


Cassirers und Heideggers Statements zur Wesensbestimmung des Menschen
nach Kant vor allem weltanschaulich-politisch gedeutet wurden und damit
eine Stilisierung des Streitgesprächs zum Treffen auf dem Zauberberg am Vor-
abend der nationalsozialistischen Katastrophe einherging. Dieser Rezeption
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

des Davoser Zusammentreffens als einem epochalen Ereignis hatte vor allem
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Jürgen Habermas in seinem Aufsatz über den deutschen Idealismus der jüdi-
schen Philosophen im Jahr 1961 Vorschub geleistet. Den Disput deutete er als
clash of cultures. „Das Thema“, so Habermas, „hieß: Kant; in Wahrheit stand
das Ende einer Epoche zur Diskussion: ‚die gebildete Welt des europäischen
Humanismus gegen einen auf Ursprünglichkeit des Denkens sich berufenen
Dezionismus‘“.2 Dass sich in Davos nicht nur zwei Vertreter gegensätzlicher
philosophischer Positionen gegenüberstanden, sondern vielmehr die Prot-
agonisten zweier sich ausschließender Denkwelten und Lebensformen zu-
sammenstießen, geriet in der Folgezeit zu einem vielzitierten philosophiege-
schichtlichen Stereotyp: hier Cassirer, Repräsentant liberaler Weimarer Kultur
und akademisch etabliert; dort Heidegger, der Provinz verhaftet, graecophil,
ein radikaler Destrukteur der transzendentalphilosophischen Tradition, in
ein neues ontologisches Denken aufbrechend; hier filigrane auch einzelwis-
senschaftlich gesättigte Argumentation im Geiste des deutsch-jüdischen In-
tellektualismus, dort wuchtige Terminologie mit einem geradezu expressio-
nistischen Sprachgestus. Und im Lichte der historischen Erfahrung: hier der
Flüchtling, dem 1933 das Exil aufgezwungen wird, dort der Universitätsrektor,

1 Dominik Kaegi, „Die Legende von Davos“, in: Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeit-
gemäße Aktualität?, hg. v. der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin: Akademie, 2007, S. 75. Zu einer
bibliographischen Übersicht zur Davoser Disputation vgl. Andreas Jürgens, Humanismus
und Kulturkritik. Ernst Cassirers Werk im amerikanischen Exil, Paderborn: Fink, 2012, S. 126.
2 Jürgen Habermas, „Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen“, in: Philosophisch-
politische Profile, hg. v. Ders. 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981, S. 52.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_013


68 Andreas Jürgens

von der „Unerbittlichkeit jenes geistigen Auftrags“ raunend, „der das Schicksal
des deutschen Volkes in das Gepräge seiner Geschichte zwingt“.3 Falsch ist das
alles nicht, verhinderte jedoch lange Zeit durch Überdeutung die philosophi-
sche Rekonstruktion der Davoser Debatte, vor allem der verdeckten Nähe der
opponenten Argumentationen.
Ist es jedoch möglich, das Davoser Treffen jenseits aller Ideologiekritik zu
beleuchten? Mit Kaegi gesprochen: Davos ohne Legende? Also von Kontexten
isoliert, mit Blick auf den puren Gehalt der Argumente? Eine solche Betrach-
tung würde verleugnen, dass auch Philosophie eine Wissenschaft ist, deren
Gedanken nicht in den Wolken geboren werden und dass die Späteren ihren
Blick auf Davos dem historischen Horizont, der, wie Dominik Kaegi und Enno
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Rudolph schrieben, kein „Resultat historiographischer Willkür“4 sei, nicht zu


entziehen vermögen.
Den Rahmen des Disputs bildeten die Davoser Hochschulwochen 1929
zum Thema ‚Mensch und Generation‘. Geleitet wurden die Veranstaltungen
von Cassirer und Heidegger, die jeweils in mehreren Vorträgen ihre philoso-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

phischen Konzeptionen thematisierten. Heidegger hatte seine Deutung der


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Philosophie Immanuel Kants vorgestellt, die er im gleichen Jahr zu einem


Buch bearbeitet unter dem Titel Kant und das Problem der Metaphysik veröf-
fentlichte. In radikaler Distanzierung zu zeitgenössischen neukantianischen
Interpretationen unternimmt er in fundamentalontologischer Perspektive die
Kritik der reinen Vernunft als Grundlegungsschrift der Metaphysik und nicht
der Erkenntnistheorie zu interpretieren. Im Zentrum von Heideggers Interpre-
tation steht die Umdeutung der transzendentalen Einbildungskraft zur Zeit-
lichkeit, wodurch die menschliche Vernunft auf das Terrain der Endlichkeit
verwiesen und ihr die Sphäre des Intelligiblen entzogen wird.
Heideggers Kant-Interpretation, die den Gegenstand des ersten Teils des
Disputs bildet, provoziert Cassirer in doppelter Hinsicht. Zum einen sieht er
in Heideggers Fokussierung der Einbildungskraft der Kantischen Philosophie
einen Monismus unterstellt, der den Menschen die vernunftmäßige Transzen-
dierung seiner phänomenalen Gebundenheit und damit seiner Möglichkeit
zur Freiheit unmöglich macht. Wie soll der Mensch dann aber ein morali-
sches Wesen sein können? Denn, so Cassirer, „[d]as Sittliche als solches führt
über die Welt der Erscheinungen hinaus. […] [I]m Ethischen wird ein Punkt

3 Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“, in: Die Selbstbehaup-
tung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der
Universität Freiburg i. Br. am 27.5.1933 / Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken, hg. v.
Ders., 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Klostermann, 1990, S. 9.
4 Dominik Kaegi/Enno Rudolph, „Vorwort“, in: Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputa-
tion, Cassirer-Forschungen, Bd. 9, hg. v. Dies., Hamburg: Meiner, 2002, S. VIII.
Davos ohne Legende ? 69

erreicht, der nicht mehr relativ ist auf die Endlichkeit des erkennenden We-
sens, sondern da wird nun ein Absolutes gesetzt.“5 Cassirer sieht jedoch nicht
nur das Ethische infrage gestellt. Er fragt: „Wie kommt ein solches endliches
Wesen überhaupt zur Erkenntnis, zur Vernunft, zur Wahrheit?“6 „Will Heideg-
ger auf diese ganze Objektivität, auf diese Form der Absolutheit, die Kant im
Ethischen, im Theoretischen und in der Kritik der Urteilskraft vertreten hat,
verzichten?“7 Heidegger kontert, dass auch der kategorische Imperativ eben
weil er Imperativ, also Befehl sei, einen inneren Bezug auf ein endliches We-
sen aufweise. Auch die von Cassirer hervorgehobene ethische Transzendenz
bleibe, so Heidegger, noch innerhalb der Geschöpflichkeit und Endlichkeit.
Heidegger deutet das sittliche Gesetz der Kantischen Ethik nicht in ihrer nach
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Cassirer transzendierenden, orientierenden Funktion. Für Heidegger richtet


sich das Gesetz in umgekehrter Richtung auf das Dasein. Vor einer Erörterung
des sittlichen Wesens des Menschen habe man nach Heidegger zuerst einmal
nach der inneren Struktur des Daseins zu fragen: „Wie ist die innere Struktur
des Daseins selbst, ist sie endlich oder unendlich?“8 Heidegger beantwortet
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

diese Frage im Rahmen einer schöpferisch-hermeneutischen Ontologie, die er


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

von Kant herleitet. Der Mensch sei nie unendlich und absolut im Schaffen des
Seienden selbst, sondern er sei unendlich im Sinne des Verstehens des Seins. Im
Rahmen dieses Endlichkeitsparadigmas erläutert Heidegger dann auch seine
Auffassung von Wahrheit und Objektivität: Wahrheit sei relativ, nicht etwa
weil er sie relativistisch auffasst, sondern weil sie ohne Bezug auf ein Dasein
nicht existiere. Ohne Dasein würde die Wahrheit gar nicht in ihr Dasein kom-
men. Die Übersubjektivität von Wahrheit bestehe nach Heidegger in der dem
Einzelnen gegebenen Möglichkeit, das Seiende selbst zu gestalten und so an
dem In-der-Wahrheit-sein teilzuhaben. Objektive Erkenntnis sei dann das, was
als Gehalt des Wahrheitsgehaltes etwas über das Seiende aussage.9 An dieser
Stelle verlasse ich den konkreten Disput und wende mich der zweiten Heideg-
ger’schen Provokation zu, von der ich eingangs gesprochen habe. Die Frage
nach dem richtigen Verständnis der Kantischen Philosophie, die Cassirer und
Heidegger miteinander in verschiedenen Sprachen ausfechten, berührt eine

5 Ernst Cassirer, „Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer/Anhang
III“, in: Kant und das Problem der Metaphysik, hg. v. Martin Heidegger, Frankfurt a. M.: Klos-
termann, 1998, S. 276.
6 Ebd., S. 277.
7 Ebd., S. 278.
8 Ebd., S. 280.
9 Vgl. ebd.
70 Andreas Jürgens

polito-philosophische Dimension, auf die John Michael Krois aufmerksam


gemacht hat.10
Im Jahr 1916, also dreizehn Jahre vor dem Davoser Gespräch, schrieb der
Jenaer Philosophieprofessor Bruno Bauch einen Leserbrief an die völkische
Zeitschrift Der Panther. Er behauptete, dass Hermann Cohen, akademischer
Lehrer und Freund Cassirers, als Jude den deutschen Philosophen Kant nicht
verstehen könne. Juden seien Gäste im deutschen Hause. Wenig später pub-
lizierte Bauch in den Kant-Studien, deren Mitherausgeber er war, eine völki-
sche Kant-Interpretation. Cassirers kritische Reaktion, die ebenfalls in den
Kant-Studien veröffentlicht werden sollte, unterblieb infolge des Rücktritts
Bauchs von der Redaktion der Zeitschrift. Danach beruhigte sich die Situation.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

„Bruno Bauch“, so Krois, „hatte bestritten, dass Cohen als Jude Deutscher sein
könne und deshalb seine wissenschaftliche Leistung in Frage gestellt, und nun
wiederholte sich dieser Angriff unmittelbar vor der Davoser Debatte.“11 Etwa
drei Wochen vor der Davoser Disputation erschien in der Frankfurter Zei-
tung ein Bericht über einen Vortrag des Wiener Philosophiehistorikers Oth-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

mar Spann. Spann hatte am 22. Februar 1929 an der Münchener Universität
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

im Rahmen einer Veranstaltung des ‚Kampfbundes für deutsche Kultur‘ über


‚Die Kulturkrise der Gegenwart‘12 gesprochen. Er griff den Neukantianismus
und namentlich Hermann Cohen und Ernst Cassirer an, die er als ‚Fremde‘
bezeichnete, die Kant, den Deutschen, falsch interpretierten. „Die Erklärung
der Kantischen Philosophie“, so Spann, „durch Cohen, Cassirer und andere war
eine sehr mangelhafte.“13 Das Mangelhafte daran war, „dass der wahre Kant,
der eigentlich Metaphysiker war, damit nicht dem deutschen Volke vorgestellt
wurde“.14 Nach Spann hätten die fremden Neukantianer mit unmetaphysi-
schen Tendenzen in der Philosophie zu einer Kulturkrise geführt, während es
dem deutschen Philosophen Kant um die Metaphysik ging. Die Rede wurde in
dem überfüllten Audimax bejubelt. Hitler, der anwesend war, bedankte sich, so
Krois, bei Spann mit Händedruck und tiefer Verbeugung.
Cassirer muss sich von Heidegger also zweifach provoziert gefühlt haben:
philosophisch durch die radikale Umdeutung Kants und politisch durch Be-
zugnahmen auf die zeitgenössische anti-neukantianische und das heißt: anti-
semitische Debatte. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass es in Davos zu

10 Vgl. zum folgenden Absatz in enger Übernahme John Michael Krois, „Warum fand kei­
ne Davoser Debatte zwischen Cassirer und Heidegger statt?“, in: Cassirer – Heidegger. 70
Jahre Davoser Disputation, Cassirer-Forschungen, a.a.O., S. 238f.
11 Ebd., S. 238.
12 Ebd.
13 Ebd.
14 Ebd.
Davos ohne Legende ? 71

keinem wirklichen Gespräch kam, sondern die Kontrahenten sich vor allem
auf der Oberfläche von Positionsbestimmungen bewegten, die dem anderen
nichts Neues boten. Dabei hätten sie durchaus produktiv disputieren können,
denn bei aller Unterschiedlichkeit der Grundauffassungen gab es in Cassirers
und Heideggers Denken auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten.15 So waren
beide der Ansicht, dass der neukantianische Fokus auf die mathematisch-
naturwissenschaftliche Erkenntnis einer Korrektur bedürfe, und in diesem
Zusammenhang nahm auch bei Cassirer im Rahmen seiner kulturphilosophi-
schen Symboltheorie die Sinnlichkeit und produktive Einbildungskraft einen
hohen Stellenwert ein. Und fassten beide den Freiheitsbegriff nicht prozessual
auf? „Der einzige adäquate Bezug zur Freiheit im Menschen“, sagte Heidegger,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

sei „das Sich-befreien der Freiheit im Menschen“.16 Auch Cassirer denkt Frei-
heit über den Weg der symbolischen Form und Formung als einen unendlichen
Prozess der fortschreitenden Befreiung, in dessen Rahmen dem Menschen
eine immanente Unendlichkeit zukomme. Und selbst terminologisch hätten
die beiden Denker Anschlüsse finden können, denn Cassirer arbeitete zu die-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ser Zeit an einer Metaphysik der symbolischen Formen17, in dessen Zentrum der
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

von Goethe entlehnte Begriff des Urphänomens steht. Mit den Urphänome-
nen suchte Cassirer die symbolisch vermittelte Relationalität des Wirklich-
keitsverhältnisses an unmittelbare und unhintergehbare Modi menschlicher
Existenz anzubinden. Hier hätte er eine Nähe zur Seins-Semantik Heideggers
auszumachen können. Aber all dies blieb in Davos unausgesprochen. In der
politischen Dimension, die dem Gespräch von Anfang an eingeschrieben war,
mag der Grund seines Scheiterns zu finden sein.

Literatur

Bauch, Bruno, Leserbrief, in: Der Panther, Jg. 4, Heft 6, Juni 1916, S. 742–746.
Cassirer, Ernst, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: Ernst Cassirer. Nachge-
lassene Texte und Manuskripte, Bd. 1, hg. v. John Michael Krois unter Mitw. v. Anne
Appelbaum u. a., Hamburg: Meiner, 1995.
Habermas, Jürgen, „Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen“, in: Philoso-
phisch-politische Profile, hg. v. Ders. 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981.

15 Vgl. ebd., S. 235.


16 Martin Heidegger/Erst Cassirer, „Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und
Ernst Cassirer/Anhang III“, in: Kant und das Problem der Metaphysik, a.a.O., S. 285.
17 Vgl. Ernst Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: Ernst Cassirer. Nachgelas-
sene Texte und Manuskripte, Bd. 1, hg. v. John Michael Krois unter Mitw. v. Anne Appel-
baum u. a., Hamburg: Meiner, 1995.
72 Andreas Jürgens

Heidegger, Martin, „Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst


Cassirer/Anhang III“, in: Kant und das Problem der Metaphysik, hg. v. Ders., Frank-
furt a. M.: Klostermann, 1998.
Heidegger, Martin, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“, in: Die Selbst-
behauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme
des Rektorats der Universität Freiburg i. Br. am 27.5.1933 / Das Rektorat 1933/34. Tatsa-
chen und Gedanken, hg. v. Ders., 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Klostermann, 1990.
Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik, hg. v. Friedrich W. von Herr-
mann, Frankfurt a. M.: Klostermann, 7. Aufl., 2010.
Jürgens, Andreas, Humanismus und Kulturkritik. Ernst Cassirers Werk im amerikani-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

schen Exil, Paderborn: Fink 2012.


Kaegi, Dominik, „Die Legende von Davos“, in: Hannah Arendt: Verborgene Tradition –
Unzeitgemäße Aktualität?, hg. v. der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin: Akademie, 2007,
S. 75.
Kaegi, Dominik /Rudolph, Enno, „Vorwort“, in: Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser
Disputation, Cassirer-Forschungen, Bd. 9, hg. v. Dies., Hamburg: Meiner, 2002.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Meiner, 1998 [1981].
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Krois, John M., „Warum fand keine Davoser Debatte zwischen Cassirer und Heidegger
statt?“, in: Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Cassirer-Forschungen,
Bd. 9, hg. v. Dominik Kaegi/Enno Rudolph, Hamburg: Meiner, 2002.
Spann, Othmar, „Die Kulturkrise der Gegenwart“, Vortrag an der Münchener Univer-
sität am 23. Februar 1929, in: Mitteilungen des Kampfbundes für deutsche Kultur,
Jg. 1, Heft 3, März 1929, S. 33–44.
Günter Burkart

Wissen und Gewissheit. Oder: Wann ist der Zweifel


überflüssig?

Wann wissen wir, dass wir etwas wissen? Wann sind wir sicher, dass etwas
wirklich ist; wann können wir aufhören, Aussagen anzuzweifeln, weil wir Ge-
wissheit über unser Wissen haben? Das sind grundlegende Fragen, mit denen
sich Philosophie, Erkenntnistheorie und Wissenschaftsforschung, auch in der
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Soziologie, seit langem beschäftigen.


Der Wissensbegriff ist einfach und komplex zugleich. Beginnen wir mit
einer Arbeitsdefinition: „Wissen“ = Mit dem Gefühl von Gewissheit und dem
Anspruch auf Wahrheit ausgestattete Menge von Beschreibungen von Welt-
zuständen durch Subjekte. Durch Kommunikation wird Wissen objektiviert
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

und gelangt in den, im Prinzip allgemein zugänglichen, kulturellen Wissensbe-


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

stand. Wenn wir sagen, Wissen sei mit dem Gefühl von „Gewissheit“ ausgestat-
tet, dann kommen mögliche Zweifel an der Wahrheit von Aussagen entweder
gar nicht erst auf oder sie werden unterdrückt oder zurückgewiesen. So etwa,
wenn ich feststelle: „Es regnet.“ Diese Art von Gewissheit ist der Normalfall für
das Wissen in der alltäglichen Lebenspraxis.
Für eine stärker soziologische Definition von „Wissen“ sind noch zwei wei-
tere Begriffe wichtig: „Wissensgesellschaft“ und „Wissenssoziologie“. Wenn die
Soziologie von „Wissensgesellschaft“ spricht, dann ist eine bestimmte histori-
sche Phase der gesellschaftlichen Entwicklung gemeint, in der das „Wissen“
eine größere Bedeutung für sozialen Erfolg, für Anerkennung oder für Macht-
ansprüche hat als in früheren Phasen, in denen einerseits der „Glaube“, an-
dererseits Besitz und Beziehungen wichtiger waren als „Wissen“. Als Beginn
der „Wissensgesellschaft“ wird manchmal die Renaissance, manchmal das 18.
Jahrhundert (Aufklärung), manchmal aber erst die zweite Hälfte des 20. Jahr-
hunderts angesehen, in der auch die Wirtschaft immer mehr zu einer Wissens-
ökonomie geworden ist.
Die „Wissenssoziologie“ ist eine Teildisziplin der Soziologie, die auf Karl
Mannheim zurückgeht, und die in radikaler Weise davon ausgeht, dass es kein
objektives oder absolutes Wissen gibt, dass vielmehr jedes Wissen von ge-
sellschaftlichen Verhältnissen abhängt – insbesondere die Durchsetzung und
Anerkennung von Wissen ist in dieser Perspektive nicht unabhängig von ge-
sellschaftlichen Strukturen.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_014


74 Günter Burkart

„Wissen“ erscheint häufig in Form von lexikalischem Wissen. Wie wir alle
wissen, hat sich auch an der Universität das Wikipedia-Lexikon sehr schnell
verbreitet. Wikipedia-Wissen ist – wie auch manch anderes Lexikon-Wissen –
ein Wissen, das sich normalerweise keine Rechenschaft über sein Zustan-
dekommen ablegt. Es ist ein „So-ist-es“- oder ein „So-ist-die-Welt“-Wissen.
Nehmen wir als Beispiel den Anfang des Wikipedia-Artikels zu „Ameisen“:

Ameisen (Formicidae) sind eine Familie der Insekten innerhalb der Ordnung
der Hautflügler. Derzeit sind mehr als 13.000 Arten beschrieben, davon etwa 200
in Europa. Die ältesten fossilen Funde stammen aus der Kreidezeit und werden
auf ein Alter von 100 Millionen Jahren datiert. Das Alter der Gruppe wird jedoch
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

auf möglicherweise 130 Millionen Jahre geschätzt.

Hier sind zwar einige Aussagen, wo Zahlenangaben als Schätzwerte oder als
mit einer Ungenauigkeit behaftet auftreten. Aber insgesamt herrscht der Duk-
tus vor, dass sich die Aussagen auf gesichertes Wissen beziehen. Solche Aus-
sagen müssen aber bezweifelt werden können, wenn sie den Anspruch auf ein
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

wissenschaftliches Wissen erheben, denn sie sind in ähnlicher Weise – wenn


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

auch in anderer Form – Gewissheits- und Wahrheitsbehauptung wie die Aus-


sage „Ich schlafe nicht.“
Wissen kann also sehr unterschiedliche Formen annehmen. Wenn ich sage:
„Ich weiß, dass Neil Armstrong der erste Mensch auf dem Mond war“, dann
habe ich für die Wahrheit dieser Behauptung, also für die Gewissheit, dass
es sich hier um Wissen und nicht um einen Mythos handelt, nur sekundäre
Evidenzen – kein Wunder, dass zumindest einige Menschen die Wahrheit die-
ser Aussage in Frage stellen. Anders ist es, wenn ich in einem Hörsaal stehe,
meine linke Hand hebe und mit der rechten Hand darauf zeige und dann sage:
„Ich weiß, dass ich hier stehe und dass dies hier meine linke Hand ist.“
Das Beispiel mit der Hand führt uns zu einem Philosophen, der sich mit
Fragen dieser Art besonders intensiv und einflussreich befasst hat, nämlich
Ludwig Wittgenstein. Eine der Schriften aus dem Nachlass des Philosophen
wurde unter dem Titel „Über Gewissheit“ veröffentlicht, und sie beginnt so:
„Wenn Du weißt, dass hier eine Hand ist, so geben wir dir alles übrige zu.“
Wittgenstein will damit sagen, dass in der Philosophie selbst die Aussage
„Hier ist meine Hand“ nicht einfach als selbstverständlich wahr und richtig
angesehen werden darf, sondern im Prinzip genauso bezweifelt werden muss
wie beim Neil-Armstrong-Beispiel. Wittgenstein hat in diesem Zusammen-
hang einen seltsamen Begriff verwendet: das Sprachspiel. Diesen Begriff hat er
genauer erörtert in seiner Schrift Philosophische Untersuchungen. Er beginnt
dort mit einem Augustinus-Zitat, in dem es um die Bedeutung von Worten und
Wissen und Gewissheit 75

Sätzen geht. Das Wort verweist auf ein Objekt in der Welt, bezeichnet oder be-
nennt es.1
Wittgenstein will in diesen „Untersuchungen“ – sie bestehen nicht aus
einem fortlaufenden Text, sondern aus einzelnen Paragraphen, in denen häu-
fig nur Fragen gestellt werden – deutlich machen, dass es bei der Sprache nicht
in erster Linie um die Bedeutung in diesem Sinn geht, also um das Benennen
und Bezeichnen von Gegenständen und Sachverhalten durch Worte und Sätze,
sondern dass die Bedeutung von Worten der Sprache erst durch ihre Verwen-
dung, durch ihren Gebrauch in einem Sprachspiel, im Rahmen einer Handlung,
klar wird.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie ver-
woben ist, das „Sprachspiel“ nennen.2

Eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.3


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Das heißt, die Sprache – und damit die Bedeutung von Worten und Sätzen – ist
eng mit sozialem Handeln, mit der gesellschaftlichen Praxis verwoben. Man
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

kann deshalb sagen, dass die eigentliche Bedeutung von Worten und Sätzen
erst durch den jeweiligen sozialen Kontext zustande kommt. Das ist unmittel-
bar evident zum Beispiel bei Worten wie „hier“ und „jetzt“, bei „ich“ und „wir“.
Aber im Grunde gilt es für die ganze Sprache.
Was wir wissen, vor allem: was wir sicher wissen (Wittgenstein würde sagen:
Was wir glauben, sicher zu wissen), das glauben wir, weil es im Rahmen eines
bestimmten Sprachspiels als sicher gelten darf. Die Regeln des Sprachspiels
sagen: Hier, in diesem Kontext, darfst du ruhig glauben, was der andere be-
hauptet. Wenn etwa im Sprachspiel Intime Beziehungen der Partner sagt, „ich
spüre, dass zu mir vertraust“, dann darf man das ruhig glauben; darf es als si-
chere Wahrheit betrachten. Eigentlich: man muss es glauben, ein Zweifel wäre
hier höchst gefährlich – im Unterschied zum Sprachspiel Therapeutischer Be-
ziehungsdiskurs, in dem alle Aussagen systematisch hinterfragt werden dürfen,
gerade Aussagen, die ein Sprecher über eigene Gefühle macht.
Dies gilt in etwas anderer Weise auch für das Sprachspiel Wissenschaft.
Hier ist (auf einer anderen Ebene als im therapeutischen Diskurs) der syste-
matische Zweifel eingebaut. Eine Grundregel dieses Sprachspiels ist deshalb

1 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003


[1953], § 1, S. 13.
2 Ebd., § 7.
3 Ebd. § 19, S. 20.
76 Günter Burkart

die skeptische Frage. Man darf und muss zweifelnd fragen: Woher weißt Du
das, warum bist du dir so sicher? Wie kannst du das beweisen? Mit welcher
Methode?

Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst
dich aus; du kommst von einer anderen zur selben Stelle, und kennst dich nicht
mehr aus.4

Ist ein Baum aus einer anderen Perspektive noch ein Baum – derselbe Baum?
Für Kleinkinder ist es nicht derselbe Baum, wie Jean Piaget herausgefunden
hat. Und wenn man eine fremde Stadt erkundet, wird man früher oder spä-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

ter die überraschende Erfahrung machen: Diesen Platz kenne ich doch – nur
war ich noch nie von dieser Seite dort. Ist es derselbe Platz? Sie schließen das,
weil Sie einen Stadtplan dabeihaben (oder einen elektronischen Navigator),
auf dem der Platz einen Namen hat – und dieser Name gilt immer, egal von
welcher Seite aus Sie den Platz betrachten.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Ich möchte nun meine Definition vom Anfang wieder aufgreifen und sie
im Licht der Überlegungen von Wittgenstein modifizieren; und auch im Licht
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

der Ergebnisse der Wissens- und Wissenschaftssoziologie – denn die Witt-


genstein’sche Idee des Sprachspiels passt gut zu der wissenssoziologischen
Erkenntnis, dass die Wahrheit von Aussagen nicht ganz unabhängig vom so-
zialen Kontext ist.
Nochmals die Definition: „Wissen“ = Mit dem Gefühl von Gewissheit und
dem Anspruch auf Wahrheit ausgestattete Menge von Beschreibungen von
Weltzuständen durch Subjekte. Durch Kommunikation wird Wissen ob-
jektiviert und gelangt in den im Prinzip allgemein zugänglichen kulturellen
Wissensbestand.
Wie bei jeder Definition bleiben auch hier viele Fragen offen. Eine davon
ist die Frage, woher dieses Gefühl von Gewissheit und der damit verbundene
Anspruch auf Wahrheit einer Aussage eigentlich kommen. Darauf komme ich
gleich zurück.
Ein zweites Problem dieser Definition besteht darin, dass sie so tut, als seien
Subjekte, wenn sie Aussagen über die Welt machen, Beobachter, die außerhalb
dieser Welt stehen und von außen beobachten. Wenn wir aber mit Wittgen-
stein von einem Sprachspiel ausgehen, dann stehen wir, wenn wir Aussagen
über die Welt machen, mitten in dieser Welt. Und das wirft weitere Fragen auf,
zum Beispiel die nach dem „blinden Fleck“, den jede/-r BeobachterIn hat.

4 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 203.


