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10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
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10 Minuten Philosophie
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Wilhelm Fink
10 Minuten Philosophie
Kristin Drechsler, Christoph Jamme (Hg.)
Umschlagabbildung:
Peter Zickermann
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10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
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Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des
Verlags nicht zulässig.
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Michael Gratzke
Die Zeit der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
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Andreas Fritzsche
Lust. Das Emotionale als Grundlage der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Antonio Roselli
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Thorsten Bothe
Schlagfertigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Phänomenologie
Yvonne Förster
Überlegungen zu einer Philosophie der Mode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Kristin Drechsler
Der stumme Anspruch der Dinge und die Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Yvonne Förster
Vom Träumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
vi Inhalt
Nicolas Dierks
Die Rede vom Kampf des Neuen mit dem Alten. Wer hat eigentlich
gewonnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Christoph Jamme
Heideggers „Schwarze Hefte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Andreas Jürgens
Davos ohne Legende? – Zur Disputation zwischen Ernst Cassirer
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Günter Burkart
Wissen und Gewissheit. Oder: Wann ist der Zweifel überflüssig? . . . . . . . . 73
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10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Thomas Saretzki
Lügen – eine Kunst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Christina Schües
Orte der Nicht-Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Birgit Stammberger
Foucault und die nukleare Dimension der Biopolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Steffi Hobus
Mit-Sein und Prekär-Sein: Dimensionen des Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Roberto Nigro
Die Verweigerung der Arbeit: philosophische Implikationen einer
politisch-ästhetischen Praktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Inhalt vii
Zur Metaphysik
Martin Hailer
Gott denken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Thorsten Bothe
Hans Blumenberg. Metaphorologie – Unbegrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Kerstin Andermann
Natur und Norm. Spinozas immanente Ordnung der Natur . . . . . . . . . . . . . 127
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Paul Matthews
Über Grenzen zwischen Mensch und Tier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Kristin Drechsler
Was geht uns der Tod an? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
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10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Regine Herbrik
Es könnte auch anders sein – Was wir vom Spiel für wissenschaftliche
Erkenntniswege lernen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Jan Müggenburg
Lebhafte Artefakte oder „Wenn Roboter Hände schütteln“ . . . . . . . . . . . . . . 149
Sebatian Vehlken
California Thinking – Die drei ??? als Medienphilosophen . . . . . . . . . . . . . . 155
Holger Kuhn
Tim und Struppi im „Land der Philosophen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
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Kristin Drechsler/Christoph Jamme
„Was ist Philosophie?“ Diese Frage nach ihrer Selbstverständigung begleitet die
Philosophie seit ihren Anfängen. Dabei unterscheidet sich das philosophische
Denken von anderen Denkformen nicht nur inhaltlich, sondern bereits der
Art des Fragens nach. Es setzt ein bestimmtes Selbstverständnis nicht unge-
fragt voraus, sondern reflektiert als voraussetzungskritische Selbsterkenntnis
immer auch seinen eigenen Sinn. So ist es das Ziel der Philosophie seit ihren
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Gerade aus diesen Gründen scheint ein Format wie die ‚10 Minuten Philoso-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
phie‘, das seit dem Sommersemester 2004 an der Leuphana Universität Lüne-
burg stattfindet, dem philosophischen Programm zunächst zu widersprechen.
Philosophie ist nichts, was man in 10 Minuten abhandeln kann, sondern bedarf
einer langwierigen intensiven Auseinandersetzung – so zumindest lautet eine
herrschende Überzeugung.
Dass dieses Format jedoch dem philosophischen Anspruch keineswegs ent-
gegensteht, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Philosophie
mehr ist als nur das Studium schwer zugänglicher Literatur. Schließlich lautet
eine philosophische Grundannahme, dass der Mensch per se ein philosophie-
rendes Wesen ist – so vermag er sich gewissen Fragen im Verlauf seines Lebens
nicht zu entziehen. Immanuel Kant fasst diese Fragen wie folgt zusammen:
Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?
Einfache Antworten auf diese Fragen darf man zwar nicht erwarten, dennoch
ermutigt die Philosophie seit Anbeginn, diese und ähnliche Fragen überhaupt
zu stellen und ihnen im alltäglichen ‚Gewusel‘ Raum zu geben.
Philosophieren reicht so gesehen weit über den akademischen Betrieb hi-
naus. Gerade deshalb ist ein niedrigschwelliges Format wie die ‚10 Minuten
Philosophie‘ kein Widerspruch zum philosophischen Selbstverständnis, son-
dern vielmehr eine Möglichkeit der Rückbesinnung auf ein menschliches
Grundbedürfnis.
In diesem Sinne möchte der vorliegende Band dazu einladen, ein wenig
in das weite Feld philosophischen Nachdenkens einzutauchen. Die hier ver-
sammelten Beiträge sind bewusst in ihrem skizzenhaften Charakter belassen
worden, so dass in ihnen noch ein wenig der Klang des Hörsaals vernommen
werden kann.
Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Sophia Wagener, die mit ihrem
Einsatz maßgeblich zur Fertigstellung des Sammelbandes beigetragen hat.
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10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
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Der Verfasser ist kein Philosoph, was ihn aber nicht davon abhält, bisweilen
zu philosophieren. Zehn Minuten zur Mittagszeit in einem Hörsaal sind hier
auf zehn kurze Abschnitte projiziert. Die ersten fünf beschäftigen sich mit
erlebten und imaginierten Zeitabschnitten in der Liebe – vom Augenblick bis
zur Ewigkeit. Die zweiten fünf zeichnen eine unvollständige Skizze der Liebe
von ihrer Vor- und Frühgeschichte bis zu ihrer immer schon angebrochenen
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Zukunft.
1. Augenblick
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Wir verstehen die Liebe auf den ersten Blick als den frühen Ausdruck einer
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Liebe über den Augenblick, die Phase der Verliebtheit, die attachment phase
hinaus. Wir erleben im Laufe der Zeit wohl hunderte von augenblicklichen
Anziehungen zu anderen Menschen, von denen nur die wenigsten in der
Rückschau als Liebe auf den ersten Blick in die Beziehungs- und Lebensge-
schichte eingebaut werden. Das plötzliche Erleben einer romantischen oder
erotischen Anziehung kann so als Epiphanie der Liebe normalisiert werden,
sie muss es aber nicht. Der Philosoph Christian Maurer legt dies in seinen
Arbeiten zu LAFS (love at first sight) überzeugend dar. Er erinnert uns auch da-
ran, dass im Französischen die Liebe auf den ersten Blick keine Liebe ist, son-
dern ein coup de foudre; buchstäblich ein Donnerschlag. Dieser Donnerschlag,
das unerwartete, das Selbst erschütternde Ereignis wird erst nachträglich in
den Liebesdiskurs des Paares überführt, wenn sich denn zwei zu einem Paar
gefunden haben. (Gibt es eine Liebe auf den ersten Blick zu dritt?) Letztlich ist
die Liebe auf den ersten Blick also ein Liebesmythos und nicht als authenti-
sches Erleben im Augenblick aufgehoben.
2. Verfügbarkeit
überstieg die geographische und zum Teil die soziale Endogamie dort, wo es
noch wenig öffentlichen (Nah-)Verkehr gab. Die Verstädterung tat ein Übriges.
Ausflugslokale, Tanzpaläste (heute: Clubs), Kinos sind Liebesdispositive, die
von privaten UnternehmerInnen zur Profitmaximierung betrieben werden. In
der Liebesforschung wird dies oft als eine Kolonisierung einer authentischen
Liebe verstanden. Nur wenige LiebesforscherInnen würdigen die produktive
Kraft der konsumkapitalistischen Liebesdispositive wie Eva Illouz. So wie
Machtwissen bei Foucault Sexualität herstellt, kann Liebe als Ausdruck von
Liebestechnologien gedeutet werden. Die umfassendste neue Liebestechno-
logie ist das Internet. Illouz steht dem online dating allerdings kritisch gegen-
über. Die Verfügbarkeit von potentiellen SexualpartnerInnen, seit Grindr und
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Tinder auf die Spitze des Komforts getrieben, zerstöre unsere Liebeskultur.
Die Frage ist aber, ob die Beschleunigung an sich schon einen qualitativen
Sprung bedeute. Die englische Romanliteratur beschreibt vortrefflich, wie in
der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts jede/-r wusste, wer das größte Erbe
erwarten durfte, welche der Schwestern hübscher war, und welcher Herr eine
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zweifelhafte Vergangenheit hatte. Die sozialen Medien der Zeit waren andere,
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3. LebensabschnittspartnerInnen
4. Lebenslänglich
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie sich noch heute. Dem Ehe-
versprechen folgt traditionell ein Versprechen, zusammenzubleiben, „bis, dass
der Tod euch scheide“. Das Statistische Bundesamt stellt fest: „Im Jahr 2014
wurden in Deutschland rund 166 200 Ehen geschieden, das waren 2,1 % we-
niger als im Vorjahr. Nach den derzeitigen Scheidungsverhältnissen werden
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Liebesbeziehungen enden und das sei auch in Ordnung. Wir sollten das als
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5. Ewigkeit
Die Möglichkeit einer ewigen Liebe ist nur in der Religion gegeben, sei es
in einer traditionellen Religion oder der Liebe als (Ersatz-)Religion. Die Ro-
mantik (als Epoche und philosophische Tradition) verschiebt die Garantie
der (Einheit der) Liebe durch Gott in die Garantie der Liebe in der angenom-
menen Einzigartigkeit des liebenden Individuums. Damit verliert die Liebe
ihren äußeren Maßstab und zu einem gewissen Grad ihre Relationalität. Der/
die romantische Liebende beschäftigt sich vornehmlich mit der Frage, ob das
Liebesobjekt ein angemessener Ausdruck der eigenen Befindlichkeit darstelle.
Daraus, so Eva Illouz, erwächst der Erfolg der Psycho-Branche, die dem Indi-
viduum ein Forum bietet, auf dem es sich endlos selbst befragen kann. Wir
lieben nicht (mehr), um uns in dem/der anderen zu verlieren, sondern um uns
selbst zu finden. Einfach ist das nicht. Ohne allgemein anerkannte Verhaltens-
muster des Liebens, sind wir stets auf uns selbst gestellt. Das könnte auch den
erneuten Erfolg traditionaler Beziehungsmuster wie der Ehe erklären.
8 Michael Gratzke
6. Steinzeit
und einen entsprechenden Anteil von Männern, die sich intensiv um (ihre)
Kinder kümmern. Frauen haben anscheinend unterschiedliche Präferenzen,
was die Gesichtszüge von Männern anbelangt, je nachdem, wo sie sich im
Menstruationszyklus befinden. Um den Eisprung herum ist das Interesse an
hypermaskulinen Alpha-Männchen größer. Was aber für die Menschen der
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7. Geschichte
Simon May beschreibt die Liebe heute als eine Verlängerung des 19. Jahrhun-
derts. Liebe sei keine anthropologische Konstante, sondern ein komplexes kul-
turelles Instrumentarium, das unserer „ontologischen Verwurzelung“ dienen
soll. Liebe schaffe Heimat in der Welt. May unterscheidet vier große Trans-
formationen der Liebe: In biblischer Zeit sei die Liebe zum Leitwert erhoben
worden. Bis in die frühe Neuzeit hinein wurde sie als Gnade Gottes verstan-
den. Die Romantik dagegen habe das liebende Individuum zum Souverän der
Liebe erklärt. Die vierte Transformation sei noch unvollendet: unser Streben
nach der Bestätigung des Selbst durch die Liebe. (Hier sind sich Illouz und
May einig.) In der enttraditionalisierten Welt des 21. Jahrhunderts ist die Lie-
be auf zweierlei Weise eine Herausforderung. Zum einen soll sie uns Heimat,
Die Zeit der Liebe 9
Selbstwert und ekstatisches Erleben vermitteln, was an sich schon zu viel auf
einmal ist. Zum anderen fordert uns die Liebe Aufmerksamkeit und Arbeit ab.
Für Simon May ist keine Liebe bedingungslos. Schon Gottes Liebe war an die
Bedingung geknüpft, dass wir uns Gott unterwerfen. Die Liebe als Religion der
Liebe hat dieses Erbe angetreten.
8. Gegenwart
Die großen Liebestheorien erklären die Liebe immer in Bezug auf ein Außer-
halb der Liebe. Für Freud ist die Liebe ein Oberflächenphänomen der Sexuali-
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tät. Für Luhmann dient sie der sozialen Kontrolle; in der Nahwelt der Liebe
werden die Werte der Fernwelt verhandelt. Die Naturwissenschaften sehen
die Notwendigkeit der Fortpflanzung. Nach Illouz in der Nachfolge Bourdieus
dient die Liebe dem sozialen Aufstieg: Die beste Partnerwahl ist die, in der
ich mich am besten verkaufe. (Diese Marktmetaphorik kennen wir seit Erich
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Fromms Die Kunst des Liebens.) Um herauszufinden, was Liebe heute bedeu-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
tet, sollten wir erforschen, was Liebe an sich heute bedeutet, ohne sie auf
eine Logik außerhalb der Liebe zu projizieren. Wenn wir uns der Liebe in der
Gegenwart ohne eine theoretische Vorverurteilung nähern, ist die angemesse-
ne Methodologie eine induktive. Wie erklären Menschen ihre Vorstellungen
von Liebe? Was sind die kulturellen Deutungsmuster im Alltagsdiskurs, in den
Medien, in der Kunst? Wie unterscheiden sich diese? Vom Standpunkt einer
induktiven Liebesforschung her ist es nicht relevant, ob ein Lebkuchenherz
vom Jahrmarkt ein Klischee ist, sondern was es für den/die Schenkenden und
die/den Beschenkte/n bedeutet. Eine ethnographische Liebesforschung nach
diesem Muster wird allerdings immer mit dem Problem zu kämpfen haben,
dass die Befragten sich auch immer am Erwartungshorizont der Forscher/
innen orientieren. Wir können nicht in die Köpfe der Menschen hinein
schauen. Wenn wir es tun, dann nur mit den bildgebenden Verfahren der
Medizin, die uns nichts über die Liebe an sich verraten. Letztlich ist also auch
eine induktive Liebesforschung eine Diskursanalyse und keine Psychoanalyse.
9. Potenzialität
Die Liebe an sich bleibt uns, den Liebenden und den Forschenden, unzugäng-
lich. Man kann sie mit der langue Ferdinand de Saussures vergleichen. Die
langue der Liebe ist ein denkbares Reservoir aller Potentialitäten der Liebe in
allen Kulturen und in allen Epochen. Wir erfahren die Liebe aber immer in
10 Michael Gratzke
10. Zukunft
lyse, dessen Grenzen sein facteur (Faktor, Postbote) geduldig immer wieder
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
abschreitet. Hier, wie in anderen Texten, vergibt Derrida die Chance, die Lie-
besmodelle aus dem Gastmahl, auf die er anspielt, für seine Philosophie zu ak-
tivieren. Das Gastmahl führt performativ vor, wie sich Liebesmodelle der Liebe
annähern, um vor der Erreichung des Zieles von einem anderen Modell ein-
geholt zu werden. Liebe wird diskursiv hergestellt und verworfen. Deshalb ist
dieser grundlegende Text der Liebesphilosophie zirkulär angelegt. Alkibiades
holt Sokrates wieder ein und stellt die vorgebliche Endgültigkeit der Rede des
Philosophen in Frage. In den „Envois“, dem ersten Teil der Postkarte, spricht
Derrida diese Performativität des liebenden Sprechens en passant an. In einem
Eintrag vom 3. Juni 1977 heißt es, meine Liebe („mon amour“) werde durch
die Erklärung der Liebe realisiert. Eine Diskurstatsache wird hergestellt, wenn
jemand meine Liebe genannt wird. Das schreibende Ich in den „Envois“ weiß
allerdings nicht, ob der Brief an seinem Bestimmungsort ankommen wird. Der
Derrida-Schüler Jean-Luc Nancy führt in seinem Aufsatz „L’amour en éclats“
weiter aus, dass die Liebe nur insofern eine Singularität darstelle, als dass sie
in sich die Potenzialitäten der Liebe en éclats (in der Zersplitterung, im Leuch-
ten, im Lärm, im Skandal) berge. Die Liebe an sich bleibt uns Liebenden und
Forschenden unzugänglich, aber wie „Europa“ oder „Demokratie“ in Derridas
Das andere Kap und die souveräne Freundschaft in Die Politik der Freundschaft
ist sie ein Leuchtturm, auf den wir zusteuern können. Die Liebe ist immer in
der Zukunft (à venir).
Die Zeit der Liebe 11
Literatur
Barker, Meg-John, Rewriting the Rules. An integrative guide to love, sex and relationships,
New York: Routledge, 2013.
Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt
a. M.: Suhrkamp, 1990.
Derrida, Jacques, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992.
Derrida, Jacques, Die Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002.
Derrida, Jacques, Die Postkarte, Von Sokrates bis Freud und jenseits, Berlin: Brinkmann
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Luhmann, Niklas, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M.: Suhr-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
kamp, 1994.
Maurer, Christian, „On ‚Love at first Sight‘“, in: Love and Its Objects: What Can We
Care For?, hg. v. Ders., Tony Milligan & Kamila Pacovská, Hampshire: Palgrave-
Macmillan, 2014, S. 160–174.
May, Simon, Love. A History, Yale University Press, 2011.
Nancy, Jean-Luc, „L’amour en éclats“, Alea Nr. 7, 1986.
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Andreas Fritzsche
Lust heißt griechisch ‚hedone‘ und ist immerhin so wichtig, dass nach ihr ein
Ethiktyp benannt ist, nämlich die hedonistische Ethik. Sie sagt, gut ist das, was
Lust bereitet, und böse ist das, was Schmerzen bringt. Mit der hedonistischen
Ethik werden Epikur, der Vater des rationalen Hedonismus, und auch Kallikles,
der Verkünder eines groben Hedonismus, verbunden.
Lust ist erst mal eine Leidenschaft, ein pathos, denn sie widerfährt uns und
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wir verhalten uns mehr oder weniger passiv. Die Leidenschaft heftet uns aller-
dings an den Augenblick, so auch die Lust. Im Gegensatz zum Schmerz, Zorn
oder Traurigkeit ist die Lust ein angenehmes, positives Empfinden. Darum ge-
hen manche – wie Kallikles – so weit, um zu sagen, Glück sei Lust. Als Sokrates
dies hört, meinte er ziemlich frech, dann wären doch die Schweine, denen man
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der Krätze habe, sei der Glücklichste, denn er könne sich permanent lustvoll
kratzen. Als Kallikles das hörte, wurde er zornig. Dies sei geschmacklos, denn
es gäbe ja verschiedene Arten von Lust. In der Tat gibt es Unterschiede zwi-
schen Lust und Lust, denn es gibt ja nicht nur die „Ergötzungen des Tastsinns“,
sondern auch Freude.
Beim genauen Hinschauen können wir zwischen Vorfreude, der Lust beim
Tun und der Lust danach unterscheiden. Vorfreude sei die schönste Freude,
heißt es; und damit ist das lustvolle Begehren, die schmachtende Sehnsucht
und Freude beim Planen einer Reise gemeint. Die Lust beim Tun stellt sich als
Genuss und Taumel der Sinne ein; die Lust danach empfinden wir im erreich-
ten Gut, in der Ruhe und Entspannung.
Woher kommt die Lust? Weil Menschen, wie Pflanzen und Tiere, auch
Lebewesen sind, und weil Menschen wahrnehmen können, empfinden sie
Lust (und Schmerz). Menschen sind in einem Leib zuhause, sind mit Haut
und Haaren, aber auch mit Kopf und Herz lebendig; und als Lebewesen ha-
ben sie die Aufgaben der Biologie intus, nämlich (A) Selbsterhaltung und
(B) Arterhaltung. Die Alten nannten diese Aufgaben „appetitus naturalis“, also
ein urwüchsisches, ganz natürliches Streben. Leben will leben und will auch
Leben weitergeben. Ein Biologieprofessor sagte mir einmal, dass mit Lust und
Schmerz – mit Zuckerbrot und Peitsche – die Biologie Lebewesen navigiere.
Zum Beispiel meldet die Nase bei beißendem Gestank, dass die Luft schlecht
und Luftwechsel dringend angesagt ist; wenn es dagegen duftet, dann ist in der
Regel die Luft gut oder eine leckere Speise in der Nähe.
Was macht die Lust verdächtig? Wo liegt das Problem? Jeder von uns kennt
das Phänomen, dass Luststreben uns in heftige Turbolenzen stürzen kann. Wir
erleben uns in solchen Situationen als sehr widersprüchlich, zwischen Nach-
geben und Widerstand hin- und hergerissen und im Widerstreit mit uns selbst,
auf jeden Fall verwirrt. Bisweilen haben wir auch den Eindruck eines Defizits
und erleben uns ziellos, maßlos, haltlos und ungestaltet. Etwas fehlt dann, und
zwar das Menschliche. „Wie ein Schwein benimmst du dich“, kann ich dann
hören, und stelle fest, dass ich auf ein animalisches Niveau, um das vornehm
zu formulieren, gefallen bin.
Gibt es eine Lösung? Unser Streben nach Lust ist zutiefst menschlich, und
dieses gilt es zu respektieren. Damit die Lust eine menschliche Lust werden
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kann, bedarf sie der Gestaltung durch ein Maß, einer Orientierung durch ein
Ziel und einer Balance durch die richtige Mitte; sie braucht die Ordnung durch
die Vernunft, denn die Vernunft ist nicht an den Reiz des Augenblicks gebun-
den und kann darum weiter sehen. Diese vernünftige Ordnung ist eine Tugend
und hat den Namen „temperantia“.
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Es gibt eine ganz und gar – sozusagen exklusiv – menschliche Lust: Freude
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heißt sie. Freude ist eine Lust, die mit Vernunft verbunden ist. Darum freu-
en wir uns, wenn wir ein gutes Buch lesen, jemandem zuhören, ein schönes
Gespräch führen oder eine Erkenntnis gewonnen haben. In der Freude sind
pathos und logos, Leidenschaft und Vernunft zusammen.
Was soll dieser Gedankengang über die Lust? Gewähre deinem Leib Respekt
und respektiere dein Streben nach Lust. Gib allerdings diesem Luststreben
eine menschliche, vernünftige Gestaltung und Orientierung. Übrigens steigert
das die Genussfähigkeit deutlich.
Literatur
1 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, online unter: http://woerter
buchnetz.de/DWB/?lemma=ergriffenheit (zuletzt: 20.05.2016).
2 Duden, online unter: http://www.duden.de/rechtschreibung/Ergriffenheit (zuletzt: 20.05.
2016).
3 Vgl. im Sinne eines Überblicks Michael Neumann, „Ergriffenheit: Figurationen der Berüh-
rung“, in: Die streitbare Klio. Zur Repräsentation von Macht und Geschichte in der Literatur,
hg. v. Elizabeth Guilhamon und Daniel Meyer, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2010, S. 27–42.
4 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M.: Fischer, 1991, S. 26.
die Ethnologie (bei Leo Frobenius und Adolf Ellegard Jensen) sowie die Litera-
turwissenschaft (bei Emil Staiger).
Die „Universalität des Pathischen“5, die nach dem Ethnologen und Sozio-
logen Wilhelm Emil Mühlmann in der begrifflichen bzw. konzeptionellen Ver-
wendung der ‚Ergriffenheit‘ sichtbar wird, kann man anhand der „Akttypen
des Erlebens und Erleidens mit ihren mannigfachen Spielarten“ beschreiben,
„denen allen gemeinsam ist, daß dem Subjekt etwas ‚widerfährt‘.“6 Die ent-
sprechende Terminologie ist somit immer eine „passivistische“: „Berührtsein,
Gefesseltsein, Erhobensein, Erschüttertsein, Gepacktsein, Ausgeliefertsein,
Überwältigtsein und Erfaßtsein.“7 Trotzdem weist dieses Phänomen auch eine
spielerische Dimension auf: „Ergriffenheit bedeutet immer ein Beherrscht-
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und Erfülltsein durch etwas; aber nicht unbedingt ein schweres, zwangsmäßi-
ges, auch nicht immer ein leidenschaftliches, oft nur ein spielerisches.“8
Auf einer tieferen Ebene, die an die in der dritten Funktion bereits erwähn-
te Methodenreflexion anschließt, verhandelt das Konzept der ‚Ergriffenheit‘
das Verhältnis von Subjekt und Objekt und die Frage nach dem Status des
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[S]o gilt es, sich der ungewöhnlichen Lage zu fügen und Ungewöhnliches zu
versuchen: Stellung zu nehmen in jener tiefsten erreichbaren Schicht des
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Entstehens von Werken der Kultur, wo Felsmaler und Philolog, aber auch der
Erschauer einer Göttergestalt, noch ganz unterschiedslose, undifferenzierte
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
11 Ebd., S. 70.
12 Ebd., S. 71.
13 Ebd.
14 Vgl. z.B. de Ernesto Martino, „Fenomenologia religiosa e storicismo assoluto“ und „Stori-
cismo e irrazionalismo nella storia delle religioni“, beide in: Storia e metastoria. I fonda-
menti di una teoria del sacro, hg. v. Ders.; Marcello Massenzio, Lecce: Argo, 1995 [1954 und
1957], S. 47–74 und S. 75–96. Vgl. auch die Rekonstruktion bei Walter Burkert, „Griechische
Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne“, in: Les études classiques aux XIXe et
XXe siècles: Leur place dans l’histoire des idées, hg. v. Willem den Boer, Genève: Fondation
Hardt, 1980, S. 159–199, bes. S. 187ff.
15 Karl Kerényi, „Ergriffenheit und Wissenschaft“, a.a.O., S. 63.
18 Antonio Roselli
als „völliges Aufgehen des Subjekts in ihm“, der „sogar den Zustand zeitigen
[kann], der einen völligen Subjekt-Objekt-Wechsel hervorbringt: die Ergriffen-
heit. In der Ergriffenheit wird der Gegenstand zum Subjekt, zum Ergreifenden
und Richtunggebenden.“16 Gerade diese Umkehrung und das damit einherge-
hende Primat des Objekts bedingt die radikal subjektive Ausgangsposition, da
das Subjekt sich als ein vom Objekt ‚auserwähltes‘ erlebt.17
Dieses Moment des ‚Selbstverlusts‘ – der „offene[n], empfangende[n] Passi-
vität“18, so Kerényi, oder der „staunende[n] Achtung vor dem Gegenstand“19, so
Burkert, weist stets auch eine produktive Seite auf. Die Phase der ‚Ergriffenheit‘
wird, nach Frobenius und Jensen, durch Spiel und Mimesis gekennzeichnet:
„[I]n der Periode, da das Wesen der Pflanze den Menschen ergriffen hat, spielt
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er, der Mensch, deren Rolle, denkt er, mimt er ihr Wesen“.20 ‚Ergriffenheit‘ und
‚Ausdruck‘ hängen somit unmittelbar zusammen. Die Kopplung von Passivi-
tät und Aktivität wird von Kerényi in seinem Artikel zu Frobenius’ Begriff der
Paideuma entsprechend emphatisch auf eine humanistische These zugespitzt:
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Es ist eine Fähigkeit zum Reagieren, also etwas wesentlich Passives, obwohl
gerade dieses Reagieren sich in Taten und Schöpfungen – Werken der Kultur –
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
auswirkt. Denn im Grunde genommen wählt man nie, sondern wird immer
gewählt: gewählt von bildnerischen Mächten, denen er sich nicht entziehen
kann. […] Mensch sein bedeutet soviel als dieses Ausgeliefert sein […].21
16 Karl Kerényi, Umgang mit Göttlichem. Über Mythologie und Religionsgeschichte, Göttin-
gen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1955, S. 5.
17 Vgl. Karl Kerényi, „Ergriffenheit und Wissenschaft“, a.a.O., S. 68: „Denn das Grundgefühl
der Ergriffenheit ist dies: die Wahrheit hat mich gewählt und nicht ich sie. Und das ist
zugleich das Gefühl dafür, daß wir diese Wahl verantworten können. Wir setzen dafür
unsere Person ein: nicht auf Grund der Unklarheit und Unfreiheit, sondern auf Grund
des klaren Erkennens und des freien Dienstes.“ Siehe auch Kerényis Ausführungen zur
Identität von Religion und Wissenschaft (ebd., S. 70).
18 Karl Kerényi, „Landschaft und Geist“, in: Apollon. Studien über antike Religion und
Humanität. Neuausgabe mit einer Folge von Betrachtungen über Mysterien des Humanen,
hg. v. Ders., Düsseldorf: Eugen Diederichs, 1953 [1935], S. 90–104, hier S. 94.
19 Walter Burkert, Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, a.a.O.,
S. 191.
20 Leo Frobenius, Kulturgeschichte Afrikas. Prolegomena zu einer historischen Gestaltlehre,
Wuppertal: Peter Hammer, 1998 [1933], S. 39.
21 Karl Kerényi, „Paideuma“, in: Wege und Weggenossen II, hg. v. Ders., München: Albert
Langen & Georg Müller, 1988 [1938], S. 197–199, hier S. 198f.
Ein ,völlige[r] Subjekt-Objekt-Wechsel ‘ 19
Literatur
Burkert, Walter, „Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne“, in:
Les études classiques aux XIXe et XXe siècles: Leur place dans l’histoire des idées, hg. v.
Willem den Boer, Genève: Fondation Hardt, 1980, S. 159–199.
Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M.: Fischer, 1991.
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Humanität. Neuausgabe mit einer Folge von Betrachtungen über Mysterien des
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Schlagfertigkeit
1. Anfangsteil (exordium)1
Schlagfertigkeit ist ein von der Rhetorik, auch der empirischen, wenig unter-
suchtes Phänomen, eine Forschungslücke, ein Forschungsdesiderat. Ob sie er-
lernbar ist oder nicht, scheidet von jeher die Geister und produziert ein Meer
an Ratgeberliteratur, das wenig schlagfertig, aber – bei gelungener Überredung
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nicht schlagfertig genug war oder geschwiegen hat, es zuvörderst gerne anders
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
oder besser oder überhaupt etwas gesagt hätte. Es lässt auch erahnen, dass die
Kunst zu beleidigen, also sogenannte ad hominem-Argumente (Argumente
gegen die Person, nicht zur Sache) im Spiel gewesen sein könnten. Ebenfalls
verrät uns das Sprichwort eine Abfolge der Rede, einen Schlagabtausch, der
offenbar abrupt endet oder aber nicht wieder erneut beginnt – Letzteres ist
die schwierigste Frage.
1 Die Gliederung des Beitrags folgt der Gliederung für eine kurze Musterrede aus Tim-
Christian Bartsch et al., Trainingsbuch Rhetorik, Paderborn: Schöningh, 2013, S. 41–50.
aber auch bei Publikationen, wenn man rezensiert wird und feststellen muss,
das die Rezension, die schon lange nicht mehr der Information der potentiellen
Leser dient, zu einem Forum der persönlichen Abrechnungen verkommen ist.
Folgendes will ich zeigen: Wie also funktioniert erstens Schlagfertigkeit, ist sie
rhetorisch doch lern- und lehrbar? Und zweitens, wenn der oder die Geschla-
gene verstummt, bricht dann die Rede ab oder beginnt sie gar nicht erst wie-
der? Letzteres wäre die eher philosophische Frage.
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Ich möchte ein weiteres, weniger lustiges Beispiel geben, dass mir oft nicht
mehr historisch, sondern in letzter Zeit wieder politisch aktueller denn je
erscheint. Ich möchte Ihnen dieses weitere Beispiel im Hinblick auf die Ar-
gumentationsstruktur und rhetorische Topik, also die Lehre vom Auffinden
des Redestoffes, aufgliedern und zeigen, wie genau das Contra und damit die
Schlagfertigkeit funktioniert:
3. Erzählung (narratio)
„Der spätere Kardinal Graf Galen in Münster war während der Nazi-Herrschaft
der Regierung sehr unbequem und entsprechendem Druck ausgesetzt.“2 Ein-
mal predigte er von der Kanzel wieder besonders harsch und prangerte sowohl
die nationalsozialistische Familienpolitik als auch deren Kinder- und Jugend-
erziehung sehr hart an.
Ein Mann mit offensichtlich starkem nationalsozialistischen Hintergrund,
der seiner Ehefrau zuliebe diese wohl in den Gottesdienst begleitet hatte,
sprang sehr erbost auf und störte lauthals mit einem Zwischenruf: Wie gerade
2 Paul Herrmann, Reden wie ein Profi. Rhetorik für den Alltag, München: Orbis, 1992, S. 126f.
Schlagfertigkeit 25
4. Argumentation (argumentatio)
Was ist hier genau passiert? Wir freuen uns, dass der Nationalsozialist einen
Dämpfer erhalten hat und schweigt. Das ist gut und legitim, aber lassen wir die
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zwei Vorteile: Die Auswahl der Einwände ist gering, hier gleich null und die
Schlussregel kann nicht mehr angegriffen werden, da sie vom Gegner, in die-
sem Fall dem Zwischenrufer, selbst eingeführt worden ist. Ich erinnere: Wer
unverheiratet und kinderlos ist, kann zu familienpolitischen Fragen keine Stel-
lung nehmen.
Ob nun bewusst oder unbewusst, unser Zwischenrufer hat sich für sein
Argument einer klassischen rhetorischen Topik bedient, den Fundorten zu Per-
sonen. Diese Gemeinplätze sind historisch in der Rhetorik in sogenannten Lis-
ten ausgeprägt und tradiert, die genutzt werden, um Argumente zu generieren.
Muss man z.B. eine Geburtstagsrede halten, findet man in diesen Listen Be-
zeichnungen wie Familie, Nationalität, Alter, Geschlecht, Ausbildung, Charak-
ter, Physiognomie, Vorgeschichte, soziale Stellung usw. Unser Zwischenrufer
hat nun Beruf und Familie für sein Argument gewählt, aber deren Spiegelung
nicht bedacht. Wenn Graf Galen, was seine Personenbeschaffenheit anbe-
langt, nicht in der sozialen Stellung, also normrelevanten Position ist, um über
Familienpolitik zu sprechen, ist es der Führer auch nicht.
Nun schweigt – so ist es historisch verbürgt – der geschlagene Zwischen-
rufer in unserem Beispiel. Wie aber ist dieses Schweigen zu deuten und ist es
gar ein Marker für Schlagfertigkeit? Die Rhetorik kennt zwei Sprachfiguren, die
das Schweigen vorstellen können, die Aposiopesis, eingedeutscht Aposiopese,
den sogenannten Abbruch der Rede; „she is so beautiful, I can’t go on …“ –
wobei die schöne Literatur hier zahlreiche Beispiele kennt, wo emotionale
Überwältigung durch den Abbruch der Rede angezeigt wird. Die zweite Figur
26 Thorsten Bothe
ist die Praecisio, die Figur von gar nicht erst Anfangen zu sprechen. Z.B. Ge-
richtsfälle, die dadurch beschlossen werden, dass man sie gar nicht erst eröff-
net oder Musikstücke wie John Cages Berühmtes fürs Klavier, wo minutenlang
kein Ton erzeugt wird.3 Woher können wir wissen, dass der Zwischenrufer sich
geschlagen gab? Ob ihm wirklich die Worte fehlten?
5. Schlussteil (peroratio)
Sicher ist, dass sich ein schlagfertiges Argument aus einer guten Topik und
Kenntnis der Argumentationslehre entwickeln lässt. Unsicher hingegen, wie
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A) Zielsatz (conclusio)
Daher ist es richtig, vor einer elaborierten Theorie der Schlagfertigkeit, eine
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losophie des Schweigens zu leisten. Was zugleich erklärt, warum es eine gute
rhetorische Theorie der Schlagfertigkeit noch nicht gibt und die Ratgeberlite-
ratur ihr Ziel nicht erreicht. Schlagfertigkeit wird erst lern- und lehrbar, wenn
man weiß, wann, ob und wie geschwiegen wird.
B) Handlungsaufforderung
Ich spare mir die in der peroratio, dem Schlussteil, der conclusio nachfol-
gende Handlungsaufforderung an das Publikum. Ich hoffe, ich konnte einen
anregenden Beitrag stiften und werde nun schweigen. Vielen Dank für die
Aufmerksamkeit!
Literatur
3 Zur Differenz von Praecisio und Aposiopesis, der Praecisio als Figur einer „omission of
everything“ und Folgefigur der Aporie vgl. Arthur Quinn, Figures of Speech. 60 ways to turn
a phrase, New York: Routledge, 1995, S. 36–37.
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Phänomenologie
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Yvonne Förster
Die Philosophie ist gemeinhin dafür bekannt, den Dingen auf den Grund zu
gehen, nach Prinzipien und unhintergehbaren Bedingungen zu suchen. Ihre
Überlegungen nehmen zumeist ihren Ausgangspunkt bei unumstößlichen
Gewissheiten, wie dem Cogito Descartes’ – das Ich denke, welches als solches
nicht bezweifelt werden kann. Die Mode ist demgegenüber ein Phänomen, das
zumindest auf den ersten Blick durch Vergänglichkeit, Unbeständigkeit und
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Oberflächlichkeit geprägt ist. Ein großer Kritiker der Kultur der Oberfläche war
Jean-Jacques Rousseau, der schreibt: „Die Kraft und Stärke des Körpers findet
man im bäurischen Gewand eines Landmanns, nicht aber im Prunkstaat eines
Hofmannes. Der Tugend, die Kraft und Stärke der Seele ist, ist der Putz völlig
fremd.“1 Rousseau betont den gesunden Körper und die starke Seele als Merk-
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male eines tugendhaften Menschen. Die Seele und die Tugenden stehen für
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
eine Innerlichkeit, der die Äußerlichkeit der Mode, des Putzes entgegengesetzt
wird. Eine solche Trennung ist dem Alltagsverständnis mitnichten unbekannt.
Gern wird dem Modenarren charakterliche Oberflächlichkeit und mangelnde
Tugend wie auch leichtes Leben unterstellt. Auch ist es ein bekannter Topos,
dass Mode soziale Rollenbilder konstituiert oder mindestens verstärkt. So
findet sich in der Damenmode immer wieder ein bestimmtes Bild der Frau,
welches eher dem männlichen Wunschdenken als der weiblichen Physis zu
entsprechen scheint. Man denke an die Einschnürung des Körpers in enge
Korsetts oder in jüngster Zeit die Stilettos aus dem Hause Manolo Blahniks.
Die Kritik der sozialen Funktion von Kleidernormen macht einen zentralen
Bestandteil der Modetheorie aus. Modetheorie zielt häufig auf die Beschrei-
bung gesellschaftlicher und sozialer Praktiken und Zusammenhänge ab, auf
Fragen sozialer Rollenzuschreibungen oder den Akzeptanzbedingungen von
Innovation. Solche Herangehensweisen lassen sich in erster Linie der Sozio-
logie oder Institutionentheorie zuordnen.
Demgegenüber möchte ich hier die Frage aufwerfen, ob eine Philosophie
der Mode denkbar ist und was diese leisten könnte. Dafür muss zunächst ge-
sagt werden, worin eine spezifisch philosophische Herangehensweise an das
Thema Mode bestehen könnte. Das ist nicht ganz einfach, da es sich um einen
Begriff handelt, dessen Grenzen und Bedeutungsdimensionen nicht klar
1 Jean-Jacques Rousseau, „Über Kunst und Wissenschaft“, in: Schriften zur Kulturkritik, hg. v.
Kurt Weigand, Hamburg: Meiner, 1995 [1750], S. 11.
umrissen sind. Dies schreckt Philosophen in der Regel nicht ab, man denke nur
an den eben erwähnten Begriff der Seele und frage sich, was dieser denn ge-
nau bedeutet – auch in diesem Fall wird man sich sehr schnell vor Unschärfen
und Widersprüche gestellt finden. Man könnte jedoch entgegnen, dass der Be-
griff der Mode anders als der der Seele gesellschaftlich instanziiert und durch
Institutionen vertreten wird. Damit sollte er Gegenstand der soziologischen
Analyse sein. Die Seele hingegen ist nicht direkt zugänglich, kann nicht einer
objektivierenden Untersuchung unterzogen werden. Sie fällt daher eher in das
Feld einer philosophischen Untersuchung, welche sich in theoretischer oder
spekulativer Hinsicht mit den Prinzipien des Lebendigen oder des spezifisch
Menschlichen auseinandersetzt.
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Auch wenn dem Begriff der Mode scheinbar zu viel Empirie anhaftet und
zu viele Phänomene darunter zusammengefasst werden, die selbst nichts mit
philosophischen Fragestellungen zu tun haben, so muss das nicht heißen,
dass dieser Begriff der philosophischen Betrachtung nicht würdig wäre. Eini-
ge große Philosophen halten den Begriff der Mode zwar an unscheinbarem
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Platze. Jedoch geben sie zu erkennen, dass sie die Mode für ein Medium spe-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
zifischer Weisheit halten. Ein Beispiel soll an dieser Stelle genügen: ein Den-
ker der deutschen Romantik, Friedrich Schlegel. Er schreibt in seinem Roman
Lucinde folgendes:
Wie die weibliche Kleidung vor der männlichen, so hat auch der weibliche Geist
vor dem männlichen den Vorzug, daß man sich da durch eine einzige kühne
Combination über alle Vorurtheile der Cultur und bürgerlichen Conventionen
wegsetzen und mit einemmale mitten im Stande der Unschuld und im Schooß
der Natur befinden kann.2
Mode wird gern mit der weiblichen Kleidung assoziiert, da die männliche Klei-
dung scheinbar sehr viel weniger Variationsmöglichkeit besitzt – nur so viel
an dieser Stelle zum Geschlechterdiskurs. Auffällig an dieser Textpassage aus
der Epoche der Romantik, aus der Feder des Denkers der romantischen Iro-
nie ist, dass Mode genau mit dem Gegenteil dessen assoziiert wird, was Rous-
seau thematisierte. Für ihn ist Mode täuschende Oberfläche und schlechte
Künstlichkeit. Nach Schlegel führt eine bestimmte Form der Gestaltung die-
ser Oberfläche gerade zur Unschuld (Reinheit der Seele) und zur Natur – im
Gegensatz zur Künstlichkeit. In diesem Zitat wird weiterhin deutlich, dass es
eine Form der Mode gibt, die gerade nicht bürgerliche Konvention (und die
damit einhergehenden Konstruktionen von Geschlechterrollen) zementiert,
sondern sich über diese erhebt. Im aktuellen Diskurs würde man etwa mit
Judith Butler von der Subversion des Bestehenden sprechen. Die kühne Kom-
bination, welche solches vermag, lässt den Aspekt des spielerischen Umgangs
mit Kleidung und Gedanken (hier ist ja nicht nur die Rede von Kleidung, son-
dern auch vom Denken) erahnen. Der Gedanke des Spiels ist in jener Zeit in al-
ler Munde, man denke nur an Kants „freies Spiel der Erkenntniskräfte“3 bei der
Betrachtung des Kunstschönen oder an das Schiller’sche Diktum vom Mensch,
der erst da ganz Mensch ist, da wo er spielt.4
Die kühne Kombination, von der Schlegel hier spricht, kann man als eine
Anspielung auf den Spielgedanken lesen. Im Text findet sich diese Passage in
der „Allegorie von der Frechheit“.5 Die Frechheit wird direkt mit dem Witz und
der Fantasie assoziiert, welche als Vermögen in dieser Allegorie über den klas-
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zes auf, sowie die Allegorie, die Paradoxie oder das Fragment. Schlegel führt
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
3 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996 [1790], S. 132.
4 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart: Reclam, 2000
[1794], S. 62f.