Wissen und Gewissheit 77

Wie können wir also Gewissheit über unser Wissen erlangen? Wie können
wir sicher sein, dass wir uns nicht täuschen, dass wir keiner Sinnestäuschung
erliegen, keinem Übersetzungsfehler, keinem Vermittlungs- oder Übertra-
gungsfehler (bei medial vermitteltem Wissen). Das Meiste, was wir heute zu
wissen glauben, wissen wir aus den Medien. Und da kann es leicht zu Über-
tragungsfehlern vielfacher Art kommen, natürlich können auch beabsichtigte
Manipulationen im Spiel sein, Bilder können gefälscht sein. Deshalb entste-
hen dort, wo Zweifel aufkommt, häufig auch alternative Theorien, die von
denen, die nicht zweifeln, gern „Verschwörungstheorien“ genannt werden.
Das war so bei der Mondlandung der Amerikaner, das war auch so bei den
Terroranschlägen vom 11. September 2001. In beiden Fällen wird von den sog.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

„Verschwörungstheoretikern“ angenommen, dass die Bilder, die wir von diesen


Ereignissen über die Medien vermittelt bekamen, gefälscht seien.
Wie also können wir Gewissheit erlangen? Das hängt, wie gesagt, vom
Sprachspiel ab. Nehmen wir die Aussage „Der Mensch ist ein freies Wesen“.
Die Gewissheit dieser Aussage könnte sich auf den Glauben an „letzte Werte“
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

beziehen, auf den Wert „freier Wille“ als eine Art ultima ratio der menschli-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

chen Existenz. Oder wir könnten uns dabei auf eine Art göttliche Offenbarung
berufen.
„Ich sehe, dass Sie hier sitzen“ – Man könnte sagen, die Gewissheit dieser
Aussage kommt durch subjektive, unmittelbare Evidenz zustande. Aber das
wirft das Problem auf, dass immer nur jeder für sich gewiss sein könnte. Wenn
der andere fragt: Woher weißt du, dass das so ist? Ob es nicht eine Sinnestäu-
schung ist oder nur ein Traum? Wenn der andere sagt: „Ich sehe das nicht“,
können Sie nichts machen. Sie können vielleicht denken: „Der ist verrückt“
oder „der will mich veräppeln“ – aber Sie können seine subjektive Behauptung
nicht wirklich widerlegen.
Manche Denker sprechen an dieser Stelle daher lieber von „lebensweltli-
chen Selbstverständlichkeiten“, weil es dabei klar ist, dass man sich bei Aus-
sagen über die Welt auf selbstverständlich geteiltes Wissen bezieht, auf un-
hinterfragte Gewissheiten, die in der Lebenspraxis Geltung haben, wie zum
Beispiel bei der Aussage „Frauen sind gefühlsbetonter als Männer“.
Ein weiteres Problem der Definition von Wissen, mit der ich begonnen habe,
besteht darin, dass dort der Mensch – das Subjekt – im Grunde nur als eine Art
Geist-Wesen betrachtet wird, als Kopf- oder Gehirn-Wesen. Was aber ist mit
dem Körper? Mit Gewissheiten, die sich aus der körperlichen Erfahrung erge-
ben, aus dem leiblichen In-der-Welt-Sein? Was ist mit Gefühls-Gewissheiten?
Woher weiß ich zum Beispiel, dass ich mich schäme? Woher kommt die Ge-
wissheit eines Schamgefühls? Eine Antwort könnte sein: „leiblich-affektive
78 Günter Burkart

Betroffenheit“. Die „leiblich-affektive Betroffenheit“ ebenso wie die „göttliche


Offenbarung“ sind nun allerdings Bezugsgrößen, mit denen man im Sprach-
spiel Wissenschaft keinen Wahrheitsanspruch durchsetzen kann. Ich könnte
auch sagen: Damit kann man in der Wissenschaft niemanden überzeugen,
oder schärfer noch: Ich würde in der Wissenschaft wahrscheinlich ausgelacht,
wenn ich zum Beispiel sagen würde: „Die göttliche Offenbarung hat mir gezeigt,
dass die Hochschulreform gescheitert ist“ oder „Ich spüre – im Sinne leiblich-
affektiver Betroffenheit –, dass die Finanzkrise durch riskante Spekulations-
geschäfte ausgelöst wurde.“
Doch in der Alltagswelt kann es vorkommen, dass die leiblich-affektive Be-
troffenheit als wichtigste Quelle der Gewissheit des Wissens angesehen wird.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Pierre Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von connaissance par corps,


oder auch von praktischem Wissen, das in der körperlichen Existenz gründet.
Damit ist nicht die biologische Existenz gemeint. Es geht vielmehr um sozia-
le Praktiken, deren Bedeutung auch mit der Körperlichkeit zusammenhängt,
zum Beispiel damit, dass wir die Augen vorne und oben haben und normaler-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

weise kleiner als zwei Meter sind. Deshalb sitzt der König meist höher als die
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

stehenden Untertanen.
Im Sprachspiel der Wissenschaft müssen jedoch andere Kriterien der Wahr-
heitsfindung und der Wahrheitsbestätigung zum Zuge kommen. Es gibt in der
Wissenschaft privilegierte Erkenntniswege, zum Beispiel der Bezug auf eine
anerkannte Theorie oder die Benutzung logischer und rationaler Argumen-
tationsfiguren. Oder – und das war der eigentliche Erfolgsweg der modernen
Wissenschaften – der Bezug auf empirische Forschung, auf Empirie. Also be-
stimmte Methoden der Daten-Gewinnung, der Ver-Messung der Welt.
Das ist meine Botschaft als Wissenschaftler bzw. das muss meine Botschaft
sein, wenn ich als Wissenschaftler anerkannt werden möchte: Nur durch „Me-
thode“ können wir unsere Sicherheit erhöhen, dass wir uns auf Behauptungen
über Sachverhalte in der Welt, verlassen können. Das gilt für die Anwendung
von Methoden bei der Generierung von Wissen, aber mehr noch gehört dazu,
dass man bei der Vermittlung von Wissen auf die Methoden hinweist, mit
denen dieses Wissen geschaffen wurde. Denn damit weist man auch auf die
Grenzen dieses Wissens hin: Jede Methode hat ihre Stärken, aber auch ihre
Schwächen. Wie Karl Popper formuliert hat: Mit Hilfe eines Scheinwerfers
kann man das Dunkel durchdringen – allerdings nur auf einem sehr kleinen
Streifen.
Ebenso ist es mit Methoden. Verschiedene Methoden sind wie unter-
schiedliche Scheinwerfer. Sie beleuchten jeweils verschiedene Ausschnitte
aus der Welt. In der empirischen Sozialforschung gibt es zum Beispiel den
Unterschied zwischen quantitativen und qualitativen Methoden: Die einen
Wissen und Gewissheit 79

reduzieren die soziale Welt auf eine Ansammlung von Zahlen, von Zahlen-Wer-
ten, mit denen man Berechnungen durchführen kann. Man weiß dann zum
Beispiel relativ genau, wie hoch die Scheidungsrate in einer Population ist. Die
anderen – die Qualitativen – kümmern sich nicht um Zahlen und quantitative
Verteilungen, können deshalb auch nichts über die Stärke eines korrelati-
ven Zusammenhangs sagen (also z.B. wie die Scheidungsrate vom Bildungs-
niveau einer Bevölkerung abhängt). Dafür können sie aber relativ detailliert
biographische Konstellationen – Sinnzusammenhänge – benennen, die typi-
scherweise in eine Scheidung münden, etwa eine komplexe und langwierige
Ehekrise.
Aber Sie wissen schon: In der Wissenschaft genießt der Zweifel höchste
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Priorität. Deshalb darf auch der Hinweis auf „Gewissheit durch Methode“ mit
einem Fragezeichen versehen werden. Ein solches Fragezeichen lässt sich zum
Beispiel unter Hinweis auf George Devereux setzen, der in seiner Schrift Angst
und Methode in den Verhaltenswissenschaften auf folgendes Problem hinge-
wiesen hat: Methoden haben – neben ihrer rationalen – vielleicht auch eine
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

psychologische Funktion. Sie helfen Wissenschaftlern, besonders Sozialwis-


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

senschaftlern und Psychologen, ihre eigene Betroffenheit, ihr Verstricktsein


mit dem Gegenstand, durch Distanzierung zu entschärfen, zu entproblemati-
sieren. Wenn ich mich, wie ich es häufig getan habe, zu Paarbeziehungen und
Familie äußere, zu Sexualität und Liebe, dann ist dies ein Gegenstandsbereich,
zu dem ich im Alltag normalerweise nur wenig Distanz habe. Wenn ich ver-
meiden will, „Betroffenheitsliteratur“ zu produzieren oder wenn ich Angst
habe, zu viel von meiner Begehrensstruktur zu offenbaren, dann kann ich dies
durch Zuflucht in Methode erreichen.
Letztlich ist auch die methodische Rationalität, wie jede Vernunft, etwas,
woran man glauben muss. Das Vertrauen, die Sicherheit, dass meine metho-
disch reflektierten und kontrollierten Aussagen richtig sind, liegt nicht in der
Methode oder der Wissenschaft selber, sondern in der menschlichen Praxis,
mit der das Sprachspiel Wissenschaft/Methode zustande kommt. So gesehen,
scheint aber eines sicher: An irgend etwas muss der Mensch glauben, eine ab-
solute Gewissheit gibt es nicht.

Literatur

Bourdieu, Pierre, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 2004.
Devereux, George, Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, München:
Hanser, 1973.
80 Günter Burkart

Mannheim, Karl, Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. v. Kurt H. Wolff,
Neuwied/Berlin: Luchterhand, 1964.
Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
2003 [1953].
Wittgenstein, Ludwig, Über Gewißheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Politik der Philosophie (II)


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Thomas Saretzki

Lügen – eine Kunst?

„Politiker dürfen nicht lügen.“ Diese traditionelle philosophische Auffassung


zur Frage nach dem Lügen in der Politik hat die Philosophin Ágnes Heller noch
einmal in der Wochenzeitung DIE ZEIT bekräftigt. Zur Erläuterung des Phä-
nomens der Lüge und zur Begründung dieser einfachen normativen Aussage
heißt es dort: „Was eine Lüge ist, kann man leicht sagen: Falls ein Politiker et-
was sagt, wovon er weiß, dass es den Tatsachen nicht entspricht, dann lügt er.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Er lügt auch, wenn er den Wählern etwas verspricht, wovon er in der Minute
des Versprechens bereits weiß, dass er es nicht halten wird oder nicht halten
kann. Zu lügen widerspricht der politischen Anständigkeit. Lügen in der Poli-
tik verhindern die freie Wahl der Staatsbürger; es ist eine Art Verführung und
eine Form sublimer Gewalt.“1
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Agnes Heller bringt hier mit der Verweis auf die „Anständigkeit“ nicht nur
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

eine klassische, sondern erklärtermaßen auch eine typisch moderne Begrün-


dung für ihre kategorische Ablehnung der Lüge in der Politik ins Spiel, die in
verschiedenen Formen und Variationen immer wieder vorgebracht worden ist:
Lügen stellen danach in der demokratischen Politik eine Missachtung der Frei-
heits- und Selbstbestimmungsrechte der Bürgerinnen und Bürger dar, indem
sie deren Möglichkeiten einschränken, sich selbst ein unverstelltes Urteil zu
bilden und auf dieser Grundlage eigene Entscheidungen zu treffen und ent-
sprechend zu handeln.
Dieser ebenso eindeutigen wie grundlegenden Ablehnung des Lügens als
unanständig und undemokratisch mögen sich indessen nicht alle Vertreterin-
nen der Philosophie anschließen. So erinnert die Düsseldorfer Philosophin
Simone Dietz in ihrem Buch über Die Kunst des Lügens zwar zunächst daran,
dass das strikte Lügenverbot seit dem Kirchenvater Aurelius Augustinus (354–
430) über Thomas von Aquin bis hin zum Aufklärer Immanuel Kant vertreten
worden sei, weil es einen unzulässigen Missbrauch der Sprache darstelle und
damit die Verständigung gefährde und das Vertrauen unter den Menschen zer-
störe. Diese Begründungen sind ihrer Ansicht nach aber nicht überzeugend,
das daraus abgeleitete Lügenverbot daher in Frage zu stellen. Neben diesen
klassischen „Lügengegnern“ macht Dietz in der Philosophiegeschichte mit dem
Bischof von Konstantinopel, Johannes Chrysostomus (344–407), auch einen
Zeitgenossen des Kirchenvaters Augustin aus, der „im frühen Christentum die

1 Ágnes Heller, DIE ZEIT, 2013, S. 31.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_015


84 Thomas Saretzki

erstaunlich liberale Auffassung [vertrat], das Lügen sei eine besondere Kunst,
über deren moralischen Wert erst die jeweilige Absicht des Lügners entschei-
det“. Chrysostomus, so Dietz, „drehte die Beweislast einfach um: Nicht der
Lügner müsse sich rechtfertigen, weil er sich eines listigen Kunstgriffs bedient
habe, sondern derjenige, der ihm deswegen Vorwürfe machen wolle, müsse
nachweisen, dass die Lüge einem schlechten Zweck gedient habe“.
Folgt man der Auffassung von Chrysostomus – und das tut Dietz in ihrem
Buch vom Ansatz her – dann sei „das Lügen eine moralisch neutrale Fähigkeit,
ähnlich beispielsweise wie das Laufen oder Werfen. Auch hier“, so Dietz, „fra-
gen wir ja nicht nach dem moralischen Wert der Handlung an sich, sondern
nach den damit verknüpften Absichten: Ist jemand weggelaufen, um Hilfe zu
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

holen, oder wollte er die anderen im Stich lassen?…. Aus dieser Perspektive ist
das Lügen eine ebenso allgemeine und unbestimmte Handlung wie das Weg-
laufen oder Werfen, auch wenn es andere und vielleicht spezialisierte Fähig-
keiten erfordert: Es ist eine Kunst in einem weiten Sinne des Wortes ‚Kunst‘,
das sich ja tatsächlich von ‚Können‘ ableitet. Lügen ist ein bestimmtes Kön-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

nen, eine praktische Fähigkeit im Umgang mit der Sprache, eine Technik, die
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

auf Kenntnissen und Übung beruht und zu verschiedenen Zwecken eingesetzt


werden kann“.
Diese These von der „Kunst des Lügens“ ist für Dietz eine „Neutralitätsthese“,
die sie selbst als „liberal“ charakterisiert. Zu den Vertretern einer „liberalen“
Auffassung gehöre „der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein (1899–1951). Für
ihn sind die Regeln des sprachlichen Handelns Spielregeln und keine morali-
schen Regeln, unsere Alltagspraxis besteht aus verschiedenen ‚Sprachspielen‘,
zu denen auch das Lügen zählt: ‚Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein
will, wie jedes andere auch.‘ Das Lügen folgt nach Wittgensteins Auffassung
bestimmten Regeln wie jedes andere ‚Sprachspiel‘ bzw. sprachliche Handeln
auch“.
Im Unterschied zu Heller führt die Argumentation von Dietz im Bereich der
Politik (aber nicht nur dort) erkennbar zu einer „Entmoralisierung“ des Lügens:
Lügner können danach ruhiger schlafen: Sie tun an sich nichts Unrechtes. Im
Gegenteil: Legt man diese „liberale“ Auffassung vom Lügen zugrunde, dann
scheint es eher so zu sein, dass sie eine Kunst beherrschen, über die andere
nicht verfügen: Sie haben bestimmte sprachliche Fähigkeiten entwickelt, und
nun geht es vorrangig darum, ob sie diese Fähigkeiten mehr oder weniger vir-
tuos, mehr oder weniger erfolgreich anwenden oder nicht.

Die Kunst des begabten Lügners besteht nicht nur in seiner Kreativität beim
Erfinden anderer ‚Realitäten‘, nicht nur in seiner Spontaneität, mit der er
auf unvorhergesehene Situationen reagiert, sondern auch in der Virtuosität
Lügen – eine Kunst ? 85

beim Jonglieren mit den verschiedenen ‚Realitäten‘, zwischen denen er


blitzschnell wechseln kann, ohne sie zu verwechseln. Wer nicht genügend in-
nere Standfestigkeit hat, wer den hohen intellektuellen Anforderungen im
Umgang mit der doppelten Wahrheit, also dem vorgeblich und dem tatsächlich
Fürwahrgehaltenen, nicht gewachsen ist, steht in der Gefahr, der eigenen Lüge
auf den Leim zu gehen.2

Dietz verweist bei der Diskussion von Fallbeispielen u. a. darauf, dass nach
einer Beschreibung, die sich an der klassischen moralischen Auffassung des
Lügens orientieren würde, vor allem der Verstoß gegen die Wahrhaftigkeits-
norm hervorgehoben werden würde. Das wäre zwar nicht falsch, eine solche
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Beschreibung „gäbe aber nur eine sehr verkürzte Darstellung der Handlung,
mit einem geringen Erklärungswert. Wir erfahren so eher, was das Lügen nicht
ist, nämlich dass es keine wahrhaftige Behauptung ist, aber wir erfahren nicht,
was es tatsächlich ist – wir erfahren nicht, was getan wurde“.3
Der Hinweis auf den „Erklärungswert“ der Handlungsdarstellung und das,
was die LeserInnen bei dieser Art der Darstellung erfahren oder eben nicht er-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

fahren, lässt sich lesen als Aufforderung zu einer differenzierteren handlungs-


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

theoretischen Grundlegung für empirische Analysen von Situationen, in denen


die „Kunst des Lügens“ in der Praxis zu beobachten ist. Statt der überlieferten
moralischen Verurteilung des Lügens geht es danach nun um die gehaltvolle
empirische Analyse unwahrhaftiger Praktiken. „Es gibt nicht nur eine Kunst-
fertigkeit der Lüge, sondern auch eine Kunstfertigkeit ihrer Entdeckung.“4
Wenn man diese Kritik an der unzulänglichen Beschreibung von Praktiken
des Lügens aufgreift oder gar nach einer Erklärung dieser Praxis suchen will,
dann wäre allerdings zu fragen: Ist die von Dietz vorgeschlagene handlungs-
theoretische Begrifflichkeit in analytischer Hinsicht komplex genug? Sind
alle relevanten Dimensionen, wenn nicht bereits auf analytisch angemesse-
ne Art und Weise erfasst, so doch zumindest begrifflich und konzeptionell in
den Blick gerückt? In dieser Hinsicht sind Zweifel angebracht. Und das liegt
nicht zuletzt daran, dass auch Dietz selbst am Ende vornehmlich mit der Frage
nach dem „moralischen Wert“ des Lügens und weniger mit der Formulierung
einer Sprache zur differenzierten Beschreibung von Produktion und Rezep-
tion der „Kunst des Lügens“ beschäftigt ist. Dietz folgt der von Chrysostomus
vorgeschlagenen Beweislastumkehr und weist in ihrem „liberalen“ Modell des
Lügens – durchaus nicht ohne eigenen moralischen Unterton – den Belogenen

2 Simone Dietz, Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer Wert,
Reinbek: Rowohlt, 2003, S. 140f.
3 Ebd., S. 39.
4 Ebd., S. 47.
86 Thomas Saretzki

selbst die Verantwortung zu, wenn sie nicht hinreichend klug agieren, son-
dern so dumm sind, sich belügen zu lassen: Letztlich müsse jeder eben selbst
entscheiden, wem er glauben wolle und wem nicht.5 Hier steht die „liberale“
Verantwortungszuschreibung im Vordergrund, nicht die kontextsensible Be-
schreibung und Analyse der Praktiken, in denen sich die Kunst des Lügens
äußert. Die Möglichkeiten zu der „Glaubwürdigkeitsprüfung“, die Dietz unter
dem Stichwort der „Verantwortung der Belogenen“6 ins Spiel bringt, sind
indessen – wie vieles in modernen Gesellschaften – nicht gleich verteilt.
LügnerInnen und Belogene stehen in der Regel nicht in einer symmetrischen
Beziehung zueinander – und das nicht nur, weil erst einmal nur der/die
LügnerIn weiß dass er nicht wahrhaftig ist. So kann es auf beiden Seiten – bei
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

LügnerInnen und Belogenen – Zwänge geben, sich der Wahrhaftigkeitspflicht


zu entziehen oder der Täuschung hinzugeben. Was bei Dietz in empirischer
Hinsicht fehlt oder doch unzureichend berücksichtigt ist, das sind die Unter-
schiede in den Gelegenheitsstrukturen, in der Verfügung über materielle Res-
sourcen und den dadurch begründeten Machtdifferenzen – und damit auch
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

der unterschiedlichen Verteilung der Möglichkeiten, Lügen aufzudecken und


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

als Täuschung zu „entlarven“. In normativer Hinsicht wäre zu fragen, wie die


angesprochene einfache, also selbst nicht weiter begründete „Beweislastum-
kehr“ eigentlich grundsätzlich gerechtfertigt wird. Zumindest fehlt in diesem
„liberalen“ Verständnis des Lügens ein Bezug auf die (moralischen) Rechte der
Belogenen, die für unser Verständnis von Lüge keineswegs bedeutungslos sind.
Eine Lüge ist danach nicht einfach nur eine Falschaussage, die in der Absicht
gemacht wird, andere zu täuschen. Wir benutzen diesen Begriff vorzugsweise,
wenn es um Angelegenheiten geht, in der ein anderer ein Recht darauf hat, auf
eine Frage eine ehrliche Antwort zu erhalten.
Ist Lügen eine Kunst? Wenn man der von Dietz vorgeschlagenen Perspekti-
ve auf die „Kunst des Lügens“ folgt, dann können zumindest diejenigen etwas
lernen, die von sich behaupten, „ich kann das gar nicht – ich kann nicht lügen –
und ich stehe immer wieder fassungslos davor, wenn ich angelogen werde“.
Mit ihrem Verständnis, um nicht zu sagen, mit ihrer Umdefinition des Begriffes
Lügen als sprachliche Fähigkeit entfernt sich Dietz allerdings sehr weit von
dem etablierten Alltagsverständnis der Lüge, das nun einmal normativ kon-
notiert ist. Begrifflich wirft die angestrebte Bedeutungsverschiebung im Sinne
einer Entmoralisierung (und Technisierung) die Frage auf, ob es sich hier nicht
um eine Art Kategorienfehler, zumindest aber um ein grundlegendes Überset-
zungsproblem handelt. Würden wir den Begriff „Lügen“ tatsächlich nur oder

5 Vgl. ebd., S. 132.


6 Ebd.
Lügen – eine Kunst ? 87

doch in erster Line in dem vorgeschlagenen Sinne als eine „Kunst“ verstehen,
dann würden wir nicht so heftig und zuerst über die Frage des „Dürfens“ dis-
kutieren. Dann ginge es uns in der Tat vorrangig um ein Können, nicht um
Wollen oder Sollen. Das scheint aber (noch) nicht überall der Fall zu sein –
weder in der Politik, noch bei den PhilosophInnen, die sich mit diesem Phäno-
men beschäftigen.

Literatur
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Dietz, Simone, Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer
Wert, Reinbek: Rowohlt, 2003.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Christina Schües

Orte der Nicht-Orte

1. Wohnorte

Wohnorte bezeichnen ganz alltäglich das Wohnen an einem Ort, an dem der
Wohnende bzw. der Bewohner zugehörig ist, sich aufhält, seine Adresse hat
und – bürokratisch gedacht – gemeldet ist. „Der Wohnort ist ein ortsgebun-
dener Raum.“1 In seinem Aufsatz „Bauen, Wohnen, Denken“2 gibt Martin Hei-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

degger mit Verweis auf das Mittelhochdeutsche buan dem Wort Wohnen die
Bedeutung des Bauens. Wer etwas baut, errichtet etwas und räumt einen Ort
ein, verbindet Orte miteinander, etwa wie eine Brücke, und lässt sie als ein-
zelne hervortreten. Das Bauen bringt Orte hervor, die im Raum eingeräumt
werden, in dem Menschen wohnen. Somit beruht der Bezug der Menschen zu
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Orten im Wohnen. Das Wohnen – bei Heidegger als wesentlicher Grundzug


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

der Menschen gedacht – prägt somit das Bauen und wie die Räume einge-
räumt und gestaltet werden. Wohnorte begleiten den Lebensweg der Men-
schen. Der Ethnologe Marc Augé nennt sie „anthropologische Orte“, denn sie
bieten das „Sinnprinzip für jene, die dort leben, und das Erkenntnisprinzip
für jene, die ihn beobachten“.3 An diesen Orten wird gewohnt, und deshalb
wurden sie gebaut und eingeräumt, an ihnen wird geboren und gestorben, Ge-
meinschaft gepflegt oder auch erlitten. Auch die Idee der Nachbarschaft wird
aus dem Wohnen heraus verstanden. Anthropologische Orte sind „identisch,
relational und historisch“,4 weil sie prägend für die Identität sind, weil sie zwi-
schenmenschliche Beziehungen bedeuten und weil sie sozialem und histori-
schem Wandel unterliegen. Wie gewohnt wird, so gestaltet sich der Ort des
Wohnens. Entsprechend unterscheiden sich Wohnorte sehr voneinander, sie
unterscheiden sich aber auch von Orten, an denen nicht gewohnt wird oder
nicht gewohnt werden soll.

1 Christina Schües, „Nachbarschaft – Eine fragile Beziehung“, in: Gesichter der Gewalt. Beiträge
aus phänomenologischer Sicht, hg. v. Michael Staudigl, Paderborn: Fink, 2014, S. 333–351,
S. 333–351, hier S. 342.
2 Martin Heidegger, „Bauen, Wohnen, Denken“, in: Vorträge und Aufsätze, hg. v. Ders., Pfullin-
gen: Neske, 1985 [1954], S. 139–156.
3 Marc Augé, Nicht-Orte, München: Beck, 2010, S. 59.
4 Ebd.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_016


90 Christina Schües

2. Orte und Nicht-Orte

Autoren des Ortes, wie Marc Augé oder Michel Foucault, haben öffentliche
Räume wie Flughäfen, Gefängnisse, Bahnhöfe oder Friedhöfe und eben auch
Flüchtlingslager als „Nicht-Orte“ bzw. als „andere Orte“ (oder auch „Gegenorte“)
bezeichnet. Diese Nicht-Orte oder anderen Orte sind sehr verschieden, sie
haben immer eine bestimmte Funktion und Bedeutung für die Gesellschaft.
Sie gehören, wie besonders Foucault in seinem Aufsatz „Heterotopie“ betont,
zum institutionellen Regime der Gesellschaft, die als Räume real vorliegen,
aber nicht explizit zum Wohnen vorgesehen sind.5 Wenngleich diese Orte, die
wir nicht be-wohnen, wie etwa Theater, Schulen, Gefängnisse, Bahnhöfe, nicht
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

neutral sind, so haben sie doch die Funktion „Neutralität“ auszudrücken. Sie
neutralisieren das Private. Die reisenden Menschen, die sich in Bahnhöfen
oder Flughäfen bewegen, unterliegen als Passagiere den Beförderungsrichtli-
nien und den Regeln dieser transitorischen Räume; die kranken Menschen, die
im Krankenhaus kuriert werden sollen, unterliegen als Patienten der medizini-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

schen Routine; die straffälligen Menschen, die ins Gefängnis gesperrt werden,
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

unterliegen als Insassen der Gefängnisaufsicht. Die Idee ist, und hier sind die
Analysen von Augé und Foucault sehr ähnlich, dass der jeweilige „Nicht-Ort“
seine ihm eigene Funktion und Bedeutung hat, die konstitutiv für das Indivi-
duum und für die Gesellschaft ist. Die Überlegung, dass Nicht-Orte Funktionen
und Bedeutungen haben, ist allerdings, wie Foucault zeigt, oft dem Imaginären
überlassen, wie am Theater gut gezeigt werden kann.
Foucault formuliert fünf Grundsätze, die die Heterotopien, die Nicht-Orte
als real (und nicht als Utopie) umreißen:
1. Heterotopien (Anstalten) sind sehr unterschiedlich und wandeln sich im
Laufe der Geschichte einer Gesellschaft.
2. Sie können auch wieder aufgelöst und zum Verschwinden gebracht
werden.
3. Heterotopien bringen häufig an einem Ort mehrere Räume zusammen.
Foucaults Beispiele sind das Theater, mit seiner Bühne, und der traditio-
nelle Garten.
4. Heterotopien sind oft in gewissem Sinne „Heterochronien“ (16), weil sie
zeitlich konnotiert und Orte der besonderen Zeit sind, wie etwa Museen,
Archive und Bibliotheken, auch Kindergärten, Schulen oder Altersheime;
oder Gefängnisse,

5 Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, zweisprachige
Ausgabe, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005 [1966], S. 7–22.
Orte der Nicht-Orte 91

5. Als fünften Grundsatz nennt Foucault die Tatsache, dass Heterotopien


immer einem „System von Öffnung und Abschließung“ unterliegen, das
sie von der Umgebung abschottet. Weil Nicht-Orte immer Regeln der In-
und Exklusion, der Nutzung und des Verhaltens unterliegen, sind sie auch
oft Orte des Verhaltenskodexes, der Kontrolle, potentiellen Bespitzelung
oder Polizei.6
Alle diese fünf Grundsätze lassen sich spontan auf Geflüchtetenlager anwen-
den: Geflüchtetenlager sind für Menschen, die nicht zur Gesellschaft gehören
und von ihr abweichen, damit sind sie Nicht-Ort der Abweichung; Geflüchte-
tenlager werden temporär aufgebaut, ihr Übergangszustand ist in jedem Zelt
sichtbar und bewusst manifestiert. Ein Geflüchtetenlager soll eine Notunter-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

kunft und eine Ausnahme sein, die nicht von Dauer ist, aber momentan die
nackte Existenz sichert: Hygiene, Ernährung, Schlafmöglichkeit. Ein- und Aus-
gänge sind kontrolliert, Unbefugte dürfen nicht rein. Die Grenze zwischen den
Zeltlagern und den sie umgebenen Wohnorten ist deutlich, mindestens mit
einem Zaun markiert.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

3. Nachbarn und Nicht-Nachbarn

Das Zeltlager in der Nachbarschaft kann aufgenommen werden wie ein Bahn-
hof oder ein anderer Nicht-Ort. Diese Form der Nachbarschaft ist lange ein-
geübt: Einige Nicht-Orte finden viel Akzeptanz, andere traditionell wenig, wie
etwa Gefängnisse, Schlachthöfe, Atomkraftwerke. Auch Geflüchtetenlager
finden nicht immer Akzeptanz. Wenn aber eine grundsätzliche Akzeptanz
der angrenzenden Anwohner gegeben ist, dann lassen sich zwei Formen der
„Nachbarschaft“ als Akzeptanz unterscheiden.
Die eine Form der Akzeptanz ähnelt eher der Toleranz. Man findet die
„Sache“ zwar nicht gut, aber arrangiert sich mit den (teilweise imaginären)
Folgen, wie dem Anblick von Not, mehr Schmutz, anderen Menschen. Das
Geflüchtetenlager wird wie ein einheitlicher, quasi physikalischer Raum, etwa
wie eine technische Anlage, gesehen, dessen Existenz ohne die Betrachtung
der einzelnen Menschen man zu ertragen gewillt ist.
Die zweite Form der Akzeptanz sieht auch die Menschen, die in einem Ge-
flüchtetenlager leben. Tatsächlich: Menschen leben dort. Kinder, Frauen und
Männer. Als einzelne Menschen, die an diesen Ort gebracht werden, räumen
sie einen Raum ein, der zu einem Beziehungsraum werden kann.

6 Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, a.a.O., S. 11ff.
92 Christina Schües

Wird ein Lager mit seinem Zaun der Abschottung als physikalisch-homogener
Raum gesehen, in dem Menschen leben, die aber nicht als Einzelne in Erschei-
nung treten, dann bleiben diese Menschen Nicht-Nachbarn der Nachbarschaft.
Wenn sich aber Beziehungen zu einzelnen Kindern, Frauen und Männern,
Familien und Gruppen entwickeln, dann können Beziehungen der Nachbar-
schaft entstehen, die den Nicht-Ort (die Heterotopie) zu einem Ort werden
lassen.
Als Nachbar oder Nachbarin gesehen zu werden, heißt, beachtet und zum
Beispiel gegrüßt zu werden.7 Wie die nachbarschaftliche Beziehung gestaltet
werden kann, das hängt von den einzelnen Menschen ab, aber auch von der
jeweiligen Infrastruktur vor Ort und den jeweiligen Lebensumständen.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Orte können angelegt und unterschiedlich gestaltet werden. Räume bilden


sich erst durch die Nutzung der Orte. Aber die Absicht für die Entstehung eines
Raumes wird verwirklicht, indem erst bestimmte Orte angelegt werden. Somit
stehen Raum und Ort in Wechselbeziehung. Ob die Orte zu Beziehungsräu-
men werden, in denen Menschen mit ihren Zugehörigkeiten und Beziehungen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gesehen und gehört werden, hängt davon ab, ob ein Ort aus einem Wohnen
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

verstanden wird und so als „anthropologischer Ort“ angesehen und gelebt wer-
den kann. Wo gewohnt wird, können auch Nachbarschaftsbeziehungen ent-
stehen und gepflegt werden, in denen die Nachbarn als Nachbarn mit ihren
Geschichten leben und etwas miteinander erleben können. Vielleicht kann
dann aus einer Flucht auch ein Ankommen werden.8

Literatur

Augé, Marc, Nicht-Orte, München: Beck, 2010.


Foucault, Michel, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, zweispra-
chige Ausgabe, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005 [1966].
Heidegger, Martin, „Bauen, Wohnen, Denken“, in: Vorträge und Aufsätze, hg. v. Ders.,
Pfullingen: Neske, 1985 [1954], S. 139–156.

7 Die Nachbarschaftsbeziehungen innerhalb eines Zeltlagers ist noch einmal ein anderes
Thema, das weitere Fragen aufwirft.
8 Eine ausführlichere Fassung ist erschienen unter Christina Schües, „Was heißt eigentlich
Nachbarschaft? Flüchtlingslager – Orte und Nicht-Orte, Nachbarn und Nicht-Nachbarn“, in:
Nachbarschaft. Nähe und Distanz, Mit- und Gegeneinander. Nachbarschaft ist (mehr denn je)
eine Herausforderung. Wer ist überhaupt mein Nachbar? Und wie kann Nachbarschaft heute
noch gelingen?, fiph-journal, Heft 26, Oktober 2015, S. 4–10, online unter: https://fiph.de/
veroeffentlichungen/journale/cover-downloads/fiph-Journal-Herbst-2015.pdf.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

2014, S. 333–351.
Orte der Nicht-Orte

Schües, Christina, „Nachbarschaft – Eine fragile Beziehung“, in: Gesichter der Gewalt.
93

Beiträge aus phänomenologischer Sicht, hg. v. Michael Staudigl, Paderborn: Fink,


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Birgit Stammberger

Foucault und die nukleare Dimension der


Biopolitik

Der philosophische Diskurs über Atomwaffen nimmt seinen Ausgang in den


verheerenden Folgen ihres Einsatzes in Hiroshima und Nagasaki. Angesichts
des fortwährenden atomaren Aufrüstens in Ost und West und der permanen-
ten Bedrohung durch Atomwaffen offenbart sich seit den 1960er-Jahren immer
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

deutlicher das Paradox einer drohenden Apokalypse des Untergangs aller und
der Unmöglichkeit dieses Ende zu denken.1 Im Atomzeitalter, schreibt Karl
Jaspers 1961, könne sich der Mensch „die Katastrophe nicht ohne Folgen des
Untergangs aller“2 erlauben. Und Günter Anders gibt nur kurze Zeit später
dieser schrecklichen Befürchtung Ausdruck, wenn er festhält, dass die Schwie-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

rigkeiten im Atomzeitalter „zu denjenigen gehören, die von uns nicht werden
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

bewältigt werden können“.3 Wer sich mit der Philosophie des Atomzeitalters
beschäftigt, trifft auf Namen bedeutender DenkerInnen des 20. Jahrhunderts,
wie Hannah Arend, Karl Jasper, Hans Blumenberg oder Jean-Paul Sartre. Dass
auch Michel Foucault ein Philosoph des Atomzeitalters ist, mag auf den ersten
Blick erstaunen, hat er dem bis heute nicht aus der Welt zu bringenden Tatbe-
stand der Existenz von Atomwaffen nie eine eigenständige Abhandlung gewid-
met. Vielmehr gilt Foucault als Namensgeber eines viel debattierten Konzepts
der Biopolitik, mit dem man sich auf dem Terrain technologischer Optimie-
rungs- und Verbesserungsstrategien des Lebens befindet. Obwohl Biopolitik
und atomare Bedrohung auf den ersten Blick keinen inhärenten Zusammen-
hang vermuten lassen, führt die Spurensuche zu einer nuklearen Dimension
in Foucaults Denken.
Dass Foucault im Konzept der Biopolitik auch die atomare Bedrohung
seiner Zeit mitreflektierte, kann zunächst als ein gesellschafts- und wissen-
schaftshistorischer Tatbestand konstatiert werden. Als Einsatzort neuer Denk-
weisen des Verhältnisses von Macht, Wissen und Leben wurden in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts die philosophischen und historischen Reflexionen

1 Vgl. Bernhard Moltmann, Das Atomzeitalter. Zur Gegenwart einer unaufgeklärten Vergangen-
heit, HSFK-Standpunkte, Heft 4, Frankfurt a. M.: Hessische Stiftung Friedens- und Konflikt-
forschung, 1999, S. 3f.
2 Karl Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München: DTV, 1961, S. 327.
3 Günther Anders, Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, München:
DTV, 1971, S. XIII.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_017


96 Birgit Stammberger

auf Wissenschaft und Politik radikal neu fundiert. Mit der Herstellung und
dem Einsatz von Atomwaffen schienen die Wissenschaften die Grundlage für
eine neue Form der Massenvernichtung zu schaffen. In den zeitgenössischen
Reflexionen auf Wissenschaft und Politik haben vor dem Hintergrund eines
Untergangs aller und neuer kollektiver Angsterfahrungen die fortwährenden
atomaren Bedrohungsszenarien und wissenschaftlich-technologischen Ent-
wicklungen wie eine Initialzündung gewirkt, über die technisch-politische
Verfügbarkeit des Lebens nachzudenken. Diese zunehmende Verfügbarkeit
und Bedrohung des Lebens wurde insbesondere mit der Atombombe virulent,
die paradigmatisch für die Idee des Ausgesetzseins stand. Diese Idee baut je-
doch auf einer Sichtweise auf, die das Leben notwendigerweise in Opposition
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

zu einer ihm äußerlichen Macht denkt. Mit dem Konzept der Biopolitik hat
sich Foucault radikal von dieser Idee abgewandt. Leben ist für Foucault nicht
jenseits von Macht zu denken, sondern wird als Korrelat von Macht- und Wis-
senspraktiken bestimmt. Das Konzept der Biopolitik ermöglicht die Analyse
divergierender Machtformen politischer Rationalität, die in modernen Gesell-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

schaften durch einen spezifischen Bezug auf das Leben gekennzeichnet sind.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Wie aber bezieht sich Politik auf das Leben und wie ist dieses Beziehungs-
gefüge machttheoretisch zu denken? Laut Foucault haben sich erst moderne
Gesellschaften die technischen, wissenschaftlichen und politischen Möglich-
keiten geschaffen, um über das Leben als solches zu verfügen. Das Leben steht
dabei in einem permanenten Verhältnis mit dem Wissen vom Leben, das
zugleich auf eine spezifische Machtförmigkeit verweist. Für Foucault ist die
Moderne durch einen sich in historischen und wissensgeschichtlichen Kons-
tellationen ausformenden Machttypus gekennzeichnet. War in vormodernen
Gesellschaften Macht noch im wesentlichen als eine „Abschöpfungsinstanz“
bestimmt, so sind die gesellschaftlichen Entwicklungen seit dem 18. Jahrhun-
dert von einer tiefgreifenden Transformation der Machtmechanismen geprägt.
War im 18. Jahrhundert Macht an die „juridische Existenz eines Souveräns“ ge-
knüpft gewesen, die sich über das Recht „sterben zu machen und Leben zu
lassen“4 legitimierte, tritt im 19. Jahrhundert an die Stelle der alten Souverä-
nitätsmacht allmählich eine neue, auf das Leben bezogene, die Foucault als
Biopolitik bezeichnet. Sie ist eine Macht, „deren höchste Funktion nicht mehr
das Töten, sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens ist“.5 Damit zielt
sie nicht ausschließlich auf die Disziplinierung des Individuums, sondern rich-
tet sich in einem umfassenderen Sinne an der Regulierung und Kontrolle der

4 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 1977, S. 162f.
5 Ebd., S. 166.
Foucault und die nukleare Dimension der Biopolitik 97

Bevölkerung aus. Biopolitik ist durch den Modus „Leben zu machen und ster-
ben zu lassen“6 charakterisiert. Das Spezifische dieser biopolitischen Regulie-
rungsmacht ist es, dass sie sich auf Bereiche erstreckt, die zuvor außerhalb des
Wirkungsbereiches der Souveränitätsmacht lagen. Das Zeitalter der Biopolitik
markiert dabei eine sich in der Geschichte abzeichnende „biologische Mo-
dernitätsschwelle“: „Es war nichts geringeres als der Eintritt des Lebens in die
Geschichte – der Eintritt der Phänomene, die dem Leben der menschlichen
Gattung eigen sind, in die Ordnung des Wissens und der Macht, in das Feld
der politischen Techniken.“ Die dem Leben innewohnenden Dynamiken und
Zufälligkeiten spielen nun direkt in den Bereich politischer Machtausübung
hinein. Das heißt für Foucault zwar nicht, dass das Leben gänzlich in den es
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

„beherrschenden und verwaltenden Techniken“7 aufgeht. Vielmehr ist Biopoli-


tik durch eine doppelte Dimension ihres spezifischen Funktionsmechanismus
charakterisiert: Das Leben ist sowohl Gegenstandsbereich als auch Funktions-
modell dieser Macht.8 Die Regulierungs- und Kontrollanstrengungen der Bio-
politik entfalten ihre Wirkungen gerade dort, wo sie im Modus des Lebendigen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

praktiziert werden, nämlich regulierend, verbessernd und produzierend.


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Mit dem Konzept der Biopolitik nimmt Foucault den modernen Befund
einer zunehmenden Gewalt des Krieges auf und konstatiert: „Nie waren die
Kriege blutiger als seit dem 19. Jahrhundert und niemals richteten die Regime –
auch bei Wahrung aller Proportionen – vergleichbare Schlachtfeste unter ihren
eigenen Bevölkerungen an […]. Die Massaker sind vital geworden.“9 Wie also
kann eine Lebens- und Regulierungsmacht, die darauf angelegt ist, das „Le-
ben aufzuwerten, seine Dauer zu verlängern“10 zugleich auch eine Todesmacht
sein? An dieser Stelle bezieht sich Foucault dezidiert auf die atomare Bedro-
hung in der Zeit des Kalten Krieges und zeigt, dass auch die Atommacht als
Todesmacht in einem Kontinuum mit einer auf das Leben bezogenen Macht
steht.11 Was nämlich auf den ersten Blick wie die Rückkehr der alten Souverä-
nitätsmacht erscheint, insofern mit der Atombombe einem politischen Souve-
rän die Möglichkeit gegeben ist, „Millionen und Abermillionen von Menschen
zu töten“, ist in Wirklichkeit eine Lebensmacht, die ihre ungeheure Wirkung

6 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–


1976), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999, S. 285.
7 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, a.a.O., S. 169f.
8 Vgl. Maria Muhle, Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und
Canguilhem, Bielefeld: transcript, 2008, S. 11.
9 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, a.a.O., S. 163.
10 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, a.a.O., S. 294.
11 Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, a.a.O., S. 164
sowie Ders., In Verteidigung der Gesellschaft, a.a.O., S. 293f.
98 Birgit Stammberger

nur deshalb entfalten kann, weil sie sich auf das Biologische bezieht. Foucault
verwehrt sich ausdrücklich, die Atommacht als juridische Macht eines sou-
veränen Regimes anzuerkennen. Vielmehr wird Macht mit der Atombombe
„dergestalt eingesetzt, daß sie sich in die Lage versetzt, das Leben selbst zu
vernichten. Und sich folglich als Macht, die das Leben garantiert selbst zu
vernichten“.12 Damit macht Foucault einen entscheidenden Unterschied in
den politisch-militärischen Kalkülen der Atompolitik und in der atomaren Lo-
gik einer potenziellen Machtausübung geltend. Denn was mit der Atombombe
auf dem Spiel steht, ist gerade nicht die „juridische Existenz der Souveränität,
sondern die biologische Existenz der Bevölkerung“.13 Mit der Atommacht zeigt
sich ein „unumgehbares Paradox“, das für Foucault nur biopolitisch zu deu-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

ten ist: Die Atombombe ist nicht nur eine Macht, die tötet, sondern die Leben
auslöscht. Gerade weil die Atombombe eine Macht darstellt, die immer schon
auf das Leben, die „biologische Existenz“14 bezogen ist, muss sie in dieser bio-
politischen Verfasstheit und ihren Wirkungen betrachtet werden. Mit der von
Atomwaffen ausgehenden potenziellen Möglichkeit, das Leben zu vernichten,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

verkehrt sich die Atommacht im Falle der Machtausübung gegen sich selbst:
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Die Auflösung der Atommacht ist die Auslöschung des Lebens. Atommacht
ist somit die Katastrophe des biopolitischen Zeitalters, die sich gerade nicht
als ein gänzlich anderer Machttypus der Regulierungs- und Lebensmacht dar-
stellt. Vielmehr ist sie das Extrem einer biopolitischen Machtausübung, da es
in „ihren politischen Strategien um die Existenz der Gattung selbst geht“.15
Wenn gegenwärtig von Biopolitik die Rede ist, dann wird zumeist ein Feld
biowissenschaftlicher Entwicklungen beschrieben. Biopolitik bleibt damit
auf Kontexte bezogen, die im weitesten Sinne die Bereiche der Genetik, der
Präimplantationsdiagnostik und Stammzellenforschung umfassen.16 Dieser
Biopolitik-Diskurs der Gegenwart tritt dabei selbst in Gestalt eines histori-
schen Diskurses auf, der seine eigene Genese unterschlägt. Motiviert von
gesellschaftlichen Debatten und kollektiven Ängsten wird das Biopolitik-
Konzept um seine nukleare Dimension verkürzt. Wenn sich jedoch Biopoli-
tik als ein immer schon auf eine spezifische Konzeption des Nuklearen aus-
weisen lässt, dann ist diese Dimension keinesfalls in das historische Register
atomarer Bedrohungsszenarien der 1970er-Jahre abzulegen. Es war Foucault,

12 Ebd., S. 293.
13 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, a.a.O., S. 164.
14 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, a.a.O., S. 293.
15 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, a.a.O., S. 170.
16 Vgl. exemplarisch hierfür Thomas Lemke, Gouvernementalität und Biopolitik, Wies-
baden: VS Verlag, 2008 sowie Christian Geyer, Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 2001.
Foucault und die nukleare Dimension der Biopolitik 99

der im Konzept der Biopolitik den eigentümlichen Zusammenhang von nu­


klearer Vernichtung und biotechnologischer Regulierung herausgearbeitet
hat. Zu fragen ist, wie, wann und unter welchen Bedingungen diese Dimen-
sion des Nuklearen im Biopolitischen aufgekündigt wurde. Mit dem Konzept
der Biopolitik begründet sich eine dringliche Aufgabe kulturwissenschaftlich-
wissensgeschichtlicher Forschung: die gesellschaftlichen Normativitäten und
diskursiven Verwicklungen des biopolitischen Denkens nämlich dort zu ver-
orten, wo es seinen Anfang nimmt. Das Leben ist niemals als eines vor jeder
Macht unbeflecktes Niemandsland aufzufassen, das es zu entdecken gilt, dies
hat Foucault eindrücklich gezeigt. Dass Atomwaffen in der Welt sind, ist eine
der dramatischsten Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Doch auch gegenwär-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

tig sind wir noch immer in dem Bild der atomaren Katastrophe gefangen, zu
dem wir uns zwangsläufig verhalten. Es ist dieser Umstand, der uns auffordert,
die Frage, wie man angesichts atomarer Bedrohungen denkt, handelt und lebt,
präsent zu halten.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Literatur

Anders, Günther, Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, Mün-
chen: DTV, 1971.
Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 1977.
Foucault, Michel, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France
(1975–1976), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999.
Geyer, Christian, Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001.
Jaspers, Karl, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München: DTV, 1961.
Lemke, Thomas, Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden: VS Verlag, 2008.
Moltmann, Bernhard, Das Atomzeitalter. Zur Gegenwart einer unaufgeklärten Vergan-
genheit, HSFK-Standpunkte, Heft 4, Frankfurt a. M.: Hessische Stiftung Friedens-
und Konfliktforschung, 1999.
Muhle, Maria, Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und
Canguilhem, Bielefeld: transcript, 2008.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Steffi Hobus

Mit-Sein und Prekär-Sein: Dimensionen des


Sozialen

Wir brauchen eine „neue Ontologie des Körpers“1, schreibt Judith Butler in
der Einleitung zu ihrem Buch Raster des Krieges. Wir bräuchten eine „neue
Ontologie des Körpers“, die einherginge mit „einem neuen Verständnis von
Gefährdung, Schutzlosigkeit, Verletzlichkeit, wechselseitiger Abhängigkeit,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Exponiertsein, körperlicher Integrität, Begehren, Arbeit, Sprache und sozia-


ler Zugehörigkeit“.2 Über diese Aufzählung und jeden ihrer einzelnen durch-
aus uneinheitlichen Bestandteile ließe sich sehr lange nachdenken, aber hier
ist es mir vor allem um drei der genannten Aspekte, nämlich die Gefährdung
(i. O.: precariousness), die wechselseitige Abhängigkeit und die soziale Zu-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gehörigkeit zu tun. Wenn Butler von „Ontologie“ spricht, dann denkt sie sie
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

durchaus im Sinne „fundamentale[r] Seinsstrukturen“, aber trotzdem nicht


„jenseits aller sozialen und politischen Organisationsformen“; vielmehr seien
diese Seinsstrukturen „immer schon in ihre politische Organisation und Deu-
tung eingebunden“.3
Die „Gefährdung“, precariousness, als Seinsstruktur möchte ich zum Aus-
gangspunkt der Überlegungen zum Prekär-Sein und Mit-Sein nehmen und nur
kurz darauf hinweisen, dass zahlreiche aktuelle Überlegungen zu Theorien der
Regierung oder der Gouvernementalität, der nach Foucault zeitgenössischen
Regierungsform, sich in zunehmendem Maße des Begriffs des Prekären, der
Prekarität oder der Prekarisierung angenommen haben. Und zunehmend geht
der Begriff des Prekären in einer sehr breiten Verwendungsweise auch in den
allgemeinen Sprachgebrauch ein. Isabell Lorey hat in einem kürzlich erschie-
nenen Text drei Bedeutungs-„Dimensionen des Prekären“4 unterschieden:
„das Prekärsein, die Prekarität und die gouvernementale Prekarisierung“.5 Das
„Prekärsein“ als erste Dimension bezeichnet eine ontologische Dimension des
Lebens und der Körper, wie sie bei Butler angesprochen ist. Auch Lorey betont,

1 Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid betrauern, Frankfurt a. M.: Cam-
pus, 2010, S. 10.
2 Ebd.
3 Ebd.
4 Isabell Lorey, „Gouvernementale Prekarisierung“, in: Inventionen, hg v. Dies./Roberto Nigro/
Gerald Raunig, Zürich: diaphanes, 2011, S. 72.
5 Ebd.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_018


102 Steffi Hobuß

dass es sich um eine fundamentale Bedingung handle, die aber nicht als ein
„transhistorischer Zustand“6 aufzufassen sei. Diese Bedingung wird vor allem
nicht als etwas Individuelles gedacht, nichts, was einfach vorhanden wäre
und einer/-m Einzelnen als Prädikat zugesprochen werden könnte, sondern
als „jederzeit relational“ und in der Tradition nach Jean-Luc Nancy als sozial-
ontologisches „Mit-Sein“ mit anderen.7 Wie wäre dieses existentielle Gemein-
same genauer zu analysieren? Es geht hier um eine nicht zu hintergehende
und damit auch nicht absicherbare Gefährdetheit lebendiger Körper, „nicht
nur, weil sie sterblich, sondern gerade weil sie sozial sind“,8 die gleichzeitig his-
torisch und geografisch äußerst unterschiedliche Gestalten zeitigt. Ich werde
darauf gleich zurückkommen. Die „Prekarität“ als zweite Dimension ist nach
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Lorey als eine Ordnungskategorie zu bezeichnen, die die Effekte bezeichnet,


die dadurch entstehen, dass das grundlegende Prekärsein durch soziale, politi-
sche oder juristische Praktiken zu kompensieren versucht wird. So werden aus
dem Prekärsein Aufteilungen, Hierarchisierungen und Ungleichheitsverhält-
nisse abgeleitet, was paradox ist, denn das Mit-Sein ist ja eine grundlegende
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Bedingung jedes menschlichen (und vielleicht auch nicht-menschlichen le-


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

bendigen) Seins. Aus der allgemeinen Gefährdetheit, dem Prekärsein, werden


bestimmte gesellschaftliche Positionierungen der Unsicherheit abgeleitet, die
nur einigen zugeschrieben, damit immunisierend abgewehrt werden und ge-
rade nicht für alle gelten. So lässt sich „Prekarität“ als Effekt derjenigen Rege-
lungen verstehen, die in gewisser Weise vor dem „Prekärsein“ schützen sollen,
wodurch eine differentielle Verteilung der Prekarität vorgenommen wird. Als
„gouvernementale Prekarisierung“ bezeichnet Lorey schließlich und drittens
eine Dynamik, die Regierungsweisen seit der Herausbildung industriekapita-
listischer Verhältnisse kennzeichnet (und die bei uns nicht von bürgerlicher
Selbstbestimmung zu trennen sei). Diese Dynamik besteht in Verunsiche-
rungen der Erwerbsarbeit, der Lebensführung und der Körper. Jede Einzelne
ist über Techniken der Selbstregierung immer wieder dazu aufgerufen, ihre
Position auf dem Arbeitsmarkt, ihre Lebensführung und ihren Körper zu über-
prüfen und zu optimieren. Die Prekarisierung, d.h. in diesem Fall die Verun-
sicherung, besteht hier nicht nur in etwas Repressivem, Unterdrückendem,
sondern hat auch ambivalent produktive Momente, die die Selbstbestim-
mung ermöglichen. In dieser Perspektive sind Selbstbestimmung und Preka-
risierung also einander nicht entgegengesetzt, sondern gehören zusammen;

6 Ebd.
7 Vgl. Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, Zürich: diaphanes, 2004.
8 Isabell Lorey, „Gouvernementale Prekarisierung“, in: Inventionen, a.a.O., S. 73.
Mit-Sein und Prekär-Sein 103

Unterwerfung und Ermächtigung schließen einander nicht aus, sondern bil-


den zwei ambivalente Seiten einer Regierungsweise.
Doch zurück zur ersten Bedeutungsdimension: Judith Butlers existentieller
Begriff der precariousness erscheint bei ihr zuerst in dem Aufsatzband Gefähr-
detes Leben (engl. Precarious Life).9 Die deutsche Übersetzung von precarious-
ness/precarious als „Gefährdetheit“ und „gefährdet“ lässt leider die Verbindung
zu internationalen Debatten zum Prekären verschwinden. In diesem Buch,
Gefährdetes Leben, ist der Begriff des Prekärseins vor allem durch Lévinas
angeregt. Von Lévinas bezieht Butler den Entwurf „einer Ethik, die auf einer
Erkenntnis der Gefährdetheit des Lebens beruht, die Konzeption einer Ethik,
die bei dem gefährdeten Leben des Anderen ansetzt“.10 Sie folgt hier Lévinas’
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Vorstellung des „Gesichts“ – früher meist übersetzt als „Antlitz“; in der aktuel-
len Übersetzung von Pascal Delhom heißt es das „Angesicht“, was den theologi-
schen Gehalt stärker sichtbar sein lässt. Der Begriff „Angesicht“ bei Lévinas ist
terminologisch gebraucht; es ist nicht einfach oder ausschließlich das mensch-
liche Gesicht, aber es ist das, was „vermittelt, was menschlich ist, was gefährdet
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ist, was verwundbar ist“.11 Und es erinnert daran, „daß das Selbst für sich allein
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

nicht überleben kann, in seinem eigenen In-der-Welt-Sein keinen Sinn finden


kann“.12 In seinem Aufsatz Frieden und Nähe macht Lévinas in einer berühmt
gewordenen Passage anhand eines Texts von Wassilij Grossmann deutlich,
worin das Prinzip des Gesichts besteht: In dieser Passage geht es um den Be-
such, den die Verwandten der politischen Gefangenen ihnen im Gefängnis in
Moskau abstatten. In der Warteschlange sehen sie nur den Rücken der jeweils
anderen, und wir befinden uns in der Perspektive einer wartenden Frau, die
Lévinas zitiert: „Nie hatte [sie] gedacht, daß der menschliche Rücken derma-
ßen ausdrucksstark sein kann und so eindringlich Seelenzustände übermit-
teln kann. Die Personen, die sich dem Schalter näherten, hatten eine spezielle
Art, den Hals und den Rücken zu strecken, die gehobenen Schultern hatten
Schulterblätter, die wie durch Federn gespannt waren, und schienen zu schrei-
en, zu weinen, zu schluchzen.“13 Dieses Beispiel zeigt in Lévinas’ Lektüre, dass
das (An-)Gesicht, das gar nicht das Gesicht im normalen Sinn zu sehen ge-
ben muss, in besonderem Maße die Verletzlichkeit des Menschen exponiert.

9  Vgl. Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005.
10 Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, a.a.O., S. 13.
11 Ebd., S. 14.
12 Emmanuel Lévinas im Gespräch, zit. n.: Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays,
a.a.O., S. 157.
13 Emmanuel Lévinas, „Frieden und Nähe“, in: Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die
Politik und das Politische, hg. v. Pascal Delhom/Alfred Hirsch, Zürich: diaphanes, 2007,
S. 137–149, hier: S. 145.
104 Steffi Hobuß

Ihm entspricht eine besondere Art der Einstellung gegenüber dem anderen,
die aber auch verfehlt werden kann; Lévinas schreibt: „Das Denken, das für
das Angesicht des anderen Menschen wach ist, ist kein Denken von …, keine
Repräsentation, sondern von vornherein ein Denken für …, eine Nicht-Gleich-
gültigkeit für den anderen, die das Gleichgewicht der gleichmütigen und
unempfindlichen Seele des reinen Kennens bricht […].“14 Die von Lévinas ge-
setzten Auslassungspunkte bedeuten, dass ich hier nicht etwas am anderen
wahrnehme, aufgrund dessen ich ihm die Verletzlichkeit und ein eigenes Mit-
Sein zuschreibe, sondern dass ich den anderen, wenn ich für sein Angesicht
wach bin, von vornherein, fundamental, als ausgesetzt und verletzlich erken-
ne. „Auf das Gesicht zu reagieren, seine Bedeutung zu verstehen heißt, wach
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

zu sein für das, was an einem anderen Leben gefährdet ist, oder vielmehr wach
zu sein für die Gefährdetheit des Lebens an sich.“15 Wir haben hier also gerade
kein „Analogiemodell“ des Fremdpsychischen,16 wie es auch genannt worden
ist, dass ich etwa wahrnähme, der andere habe gewisse Eigenschaften, die ich
auch habe, und ihm deswegen ein analoges Prekärsein zu meinem prädikativ
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

zuschriebe. Wittgenstein drückt das so aus: „Meine Einstellung zu ihm ist eine
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Einstellung zur Seele. Ich habe nicht die Meinung, daß er eine Seele hat.“17
Diesen grundlegenden existentiellen Begriff des Prekärseins hat Butler in
der Einleitung zu ihrem späteren Buch Raster des Krieges weiter entwickelt; die
Einleitung trägt den Titel Gefährdetes Leben, betrauerbares Leben. Hier heißt es,
man müsse „die Gefährdung […] als integralen Aspekt dessen erkennen, was
man im Lebendigen immer schon mit wahrnimmt“.18 Aufgrund dieser existen-
tiellen Bedeutung könne die Gefährdung selbst auch nicht anerkannt werden.
Das Prekärsein sei kein Effekt einer Anerkennung: „Wir werden nicht zunächst
geboren und sind irgendwann später gefährdet; vielmehr ist das Gefährdet-
sein [Prekärsein] als solches mit der Geburt koextensiv.“19 Hier ist nicht so sehr
Lévinas die zentrale Referenz, sondern Jean-Luc Nancys Heidegger-Lektüre. In

14 Ebd., S. 144.
15 Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, a.a.O., S. 160.
16 Vgl. Hans-Joachim Giegel, Die Logik der seelischen Ereignisse. Zu Theorien von Wittgenstein
und Sellars, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1969.
17 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984,
S. 495. Vgl. auch Ludwig Wittgenstein, Zettel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984, Z. 220: „Das
Bewußtsein in des Andern Gesicht. Schau ins Gesicht des Andern und sieh das Bewußt-
sein in ihm und einen bestimmten Bewußtseinston. Du siehst auf ihm, in ihm, Freude,
Gleichgültigkeit, Interesse, Rührung, Dumpfheit, usf. Das Licht im Gesicht des Andern.“
18 Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid betrauern, a.a.O., S. 20.
19 Ebd., S. 22.
Mit-Sein und Prekär-Sein 105

seinem Buch singulär plural sein20 erläutert Nancy die Existenzweise dieses
„singulär pluralen Seins“ im Sinne des Heideggerschen Mit-Seins. Das Wesen
des Seins sei immer zugleich Mit-Sein, und zwar wieder „nicht das Sein zuerst,
dem dann ein Mit hinzugefügt wird, sondern das Mit im Zentrum des Seins“.21
In gewisser Weise kehre das die traditionelle Ordnung philosophischer und
überhaupt rationaler Darstellungen um, in der das Mit nach dem Subjekt erst
an zweiter Stelle kommt. Selbst Heidegger sei letztlich noch dieser Logik treu,
wenn er das Dasein, das ist bei ihm die Seinsweise des Menschen, der sich stets
um sein Sein kümmert, zuerst darstelle und erst als zweites und wesentlich
kürzer auf das Mit-Sein eingehe, nachdem er das Dasein schon in seinem Text
etabliert hat. Aber das Mit-Sein lasse sich nicht „ans Da-sein anfügen“.22 Es
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

geht für Nancy darum, für ein wirkliches Denken des Sozialen das Folgende
zu denken: „Nicht zuerst das Sein des Seienden und dann das Seiende selbst
als Mit-ein-ander, sondern das Seiende – und alles Seiende – in seinem sein
als Mit-ein-ander seiend. Singulär plural: derart, daß eines Jeden Singularität
von seinem Sein-mit-mehreren nicht zu trennen ist.“23 In einer ganz anderen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Diktion beschreibt Nancy die Folgen dieser existentiellen Bestimmungen für


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

aktuelle Überlegungen zur Rolle von Gemeinschaften, wenn er die Wichtig-


keit eines „Wir“ als Ko-Existenz bestimmt: „‚Wir‘ sagen zu wollen hat nichts
Sentimentales, nichts Familiäres und auch nichts ‚Kommmunitaristisches‘
an sich. Hier fordert die Existenz, was ihr zukommt, oder ihre Bedingung: die
Ko-Existenz.“24 Am Begriff der Ko-Existenz lässt sich deutlich machen,25 dass
er häufig Vorstellungen eines Defizits transportiert. Oft dient er dazu, auf einen
Status hinzuweisen, der von außen oder den Umständen aufgezwungen wor-
den ist, jedenfalls unerfreuliche Konnotationen hat. Ko-existieren müssen die
Menschen gezwungenermaßen, weil sie allein nicht überlebensfähig wären,
oder im Sinne von Kants „ungeselliger Geselligkeit“, dem Antagonismus aus
dem Bestreben, einerseits gern allein sein zu wollen, aber aus Not und Bequem-
lichkeit auf die Gemeinschaft angewiesen zu sein. In solchen Verständnissen,
zu denen auch die Hobbes’sche Staatstheorie gezählt werden kann, wird die
gemeinsam geteilte Gleichheit des Mitseins und Prekärseins in erster Linie als

20 Vgl. Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, a.a.O. sowie vgl. Martin Heidegger, „Dasein, Mit-
sein“, in: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, 17. Aufl., 1993, §§ 25–27.
21 Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, a.a.O., S. 59.
22 Ebd., S. 148.
23 Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, a.a.O., S. 61.
24 Ebd., S. 73.
25 Vgl. ebd., S. 75.
106 Steffi Hobuß

Bedrohung gedacht. Dann ist das Prekärsein etwas, das Angst26 macht, und
kann als Beängstigung durch die Anderen wahrgenommen werden, die ja im-
mer an das gemeinsame Prekärsein gemahnen. Weil „jeder Körper sich […]
potenziell von anderen bedroht sieht, die per definitionem ihrerseits gefährdet
sind“,27 sind Menschen in ihrem Prekärsein von etwas außerhalb ihrer selbst,
von anderen und von sichernden Umwelten abhängig. Aber es können keine
Bedingungen geschaffen werden, „die das Problem der Gefährdung des Men-
schen vollständig ‚lösen‘ könnten“.28 Manche Regelungen wenden „das exis-
tentielle Prekärsein in eine Angst vor verletzenden Anderen, die zum Schutz
der so Bedrohten bereits präventiv abgewehrt und ggf. sogar vernichtet werden
müssen“.29 Und so lässt sich – noch einmal – zum Verhältnis von Prekärsein
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

und Prekarität sagen, dass „Prekarität“ als Effekt derjenigen Regelungen zu ver-
stehen wäre, die in gewisser Weise vor dem „Prekärsein“ schützen sollen, das
grundlegende Problem aber nicht abschaffen können.
Von diesem Ausgangspunkt aus lässt sich über viele Felder nachdenken,
und viele Regelungen des Prekariats lassen sich interpretieren, Überlegungen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

zum Begriff der communitas30 und der multitudo lassen sich in diesem Rah-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

men anstellen. Butler denkt darüber nach, „warum wir nicht jedes Leid bekla-
gen“, und wie sich eine ethische Argumentation gegen Kriege begründen ließe.
Diskussionen um das sogenannte „Recht auf Leben“31 und um die Lebenswis-

26 Vgl. Martin Heidegger, „Dasein, Mitsein“, in: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, 17.
Aufl., 1993, §§ 30, 40–44. Vgl. auch Paolo Virno, Grammatik der Multitude. Mit einem An-
hang: Die Engel und der General Intellect, Wien: turia + kant, 2005, hier S. 36f. zum „[…]
Unterschied, den Heidegger zwischen Furcht und Angst macht […]. // Die Furcht bezieht
sich auf eine bestimmte Sache wie die bereits erwähnte Lawine oder die Arbeitslosig-
keit. Die Angst hingegen hat keine auslösende Ursache. Auf den entsprechenden Seiten
in Sein und Zeit führt Heidegger aus, dass die Angst durch das einfache und reine Der-
Welt-ausgesetzt-Sein bewirkt wird, durch die Ungewissheit und Unbestimmtheit, mit der
sich unser Bezogensein auf die Welt offenbart. Die Furcht ist begrenzt und man kann
sie benennen; die Angst ist allseits gegenwärtig, sie ist an keine besondere Gelegenheit
gebunden, sie kann uns zu jedem Zeitpunkt und in jeder Lage anfallen. Diese Formen
der Sorge (Angst und Furcht) und ihre entsprechenden Gegenmittel müssen nun einer
sozialgeschichtlichen Untersuchung unterzogen werden.“
27 Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid betrauern, a.a.O., S 36.
28 Ebd., S. 35.
29 Isabell Lorey, „Gouvernementale Prekarisierung“, in: Inventionen, a.a.O., 2011, S. 77.
30 Vgl. Roberto Esposito, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin: dia-
phanes, 2004.
31 Vgl. dazu auch Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid betrauern,
a.a.O., S. 25: „Damit lässt sich also in Bezug auf ein Lebewesen nicht von vornherein von
einem Recht auf Leben sprechen, da kein solches Recht vor Zersetzung und Tod schüt-
zen kann; diese Anmaßung ist nichts als Ausdruck einer Allmachtsphantasie des Anthro-
pozentrismus, die auch die Endlichkeit des anthropos leugnen will.“ Vgl. auch: Nikolas
Mit-Sein und Prekär-Sein 107

senschaften wären ein weiterer Gesichtspunkt. Auf jeden Fall wird sich sagen
lassen, dass die Annahme, das Leben müsste oder könnte gar, weil es prekär
und gefährdet, weil es einer existentiellen Verletzbarkeit ausgesetzt ist, recht-
lich oder auf welche Weise auch immer gänzlich geschützt und abgesichert
werden, eine „Fantasie der Omnipotenz“32 darstellt.