5 Friedrich Schlegel, Lucinde, a.a.O., S. 23ff.
32 Yvonne Förster
ben. Das bedarf einer Erklärung. Zunächst haben wir mit der Frage nach den
Bedingungen von etwas den Umkreis philosophischer Fragen betreten. Da es
sich bei der Mode jedoch um ein sehr komplexes Phänomen handelt, müssen
auch Einschränkungen vorgenommen werden. Es geht mir in diesem Zusam-
menhang nicht um Kleidung im Großen und Ganzen und auch nicht um Phä-
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nomene, wie das „Pariser Modesystem“ oder die Frage nach dem Status: Haute
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Couture vs. H&M. Was mich interessiert, ist Mode, dort wo sie bewusst einge-
setzt und in ihren Möglichkeiten reflektiert wird. Das geht vom individuellen
Träger über die Präsentation von Kollektionen hin zu Mode als Kunst, wie sie
im Museum zu sehen ist. Nimmt man Mode in ihrer Bedeutung ernst, dann
ergeben sich mindestens zwei Charakteristika: Vergänglichkeit und freier, spie-
lerischer Umgang mit Zeichen und Symbolen. Diese beiden Bestimmungen er-
öffnen der Mode einen Spielraum, der geradezu prädestiniert ist, Mode zum
Medium ironischer Reflexivität zu machen.
Mode entspringt einem sehr alten menschlichen Bedürfnis, sein Äußeres zu
gestalten: Ein Beispiel bilden Körperbemalungen, derer sich Menschen schon
seit Urzeiten bedienen. Dieses Bedürfnis hat seinen Ursprung in der sozialen
Lebensweise. Wir sind Wesen, für die es existenziell notwendig ist, zu kommu-
nizieren, anderen mitzuteilen, was in uns vorgeht, was wir denken und wollen.
Dies geht nur über Ausdruck, über Veräußerung des Inneren durch Sprache,
Mimik, Gestik – kurz: der Gestaltung unserer Erscheinung, unserer Oberfläche.
Dies ist essentiell und hat nichts mit überflüssigem Tand oder Putzsucht zu tun.
Natürlich geht die Mode über die für die Kommunikation notwendige Gestal-
tung der Erscheinung hinaus, womit nun aber gerade spezielle Möglichkeiten
eröffnet werden. War es lange die Kleiderordnung, die uns auf soziale Rollen
oder Geschlechtsspezifika festlegte oder in bestimmten Grenzen immer noch
festlegt, so besteht mit der Mode in ihrer modernen Form die Möglichkeit, diese
auf nicht-ideologische Art in Frage zu stellen. Die Vergänglichkeit und die se-
mantische Offenheit von Mode führen dazu, dass ein Spiel mit individuellen
Überlegungen zu einer Philosophie der Mode 33
tion mit einer sozialen Gruppe, dies hat Georg Simmel in seinem berühmten
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Aufsatz zur Mode in aller Deutlichkeit dargelegt.6 Damit ist sie nicht reine
Spielerei, sondern erfüllt eine präzise soziale Funktion. Die Systemtheoreti-
kerin Elena Esposito beschreibt dies als Paradoxon, denn Mode bezieht ihre
Konstanz aus der Vergänglichkeit.7 Damit stellt sie eine kulturelle Praxis dar,
welche den Umgang mit Veränderung und Heterogenität gewissermaßen
trainiert. Sie gibt die Möglichkeit, Veränderung zu leben, ohne dabei aus
gesellschaftlichen Normen auszubrechen oder existenziell betroffen zu sein.
Diese paradoxe Verfasstheit nähert die Mode ebenfalls der Ironie an – das
Paradox ist einer der zentralen Begriffe im Kontext der oben genannten Schle-
gelschen Ironie. Und auch in Bezug auf Mode ist Ironie durchaus im philo-
sophischen Sinne zu verstehen, denn was hier geschieht, ist eine ästhetische
Distanzierung von semantischen Festlegungen, welche die ursprünglichen
Bedeutungen nicht verschwinden lässt, sondern sie durch Einfügung in einen
neuen Kontext relativiert.
Die Ernsthaftigkeit, die dieser Funktion zugrunde liegt, führt dazu, dass so
auch eine Ironisierung im philosophischen Sinn möglich wird – indem näm-
lich die Gestaltung der eigenen Identität und die Orientierung an gesellschaft-
lichen Normen durch eine der Vergänglichkeit unterworfene Semantik der
6 Georg Simmel, „Die Mode“, in: Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphiloso-
phie, hg. v. Ingo Meyer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008 [1908], S. 78ff.
7 Elena Esposito, Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode, Frankfurt
a. M.: Suhrkamp, 2004, S. 173ff.
34 Yvonne Förster
Mode realisiert wird, kann auch ein Bewusstsein für die Kontingenz von Iden-
tität und Normen entstehen.
Die ironische Haltung in der Mode lässt sich entlang der Gedanken eines
weiteren prominenten Vertreters ironischen Denkens verallgemeinern. Richard
Rorty betont, dass die Einsicht in die Kontingenz von Überzeugungen und
Weltsichten die liberale Ironikerin (so bezeichnet er die Figur, welche das Ideal
der ironischen Einstellung verwirklicht) dazu führt, keine ihrer eigenen Über-
zeugungen und Ideale als absolut geltend zu setzen, sondern sie als eine Mög-
lichkeit in einer Pluralität anderer Möglichkeiten zu begreifen.8
Dieses ästhetische Spiel in einem Medium, welches dem Individuum im
wahrsten Sinne des Wortes auf den Leib rückt, macht Pluralität in einem Kon-
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text erfahrbar, der weder vollkommen der Realität enthoben ist (reines, fol-
genloses Spiel), noch vollkommen einem festen Regelwerk unterworfen ist.
Die Mode bildet ein Reich dazwischen, welches eine Schule der Ironie im phi-
losophischen Sinn sein kann. Dies ist jedoch nur unter der Bedingung einer
expliziten Reflexion auf das Modegeschehen möglich. An diesem Punkt geht
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Mode in Kunst über – sie zieht die Menschen dann nicht mehr an, sondern
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
macht sichtbar, was die Kunst des Schneiders gemeinhin zu verbergen sucht.
Auch der große Denker der ästhetischen Moderne, Walter Benjamin, betont
die Eigenart der Mode, Tendenzen der Zeit ins Material zu setzen. Mode als
Zeitkunst lebt von den Zitationen des Vergangenen als Zeichen einer mögli-
chen Zukunft. In diesem Sinn ist sie philosophisch relevant:
Das brennendste Interesse der Mode liegt für den Philosophen in ihren außeror-
dentlichen Antizipationen. […] Jede Saison bringt in ihren neuesten Kreationen
irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen
verstünde, der wüsste im voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst,
sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen. – Zweifellos liegt
hierin der größte Reiz der Mode, aber auch die Schwierigkeit, ihn fruchtbar zu
machen.9
Die zeitgenössische Mode bewegt sich an der Schnittstelle von Konsum und
Kunst. Die Schauen der avancierten Designer lassen das Material und die Kör-
per in einen Dialog treten, der der Reflexion einen Raum gibt und philoso-
phische Aspekte sichtbar macht: Das Hergestelltsein, die Spuren der Zeit (bei
den japanischen Designern Rei Kawakubo oder Yohji Yamamoto, die in den
1980ern die Pariser Modewelt revolutionierten), den Zusammenhang von Reli-
gion und Mode (bei Hussein Chalayan), die Medialität von Mode (bei Viktor &
8 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie, Solidarität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989, S. 127ff.
9 Walter Benjamin, Das Passagenwerk, 1. Bd., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982, S. 112.
Überlegungen zu einer Philosophie der Mode 35
Literatur
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Schiller, Friedrich, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart: Reclam,
2000 [1794].
Schlegel, Friedrich, Lucinde, Stuttgart: Reclam, 1999 [1799].
Simmel, Georg, „Die Mode“, in: Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und
Kunstphilosophie, hg. v. Ingo Meyer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008 [1908].
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Kristin Drechsler
und Zeug in Anschlag bringt. Die Gebrauchsdinge nennt Heidegger Zeug. Mit
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stellen, wird hier die Aufmerksamkeit vielmehr auf die vielschichtigen Ver-
flechtungen zwischen Menschlichem und Dinglichem gerichtet.
Der entscheidende Wendepunkt eines Wandels der Dingwahrnehmung ist
jedoch bereits in der krisenhaften Zeit um 1900 auszumachen, wo eine Revi-
sion des Verhältnisses von Ding und Mensch geradezu programmatisch wird.
Neben der phänomenologischen Bemühung, einer Rückkehr zu den Sachen
selbst (Husserl), sind es besonders Beispiele künstlerischer Wahrnehmung,
denen in diesem Zusammenhang eine Sonderstellung zukommt. Dort werden
Erfahrungen laut, in denen von lebendigen, aufsässigen, zurückblickenden,
sich gegen den Menschen verbündenden Dingen die Rede ist. Zu nennen
sind hier beispielsweise Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte
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Laurids Brigge, Hugo von Hofmannsthals Brief des Lord Chandos oder Robert
Musils Die Aufzeichnungen des Zögling Törleß, aber auch Franz Kafkas Erzäh-
lung Die Sorge des Hausvaters, in der ein Ding namens ‚Odradek‘ zum unlös-
baren Problem wird.
„Ein Ding ist eine unausdeutbare Deutbarkeit“, heißt es exemplarisch bei
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Hofmannsthal. Und bei Rilke klingt es ähnlich, wenn er von der Rose sagt: „Uns
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aber bist du die volle zahllose Blume, / der unerschöpfliche Gegenstand“. Mit
dieser Beschreibung des Dinges als ‚unausdeutbar‘ und ‚unerschöpflich‘ ist
auch eine Nähe zur Phänomenologie angezeigt, wonach sich uns in der Wahr-
nehmung stets nur eine Seite des Gegenstandes gibt, wobei zugleich eine an-
dere verdeckt wird. Anders gesagt: es gibt eine Rückseite der gedeuteten und
uns vertrauten Welt und von dieser Rückseite her kommen die Dinge in ihrer
Unerschöpflichkeit zum Vorschein. Und zwar dann, wenn der gebrauchende
Umgang unterbrochen ist und wir uns mit dem ‚bloßen Ding‘ konfrontiert
sehen.
Diese Welt – also die Welt der Dinge – zu erfahren, verlangt eine Einstellung,
die sich als stummes, staunendes Vernehmen bezeichnen lässt. Während uns
die Dinge im gebrauchenden Umgang zu nah sind, um sie in ihrer Eigenstän-
digkeit zu erfahren und im wissenschaftlichen Vorstellen zu weit weg gestellt,
bedeutet ein stummes, staunendes Vernehmen eine Begegnung mit ihnen, die
nicht von Gegenüberstellungen, sondern lateralen Verflechtungen geprägt ist.
Francis Ponge, dessen Parteinahme für die Dinge für diese Haltung beispiel-
haft ist, spricht davon, dass „Nur, wer sich ganz in die Welt der Dinge einlässt“,
„die Wichtigkeit eines jeden Dinges [zu] erkennen“ vermag, also „das stumme
Flehen, die stummen Klagen, die sie erheben.“ Als „Botschafter der stummen
Welt der Dinge“, wie Ponge die Dichter nennt, tritt auch Rilke ein, der davon
schreibt, dass ihn selten ein Ding anspricht, „ohne die Aufforderung an ihn zu-
stellen, bedeutend hervorgebracht zu sein.“
Der stumme Anspruch der Dinge und die Kunst 39
Die unsichtbare Rückseite unserer vertrauten Welt ist sich also auch die Welt
der künstlerischen Dingerfahrung, wo ein stummer Anspruch, den die Dinge
stellen, vernommen wird und sich der Künstler auf die Suche nach einer an-
gemessenen Antwort auf diesen Anspruch begibt.
Die Begegnung mit den Dingen findet dann außerhalb ihrer kategorialen
oder funktionalen Bestimmungen für uns statt. Das staunende Vernehmen
verlangt vom Wahrnehmenden eine Haltung, die den Dingen weder zu nah
kommt noch sie zu weit weg stellt. Ponge schreibt hierzu: „Indem wir uns von
da wegnehmen, indem wir dadurch, dass wir uns entfernen, uns (soweit wie
möglich) zurückziehen, die Atmosphäre abkühlen lassen, können wir jedem
Gegenstand seinen vitalen (funktionierenden) Zusammenhang zurückgeben.“
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Die Begegnung mit der Welt der Dinge verlangt also zusammengefasst Zu-
rücknahme und erhöhte Aufmerksamkeit zugleich. So lässt sich auch das fol-
gende Haiku von Shiki verstehen:
niemand ist da
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In dieser Hitze.
Die Hacke tut hier nichts, außer da zu sein. Sie steht da. Allein ohne mensch-
lichen Bezug. Denn „Niemand ist da“. Der Gebrauchsgegenstand Hacke ist
hier seinem Verweisungsbezug enthoben. Der Leser erfährt nicht, wo die Ha-
cke steht, ob sie an eine Mauer gelehnt ist, ob sie in die Erde getaucht ist. All
das bleibt verborgen. Alles, was wir in diesem Haiku erfahren, ist, dass sie dort
steht. Gerade die Unbestimmtheit des ‚dort‘ lässt sie ganz eigentümlich im
Raum des Gedichts hervortreten.
Wie die Hacke, die hier zu nichts gedrängt ist und nichts tut außer da zu
sein – und über die eigentlich noch viel mehr zu sagen wäre – sind auch die
Gegenstände auf den Stillleben Giorgio Morandis da.
Dem Maler war die Suche nach einer eigenen Gesetzmäßigkeit der Dinge
eine Lebensaufgabe. Der Aufenthalt vor oder vielmehr in den Dingen erhält
vor diesem hohen Anspruch den Charakter einer Bewährungsprobe. Das Wort
Aufenthalt ist hier ganz wörtlich zu nehmen, denn Morandi, der von sich
selbst sagte, dass er „das große Glück [hatte], ein ganz ereignisloses Leben zu
führen“, verbrachte sein ganzes Malerleben mit immer den gleichen Dingen.
Diese gewöhnlichen Dinge waren dem Maler unerschöpflich, so sagt er: „Ja, es
sind meine ganz gewöhnlichen Dinge. […] Warum sollte ich sie austauschen?
Sie eignen sich recht gut.“ Sie eignen sich gut für die Sehschulung, der Morandi
sich fortwährend unterzieht.
40 Kristin Drechsler
auch Morandis Flaschen und Vasen ganz allein im Bildraum und blicken uns
schweigend an. Das Kunstwerk legt hier den Blick auf eine Begegnung mit den
Dingen frei, in der diese nicht einfach festgestellt werden, sondern vielmehr
erst mittels eines vernehmenden Zugangs entstehen. Es geht hierbei darum,
„die Dinge auf sich zukommen zu lassen“ und nicht nach ihrer Bedeutung für
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Endlichkeit – sie ist räumlich, zeitlich und gedanklich auf etwas begrenzt.
Der Endlichkeit steht die Unendlichkeit gegenüber. Die Unendlichkeit kann
nicht gedacht werden. Die Endlichkeit schon. Die Endlichkeit begrenzt etwas.
Sie setzt eine Grenze. So ist beispielsweise ein Gegenstand, ein Ding auf sei-
nen materiellen Umfang begrenzt. Sei es ein Ball, ein Metalldöschen, ein Stift
oder ein Buch. Exemplarisch sei an dieser Stelle der Teilband II.21 aus Walter
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zweite Aspekt der Endlichkeit ist der der Zeit. Den als Beispiel herangezoge-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
nen Teilband von Walter Benjamins Gesammelten Schriften gibt es als einfache
Paperback-Ausgabe und auch in einer hochwertigeren Leinen-Version. Es steht
zu vermuten, dass die Paperback-Publikation von der teureren in Leinen ge-
bundenen Ausgabe überdauert, also überlebt wird. Endlichkeit ist endlich, weil
sie zeitlich begrenzt ist. Und somit wäre man schon bei dem dritten Aspekt
von Endlichkeit, nämlich dem Gedanklichen: Endlichkeit endet. Dennoch sei
erwähnt, dass bei dem dritten Aspekt von Endlichkeit im Grunde ein Para-
doxon vorliegt: Zwar ist Endlichkeit räumlich, zeitlich und gedanklich endlich,
doch werden unsere Gedanken mittels neuer Impulse, die wir beispielsweise
durch ein Buch erhalten haben, immer wieder von Neuem angestoßen. Des-
wegen endet die Dimension eines Buches nicht so einfach; es überdauert sein
eigenes Dasein in den Gedanken des Lesers.
Was also ist endlich? Die Antwort: das Leben ist endlich. Das Sterben steht
als Grenze zwischen Leben und Tod. Der Tod steht für Endlichkeit. Woody
Allen sagte einmal: „Ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich möchte nur nicht
dabei sein, wenn’s passiert.“ Um eines glücklichen Lebens willen haben wir uns
heutzutage in unserer westlichen Gesellschaft vornehmlich darauf eingerich-
tet, nicht an den Tod und insbesondere nicht an den eigenen Tod zu denken,
ihn gewissermaßen einfach totzuschweigen.
1 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.2 [GS II.2], Aufsätze, Essays, Vorträge, hg. v.
Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2014.
auch der Literatur ist er ein vielfach bedachtes Thema. Dabei lehrte uns be-
reits die abendländische Philosophie, was Philosophieren bedeutet: in Platons
Dialog Phaidon3 erklärt Sokrates bevor er freiwillig und wohlbemerkt ohne
Missmut4 den Schierlingsbecher trinkt: Philosophieren sei sterben lernen.5
Auch in Erzählungen, Mythen und Märchen begegnet uns der Tod ständig. In
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Schriften II.2 befindet sich auch der Essay „Der Erzähler“.6 Dort klagt Benjamin
an: „Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende zu, weil die epische Seite der
Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt.“7 Mit dieser Beobachtung hat Benjamin
Recht. Unter den postmodernen Bedingungen verschwindet die handwerk-
liche Kunst des Erzählens zugunsten der Information zunehmend. Glück-
licherweise arbeiten bis heute Schriftsteller gegen diesen Missstand an. In
Bezugnahme auf Paul Valéry beklagt Benjamin, dass der heutige Mensch nicht
mehr an dem arbeite, was sich nicht abkürzen ließe.8 Benjamins Antizipa-
tion und kulturkritische Weitsicht ist auch aus seinem berühmten Essay Das
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit9 bekannt, in dem
2 Baruch de Spinoza, „Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt“, in: Sämtliche Werke,
Bd. 2., Ethik Pars IV, Propositio 67, übersetzt und mit Anmerkungen von Otto Baensch und
mit einer Einleitung von Rudolf Schottlaender, Hamburg: Meiner, 1994, S. 247.
3 Platon, Phaidon, Stuttgart: Reclam, 2012.
4 Vgl. ebd., S. 117b.
5 Ebd., S. 61d, S. 67c, S. 67d.
6 Walter Benjamin, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: Gesammelte
Schriften, Bd. II.2, Aufsätze, Essays, Vorträge, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schwep-
penhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2014, S. 438–465.
7 Walter Benjamin, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, a.a.O., S. 442.
8 Vgl. ebd., S. 448.
9 Vgl. Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“,
in: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom
Scholem, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 2. Aufl., Frankfurt a. M.:
Von der Endlichkeit 43
er vorhersah, inwieweit sich die Rezeption von Kunst ändern würde. Benja-
mins Weitsicht wird auch in dem Erzähler-Essay deutlich, in dem er mittels
Gesellschaftsbeobachtungen der 1930er Jahre den Abkürzungs- und Effekti-
vitätszwang kritisiert – wohlbemerkt vor der Digitalisierung mittels Twitter,
Instagram, facebook, etc.
Doch nicht nur die Praktik des Erzählens verschwindet, das Erzählte ver-
ändert sich auch. Im Roman beispielsweise handelt es sich Benjamin zufolge
nicht mehr um die Moral der Geschichte, sondern um den Sinn des Lebens.
Der Sinn könne aber in einer Geschichte erst dann erkannt werden, wenn das
im Roman erzählte Leben einer Person als abgeschlossen unterstellt werde.10
Für den Roman ergebe sich daraus ein bestimmtes Tempus: „Ein Mann, […]
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der mit fünfunddreißig Jahren gestorben ist, wird dem Eingedenken an jedem
Punkt seines Lebens als ein Mann erscheinen, der mit fünfunddreißig Jah-
ren stirbt.“11 Mit diesem Eingedenken werde das Wesen der Romanfigur am
besten dargestellt, da sich der Sinn des Lebens erst vom Tode her erschließe.12
Beschrieben wird das Verhältnis des Eingedenkens zur Zeit. Benjamin gelingt
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es, das Genre des Romans und dessen Lektüre mit dem Tod zusammen zu brin-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
gen. Der Tod stellt die Grenze dar, von der her das Leben wie im Eingedenken
betrachtet wird. In vielen traditionellen Erzählwerken fällt der Schluss der
Erzählung mit dem Tod des Protagonisten bzw. der Protagonistin zusammen.
Womit das Schicksal des Romanhelden bzw. der Romanheldin im Werk ab-
geschlossen vorliegt. Ungeachtet des Vorwärtsströmens der Romanhandlung
wird in jedem Augenblick ihres fiktiven Lebens die Romanfigur als bereits
erfüllt empfunden, da bekannt ist, dass sie in den Grenzen des ästhetischen
Werkes aufgeht.
Obwohl das philosophische Denken in der traditionellen Philosophie als
Vorbereitung auf den Tod, als ein immer erneutes Hinterfragen von Leben und
Tod verstanden wird, lassen zahlreiche zeitgenössische Philosophen die Frage
nach dem eigenen Tod unbedacht. Woran mag das liegen? Werden die grund-
legenden Fragen nach dem Sinn und dem letzten Grund des menschlichen
Lebens tatsächlich als nicht mehr diskussionswürdig empfunden? Oder ist
der Tod geklärt, weil er endlich ist, und ist folglich somit auch die Endlichkeit
Suhrkamp, 1974. S. 471–508. Wobei anzumerken ist, dass es insgesamt vier Fassungen des
Kunstwerk-Aufsatzes gibt – drei deutsche und eine französische Version. Interessant hier-
zu: Walter Benjamin, Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe Bd. 16: Das Kunstwerk
im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, hg. v. Burkhardt Lindner, Frankfurt
a. M.: Suhrkamp, 2013.