Literatur

Butler, Judith, Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Butler, Judith, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid betrauern, Frankfurt a. M.:
Campus, 2010.
Esposito, Roberto, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin: diapha-
nes, 2004.
Giegel, Hans-Joachim, Die Logik der seelischen Ereignisse. Zu Theorien von Wittgenstein
und Sellars, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1969.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Heidegger, Martin, „Dasein, Mitsein“, in: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, 17.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Aufl., 1993.
Lévinas, Emmanuel, „Frieden und Nähe“, in: Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über
die Politik und das Politische, hg. v. Pascal Delhom/Alfred Hirsch, Zürich: diaphanes,
2007, S. 137–149.
Lorey, Isabell, „Gouvernementale Prekarisierung“, in: Inventionen, hg. v. Dies./Roberto
Nigro/Gerald Raunig, Zürich: diaphanes, 2011.
Nancy, Jean-Luc, singulär plural sein, Zürich: diaphanes, 2004.
Rose, Nikolas, „Was ist Leben? – Versuch einer Wiederbelebung“, in: Bios und Zoë.
Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, hg. v.
Martin G. Weiß, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2009, S. 152–179.
Virno, Paolo, Grammatik der Multitude. Mit einem Anhang: Die Engel und der General
Intellect, Wien: turia + kant, 2005.
Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
1984, S. 495.
Wittgenstein, Ludwig, Zettel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984.

Rose, „Was ist Leben? – Versuch einer Wiederbelebung“, in: Bios und Zoë. Die menschliche
Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, hg. v. Martin G. Weiß, Frankfurt
a. M.: Suhrkamp, 2009, S. 152–179, hier S. 158: „Die Frage nach der Bedeutung des Lebens ist
in die Sphäre der Moral-Politik (Etho-Politics) eingetreten, d.h. in die Sphäre der Ausein-
andersetzung darüber, welche Gefühle, welche Annahmen und Glaubenssätze, welche
Werte uns als Menschen leiten sollen, kurz, in das Felder der Regierung von und durch
Ethik.“
32 Isabell Lorey, „Gouvernementale Prekarisierung“, in: Inventionen, a.a.O., S. 76.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Roberto Nigro

Die Verweigerung der Arbeit: philosophische


Implikationen einer politisch-ästhetischen Praktik

2014 hat der italienische Philosoph und Kulturtheoretiker Maurizio Lazza-


rato ein kleines Buch mit dem Titel Marcel Duchamp et le refus du travail in
Frankreich veröffentlicht. 2017 wurde das Booklet ins Deutsche übersetzt und
publiziert.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Wozu Dichter in dürftiger Zeit? könnte man sich fragen! In der elenden Zeit –
materiell und intellektuell –, in der wir leben, wo jedes Detail der mensch-
lichen Tätigkeit quantifiziert wird, aus Chiffren, Daten und Märkten besteht,
und wo das Leben auf Geldwert reduziert ist, kann der Diskurs von jeman-
dem, der über die (und für die) Verweigerung der Arbeit sprechen möchte, nur
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

wie eine boutade, eine letzte geistreiche Äußerung eines verbleibenden Dandy
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

scheinen. In einer Zeit, in der der Kapitalismus massive Arbeitslosigkeit pro-


duziert und das Leben prekarisiert; in einer Zeit, in der sich die blasse sozial-
demokratische Tradition den hegemonialen neoliberalen Ideologien gebeugt
hat, scheint die Frage nach der Verweigerung der Arbeit wie der Diskurs eines
Verrückten. Darüber hinaus gibt es seit Jahrzehnten und vielleicht Jahrhun-
derten keinen einzelnen Diskurs, der nicht die Würde der Arbeit lobt. Es gibt
keinen Diskurs, der als Grund aller Übel der Gesellschaft nicht den Arbeits-
mangel betrachtet: Hätten alle Menschen Arbeit, würden wir in einer besseren
Gesellschaft leben! Die Arbeit ist die Menschenwürde!
Es ist eine mutige Geste von Maurizio Lazzarato in Anbetracht der Zeit, in
der wir leben, über die Verweigerung der Arbeit zu sprechen. Er hat den Mut,
einen solchen Begriff wieder in die heutige Diskussion zu bringen. Wenn ich
es mir erlauben darf, möchte ich kurz bemerken, dass er sich mit einem Trick
behilft. Er bezieht sich nicht nur auf die Verweigerung der Arbeit, sondern auf
„Marcel Duchamp und die Verweigerung der Arbeit“. Er spürt, dass unsere gan-
ze Kultur stark geprägt ist von einer Ontologie der Potenz: Er nimmt wahr, dass
die ganze westliche Tradition vielleicht schon seit unvordenklichen Zeiten
durch eine Ontologie der Tätigkeit charakterisiert ist. Den politischen Begriff
der Verweigerung der Arbeit erweitert er in Richtung eines ästhetischen Para-
digmas, vielleicht genau deshalb, weil er sich der Schwierigkeiten eines sol-
chen Themas bewusst ist. Ob es in diesem Zusammenhang eher darum geht,
eine Ontologie der Untätigkeit – um es mit Giorgio Agamben zu sagen – zu
thematisieren, ist eine Frage, die ich im Moment beiseitelegen möchte.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_019


110 Roberto Nigro

Lazzarato sagt sehr deutlich, dass der Begriff der Verweigerung der Arbeit die
wichtigste politische Kategorie des italienischen Operaismus sei.
Er schreibt: „Sie bezieht sich auf die individuellen und kollektiven Kampf-
praktiken der ,Massenarbeiter‘ der großen fordistischen Fabriken, die mit
ihren Fließbändern und ihrer
Konzentration von Arbeiter*innen den Inbegriff der Ausbeutung im indus-
triellen Kapitalismus repräsentieren.“
Wie Sie wissen, bezieht sich der Ausdruck Operaismus auf eine politische
und kulturelle Tradition, die auf die in Italien in den frühen 1960er Jahren ent-
standenen politischen Praktiken zurückgeht. Operaist*innen interessierten
sich für die neuen Formen von Subjektivität und für die Transformation der
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Klassenzusammensetzung. Solches Interesse war nicht ganz neu in der italie-


nischen kommunistischen Tradition. Es gab schon eine Form von Operaismus
in den 1920er Jahren, in der die Aufmerksamkeit auf die Dimension der Sub-
jektivität der Arbeiterklasse schon sehr relevant war. Aber der Operaismus der
1960er Jahre brach drastisch mit dieser Tradition, insofern, dass er einen neuen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Begriff und eine neue Praktik einführte, welche den Fokus auf die Verweige-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

rung der Arbeit legte.


Im Operaismus der 1920er Jahren spielte der Stolz der Produzenten auf ihre
Arbeit und Tätigkeit eine große Rolle. Aber man kann nicht stolz auf die eigene
Arbeit sein, in dem Moment wo man die Verweigerung der Arbeit theoreti-
siert und praktiziert! Die Verweigerung der Arbeit war nicht nur eine abstrakte
politische Formel oder Theorie. Sie war zuallererst die Anerkennung, dass die
Arbeiterklasse die Arbeit und die in der Fabrik auferlegte Disziplin verweigert.
Die Arbeiter hassten ihre Arbeit und die Disziplin der Fabrik. Sie verweiger-
ten ihren Zustand als Arbeiter. Das Verweigern der Arbeit war der Impuls und
der Motor für politische und soziale Transformationen. In diesem Zusammen-
hang brach der Operaismus der 1960er Jahren mit einer Ideologie, die auf der
Arbeitsethik basierte. Die Operaist*innen konnten zeigen, dass neue Wider-
standsformen und neue Kämpfe entstanden. Widerstand und Kämpfe, die für
die alten politischen Organisationen einfach unsichtbar waren.
Bis 1968, während sie die Form der Zusammensetzung der Klassen analysier-
ten, fokussierten sich die Operaist*innen auf die Figur des Massenarbeiters.
Massenarbeiter waren meist aus dem Süden kommende Migranten. Der kultu-
relle Stereotyp, der bis heute anhält, bestand darin, sie als „arme Männer und
Frauen“ sowie als Opfer der Moderne und der Unterentwicklung darzustellen.
Jedoch brachten die Nachforschungen der Operaist*innen eine völlig andere
Darstellung der Situation mit sich. Selbstverständlich beschrieben sie auch
das Leiden und den Zustand der Entbehrung der Migranten. Sie machten aber
auch auf die Tatsache aufmerksam, dass diese Migranten, auf der Suche nach
Die Verweigerung der Arbeit 111

neuen Lebensformen, zur Flucht gezwungen waren. Ihre Wünsche, Bedürf-


nisse und Neugierde gaben ihnen die Kraft, aus dem Elend des bäuerlichen
Zustands zu fliehen, obwohl diese Flucht auch die Gestalt einer illusorischen
Suche nach Massenkonsum annehmen könnte. Diese neuen Subjekte waren
nicht politisiert und traten somit nicht in die klassischen politischen Organi-
sationen ein. Reaktionäre Kräfte sowie sozialistische und klassisch kommunis-
tische Organisationen griffen sie als Faulpelze, Opportunisten und reaktionäre
Subjekte an. Im Gegensatz dazu verstanden die Operaist*innen, dass hinter
diesen Formen des „Opportunismus“ eine Verweigerung der Arbeit und deren
Ethik sowie eine Verweigerung der politischen und gewerkschaftlichen Vertre-
tung stand.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Als Ergebnis hob der Operaismus ein Bild auf, das die ganze sozialistische
und kommunistische Tradition bis dato dominiert hatte. Wenn die Arbeiter-
klasse immer als ein Opfer repräsentiert wurde, als ein passives Subjekt, dem
die Entwicklung des Kapitals ihre eigenen Gesetze aufzwingt, wenn sie auf eine
ausgebeutete Arbeitskraft reduziert wurde, stürzten die Operaist*innen diese
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

These, indem sie zeigten, dass die kapitalistische Entwicklung dem Kampf der
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Arbeiterklasse untergeordnet ist. Die Logik ist also umgekehrt. Bewegungen,


individueller und kollektiver Widerstand zwingen das Kapital gegenzuhalten,
neue Formen der Ausbeutung und der Organisation von Arbeit zu erfinden,
um die Kraft der lebendigen Arbeit zu zügeln.
Diese These der Verweigerung der Arbeit bringt eine radikale Infragestel-
lung der alten philosophisch-anthropologischen Vorstellungen mit sich. Marx,
und nach ihm Foucault, haben gezeigt, wie das Leben und die Zeit der Indivi-
duen beschlagnahmt wird und wie sie zur Arbeit gezwungen werden. Wenn
Foucault sich auf Unterwerfungs- und Disziplinierungsprozesse bezieht, be-
schreibt er mit solchen Begriffen die Transformation von Menschen in produk-
tive Subjekte oder in Arbeitskraft. Aber diese Transformation impliziert den
Zwang zur Arbeit.
Von diesem Standpunkt aus kritisiert Foucault eingehend die Engpässe und
Widersprüche eines besonderen nachhegelianischen Denkens, das bis in die
Gegenwart die Würde der Arbeit verkündet und die Existenz des Menschen
oder seine vermutliche Essenz mit.
Arbeit identifiziert:

Es ist falsch, – schreibt er – mit einigen berühmten Nachhegelianern zu sagen,


dass das konkrete Wesen des Menschen die Arbeit ist. Die Zeit und das Leben des
Menschen sind nicht von Natur aus Arbeit, sie sind Vergnügen, Diskontinuität,
Feiern, Ausruhen, Bedürfnis, Momente, Zufall, Gewalt, etc. Diese ganze explo-
sive Energie muss man nun in eine dauernd und dauerhaft zu Markte getragene
Arbeitskraft transformieren. Man muss das Leben in Arbeitskraft synthetisieren,
was den Zwang des Beschlagnahmesystems erfordert.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Zur Metaphysik
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Martin Hailer

Gott denken?

Kann man, soll man, Gott denken? Die Antworten auf diese Frage sind, vor-
sichtig gesagt, vielfältig. Das wird deutlich, wenn man sich die Extreme vor
Augen führt: Die eine Seite antwortet auf die Titelfrage mit einem empörten
Nein. Denn wie sollte man wohl etwas denken, was es gar nicht gibt? Oder,
nicht-atheistisch aber im Ergebnis ähnlich, wie sollte man dasjenige den-
ken, was doch schlechterdings Geheimnis ist? Die andere Seite antwortet mit
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

einem entschiedenen Ja: Gott ist zu denken, und dies zu tun, ist die größte
Herausforderung und Ehre des Denkens. Etwa so: In Gott soll kein Geheim-
nis verbleiben, und es ist dem Denken möglich, Gott ohne verbleibendes Ge-
heimnis zu ergründen. Das zumindest hat sich die spekulative Philosophie des
deutschen Idealismus zum Ziel gesetzt.1 Auch innerhalb der Theologie wird
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

mitunter beansprucht, Gott selbst sei Gegenstand des Denkens.2 So weit also
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

ist der Horizont der Antworten – und dass es viele Varianten zwischen den
Extremen gibt, versteht sich von selbst.
Das hier zu bewerbende Argument hat etwas von beiden Seiten. Es wird da-
rauf hinauslaufen: Ja, Gott ist zu Recht ein Thema des Denkens. Er muss sogar
ein Thema der Philosophie sein, sonst verfehlt sie sich selbst. Und zugleich:
Nein, dabei aber wird er bei Strafe eines eklatanten Selbstwiderspruchs selbst
nie gedacht. Der Gedanke ist alt und kommt aus der Tradition der negativen

1 Die Geschichte des deutschen Idealismus ist auch die Geschichte des Programms, Gott ohne
Geheimnis zu denken. In den letzten Sätzen des sog. Ältesten Systemprogramms von 1796/97
liest es sich wie eine Aufforderung an künftige Theorieproduktion, vgl. Mythologie der Ver-
nunft. Hegels ‚ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus‘, hg. v. Christoph Jamme
und Helmut Schneider, Frankfurt a. M. 1984, S. 14. Hegel selbst unternimmt dies in mehreren
Anläufen, zunächst in den Schlusspassagen der Phänomenologie des Geistes, die er aber
bald als unbefriedigend und skizzenhaft empfand. Die Durchführungen in der Wissenschaft
der Logik und in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften §§ 572–577 dürfen
als sein endgültiges Wort zur Sache gelten.
2 Diese Prätention führt zwei ansonsten recht unterschiedlich optierenden Systematiker
zusammen, vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht, 1988, S. 58–72 und Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur
Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus,
Tübingen: Mohr, 1977, S. 203–227, S. 514–543.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_020


116 Martin Hailer

Theologie. Freilich gibt es ihn in modernen Varianten und so, dass er für die
aktuellen Gesprächslagen interessant wird. Die Grundform ist diese:3
Es ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts. Das ist Anlass zum Stau-
nen. Dass es so ist, das kann man feststellen. Aber dass es so ist, das wird nie-
mals Gegenstand der Betrachtung, niemals Objekt. Denn dass überhaupt etwas
ist und nicht vielmehr nichts, das muss jede mögliche Gedankenoperation im-
mer schon voraussetzen. Es macht eben alles andere möglich, auch die Refle-
xion darauf und auch die Person, die diese Reflexion aktual vollzieht. Was das
Vorausgesetzte ist, kann also nicht gesagt werden, weil es auch den Akt des Sa-
gens ermöglicht. Und doch kommt man nicht umhin, es vorauszusetzen. Es ist
also das Unerklärliche schlechthin. Bezeichnenderweise ist auch aus promi-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

nentestem Mund zu hören, die Philosophie beginne mit dem Erstaunen.4 Zum
Staunen ist dies allerdings. Und doch ist dieser Transzendenzaspekt für alle
Menschen erschwinglich. Er ist nicht auf besondere Erfahrungen angewiesen,
weil er jeder Erfahrung zu Grunde liegt. Er ist nicht ein isoliertes Sinnerlebnis
in einem Meer von Flachheit, weil er jedem Sinnerleben zu Grunde liegt. Er ist
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

nicht privilegierter Erfahrungsgegenstand von besonders Befähigten, sondern


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

prägt jeden Menschen. Dieser Transzendenzbezug ist nicht irgendwie jenseitig


und elitär, er ist Transzendenz mitten in unserer Immanenz. So funktioniert, in
erster Näherung gesagt, die negative Theologie. Erstens: Ich muss eine Größe
als vorhanden setzen, bei der ich zweitens zugleich setzen muss, dass sie für
mich unerkennbar ist. Und drittens, dies eigentümlich Negative ist es doch,
was mich ermöglicht, Sinn ermöglicht.
Derselbe Gedanke noch einmal, jetzt an einem anderen „Gegenstand“
durchgeführt. Das Wort „Gegenstand“ muss man dabei in Anführungszeichen
setzen, weil es wieder darauf hinauskommen wird, von etwas zu reden, was
niemals Gegenstand werden kann. Gemeint ist das Phänomen der Sprache:
Dass – wir sprechen können und wie wir sprechen können, ist unerklärlich. Es
ist eine „uns vorgängige Bedingung der Möglichkeit und Wirklichkeit unserer
humanen Welt. Dass wir Sätze verwenden können (…) das ist eine uns und
unsere Welt einschließlich unserer Vernunft und Selbsterkenntnis real ermög-
lichende Dimension, die wir nicht erklären oder von anderem ableiten kön-
nen, ohne sie selbst schon verwenden und in Anspruch nehmen zu müssen“.5
Uns wird klar, „dass wir auch über die sprachlichen Sinnbedingungen unserer

3 Ich folge der Systematisierung von Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York: de Gruyter, 2005,
S. 58–78; vgl. die ausführliche Diskussion bei Martin Hailer, Religionsphilosophie, Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, 2014, S. 42–73.
4 Aristoteles, „Staunen als Anfang der Philosophie und stoffartige Archē“, in: Metaphysik I,
982b, Reinbek: Rowohlt, 1994, Z. 11f.
5 Thomas Rentsch, Gott, a.a.O., S. 68.
Gott denken ? 117

Praxis nicht pragmatisch und technisch verfügen, sondern dass sie uns sinn-
konstitutiv entzogen und vorgängig sind. Wir werden zu uns selbst im Medium
sozialer und kommunikativer Praxis“.6 Dass wir zu alldem in der Lage sind,
können wir nicht erklären, ohne das zu Erklärende seinerseits vorauszuset-
zen. Das Transzendenzgeschehen namens Sprache ermöglicht unser Selbstbe-
wusstwerden und trägt es.
Das Muster ist vergleichbar: Sprache ist unhintergehbare Voraussetzung,
wie es die Existenz der Welt ist. Ohne Sprache kein Sinn, keine Kommunika-
tion, kein Selbstwerden. Das dürfte im übertragenen Sinne auch für nichtspre-
chende Personen gelten, ein interessanter ethischer Seitenaspekt, den ich hier
aber unberührt lasse.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Für eine vorläufige Exploration sollen diese beiden Gedankengänge


genügen:7 Es ist etwas, und nicht vielmehr nichts. Das liegt jeder Erfahrung
und jedem Begreifen zu Grunde und wird deshalb nie mein Gegenstand. Und:
Dass wir sprechen können, das müssen wir immer schon voraussetzen. Es ist
schlechterdings die Bedingung unserer humanen Welt. Es ermöglicht Sinn
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

und Verstehen. Man muss es schon betätigen, auch und gerade dann, wenn
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

man über Sprache spricht. Es geht jetzt noch um einige Implikationen dieser
Gedankengänge. Zu beginnen ist mit einer formalen Beobachtung: In beiden
Beispielen gibt es einen konstitutiven Zusammenhang. In beiden Beispielen
verweist man zunächst auf etwas, was man nicht benennen kann. Das kön-
nen wir das Negative oder die Negativität nennen. Und dieses Negative ist –
zweiter Aspekt – von der Art, dass es Sinn ermöglicht. Er ermöglicht die Welt
überhaupt im ersten Beispiel. Und im zweiten: Dass sprachliches Verstehen
die Welt ordnet, verständlich macht, lesbar macht, das leuchtet ja unmittelbar
ein. Die beiden Aspekte kommen zusammen: Negativität auf der einen Seite
und die Ermöglichung von Sinn auf der anderen. Das, was uns schlechterdings
entzogen ist, das macht es möglich, dass Sinn entsteht.
Dieser Zusammenhang ist eminent wichtig. Denn jemand könnte ja sagen:
Das Einzige, was ich über Gott, über das Absolute sagen kann, ist, nichts dar-
über zu sagen. Dann aber folgt auch genau nichts daraus, und das Thema ist
endgültig erledigt. Jedoch – diese Schlussfolgerung ist falsch: Ich bin doch in
der Welt. Ich muss doch sprechen. Also, diese merkwürdigen Entzogenheiten
sind von der Art, dass sie mich an das Handeln weisen.8

6 Ebd., Anm. 3, S. 70.


7 Thomas Rentsch nennt noch eine dritte Möglichkeit, vgl. ebd., Anm. 3, S. 72–78 und Hailer,
Religionsphilosophie, a.a.O., Anm. 3, S. 52.
8 Programmatisch wird der Gedanke entwickelt von Thomas Rentsch in: Negativität und prak-
tische Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000, S. 180–209.
118 Martin Hailer

Die Negativität und der Praxisbezug gehören zusammen. Und mit diesem Zu-
sammenhang trifft man einen alten philosophischen Bekannten wieder: Die
Metaphysik der alten Welt hat genau das nämlich gelehrt. Wer vom Höchsten
spricht, dem verschlägt es die Sprache, weil ihm die Sprache für das Höchste
nicht ausreicht. Zugleich aber ist das Leben angefasst, verändert. Die Akade-
mie Platons war nicht zufällig auch eine religiöse Gemeinschaft. Die großen
Denker des Mittelalters haben ihre enorme begriffliche Arbeit immer als wel-
che getan, die von dem berührt und verändert waren, was sie doch nie auf den
Begriff brachten.9 Spekulative Sätze werden für dies Denken nur dann wahr,
wenn sie entsprechende Handlungsdispistionen anlegen und verändern. Was
dem Denken entzogen ist, das steckt genau die Sinnmöglichkeiten für das
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Handeln ab. Es kann also nur handelnd eruiert und wahrgenommen werden.
Erst das losgelöst-spekulative Denken der Neuzeit hat das nicht mehr ver-
standen. Hegel wollte wirklich die zutreffende Theorie Gottes schreiben.
Entsprechend gründlich verlor er den Konnex zwischen Entzogenheit und
Sinnpotential.10
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Der Zusammenhang von Negativität und Sinn sollte anhand des Weltargu-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

ments und des Spracharguments deutlich geworden sein. Ist damit behauptet,
Welt und Sprache seien Gott? Nein, ganz genau nicht. Wohl aber wird behaup-
tet: Am Beispiel dieser beiden Argumente kann man sehen, dass wir beständig
aus Bezügen leben und die Bezugsgröße doch nicht erkennen können. Nicht
mehr – aber eben auch nicht weniger. Und damit zurück zur Ausgangsfrage
und zum Titel: Kann man Gott denken? Nein, das geht nicht und es wäre eine
Blindheit beträchtlichen Ausmaßes, es dennoch tun und behaupten zu wollen.
Aber: Ohne Gott denken? – das ist genausowenig möglich.11

9  Vgl. in fast willkürlicher Auswahl: Hugo von St. Viktor, Didascalicon de studio legendi. Stu-
dienbuch, übers. und eingel. von Th. Offergeld, Freiburg i. Br.: Herder, 1997, S. 118, S. 124,
S. 126; Anselm von Canterbury, Proslogion, hg. v. Franciscus S. Schmitt, Stuttgart: from-
mann-holzboog, 1995, S. 74–84 sowie Thomas von Aquin, Summa Theologica I., 1.4, Turin/
Rom: Marietti, 1942 [1265/66–1273], S. 4.
10 Hegels zeitweiliger Weggefährte Schelling hat diesen Zusammenhang gesehen. Gleich, ob
man die systematischen Ansprüche, eine Philosophie der Offenbarung zu entwerfen, für
durchführbar hält oder nicht, Schelling sieht jedenfalls den hier angesprochenen Konnex
von Negativität und praktischem Sinn: „Hauptvoraussetzung für diese Philosophie ist ein
nicht bloß ideales, durch Vernunft oder freie Erkenntnis vermitteltes, sondern ein reales
Verhältnis zu Gott; denn es gibt ein älteres, ins Sein selbst zurückgehendes Verhältnis des
Menschen zu Gott, als das Erkennen.“ Georg W. F. Schelling, Philosophie der Offenbarung
1841/42, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 257, i. O. teilw. herv.
11 Die systematischen Anschlussprobleme für explizites Sprechen von Gott – also für die
Aufgabenbereiche von Theologie und Religion –, werden skizziert bei Hailer, Religions-
philosophie, a.a.O., Anm. 3, S. 179–216.
Gott denken ? 119

Literatur

Aquin, Thomas von, Summa Theologica I., 1.4, Turin/Rom: Marietti, 1942 [1265/66–1273].
Aristoteles, „Staunen als Anfang der Philosophie und stoffartige Archē“, in: Metaphysik
I, 982b, Reinbek: Rowohlt, 1994.
Canterbury, Anselm von, Proslogion, hg. v. Franciscus S. Schmitt, Stuttgart: frommann-
holzboog, 1995.
Hailer, Martin, Religionsphilosophie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014.
Jüngel, Eberhard, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des
Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen: Mohr, 1977.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Pannenberg, Wolfhart, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen: Vandenhoeck &


Ruprecht, 1988.
Rentsch, Thomas, Gott, Berlin/New York: de Gruyter, 2005.
Rentsch, Thomas, Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000.
Schelling, Georg W.F., Philosophie der Offenbarung 1841/42, hg. v. Manfred Frank, Frank-
furt a. M.: Suhrkamp, 1977.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

St. Viktor, Hugo von, Didascalicon de studio legendi. Studienbuch, übers. und eingel. von
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Th. Offergeld, Freiburg i. Br.: Herder, 1997.


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Thorsten Bothe

Hans Blumenberg. Metaphorologie –


Unbegrifflichkeit

Müsste man in einem Satz zusammenfassen, was Metaphorologie ist, könnte


man konstatieren, es handele sich um eine Unternehmung, die den Status der
Metapher in der Philosophie und das Verhältnis der Philosophie zur Metapher
hinterfragt. Eine ganz ungewöhnliche Unternehmung, da die Philosophie vie-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

lerorts grundlegend die Metapher als unlogisch, gar epistemologisch wertlos


aus ihrem Diskurs ausschließt.
Ein Weg, sich der Frage „Was ist Metaphorologie?“ zu nähern, ist sicher, den
Metaphern Aufmerksamkeit zu schenken, mit denen Blumenberg sein Projekt
beschreibt. „Was ich hier vorlege, ist ja ohnehin nur Halbzeug.“1 Oft als blo-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ße Bescheidenheitsmetapher missverstanden, handelt es sich bei „Halbzeug“


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

allerdings um einen Begriff aus der Industrietechnik, der den Bearbeitungs-


zustand zwischen Rohstoff und fertigem Produkt als Figur für die Rolle der
Metapher einführt.2 Damit ist der Metapher ein halb-begrifflicher Status zu-
geschrieben und dem Projekt der Metaphorologie symptomatisch attestiert,
dass es sich um work in progress handelt, keine fertige Theorie, sondern eine
Präsentation von Material, mit dem und an dem – und zwar immer noch –
gearbeitet wird.
Anhand von Beispielen, exemplarisch, möchte ich zeigen, dass Metaphoro-
logie und Unbegrifflichkeit – und Metaphorologie ist nur ein Spezialfall von
Unbegrifflichkeit – eine „Praxis von Theorie“ sind.
Stellen wir uns rein hypothetisch vor – falls dies überhaupt möglich ist –
René Descartes’ Programm aus dem Discours de la méthode wäre zu einem
Abschluss gekommen. Descartes selbst hatte an dieser Möglichkeit nie gezwei-
felt. Alle philosophischen Begriffe wären dann wasserdicht, clair et distinct,
clara et distincta, klar und deutlich, definiert, der Endzustand der Philosophie
erreicht: „Diesem Ideal voller Vergegenständlichung entspräche die Voll-
endung der Terminologie, die die Präsenz und Präzision der Gegebenheit in

1 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998,


S. 29.
2 Vgl. Robert Savage, „Translator’s Afterword. Metaphorology: A Beginner’s Guide“, in: Para-
digms for a Metaphorology, hg. v. Hans Blumenberg, Ithaca/New York: Cornell, 2010, S. 133–
146, hier: S. 135.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_021


122 Thorsten Bothe

definierten Begriffen auffängt […] alles kann definiert werden, also muss auch
alles definiert werden, es gibt nichts logisch ‚Vorläufiges‘ mehr.“3
Wie wir alle wissen, gibt es in Deutschland immer noch Lehrstühle für Phi-
losophie und die philosophischen Fakultäten sind nicht geschlossen worden,
auch wenn manches Bundesland, das aus anderen (meist finanziellen) Grün-
den wohl gerne anstreben würde.
Allein das Argument, es würde nur Zeit brauchen, damit Descartes Pro-
gramm sich erfüllt und die Philosophie ihren Endzustand eindeutigster Ter-
minologie erreicht, scheint mir wenig überzeugend. Es gibt also u. U. Gründe,
warum die Metapher im philosophischen Diskurs persistiert, auch wenn man
oft versucht hat, sie auszuschließen. Auf diese überaus wichtige zweitau-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

sendjährige Geschichte der Opposition von Philosophie und Rhetorik, dem


Ausschluss des übertragenen, also rhetorischen Sprachgebrauchs aus dem philo-
sophischen Diskurs, kann ich hier nur höchst verknappend eingehen:
Philosophie behauptet häufig von der Rhetorik, sie sei als ars bene et
beate dicendi persuasiv – oder eben bloße Schönrednerei, was sich als implizite
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Prämisse zu lesen gibt, die Wahrheitsfähigkeit der Texte allein der Philosophie
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

zuschreibt und eine phonozentrische Perspektive auf die Schrift ausstellt. Auf
der einen Seite gibt es die Philosophie mit ihren wohl definierten Begriffen,
auf der anderen die Literatur und Rhetorik mit übertragenem, figurativem
Sprachgebrauch.
Die Rhetorik will als dicere ad persuadendum accomodate überzeugen, was
den Verdacht der Unwahrheit des Konstatierten für die Philosophie aufwirft
oder sogar, wie bei Kant, zum Verdacht sprachlicher Überlistung führt.4 Als
Gemeinplatz der Philosophiegeschichte beginnt diese Opposition von Philo-
sophie und Rhetorik bereits bei Platon, der die Schönrednerei der Sophisten
aufzeigt. Diese Gegenüberstellung ist seit Platon, der dabei häufig unbe-
merkt selbst rhetorisch operiert, tradierte unreflektierte ‚Wahrheit‘ gewor-
den: als Minderwertigkeit der Rhetorik.5 Der Opposition von Philosophie und

3 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, a.a.O., S. 7.


4 So z.B. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hg. v. Karl Vorländer, Hamburg: Meiner, 1990,
dritte Kritik, § 53, S. 183 u. S. 185: „Die Beredsamkeit, […] d. i. durch den schönen Schein zu
hintergehen. […] Rednerkunst (ars oratoria) ist […] keiner Achtung würdig.“ Vgl. zu Kants
Rhetorikauffassung und allgemein zur Bewertung der Rhetorik auch Ernst Robert Curtius,
Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, 11. Aufl., Tübingen/Basel: Francke, 1993
[1948], S. 71 u. S. 72: „Die Rhetorik hat in unserer Bildungswelt keine Stelle. Ein angeborenes
Mißtrauen gegen sie scheint dem Deutschen eigen. […] Auch die antike Rhetorik wurde von
der deutschen Wissenschaft bis in die neueste Zeit meist als eine Verirrung betrachtet.“
5 Dass Rhetorik und Beweis sich, wie in dieser vermeintlich aufgebauten Opposition, nicht
ausschließen müssen, hat Carlo Ginzburg zu zeigen gewusst; dass der Beweis schon im-
mer ein vollgültiger Teil der Rhetorik war, und das Beispiel eine seiner Formen ist, ist in
Hans Blumenberg. Metaphorologie – Unbegrifflichkeit 123

Rhetorik, in der die Rhetorik von der Philosophie einer schlechten Bewertung
unterzogen wird, findet ihre Wiederholung in der Ablehnung der Metapher als
un- oder vorbegrifflich, als etwas, was dringend in Logizität aufgelöst gehört:
kurzum als Störung, und wenn überhaupt akzeptabel als bloßer Übergang zum
Begriff. Wie sie sicher wissen, geht das historisch an einigen Stellen so weit,
dass z.B. die berühmte Royal Society of London im 17. Jahrhundert gar ein Meta-
phernverbot für ihre so philosophischen Mitglieder erließ, die, jenseits des als
verwerflich kritisierten „trick of metaphors“,6 ganz im Sinne ihres Society-Mot-
tos „Nullius in verba“ zu bündigem und einfachem Sprachgebrauch angehalten
wurden.
Keine Denunzierung rhetorischer Eloquenz – das kann ich ihnen versi-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

chern –, ist eloquenter, als die, welche bei jenen Philosophen gefunden werden
kann, die die Metapher ablehnen. Ein Beispiel: John Locke, in seinem Essay
concerning human understanding, begreift den übertragenen Sprachgebrauch,
auch die Metapher, als „imperfection and abuse of language“. Dies tut er aber
mit nichts Geringerem als jenem berühmten Attribut mit dem Martianus
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Capella, Rhetoriklehrer des 5. Jahrhunderts, seine weibliche Personifikation


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

der Rhetorik allegorisch vorgestellt hatte, nämlich außerordentlicher Schön-


heit: „Eloquence, like the fair Sex has too prevailing Beauties in it, to suffer
it self ever to be spoken against“7 – eine Kritik der Redekunst von einem
Empiristen, der den Verstand metaphorisch als tabula rasa, als leeres, die
Ideen aufnehmendes Blatt beschrieben hatte.
Sicher gibt es Metaphern, die sich durch logische Begriffe ersetzen lassen,
vielleicht sind viele auf genau dem Weg dorthin, doch gibt es eben solche, die
sich nicht in Logizität begriffsgeschichtlicher Natur auflösen lassen wollen.
Von meinem Standpunkt aus, sind dies die Interessanteren, jene, die, wenn
man sie in den großen Lexika begriffsgeschichtlicher Prägung, ich meine
die Historischen Wörterbücher der Philosophie und Rhetorik von Ritter und
Ueding, nachschlägt, einen unbefriedigenden Beigeschmack hinterlassen, der
auf ihre – wohl kaum „vorbegriffliche“ – Unauflösbarkeit in Logizität verweist.
Ich möchte dies kurz am wissenschaftlichen Zankapfel der Metapher und
ihren Verwandten verdeutlichen.

Vergessenheit geraten. Vgl. Carlo Ginzburg, Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis,
Berlin: Klaus Wagenbach, 1996, Kap. IV.
6 Vgl. Thomas Sprat/Martyn Abraham Cowley, The History oft the Royal Society of London, for
the Improving of Natural Knowledge, London: T. R., 1667, S. 112.
7 Vgl. John Locke, An Essay concerning Human Understanding, hg. v. Peter H. Nidditch, Oxford:
University Press, 1975 [1690], III, X, § 34, S. 508 sowie William Harris Stahl, Richard Johnson,
Evan L. Burge, Martianus Capella and the Seven Liberal Arts, Bd. 2, New York: Columbia Uni-
versity Press, 1971–77 [1929/1933], S. 156f.
124 Thorsten Bothe

Wenn sich manche begriffsgeschichtlich und philosophisch geschulte Altphi-


lologen den „Begriff“ der Metapher und auch die anderen sprachlichen Wen-
dungen, also die Tropen, in den antiken Rhetorik-Lehrbüchern vornehmen,
wollen sie oft nichts als Begriffsdefinitionen und diese ergänzenden Beispiele
erkennen.
Eine Realdefinition wie „Wasser ist H2O“, ist die Bestimmung eines Be-
griffs, seine sprachliche Festlegung die dann als Axiom und Fundament einer
Argumentation mit eben dieser Basisüberzeugung dient. Sie dient dazu, im
Forschungsverlauf eindeutig kommunizieren zu können. Hierbei – und das
ist nicht unwichtig – wird der Ausdruck der zu definieren ist als Definiendum
[Wasser], der definierende als Definiens [H2O] bezeichnet, das Ganze „Wasser
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

ist H2O“ ist die Definition.8


Der Beispielsatz in der Institutio Oratoriae Quintilians,9 dem Rhetoriklehr-
buch aus dem ersten Jahrhundert, zur Definition der Metapher, der gleichzei-
tig als Standardbeispiel auch immer schon Zitat ist, lautet: „Er ist ein Löwe; leo
est.“ Wenn ich zum Beispiel von Achill behaupte, er sei ein Löwe und damit
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

sagen will, er sei stark wie ein Löwe: „Comparatio est, cum dico fecisse quid
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

hominem ‚ut leonem‘, translatio, cum dico de homine ‚leo est‘; ein Vergleich ist
es, wenn ich sage, ein Mann habe etwas getan ‚wie ein Löwe‘, eine Übertragung
(also Metapher, translatio) wenn ich von dem Mann sage: ‚er ist ein Löwe‘.“10
Aus diesem hochkomplexen textuellen Sachverhalt hat sich bis heute nur die
Schulweisheit und diese im Programm der akademischen Rhetorikkurzfassun-
gen völlig verunklärt erhalten, dass die Metapher eben ein abgekürzter Ver-
gleich sei, als wenn Tropen wie Realdefinitionen funktionieren würden. Doch
die Trope selbst wird durch eine Trope definiert, denn ausgewiesen ist sie als
abgekürzter Vergleich, „wie ein Löwe“, der selbst vergleichend die Metapher
ein- und vorführt. Ob dies die Metapher wirklich definiert ist zu hinterfragen.
Der Vergleich geht der Metapher in der Rhetorik im Text voraus, die Tropen
bilden bei Quintilian eine Beispielreihe, die hierarchisch – vom Vergleich bis
zur Hyperbel – aufeinander aufbaut.

8  Weiterführend zum Problem der Extension eines Begriffs siehe Hilary Putnam, Die
Bedeutung von „Bedeutung“, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1990, S. 53ff, dort allerdings das
Problem des Beispiels, S. 53: „Zum Beispiel heißt, Wasser zu sein, mit gewissen Dingen
flüssidentisch zu sein. Aber was ist Flüssidentität? x und y sind genau dann flüssidentisch,
wenn (1) x und y beide Flüssigkeiten sind und wenn (2) x und y in ihren wichtigsten physi-
kalischen Eigenschaften übereinstimmen“.
9  Vgl. Marcus F. Quintilian, Institutionis Oratoriae. Ausbildung des Redners, hg. v. Helmut
Rahn, 2 Bde., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995.
10 Ebd., VIII, S. 6 u. S. 9.
Hans Blumenberg. Metaphorologie – Unbegrifflichkeit 125

Auch bei der Metonymie, die der Synekdoche nachfolgt, ist dies der Fall: „Nec
procul ab hoc genere discedit metonymia; nicht weit von diesem genus11 liegt
die Metonymie“12 – in deutschen Übersetzungen steht für genus stets Synekdo-
che, aber Geschlecht verdeutlicht hier den genealogischen Aufbau, die Abfolge
der Beispiele in der Tropenreihe, ihre Verwandtschaft. Es ist eine hochproble-
matische, in ihrer Wirkung oft verkannte Einführung. – Eine Einführung,

die präziser, aber auch leichthändiger nicht sein könnte, denn schon die
sachliche Nachbarschaft zur Synekdoche, die das zuvor behandelte ge-
nus ist, genauer jedoch die Unterstreichung des bloßen ‚Nicht weit da-
von‘, das die sachliche Nähe in der sachlich richtigen, nämlich durchaus
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

‚unsachlichen‘ Arbitrarität metonymischer Nachbarschaft einführt, defi-


niert nicht einfach nur, sondern impliziert in der Einführung die Vorfüh-
rung des Eingeführten. Metonymie, noch bevor sie bestimmt wird als das,
was sie ist, wird eingeführt wie sie ist.13
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Von diesen beiden Beispielen, der Metapher und der Metonymie, gilt ohne
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

weiteres, dass „ ‚das Definierte ist‘, was es logisch nicht sein darf, ‚im Definie-
renden der Definition mit eingeschlossen‘, das definiendum impliziert im defi-
niens der Definition“,14 so die wörtliche Diagnose aus der Weißen Mythologie
Derridas,15 mit Anspielung auf die Termini der klassischen Definitionstheorie,
auf die das Original im Französischen insistiert. Die These muss also lauten,
dass die genannten Stellen nicht (nur) rhetorisch definieren, was eine Trope
ist – wenn sie überhaupt definieren, sondern in der Einführung der Beispiele
diese exemplarisch vorführen. Diese Vorführung ist die Inszenierung und ein
Modus der Darstellung von Wissen über die rhetorische téchnē selbst, das allein
durch Konstatierung, also philosophisch, nicht zu sagen wäre. So macht uns
diese metaphorologische Pointe im Kleinen aufmerksam darauf, dass die Über-
setzung solcher Phänomene in logische Begrifflichkeiten zwar möglich sein
könnte, aber nicht ohne Gehaltsverlust. Nicht um die logische Verlegenheit der
Rhetorik geht es, sondern um eigenständige Wissensformen der Darstellung,
die vielleicht nicht an den Wahrheiten der Philosophie gemessen werden

11 Anselm Haverkamp, „Auswendigkeit. Das Gedächtnis der Rhetorik“, in: Figura cryptica.
Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, S. 130.
12 Ebd., VIII, S: 6 u. S. 23.
13 Anselm Haverkamp, „Auswendigkeit. Das Gedächtnis der Rhetorik“, in: Figura cryptica.
Theorie der literarischen Latenz, a.a.O., S. 130.
14 Ebd., S. 128 u. S. 129.
15 Jacques Derrida, „Mythologie blanche“, in: Marges – De la philosophie, hg. v. Ders., Paris:
Les Éditions de Minuit, 1972, S. 274.
126 Thorsten Bothe

können, dafür aber verdeutlichen, „weshalb die Wissenschaft etwas wissen


wollte, […] was zu wissen nun mit Enttäuschung verbunden ist“.16 – Womit ich
Sie gerne ungewiss in ihren akademischen Alltag zurück entlasse.

Literatur

Blumenberg, Hans, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp,


1998.
Blumenberg, Hans, Theorie der Unbegrifflichkeit, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

a. M.: Suhrkamp, 2007.


Curtius, Ernst Robert, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, 11. Aufl.,
Tübingen/Basel: Francke, 1993 [1948].
Derrida, Jacques, „Mythologie blanche“, in: Marges – De la philosophie, hg. v. Ders.,
Paris: Les Éditions de Minuit, 1972.
Descartes, René, Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

vérité dans les sciences. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

wissenschaftlichen Forschung, Französisch-Deutsch, hg. v. Lüder Gäbe unter Mitw.


v. George Heffernan, Hamburg: Meiner, 1997 [1637].
Ginzburg, Carlo, Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis, Berlin: Klaus
Wagenbach, 1996.
Haverkamp, Anselm, „Auswendigkeit. Das Gedächtnis der Rhetorik“, in: Figura crypti-
ca. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002.
Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft, hg. v. Karl Vorländer, Hamburg: Meiner, 1990.
Locke, John, An Essay concerning Human Understanding, hg. v. Peter H. Nidditch,
Oxford: University Press, 1975 [1690].
Putnam, Hilary, Die Bedeutung von „Bedeutung“, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1990.
Quintilian, Marcus F., Institutionis Oratoriae. Ausbildung des Redners, hg. v. Helmut
Rahn, 2 Bde., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995.
Savage, Robert, „Translator’s Afterword. Metaphorology: A Beginner’s Guide“, in: Para-
digms for a Metaphorology, hg. v. Hans Blumenberg, Ithaca/New York: Cornell, 2010,
S. 133–146.
Sprat, Thomas/Abraham Cowley, Martyn, The History oft the Royal Society of London,
for the Improving of Natural Knowledge, London: T. R., 1667.
Stahl, William Harris, Johnson, Richard, Burge, Evan L., Martianus Capella and the
Seven Liberal Arts, Bd. 2, New York: Columbia University Press, 1971–77 [1929/1933].

16 Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt


a. M.: Suhrkamp, 2007, S. 87.
Kerstin Andermann

Natur und Norm. Spinozas immanente Ordnung


der Natur

Die verschiedenen Interpretationen, denen das Denken des Amsterdamer


Philosophen Baruch de Spinoza seit der posthumen Veröffentlichung seiner
Werke im Jahre 1677 unterworfen wurde, decken sich auf die eine oder andere
Weise in der Frage nach der Natur. Daran wird deutlich, dass die philosophi-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

sche Auslegung der Natur unmittelbar auch die Frage der menschlichen Exis-
tenz betrifft. Im Begriff der Natur spiegeln sich die Dimensionen des Geistes,
der Geschichte und der Kultur und das bedeutet, dass sich im Verständnis der
Natur zeigt, wie die Modi menschlicher Existenz zu denken sind. In der wie-
derkehrenden philosophischen Verständigung über Natur wird aber auch eine
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Abgrenzung des philosophischen Denkens gegen Kontingenz deutlich, und


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

dabei steht der Selbstauslegung des Menschen immer wieder das Leitbild einer
natura incorrupta gegenüber. Die Vorstellung einer latenten und überzeit-
lichen Integrität ursprünglicher Natur begleitet das philosophische Denken
und auch die mit Kant und Rousseau einsetzende Orientierung der Naturaus-
legung am Maß des Menschen, erweist sich letztlich als Kritik im Namen der
Natur. Natur nimmt damit die Funktion einer ursprünglichen Einheit und den
Charakter einer Norm an, von der aus Abweichungen je als Formen nachträg-
licher Entfremdung erscheinen. Heute kann es nicht mehr darum gehen, sich
antinaturalistisch oder konstruktivistisch gegen naturalisierendes Denken
auszusprechen. Heute stehen wir vielmehr vor der Herausforderung, gar nicht
mehr im Namen einer Natur sprechen zu können, denn es scheint unmöglich,
zu ihr zurück zu gelangen, oder sie auch nur als eine Orientierungsinstanz
unseres Handelns zu begreifen. Wir sind also herausgefordert, das Verhältnis
von Natur und Norm zu überdenken. Und vielleicht lässt sich von da aus auch
der Zusammenhang von Natur und Freiheit in ein neues Licht stellen.
Ein Angebot in dieser Richtung verbindet sich heute mit dem Namen Spi-
nozas. Von ihm geht das Versprechen eines Neuanfangs in der Frage nach
der Natur und dem Menschen aus. Man bezieht sich damit erneut auf einen
Denker, der in rationalistischem Duktus und metaphysischer Ausrichtung das
Ganze der Natur zu erfassen gesucht hat und dabei die ordnende Funktion
der Ontologie im Sinne des frühneuzeitlichen Anspruchs genutzt hat, die Welt
als Ganzes erklärbar zu machen und die Weltkonvergenz der metaphysischen
Bestimmungen sicherzustellen. Die Einheitsbegriffe von Gott, Natur und

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_022


128 Kerstin Andermann

Substanz dienten ihm dazu, die Wirklichkeit auf der Grundlage einer ontolo-
gischen Bestimmung des Ganzen erfassbar zu machen und dabei das Eine und
das Viele in ein modales Verhältnis zu bringen. Spinoza musste die cartesia-
nische Frontstellung gegen die ausgedehnte Welt nicht weiter fundieren, um
die Freiheit des Menschen gegenüber der Natur denken zu können. Er wollte
vielmehr zeigen, dass der Mensch allein als Teil der Natur zur Freiheit kommt,
und dass die Intelligibilität des Menschen nur als ein Teil der Intelligibilität der
Natur verstehbar ist.
Spinoza beginnt sein System in der Ethica von 1677 mit einer Kritik der
Voraussetzungen des Anfangs, indem er mit der Ontologie als einer Theorie
der elementaren Dimensionen von Wirklichkeit und der Bestimmung einer
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Essenz einsetzt, die Ursache und Voraussetzung ihrer selbst ist und ihre eigene
Existenz einschließt. Mit dem Prinzip der causa sui stellt er eine immanente
Selbstursache, das heißt eine sich selbst erzeugende Unterscheidung an den
Anfang, um die Emergenz seines Systems voraussetzungskritisch und ohne
transzendente Herleitungen aufzubauen und den Gesamtzusammenhang des
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Seins weder in etwas Größeres einzuschließen noch ihm eine prima causa zu
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

unterlegen. Immanenz ist der allgemeine Horizont, in dem Spinoza die Frei-
heit findet, die Natur als Ganzes nach ihren eigenen Bedingungen zu verstehen.
Die radikale Selbstständigkeit und Unbedingtheit der Substanz, die die Natur
ist, setzt voraus, dass es nur eine Substanz geben kann. In ihr differenzieren
sich die Attribute der Ausdehnung und des Denkens und Spinoza stellt diese
Attribute in ein horizontales Verhältnis. Er vermeidet ihre Hierarchisierung
und somit gibt es keine Überordnung des Intelligiblen über das Körperliche
und nichts, was der Natur übergeordnet wäre, sondern nur ihre verschiedenen
Attribute und daraus hervorgehend ihre Modi in mannigfaltigen Verbindungen.
Der Begriff der Natur wird nicht in derselben systematischen Weise be-
stimmt, wie die anderen Grundbegriffe in Spinozas Ontologie. Natur drückt
sich vielmehr als eine Macht im Sinne der potentia aus, d.h. als eine imma-
nente „Macht der natürlichen Dinge (rerum naturalium potentia)“.1 Spinoza
gibt der Natur damit ihre Virtualität und ihre Potentialität zurück und sucht
mit der Unterscheidung von natura naturans und natura naturata seine Vor-
stellung einer dynamischen und in unterschiedlichen Ausdrucksformen wan-
delbaren Welt zu markieren. Natur ist schaffende Natur (natura naturans),
während die durch sie zum Ausdruck kommenden Modi geschaffene Natur
(natura naturata) sind. Hier zeigt sich ein Begriff der Natur, wie er dem la-
teinischen Verb naturare zugrunde liegt, das den aktiven, hervorbringenden

1 Baruch de Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat, Hamburg: Felix Meiner, 1994 [1677], S. 15.
Natur und Norm. Spinozas immanente Ordnung der Natur 129

Charakter der natura deutlich macht und weit über ihre reine Bestimmung als
essentia hinausgeht.
Die drei Einheitsbegriffe von Natur, Gott und Substanz werden im Sinne
eines methodischen Holismus verwendet, der eine in ihm herrschende Plurali-
tät und Dynamik umfasst. Spinozas Grundbegriffe nehmen eine rein nominale
Funktion ein. Durch ihren nominalistischen Gebrauch sperrt er sie gegen ihre
Verdinglichung und gelangt zu einem antiessentialistischen Naturbegriff und
einer dynamisierenden Desubstanzialisierung des Einheitsdenkens von Na-
tur. Spinozas Natur kann also als eine Instanz verstanden werden, die keinen
fundierenden Charakter hat und nicht in apriorischer Unabhängigkeit gegen
ihre Ausdrucksformen steht, sondern die vielmehr in einer immanenten Kon-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

zeption von Kräften und Relationen aufgeht. Natur ist keine determinierende
Instanz, sondern Natur ist gerade die Potentialität pluraler Verbindungen und
Formen. Von diesen Grundlagen ausgehend, verortet Spinoza auch den Men-
schen in einem naturgesetzlich bestimmten Ganzen, denn die gemeinsame
Natur der Menschen ist ihr Sein als Modi einer unendlichen Substanz in einem
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Gesamtzusammenhang immanenter Kausalität. Der Mensch ist nicht zu be-


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

handeln wie ein Staat im Staat, nicht wie etwas, das außerhalb der Natur liegt,
sondern, wie andere natürliche Dinge auch, nach der inneren Notwendigkeit
und den allgemeinen Gesetzen der Natur.
Unter diesen Voraussetzungen ist Naturalisierung also keine Rückführung
auf eine vorgängige Einheit, sondern vielmehr der Versuch, die mannigfaltigen
Modi des Ausdrucks der Natur je selbst als ihre immanenten Teile zu verste-
hen. Für die Natur gibt es kein Außen, keine transzendenten Instanzen, aus
deren Gesetz sich normative Gehalte ableiten ließen. Und daher gibt es für
Spinoza auch kein Sein und kein Sollen, nichts Gutes und nichts Schlechtes
in der Natur. Die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der Dinge ist kei-
ne normative Frage von gut und schlecht, denn diese Werte entspringen nur
den jeweiligen Affektionen mit denen die Menschen umzugehen haben. Die
Vollkommenheit der Dinge ist vielmehr eine Potentialität, d.h. eine Macht im
Sinne der potentia und damit sind die Qualifizierungen von gut und schlecht
ein mehr oder weniger entfaltetes Potential der Natur und die Macht der Dinge
ist ihre Macht, sich als Natur zu entfalten. Spinoza leitet aus seiner ontologi-
schen Konzeption eine strikt antimoralische Haltung den so unterschiedlichen
Dingen der Natur gegenüber her. Realität und Vollkommenheit sind für ihn ein
und dasselbe, weil die unterschiedlichen Dinge in ihrer jeweiligen Form ihr
zur individuellen Vollkommenheit realisiertes Vermögen sind. Der Eindruck
der Unvollkommenheit eines Individuums kommt nur dadurch zustande, dass
wir es auf ein ursprüngliches Wesen, wie auf eine Norm zurückführen und an
diesem abgleichen. Spinoza beurteilt die Schwächen und Fehler der Menschen
130 Kerstin Andermann

nicht, sondern ist überzeugt: „Es geschieht nichts in der Natur, was ihr selbst
als Fehler angerechnet werden könnte; denn die Natur ist immer dieselbe, […]
d.h. die Gesetze und Regeln der Natur, nach denen alles geschieht und aus
einer Form in eine andere sich verändert, sind überall und immer dieselben.“2
Unter Vollkommenheit versteht Spinoza also die jeweilige Realität eines Din-
ges, d.h. die Weise in der es existiert und wirkend ist. Im Vergleich sehen wir,
dass die Dinge mehr oder weniger Realität haben und wir nennen sie vollkom-
men oder unvollkommen, je nach ihrem Grad an Realität. Es ist also das in
seiner Art vollkommen, was in der Natur ist und an der Positivität der Natur
teilhat und das unvollkommen, was nicht oder graduell weniger an der imma-
nenten Kausalität der Natur teilhat. So wird deutlich, warum das, was in der
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Natur ist, in der jeweiligen Art in der es in der Natur ist, vollkommen ist und die
Gleichwertigkeit der Dinge wird aus der Immanenz der Natur erklärt.
Spinoza bietet uns also eine Konzeption von Normen, die nicht auf Model-
len der Negation, der Verwerfung, der Ausschließung oder der Pathologisie-
rung beruht, sondern diese eher im Sinne immanenter Kräfte versteht. Der
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Gegenstand einer Norm geht dieser nicht voraus und kann sich dementspre-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

chend nicht von ihr befreien, sondern die Wirkung von Normen kann ledig-
lich moduliert werden. Subjekt und Objekt der Norm stehen nicht in einem
vertikalen Konstitutionsverhältnis, sondern unterstehen einer immanenten
Potentialität, die sich im Moment ihrer Wirkung realisiert. Eine Norm wirkt
in diesem Sinne nicht auf vorhandene Elemente ein, sondern realisiert sich
erst in ihrer Wirkung und in ihrem Ausdruck. Es gibt keine Wahrheit und kei-
nen Wert der Normen, der diesseits oder jenseits ihrer Wirkungen zu finden
wäre. Normen immanent zu denken heißt nicht, zwischen normierender und
normierter Kraft, wie zwischen Herr und Knecht, zu unterscheiden, sondern
vielmehr, ihre Konstitution in einer Natur anzunehmen, in der sich Individua-
tion durch die Modulierung von Normen vollzieht. Normen zu verstehen heißt
nach Spinoza, sich in einer Dynamik normierender Kräfte zu bewegen und sie
in ihrer immanenten Kausalität zu erkennen.
Nimmt man den Gedanken einer immanenten Natur ernst, entfaltet sich
der Mensch nicht gegen die Natur und in Absetzung von ihr, sondern in Kon-
tinuität zur Natur. So muss auch die Freiheit im Ausgang dieser Kontinuität
gedacht werden, denn der Mensch steht der Natur nicht gegenüber und sollte
diese nicht als Beschränkung seiner Freiheit verstehen. Frei zu sein kann nicht
länger heißen, sich der Natur entgegen zu setzen, sondern frei zu sein heißt,
die Intelligibilität der Natur als die eigene zu erkennen. Spinoza wusste, dass
die Menschen das Verhältnis von Natur und Freiheit falsch verstehen und

2 Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, a.a.O., E3praef, S. 221.


Natur und Norm. Spinozas immanente Ordnung der Natur 131

dass sie – wie er im Theologisch-politischen Traktat – schreibt: „für ihre Knecht-


schaft kämpfen, als sei es für ihr Heil“.

Literatur

Spinoza, Baruch de, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Hamburg: Felix


Meiner, 2007 [1677].
Spinoza, Baruch de, Theologisch-Politischer Traktat, Hamburg: Felix Meiner, 1994
[1677].
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Paul Matthews

Über Grenzen zwischen Mensch und Tier

In den vergangen 20 Jahren aber besonders seit dem 11. September 2001
sind hunderte von neuen Grenzen weltweit entstanden: Kilometerlange
Stacheldrahtzäune, eine Unmenge neuer Schutzmauern, zahlreiche Offshore-
Gefangenenlager, biometrische Reisepass-Databanken, und Sicherheitskontrol-
len aller Arten.1
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Dies hebt der Philosoph Thomas Nail am Anfang seines kürzlich veröffentlich-
ten Buchs, Theory of the Border, hervor. In einer Zeit, in der ich zum Beispiel
nach Kalifornien oder auch nach Südafrika hin und zurück fliegen kann für
den halben Preis eines iPhone 7, visumfrei könnte man meinen, dass über-
all Grenzen verschwinden. Aber in der Tat, genau das Gegenteil passiert. Im
Jahr 2015 wurden mehr Mauern zwischen Nachbarländern gebaut als zu je-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dem anderen Zeitpunkt in der menschlichen Geschichte und weitere werden


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

momentan errichtet.
Aber dieser Beitrag trägt den Titel Über Grenzen zwischen Mensch und Tier.
Was haben solche Grenzen – sichtbare Grenzanlagen und Kontrollen zwi-
schen Ländern mit Grenzen zwischen Menschen und Tieren – zu tun? Gemäß
Nail ist die Grenze „ein Prozess sozialer Spaltung“. Sie führt „eine Zweiteilung
oder eine Gabelung von irgendeiner Art in die Welt ein“.2 Aber Grenzen, alle
Grenzen – wie Étienne Balibar gesagt hat – „haben eine Geschichte; der Begriff
der Grenze hat eine Geschichte“.3 Und wenn wir lang genug zurück in die Zeit
reisen, sehen wir, dass Grenzen oder genauer gesagt die Fähigkeit, Grenzen zu
setzen und zu erkennen, eine zentrale Eigenschaft ist, die zumindest gemäß
manchen PhilosophInnen und AnthropologInnen den Menschen von ande-
ren Tieren unterscheidet. Zusammen mit der Sprache oder der Vernunft und
unzähligen anderen Eigentümlichkeiten gilt sie als ein spezifisches Merkmal.
Friedrich Hegel behauptet in seinen Vorlesungen über die Philosophie der
Religion aus dem Jahr 1827: „Das Tier, der Stein, weiß nicht von seiner Schran-
ke.“4 Menschen wissen im Gegensatz dazu, dass sie „beschränkte Wesen“ sind.
Aber sobald wir wissen, dass wir beschränkt sind, haben wir bereits die Grenze,

1 Thomas Nail, Theory of the Border, Oxford: Oxford University Press, 2016, S. 1.
2 Ebd., S. 2.
3 Étienne Balibar, Politics and the Other Scene, London/New York: Verso, 2002, S. 77.
4 Georg W. F. Hegel, Vorlesungen über Die Philosophie Der Religion I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
1986, S. 317.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_023


134 Paul Matthews

die alle Tiere beschränkt, überschritten. „Ich“, schreibt Hegel, „das Wissen, das
Denken überhaupt, ist beschränkt, aber es weiß von der Schranke, und eben
in diesem Wissen ist die Schranke nur Schranke, nur ein Negatives außer uns,
und bin ich darüber hinaus.“5 Zu sagen, dass der Mensch das einzige Tier ist,
das wissen kann, dass es beschränkt ist, ist nur ein anderer Weg um zu sagen,
dass nur der Mensch denken kann.
Obwohl alle Menschen von Natur aus denken, sind wir vermutlich mit der
Zeit viel besser darin geworden: „Gedacht haben zwar die Menschen von An-
fang an, denn nur durch das Denken unterschieden sie sich von den Tieren;
allein es haben Jahrtausende dazu gehört, bevor es dazu gekommen ist, das
Denken in seiner Reinheit und dasselbe zugleich als das schlechthin Objek-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

tive zu erfassen.“6 Nach Hegel ist die menschliche Geschichte die Geschichte
unserer geistigen Entwicklung oder, genauer gesagt, die gemeinsame Entwick-
lung der Gestalten des menschlichen Bewusstseins und des Geistes – eine
Geschichte die von dem abstrakten leeren Sein (das als „Ich=Ich“ bestimmt
werden kann) bis zur absoluten Idee (die in der Religion und besonders in
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

der Philosophie ihren höchsten Ausdruck findet) läuft. Am Anfang dieser Ge-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

schichte könnten wir zwar Unterscheidungen machen, Grenzen setzen, und


so weiter, aber damals waren solche Grenzen noch nicht festgelegt – sie waren
noch unscharf, verschwommen, oder „fuzzy“.
Émile Durkheim und Marcel Mauss behaupteten in ihrem 1903 erschie-
nenen Aufsatz „Über einige primitive Formen von Klassifikation“, dass „der
Zustand fehlender Unterscheidung, von dem der menschliche Geist seinen
Ausgang genommen hat, [sich] gar nicht übertreiben“7 lasse. Sie fahren fort:

Wenn wir bis zu den am wenigsten entwickelten Gesellschaften zurückgehen,


die wir kennen, zu jenen Gesellschaften, die die Deutschen recht vage mit dem
Ausdruck Naturvölker bezeichnen, so stoßen wir auf eine noch vollkommene
geistige Verwirrung. Hier verliert gar das Individuum seine Persönlichkeit.
Zwischen ihm und seiner äußeren Seele, zwischen ihm und seinem Totem,
besteht völlige Unterschiedslosigkeit … Ursprünglich sah man Tiere, Menschen
und unbelebte Objekte nahezu ausnahmslos in einem Verhältnis der vollkom-
mensten Identität stehend.8

5 Ebd.
6 Georg W. F. Hegel, Die Wissenschaft Der Logik, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl M. Michel, Frank-
furt a. M.: Suhrkamp, 1970, §86 Z.
7 Émile Durkheim/Marcel Mauss, „Über einige primitive Formen von Klassifikation“, in:
Schriften Zur Soziologie Der Erkenntnis, hg. v. Hans Joas, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987
[1903], S. 174.
8 Ebd., S. 174f.
Über Grenzen zwischen Mensch und Tier 135

Nur schrittweise sind wir allmählich durch einen Prozess sozialer Entwick-
lung dazu gekommen, klar zu denken, die Fähigkeit zu erwerben, ähnliche
Dinge zusammenzufassen, sie gewissermaßen, gemäß Durkheim und Mauss,
„in einem idealen, von klar definierten Grenzen umschlossenen Raum zu ver-
einen und dann als Gattungen oder Arten zu bezeichnen“.9
Wenn Menschen nie gelernt hätten, sich von anderen Tieren sowie von
Pflanzen und leblosen Objekten zu unterscheiden, wären die Menschen nie
Menschen geworden. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben führt aus,
und ich stimme zu, dass „die Festlegung der Grenze zwischen Humanem und
Animalischen … eine grundlegende metaphysisch-politische Operation [ist],
durch die alleine so etwas wie ein ‚Mensch‘ bestimmt und hergestellt werden
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

kann“.10 Ohne diese Grenze zu leben wäre „gefährlich“ für das menschliche
Leben. Friedrich Nietzsche hat das schon im Jahr 1874 erkannt als er ge-
schrieben hat, dass der „Mangel aller cardinalen Verschiedenheiten zwischen
Mensch und Tier … wahr … aber tödlich“ ist“.11 Ohne eine feste Grenze zwi-
schen Mensch und Tier werden der Mensch, so wie wir ihn kennen gelernt
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

haben, und darüber hinaus das Tier und das Göttliche undenkbar.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Aber ist nicht genau dies schon passiert? Seit Darwin, aber besonders in den
letzten 30 Jahren hat sich die Grenze zwischen Tieren und Menschen, wie der
Primatenforscher und Ethnologe Frans de Waal bemerkt hat, „in einen Schwei-
zer Gruyère voller Löcher verwandelt“.12 Wir finden immer wieder Fähigkeiten
im Tierreich, von denen wir früher gedacht haben, dass nur der Mensch sie
aufweist. Leute, die von der Tatsache menschlicher Einzigartigkeit überzeugt
sind, sind nach de Waal damit konfrontiert, dass „entweder sie die Komple-
xität menschlichen Verhaltens stark überschätzen oder aber die Fähigkeiten
anderer Spezies unterschätzen“.13 Aber ich will nicht den Versuch machen, zu
zeigen, dass es keine Grenze zwischen uns und anderen Tieren gibt. Trotz der
Tatsache, dass, um wieder einmal auf Nietzsche zurückzugreifen, „die Wissen-
schaft den Menschen lehrt, sich als Tier zu betrachten“,14 gibt es offensichtlich
eine Grenze. Überall gibt es Grenzen in Form von Zäunen, Mauern, Käfigen,

9  Émile Durkheim/Marcel Mauss, „Über einige primitive Formen von Klassifikation“, in:
Schriften Zur Soziologie Der Erkenntnis, a.a.O., S. 176.
10 Giorgio Agamben, Das Offene, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, S. 31.
11 Friedrich Nietzsche, „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, in: Kritische
Gesamtausgabe. Werke und Briefe, begr. v. Giogio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New
York: Walter de Gruyter, 1975 [1870], § 9.
12 Frans de Waal, Are We Smart Enough to Know How Smart Animals Are?, London: Granta,
2016, S. 268.
13 Ebd., S. 268.
14 Friedrich Nietzsche, „Nachgelassene Fragmente, in: Kritische Gesamtausgabe. Werke und
Briefe, a.a.O., 5[36], http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/NF-1870,5.
136 Paul Matthews

Gehäusen und Gehegen, unter anderen. Aber sogar solche Grenzen haben
eine Geschichte. Das heißt, dass sie immer in Bewegung sind und diese Be-
wegung unseren Begriff vom Menschen beeinflusst. Jaques Derrida zufolge,
durchläuft diese Geschichte momentan „eine außerordentliche Phase … für
die wir keinerlei Maßstab besitzen“.15 Wir müssen lernen, danach zu handeln.