10 Walter Benjamin, GS II.2, a.a.O., S. 456.
11 Ebd.
12 Vgl. ebd.
44 Isabel von Wilcke
geklärt? Vielleicht mag es auch sein, dass wir im Rahmen der zeitgenössischen
Eventgesellschaft ganz epikureisch sind. Gemäß der antiken Lustlehre der
Epikureer wurde der Tod noch als etwas begriffen, was uns nichts anzugehen
habe, da er nicht sei, wenn wir sind und wir nicht mehr sind, wenn er ist. Zwar
hatte der Tod über Jahrtausende hinweg einen bedeutenden Platz in der Kul-
tur der Menschheit eingenommen, doch ist er in der zeitgenössischen westli-
chen Gesellschaft seit langem aus den Gesprächen des Alltags verschwunden.13
Kommen wir noch ein letztes Mal zurück auf Benjamins Erzähler. Dort wer-
den weitere Aspekte unseres Umgangs mit dem Tod auf den Punkt gebracht:
nete Türen des Sterbehauses das Volk sich entgegen drängt) – sterben wird im
Verlauf der Neuzeit aus der Merkwelt der Lebenden immer weiter herausge-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
drängt. Ehemals kein Haus, kein Zimmer, in dem nicht schon einmal jemand
gestorben war. […] Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben
geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie werden, wenn es mit ihnen
zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien oder in Krankenhäusern verstaut.14
Sontag nimmt dazu in Illness as metaphor15 klar Stellung und räumt mit dem
Mythos auf, Krebskranke würden nur deshalb dieser Krankheit erliegen, da das
eigene Gleichgewicht aus Körper, Geist und Seele aus der Balance sei. Doch
es gibt noch einen dritten, wesentlich profaneren Aspekt, weshalb lebensbe-
drohliche Krankheiten aus den Gesprächen des Alltags verschwunden sind:
Bestseller-Autor John Green brachte es in The Fault in our stars16 treffend auf
den Punkt: Nostalgie sei nicht nur ein Nebeneffekt von Krebserkrankungen,
sondern nostalgisch sei man erst dann, wenn man sich im Prozess des Sterbens
befände. Krebs ist Tod.17 Und über den Tod spricht man eben nicht, oder nur
ungern, denn er löst im Gesprächspartner einen Schauder aus, ein Zusammen-
zucken, ein Unbehagen, das sich vermischt mit der Angst vor dem eigenen Tod
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dürfen wir zumeist aus hygienischen Gründen nicht mehr greifen. Somit ist
uns auch die Möglichkeit genommen, die von nun an währende Abwesenheit
des einst mit uns Lebenden, nun Gestorbenen zu verstehen. Die Möglichkeit
des Abschieds wird uns genommen. Um die Endlichkeit schön zu gestalten,
passen wir sie an. Machen den Tod schön, ästhetisieren ihn, inszenieren ihn.
Die Beerdigung wird derart gestaltet, dass sie nicht zu deutlich den Gedanken
an den Sieg des Todes aufkommen lässt, der unvermeidlich einen jeden von
uns erwartet. Er wird getarnt und verkleidet. Das Nachdenken über den Tod
wird gemieden wie die Pest. Alles soll schön sein, so auch das Sterben. Aber
Sterben ist nicht schön, es ist scheiße.19 Keiner will freiwillig sterben, denn es
gibt noch so viel zu tun. Doch sterben muss jeder – gefühlt fast immer zu früh.
So, wie wir ohne eigenen Willen auf die Welt kommen, darf auch der eigene
Abgang nicht mitbestimmt werden. Das Leben scheint ungerecht.
15 Susan Sontag, Illness as metaphor and AIDS and its Metaphors, New York: Picador, 2001.
16 John Green, The Fault in our Stars, New York: Dutton Books, 2012.
17 Vgl. ebd.
18 Walter Benjamin, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, a.a.O.,
S. 449.
19 So, wie es sich nicht gehört, über das Sterben, den Tod und die eigene Endlichkeit zu
sprechen, so schickt es sich auch nicht, Kraftausdrücke in einen Vortrag oder gar eine
Publikation einzuweben. In diesem Kontext einen derart starken Ausdruck zu verwen-
den, ist gewiss unüblich, aber die Verfasserin dieses Textes bittet um Nachsicht. Kein an-
deres Wort schien adäquat, das brachiale Ereignis der Endlichkeit und das Sterben zu
beschreiben.
46 Isabel von Wilcke
Als Beispiel sei hier Tolstois Der Tod des Iwan Iljitsch20 genannt. Iljitsch ist
krank. Unheilbar krank. Alle wissen das. Dennoch wird ihm gegenüber nur
von einer Krankheit gesprochen, die wie jede Krankheit prinzipiell heilbar sei.
Tolstoi schildert beeindruckend den von Iljitsch in seiner Reflexion auf seinen
Zustand erfahrenen Widerspruch zwischen dem theoretischen Wissen, dass
alle Menschen sterblich sind und jeder einzelne Mensch daher sterblich ist,
und dem praktischen Wissen, das sich im praktischen Lebensvollzug von die-
sem theoretischen Wissen aber nicht betroffen fühlt.
Es war Iwan Iljitsch klar, daß er sterben müsse, und darum befand er sich im
Zustand ständiger Verzweiflung. In seinem tiefsten Innern wußte Iwan Iljitsch,
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daß er sterben müsse, allein er wollte sich nicht nur nicht an diesen Gedanken
gewöhnen, sondern konnte ihn einfach nicht begreifen, die nackte Tatsache
nicht begreifen.21
Tolstois Iwan Iljitsch zeigt uns: Sterben tun immer die anderen, nie man selbst.
Gespräche über Tod und Endlichkeit kehren aber langsam wieder zurück. In
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hen, in der darstellenden Kunst, in den Erzählungen des eigenen Umfelds, usw.
wird uns täglich der Tod vor Augen geführt. Im Grunde lächelt uns diese The-
matik im eigenen Spiegelbild jeden Morgen an. Nach der Geburt beginnt der
Zerfall.
Eine Art Metaphysik der Endlichkeit lässt sich durch die Lektüre von Martin
Heideggers bekannten Todesanalysen in Sein und Zeit22 gewinnen. Durch Hei-
degger wurde der Tod im 20. Jahrhundert zu einem zentralen Thema der Phä-
nomenologie. Die Bezüglichkeit des Menschen auf den Tod, also das Sein zum
Tode, wird von Heidegger als Existential des Daseins und somit als grundsätz-
liches Moment der menschlichen Seinsweise begriffen. Ganz im Gegensatz
zum epikureischen Räsonnement begreift Heidegger den Tod als das zentrale
Moment des menschlichen Seins. Heidegger zufolge wurzelt jegliches Seins-
verständnis im als wesentlich endlich bestimmten Dasein. Das Dasein kann
nur dann in seinem ursprünglichen Sinne interpretiert werden, wenn auch
seine Ganzheitlichkeit in den Blick gebracht worden ist. Wobei die sogenannte
Ganzheitlichkeit das Ganzseinkönnen des Daseins ist, was wiederum nichts
Geringeres darstellt als Heideggers berühmtes Postulat des „Sein zum Tode“23.
20 Leo Tolstoi, Der Tod des Iwan Iljitsch, übersetzt von Johannes von Guenther, Nachwort von
Konrad Fuhrmann, Stuttgart: Reclam, 1992.
21 Ebd., S. 57.
22 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, 17. Aufl., 1993.
23 Vgl. ebd., S. 46ff.
Von der Endlichkeit 47
Die Strukturen des Daseins werden auf die Endlichkeit ihres zeitlichen Hori-
zonts hin freigelegt. Somit erschließt sich das Dasein über die Seinsmöglich-
keit sein grundsätzliches Verständnis für die ihm zugehörige begrenzte und
endliche Lebensdauer. Eingangs wurde damit begonnen, den Terminus der
Endlichkeit in Abgrenzung zur Unendlichkeit und der Grenze zu erläutern.
Wir leben gefangen in unserer eigenen Endlichkeit und sehnen uns teilwei-
se nach Grenzenlosigkeit. Doch wer die Grenzen aus den Augen verliert und
damit auch den Tod, der vergisst nicht nur, was ihm bevorsteht, sondern der
verspielt die eigene Existenz. Denn wer die Endlichkeit aus den Augen verliert,
der verliert sich selbst aus den Augen.
Mit Bezugnahme auf Platons Verfügung, der zufolge Philosophieren sterben
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lernen sei,24 sagte übrigens Jaques Derrida in seinem letzten Interview kurz
vor seinem Krebstod 2004: „Ich habe nicht gelernt, den Tod zu akzeptieren.“25
Literatur
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10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Macho, Thomas, „Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich“, in: Der Tod
als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Todesriten im Alten Ägypten, hg. v. Jan
Assmann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000, S. 89–120.
Sontag, Susan, Illness as metaphor and AIDS and its Metaphors, New York: Picador,
2001.
Spinoza, Baruch de, „Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt“, in: Sämt-
liche Werke, Bd. 2., Ethik Pars IV, Propositio 67, übersetzt und mit Anmerkungen
von Otto Baensch und mit einer Einleitung von Rudolf Schottlaender, Hamburg:
Meiner, 1994.
Platon, Phaidon, Stuttgart: Reclam, 2012.
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Tolstoi, Leo, Der Tod des Iwan Iljitsch, übersetzt von Johannes von Guenther, Nachwort
von Konrad Fuhrmann, Stuttgart: Reclam, 1992.
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Yvonne Förster
Vom Träumen
Der Traum fasziniert. Er ist allgegenwärtig, jeder weiß von dem einen oder an-
deren, wiederkehrenden oder einmaligen, schönen oder verstörenden Traum
zu berichten. Träume sind Phänomene des Schlafs aber auch des Wachlebens.
Der Tagtraum, die Utopie, die Halluzination, der Rausch – alle erzeugen eine
Welt jenseits der Wahrnehmung. Dieses Jenseits der Wahrnehmung wurde
philosophiegeschichtlich zu einem Topos. Zwar findet sich der Traum sel-
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ten als eigenständiges Thema, vielmehr bildet er das Gegenbild zur rational
strukturierten Welt des wachen Verstandes. Im Traum gibt es Sprünge, Dis-
kontinuitäten und nicht logisch erklärbare Phänomene. Nicht einmal die Per-
sönlichkeitsstruktur selbst ist im Traum stabil. Manchmal sind wir zugleich
Beobachter und Handelnde oder wir identifizieren eine Person, deren Identi-
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tät sich jedoch im Traumverlauf verändert, ohne dass das dem Träumenden
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Na großartig! Als ob ich nicht ein Mensch wäre, der gewöhnlich nachts schläft,
und dem in Träumen dasselbe widerfährt wie jenen wachen Geisteskranken,
oder zuweilen sogar noch weniger Wahrscheinliches! Wie oft nämlich bin ich
nachts im Schlaf von eben solchen Alltäglichkeiten überzeugt, wie etwa, daß ich
hier bin, einen Mantel trage, beim Feuer sitze – während ich doch entkleidet im
Bett liege! […] Wenn ich aufmerksamer daran denke, sehe ich so unverhohlen,
daß der Wachzustand niemals aufgrund sicherer Anzeichen vom Traum unter-
schieden werden kann, daß ich erstaune; und dieses Erstaunen bestärkt mich
fast sogar noch in meiner Meinung, zu träumen.
Mit der Gegenüberstellung von Traum und Wachleben arbeiten die großen
Denker der Neuzeit, von Descartes über Locke und Leibniz bis zu Kant: Der
Traum ist eine Figur, an der sich Innen- und Außenwelt des denkenden Sub-
jekts explizieren und exemplifizieren lassen.1 Der Traum wird zum erkenntnis-
theoretischen Argument. Das Traumbewusstsein ist eine sehr spezielle Art des
1 Vgl. dazu Petra Gehring, Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung, Frank-
furt a. M: Campus, 2008, S. 59ff.
Bewusstseins. Jean-Paul Sartre will in seinem Text über das Imaginäre zeigen,
dass „der Traum die vollkommene Verwirklichung eines geschlossenen Imagi-
nären ist“.2 Im Traum ist das Bewusstsein laut Sartre verzaubert und in seiner
eigenen Vorstellungskraft gefangen – auch das Wissen des luziden Träumers
(auch Klarträumer genannt) um seinen Traumzustand sei letztlich nur ge-
träumt. Wirkliche Reflexivität, die das Wachleben auszeichnet, die Möglich-
keit, etwas als real oder fiktiv zu identifizieren, sei im Traum ausgeschaltet;
das Bewusstsein der „Kategorie des Realen“3 beraubt. Dieser Unterschied zum
Wachleben hat laut Sartre klare Konsequenzen: So gibt es für den Träumenden
beispielsweise weder einen Unterschied zwischen Erinnerung und Traumbe-
wusstsein noch ein Möglichkeitsbewusstsein.
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hundert v. Chr.: „Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt; im Schlaf
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
bilden, wie solche aus dem Wachleben: Ob also beispielsweise der Gedanke
1+1=2, wenn er im Traum gedacht wird, dieselben neuronalen Korrelate hätte,
sich also neuronal auf die gleiche Art realisieren würde, wie im Wachleben.
Hier deutet sich ein Forschungsfeld an, das über die Beobachtung von Hirn-
aktivität hinausgeht und einen interdisziplinären Ansatz erfordert.
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Another important point is that dreams are a second global state-class aside
from wakefulness. Unlike hallucinations, which are typically restricted to an
isolated type of phenomenal content in one or two of the sensory modalities a
pattern on the wall, or strange sounds or voices dreams usually integrate several
different types of imagery into a complex, multimodal, and sequentially orga-
nized model of the world.5
4
Dr. Michael Czisch, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Psychiatrie,
München, Prof. Dr. John-Dylan Haynes, Bernstein Center der Charité -Universitätsmedizin
Berlin, Prof. Dr. Michael Schredl, Leiter des Schlaflabors am Zentralinstitut für seelische Ge-
sundheit, Mannheim, online unter: http://hpd.de/node/15742 [zuletzt: 05.01.2018].
5 Thomas Metzinger; Jennifer M. Windt, „The Philosophy of Dreaming and Self-Conscious-
ness: What Happens to the Experiental Subject during the Dream State?“, in: The New Sci-
ence of Dreaming. Cultural and Theoretical Perspectives, hg. v. Deirdre Barrett und Patrick
McNamara, Westport: Praeger, Vol. 3, 2007, S. 193–247, hier S. 195.
52 Yvonne Förster
Augenblick des Erwachens entstehen, ist das Phänomen des luziden Träu-
mens. Der luzide Traum ist sowohl wissenschaftlich als auch in seiner Erleb-
nisqualität interessant. Man spricht von luziden Träumen oder Klarträumen,
wenn der Träumende während des Traums ein Bewusstsein vom Träumen ent-
wickelt; wenn er also weiß, dass er träumt und dann entsprechend den Traum
manipulieren kann. Klassische Beispiele für solche Manipulationen sind Flie-
gen oder durch Wände gehen. Ganze Welten des Traums zu manipulieren
führt hingegen schnell zum Abbruch des Traums. Das Gefühl, im Traum Wel-
ten erschaffen zu können, ist verlockend und hat kulturgeschichtlich unzäh-
lige Methoden, luzides Träumen zu trainieren, hervorgebracht. Die lebhafte
Qualität dieses Traumerlebens regt vor allem auch kinematographische Ima-
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ginationen an. Im Film Inception (Christopher Nolan, USA 2010) werden ge-
meinsame Träume benutzt, um dem Träumenden im Traum einen Gedanken
einzupflanzen, der ins Wachleben fortwirkt. Wenn der Protagonist Cobb im
Traum auf Fischer trifft, dem ein Gedanke vermittelt werden soll, weist Cobb
ihn darauf hin, dass er träumt, indem er Fischer fragt, wie er in dieses Hotel
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gekommen sei. In dem Moment, in dem Fischer erkennt, dass seine Welt in
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diesem Moment eine Geträumte ist, beginnt sie, aus den Fugen zu geraten,
alles droht zusammenzubrechen.
Der luzide Traum ist natürlich auch wissenschaftlich interessant, denn er
ist mit dem klaren Bewusstsein, gerade zu träumen, verbunden und lässt sogar
eine Kommunikation zwischen dem Träumenden und dem Beobachter oder
Forscher zu. Wenn der luzide Traum einsetzt, können geübte Träumer Signale
wie zum Beispiel Augenbewegungen setzen, die dem Forscher Anhaltspunk-
te über den Zustand des Schlafenden geben und damit eine genauere Inter-
pretation der Daten aus den bildgebenden Verfahren ermöglichen. Solche
signal-verifizierten Untersuchungen luziden Träumens wurden bereits in den
frühen achtziger Jahren im Labor von Stephen LaBerge, dem Vorreiter der Er-
forschungen des luziden Traums, durchgeführt. Ein Bewusstsein vom Traum-
zustand, wie im Falle des luziden Träumens ist selbst ein Grenzphänomen.
Es verbindet das Wachbewusstsein mit der Traumwelt und ermöglicht es, aus
dieser Traumwelt heraus in die Wachwelt zu kommunizieren. In der Traumfor-
schung benutzt man Morsecode-ähnliche Signale, um den Zustand des Träu-
mens zeitlich zu identifizieren. Ballt ein Träumender im Zustand des luziden
Traums seine Faust, dann geschieht dies zwar nicht auch in Realität, denn die
Schlaflähmung hat ihn fest im Griff. Das Ballen der Faust jedoch gibt einen der
wenigen sehr eindeutig identifizierbaren und dekodierbaren Hirnzustände im
fMRT ab. Wenn im Traum die Faust geballt wird, dann hat dies ein spezifisches
neuronales Aktivierungsschema zu Folge. Auf diese Weise kann festgestellt
werden, wann der luzide Träumende im Traum angelangt ist.
Vom Träumen 53
6 Vgl. Jennifer M. Windt, Dreaming. A Conceptual Framework for Philosophy of Mind and
Empirical Research, Massachusetts: MIT Press, 2015.
7 Vgl. Evan Thompson, Waking, Dreaming, Being. Self and Consciousness in Neuroscience, Medi-
tation, and Philosophy, New York: Columbia University Press, 2014.
54 Yvonne Förster
über den Traum hinaus in den Tiefenregionen des Schlafs bestehen bleibt.
Auch wird die Möglichkeit diskutiert, dass es Formen des Bewusstseins ohne
Gegenstand gibt – eine Idee, welche phänomenologische geschulten Geistern
ganz abwegig erscheinen muss, denn dort ist Bewusstsein per definitionem
immer Bewusstsein von Etwas. Der Traum kann in diesem Zusammenhang
als ein Ausgangspunkt für eine Reise in die Grenzregionen von Bewusstsein
dienen, welche vielleicht weiter entfernt liegen, als gemeinhin angenommen.
Eine Frage, welche auf diesem Weg immer wieder gestellt werden muss, ist
die nach den notwendigen und hinreichenden Bestimmungen von Bewusst-
sein. Was muss gegeben sein, damit wir bereit sind, den fraglichen mentalen
Zustand als Bewusstsein anzusprechen? Weiterhin schwierig erfassbar bleibt
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zur Verfügung. Dies ist eine Wissensform, welche derzeit Eingang in die Labore
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Literatur
Ist der Kampf des Neuen mit dem Alten noch im Gange – oder ist er bereits
beendet? Kann der Kampf des Neuen mit dem Alten überhaupt beendet
werden – oder handelt es sich dabei um ein Grundgesetz der menschlichen
Entwicklung?
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Nach meiner Überzeugung ist nichts, was wir Menschen tun, von ewiger
Dauer. Solange es Menschen sind, die als Verfechter des Neuen oder des Alten
kämpfen, kann der Kampf auch beendet, vielleicht sogar vermieden werden.
Dieser Vorschlag allein hätte – ohne Übertreibung – im 20. Jahrhundert, auch
in Deutschland, disziplinarische Maßnahmen nach sich gezogen. Wenn in den
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gestritten hätte, dass der Kampf des Neuen mit dem Alten das Grundgesetz
menschlicher Entwicklung ist, dann hätte ihm die Exmatrikulation gedroht,
die Zwangsemeritierung und Schlimmeres.
Wie kann das sein? Ist „Der Kampf des Neuen mit dem Alten“ nicht bloß
eine philosophische Allgemeinheit, nur so eine Redeweise? Ja – aber sie hat
eine düstere Geschichte, die ich im Folgenden beleuchten will.
Als die Rede vom Kampf des Neuen mit dem Alten Anfang des 19. Jahrhun-
derts aufkam, meinte man damit (auch angesichts der Französischen Revo-
lution) die kämpferischen Umbrüche, zu denen es in der Geschichte hin und
wieder kommt – also jeweils eine Phase.
Friedrich Schlegel etwa schrieb 1815 über die Literatur der Renaissance, dass
es dort zu einem Kampf zwischen dem Alten, Fremden und Vergangenen einer-
seits mit dem Neuen, Eigenen und Gegenwärtigen andererseits gekommen
sei. Gegenüber dem Bildungskanon antiker Autoren forderte Schlegel größere
Anerkennung für zeitgenössische Literatur.
Mitte des 19. Jahrhunderts, im revolutionären Programm von Sozialismus
und Kommunismus, etwa bei Marx und Engels, ist das zu bekämpfende Alte
nicht mehr die fremde Vergangenheit, sondern die entfremdete Gegenwart.
Das eigene, lebendige Neue, dem die revolutionären Bemühungen gelten, liegt
noch in der Zukunft.
Zu Zeiten von Marx und Engels wurde dieser Kampf verloren. Gewonnen
wurde er in der russischen Oktoberrevolution von 1917. Das Neue war aus der
Zukunft in die Gegenwart gerückt – und war damit die Phase des Kampfes
nicht beendet? Politisch gewonnen war der Kampf und doch wurde erklärt,
dass er noch lange nicht beendet werden könne. Dies ist der folgenschwere
Moment, in dem die Redensart vom Kampf des Neuen mit dem Alten den Sta-
tus eines universalen Gesetzes menschlicher Entwicklung zugesprochen bekam.
Wir werden niemals, solange es Klassen gibt, einen Zustand haben, wo wir
sagen können: nun, Gott sei Dank, es ist alles gut. Niemals wird dies der Fall
sein Genossen. […] Der Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen
dem Absterbenden und dem Neuentstehenden – das ist die Grundlage unserer
Entwicklung.1
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Diese Worte sprach Joseph Stalin in einer Rede auf dem XV. Parteitag der
KPdSU im Dezember 1927 – also kurz nachdem er seinen letzten Widersacher
Trotzki aus der Partei hatte ausschließen lassen. Kurz darauf begann Stalin sei-
ne politischen Säuberungsaktionen. War der Kampf des Neuen mit dem Alten
bei Friedrich Schlegel sowie Marx und Engels noch eine historische, bzw. pro-
to-soziologische Beobachtung, verkündete Stalin ihn als universales Gesetz.