Literatur

Agamben, Giorgio, Das Offene, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003.


wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Balibar, Étienne, Politics and the Other Scene, London/New York: Verso, 2002.
Derrida, Jacques, Das Tier, Das ich also Bin, Wien: Passagen, 2006.
Durkheim, Émile/Mauss, Marcel, „Über einige primitive Formen von Klassifikation“,
in: Schriften Zur Soziologie Der Erkenntnis, hg. v. Hans Joas, Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp, 1987 [1903].
Hegel, Georg W. F., Die Wissenschaft Der Logik, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl M. Michel,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1970.


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Hegel, Georg W. F., Vorlesungen über Die Philosophie Der Religion I, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 1986.
Neil, Thomas, Theory of the Border, Oxford: Oxford University Press, 2016.
Nietzsche, Friedrich Kritische Gesamtausgabe. Werke und Briefe, begr. v. Giogio Colli/
Mazzino Montinari, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1975 [1870].
Waal, Frans de, Are We Smart Enough to Know How Smart Animals Are?, London:
Granta, 2016.

15 Jacques Derrida, Das Tier, Das ich also bin, Wien: Passagen, 2006, S. 57.
Kristin Drechsler

Was geht uns der Tod an?

Was geht uns der Tod an? Eigentlich eine unsinnige Frage, denn, wenn es et-
was gibt, dessen wir uns sicher sein können, ist es doch wohl, dass wir sterben
werden und der Tod uns so gesehen immer irgendwie etwas angeht und wir
uns ihm ganz gleich, ob wir unsere Aufmerksamkeit auf ihn richten oder nicht,
nicht entziehen können.
Ja, schon in der banalsten alltäglichen Tätigkeit, wie z.B. wenn ich eine
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Schüssel vom oberen Küchenschrankfach holen möchte, wofür ich z.B. auf
einen Tritthocker steigen muss, bin ich dem Tod sehr nah. Man denke an
Statistiken, wonach sich mehr tödliche Unfälle im Haushalt ereignen als im
Straßenverkehr.
Aber ist das wirklich so? Bin ich dem Tod in diesen Momenten wirklich
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

‚nah‘? Geht er mich wirklich an?


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Zeichnet sich der Tod nicht gerade dadurch aus, dass ich ihm eben nicht
nah sein kann, da es in seiner Nähe dieses ‚ich‘ ja gerade nicht mehr gibt?
Zwar ist unser Sein immer schon ein „Sein-zum-Tode“, wie es Martin Hei-
degger in Sein und Zeit ausführt und unsere Lebenswelt demnach immer auch
eine Sterbenswelt. Und doch geht der Tod uns hier nur indirekt an, da er zwar
der Horizont des Lebens ist, aber selbst stets uneinholbarer Negativraum
bleibt. Er ist nicht bestimmbar, nicht erlebbar oder erfahrbar.
Diese Nicht-Bestimmbarkeit des Todes kann zu einer Haltung verleiten, die
für die Moderne häufig als symptomatisch angesehen wird und die der franzö-
sische Historiker Philippe Ariès in seiner wegweisenden Studie zur Geschichte
des Todes als „kollektive Verschwörung des Schweigens“ bezeichnet.
Von einem Schweigen bezüglich des Todes zu sprechen erscheint wiederum
vor dem Hintergrund gegenwärtiger Diskussionen z.B. um ein selbstbestimm-
tes Sterben oder bezüglich der Frage nach der aktiven/passiven Sterbehilfe
merkwürdig.
Diese Debatten berühren jedoch die Problematik, die Ariès der modernen
Gesellschaft diagnostiziert, nicht. So scheint es zwar so, als wäre der Tod ge-
wissermaßen in der Mitte der Gesellschaft angekommen, zugleich ist für die
moderne Lebenswelt eine „Ausbürgerung der Toten“ in Krankenhäuser oder
Pflegeheime symptomatisch, wo der, so Ariès, „mit Röhrchen und Schläuchen
gespickte“ Sterbende als Patient um seinen Tod betrogen werde.
Das, worum der Sterbende betrogen wird, bezeichnet er unter anderem als
eine ‚würdige Vorbereitung auf das Sterben‘. Auch Walter Benjamin spricht

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_024


138 Kristin Drechsler

davon, dass es der unbewusste „Hauptzweck“ der modernen Gesellschaft sei,


„den Leuten die Möglichkeit zu verschaffen, sich dem Anblick von Sterbenden
zu entziehen“.
So lässt sich die Frage Was geht uns der Tod an? auch als Ausdruck einer
Haltung dem Sterben gegenüber verstehen und zwar im Sinne eines ‚Was geht
mich das alles an? Ich kümmere mich lieber um andere Dinge’ – was in der
Ausbürgerung der Toten gewissermaßen sinnfällig wird.
In der Philosophie finden sich vor allem zwei Antworten auf die Frage, was
der Tod uns angeht, die wiederum jeweils an ein spezifisches Todesverständnis
gekoppelt sind: einmal, dass der Tod ein Übergangsgeschehen ist (eine Auffas-
sung, die besonders im religiösen Kontext weiterhin bedeutsam ist) und weiter,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

dass mit dem Tod schlichtweg ein Endpunkt gesetzt ist und er uns deshalb
nicht weiter zu kümmern braucht.
Ein frühes Zeugnis der ersten Vorstellung, wonach der Tod eine Schwelle in
eine andere Welt ist, findet sich in Platons Phaidon. Hier wird das letzte Auf-
einandertreffen von Sokrates und seinen Anhängern geschildert.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Mit dem Tod, so die These, löst sich die Seele vom Körper. Das Sterben ist
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

deshalb (für den Philosophen) kein trauriges, sondern im Gegenteil ein fröh-
liches Ereignis. Schließlich gehe die Seele im Tod zu dem ihr Ähnlichen, dem
Unsichtbaren, Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen – also dem Reich der
Ideen – über. Da das Ziel des Philosophierens ist, sich zu Lebzeiten so nahe
wie möglich in Richtung der von den Sinnen ungetrübten Wahrheit zu bewe-
gen, ist die Philosophie so gesehen immer schon eine Vorbereitung auf den
Tod, weshalb der Tod, so Platon, den Philosophen „unter allen Menschen am
wenigsten furchtbar“ ist.
Dem gegenüber steht die Auffassung Epikurs, bei dem es heißt:

Gewöhne dich ferner daran zu glauben, der Tod sei nichts, was uns betrifft. Denn
alles Gute und Schlimme ist nur in der Empfindung gegeben; der Tod aber ist die
Vernichtung der Empfindung. […] Das Schauererregendste aller Übel, der Tod,
betrifft uns überhaupt nicht; wenn ‚wir‘ sind, ist der Tod nicht da; wenn der Tod
da ist, sind ‚wir‘ nicht.

Epikurs Auffassung vom Tod liegt ein atomistisches Seele- und Körperver-
ständnis zugrunde, das auf Demokrit zurückreicht und besagt, dass sowohl
Körper als auch Seele im Tod nicht mehr sind und sich auflösen.
In seinem Essay Philosophieren heißt sterben lernen führt Montaigne diese
beiden voneinander abweichenden Positionen zusammen und verbindet die
epikuräische Endlichkeit mit der platonischen Sinnhaftigkeit.
Der Tod wird bei ihm zur entscheidenden Wirklichkeit des Lebens, da erst
das Bewusstsein über unsere Sterblichkeit uns das Gefühl des Lebendigseins
Was geht uns der Tod an ? 139

vermittelt: „Wir müssen versuchen, ihm seine furchtbare Fremdartigkeit zu


nehmen, mit Geschick an ihn heranzukommen, uns an ihn zu gewöhnen,
nichts anderes so oft wie den Tod im Kopf zu haben“, heißt es bei Montaigne.
Montaignes an Platon angelehntes Diktum ‚Philosophieren heißt Sterben
lernen‘ ist jedoch keine morbide Auslegung der Philosophie, sondern steht
vielmehr für eine Hinwendung zum Leben, wozu auch das Bewusstsein an die
Sterblichkeit gehört. Allein daraus ergibt sich seine Forderung, den Tod so viel
wie möglich in das Bewusstsein zu heben, um frei von Furcht und Sorge zu
sein. Einerseits gelte es, sich an den Gedanken des Todes zu gewöhnen und
sich zugleich damit abzufinden, dass wir nicht unsterblich sind: „Ich will, dass
der Tod mich beim Kohlpflanzen antreffe – aber derart, dass ich mich weder
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

über ihn noch gar über meinen noch unfertigen Garten gräme.“
Montaignes „Garten“ kann hier stellvertretend für die Bemühungen des
täglichen Lebens gelten, der Tod soll nicht daran erinnern, was vielleicht un-
erledigt ist, sondern einen wirklichen Endpunkt setzen, zugleich legt sein
Ausspruch nahe, dass hier der Schrecken und das Leiden an der Sterblichkeit
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

überwunden sind: der Tod ist Teil alltäglicher Beschäftigungen, kein Unglücks-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

geschehen, an dem zu leiden wäre.


Einen gesellschaftlichen Niederschlag eines derart akzeptierenden Umgangs
mit der Sterblichkeit findet sich meinem Erachten nach in der modernen
Hospizbewegung.
Schon im Begriff Hospiz, was Herberge, Gastfreundschaft oder Raststätte
meint, deutet sich ein Umgang mit Sterben und Tod an, der der „kollektiven
Verschwörung des Schweigens“, die Ariès der Moderne diagnostiziert, eine
Alternative bietet.
Cicely Saunders, die Vorreiterin der Palliativmedizin und Begründerin der
modernen Hospizbewegung fasst ihr Anliegen wie folgt zusammen: „Es geht
nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.“
In dieser schlichten Formel steckt eine ähnliche Haltung zum Tod, wie sie
sich bei Montaigne findet. Auch hier ist der Tod weder zu vermeidendes Übel
noch ist sicher, ob mit ihm eine Schwelle in eine andere Welt überschritten
wird.
Doch was das Entscheidende für mich an dieser Stelle ist, ist, dass der Tod
und das Sterben hier nicht als Vereinzelung, sondern als Beziehungsgeschehen
in den Blick rücken.
Ich habe anfangs überlegt, ob man überhaupt davon sprechen kann, dass
der Tod uns nahe ist oder ob es nicht vielmehr unsinnig ist davon zu sprechen,
da er stets uneinholbares Negativmoment des Lebens ist.
Verstehe ich mich als vereinzeltes Selbst mag diese Auffassung zutreffen,
dann wäre auch Heidegger zuzustimmen, wenn er meint, dass der Tod jedes
140 Kristin Drechsler

Mitsein mit anderen ausschließt. Doch damit kann ich mich nicht abfinden.
Da es meinem eigenen Erleben entgegensteht. Denn stoße ich nicht in der
Einsicht in die Möglichkeit meines Todes immer auch an die Möglichkeit des
Todes meiner Mitmenschen?
Emmanuel Levinas zufolge bestimmt sich das „Verhältnis zwischen mir und
dem Anderen darin, von seinem Dem-Tode-Ausgesetzt-Sein berührt zu sein“.
Demnach nimmt mich der Tod des Anderen in Anspruch und trifft mich, „in
meiner Identität selbst als verantwortliches Ich. […] Mein Betroffensein durch
den Tod des anderen macht gerade meine Beziehung zu seinem Tod aus“.
Während eingangs die Rede davon war, dass der Tod als das uneinholbare
Negativ dem menschlichen Vorstellen unzugänglich bleibt und er uns deshalb
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

im Grunde nicht angeht, ist dies im Grunde eine Auffassung, die auf einer
Sichtweise gründet, die den Anderen ausschließt. Sterben ist jedoch immer
auch In-Beziehung-Sein, womit die Frage, was der Tod uns angeht die Frage
danach ist, was und wie der Andere uns angeht.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Philosophie der Medien


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Regine Herbrik

Es könnte auch anders sein – Was wir vom Spiel für


wissenschaftliche Erkenntniswege lernen können

Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet die derzeit häufig postu-


lierte „Verkulturwissenschaftlichung“1 der Geistes- und Sozialwissenschaften.
Ich verstehe diesen Begriff nicht als Problembeschreibung, sondern als eine
interdisziplinäre Gesprächsbereitschaft, die dadurch entsteht, dass sich die
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Disziplinen auf Konzepte einlassen, die Diskurse über ihre Grenzen hinweg
ermöglichen.
Dabei fragt sich, wodurch sich eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf
Gesellschaft auszeichnet. Mein Vorschlag ist, dass das grundsätzlichste Merk-
mal des Kulturellen in der Erzeugung und Bewältigung von Mehrdeutigkeit
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

oder Nichteindeutigkeit besteht. Genau dieser Umstand, dass, sobald es um


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Kultur geht, immer auch andere Bedeutungen möglich sind, dass das Signifikat
nicht mit Sicherheit festzustellen ist und die daraus resultierende nicht enden-
de Potentialität, Lesarten zu generieren, könnten einen kleinsten gemeinsa-
men Nenner einer kulturwissenschaftlichen Perspektive bilden. Es könnte also
immer auch anders sein.
Diese Perspektive gilt es nicht nur theoretisch durchzuhalten, sondern auch
zu fragen, wie eine Methodologie beschaffen sein sollte, mithilfe derer wir im
Rahmen einer solchen kulturwissenschaftlichen Perspektive forschen können.
Um einer immer noch komplexer werdenden Wirklichkeit deskriptiv und
heuristisch gerecht zu werden, benötigen wir Verfahrensweisen, die einerseits
methodisch kontrolliert operieren und handwerklich lehr- und lernbar sind,
andererseits jedoch genau diejenigen interpretatorischen Freiräume eröffnen,
die notwendig sind, um ganze Bedeutungsspektren in den Blick zu nehmen.
Diese Dualität von Regelhaftigkeit und Freiheit ist ein Charakteristikum des
Spiels. Meine These ist daher: Wir brauchen spielende Methoden.
Mit einer solchen These macht man sich im wissenschaftlichen Kontext
sehr angreifbar. Das Spiel steht häufig per definitionem im Verdacht, „nicht
ernst“ und zweckfrei zu sein. Das gilt nicht für das Spiel der Kinder, dem
eine ganze Reihe identitätsbildender und erkenntnisstiftender Funktionen

1 Vgl. Stephan Moebius, „Kultursoziologie heute: Entwicklungen und Herausforderungen“, in:


Sozialwissenschaften und Berufspraxis, Jg. 32, Heft 1, 2009, S. 5–14, hier S. 9.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_025


144 Regine Herbrik

zugeschrieben wird. Diese scheinen sich jedoch zu verflüchtigen, wenn das


Kindes- und Jugendalter überschritten wird.
Es gibt jedoch auch einige KulturwissenschaftlerInnen, die versuchen, das
Spiel aus seinem Dasein als nur Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft
herauszuholen und seine Bedeutung für den Erkenntnisprozess stark zu ma-
chen. So schreibt beispielsweise Adamowsky: „Denn die Vernunft braucht das
Spiel. Zu spielen heißt, Verbindungen zu knüpfen zwischen Intellekt und Sinn-
lichkeit; zu spielen heißt, spekulative Brücken zu schlagen zwischen Geist und
Materie.“2 Das Spiel ist außerdem mit der Wissenschaft gut kompatibel, da es
reversibel, wiederholbar und variierbar zugleich ist und als Schlüsselkategorie
wissenschaftlicher Methodik fungieren kann.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Mein Argument ist jedoch ein grundsätzlicheres, das sich auf eine sehr
basale Eigenschaft des Spieles gründet: Im Spiel wird eine erstaunliche Be-
wusstseinsleistung erbracht, die meist wenig thematisiert wird. Wir schaffen
es dabei, den Rahmen „hier wird ‚nur‘ gespielt“ bewusst zu halten und ihn
gleichzeitig einzuklammern, um im Spiel aufzugehen, uns an ihm zu erfreuen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

und ein guter Spieler, eine gute Spielerin zu sein.3 Wir wissen also: Das ist ein
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Spiel, und vergessen diese Prämisse, um in das Spiel eintauchen und es genie-
ßen zu können. Das Spiel schafft es also, mehrere Wirklichkeiten oder Lebens-
welten ganz unspektakulär miteinander zu vermitteln.
Für die zeitdiagnostische Beschreibung einer Gesellschaft, innerhalb derer
wir selbst behände im Laufe eines Tages zwischen unterschiedlichen Wirk-
lichkeiten, wie Arbeit, Spiel, Religion, Fiktion, wechseln, können wir vom Spiel
lernen, dass es nicht darum geht, Wirklichkeiten getrennt voneinander zu be-
trachten, sondern gerade ihre faszinierende und komplexe, gleichzeitige Ko-
existenz heuristisch auszuhalten und abzubilden.
Fassen wir Kultur als Etwas, das nur zugänglich ist durch die Auseinander-
setzung mit immer auch anderen möglichen Sinn-Wirklichkeiten, so zeigt
sich, dass wir genau diese im Spiel verwirklichte Fähigkeit brauchen, um der
heutigen Wirklichkeit wissenschaftlich gerecht zu werden. Eine spielende
Interpretationsweise wird von unauflösbarer Mehrdeutigkeit nicht behindert,
sondern steuert im Gegenteil auf sie zu, findet sie auf und ist in der Lage, sich
mit ihr auseinanderzusetzen. In Anlehnung an Goffman4 kann man daher

2 Natascha Adamowsky, „Spiel und Wissenschaftskultur. Eine Anleitung“, in: Die Vernunft ist
mir noch nicht begegnet. Zum konstitutiven Verhältnis von Spiel und Erkenntnis, hg. v. Ders.,
Bielefeld: transcript, 2005, S. 11–30, hier S. 11.
3 Vgl. Baatz, Ursula, Vom Ernst des Spiels. Über Spiele und Spieltheorie, Berlin: Reimer, 1993.
4 Vgl. Erving Goffman, Interaktion. Spaß am Spiel, Rollendistanz, München: Piper, 1973, S. 38.
Es könnte auch anders sein 145

postulieren: Sie trennt uns vom ernsten Leben ab, indem sie uns eine Demons-
tration seiner Möglichkeiten und damit auch seiner Kultur, bietet.
Eine solche Methode müssen wir uns nun nicht erst ausdenken. Vielmehr
können bestehende Methoden darauf abgeklopft werden, wo sie spielende
Elemente enthalten, um diese stärker sicht- und nutzbar zu machen. Das
möchte ich Ihnen am Beispiel einer Methode illustrieren, die dafür besonders
geeignet ist: der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik. Entwickelt wurde
diese Verfahrensweise Ende der 1990er Jahre von Hans-Georg Soeffner und
seinem Team zur Interpretation von ursprünglich hauptsächlich textförmi-
gen Interaktionsprotokollen und Datenmaterialien.5 Mittlerweile wurden ihre
Grundsätze auch auf die Interpretation von Bild- und Videodaten übertragen.6
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Im Zentrum des methodologischen Grundgerüsts steht das Verstehen, also


der Prozess, innerhalb dessen Erfahrungen mit Sinn versehen werden. Dabei
wird vom alltäglichen Verstehen ausgegangen, zu dem Selbst- und Fremdver-
stehen gehören. Dem Symbolischen Interaktionismus7 folgend wird bereits
das Selbstverstehen als auf Sozialität, namentlich auf der Übernahme der
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Perspektive, aus der uns andere deuten, gründender Vorgang verstanden. Wir
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

lernen demnach, uns selbst zu verstehen, indem wir lernen, wie uns andere
verstehen.8
Um unseren Alltag zu bewältigen, sind wir ständig darauf angewiesen zu
verstehen. Dies geschieht zumeist schnell, routiniert und praxisorientiert, da
im Fluss des Handelns und Kommunizierens nur wenig Zeit bleibt.9 Es lassen
sich jedoch bereits im Alltag Übergänge zum wissenschaftlichen Verstehen

5 Vgl. Hans-Georg Soeffner, Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziol-
ogischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Stuttgart: UTB, 2004 [1989].
6 Vgl. Michael R. Müller, „Figurative Hermeneutik. Zur methodologischen Konzeption einer
Wissenssoziologie des Bildes“, in: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialfor­
schung, Jg. 13, Heft 1, 2012, S. 129–161 sowie Jürgen Raab/Dirk Tänzler, „Video Hermeneutics“,
in: Video Analysis. Methodology and Methods. Qualitative Audiovisual Data Analysis in Sociol-
ogy, hg. v. Hubert Knoblauch/Berndt Schnettler/Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner, Frankfurt
a. M.: Internationaler Verlag der Wissenschaften, 2009.
7 Vgl. Herbert Blumer, „Der methologische Standort des Symbolischen Interaktionismus“, in:
Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. I., hg. v. Arbeitsgruppe Biele-
felder Soziologen, Reinbek: Rowohlt, 1969, S. 80–101.
8 Vgl. George H. Mead, Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist, hg. v.
Charles W. Morris, Chicago: University of Chicago Press, 1967.
9 Vgl. Ronald Kurt/Regine Herbrik, „Sozialwissenschaftliche Hermeneutik“, in: Handbuch
Methoden der empirischen Sozialforschung, hg. v. Nina Baur/Jörg Blasius, Wiesbaden: Springer
VS, S. 473–489, bes. S. 478.
146 Regine Herbrik

ausmachen. So berichten derzeit Psychotherapeuten angeblich,10 wieviel Zeit


und Energie ihr Klientel teilweise in die Ausdeutung von Kurzmitteilungen
und Facebook-Chats investiert. Das ähnelt bereits einem hermeneutischen
Vorgehen, das sich durch seine Distanz zum Pragma, sein entschleunigtes
Tempo und seine Reflexivität auszeichnet. Was jedoch noch fehlt, ist die Me-
thodizität, die in der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik hinzugefügt wird.
Wie viele andere wissenschaftliche Methoden nutzt auch sie unter ande-
rem das Instrument des Vergleichs. Inspiriert von der Phänomenologie Hus-
serls beschränkt sie sich jedoch nicht darauf, mehrere für wirklich gehaltene
Dinge miteinander zu vergleichen, sondern vergleicht darüber hinaus für
wirklich Gehaltenes mit den Entwürfen anderer Möglichkeiten.11 Sie fragt also
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

vor dem Hintergrund der Prämisse „Es könnte auch immer anders sein“: Wie
könnte es sonst noch sein und was lernen wir über das gerade So-Sein durch
den Vergleich mit anderen vorstellbaren Möglichkeiten? Daraus ergibt sich ein
Oszillieren zwischen dem Wirklichkeits- und dem Möglichkeitssinn, das meh-
rere Wirklichkeiten gleichzeitig auszuhalten im Stande ist, ähnlich wie wir das
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

vorher für das Grundparadox des Spiels beschrieben haben.


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Erleichtert wird den Interpretierenden die Einübung in eine solche Haltung


durch die Arbeit in einer Interpretationsgruppe, die sie daran hindert, ersten
eigenen Interpretationen zu viel Gewicht beizumessen und dem Interpreta-
tionsprozess ein kommunikativ-agonales Element hinzufügt, das motivierend
wirkt.12
Schleiermacher hatte seinerzeit, ganz im Sinne der damals vorherrschen-
den Genieästhetik, als er sah, dass sich für manche interpretativen Prozeduren
keine Regel definieren ließ, die Hermeneutik zur Kunst erklärt. Sie sollte kon-
genial das zu verstehen helfen, was in seiner Herstellung keiner starren Rheto-
rik mehr unterworfen war. Die heutige, sozialwissenschaftliche Hermeneutik
ist jedoch nicht ausschließlich Kunst, denn ihre Durchführung folgt durchaus
Regeln, die angegeben, gelernt und eingeübt werden können. Sie ist jedoch
genauso wenig ausschließlich Handwerk, das bei ordentlicher Anwendung aus
jedem Datum quasi automatisch eine ‚richtige‘ Interpretation presst. In ihr be-
gegnen sich Kunst, Handwerk und Spiel, denn innerhalb der Regeln, die sie
sich gibt, eröffnen sich Freiräume für Ungeregeltes und nicht Vorhersehbares.
Durch ihren spielerischen Charakter etabliert sie eine Distanz zum Pragma des

10 Vgl. Wolfgang Paetzold, Teflonherz und Liebesgier. Beziehungen in Zeiten der Ichsucht,
München: Diederichs, 2012.
11 Vgl. Ronald Kurt, Hermeneutik. Eine sozialwissenschaftliche Einführung, Stuttgart: UTB,
2004, S. 141ff.
12 Vgl. Jo Reichertz, Gemeinsam interpretieren. Die Gruppeninterpretation als kommunikati-
ver Prozess, Wiesbaden: Springer VS, 2013.
Es könnte auch anders sein 147

Alltags, aber auch zum Pragma der Wissenschaft, die das interesselose Verste-
hen fördert, während ihre Aufforderung zum Möglichkeitsdenken Mehr- statt
Eindeutigkeit herstellt.
Für eine gelungene Interpretation aktueller kultureller Objektivationen
werden also keine genialen Einzelgenies benötigt. Genauso wenig nützlich ist
ein kochrezeptartiges, methodisches Regelwerk, das uns daran hindert, Neues
zu sehen. Ich empfehle hingegen eine ausgewogene Spielrunde, deren Teilneh-
mer und Teilnehmerinnen sich in einen Wettstreit der, auch gern absurden,
Lesarten begeben, sich nie mit der ersten Interpretation zufriedengeben, sich
gegenseitig zuverlässig irritieren und hinterfragen. So kann im kommunikativ-
spielenden Hin und Her nicht die eine richtige Deutung gefunden, sondern
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

eine Vielzahl an Perspektiven erarbeitet werden, die gerade die Vieldeutigkeit


und Ambivalenzen der Kultur abbildet, anstatt sie einzuebnen.

Literatur
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Adamowsky, Natascha, „Spiel und Wissenschaftskultur. Eine Anleitung“, in: Die


Vernunft ist mir noch nicht begegnet. Zum konstitutiven Verhältnis von Spiel und
Erkenntnis, hg. v. Ders., Bielefeld: transcript, 2005, S. 11–30.
Baatz, Ursula, Vom Ernst des Spiels. Über Spiele und Spieltheorie, Berlin: Reimer,
1993.
Blumer, Herbert, „Der methologische Standort des Symbolischen Interaktionismus“,
in: Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. I., hg. v. Arbeits-
gruppe Bielefelder Soziologen, Reinbek: Rowohlt, 1969, S. 80–101.
Goffman, Erving, Interaktion. Spaß am Spiel, Rollendistanz, München: Piper, 1973.
Kurt, Ronald, Hermeneutik. Eine sozialwissenschaftliche Einführung, Stuttgart: UTB,
2004.
Kurt, Ronald/Herbrik, Regine, „Sozialwissenschaftliche Hermeneutik“, in: Handbuch
Methoden der empirischen Sozialforschung, hg. v. Nina Baur/Jörg Blasius, Wiesba-
den: Springer VS, S. 473–489.
Mead, George H., Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist,
hg. v. Charles W. Morris, Chicago: University of Chicago Press, 1967.
Moebius, Stephan, „Kultursoziologie heute: Entwicklungen und Herausforderungen“,
in: Sozialwissenschaften und Berufspraxis, Jg. 32, Heft 1, 2009, S. 5–14.
Müller, Michael R., „Figurative Hermeneutik. Zur methodologischen Konzeption einer
Wissenssoziologie des Bildes“, in: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische So-
zialforschung, Jg. 13, Heft 1, 2012, S. 129–161.
Paetzold, Wolfgang, Teflonherz und Liebesgier. Beziehungen in Zeiten der Ichsucht,
München: Diederichs, 2012.
148 Regine Herbrik

Raab, Jürgen/Tänzler, Dirk, „Video Hermeneutics“, in: Video Analysis. Methodology and
Methods. Qualitative Audiovisual Data Analysis in Sociology, hg. v. Hubert Knob-
lauch/Berndt Schnettler/Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner, Frankfurt a. M.: Inter-
nationaler Verlag der Wissenschaften, 2009.
Reichertz, Jo, Gemeinsam interpretieren. Die Gruppeninterpretation als kommunikativer
Prozess, Wiesbaden: Springer VS, 2013.
Schleiermacher, Friedrich, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphiloso-
phischer Texte Schleiermachers, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
1995 [1838].
Soeffner, Hans-Georg, Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissensso-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

ziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Stuttgart: UTB,


2004 [1989].
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Jan Müggenburg

Lebhafte Artefakte oder „Wenn Roboter Hände


schütteln“

Händeschütteln, Händeschütteln und immer wieder: Händeschütteln. Bei


ihrem jährlichen Besuch der Messe „Centrum für Büroautomation, Informa-
tionstechnologie und Telekommunikation“ (CeBit) in Hannover wird der öf-
fentliche Händedruck mit Managern und Ingenieuren für die Bundeskanzlerin
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

zur Dauerbeschäftigung: Per Handschlag wird der Schulterschluss zwischen


Politik und IT-Branche im Blitzlichtgewitter der Kameras demonstriert. Weil
aber die Zurschaustellung dieser ubiquitären, „jeder Bedeutung entleerte[n]“1
Geste ihre eigentlich intendierte Botschaft kaum mehr zu vermitteln mag,
schüttelt Angela Merkel nicht nur Hände aus Fleisch und Blut. Auch der Hän-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dedruck mit mechanischen Greiforganen aus Metall und Silikon gehört für sie
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

mittlerweile zu jedem Besuch der CeBit. Die Bilder solcher Kanzlerin-Maschine-


Interaktionen, wie z.B. das aus dem Frühjahr 2014, als sie sich mit dem bri-
tischen Premierminister David Cameron und dem Roboter RoboThespian für
einen gemeinsamen Pressetermin traf, sollen Jahr für Jahr bezeugen, dass die
europäischen Regierungschefs keine Berührungsängste mit den Zukunftstech-
nologien der IT-Branche haben.2 Und nur ein zynischer Kommentator würde
wohl hinzufügen, dass mittlerweile sogar die Roboter das roboterhafte Hände-
schütteln der Politiker beherrschen.
Ich möchte dieses ritualisierte Schütteln von Roboterhänden im Folgenden
zum Anlass nehmen, um über einen aus meiner Sicht wesentlichen Aspekt
so genannter „smarter Maschinen“3 nachzudenken, der in der öffentlichen
Diskussion oft unberücksichtigt bleibt. Eine der wesentlichen Eigenschaften
von Robotern und künstlichen Intelligenzsystemen, wie sie auf Industriemes-
sen wie der Cebit zu sehen sind, liegt in ihrer Vorführbarkeit. Erst die gelun-
gene Demonstration solcher Maschinen erzeugt auf Seiten ihrer Beobachter
die Evidenz ihrer vermeintlich ‚smarten‘ Leistung. Um diesen Aspekt aus

1 Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt a. M.: Fischer Wissenschaft,
1994, S. 18.
2 Vgl. Die Bundesregierung, „CEBIT 2014. Vernetzt, aber sicher“, 10.03.2014,online unter:
https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2014/03/2014-03-10-cebit-rundgang
.html (zuletzt: 24.02.2017).
3 Ulrich Eberl, Smarte Maschinen. Wie künstliche Intelligenz unser Leben verändert, München:
Hanser, 2016.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_026


150 Jan Müggenburg

medienwissenschaftlicher Perspektive analytisch besser in den Griff zu bekom-


men, schlage ich vor, solche Maschinen als „lebhafte Artefakte“ zu begreifen.
Mit dem Begriff „lebhaft“ ist dabei erstens gemeint, dass Roboter und andere
smarte Maschinen in der Regel biologische Organisationsprinzipien nach-
ahmen und lebhaft im Sinne von lebensähnlich erscheinen sollen. Zweitens
verweist der Begriff auf jenen subjektiven Eindruck, der sich im Zuge ihrer
Beobachtung einstellen soll: Roboter wie RoboThespian sollen lebhaft im Sinne
von belebt erscheinen. Ihre Performativität zielt auf den ästhetischen Effekt
eines Anscheins von Belebtheit. Durch ihre Fähigkeit, Verblüffung, Neugier und
Verständnis bei ihren Zuschauern hervorzurufen, operieren sie als Argumente
für die Effizienz und Überlegenheit informationstechnischer und biologisch
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

inspirierter Lösungen. Damit adressiert der Begriff drittens den Umstand, dass
Ingenieure den Kontext der Beobachtung ihrer eigenen Apparate antizipieren
müssen: Nichtwissen ist konstitutiv für den Eindruck von Lebhaftigkeit. Nicht
zuletzt verweist der Begriff „Artefakt“ auf die Tatsache, dass es sich auch bei
smarten Maschinen um Konstruktionen handelt und damit um das Ergebnis
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

eines komplexen forschungspraktischen Aushandlungsprozesses, der Impro-


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

visationen, Kompromisse und bisweilen sogar einige Tricks notwendig macht:


Nicht alles ist, wie es im Auge des Betrachters zu sein scheint.
Weil lebhafte Artefakte und ihre publikumswirksame Vorführung keines-
wegs reine Gegenwartsphänomene sind, sondern vielmehr die Geschichte
der Künstlichen Intelligenz-Forschung seit ihren Anfängen in der Mitte des
20. Jahrhunderts begleiten, möchte ich diese vier Aspekte kurz an einem
historischen Beispiel veranschaulichen, auf das ich im Rahmen meines Dis-
sertationsprojektes gestoßen bin:4 Eine der Hauptattraktionen auf dem Jahres-
treffen der „Illinois Society of Professional Engineers“ im Frühjahr des Jahres
1960 in Springfield war eine Maschine, die von der Presse begeistert als das
„Computerauge aus Illinois“ gefeiert wurde.5 Bei der NumaRete handelte es
sich um eine äußerlich unscheinbare Maschine, die den nichtinformierten
Messebesucher aufgrund ihrer kantigen Form und ihres numerischen An-
zeigemoduls zunächst an eine elektronische Registrierkasse erinnert haben
muss. Legte man jedoch eine Reihe von verschiedenen Gegenständen auf ihre
Oberfläche, konnte die NumaRete ein verblüffendes Kunststück vorführen:
Im Bruchteil einer Sekunde erschien die korrekte Anzahl der Gegenstände

4 Vgl. Jan Müggenburg, Lebhafte Artefakte. Eine Mediengeschichte des Biological Computer
Laboratory, Dissertation, Universität Wien, 2016.
5 Vgl. Anonymus, „See Illinois ‚Eye’ Which Computes“, Daily Illini, 05.05.1960, University of
Illinois Archives 11/6/17, Box 1, Mappe „Quarterly Progress Reports, April 1958–November
1960“.
Lebhafte Artefakte 151

auf ihrem zweistelligen Anzeigemodul. Die Maschine war das Ergebnis eines
Forschungsprojektes am Biological Computer Laboratory (BCL) der nahen
„University of Illinois“ in Urbana-Champaign.6 Wie der Direktor des Labors,
Heinz von Foerster, den interessierten Messebesuchern erklärte, sollte sie die
Funktionsweise der Netzhaut lebendiger Organismen nachahmen: Im Inne-
ren dieses „biological computer“ befinde sich ein elektronisches Netzwerk, das
analog zu den Nervenzellen einer Wirbeltierretina die Anzahl einer Gruppe
von Objekten mit einem Blick erfassen könne.7 Damit, so Foerster, verkörpere
die NumaRete das Prinzip der Mustererkennung, welches eine Forschergruppe
am MIT erst kürzlich experimentell an Froschaugen beobachtet und unter-
sucht habe.8 Solche biologischen Prinzipien als Vorbild für die Konstruktion
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

biologischer Computer und künstlicher Sinnesorgane zu nehmen, sei das Ziel


seines Labors.
Indem Foerster auf diese Weise die Vorführung der Maschine mit einem
kleinen Vortrag begleitete, versuchte er, sie in den Augen seines Publikums als
ein Beleg für die Überlegenheit einer biologisch informierten Ingenieurswis-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

senschaft erscheinen zu lassen. Nicht zuletzt erweckte er den Eindruck, dass


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

intelligente Maschinen bereits im Jahr 1960 Realität seien. Tatsächlich war die
NumaRete jedoch weit davon entfernt, ein neuronales Netz nachzuahmen
oder gar zu sein. Auch wenn jeder Rechenschritt für sich eine parallele Opera-
tion war, so arbeitete sie tatsächlich seriell, d.h. die Fotozellen wurden Reihe
für Reihe und nacheinander eingeschaltet. Deshalb handelte es sich bei der
Maschine im Gegensatz zur organischen Netzhaut auch nicht um ein dyna-
misches System: Das Gerät musste immer wieder neu gestartet werden, wenn
man die Anzahl und Position der Objekte veränderte. Wenn überhaupt, so
bilanzierte Paul Weston, der eigentliche Konstrukteur der NumaRete und
Doktorand an Foersters Labor, später, habe seine Maschine durch die Anord-
nung identischer Rechenzellen den Anschein eines Nervennetzes suggeriert:
„[P]eople looked at it and said it has to be a neural net – but it wasn’t!“9 In

6 Vgl. Albert Müller, „Eine kurze Geschichte des BCL. Heinz von Foerster und das Biological
Computer Laboratory“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, Bd. 11,
Heft 1, 2000, S. 9–30.
7 Vgl. Anonymus, „A Retina That Counts“, Pressetext zur NumaRete anlässlich ihrer Ausstel-
lung in Springfield, 05.05.1960, University of Illinois Archives 11/6/17, Box 1, Mappe „Quarterly
Progress Reports, April 1958–November 1960“.
8 Vgl. Jerome Y. Lettvin/Humberto R. Maturana/Warren S. McCulloch/Walter Pitts, „Was das
Froschauge dem Froschgehirn erzählt“, in: Verkörperungen des Geistes, hg. v. Warren McCull-
och, New York: Springer, 2000, S.195–217.
9 Jan Müggenburg/James A. Hutchinson, „Kybernetik in Urbana. Ein Gespräch mit Paul
Weston“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Bd.19, Heft 4, 2008,
S. 126–139, hier S. 129.
152 Jan Müggenburg

Wirklichkeit sei seine Maschine vielmehr ein Beispiel dafür, „that technology
can duplicate aspects of biological performance but almost never by using
exactly corresponding mechanisms“.10 Um Mustererkennung zu duplizieren,
habe er deshalb eine Art „Rube Goldberg machine“ geschaffen.11 Eine Maschine
also, die durch eine komplizierte Konstruktion den gewünschten Effekt
erzielt und auf den naiven Betrachter intelligent wirkt.
Das Beispiel der NumaRete zeigt, dass eine medienwissenschaftliche Aus-
einandersetzung mit smarten Maschinen, die nur die nichtdiskursiven Ele-
mente ihrer medientechnologischen Verfasstheit in den Blick nimmt, zu kurz
greift. Vielmehr gilt es, sie als lebhafte Artefakte zu begreifen und den diskursiv
geformten Kontext ihrer öffentlichen Wahrnehmung zu berücksichtigen: Wel-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

ches Wissen ließ Foersters künstliche Retina um 1960 als intelligent erschei-
nen? Welche forschungspolitischen Kontexte innerhalb des amerikanischen
militärisch-industriell-akademischen Komplexes machten Mustererkennung
zu einem plausiblen Ziel ingenieurswissenschaftlicher Praxis? Und wie gelang
es Weston, eine Maschine zu konstruieren, die zwar kein neuronales Netzwerk
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

war, aber als ein solches wahrgenommen werden konnte? Welche epistemi-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

schen und epistemologischen Verhältnisse lagen dieser historisch kontingen-


ten Interpretation zugrunde?
Abschließend möchte ich vorschlagen, dass wir auch bei jenen Robotern
und Künstlichen Intelligenzsystemen genauer hinsehen, die gegenwärtig die
Hände unserer Politikerinnen und Politiker schütteln. Als lebhafte Artefakte
lassen sie sich nicht losgelöst von den intendierten und tatsächlichen Interpre-
tationsweisen ihrer Vorführung begreifen. Sie etwa im Sinne einer posthuma-
nistischen Gegenwartsdiagnose vorschnell als Vorboten „neuer Ontologien“12
oder als ein gleichberechtigtes Gegenüber im Zusammenspiel menschlicher
und nichtmenschlicher Akteure zu beschreiben, würde ihre „Situiertheit“ in
diskursiven Formationssystemen, Bedeutungszuschreibungen und Meta-
phern gänzlich ausblenden.13 Nur eine medienwissenschaftliche Perspek-
tive, welche sowohl die historisch-epistemologische Einbettung lebhafter
Artefakte als auch ihre medientechnische Verfasstheit und soziotechnische

10 Paul Weston, „A Walk Through The Forest“, in: An Unfinished Revolution? Heinz von Foer-
ster and the Biological Computer Laboratory BCL 1958–1976, hg. v. Albert Müller/Karl
Müller, Wien: edition echoraum, S. 89–115, hier S. 96.
11 Vgl. Jan Müggenburg/James A. Hutchinson, „Kybernetik in Urbana. Ein Gespräch mit Paul
Weston“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, a.a.O., S. 129.
12 Vgl. Andrew Pickering, Kybernetik und Neue Ontologien, Berlin: Merve, 2007.
13 Vgl. Donna Haraway, „Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the
Privilege of Partial Perspective“, in: Feminist Studies, Bd. 14, Heft 3, 1988, S. 575–599.
Lebhafte Artefakte 153

Handlungsmacht berücksichtigt, ist in der Lage, die Möglichkeitsbedingungen


ihrer Wahrnehmung als smarte Maschinen selbst in den Blick zu nehmen.
Einsetzen könnte eine solche Untersuchung z.B. in jenen prekären Momen-
ten, in denen die Vorführung lebhafter Artefakte zu scheitern und Evidenz in
Zweifel umzuschlagen droht. Als die Kanzlerin im Rahmen ihrer Japan-Reise
im Jahr 2015 das „National Museum of Emerging Science and Innovation“ in
Miraikan besuchte und ihr dort der Roboter ASIMO vorgestellt wurde, streck-
te sie ihm wie gewohnt, aber zum Schrecken der anwesenden Ingenieure ihre
Hand entgegen. Der Roboter war nicht auf die Erwiderung westlicher Gesten
programmiert und „verweigerte“ den Handschlag. Irritiert und etwas verlegen
klopfte Merkel ASIMO auf die Schulter und drehte ihm den Rücken zu. Erst
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

jetzt „erkannte“ der Roboter die Situation als eine Begrüßung, konnte dem
deutschen Gast nun aber nur noch hinterherwinken.14

Literatur
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Eberl, Ulrich, Smarte Maschinen. Wie künstliche Intelligenz unser Leben verändert,
München: Hanser, 2016.
Flusser, Vilém, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt a. M.: Fischer Wissen-
schaft, 1994.
Haraway, Donna, „Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and
the Privilege of Partial Perspective“, in: Feminist Studies, Bd. 14, Heft 3, 1988,
S. 575–599.
Lettvin, Jerome Y./Maturana, Humberto R./McCulloch, Warren S./Pitts, Walter, „Was
das Froschauge dem Froschgehirn erzählt“, in: Verkörperungen des Geistes, hg. v.
Warren McCulloch, New York: Springer, 2000, S. 195–217.
Müggenburg, Jan, Lebhafte Artefakte. Eine Mediengeschichte des Biological Computer
Laboratory, Dissertation, Universität, 2016.
Müggenburg, Jan/Hutchinson, James A., „Kybernetik in Urbana. Ein Gespräch mit Paul
Weston“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Bd.19, Heft 4,
2008, S. 126–139.
Müller, Albert, „Eine kurze Geschichte des BCL. Heinz von Foerster und das Biological
Computer Laboratory“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaf-
ten, Bd. 11, Heft 1, 2000, S. 9–30.

14 Vgl. „Bundeskanzlerin in Japan. Roboter verweigert Merkel die Hand“, ntv, 09.03.2015,
online unter: http://www.n-tv.de/mediathek/videos/politik/Roboter-verweigert
-Merkel-die-Hand-article14660721.html (zuletzt: 28.02.2017).
154 Jan Müggenburg

Pickering, Andrew, Kybernetik und Neue Ontologien, Berlin: Merve, 2007.


Weston, Paul, „A Walk Through The Forest“, in: An Unfinished Revolution? Heinz von
Foerster and the Biological Computer Laboratory BCL 1958–1976, hg. v. Albert Müller/
Karl Müller, Wien: edition echoraum, S. 89–115.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Sebastian Vehlken

California Thinking – Die drei ???


als Medienphilosophen

Meine Jugend dauerte bis zum Alter von 30 Jahren. Jedenfalls wenn man diese
Lebensphase ableiten mag vom allabendlichen Ritual, sich von Jugend-
Hörspielen in den Schlaf murmeln zu lassen. Oder, genauer gesagt, von einer
ganz bestimmten Hörspielreihe: Von Die drei ???, kurz auch „DDF“. Seit einem
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Fantreffen während des Studiums im so schön und brutalistisch seinen Ge-


bäudenamen konterkarierenden „Musischen Zentrum“ der Ruhr-Universität
Bochum wusste ich mich damit in bester Gesellschaft. Bei jener Gelegenheit
kolportierte Oliver Rohrbeck, der Sprecher von Justus Jonas – dem etwas be-
leibten Anführer und bekanntermaßen erstem Detektiv im Team von DDF –,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

und damaliger Stargast des Abends, dass das Durchschnittsalter der Hörerin-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

nen und Hörer dieser Serie mit 24 Jahren im besten Studierendenalter lag. Mei-
ne Jugend sollte also nach jenem Abend noch weitere sechs Jahre andauern,
bevor das Ritual dann – ohne eigentlichen Anstoß und Grund – aus meinem
Leben verschwand.
Ich gebe auch ohne Umschweife zu, dass mich selbst nach Beginn meines
Medienwissenschaftsstudiums wie schon in der Kindheit jene Abenteuer, in
denen es um Gespensterschlösser und dergleichen ging, sehr viel mehr inte-
ressierten als die Folgen, in denen Büsten berühmter Schriftsteller oder gar
Philosophen eine Rolle spielten.1 Und dass mich die Hörspielserie sehr viel
intensiver fesselte als die ebenfalls populäre Buchreihe. Doch genau darin
gründet sich die These, der ich hier in gebotener Kürze nachgehen möchte:
Dass es nämlich gerade die Umsetzung der Fälle von DDF in Hörspielen ist,
die in einer in dieser Form bei keiner anderen Jugendserie zu findenden Ver-
handlung medientheoretischer und philosophischer Fragen mündet. Und
zwar nicht zuvorderst als schlaumeierische Verweise auf große Figuren – wie
in dem Büsten-Beispiel –, oder auf enzyklopädisches Lehrbuchwissen. Beider-
lei gehört zwar zum Inventar, vor allem in Form der wiederkehrenden lexika-
lischen Rezitationen durch Justus Jonas im ersten Viertel fast jeder Folge, die
meist quittiert werden von genervten Reaktionen seiner Partner, dem zweiten
Detektiv Peter Shaw (gesprochen von Jens Wawrczeck), und dem Experten

1 In der Hörspiel-Folge 5, Der Fluch des Rubins, spielen dreizehn gestohlene Büsten eine ent­
scheidende Rolle für die Lösung des Falls, u. a. von Cicero, Homer und Shakespeare.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_027


156 Sebastian Vehlken

für Recherche und Archiv, Bob Andrews (gesprochen von Andreas Fröhlich).
Das Wesensmerkmal des spezifischen Denkstils dieser Hörspielreihe ist je-
doch treffender dadurch charakterisiert, wenn man Die drei ???-Hörspiele als
ein Medium begreift, das im Sinne des Medienwissenschaftlers Lorenz Engell
selbst Medienphilosophie betreibt.
Medienphilosophie, so schreibt Engell, sei „ein Geschehen, möglicherweise
eine Praxis, und zwar eine der Medien. Sie wartet nicht auf den Philosophen,
um geschrieben zu werden. Sie findet immer schon statt, und zwar in den
Medien und durch die Medien“.2 Engell geht es in seinem Aufsatz „Tasten,
Wählen, Denken“ darum, zu zeigen wie Medien durch ihr jeweiliges Prozessie-
ren und Funktionieren neuartige Denkvermögen freisetzen und unter je spezi-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

fische Bedingungen stellen; ja wie sie dadurch, dass sie bestimmte Verhältnisse
zwischen Menschen, Apparaten und der Welt einziehen, die Wahrnehmungs-
weisen dieser Welt transformieren. Eigentlich also eine ganz brave Adaptation
McLuhans, allerdings mit der über dessen Medienanthropologie hinausgehen-
den Pointe, dass Medien auch als technische Apparaturen insofern „philoso-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

phisch“ würden, als dass sie selbstreflexive Funktionen ausprägten:


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Als eine der möglichen Verdichtungs- und Verallgemeinerungsformen hält es


dabei auch die Möglichkeit des Selbstbezuges bereit. Es ist in der Lage, auf sich
selbst zurückzuwirken. Es enthält sich dann – notwendigerweise paradox –
selbst als Form. Das Medium tritt auf als selbstwidersprüchliche – und das
heisst: selbstbewusste – Form der Bezugnahme verschiedener Möglichkeiten
des Mediums aufeinander. So bildet ein immer noch grundsätzlich unschar-
fes, unsichtbares Medium dennoch seine eigene relexive Form aus – seine
eigene Philosophie; die Fähigkeit, sich auf seine eigenen Möglichkeiten hin zu
entwerfen.3

Engell expliziert diese Anordnung anhand des Mediums Fernsehen und am


Beispiel der Übertragung der Mondlandung, einem der ersten globalen TV-
Ereignisse überhaupt, bei dem sich die „fernsehgenerierte Welt als Welt […]
selbst beim Zuschauen zu[sehe]“ und im Zuge dessen „ihre eigene Medialität,
nämliche ihre Gemachtheit als Selektion und Projektion, als Wahl und Ent-
wurf aus einem Möglichkeitshorizont“ erfahre. Durch das Medium von sich
distanziert nehme sie sich nurmehr vermittelt war, „von sich distanziert durch

2 Lorenz Engell, „Tasten, Wählen, Denken. Genese und Funktion einer philosophischen
Apparatur“, in: Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, hg. v. Stefan Münkler/
Alexander Roesler/Mike Sandbothe, Frankfurt a. M.: Fischer, 2003, S. 53–77.
3 Ebd., S. 55f.
Die drei ??? als Medienphilosophen 157

das Medium, das sie selbst ist“, so Engell. Hier entfalte sich das Fernsehen als
„philosophische Apparatur“.4
Entlang dieser Linie lassen sich auch in Bezug auf DDF zentrale philoso-
phische Stichworte vor Ohren – respektive an dieser Stelle leider nur in tran-
skribierter Form vor Augen – führen, die kursorisch zweierlei auf den Punkt
bringen: Erstens, wie in den Abenteuern der drei Detektive nachgedacht und
wie über das Nachdenken nachgedacht wird, und zweitens, wie das Medium
Hörspiel dabei selbst strukturell Denkvermögen freisetzt und seine Grenzen
und Potenziale thematisiert. Letzteres geschieht dabei ganz diesseits von
Anekdoten wie jener, dass der Europa-Hörspielverlag vor einiger Zeit einen
letzten Kauf von Tonbandmaterial tätigte, um weiterhin Liebhabereditionen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

bestimmter Folgen auflegen zu können – natürlich als Audio-Cassette für den


retrophilen, postadoleszenten Fan.
Ein erstes dieser möglichen ohrenfälligen Stichworte ist Kontemplation.
Die Welt von DDF ist ein semifiktives Kalifornien, ist das Los Angeles irgend-
wo zwischen Santa Monica, Malibu und Hollywood, in dem die Detektive des
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Öfteren einmal den – real existierenden – Wilshire Boulevard entlangeradeln,


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

um zu – nicht real existierenden – Orten wie dem „Mosby-Museum“ oder zu-


rück nach Hause, d.h. nach Rocky Beach zu gelangen. Dies allein ist schon dazu
angetan jugendliche Sehnsucht hervorzurufen. Doch hinzu kommt noch jene
paradoxe Zeitlichkeit, in der die drei Detektive scheinbar immer Ferien haben
und nur in Zeitlupe zu altern scheinen: Die Serie hält in Permanenz endlos
viel Zeit als Möglichkeitsbedingung philosophischer Kontemplation vor und
stellt zugleich plakativ eine kalifornische Laid-back-Philosophy aus. Nehmen
wir nur folgendes Beispiel von der die Fälle ergänzenden Cassette mit der
Original-Musik der Drei ???:

Bob: (lautes Gähnen) ‚Wo ist denn hier …?‘


Jonas: ‚Ohhh … Bob …‘
Peter: ‚Wollen wir nicht zum Strand runter fahren?‘
Jonas: ‚Da ist doch auch nichts los.‘
Bob: ‚Joa … Das ist ne gute Idee Peter. Ich hätte ja nie gedacht, dass es so lang-
weilig sein kann, wenn wir keinen Fall in Bearbeitung haben.‘
Peter: ‚Ja, furchtbar.‘ “5

4 Ebd., S. 61.
5 D ie drei ???, „Original-Musik“, hg v. Heikedine Körting, München: EUROPA, Timecode:
00:00:00–00.00.20. Auf diesem Tonträger findet sich passenderweise auch der Song „Ohne
Die drei ??? schlaf ich nicht ein“.
158 Sebastian Vehlken

Zu dieser Freizeit kommen Freiräume. So operieren Justus, Peter und Bob etwa
von ihrer geheimen, versteckten und mit allerlei Kommunikations- und Tech-
nik-Schnickschnack ausgerüsteten Wohnwagen-Zentrale auf dem Schrottplatz
der Firma Gebrauchtwarenhandel Titus Jonas aus, deren mediale Ausstattung
stetige Updates erfährt. Oder sie erleben ihre Abenteuer auf Urlaubsfahrten,
Vergnügungsparkbesuchen oder an anderen heterotopischen Orten, die dann
auch die Titel der Folgen markieren – von der Geisterinsel zu geheimnisvollen
Schlössern, Phantomseen, Silberminen und so weiter. Nur ab und an können
profane Arbeiten diese Freizeiten und Freiräume stören und unterbrechen,
meist in Person von Justus’ Tante Mathilda:
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Erzähler: ‚Justus, Bob und Peter waren in ihrer Zentrale auf dem Schrottplatz, bis
die Tür aufflog und Tante Mathilda hereinkam.‘
Tante Mathilda: ‚Hier sitzt ihr also! Das hätte ich mir denken können! Justus
Jonas, hast du nichts anderes zu tun?‘
Justus: ‚Ähhh …‘ (stammelt) ‚Ähh, äh im … im Moment, wir…. wir wir wir reden
im Moment über einen sehr wichtigen Fall, Tante Mathilda, und da …‘ (Tante
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Mathilda unterbricht ihn)


Tante Mathilda: ‚Über einen wichtigen Fall. Ihr kommt sofort raus! Auf der
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Stelle!‘ “6

Es gibt also auch die Pflichten profaner Jobs. Im Übrigen gilt jedoch: Alles
Denken und Handeln konzentriert sich auf den Fall.
Ein zweites Stichwort sind Paradoxien. Immer wieder werden Brainteaser
eingestreut, oft von Justus in einer Art rhetorischen Fragens in Bezug auf ele-
mentare Gegenstände des jeweiligen Abenteuers vorgebracht und dabei gege-
benenfalls selbst kritisch reflektiert, oft jedoch auch durch andere Charaktere
der jeweiligen Fälle eingebracht – so wie in diesem Beispiel aus der Folge Die
drei ??? und die bedrohte Ranch:

Vorarbeiter: ‚Hier ist wirklich alles anders als … anderswo!‘7

Wie jeder interessante Pop-Text funktioniert mithin auch diese Serie auf
verschiedenen Rezeptionsebenen. Neben kindgerechter Action und Wissens-
vermittlung treten teils paradoxe Sprachspiele, die eher die Synapsen älterer
Hörerinnen und Hörer anregen.
Ein drittes Stichwort ist Signifikation: Keine Folge ohne die berühmte Visi-
tenkarte. Erst das Medium der Schrift macht aus drei Jungen ernstzunehmende

6 Die drei ???, „Die drei ??? und der Dopingmixer“, a.a.O., Timecode: 00:00:44–00:01:14.
7 Die drei ???, „Die drei ??? und die bedrohte Ranch“, a.a.O., Timecode: 00:06:20–00:06:23.
Die drei ??? als Medienphilosophen 159

Detektive. Ihre Autorität für eine Erwachsenenwelt stellt sich her über ein
Medium der Professionalität:

Mr. Crowe: ‚Ihr seid die drei Detektive, stimmt’s?‘


Peter: (lacht erstaunt) ‚Sie kennen uns?‘
Mr. Crowe: ‚Klar doch! Sag mal, kann ich für mein privates Kriminalmuseum eine
von euren berühmten Karten haben?‘
Justus: ‚Na klar doch!‘
Peter: ‚Klar.‘
Justus: ‚Hier ist eine, Mr. Crowe.‘
Mr. Crowe: ‚Danke, Justus!‘8
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Ohne dieses Medium wären Die drei ??? nur ganz normale Jungendliche. Hier
ein Ausschnitt aus einem heimlich mitgeschnittenen Gespräch zweier Er-
wachsener über die drei Freunde:

Mann: ‚Wenn die drei Bengel Detektive sind, fress’ ich nen Besen!‘
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Frau: ‚Freddy täuscht sich aber doch normalerweise nicht. Er sagt, die drei seien
ganz schlaue Burschen. Hat sich über sie erkundigt. Sie nennen sich Die drei
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Detektive. Wie ein richtiges Unternehmen!‘


Mann: ‚Kinder halt. Mir kannst du nicht einreden, dass die jemals einen Fall auf-
geklärt haben. Höchstens mit unverschämten Glück. Also, wenn mir je ein Junge
über den Weg gelaufen ist, der so richtig dumm aussieht, dann ist es der Dicke.‘9

Ein viertes Stichwort ist Archivologie und Mediengeschichtsschreibung. „Recher-


che und Archiv: Bob Andrews“ ist das vielleicht geflügelteste Wort der gesam-
ten Serie, ein Satz, der jedem Geisteswissenschaftler das Herz aufgehen lässt.
Tatsächlich stöbert Bob im Laufe der Serie durch verschiedenste Bibliotheken,
Lexika und alte Handschriften. Er akkumuliert sozusagen die Daten, die Jus-
tus, der Mastermind der Gruppe, dann in Wissen umsetzt. Oft hilft dabei, dass
Bobs Vater Journalist bei einer großen Tageszeitung ist – mit Zugriff auf ein
Archiv mit teils arkanen Informationen, unveröffentlichten Fotos, oder verges-
senen vermischten Meldungen. Hinzu kommen weitere Medienoperationen –
etwa die legendäre Telefonlawine, das empirische Forschungsinstrument von
DDF – um z.B. Hinweise durch die Ansprache einer großen Personenzahl zu
gewinnen. Später kommt dann auch das Internet als Recherchemedium hinzu.
An der Serie lässt sich somit auch eine Genealogie medientechnischer Verfah-
ren nachzeichnen, die mittlerweile – und endlich – auch akademische Wür-
den erlangt hat: So verfasste die Theaterwissenschaftlerin Mechthild Gallwas