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und Terror. Mit dem Erscheinen von Stalins Schrift Über dialektischen und
historischen Materialismus wurde die „Lehre des Genossen Stalin“ 1938 zur
Staatsdoktrin erklärt.
Nach der Gründung der DDR wurde die Redeweise vom Kampf des Neuen
mit dem Alten durch das SED-Regime systematisch verbreitet. 1951 widmete
man ihr in den Lehrmaterialien für Parteischulen, Fernunterricht und Selbst-
studium einen eigenen Band: Der Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen
als Entwicklungsgesetz der Gesellschaft. 1954 erschien im Ost-Berliner Kinder-
buchverlag der Jugendroman Tinko, in dessen Klappentext es heißt: „Mit Tinko
erleben wir den Kampf des Neuen mit dem Alten im Dorf.“ Der Roman bekam
1955 den Nationalpreis der DDR, wurde als Schulliteratur zugelassen, verfilmt
und der Autor, Erwin Strittmatter, wurde inoffizieller Mitarbeiter der Stasi.
Bisweilen trieben die Verbreitungsmaßnahmen auch seltsame Blüten, wie
etwa die Programmatische Erklärung der ZAG Volks- und Laientanz der DDR
vom Januar 1958 zeigt. Dort heißt es:
[…] die aus der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem Kampf des
Neuen mit dem Alten erwachsenen Konflikte müssen Inhalt und Form unsrer
neuen thematisch aktuellen Tänze bestimmen.2
1 Vgl. Joseph W. Stalin, Werke, Bd. 10, August-Dezember 1927, Berlin: Dietz, 1953, S. 287, hier:
S. 162.
2 Zit. n.: Volker Klotzsche/Sigrid Römer, Tanz in Sachsen. Betrachtung zum Amateur- und Volks-
tanz im 20. Jahrhundert, Norderstedt: Books on Demand, 2006, S. 79.
Die Rede vom Kampf des Neuen mit dem Alten 61
bau des Sozialismus in der DDR ein ‚ständiger Kampf des Neuen mit dem
Alten‘“ vor sich gehe. Die damit verbundene Unruhe halte er „für absolut un-
erlässlich und gesetzmäßig“.3 Im Nachklang der Debatte wurde der „Operative
Vorgang Komet“ gestartet, mit dem Mothes Hochverrat nachgewiesen werden
sollte.
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Dass die „Lehre des Genossen Stalin“ Ende der 1950er bereits als dogmati-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Obwohl der Kampf des Neuen mit dem Alten die innere Quelle der Entwicklung
einer jeden […] Gesellschaft in allen Etappen ihrer Entwicklung ist, hemmen die
herrschenden Klassen in der Ausbeutergesellschaft […] stets das Wirken dieses
Gesetzes, behindern den Kampf des Neuen mit dem Alten, versuchen das Neue
mit dem Alten zu versöhnen.4
Wer die objektive Gültigkeit des Gesetzes bezweifelte oder sein natürliches
Wirken behinderte, z.B. durch eine versöhnliche Einstellung – das konnte nur
der Klassenfeind sein.
Ulbricht eiferte dem Vorbild von Stalins Machtergreifung mit derselben
rhetorischen Figur nach – und sogar fast im gleichen Zeitabstand zur je-
weiligen Staatsgründung (1917–1927; 1949–1960). Nach der Sicherung seiner
unbeschränkten Macht in der DDR hielt Ulbricht im Oktober 1960 einen
3 Zit. n.: Joachim Kaasch/Michael Kaasch, „Die Leopoldina und ihre Mitglieder 1945–1961“,
in: Hochschule im Sozialismus: Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena
(1945–1990), Bd. 1, hg. v. Tobias Hossfeld et al., Köln/Weimar: Böhlau, 2007, S. 775.
4 Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, Heft 7, Berlin: Verlag Kultur und
Forschung, 1958, S. 781.
62 Nicolas Dierks
Insofern sollte es uns heute weniger darum, wer nun gewonnen oder verloren
hat, sondern um neue Deutungen der Verhältnisse von Neuem und Altem –
vor allem um Deutungen mit größerem Hang zu friedlicher Diversität.
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Literatur
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Kaasch, Joachim/Kaasch, Michael, „Die Leopoldina und ihre Mitglieder 1945–1961“, in:
Hochschule im Sozialismus: Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität
Jena (1945–1990), Bd. 1, hg. v. Tobias Hossfeld et al., Köln/Weimar: Böhlau, 2007.
Klotzsche, Volker/Römer, Sigrid, Tanz in Sachsen. Betrachtung zum Amateur- und Volks-
tanz im 20. Jahrhundert, Norderstedt: Books on Demand, 2006.
Scharikow, A., „Der Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen als Entwicklungs-
gesetz der Gesellschaft“, in: Lehrmaterialien für Parteischulen, Fernunterricht und
Selbststudium. Kursus: Dialektischer und historischer Materialismus, Berlin: Dietz,
Heft 4, 1951.
Schlegel, Friedrich, Geschichte der alten und neuen Literatur. Vorlesungen gehalten zu
Wien im Jahre 1812, Bd. I u. II, Wien: Schaumburg und Comp., 1815.
Stalin, Joseph W., Über dialektischen und historischen Materialismus, Offenbach: Olga
Benario und Herbert Baum, 1997 [1938].
Stalin, Joseph W., Werke, Bd. 10, August–Dezember 1927, Berlin: Dietz, 1953.
Strittmatter, Erwin, Tinko, Berlin: Kinderbuchverlag, 1954.
Werkentin, Falco, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Vom bekennenden Terror zur
verdeckten Repression, Berlin: Ch. Links, 1997.
5 Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Vom bekennenden Terror zur ver-
deckten Repression, Berlin: Ch. Links, 1997, S. 226.
Christoph Jamme
Die zeitweilige Machtsteigerung des Judentums aber hat darin ihren Grund,
dass die Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen Entfaltung,
die Ansatzstelle bot für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität
und Rechenfähigkeit, die sich auf solchem Wege eine Unterkunft im ‚Geist‘ ver-
schaffte, ohne die verborgenen Entscheidungsbezirke von sich aus je fassen zu
können. Je ursprünglicher und anfänglicher die künftigen Entscheidungen und
Fragen werden, umso unzugänglicher bleiben sie dieser ‚Rasse‘.
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Die Juden ‚leben‘ bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon
nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die uneinge-
schränkte Anwendung zur Wehr setzen.
Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die me-
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taphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin un-
gebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als ‚weltgeschichtliche‘
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Solche Sätze lesen zu müssen ist abstoßend und unerträglich, und es sind
genau solche Sätze, die beim Erscheinen von Heideggers drei Bänden Überle-
gungen (Schwarze Wachstuchhefte) von 1931 bis 1941 (veröffentlicht als Bände
94–96 der Gesamtausgabe von Peter Trawny im Jahre 2014) für einen gehöri-
gen Skandal gesorgt haben. In diesen Heften wird erschreckend deutlich, dass
auch das Ende von Nazideutschland und die Konfrontation mit der Ermor-
dung der europäischen Juden Heidegger nicht zum Umdenken bewegt haben.
In seinem Buch Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung und
in vielen nationalen und internationalen Auftritten in Medien und auf Tagun-
gen hat der Herausgeber der drei Bände der Überlegungen, Peter Trawny, sich
sogar zu der These verstiegen, Heideggers eigene spätere Philosophie sei sys-
tematisch antisemitisch. Was ist von einer solchen These zu halten? Will sich
hier ein bisher eher farbloser Wuppertaler Philosoph, der in der Vergangenheit
mit Heidegger-Deutungen im frommen Stil der 1950er-Jahre aufgefallen oder
eher nicht aufgefallen war (und den die Nachlassverwaltung deshalb auch als
linientreu eingeschätzten Herausgeber beauftragt hatte), hier mit Hilfe des
Gegenwartsgeist ein. Auf einer Tagung in Siegen stellte Ch. Geulen vor kurzem
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1 Vgl. Dieter Thomä, „Schwierigkeiten mit der Demokratie. Gehlen, Carl Schmitt und Hei-
degger über das Politische“, Vortrag an der Universität Siegen, 31.01.2007.
Heideggers „Schwarze Hefte “ 65
Ende nur noch anöden. Wären es rein private Aufzeichnungen, dann könnte
man es noch akzeptieren, aber sie waren ja ausdrücklich zur Veröffentlichung
bestimmt – als Schlussstein der monumentalen, minutiös geplanten Gesamt-
ausgabe. Dokumentieren wollte Heidegger seine unausgesetzten Bemühungen
um die einzige Frage nach der Wahrheit des Seyns – bleibend dokumentiert ist
aber nur eine Blindheit gegenüber sich selbst und den Zeitläufen, die in der
Philosophie ihresgleichen sucht. Doch auch nach der Veröffentlichung dieser
Hefte lässt sich die Größe Heideggers nicht bestreiten, was sich allein schon an
seiner Wirkung ablesen lässt. Sein und Zeit ist und bleibt ein Jahrhundertbuch.
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Literatur
Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, 17. Aufl., 1993.
Heidegger, Martin, Überlegungen, II–XV, Schwarze Hefte 1931–1948, Gesamtausgabe
Bd. 94–96, hg. v. Peter Trawny, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2014.
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Herrmann, Friedrich Wilhelm von, „Die Stellung von Martin Heideggers ‚Notizbü-
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„Stattgefunden hat die Davoser Disputation, soviel steht fest. Alles andere an
dem legendären Gipfeltreffen zwischen Heidegger und Cassirer ist – Legen-
de.“1 Dominik Kaegis süffisant-lapidarer Verweis des Zusammentreffens der
beiden Philosophen in die hagiographischen Annalen der Philosophie des 20.
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des Davoser Zusammentreffens als einem epochalen Ereignis hatte vor allem
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Jürgen Habermas in seinem Aufsatz über den deutschen Idealismus der jüdi-
schen Philosophen im Jahr 1961 Vorschub geleistet. Den Disput deutete er als
clash of cultures. „Das Thema“, so Habermas, „hieß: Kant; in Wahrheit stand
das Ende einer Epoche zur Diskussion: ‚die gebildete Welt des europäischen
Humanismus gegen einen auf Ursprünglichkeit des Denkens sich berufenen
Dezionismus‘“.2 Dass sich in Davos nicht nur zwei Vertreter gegensätzlicher
philosophischer Positionen gegenüberstanden, sondern vielmehr die Prot-
agonisten zweier sich ausschließender Denkwelten und Lebensformen zu-
sammenstießen, geriet in der Folgezeit zu einem vielzitierten philosophiege-
schichtlichen Stereotyp: hier Cassirer, Repräsentant liberaler Weimarer Kultur
und akademisch etabliert; dort Heidegger, der Provinz verhaftet, graecophil,
ein radikaler Destrukteur der transzendentalphilosophischen Tradition, in
ein neues ontologisches Denken aufbrechend; hier filigrane auch einzelwis-
senschaftlich gesättigte Argumentation im Geiste des deutsch-jüdischen In-
tellektualismus, dort wuchtige Terminologie mit einem geradezu expressio-
nistischen Sprachgestus. Und im Lichte der historischen Erfahrung: hier der
Flüchtling, dem 1933 das Exil aufgezwungen wird, dort der Universitätsrektor,
1 Dominik Kaegi, „Die Legende von Davos“, in: Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeit-
gemäße Aktualität?, hg. v. der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin: Akademie, 2007, S. 75. Zu einer
bibliographischen Übersicht zur Davoser Disputation vgl. Andreas Jürgens, Humanismus
und Kulturkritik. Ernst Cassirers Werk im amerikanischen Exil, Paderborn: Fink, 2012, S. 126.
2 Jürgen Habermas, „Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen“, in: Philosophisch-
politische Profile, hg. v. Ders. 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981, S. 52.
von der „Unerbittlichkeit jenes geistigen Auftrags“ raunend, „der das Schicksal
des deutschen Volkes in das Gepräge seiner Geschichte zwingt“.3 Falsch ist das
alles nicht, verhinderte jedoch lange Zeit durch Überdeutung die philosophi-
sche Rekonstruktion der Davoser Debatte, vor allem der verdeckten Nähe der
opponenten Argumentationen.
Ist es jedoch möglich, das Davoser Treffen jenseits aller Ideologiekritik zu
beleuchten? Mit Kaegi gesprochen: Davos ohne Legende? Also von Kontexten
isoliert, mit Blick auf den puren Gehalt der Argumente? Eine solche Betrach-
tung würde verleugnen, dass auch Philosophie eine Wissenschaft ist, deren
Gedanken nicht in den Wolken geboren werden und dass die Späteren ihren
Blick auf Davos dem historischen Horizont, der, wie Dominik Kaegi und Enno
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3 Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“, in: Die Selbstbehaup-
tung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der
Universität Freiburg i. Br. am 27.5.1933 / Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken, hg. v.
Ders., 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Klostermann, 1990, S. 9.
4 Dominik Kaegi/Enno Rudolph, „Vorwort“, in: Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputa-
tion, Cassirer-Forschungen, Bd. 9, hg. v. Dies., Hamburg: Meiner, 2002, S. VIII.
Davos ohne Legende ? 69
erreicht, der nicht mehr relativ ist auf die Endlichkeit des erkennenden We-
sens, sondern da wird nun ein Absolutes gesetzt.“5 Cassirer sieht jedoch nicht
nur das Ethische infrage gestellt. Er fragt: „Wie kommt ein solches endliches
Wesen überhaupt zur Erkenntnis, zur Vernunft, zur Wahrheit?“6 „Will Heideg-
ger auf diese ganze Objektivität, auf diese Form der Absolutheit, die Kant im
Ethischen, im Theoretischen und in der Kritik der Urteilskraft vertreten hat,
verzichten?“7 Heidegger kontert, dass auch der kategorische Imperativ eben
weil er Imperativ, also Befehl sei, einen inneren Bezug auf ein endliches We-
sen aufweise. Auch die von Cassirer hervorgehobene ethische Transzendenz
bleibe, so Heidegger, noch innerhalb der Geschöpflichkeit und Endlichkeit.
Heidegger deutet das sittliche Gesetz der Kantischen Ethik nicht in ihrer nach
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von Kant herleitet. Der Mensch sei nie unendlich und absolut im Schaffen des
Seienden selbst, sondern er sei unendlich im Sinne des Verstehens des Seins. Im
Rahmen dieses Endlichkeitsparadigmas erläutert Heidegger dann auch seine
Auffassung von Wahrheit und Objektivität: Wahrheit sei relativ, nicht etwa
weil er sie relativistisch auffasst, sondern weil sie ohne Bezug auf ein Dasein
nicht existiere. Ohne Dasein würde die Wahrheit gar nicht in ihr Dasein kom-
men. Die Übersubjektivität von Wahrheit bestehe nach Heidegger in der dem
Einzelnen gegebenen Möglichkeit, das Seiende selbst zu gestalten und so an
dem In-der-Wahrheit-sein teilzuhaben. Objektive Erkenntnis sei dann das, was
als Gehalt des Wahrheitsgehaltes etwas über das Seiende aussage.9 An dieser
Stelle verlasse ich den konkreten Disput und wende mich der zweiten Heideg-
ger’schen Provokation zu, von der ich eingangs gesprochen habe. Die Frage
nach dem richtigen Verständnis der Kantischen Philosophie, die Cassirer und
Heidegger miteinander in verschiedenen Sprachen ausfechten, berührt eine
5 Ernst Cassirer, „Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer/Anhang
III“, in: Kant und das Problem der Metaphysik, hg. v. Martin Heidegger, Frankfurt a. M.: Klos-
termann, 1998, S. 276.
6 Ebd., S. 277.
7 Ebd., S. 278.
8 Ebd., S. 280.
9 Vgl. ebd.
70 Andreas Jürgens
„Bruno Bauch“, so Krois, „hatte bestritten, dass Cohen als Jude Deutscher sein
könne und deshalb seine wissenschaftliche Leistung in Frage gestellt, und nun
wiederholte sich dieser Angriff unmittelbar vor der Davoser Debatte.“11 Etwa
drei Wochen vor der Davoser Disputation erschien in der Frankfurter Zei-
tung ein Bericht über einen Vortrag des Wiener Philosophiehistorikers Oth-
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mar Spann. Spann hatte am 22. Februar 1929 an der Münchener Universität
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10 Vgl. zum folgenden Absatz in enger Übernahme John Michael Krois, „Warum fand kei
ne Davoser Debatte zwischen Cassirer und Heidegger statt?“, in: Cassirer – Heidegger. 70
Jahre Davoser Disputation, Cassirer-Forschungen, a.a.O., S. 238f.
11 Ebd., S. 238.
12 Ebd.
13 Ebd.
14 Ebd.
Davos ohne Legende ? 71
keinem wirklichen Gespräch kam, sondern die Kontrahenten sich vor allem
auf der Oberfläche von Positionsbestimmungen bewegten, die dem anderen
nichts Neues boten. Dabei hätten sie durchaus produktiv disputieren können,
denn bei aller Unterschiedlichkeit der Grundauffassungen gab es in Cassirers
und Heideggers Denken auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten.15 So waren
beide der Ansicht, dass der neukantianische Fokus auf die mathematisch-
naturwissenschaftliche Erkenntnis einer Korrektur bedürfe, und in diesem
Zusammenhang nahm auch bei Cassirer im Rahmen seiner kulturphilosophi-
schen Symboltheorie die Sinnlichkeit und produktive Einbildungskraft einen
hohen Stellenwert ein. Und fassten beide den Freiheitsbegriff nicht prozessual
auf? „Der einzige adäquate Bezug zur Freiheit im Menschen“, sagte Heidegger,
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sei „das Sich-befreien der Freiheit im Menschen“.16 Auch Cassirer denkt Frei-
heit über den Weg der symbolischen Form und Formung als einen unendlichen
Prozess der fortschreitenden Befreiung, in dessen Rahmen dem Menschen
eine immanente Unendlichkeit zukomme. Und selbst terminologisch hätten
die beiden Denker Anschlüsse finden können, denn Cassirer arbeitete zu die-
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ser Zeit an einer Metaphysik der symbolischen Formen17, in dessen Zentrum der
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von Goethe entlehnte Begriff des Urphänomens steht. Mit den Urphänome-
nen suchte Cassirer die symbolisch vermittelte Relationalität des Wirklich-
keitsverhältnisses an unmittelbare und unhintergehbare Modi menschlicher
Existenz anzubinden. Hier hätte er eine Nähe zur Seins-Semantik Heideggers
auszumachen können. Aber all dies blieb in Davos unausgesprochen. In der
politischen Dimension, die dem Gespräch von Anfang an eingeschrieben war,
mag der Grund seines Scheiterns zu finden sein.
Literatur
Bauch, Bruno, Leserbrief, in: Der Panther, Jg. 4, Heft 6, Juni 1916, S. 742–746.
Cassirer, Ernst, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: Ernst Cassirer. Nachge-
lassene Texte und Manuskripte, Bd. 1, hg. v. John Michael Krois unter Mitw. v. Anne
Appelbaum u. a., Hamburg: Meiner, 1995.
Habermas, Jürgen, „Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen“, in: Philoso-
phisch-politische Profile, hg. v. Ders. 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981.
Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Meiner, 1998 [1981].
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Krois, John M., „Warum fand keine Davoser Debatte zwischen Cassirer und Heidegger
statt?“, in: Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Cassirer-Forschungen,
Bd. 9, hg. v. Dominik Kaegi/Enno Rudolph, Hamburg: Meiner, 2002.
Spann, Othmar, „Die Kulturkrise der Gegenwart“, Vortrag an der Münchener Univer-
sität am 23. Februar 1929, in: Mitteilungen des Kampfbundes für deutsche Kultur,
Jg. 1, Heft 3, März 1929, S. 33–44.
Günter Burkart
Wann wissen wir, dass wir etwas wissen? Wann sind wir sicher, dass etwas
wirklich ist; wann können wir aufhören, Aussagen anzuzweifeln, weil wir Ge-
wissheit über unser Wissen haben? Das sind grundlegende Fragen, mit denen
sich Philosophie, Erkenntnistheorie und Wissenschaftsforschung, auch in der
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stand. Wenn wir sagen, Wissen sei mit dem Gefühl von „Gewissheit“ ausgestat-
tet, dann kommen mögliche Zweifel an der Wahrheit von Aussagen entweder
gar nicht erst auf oder sie werden unterdrückt oder zurückgewiesen. So etwa,
wenn ich feststelle: „Es regnet.“ Diese Art von Gewissheit ist der Normalfall für
das Wissen in der alltäglichen Lebenspraxis.
Für eine stärker soziologische Definition von „Wissen“ sind noch zwei wei-
tere Begriffe wichtig: „Wissensgesellschaft“ und „Wissenssoziologie“. Wenn die
Soziologie von „Wissensgesellschaft“ spricht, dann ist eine bestimmte histori-
sche Phase der gesellschaftlichen Entwicklung gemeint, in der das „Wissen“
eine größere Bedeutung für sozialen Erfolg, für Anerkennung oder für Macht-
ansprüche hat als in früheren Phasen, in denen einerseits der „Glaube“, an-
dererseits Besitz und Beziehungen wichtiger waren als „Wissen“. Als Beginn
der „Wissensgesellschaft“ wird manchmal die Renaissance, manchmal das 18.
Jahrhundert (Aufklärung), manchmal aber erst die zweite Hälfte des 20. Jahr-
hunderts angesehen, in der auch die Wirtschaft immer mehr zu einer Wissens-
ökonomie geworden ist.
Die „Wissenssoziologie“ ist eine Teildisziplin der Soziologie, die auf Karl
Mannheim zurückgeht, und die in radikaler Weise davon ausgeht, dass es kein
objektives oder absolutes Wissen gibt, dass vielmehr jedes Wissen von ge-
sellschaftlichen Verhältnissen abhängt – insbesondere die Durchsetzung und
Anerkennung von Wissen ist in dieser Perspektive nicht unabhängig von ge-
sellschaftlichen Strukturen.