8 Die drei ???, „Die drei ??? und das Riff der Haie“, a.a.O., Timecode: 00:02:25–00:02:33.
9 Die drei ???, „Die drei ??? und die Silbene Spinne“, a.a.O., Timecode: 00:15:55–00:16:24.
160 Sebastian Vehlken

z.B. 2015 eine Masterarbeit im Fach Library and Information Studies der HU
Berlin mit dem Thema Bobs Recherchen. Informationsmanagement und media-
ler Wandel bei ‚Die Drei ???‘.
Daran anknüpfen lässt sich Stichwort Nummer fünf: das Indizienpara-
digma. Die Arbeitsweise von DDF lässt sich im Sinne des italienischen Ge-
schichtstheoretikers Carlo Ginzburg als ein ebensolches fassen.10 Natürlich
ist das Vorbild für den hochintelligenten Justus Jonas niemand anderes als
Arthur Conan Doyles hochintelligenter Sherlock Holmes. Doch mit Ginzburg
ließe sich argumentieren, dass hier wie dort nicht reiner Rationalismus und
deduktive Schlüsse am Werke sind, sondern ein regelrecht intuitives Vorge-
hen, dass sich auf eine Kombinatorik von Nebensächlichkeiten stützt und das
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Charles S. Peirce als Abduktion klassifiziert hat: Als ein Vorgang, in dem eine
erklärende Hypothese allererst gebildet werde.11 Indizien sind hier nicht – wie
bei Serien wie CSI – Bruchstücke, die mittels naturwissenschaftlicher Me-
thoden nur mehr zusammengepuzzelt werden müssen und die Lösung des
Falles bereits in sich tragen. Ein Indizienparadigma im Sinne Ginzburgs als
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

geisteswissenschaftliche Denkart zu fassen bedeutet von den Faktizitäten und


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Evidenzen eines Falls zu abstrahieren, um die Dinge in einem übergreifenden


Zusammenhang sehen zu können. In der legendären HBO-Serie The Wire wird
ein solcher Blick neben die Dinge Soft Eyes-Technique genannt.12
Darüber hinaus gibt es bei DDF Stellen, die geradezu einladen, sie mit
Sherlock Holmes’ Vorbild Auguste Dupin aus Edgar Allan Poes Story Der ent-
wendete Brief und Jacques Lacans Lektüre dieser Geschichte und Jacques Derri-
das Relektüre von Lacans Lektüre dieser Geschichte zusammenzudiskutieren:13

10 Vgl. Carlo Ginzburg, „Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes
nimmt die Lupe, Sigmund Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich
selbst“, in: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis,
hg. v. Ders., Berlin: DTV, 1983, S. 7–57.
11 Vgl. Thomas A. Seboek/Jean Umiker-Seboek, „,Sie kennen ja meine Methode.‘ Ein Ver-
gleich von Charles S. Peirce und Sherlock Holmes“, in: Der Kriminalroman. Poetik, Theorie,
Geschichte, hg. v. Jochen Vogt, München: Fink, 1998, S. 297–321.
12 Vgl. Daniel Eschkötter, The Wire, Zürich: Diaphanes, 2012, S. 56–59.
13 Vgl. Jacques Lacan, „Le seminaire sur ‚La Lettre volée‘“, in: Ecrits, Éditions du Seuil, hg. v.
Ders., Paris: Gallimard, 1966, S. 11–61. Vgl. außerdem Jacques Derrida, „Le Facteur de la
vérité“, in: Poetics 21, 1975, S. 96–114/vgl. John P. Muller, The purloined Poe: Lacan, Derrida
& psychoanalytic reading, Baltimore: The John Hopkins University Press, 1988/vgl. Barbara
Johnson, „The Frame of Reference: Poe, Lacan, Derrida“, in: Yale French Studies, New Ha-
ven: Yale University Press, Nr. 55/56, 1977, S. 457–505/vgl. Servanne Woodward, „Lacan and
Derrida on ‚The Purloined Letter‘“, in: Comparative Literature Studies, 26/1, 1989, S. 39–49.
Die drei ??? als Medienphilosophen 161

Justus: ‚Eine Tüte voller Geld … Na ja, weil es in der Tüte steckt, ist das Geld prak-
tisch unsichtbar …‘
Bob: ‚Hey Just, was ist denn?‘
Justus: ‚Hmm …, soll ich euch mal eine Geschichte erzählen?‘
Bob: ‚Ach, rede nicht um den heißen Brei, die Zutaten kannst du dir sparen!‘
Justus: ‚Es ist ein Mordfall. Eine Erzählung, die ich vor langer Zeit einmal gelesen
habe. Ein Mord, der mit einer unsichtbaren Waffe verübt wurde.‘
Mr. Prentice: ‚Ja …, und?‘
Justus: ‚In der Geschichte saßen ein Ehepaar und ein Freund in einem Zimmer.
Der Ehemann und der Freund gerieten in Streit und daraus entwickelte sind ein
Kampf. Dabei stürzten die Kerzen um, die die einzige Beleuchtung im Raum
darstellten.‘
Bob: ‚Und wie ging es weiter?‘
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Justus: ‚Da hörte die Frau ihren Mann schreien. Jemand stürzte zu Boden, die
Frau spürte, dass sie etwas berührte, die Diener kamen rein und machten Licht.
Der Mann war tot. Er war erstochen worden, aber im Raum war keine Waffe.‘
Peter: ‚Was?‘
Bob: ‚Ach, das gibt’s doch gar nicht! Eine Waffe muss dagewesen sein.‘
Peter: ‚Ja!‘
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Justus: ‚Na ja, sie wurde schließlich auch gefunden.‘


Bob: ‚Ja?‘
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Peter: ‚Und was war das für eine Waffe?‘


Justus: ‚Ein gläserner Dolch. Der Freund hatte den Ehemann damit getötet und
den Dolch am Rock der Frau abgewischt. Dann hat er ihn in einen Wasserkrug
gesteckt. Im Wasser war er nicht zu sehen.‘
Bob: ‚Und was soll das?‘
Justus: ‚Mr. Prentice! Warum sollte jemand Mrs. Chalmers vergiften wollen? Gibt
es dafür einen anderen Grund als den, dass sie immer schwimmt?‘
Mr. Prentice: ‚Um Himmelswillen.‘
Justus: ‚Und Mrs. Boogle! Sie wollte das Becken leeren und säubern. Mr. Prentice,
wir haben die ganze Zeit nach einem gläsernen Hund gesucht – dabei liegt er
offen vor uns und ist doch unsichtbar!‘
Bob: ‚Du meinst, er ist im Schwimmbecken!‘14

Doch während sich die Franzosen anhand von Poes ,entwendetem Brief‘ in eine
ganze Semiotik-Theorie verstricken, ist Justus viel zu sehr klassischer anglo-
amerikanischer Pragmatist. Er taucht einfach im Swimmingpool, findet die
dort ,versteckte‘ Skulptur des gläsernen Karpatenhundes, und so ist der Fall
alsbald gelöst.
Das Stichwort Nummer sechs ist schlicht und einfach Hermeutik. Denn ein
Gutteil der detektivischen Arbeit ist Textarbeit – sie betrifft das Entziffern rät-
selhafter Testamente und geheimnisvoller Botschaften:

14 
Die drei ???, „Die drei ??? und der Karpatenhund“, a.a.O., Timecode: 00:37:52–00:39:18.
162 Sebastian Vehlken

Justus: ‚Im Rätseltext steht: ,Wo der Wildhund haust, das beschirmte Auge
Rechts: zum Billabong!‘ – Wo der Windhund haust, das ist einfach Dingos Haus.
Ein Dingo ist ein australischer Windhund. Und ein Billabong ist ein australisches
Wort für Gewässer.‘
Alter Mann: ‚Aha … Das hört sich gut an.‘
Justus: ‚Also weist uns das erste Rätsel an, hierher zu kommen und einen Polizis-
ten ausfindig zu machen. Denn … ,das beschirmte Auge Rechts‘, heißt es. Wobei
,Rechts‘ groß geschrieben wird. Das heißt also nicht ,links‘ oder ,rechts‘, sondern
,das Recht‘.‘15

Dies wird in späteren Folgen wie Feuerturm noch einmal komplexiert, wenn
DDF nicht nur in der Geschichte eine Botschaft entschlüsseln, sondern ihr Fall
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

und sie selbst zum Teil jener Story werden, die sie im Plot der Folge zu lösen
haben.
Ein siebtes Stichwort lautet Medienexpertentum, und mit diesem kommt
eine weitere – vermeintliche – Sehnsuchtsmaschine für Studierende der
Medien- und Kulturwissenschaften hinzu: Alle drei Detektive machen längst
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

„was mit Medien“.16 Bob tut dies, wie schon erwähnt, über seinen Vater im
Zeitungs- und später Musikbusiness. Peters Vater ist seines Zeichens ein Film-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

produzent, der ebenfalls für Nachschub an spannenden Fällen sorgt. Dabei


scheint er stets gute Location Scouts zu beschäftigen, sodass die drei Detektive
über diese Connection ein Mal an außergewöhnliche Orte gelangen. Von die-
ser Film-Affinität färbt natürlich auch etwas auf Peter ab:

Peter: ‚Bob! Was ist los?‘


Bob: ‚Warte, ich komme runter.‘
Peter: ‚Nun sag schon! Was ist in den Säcken drin?‘
Bob: ‚Das glaubst du nicht.‘
Peter: ‚Ja, was denn nun?! Gold?! Diamanten?! Oder …, oder Videokassetten von
Zombiefilmen?‘
Bob: ‚Dreck! Dreck ist drin!‘
Peter: ‚Dreck? Dreck? Wieso …, wieso sind Zombiefilme Dreck? Es gibt auch gute
dieser Sorte! Also vorherige Woche habe ich zum Beispiel einen Film
gesehen …‘
Bob: ‚Dreck und Steine! Alle Säcke sind voll von Erde und Steine.‘
Peter: ‚Dreck? Steine? Aber …, aber wieso denn? Was hat das für einen Sinn?‘17

15  Die drei ???, „Die drei ??? und die Gefährliche Erbschaft“, a.a.O., Timecode: 00:10:38–00:11:10.
16 Vgl. Nora-Nele Heinevetter/Nadine Sanchez, Was mit Medien. Theorie in 15 Sachgeschich-
ten, Paderborn: Fink, 2008 sowie Claus Pias, Was waren Medien?, Berlin: diaphanes, 2011.
17  Die drei ???, „Die drei ??? und der Rote Pirat“, a.a.O., Timecode: 00:24:21–00:24:44.
Die drei ??? als Medienphilosophen 163

Und während Peter sich zwar mit Zombiefilmen auskennt, aber oftmals die
Sinnfrage stellt, fungiert Justus nicht nur als kombinatorischer Antwortgeber,
sondern Mal um Mal auch als versierter Bastler – ganz egal, ob er in späteren
Folgen heimlich Computerspiel-Bestenlisten manipuliert, um im Score vor sei-
nen Freunden zu landen, oder ob er einfach nur Fernseher repariert wie in der
Folge Die drei ??? und das Narbengesicht.
Achtes und vorletztes Stichwort: Selbstreferenzialität. Was wäre für uns Post-
strukturalisten schockierender, als wenn nicht auch immer wieder selbstrefe-
renzielle Elemente in die Fälle eingestreut würden? Diese brechen sowohl mit
Zuhörererwartungen, etwa in der Folge „Die drei ??? und die Rache des Tigers“,
als Justus sich über das Rauchen einiger Zigaretten das Vertrauen einer Ziel-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

person erschleicht:

Justus: ‚Darf ich Rauchen?‘


Mann: ‚Selbstverständlich! Ich rauch’ ja selbst, beinahe Kette. Mein einziges
Laster.‘
Justus: ‚Ähh … Darf ich Ihnen einen von meinen anbieten? Mal was anderes!
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Ziemlich aromatisch.‘
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Mann: ‚Hmm-hmm. Ja, gib‘ mal her deine Dose. (riecht) Hmm … riecht wirklich
gut! Davon genehmige ich mir eine.‘18

So etwas stelle man sich einmal bei TKKG vor! Die drei Detektive brechen aber
auch mit den Grenzen des Mediums, etwa wenn ein Gespräch in einer Ge-
schichte intermediale Verweise eröffnet, wie im Fall „Die drei ???: Geheimakte
UFO“:

Peter: ‚Und wie willst du das anstellen? Willst du etwa die Telefonlawine ein-
setzten? Die Leute halten uns doch für total bescheuert, wenn wir sie nach UFOs
fragen.‘
Justus: ‚Ich habe an eine andere Methode gedacht. Es gibt noch mehr Wege mit
vielen Menschen in Kontakt zu treten. Stichwort: Internet.‘
Bob: ‚Ahhh, Internet.‘
Peter: ‚Aha, und was soll ich mit diesem Stichwort anfangen?‘
Justus: ‚Das Internet ist ein weltweites Computernetz mit dessen Hilfe man so
ziemlich alles, was man will, erfahren kann.‘
Bob: (seufzt)
Justus: ‚Von Börsennachrichten bis hin zu Fanclubs von Jugendbuchserien ist
alles dabei!‘
Peter: (zustimmend) ‚Ehm-hm.‘

18 
Die drei ???, „Die drei ??? und die Rache des Tigers“, a.a.O., Timecode: 00:31:19–00:31:16.
164 Sebastian Vehlken

Justus: ‚Und da ich mir vor einigen Monaten ein Modem angeschafft habe, bin
ich schon ein paar mal durchs Internet gesurft. Habt ihr zum Beispiel gewusst,
dass es sogar eine Rocky Beach-Homepage gibt?‘
Peter: ‚Nein, interessiert mich auch nicht.‘
Bob: ‚Mich auch nicht.‘19

Tatsächlich findet sich unter www.rocky-beach.com eine große DDF-Fanpage.


Und noch spannender wird es, wenn in Fällen wie dem etwas irreführend be-
titelten „Die drei ???: Vampir im Internet“, in dem Justus, Peter und Bob zu
Computerspiel-Testern avancieren, das Medium Hörspiel gerade ein Ver-
schwimmen der Erzählebenen ermöglicht. Dem Hörer ist zu keiner Zeit mehr
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

klar, ob sich die drei Detektive gerade im Real Life des Hörspiels bewegen und
,ihren‘ Fall lösen, oder ob sie sich zu dritt in der Computerspielwelt bewegen
und dort einen Fall entschlüsseln – und ob nicht beide Fälle ineinanderfallen.
Als neuntes und letztes Stichwort in dieser unabgeschlossenen Reihe me-
dienphilosophischer Elemente bei DDF soll der Einschlafhemmer genannt
sein. Denn es gibt Folgen, die jedes beiläufige Hören und dabei In-den-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Schlaf-Driften konterkarieren. Sie insistieren damit förmlich darauf, dass die


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Hörerinnen und Hörer der medialen Inszenierung und indizienbasiert-


kombinatorischen Auflösung eines Falls bis zum Ende folgen – d.h. selbst bis
zum Ende denken. Einschlafhemmer agieren dabei als rekursives Element. Sie
werden inszeniert als Folge eines Storyeffekts, der zugleich ein Medieneffekt
ist, und mit dem – soviel sei festgehalten – die betreffenden Fälle von DDF jede
Tatort-ähnliche Rezipientensedierung konterkarieren. Das klassische Beispiel
hierzu ist jener schrecklich schreiende Wecker aus der ganz ähnlich betitelten
Folge „Die drei ??? und der seltsame Wecker“. Doch – und damit wäre auch die
Schlusspointe erreicht – dessen Horror lässt sich eben nicht transkribieren. Er
ist eine mediale Eigenheit, die verweist auf den medialen Eigensinn eben jener
auditiven Medienphilosophie von DDF, die eines Hörens bedarf. Fühlen sie
sich also als Leserin und Leser eingeladen, einmal in die Fälle von Die drei ???
hineinzuhören – selbst wenn auch sie längst über 30 sind.

Literatur

Die drei ???, hg. v. Heikedine Körting, München: EUROPA, 1979–2005 und ab 2008.
Derrida, Jacques, „Le Facteur de la vérité“, in: Poetics 21, ?: ? 1975, S. 96–114.
Eschkötter, Daniel, The Wire, Zürich: Diaphanes, 2012.

19 
Die drei ???, „Die drei ???: Geheimakte UFO“, a.a.O., Timecode: 00:22:19–00:23:00.
Die drei ??? als Medienphilosophen 165

Ginzburg, Carlo, „Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes
nimmt die Lupe, Sigmund Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche
nach sich selbst“, in: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und
soziales Gedächtnis, hg. v. Ders., Berlin: DTV, 1983, S. 7–57.
Heinevetter, Nora-Nele/Sanchez, Nadine, Was mit Medien. Theorie in 15 Sachgeschich-
ten, Paderborn: Fink, 2008.
Johnson, Barbara, „The Frame of Reference: Poe, Lacan, Derrida“, in: Yale French Stu-
dies, New Haven: Yale University Press, Nr. 55/56, 1977, S. 457–505.
Lacan, Jacques, „Le seminaire sur ‚La Lettre volée‘ “, in: Ecrits, Éditions du Seuil, hg. v.
Ders., Paris: Gallimard, 1966, S. 11–61.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Lorenz Engell, „Tasten, Wählen, Denken. Genese und Funktion einer philosophischen
Apparatur“, in: Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, hg. v. Stefan
Münkler/Alexander Roesler/Mike Sandbothe, Frankfurt a. M.: Fischer, 2003,
S. 53–77.
Muller, John P., The purloined Poe: Lacan, Derrida & psychoanalytic reading, Baltimore:
The John Hopkins University Press, 1988.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Pias, Claus, Was waren Medien?, Berlin: diaphanes, 2011.


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

Seboek, Thomas A./Umiker-Seboek, Jean, „ ,Sie kennen ja meine Methode.‘ Ein Ver-
gleich von Charles S. Peirce und Sherlock Holmes“, in: Der Kriminalroman. Poetik,
Theorie, Geschichte, hg. v. Jochen Vogt, München: Fink, 1998, S. 297–321.
Servanne Woodward, „Lacan and Derrida on ‚The Purloined Letter‘ “, in: Comparative
Literature Studies, 26/1, 1989, S. 39–49.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Holger Kuhn

Tim und Struppi im „Land der Philosophen“

Um ins „Land der Philosophen“1 zu gelangen, mussten Tim und Struppi nur zu
Hause bleiben. Dass die Helden zu Hause bleiben, ist nämlich die Pointe des
Bandes Die Juwelen der Sängerin von 1963. Tims Abenteuer haben ihn zuvor
an immer entlegenere Orte geführt: etwa nach Südamerika, in den Himalaya,
sogar bis auf den Mond. In den Juwelen der Sängerin herrschen dagegen ver-
kehrte Verhältnisse. Tim bleibt zu Hause in Schloss Mühlenhof. Dafür kommt
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

die Welt zu Gast und verdrängt die Gastgeber aus dem Zentrum der Aufmerk-
samkeit: Vor allen Dingen findet sich die Operndiva Bianca Castafiore samt
Entourage ein. Außerdem herrscht ein nicht abbrechen wollender Zustrom an
Journalisten und Fotografen diverser Printmedien vor, und schließlich belagert
auch noch ein Fernsehteam die ehemals feudalen Räumlichkeiten. In diesem
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Band wird das Abenteuer ausgesetzt und dadurch zum Gegenstand medien-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

philosophischer Überlegungen.
Und dennoch wird im Verlauf der Erzählung immer wieder ein Abenteuer
in Aussicht gestellt. Denn die Castafiore hat wertvolle Juwelen im Gepäck.
Als kleine Konzession an das Genre bzw. die Serie, in der der Reporter Tim
detektivischen Ermittlungen nachgeht, verschwinden die Juwelen mehrmals
im Verlauf der Erzählung. Doch sie tauchen zumeist ebenso schnell wieder
auf, wie sie zuvor verschwunden sind. Jeder Versuch von Tim und den rasch
herbeigeeilten Detektiven Schulze und Schultze, das scheinbare Rätsel zu
lösen, erweist sich als unnötig, und zwar stets, bevor die Ermittlungen über-
haupt in Fahrt kommen können. So viel also zur Handlung bzw. zur Abwesen-
heit derselben: Die Handlung dreht sich im Kreis und will zu keinem richtigen
Ziel kommen.
Dieses Prinzip beherrscht den Band auf mehreren Ebenen: Dinge und
Informationen gelangen nicht oder nur verfälscht zu ihrem Ziel. Davon be-
troffen sind vor allem die Transportakte und Wege. Dies klingt etwa im run-
ning gag des Albums an. Denn den prächtigen Treppenaufgang im Foyer des
Schlosses erklimmt beinahe niemand ohne Störfall oder Sturz. Zu Beginn

1 Vgl. die Sonderausgabe des französischen philosophie magazine: „Tintin au pays des philos-
ophes“, hors-série, September 2010. Einige Anregungen verdankt der vorliegende Beitrag
auch Michael Cuntz, „Die Ketten der Sängerin. Zu Hergés Bijoux de la Castafiore“, in:
Akteur-Medien-Theorie, hg. v. Tristan Thielemann/Erhard Schüttpelz, Bielefeld: transcript,
2013, S. 691–739.

© wilhelm fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762486_028


168 Holger Kuhn

der Handlung bricht ein Stück aus einer Stufe aus und wird – trotz zahlloser
Anläufe – bis zum Ende nicht bzw. nur fast repariert. Daneben gibt es zahlrei-
che weitere Unfälle. Schon bei ihrer Ankunft verursachen die Schultzes einen
Auffahrunfall. Kapitän Haddock gelingt es, selbst den Rollstuhl, auf den er
(wegen eines Sturzes auf der besagten Treppe) angewiesen ist, zum Geschoss
zu machen, das Professor Bienlein und den angereisten Arzt wie Billardkugeln
gegeneinanderstößt.
Allerdings sind die Transportwege nicht die einzigen störanfälligen Kanäle.
Im erhöhten Maße gilt dies nämlich für die Kommunikationskanäle. Wer zum
Telefon greift, um den Maurer Stein anzurufen, wird falsch verbunden und
landet bei der Metzgerei Schnitzel. Der Band bietet zudem eine ganze Typolo-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

gie von Missverständnissen, Falschmeldungen, fehlgeleiteten Boten und Bot-


schaften. Kommunikationsakte führen fast nie oder zumindest niemals direkt
zum Ziel; stets wird der ‚Inhalt‘ verfälscht. Dies zeitigt gelegentlich paradoxe
Effekte: Es gibt Sender, die eine Nachricht senden, von der sie erstaunlicher-
weise erst Kenntnis erhalten, wenn sie sie später selbst empfangen. Es gibt ‚fal-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

sche‘ Informationen, die nach mehrmaliger Übertragung wieder ‚richtig‘ sind


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

(sozusagen stille Post rückwärts).


Diese raumgreifende Typologie gestörter Kommunikations- und Transport-
akte hat den Philosophen und Wissenschaftshistoriker Michel Serres so faszi-
niert, dass er mehrere Aufsätze über die Juwelen der Sängerin geschrieben hat.2
Sie handeln alle von Missverständnissen. Nichtsdestotrotz haben sich Serres
und der Tintinschöpfer Georges P. R. Hergé übrigens so gut verstanden, dass
sie Freunde wurden.
Serres interessiert sich insbesondere dafür, wie im Schloss Mühlenhof alle
Kommunikationsakte von einem Rauschen übertönt werden, und sich das
Rauschen zunehmend so sehr in den Vordergrund drängt, dass die Botschaft
und der Sinn der Kommunikation verloren gehen. Diese – hier etwas verkürzt
wiedergegebene – Deutung hätte eigentlich eine bittere Pille für Hergé sein
müssen. Hergés Ruhm ist ja zu einem großen Teil damit verbunden, der Über-
vater desjenigen Comicstils zu sein, der als ligne claire bezeichnet wird, als klare
Linie. In der Welt der ligne claire aber gibt es kein Rauschen, keine Übergänge,
keine Unschärfen. Jeder Gegenstand ist durch eine säuberliche Kontur von
der Umgebung abgegrenzt. Alles – und damit auch jedes bedeutungstragen-
de Element, jeder Signifikant – wird penibel von allem anderen abgetrennt.

2 Vgl. Michel Serres, „Lachen: Die zerstreuten Juwelen oder die unversehrte Sängerin“, in:
Interferenz, Hermes, Bd. 2, Berlin: Merve, 1992, S. 309–332 sowie Ders., „Tintin ou le pica-
resque aujourd’hui“, in: Critique, Nr. 358, Moulinsart, März 1977, S. 197–207.
Tim und Struppi im „Land der Philosophen “ 169

Rauschen ist in dieser Welt nicht vorgesehen und eigentlich nicht möglich.
Ohne allzugroße Zuspitzung lässt sich behaupten, dass sich die Karriere Her-
gés darauf gründet, kein Rauschen zuzulassen! Wie aber wird es dann doch
möglich, dass sich in den Juwelen der Sängerin jeder Fall zum Unfall, jedes Ge-
räuch in Krach und jede Botschaft in Rauschen zu verwandeln droht?
Dies lässt sich exemplarisch an einer Szene herausarbeiten, in der sich –
ausgerechnet im stummen Medium Comic – die Geräusche vervielfältigen und
überlagern. In dieser Szene werden kaum inhaltliche Botschaften vermittelt,
stattdessen tritt der parasitäre Grund der Kommunikation schmerzhaft zum
Vorschein.
Die Castafiore verabschiedet sich in der obersten Zeile von Haddock, um
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

ihre Tonleitern in einem anderen Raum des Schlosses zu üben. Sie lässt aller-
dings einen Papagei zurück, den sie Haddock als Gastgeschenk mitgebracht
hat. In der folgenden Panelzeile tritt dann die Doppelung aus Bild und Noten-
text ein, die fortan auf der ganzen Seite fortgeführt wird. Insbesondere steht
diese Darstellungsart, die den kontinuierlichen Klang der Musik ins Bild setzt,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

im Kontrast zum herkömmlichen Seitentableau eines Comics. Denn letzteres


10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

zeichnet sich normalerweise dadurch aus, dass eine Seite durch Panels unter-
teilt wird. Diese disjunktive Charakteristik des Comiczeichens wird hier kon-
terkariert von den kontinuierlichen und ununterbrochenen Notenlinien, die
sich über die drei unteren Panelzeilen legen.
In den beiden mittleren Panelzeilen vervielfältigen sich die Geräusche: Das
Telefon klingelt („Drrring Drrring“) und nicht nur Haddock antwortet, son-
dern auch der Papagei: „Halloo? Höören Sie“. Diese Antwort – ob nun vom
Papagei oder von Haddock gesprochen – hat übrigens kaum eine referentiel-
le Funktion, sondern sie entspricht dem, was Roman Jakobson als phatische
Funktion des Zeichens beschrieben hat. Denn sie nimmt auf den Kanal der
Kommunikation Bezug.3 Der Papagei, der in der Renaissance noch als Attri-
but der eloquentia, der Redekunst, galt, verweist in dieser Szene darauf, dass
vor jedem Austausch von Informationen zunächst einmal die kommunikative
Situation hergestellt werden muss. Es ist im Übrigen in dem Band gar nicht
auszumachen, von wem diese medienreferenziellen Worte („Halloo? Höören
Sie?“) eigentlich ursprünglich stammen. Denn der Papagei, selbstverständ-
lich auch ein geradezu emblematischer Nachplapperer, hat diese Antwort
bereits auf Seite 16 von Haddock vernommen. Ein noch genauerer Blick zeigt
allerdings: Dem Kapitän selbst wurde diese Antwort offenkundig noch davor,

3 Vgl. Roman Jakobson, „Linguistik und Poetik“, in: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971,
Ders., hg. v. Elma Holenstein/Tarcisius Schelbert, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979, S. 88–92.
170 Holger Kuhn

nämlich schon auf S. 12, von einem Dritten souffliert – und zwar ausgerechnet
vom Papagei. Wer spricht denn hier eigentlich und wer plappert nach? Offen-
kundig klingen eine Vielzahl an Stimmen mit. Auch das Notenband erklingt
stets noch im Hintergrund bzw. über den Panels. Noch in derselben Panelzei-
le verdichten sich die Geräusche, Töne und Stimmen weiter: Die Anruferin
ist falsch verbunden und wollte mit der Metzgerei Schnitzel telefonieren. Jetzt
klingelt der Papagei: „Drring Drring Drring“ und der zunehmend genervte
Kapitän bezeichnet den Papagei als „alte Schnatterkrähe“. Angesprochen
können sich aber auch die anderen Figuren fühlen. Nicht nur die Dame am
anderen Ende der Leitung. Im oberen Register singt auch die Castafiore emsig
weiter, stets auf die Silbe „ha“, so dass sich ein höhnisches „ha ha ha …“ ergibt.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Die Castafiore, die in diesem wie in allen anderen Bänden immer das gleiche
Stück singt, gleicht im Übrigen auch einem Papagei. Haddock hat in der voran-
gegangenen Nacht sogar mittels Traumarbeit beide – Operndiva und Plapper-
vogel – metonymisch übereinander geschoben.
Ein erneuter Zeilensprung: „Was ist denn das für eine Ausdrucksweise?“
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

zetert die Dame am anderen Ende der Leitung, die eine weitere genervte Stim-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

me in die sich anbahnende Kakophonie der Geräusche und der ineinander-


geschobenen Sinneinheiten einfügt. „Sie haben sich wohl noch nie geirrt.“ Sie
kann ja nicht wissen, dass sich in diesem Comicheft dauernd irgendwie alle
irren. Und immer etwas anderes oder jemand anderen meinen. Der Ton ist
schärfer geworden. Zugleich hat sich im Übrigen die Tonleiter der Sängerin
chromatisch um einen halben Ton nach oben verschoben. Außerdem sind nun
sechs Vorzeichenkreuzchen an den Anfang der Notenlinie getreten, die vor-
her nicht da waren. Im folgenden Panel wird es dann richtig laut. Der Kapitän
schreit erbost den Papagei an. Als Adressatin fühlt sich – nicht ohne Grund – das
Alterego des Papageis, die Sängerin. Denn ihre Notenwerte geraten zunächst
unscharf, um nach einem laut vibrierenden „HAA“ eine halbe Notenlänge
Pause einzulegen; zugleich wird als graphischer Index (Spirale, Sternchen)
etwas ausgestoßen, was wohl das Sängerinnenanalogon zu Haddocks berühm-
ten „Hunderttausendhöllenhunde“ ist. Die Sängerin nutzt schließlich die per
definitionem eigentlich leere Lücke zwischen den Panels, um sich zu räuspern
„Hum Hum“. Dann trillert sie ihr triumphierendes Cis, während ihr Alterego
den Kapitän mit lautem „Tock“ attackiert. Anschließend löst sich die Situation
auf, ganz buchstäblich werden die Vorzeichenkreuzchen (fast) alle aufge-
löst. Der Papagei, der die Stimmen aller Beteiligten dupliziert und die Iden-
titäten verwirrt, wird hinausgetragen. Leider sitzt nur Haddock noch immer
auf der langen Leitung. Ihm entgeht in seinem Zorn, was der fleißige Tim und
Struppi-Leser Serres sehr richtig erkannt hat, und 1980 in seinem Buch Der
Parasit genau ausformuliert hat: „Es gibt ein Drittes vor dem Zweiten; es gibt
Tim und Struppi im „Land der Philosophen “ 171

einen Dritten vor dem anderen. […] Es gibt stets ein Medium, eine Mitte, ein
Vermittelndes.“4

Literatur

Cuntz, Michael, „Die Ketten der Sängerin. Zu Hergés Bijoux de la Castafiore“, in:
Akteur-Medien-Theorie, hg. v. Tristan Thielemann/Erhard Schüttpelz, Bielefeld:
transcript, 2013, S. 691–739.
Jakobson, Roman, „Linguistik und Poetik“, in: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:47:44 (UTC) heruntergeladen.

Ders., hg. v. Elma Holenstein/Tarcisius Schelbert, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979,


S. 88–92.
Hergé, Georges P. R., Die Juwelen der Sängerin, Hamburg: Carlsen, 1999.
Serres, Michel, Der Parasit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002.
Serres, Michel, „Lachen: Die zerstreuten Juwelen oder die unversehrte Sängerin“, in:
Interferenz, Hermes, Bd. 2, Berlin: Merve, 1992, S. 309–332.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Serres, Michel, „Tintin ou le picaresque aujourd’hui“, in: Critique, Nr. 358, Moulinsart,
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019

März 1977, S. 197–207.

4 Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002, S. 97.

Das könnte Ihnen auch gefallen