„Wissen“ erscheint häufig in Form von lexikalischem Wissen. Wie wir alle
wissen, hat sich auch an der Universität das Wikipedia-Lexikon sehr schnell
verbreitet. Wikipedia-Wissen ist – wie auch manch anderes Lexikon-Wissen –
ein Wissen, das sich normalerweise keine Rechenschaft über sein Zustan-
dekommen ablegt. Es ist ein „So-ist-es“- oder ein „So-ist-die-Welt“-Wissen.
Nehmen wir als Beispiel den Anfang des Wikipedia-Artikels zu „Ameisen“:
Ameisen (Formicidae) sind eine Familie der Insekten innerhalb der Ordnung
der Hautflügler. Derzeit sind mehr als 13.000 Arten beschrieben, davon etwa 200
in Europa. Die ältesten fossilen Funde stammen aus der Kreidezeit und werden
auf ein Alter von 100 Millionen Jahren datiert. Das Alter der Gruppe wird jedoch
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Hier sind zwar einige Aussagen, wo Zahlenangaben als Schätzwerte oder als
mit einer Ungenauigkeit behaftet auftreten. Aber insgesamt herrscht der Duk-
tus vor, dass sich die Aussagen auf gesichertes Wissen beziehen. Solche Aus-
sagen müssen aber bezweifelt werden können, wenn sie den Anspruch auf ein
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Sätzen geht. Das Wort verweist auf ein Objekt in der Welt, bezeichnet oder be-
nennt es.1
Wittgenstein will in diesen „Untersuchungen“ – sie bestehen nicht aus
einem fortlaufenden Text, sondern aus einzelnen Paragraphen, in denen häu-
fig nur Fragen gestellt werden – deutlich machen, dass es bei der Sprache nicht
in erster Linie um die Bedeutung in diesem Sinn geht, also um das Benennen
und Bezeichnen von Gegenständen und Sachverhalten durch Worte und Sätze,
sondern dass die Bedeutung von Worten der Sprache erst durch ihre Verwen-
dung, durch ihren Gebrauch in einem Sprachspiel, im Rahmen einer Handlung,
klar wird.
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Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie ver-
woben ist, das „Sprachspiel“ nennen.2
Das heißt, die Sprache – und damit die Bedeutung von Worten und Sätzen – ist
eng mit sozialem Handeln, mit der gesellschaftlichen Praxis verwoben. Man
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
kann deshalb sagen, dass die eigentliche Bedeutung von Worten und Sätzen
erst durch den jeweiligen sozialen Kontext zustande kommt. Das ist unmittel-
bar evident zum Beispiel bei Worten wie „hier“ und „jetzt“, bei „ich“ und „wir“.
Aber im Grunde gilt es für die ganze Sprache.
Was wir wissen, vor allem: was wir sicher wissen (Wittgenstein würde sagen:
Was wir glauben, sicher zu wissen), das glauben wir, weil es im Rahmen eines
bestimmten Sprachspiels als sicher gelten darf. Die Regeln des Sprachspiels
sagen: Hier, in diesem Kontext, darfst du ruhig glauben, was der andere be-
hauptet. Wenn etwa im Sprachspiel Intime Beziehungen der Partner sagt, „ich
spüre, dass zu mir vertraust“, dann darf man das ruhig glauben; darf es als si-
chere Wahrheit betrachten. Eigentlich: man muss es glauben, ein Zweifel wäre
hier höchst gefährlich – im Unterschied zum Sprachspiel Therapeutischer Be-
ziehungsdiskurs, in dem alle Aussagen systematisch hinterfragt werden dürfen,
gerade Aussagen, die ein Sprecher über eigene Gefühle macht.
Dies gilt in etwas anderer Weise auch für das Sprachspiel Wissenschaft.
Hier ist (auf einer anderen Ebene als im therapeutischen Diskurs) der syste-
matische Zweifel eingebaut. Eine Grundregel dieses Sprachspiels ist deshalb
die skeptische Frage. Man darf und muss zweifelnd fragen: Woher weißt Du
das, warum bist du dir so sicher? Wie kannst du das beweisen? Mit welcher
Methode?
Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst
dich aus; du kommst von einer anderen zur selben Stelle, und kennst dich nicht
mehr aus.4
Ist ein Baum aus einer anderen Perspektive noch ein Baum – derselbe Baum?
Für Kleinkinder ist es nicht derselbe Baum, wie Jean Piaget herausgefunden
hat. Und wenn man eine fremde Stadt erkundet, wird man früher oder spä-
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ter die überraschende Erfahrung machen: Diesen Platz kenne ich doch – nur
war ich noch nie von dieser Seite dort. Ist es derselbe Platz? Sie schließen das,
weil Sie einen Stadtplan dabeihaben (oder einen elektronischen Navigator),
auf dem der Platz einen Namen hat – und dieser Name gilt immer, egal von
welcher Seite aus Sie den Platz betrachten.
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Ich möchte nun meine Definition vom Anfang wieder aufgreifen und sie
im Licht der Überlegungen von Wittgenstein modifizieren; und auch im Licht
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Wie können wir also Gewissheit über unser Wissen erlangen? Wie können
wir sicher sein, dass wir uns nicht täuschen, dass wir keiner Sinnestäuschung
erliegen, keinem Übersetzungsfehler, keinem Vermittlungs- oder Übertra-
gungsfehler (bei medial vermitteltem Wissen). Das Meiste, was wir heute zu
wissen glauben, wissen wir aus den Medien. Und da kann es leicht zu Über-
tragungsfehlern vielfacher Art kommen, natürlich können auch beabsichtigte
Manipulationen im Spiel sein, Bilder können gefälscht sein. Deshalb entste-
hen dort, wo Zweifel aufkommt, häufig auch alternative Theorien, die von
denen, die nicht zweifeln, gern „Verschwörungstheorien“ genannt werden.
Das war so bei der Mondlandung der Amerikaner, das war auch so bei den
Terroranschlägen vom 11. September 2001. In beiden Fällen wird von den sog.
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beziehen, auf den Wert „freier Wille“ als eine Art ultima ratio der menschli-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
chen Existenz. Oder wir könnten uns dabei auf eine Art göttliche Offenbarung
berufen.
„Ich sehe, dass Sie hier sitzen“ – Man könnte sagen, die Gewissheit dieser
Aussage kommt durch subjektive, unmittelbare Evidenz zustande. Aber das
wirft das Problem auf, dass immer nur jeder für sich gewiss sein könnte. Wenn
der andere fragt: Woher weißt du, dass das so ist? Ob es nicht eine Sinnestäu-
schung ist oder nur ein Traum? Wenn der andere sagt: „Ich sehe das nicht“,
können Sie nichts machen. Sie können vielleicht denken: „Der ist verrückt“
oder „der will mich veräppeln“ – aber Sie können seine subjektive Behauptung
nicht wirklich widerlegen.
Manche Denker sprechen an dieser Stelle daher lieber von „lebensweltli-
chen Selbstverständlichkeiten“, weil es dabei klar ist, dass man sich bei Aus-
sagen über die Welt auf selbstverständlich geteiltes Wissen bezieht, auf un-
hinterfragte Gewissheiten, die in der Lebenspraxis Geltung haben, wie zum
Beispiel bei der Aussage „Frauen sind gefühlsbetonter als Männer“.
Ein weiteres Problem der Definition von Wissen, mit der ich begonnen habe,
besteht darin, dass dort der Mensch – das Subjekt – im Grunde nur als eine Art
Geist-Wesen betrachtet wird, als Kopf- oder Gehirn-Wesen. Was aber ist mit
dem Körper? Mit Gewissheiten, die sich aus der körperlichen Erfahrung erge-
ben, aus dem leiblichen In-der-Welt-Sein? Was ist mit Gefühls-Gewissheiten?
Woher weiß ich zum Beispiel, dass ich mich schäme? Woher kommt die Ge-
wissheit eines Schamgefühls? Eine Antwort könnte sein: „leiblich-affektive
78 Günter Burkart
weise kleiner als zwei Meter sind. Deshalb sitzt der König meist höher als die
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
stehenden Untertanen.
Im Sprachspiel der Wissenschaft müssen jedoch andere Kriterien der Wahr-
heitsfindung und der Wahrheitsbestätigung zum Zuge kommen. Es gibt in der
Wissenschaft privilegierte Erkenntniswege, zum Beispiel der Bezug auf eine
anerkannte Theorie oder die Benutzung logischer und rationaler Argumen-
tationsfiguren. Oder – und das war der eigentliche Erfolgsweg der modernen
Wissenschaften – der Bezug auf empirische Forschung, auf Empirie. Also be-
stimmte Methoden der Daten-Gewinnung, der Ver-Messung der Welt.
Das ist meine Botschaft als Wissenschaftler bzw. das muss meine Botschaft
sein, wenn ich als Wissenschaftler anerkannt werden möchte: Nur durch „Me-
thode“ können wir unsere Sicherheit erhöhen, dass wir uns auf Behauptungen
über Sachverhalte in der Welt, verlassen können. Das gilt für die Anwendung
von Methoden bei der Generierung von Wissen, aber mehr noch gehört dazu,
dass man bei der Vermittlung von Wissen auf die Methoden hinweist, mit
denen dieses Wissen geschaffen wurde. Denn damit weist man auch auf die
Grenzen dieses Wissens hin: Jede Methode hat ihre Stärken, aber auch ihre
Schwächen. Wie Karl Popper formuliert hat: Mit Hilfe eines Scheinwerfers
kann man das Dunkel durchdringen – allerdings nur auf einem sehr kleinen
Streifen.
Ebenso ist es mit Methoden. Verschiedene Methoden sind wie unter-
schiedliche Scheinwerfer. Sie beleuchten jeweils verschiedene Ausschnitte
aus der Welt. In der empirischen Sozialforschung gibt es zum Beispiel den
Unterschied zwischen quantitativen und qualitativen Methoden: Die einen
Wissen und Gewissheit 79
reduzieren die soziale Welt auf eine Ansammlung von Zahlen, von Zahlen-Wer-
ten, mit denen man Berechnungen durchführen kann. Man weiß dann zum
Beispiel relativ genau, wie hoch die Scheidungsrate in einer Population ist. Die
anderen – die Qualitativen – kümmern sich nicht um Zahlen und quantitative
Verteilungen, können deshalb auch nichts über die Stärke eines korrelati-
ven Zusammenhangs sagen (also z.B. wie die Scheidungsrate vom Bildungs-
niveau einer Bevölkerung abhängt). Dafür können sie aber relativ detailliert
biographische Konstellationen – Sinnzusammenhänge – benennen, die typi-
scherweise in eine Scheidung münden, etwa eine komplexe und langwierige
Ehekrise.
Aber Sie wissen schon: In der Wissenschaft genießt der Zweifel höchste
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Priorität. Deshalb darf auch der Hinweis auf „Gewissheit durch Methode“ mit
einem Fragezeichen versehen werden. Ein solches Fragezeichen lässt sich zum
Beispiel unter Hinweis auf George Devereux setzen, der in seiner Schrift Angst
und Methode in den Verhaltenswissenschaften auf folgendes Problem hinge-
wiesen hat: Methoden haben – neben ihrer rationalen – vielleicht auch eine
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Literatur
Bourdieu, Pierre, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 2004.
Devereux, George, Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, München:
Hanser, 1973.
80 Günter Burkart
Mannheim, Karl, Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. v. Kurt H. Wolff,
Neuwied/Berlin: Luchterhand, 1964.
Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
2003 [1953].
Wittgenstein, Ludwig, Über Gewißheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984.
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10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
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Er lügt auch, wenn er den Wählern etwas verspricht, wovon er in der Minute
des Versprechens bereits weiß, dass er es nicht halten wird oder nicht halten
kann. Zu lügen widerspricht der politischen Anständigkeit. Lügen in der Poli-
tik verhindern die freie Wahl der Staatsbürger; es ist eine Art Verführung und
eine Form sublimer Gewalt.“1
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Agnes Heller bringt hier mit der Verweis auf die „Anständigkeit“ nicht nur
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
erstaunlich liberale Auffassung [vertrat], das Lügen sei eine besondere Kunst,
über deren moralischen Wert erst die jeweilige Absicht des Lügners entschei-
det“. Chrysostomus, so Dietz, „drehte die Beweislast einfach um: Nicht der
Lügner müsse sich rechtfertigen, weil er sich eines listigen Kunstgriffs bedient
habe, sondern derjenige, der ihm deswegen Vorwürfe machen wolle, müsse
nachweisen, dass die Lüge einem schlechten Zweck gedient habe“.
Folgt man der Auffassung von Chrysostomus – und das tut Dietz in ihrem
Buch vom Ansatz her – dann sei „das Lügen eine moralisch neutrale Fähigkeit,
ähnlich beispielsweise wie das Laufen oder Werfen. Auch hier“, so Dietz, „fra-
gen wir ja nicht nach dem moralischen Wert der Handlung an sich, sondern
nach den damit verknüpften Absichten: Ist jemand weggelaufen, um Hilfe zu
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holen, oder wollte er die anderen im Stich lassen?…. Aus dieser Perspektive ist
das Lügen eine ebenso allgemeine und unbestimmte Handlung wie das Weg-
laufen oder Werfen, auch wenn es andere und vielleicht spezialisierte Fähig-
keiten erfordert: Es ist eine Kunst in einem weiten Sinne des Wortes ‚Kunst‘,
das sich ja tatsächlich von ‚Können‘ ableitet. Lügen ist ein bestimmtes Kön-
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nen, eine praktische Fähigkeit im Umgang mit der Sprache, eine Technik, die
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Die Kunst des begabten Lügners besteht nicht nur in seiner Kreativität beim
Erfinden anderer ‚Realitäten‘, nicht nur in seiner Spontaneität, mit der er
auf unvorhergesehene Situationen reagiert, sondern auch in der Virtuosität
Lügen – eine Kunst ? 85
Dietz verweist bei der Diskussion von Fallbeispielen u. a. darauf, dass nach
einer Beschreibung, die sich an der klassischen moralischen Auffassung des
Lügens orientieren würde, vor allem der Verstoß gegen die Wahrhaftigkeits-
norm hervorgehoben werden würde. Das wäre zwar nicht falsch, eine solche
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Beschreibung „gäbe aber nur eine sehr verkürzte Darstellung der Handlung,
mit einem geringen Erklärungswert. Wir erfahren so eher, was das Lügen nicht
ist, nämlich dass es keine wahrhaftige Behauptung ist, aber wir erfahren nicht,
was es tatsächlich ist – wir erfahren nicht, was getan wurde“.3
Der Hinweis auf den „Erklärungswert“ der Handlungsdarstellung und das,
was die LeserInnen bei dieser Art der Darstellung erfahren oder eben nicht er-
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2 Simone Dietz, Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer Wert,
Reinbek: Rowohlt, 2003, S. 140f.
3 Ebd., S. 39.
4 Ebd., S. 47.
86 Thomas Saretzki
selbst die Verantwortung zu, wenn sie nicht hinreichend klug agieren, son-
dern so dumm sind, sich belügen zu lassen: Letztlich müsse jeder eben selbst
entscheiden, wem er glauben wolle und wem nicht.5 Hier steht die „liberale“
Verantwortungszuschreibung im Vordergrund, nicht die kontextsensible Be-
schreibung und Analyse der Praktiken, in denen sich die Kunst des Lügens
äußert. Die Möglichkeiten zu der „Glaubwürdigkeitsprüfung“, die Dietz unter
dem Stichwort der „Verantwortung der Belogenen“6 ins Spiel bringt, sind
indessen – wie vieles in modernen Gesellschaften – nicht gleich verteilt.
LügnerInnen und Belogene stehen in der Regel nicht in einer symmetrischen
Beziehung zueinander – und das nicht nur, weil erst einmal nur der/die
LügnerIn weiß dass er nicht wahrhaftig ist. So kann es auf beiden Seiten – bei
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doch in erster Line in dem vorgeschlagenen Sinne als eine „Kunst“ verstehen,
dann würden wir nicht so heftig und zuerst über die Frage des „Dürfens“ dis-
kutieren. Dann ginge es uns in der Tat vorrangig um ein Können, nicht um
Wollen oder Sollen. Das scheint aber (noch) nicht überall der Fall zu sein –
weder in der Politik, noch bei den PhilosophInnen, die sich mit diesem Phäno-
men beschäftigen.
Literatur
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Dietz, Simone, Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer
Wert, Reinbek: Rowohlt, 2003.
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Christina Schües
1. Wohnorte
Wohnorte bezeichnen ganz alltäglich das Wohnen an einem Ort, an dem der
Wohnende bzw. der Bewohner zugehörig ist, sich aufhält, seine Adresse hat
und – bürokratisch gedacht – gemeldet ist. „Der Wohnort ist ein ortsgebun-
dener Raum.“1 In seinem Aufsatz „Bauen, Wohnen, Denken“2 gibt Martin Hei-
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degger mit Verweis auf das Mittelhochdeutsche buan dem Wort Wohnen die
Bedeutung des Bauens. Wer etwas baut, errichtet etwas und räumt einen Ort
ein, verbindet Orte miteinander, etwa wie eine Brücke, und lässt sie als ein-
zelne hervortreten. Das Bauen bringt Orte hervor, die im Raum eingeräumt
werden, in dem Menschen wohnen. Somit beruht der Bezug der Menschen zu
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der Menschen gedacht – prägt somit das Bauen und wie die Räume einge-
räumt und gestaltet werden. Wohnorte begleiten den Lebensweg der Men-
schen. Der Ethnologe Marc Augé nennt sie „anthropologische Orte“, denn sie
bieten das „Sinnprinzip für jene, die dort leben, und das Erkenntnisprinzip
für jene, die ihn beobachten“.3 An diesen Orten wird gewohnt, und deshalb
wurden sie gebaut und eingeräumt, an ihnen wird geboren und gestorben, Ge-
meinschaft gepflegt oder auch erlitten. Auch die Idee der Nachbarschaft wird
aus dem Wohnen heraus verstanden. Anthropologische Orte sind „identisch,
relational und historisch“,4 weil sie prägend für die Identität sind, weil sie zwi-
schenmenschliche Beziehungen bedeuten und weil sie sozialem und histori-
schem Wandel unterliegen. Wie gewohnt wird, so gestaltet sich der Ort des
Wohnens. Entsprechend unterscheiden sich Wohnorte sehr voneinander, sie
unterscheiden sich aber auch von Orten, an denen nicht gewohnt wird oder
nicht gewohnt werden soll.
1 Christina Schües, „Nachbarschaft – Eine fragile Beziehung“, in: Gesichter der Gewalt. Beiträge
aus phänomenologischer Sicht, hg. v. Michael Staudigl, Paderborn: Fink, 2014, S. 333–351,
S. 333–351, hier S. 342.
2 Martin Heidegger, „Bauen, Wohnen, Denken“, in: Vorträge und Aufsätze, hg. v. Ders., Pfullin-
gen: Neske, 1985 [1954], S. 139–156.
3 Marc Augé, Nicht-Orte, München: Beck, 2010, S. 59.
4 Ebd.
Autoren des Ortes, wie Marc Augé oder Michel Foucault, haben öffentliche
Räume wie Flughäfen, Gefängnisse, Bahnhöfe oder Friedhöfe und eben auch
Flüchtlingslager als „Nicht-Orte“ bzw. als „andere Orte“ (oder auch „Gegenorte“)
bezeichnet. Diese Nicht-Orte oder anderen Orte sind sehr verschieden, sie
haben immer eine bestimmte Funktion und Bedeutung für die Gesellschaft.
Sie gehören, wie besonders Foucault in seinem Aufsatz „Heterotopie“ betont,
zum institutionellen Regime der Gesellschaft, die als Räume real vorliegen,
aber nicht explizit zum Wohnen vorgesehen sind.5 Wenngleich diese Orte, die
wir nicht be-wohnen, wie etwa Theater, Schulen, Gefängnisse, Bahnhöfe, nicht
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neutral sind, so haben sie doch die Funktion „Neutralität“ auszudrücken. Sie
neutralisieren das Private. Die reisenden Menschen, die sich in Bahnhöfen
oder Flughäfen bewegen, unterliegen als Passagiere den Beförderungsrichtli-
nien und den Regeln dieser transitorischen Räume; die kranken Menschen, die
im Krankenhaus kuriert werden sollen, unterliegen als Patienten der medizini-
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schen Routine; die straffälligen Menschen, die ins Gefängnis gesperrt werden,
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
unterliegen als Insassen der Gefängnisaufsicht. Die Idee ist, und hier sind die
Analysen von Augé und Foucault sehr ähnlich, dass der jeweilige „Nicht-Ort“
seine ihm eigene Funktion und Bedeutung hat, die konstitutiv für das Indivi-
duum und für die Gesellschaft ist. Die Überlegung, dass Nicht-Orte Funktionen
und Bedeutungen haben, ist allerdings, wie Foucault zeigt, oft dem Imaginären
überlassen, wie am Theater gut gezeigt werden kann.
Foucault formuliert fünf Grundsätze, die die Heterotopien, die Nicht-Orte
als real (und nicht als Utopie) umreißen:
1. Heterotopien (Anstalten) sind sehr unterschiedlich und wandeln sich im
Laufe der Geschichte einer Gesellschaft.
2. Sie können auch wieder aufgelöst und zum Verschwinden gebracht
werden.
3. Heterotopien bringen häufig an einem Ort mehrere Räume zusammen.
Foucaults Beispiele sind das Theater, mit seiner Bühne, und der traditio-
nelle Garten.
4. Heterotopien sind oft in gewissem Sinne „Heterochronien“ (16), weil sie
zeitlich konnotiert und Orte der besonderen Zeit sind, wie etwa Museen,
Archive und Bibliotheken, auch Kindergärten, Schulen oder Altersheime;
oder Gefängnisse,
5 Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, zweisprachige
Ausgabe, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005 [1966], S. 7–22.
Orte der Nicht-Orte 91
kunft und eine Ausnahme sein, die nicht von Dauer ist, aber momentan die
nackte Existenz sichert: Hygiene, Ernährung, Schlafmöglichkeit. Ein- und Aus-
gänge sind kontrolliert, Unbefugte dürfen nicht rein. Die Grenze zwischen den
Zeltlagern und den sie umgebenen Wohnorten ist deutlich, mindestens mit
einem Zaun markiert.
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10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Das Zeltlager in der Nachbarschaft kann aufgenommen werden wie ein Bahn-
hof oder ein anderer Nicht-Ort. Diese Form der Nachbarschaft ist lange ein-
geübt: Einige Nicht-Orte finden viel Akzeptanz, andere traditionell wenig, wie
etwa Gefängnisse, Schlachthöfe, Atomkraftwerke. Auch Geflüchtetenlager
finden nicht immer Akzeptanz. Wenn aber eine grundsätzliche Akzeptanz
der angrenzenden Anwohner gegeben ist, dann lassen sich zwei Formen der
„Nachbarschaft“ als Akzeptanz unterscheiden.
Die eine Form der Akzeptanz ähnelt eher der Toleranz. Man findet die
„Sache“ zwar nicht gut, aber arrangiert sich mit den (teilweise imaginären)
Folgen, wie dem Anblick von Not, mehr Schmutz, anderen Menschen. Das
Geflüchtetenlager wird wie ein einheitlicher, quasi physikalischer Raum, etwa
wie eine technische Anlage, gesehen, dessen Existenz ohne die Betrachtung
der einzelnen Menschen man zu ertragen gewillt ist.
Die zweite Form der Akzeptanz sieht auch die Menschen, die in einem Ge-
flüchtetenlager leben. Tatsächlich: Menschen leben dort. Kinder, Frauen und
Männer. Als einzelne Menschen, die an diesen Ort gebracht werden, räumen
sie einen Raum ein, der zu einem Beziehungsraum werden kann.
6 Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, a.a.O., S. 11ff.
92 Christina Schües
Wird ein Lager mit seinem Zaun der Abschottung als physikalisch-homogener
Raum gesehen, in dem Menschen leben, die aber nicht als Einzelne in Erschei-
nung treten, dann bleiben diese Menschen Nicht-Nachbarn der Nachbarschaft.
Wenn sich aber Beziehungen zu einzelnen Kindern, Frauen und Männern,
Familien und Gruppen entwickeln, dann können Beziehungen der Nachbar-
schaft entstehen, die den Nicht-Ort (die Heterotopie) zu einem Ort werden
lassen.
Als Nachbar oder Nachbarin gesehen zu werden, heißt, beachtet und zum
Beispiel gegrüßt zu werden.7 Wie die nachbarschaftliche Beziehung gestaltet
werden kann, das hängt von den einzelnen Menschen ab, aber auch von der
jeweiligen Infrastruktur vor Ort und den jeweiligen Lebensumständen.
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gesehen und gehört werden, hängt davon ab, ob ein Ort aus einem Wohnen
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
verstanden wird und so als „anthropologischer Ort“ angesehen und gelebt wer-
den kann. Wo gewohnt wird, können auch Nachbarschaftsbeziehungen ent-
stehen und gepflegt werden, in denen die Nachbarn als Nachbarn mit ihren
Geschichten leben und etwas miteinander erleben können. Vielleicht kann
dann aus einer Flucht auch ein Ankommen werden.8
Literatur
7 Die Nachbarschaftsbeziehungen innerhalb eines Zeltlagers ist noch einmal ein anderes
Thema, das weitere Fragen aufwirft.
8 Eine ausführlichere Fassung ist erschienen unter Christina Schües, „Was heißt eigentlich
Nachbarschaft? Flüchtlingslager – Orte und Nicht-Orte, Nachbarn und Nicht-Nachbarn“, in:
Nachbarschaft. Nähe und Distanz, Mit- und Gegeneinander. Nachbarschaft ist (mehr denn je)
eine Herausforderung. Wer ist überhaupt mein Nachbar? Und wie kann Nachbarschaft heute
noch gelingen?, fiph-journal, Heft 26, Oktober 2015, S. 4–10, online unter: https://fiph.de/
veroeffentlichungen/journale/cover-downloads/fiph-Journal-Herbst-2015.pdf.
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2014, S. 333–351.
Orte der Nicht-Orte
Schües, Christina, „Nachbarschaft – Eine fragile Beziehung“, in: Gesichter der Gewalt.
93
deutlicher das Paradox einer drohenden Apokalypse des Untergangs aller und
der Unmöglichkeit dieses Ende zu denken.1 Im Atomzeitalter, schreibt Karl
Jaspers 1961, könne sich der Mensch „die Katastrophe nicht ohne Folgen des
Untergangs aller“2 erlauben. Und Günter Anders gibt nur kurze Zeit später
dieser schrecklichen Befürchtung Ausdruck, wenn er festhält, dass die Schwie-
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rigkeiten im Atomzeitalter „zu denjenigen gehören, die von uns nicht werden
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
bewältigt werden können“.3 Wer sich mit der Philosophie des Atomzeitalters
beschäftigt, trifft auf Namen bedeutender DenkerInnen des 20. Jahrhunderts,
wie Hannah Arend, Karl Jasper, Hans Blumenberg oder Jean-Paul Sartre. Dass
auch Michel Foucault ein Philosoph des Atomzeitalters ist, mag auf den ersten
Blick erstaunen, hat er dem bis heute nicht aus der Welt zu bringenden Tatbe-
stand der Existenz von Atomwaffen nie eine eigenständige Abhandlung gewid-
met. Vielmehr gilt Foucault als Namensgeber eines viel debattierten Konzepts
der Biopolitik, mit dem man sich auf dem Terrain technologischer Optimie-
rungs- und Verbesserungsstrategien des Lebens befindet. Obwohl Biopolitik
und atomare Bedrohung auf den ersten Blick keinen inhärenten Zusammen-
hang vermuten lassen, führt die Spurensuche zu einer nuklearen Dimension
in Foucaults Denken.
Dass Foucault im Konzept der Biopolitik auch die atomare Bedrohung
seiner Zeit mitreflektierte, kann zunächst als ein gesellschafts- und wissen-
schaftshistorischer Tatbestand konstatiert werden. Als Einsatzort neuer Denk-
weisen des Verhältnisses von Macht, Wissen und Leben wurden in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts die philosophischen und historischen Reflexionen
1 Vgl. Bernhard Moltmann, Das Atomzeitalter. Zur Gegenwart einer unaufgeklärten Vergangen-
heit, HSFK-Standpunkte, Heft 4, Frankfurt a. M.: Hessische Stiftung Friedens- und Konflikt-
forschung, 1999, S. 3f.
2 Karl Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München: DTV, 1961, S. 327.
3 Günther Anders, Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, München:
DTV, 1971, S. XIII.
auf Wissenschaft und Politik radikal neu fundiert. Mit der Herstellung und
dem Einsatz von Atomwaffen schienen die Wissenschaften die Grundlage für
eine neue Form der Massenvernichtung zu schaffen. In den zeitgenössischen
Reflexionen auf Wissenschaft und Politik haben vor dem Hintergrund eines
Untergangs aller und neuer kollektiver Angsterfahrungen die fortwährenden
atomaren Bedrohungsszenarien und wissenschaftlich-technologischen Ent-
wicklungen wie eine Initialzündung gewirkt, über die technisch-politische
Verfügbarkeit des Lebens nachzudenken. Diese zunehmende Verfügbarkeit
und Bedrohung des Lebens wurde insbesondere mit der Atombombe virulent,
die paradigmatisch für die Idee des Ausgesetzseins stand. Diese Idee baut je-
doch auf einer Sichtweise auf, die das Leben notwendigerweise in Opposition
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zu einer ihm äußerlichen Macht denkt. Mit dem Konzept der Biopolitik hat
sich Foucault radikal von dieser Idee abgewandt. Leben ist für Foucault nicht
jenseits von Macht zu denken, sondern wird als Korrelat von Macht- und Wis-
senspraktiken bestimmt. Das Konzept der Biopolitik ermöglicht die Analyse
divergierender Machtformen politischer Rationalität, die in modernen Gesell-
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schaften durch einen spezifischen Bezug auf das Leben gekennzeichnet sind.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Wie aber bezieht sich Politik auf das Leben und wie ist dieses Beziehungs-
gefüge machttheoretisch zu denken? Laut Foucault haben sich erst moderne
Gesellschaften die technischen, wissenschaftlichen und politischen Möglich-
keiten geschaffen, um über das Leben als solches zu verfügen. Das Leben steht
dabei in einem permanenten Verhältnis mit dem Wissen vom Leben, das
zugleich auf eine spezifische Machtförmigkeit verweist. Für Foucault ist die
Moderne durch einen sich in historischen und wissensgeschichtlichen Kons-
tellationen ausformenden Machttypus gekennzeichnet. War in vormodernen
Gesellschaften Macht noch im wesentlichen als eine „Abschöpfungsinstanz“
bestimmt, so sind die gesellschaftlichen Entwicklungen seit dem 18. Jahrhun-
dert von einer tiefgreifenden Transformation der Machtmechanismen geprägt.
War im 18. Jahrhundert Macht an die „juridische Existenz eines Souveräns“ ge-
knüpft gewesen, die sich über das Recht „sterben zu machen und Leben zu
lassen“4 legitimierte, tritt im 19. Jahrhundert an die Stelle der alten Souverä-
nitätsmacht allmählich eine neue, auf das Leben bezogene, die Foucault als
Biopolitik bezeichnet. Sie ist eine Macht, „deren höchste Funktion nicht mehr
das Töten, sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens ist“.5 Damit zielt
sie nicht ausschließlich auf die Disziplinierung des Individuums, sondern rich-
tet sich in einem umfassenderen Sinne an der Regulierung und Kontrolle der
4 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 1977, S. 162f.
5 Ebd., S. 166.
Foucault und die nukleare Dimension der Biopolitik 97
Bevölkerung aus. Biopolitik ist durch den Modus „Leben zu machen und ster-
ben zu lassen“6 charakterisiert. Das Spezifische dieser biopolitischen Regulie-
rungsmacht ist es, dass sie sich auf Bereiche erstreckt, die zuvor außerhalb des
Wirkungsbereiches der Souveränitätsmacht lagen. Das Zeitalter der Biopolitik
markiert dabei eine sich in der Geschichte abzeichnende „biologische Mo-
dernitätsschwelle“: „Es war nichts geringeres als der Eintritt des Lebens in die
Geschichte – der Eintritt der Phänomene, die dem Leben der menschlichen
Gattung eigen sind, in die Ordnung des Wissens und der Macht, in das Feld
der politischen Techniken.“ Die dem Leben innewohnenden Dynamiken und
Zufälligkeiten spielen nun direkt in den Bereich politischer Machtausübung
hinein. Das heißt für Foucault zwar nicht, dass das Leben gänzlich in den es
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Mit dem Konzept der Biopolitik nimmt Foucault den modernen Befund
einer zunehmenden Gewalt des Krieges auf und konstatiert: „Nie waren die
Kriege blutiger als seit dem 19. Jahrhundert und niemals richteten die Regime –
auch bei Wahrung aller Proportionen – vergleichbare Schlachtfeste unter ihren
eigenen Bevölkerungen an […]. Die Massaker sind vital geworden.“9 Wie also
kann eine Lebens- und Regulierungsmacht, die darauf angelegt ist, das „Le-
ben aufzuwerten, seine Dauer zu verlängern“10 zugleich auch eine Todesmacht
sein? An dieser Stelle bezieht sich Foucault dezidiert auf die atomare Bedro-
hung in der Zeit des Kalten Krieges und zeigt, dass auch die Atommacht als
Todesmacht in einem Kontinuum mit einer auf das Leben bezogenen Macht
steht.11 Was nämlich auf den ersten Blick wie die Rückkehr der alten Souverä-
nitätsmacht erscheint, insofern mit der Atombombe einem politischen Souve-
rän die Möglichkeit gegeben ist, „Millionen und Abermillionen von Menschen
zu töten“, ist in Wirklichkeit eine Lebensmacht, die ihre ungeheure Wirkung
nur deshalb entfalten kann, weil sie sich auf das Biologische bezieht. Foucault
verwehrt sich ausdrücklich, die Atommacht als juridische Macht eines sou-
veränen Regimes anzuerkennen. Vielmehr wird Macht mit der Atombombe
„dergestalt eingesetzt, daß sie sich in die Lage versetzt, das Leben selbst zu
vernichten. Und sich folglich als Macht, die das Leben garantiert selbst zu
vernichten“.12 Damit macht Foucault einen entscheidenden Unterschied in
den politisch-militärischen Kalkülen der Atompolitik und in der atomaren Lo-
gik einer potenziellen Machtausübung geltend. Denn was mit der Atombombe
auf dem Spiel steht, ist gerade nicht die „juridische Existenz der Souveränität,
sondern die biologische Existenz der Bevölkerung“.13 Mit der Atommacht zeigt
sich ein „unumgehbares Paradox“, das für Foucault nur biopolitisch zu deu-
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ten ist: Die Atombombe ist nicht nur eine Macht, die tötet, sondern die Leben
auslöscht. Gerade weil die Atombombe eine Macht darstellt, die immer schon
auf das Leben, die „biologische Existenz“14 bezogen ist, muss sie in dieser bio-
politischen Verfasstheit und ihren Wirkungen betrachtet werden. Mit der von
Atomwaffen ausgehenden potenziellen Möglichkeit, das Leben zu vernichten,
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verkehrt sich die Atommacht im Falle der Machtausübung gegen sich selbst:
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Die Auflösung der Atommacht ist die Auslöschung des Lebens. Atommacht
ist somit die Katastrophe des biopolitischen Zeitalters, die sich gerade nicht
als ein gänzlich anderer Machttypus der Regulierungs- und Lebensmacht dar-
stellt. Vielmehr ist sie das Extrem einer biopolitischen Machtausübung, da es
in „ihren politischen Strategien um die Existenz der Gattung selbst geht“.15
Wenn gegenwärtig von Biopolitik die Rede ist, dann wird zumeist ein Feld
biowissenschaftlicher Entwicklungen beschrieben. Biopolitik bleibt damit
auf Kontexte bezogen, die im weitesten Sinne die Bereiche der Genetik, der
Präimplantationsdiagnostik und Stammzellenforschung umfassen.16 Dieser
Biopolitik-Diskurs der Gegenwart tritt dabei selbst in Gestalt eines histori-
schen Diskurses auf, der seine eigene Genese unterschlägt. Motiviert von
gesellschaftlichen Debatten und kollektiven Ängsten wird das Biopolitik-
Konzept um seine nukleare Dimension verkürzt. Wenn sich jedoch Biopoli-
tik als ein immer schon auf eine spezifische Konzeption des Nuklearen aus-
weisen lässt, dann ist diese Dimension keinesfalls in das historische Register
atomarer Bedrohungsszenarien der 1970er-Jahre abzulegen. Es war Foucault,
12 Ebd., S. 293.
13 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, a.a.O., S. 164.
14 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, a.a.O., S. 293.
15 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, a.a.O., S. 170.
16 Vgl. exemplarisch hierfür Thomas Lemke, Gouvernementalität und Biopolitik, Wies-
baden: VS Verlag, 2008 sowie Christian Geyer, Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 2001.
Foucault und die nukleare Dimension der Biopolitik 99
tig sind wir noch immer in dem Bild der atomaren Katastrophe gefangen, zu
dem wir uns zwangsläufig verhalten. Es ist dieser Umstand, der uns auffordert,
die Frage, wie man angesichts atomarer Bedrohungen denkt, handelt und lebt,
präsent zu halten.
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Literatur
Anders, Günther, Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, Mün-
chen: DTV, 1971.
Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 1977.
Foucault, Michel, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France
(1975–1976), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999.
Geyer, Christian, Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001.
Jaspers, Karl, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München: DTV, 1961.
Lemke, Thomas, Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden: VS Verlag, 2008.
Moltmann, Bernhard, Das Atomzeitalter. Zur Gegenwart einer unaufgeklärten Vergan-
genheit, HSFK-Standpunkte, Heft 4, Frankfurt a. M.: Hessische Stiftung Friedens-
und Konfliktforschung, 1999.
Muhle, Maria, Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und
Canguilhem, Bielefeld: transcript, 2008.
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Steffi Hobus
Wir brauchen eine „neue Ontologie des Körpers“1, schreibt Judith Butler in
der Einleitung zu ihrem Buch Raster des Krieges. Wir bräuchten eine „neue
Ontologie des Körpers“, die einherginge mit „einem neuen Verständnis von
Gefährdung, Schutzlosigkeit, Verletzlichkeit, wechselseitiger Abhängigkeit,
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gehörigkeit zu tun. Wenn Butler von „Ontologie“ spricht, dann denkt sie sie
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1 Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid betrauern, Frankfurt a. M.: Cam-
pus, 2010, S. 10.
2 Ebd.
3 Ebd.
4 Isabell Lorey, „Gouvernementale Prekarisierung“, in: Inventionen, hg v. Dies./Roberto Nigro/
Gerald Raunig, Zürich: diaphanes, 2011, S. 72.
5 Ebd.
dass es sich um eine fundamentale Bedingung handle, die aber nicht als ein
„transhistorischer Zustand“6 aufzufassen sei. Diese Bedingung wird vor allem
nicht als etwas Individuelles gedacht, nichts, was einfach vorhanden wäre
und einer/-m Einzelnen als Prädikat zugesprochen werden könnte, sondern
als „jederzeit relational“ und in der Tradition nach Jean-Luc Nancy als sozial-
ontologisches „Mit-Sein“ mit anderen.7 Wie wäre dieses existentielle Gemein-
same genauer zu analysieren? Es geht hier um eine nicht zu hintergehende
und damit auch nicht absicherbare Gefährdetheit lebendiger Körper, „nicht
nur, weil sie sterblich, sondern gerade weil sie sozial sind“,8 die gleichzeitig his-
torisch und geografisch äußerst unterschiedliche Gestalten zeitigt. Ich werde
darauf gleich zurückkommen. Die „Prekarität“ als zweite Dimension ist nach
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6 Ebd.
7 Vgl. Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, Zürich: diaphanes, 2004.
8 Isabell Lorey, „Gouvernementale Prekarisierung“, in: Inventionen, a.a.O., S. 73.
Mit-Sein und Prekär-Sein 103
Vorstellung des „Gesichts“ – früher meist übersetzt als „Antlitz“; in der aktuel-
len Übersetzung von Pascal Delhom heißt es das „Angesicht“, was den theologi-
schen Gehalt stärker sichtbar sein lässt. Der Begriff „Angesicht“ bei Lévinas ist
terminologisch gebraucht; es ist nicht einfach oder ausschließlich das mensch-
liche Gesicht, aber es ist das, was „vermittelt, was menschlich ist, was gefährdet
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ist, was verwundbar ist“.11 Und es erinnert daran, „daß das Selbst für sich allein
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9 Vgl. Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005.
10 Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, a.a.O., S. 13.
11 Ebd., S. 14.
12 Emmanuel Lévinas im Gespräch, zit. n.: Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays,
a.a.O., S. 157.
13 Emmanuel Lévinas, „Frieden und Nähe“, in: Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die
Politik und das Politische, hg. v. Pascal Delhom/Alfred Hirsch, Zürich: diaphanes, 2007,
S. 137–149, hier: S. 145.
104 Steffi Hobuß
Ihm entspricht eine besondere Art der Einstellung gegenüber dem anderen,
die aber auch verfehlt werden kann; Lévinas schreibt: „Das Denken, das für
das Angesicht des anderen Menschen wach ist, ist kein Denken von …, keine
Repräsentation, sondern von vornherein ein Denken für …, eine Nicht-Gleich-
gültigkeit für den anderen, die das Gleichgewicht der gleichmütigen und
unempfindlichen Seele des reinen Kennens bricht […].“14 Die von Lévinas ge-
setzten Auslassungspunkte bedeuten, dass ich hier nicht etwas am anderen
wahrnehme, aufgrund dessen ich ihm die Verletzlichkeit und ein eigenes Mit-
Sein zuschreibe, sondern dass ich den anderen, wenn ich für sein Angesicht
wach bin, von vornherein, fundamental, als ausgesetzt und verletzlich erken-
ne. „Auf das Gesicht zu reagieren, seine Bedeutung zu verstehen heißt, wach
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zu sein für das, was an einem anderen Leben gefährdet ist, oder vielmehr wach
zu sein für die Gefährdetheit des Lebens an sich.“15 Wir haben hier also gerade
kein „Analogiemodell“ des Fremdpsychischen,16 wie es auch genannt worden
ist, dass ich etwa wahrnähme, der andere habe gewisse Eigenschaften, die ich
auch habe, und ihm deswegen ein analoges Prekärsein zu meinem prädikativ
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zuschriebe. Wittgenstein drückt das so aus: „Meine Einstellung zu ihm ist eine
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Einstellung zur Seele. Ich habe nicht die Meinung, daß er eine Seele hat.“17
Diesen grundlegenden existentiellen Begriff des Prekärseins hat Butler in
der Einleitung zu ihrem späteren Buch Raster des Krieges weiter entwickelt; die
Einleitung trägt den Titel Gefährdetes Leben, betrauerbares Leben. Hier heißt es,
man müsse „die Gefährdung […] als integralen Aspekt dessen erkennen, was
man im Lebendigen immer schon mit wahrnimmt“.18 Aufgrund dieser existen-
tiellen Bedeutung könne die Gefährdung selbst auch nicht anerkannt werden.
Das Prekärsein sei kein Effekt einer Anerkennung: „Wir werden nicht zunächst
geboren und sind irgendwann später gefährdet; vielmehr ist das Gefährdet-
sein [Prekärsein] als solches mit der Geburt koextensiv.“19 Hier ist nicht so sehr
Lévinas die zentrale Referenz, sondern Jean-Luc Nancys Heidegger-Lektüre. In
14 Ebd., S. 144.
15 Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, a.a.O., S. 160.
16 Vgl. Hans-Joachim Giegel, Die Logik der seelischen Ereignisse. Zu Theorien von Wittgenstein
und Sellars, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1969.
17 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984,
S. 495. Vgl. auch Ludwig Wittgenstein, Zettel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984, Z. 220: „Das
Bewußtsein in des Andern Gesicht. Schau ins Gesicht des Andern und sieh das Bewußt-
sein in ihm und einen bestimmten Bewußtseinston. Du siehst auf ihm, in ihm, Freude,
Gleichgültigkeit, Interesse, Rührung, Dumpfheit, usf. Das Licht im Gesicht des Andern.“
18 Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid betrauern, a.a.O., S. 20.
19 Ebd., S. 22.
Mit-Sein und Prekär-Sein 105
seinem Buch singulär plural sein20 erläutert Nancy die Existenzweise dieses
„singulär pluralen Seins“ im Sinne des Heideggerschen Mit-Seins. Das Wesen
des Seins sei immer zugleich Mit-Sein, und zwar wieder „nicht das Sein zuerst,
dem dann ein Mit hinzugefügt wird, sondern das Mit im Zentrum des Seins“.21
In gewisser Weise kehre das die traditionelle Ordnung philosophischer und
überhaupt rationaler Darstellungen um, in der das Mit nach dem Subjekt erst
an zweiter Stelle kommt. Selbst Heidegger sei letztlich noch dieser Logik treu,
wenn er das Dasein, das ist bei ihm die Seinsweise des Menschen, der sich stets
um sein Sein kümmert, zuerst darstelle und erst als zweites und wesentlich
kürzer auf das Mit-Sein eingehe, nachdem er das Dasein schon in seinem Text
etabliert hat. Aber das Mit-Sein lasse sich nicht „ans Da-sein anfügen“.22 Es
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geht für Nancy darum, für ein wirkliches Denken des Sozialen das Folgende
zu denken: „Nicht zuerst das Sein des Seienden und dann das Seiende selbst
als Mit-ein-ander, sondern das Seiende – und alles Seiende – in seinem sein
als Mit-ein-ander seiend. Singulär plural: derart, daß eines Jeden Singularität
von seinem Sein-mit-mehreren nicht zu trennen ist.“23 In einer ganz anderen
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20 Vgl. Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, a.a.O. sowie vgl. Martin Heidegger, „Dasein, Mit-
sein“, in: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, 17. Aufl., 1993, §§ 25–27.
21 Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, a.a.O., S. 59.
22 Ebd., S. 148.
23 Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, a.a.O., S. 61.
24 Ebd., S. 73.
25 Vgl. ebd., S. 75.
106 Steffi Hobuß
Bedrohung gedacht. Dann ist das Prekärsein etwas, das Angst26 macht, und
kann als Beängstigung durch die Anderen wahrgenommen werden, die ja im-
mer an das gemeinsame Prekärsein gemahnen. Weil „jeder Körper sich […]
potenziell von anderen bedroht sieht, die per definitionem ihrerseits gefährdet
sind“,27 sind Menschen in ihrem Prekärsein von etwas außerhalb ihrer selbst,
von anderen und von sichernden Umwelten abhängig. Aber es können keine
Bedingungen geschaffen werden, „die das Problem der Gefährdung des Men-
schen vollständig ‚lösen‘ könnten“.28 Manche Regelungen wenden „das exis-
tentielle Prekärsein in eine Angst vor verletzenden Anderen, die zum Schutz
der so Bedrohten bereits präventiv abgewehrt und ggf. sogar vernichtet werden
müssen“.29 Und so lässt sich – noch einmal – zum Verhältnis von Prekärsein
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und Prekarität sagen, dass „Prekarität“ als Effekt derjenigen Regelungen zu ver-
stehen wäre, die in gewisser Weise vor dem „Prekärsein“ schützen sollen, das
grundlegende Problem aber nicht abschaffen können.
Von diesem Ausgangspunkt aus lässt sich über viele Felder nachdenken,
und viele Regelungen des Prekariats lassen sich interpretieren, Überlegungen
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zum Begriff der communitas30 und der multitudo lassen sich in diesem Rah-
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men anstellen. Butler denkt darüber nach, „warum wir nicht jedes Leid bekla-
gen“, und wie sich eine ethische Argumentation gegen Kriege begründen ließe.
Diskussionen um das sogenannte „Recht auf Leben“31 und um die Lebenswis-
26 Vgl. Martin Heidegger, „Dasein, Mitsein“, in: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, 17.
Aufl., 1993, §§ 30, 40–44. Vgl. auch Paolo Virno, Grammatik der Multitude. Mit einem An-
hang: Die Engel und der General Intellect, Wien: turia + kant, 2005, hier S. 36f. zum „[…]
Unterschied, den Heidegger zwischen Furcht und Angst macht […]. // Die Furcht bezieht
sich auf eine bestimmte Sache wie die bereits erwähnte Lawine oder die Arbeitslosig-
keit. Die Angst hingegen hat keine auslösende Ursache. Auf den entsprechenden Seiten
in Sein und Zeit führt Heidegger aus, dass die Angst durch das einfache und reine Der-
Welt-ausgesetzt-Sein bewirkt wird, durch die Ungewissheit und Unbestimmtheit, mit der
sich unser Bezogensein auf die Welt offenbart. Die Furcht ist begrenzt und man kann
sie benennen; die Angst ist allseits gegenwärtig, sie ist an keine besondere Gelegenheit
gebunden, sie kann uns zu jedem Zeitpunkt und in jeder Lage anfallen. Diese Formen
der Sorge (Angst und Furcht) und ihre entsprechenden Gegenmittel müssen nun einer
sozialgeschichtlichen Untersuchung unterzogen werden.“
27 Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid betrauern, a.a.O., S 36.
28 Ebd., S. 35.
29 Isabell Lorey, „Gouvernementale Prekarisierung“, in: Inventionen, a.a.O., 2011, S. 77.
30 Vgl. Roberto Esposito, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin: dia-
phanes, 2004.
31 Vgl. dazu auch Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid betrauern,
a.a.O., S. 25: „Damit lässt sich also in Bezug auf ein Lebewesen nicht von vornherein von
einem Recht auf Leben sprechen, da kein solches Recht vor Zersetzung und Tod schüt-
zen kann; diese Anmaßung ist nichts als Ausdruck einer Allmachtsphantasie des Anthro-
pozentrismus, die auch die Endlichkeit des anthropos leugnen will.“ Vgl. auch: Nikolas
Mit-Sein und Prekär-Sein 107
senschaften wären ein weiterer Gesichtspunkt. Auf jeden Fall wird sich sagen
lassen, dass die Annahme, das Leben müsste oder könnte gar, weil es prekär
und gefährdet, weil es einer existentiellen Verletzbarkeit ausgesetzt ist, recht-
lich oder auf welche Weise auch immer gänzlich geschützt und abgesichert
werden, eine „Fantasie der Omnipotenz“32 darstellt.
Literatur
Butler, Judith, Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005.
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Butler, Judith, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid betrauern, Frankfurt a. M.:
Campus, 2010.
Esposito, Roberto, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin: diapha-
nes, 2004.
Giegel, Hans-Joachim, Die Logik der seelischen Ereignisse. Zu Theorien von Wittgenstein
und Sellars, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1969.
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Heidegger, Martin, „Dasein, Mitsein“, in: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, 17.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Aufl., 1993.
Lévinas, Emmanuel, „Frieden und Nähe“, in: Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über
die Politik und das Politische, hg. v. Pascal Delhom/Alfred Hirsch, Zürich: diaphanes,
2007, S. 137–149.
Lorey, Isabell, „Gouvernementale Prekarisierung“, in: Inventionen, hg. v. Dies./Roberto
Nigro/Gerald Raunig, Zürich: diaphanes, 2011.
Nancy, Jean-Luc, singulär plural sein, Zürich: diaphanes, 2004.
Rose, Nikolas, „Was ist Leben? – Versuch einer Wiederbelebung“, in: Bios und Zoë.
Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, hg. v.
Martin G. Weiß, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2009, S. 152–179.
Virno, Paolo, Grammatik der Multitude. Mit einem Anhang: Die Engel und der General
Intellect, Wien: turia + kant, 2005.
Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
1984, S. 495.
Wittgenstein, Ludwig, Zettel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984.
Rose, „Was ist Leben? – Versuch einer Wiederbelebung“, in: Bios und Zoë. Die menschliche
Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, hg. v. Martin G. Weiß, Frankfurt
a. M.: Suhrkamp, 2009, S. 152–179, hier S. 158: „Die Frage nach der Bedeutung des Lebens ist
in die Sphäre der Moral-Politik (Etho-Politics) eingetreten, d.h. in die Sphäre der Ausein-
andersetzung darüber, welche Gefühle, welche Annahmen und Glaubenssätze, welche
Werte uns als Menschen leiten sollen, kurz, in das Felder der Regierung von und durch
Ethik.“
32 Isabell Lorey, „Gouvernementale Prekarisierung“, in: Inventionen, a.a.O., S. 76.
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Roberto Nigro
Wozu Dichter in dürftiger Zeit? könnte man sich fragen! In der elenden Zeit –
materiell und intellektuell –, in der wir leben, wo jedes Detail der mensch-
lichen Tätigkeit quantifiziert wird, aus Chiffren, Daten und Märkten besteht,
und wo das Leben auf Geldwert reduziert ist, kann der Diskurs von jeman-
dem, der über die (und für die) Verweigerung der Arbeit sprechen möchte, nur
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wie eine boutade, eine letzte geistreiche Äußerung eines verbleibenden Dandy
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Lazzarato sagt sehr deutlich, dass der Begriff der Verweigerung der Arbeit die
wichtigste politische Kategorie des italienischen Operaismus sei.
Er schreibt: „Sie bezieht sich auf die individuellen und kollektiven Kampf-
praktiken der ,Massenarbeiter‘ der großen fordistischen Fabriken, die mit
ihren Fließbändern und ihrer
Konzentration von Arbeiter*innen den Inbegriff der Ausbeutung im indus-
triellen Kapitalismus repräsentieren.“
Wie Sie wissen, bezieht sich der Ausdruck Operaismus auf eine politische
und kulturelle Tradition, die auf die in Italien in den frühen 1960er Jahren ent-
standenen politischen Praktiken zurückgeht. Operaist*innen interessierten
sich für die neuen Formen von Subjektivität und für die Transformation der
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Begriff und eine neue Praktik einführte, welche den Fokus auf die Verweige-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Als Ergebnis hob der Operaismus ein Bild auf, das die ganze sozialistische
und kommunistische Tradition bis dato dominiert hatte. Wenn die Arbeiter-
klasse immer als ein Opfer repräsentiert wurde, als ein passives Subjekt, dem
die Entwicklung des Kapitals ihre eigenen Gesetze aufzwingt, wenn sie auf eine
ausgebeutete Arbeitskraft reduziert wurde, stürzten die Operaist*innen diese
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These, indem sie zeigten, dass die kapitalistische Entwicklung dem Kampf der
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Zur Metaphysik
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Martin Hailer
Gott denken?
Kann man, soll man, Gott denken? Die Antworten auf diese Frage sind, vor-
sichtig gesagt, vielfältig. Das wird deutlich, wenn man sich die Extreme vor
Augen führt: Die eine Seite antwortet auf die Titelfrage mit einem empörten
Nein. Denn wie sollte man wohl etwas denken, was es gar nicht gibt? Oder,
nicht-atheistisch aber im Ergebnis ähnlich, wie sollte man dasjenige den-
ken, was doch schlechterdings Geheimnis ist? Die andere Seite antwortet mit
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einem entschiedenen Ja: Gott ist zu denken, und dies zu tun, ist die größte
Herausforderung und Ehre des Denkens. Etwa so: In Gott soll kein Geheim-
nis verbleiben, und es ist dem Denken möglich, Gott ohne verbleibendes Ge-
heimnis zu ergründen. Das zumindest hat sich die spekulative Philosophie des
deutschen Idealismus zum Ziel gesetzt.1 Auch innerhalb der Theologie wird
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mitunter beansprucht, Gott selbst sei Gegenstand des Denkens.2 So weit also
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ist der Horizont der Antworten – und dass es viele Varianten zwischen den
Extremen gibt, versteht sich von selbst.
Das hier zu bewerbende Argument hat etwas von beiden Seiten. Es wird da-
rauf hinauslaufen: Ja, Gott ist zu Recht ein Thema des Denkens. Er muss sogar
ein Thema der Philosophie sein, sonst verfehlt sie sich selbst. Und zugleich:
Nein, dabei aber wird er bei Strafe eines eklatanten Selbstwiderspruchs selbst
nie gedacht. Der Gedanke ist alt und kommt aus der Tradition der negativen
1 Die Geschichte des deutschen Idealismus ist auch die Geschichte des Programms, Gott ohne
Geheimnis zu denken. In den letzten Sätzen des sog. Ältesten Systemprogramms von 1796/97
liest es sich wie eine Aufforderung an künftige Theorieproduktion, vgl. Mythologie der Ver-
nunft. Hegels ‚ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus‘, hg. v. Christoph Jamme
und Helmut Schneider, Frankfurt a. M. 1984, S. 14. Hegel selbst unternimmt dies in mehreren
Anläufen, zunächst in den Schlusspassagen der Phänomenologie des Geistes, die er aber
bald als unbefriedigend und skizzenhaft empfand. Die Durchführungen in der Wissenschaft
der Logik und in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften §§ 572–577 dürfen
als sein endgültiges Wort zur Sache gelten.
2 Diese Prätention führt zwei ansonsten recht unterschiedlich optierenden Systematiker
zusammen, vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht, 1988, S. 58–72 und Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur
Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus,
Tübingen: Mohr, 1977, S. 203–227, S. 514–543.
Theologie. Freilich gibt es ihn in modernen Varianten und so, dass er für die
aktuellen Gesprächslagen interessant wird. Die Grundform ist diese:3
Es ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts. Das ist Anlass zum Stau-
nen. Dass es so ist, das kann man feststellen. Aber dass es so ist, das wird nie-
mals Gegenstand der Betrachtung, niemals Objekt. Denn dass überhaupt etwas
ist und nicht vielmehr nichts, das muss jede mögliche Gedankenoperation im-
mer schon voraussetzen. Es macht eben alles andere möglich, auch die Refle-
xion darauf und auch die Person, die diese Reflexion aktual vollzieht. Was das
Vorausgesetzte ist, kann also nicht gesagt werden, weil es auch den Akt des Sa-
gens ermöglicht. Und doch kommt man nicht umhin, es vorauszusetzen. Es ist
also das Unerklärliche schlechthin. Bezeichnenderweise ist auch aus promi-
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nentestem Mund zu hören, die Philosophie beginne mit dem Erstaunen.4 Zum
Staunen ist dies allerdings. Und doch ist dieser Transzendenzaspekt für alle
Menschen erschwinglich. Er ist nicht auf besondere Erfahrungen angewiesen,
weil er jeder Erfahrung zu Grunde liegt. Er ist nicht ein isoliertes Sinnerlebnis
in einem Meer von Flachheit, weil er jedem Sinnerleben zu Grunde liegt. Er ist
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3 Ich folge der Systematisierung von Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York: de Gruyter, 2005,
S. 58–78; vgl. die ausführliche Diskussion bei Martin Hailer, Religionsphilosophie, Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, 2014, S. 42–73.
4 Aristoteles, „Staunen als Anfang der Philosophie und stoffartige Archē“, in: Metaphysik I,
982b, Reinbek: Rowohlt, 1994, Z. 11f.
5 Thomas Rentsch, Gott, a.a.O., S. 68.
Gott denken ? 117
Praxis nicht pragmatisch und technisch verfügen, sondern dass sie uns sinn-
konstitutiv entzogen und vorgängig sind. Wir werden zu uns selbst im Medium
sozialer und kommunikativer Praxis“.6 Dass wir zu alldem in der Lage sind,
können wir nicht erklären, ohne das zu Erklärende seinerseits vorauszuset-
zen. Das Transzendenzgeschehen namens Sprache ermöglicht unser Selbstbe-
wusstwerden und trägt es.
Das Muster ist vergleichbar: Sprache ist unhintergehbare Voraussetzung,
wie es die Existenz der Welt ist. Ohne Sprache kein Sinn, keine Kommunika-
tion, kein Selbstwerden. Das dürfte im übertragenen Sinne auch für nichtspre-
chende Personen gelten, ein interessanter ethischer Seitenaspekt, den ich hier
aber unberührt lasse.
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und Verstehen. Man muss es schon betätigen, auch und gerade dann, wenn
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
man über Sprache spricht. Es geht jetzt noch um einige Implikationen dieser
Gedankengänge. Zu beginnen ist mit einer formalen Beobachtung: In beiden
Beispielen gibt es einen konstitutiven Zusammenhang. In beiden Beispielen
verweist man zunächst auf etwas, was man nicht benennen kann. Das kön-
nen wir das Negative oder die Negativität nennen. Und dieses Negative ist –
zweiter Aspekt – von der Art, dass es Sinn ermöglicht. Er ermöglicht die Welt
überhaupt im ersten Beispiel. Und im zweiten: Dass sprachliches Verstehen
die Welt ordnet, verständlich macht, lesbar macht, das leuchtet ja unmittelbar
ein. Die beiden Aspekte kommen zusammen: Negativität auf der einen Seite
und die Ermöglichung von Sinn auf der anderen. Das, was uns schlechterdings
entzogen ist, das macht es möglich, dass Sinn entsteht.
Dieser Zusammenhang ist eminent wichtig. Denn jemand könnte ja sagen:
Das Einzige, was ich über Gott, über das Absolute sagen kann, ist, nichts dar-
über zu sagen. Dann aber folgt auch genau nichts daraus, und das Thema ist
endgültig erledigt. Jedoch – diese Schlussfolgerung ist falsch: Ich bin doch in
der Welt. Ich muss doch sprechen. Also, diese merkwürdigen Entzogenheiten
sind von der Art, dass sie mich an das Handeln weisen.8
Die Negativität und der Praxisbezug gehören zusammen. Und mit diesem Zu-
sammenhang trifft man einen alten philosophischen Bekannten wieder: Die
Metaphysik der alten Welt hat genau das nämlich gelehrt. Wer vom Höchsten
spricht, dem verschlägt es die Sprache, weil ihm die Sprache für das Höchste
nicht ausreicht. Zugleich aber ist das Leben angefasst, verändert. Die Akade-
mie Platons war nicht zufällig auch eine religiöse Gemeinschaft. Die großen
Denker des Mittelalters haben ihre enorme begriffliche Arbeit immer als wel-
che getan, die von dem berührt und verändert waren, was sie doch nie auf den
Begriff brachten.9 Spekulative Sätze werden für dies Denken nur dann wahr,
wenn sie entsprechende Handlungsdispistionen anlegen und verändern. Was
dem Denken entzogen ist, das steckt genau die Sinnmöglichkeiten für das
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Handeln ab. Es kann also nur handelnd eruiert und wahrgenommen werden.
Erst das losgelöst-spekulative Denken der Neuzeit hat das nicht mehr ver-
standen. Hegel wollte wirklich die zutreffende Theorie Gottes schreiben.
Entsprechend gründlich verlor er den Konnex zwischen Entzogenheit und
Sinnpotential.10
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Der Zusammenhang von Negativität und Sinn sollte anhand des Weltargu-
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ments und des Spracharguments deutlich geworden sein. Ist damit behauptet,
Welt und Sprache seien Gott? Nein, ganz genau nicht. Wohl aber wird behaup-
tet: Am Beispiel dieser beiden Argumente kann man sehen, dass wir beständig
aus Bezügen leben und die Bezugsgröße doch nicht erkennen können. Nicht
mehr – aber eben auch nicht weniger. Und damit zurück zur Ausgangsfrage
und zum Titel: Kann man Gott denken? Nein, das geht nicht und es wäre eine
Blindheit beträchtlichen Ausmaßes, es dennoch tun und behaupten zu wollen.
Aber: Ohne Gott denken? – das ist genausowenig möglich.11
9 Vgl. in fast willkürlicher Auswahl: Hugo von St. Viktor, Didascalicon de studio legendi. Stu-
dienbuch, übers. und eingel. von Th. Offergeld, Freiburg i. Br.: Herder, 1997, S. 118, S. 124,
S. 126; Anselm von Canterbury, Proslogion, hg. v. Franciscus S. Schmitt, Stuttgart: from-
mann-holzboog, 1995, S. 74–84 sowie Thomas von Aquin, Summa Theologica I., 1.4, Turin/
Rom: Marietti, 1942 [1265/66–1273], S. 4.
10 Hegels zeitweiliger Weggefährte Schelling hat diesen Zusammenhang gesehen. Gleich, ob
man die systematischen Ansprüche, eine Philosophie der Offenbarung zu entwerfen, für
durchführbar hält oder nicht, Schelling sieht jedenfalls den hier angesprochenen Konnex
von Negativität und praktischem Sinn: „Hauptvoraussetzung für diese Philosophie ist ein
nicht bloß ideales, durch Vernunft oder freie Erkenntnis vermitteltes, sondern ein reales
Verhältnis zu Gott; denn es gibt ein älteres, ins Sein selbst zurückgehendes Verhältnis des
Menschen zu Gott, als das Erkennen.“ Georg W. F. Schelling, Philosophie der Offenbarung
1841/42, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 257, i. O. teilw. herv.
11 Die systematischen Anschlussprobleme für explizites Sprechen von Gott – also für die
Aufgabenbereiche von Theologie und Religion –, werden skizziert bei Hailer, Religions-
philosophie, a.a.O., Anm. 3, S. 179–216.
Gott denken ? 119
Literatur
Aquin, Thomas von, Summa Theologica I., 1.4, Turin/Rom: Marietti, 1942 [1265/66–1273].
Aristoteles, „Staunen als Anfang der Philosophie und stoffartige Archē“, in: Metaphysik
I, 982b, Reinbek: Rowohlt, 1994.
Canterbury, Anselm von, Proslogion, hg. v. Franciscus S. Schmitt, Stuttgart: frommann-
holzboog, 1995.
Hailer, Martin, Religionsphilosophie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014.
Jüngel, Eberhard, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des
Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen: Mohr, 1977.
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St. Viktor, Hugo von, Didascalicon de studio legendi. Studienbuch, übers. und eingel. von
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
definierten Begriffen auffängt […] alles kann definiert werden, also muss auch
alles definiert werden, es gibt nichts logisch ‚Vorläufiges‘ mehr.“3
Wie wir alle wissen, gibt es in Deutschland immer noch Lehrstühle für Phi-
losophie und die philosophischen Fakultäten sind nicht geschlossen worden,
auch wenn manches Bundesland, das aus anderen (meist finanziellen) Grün-
den wohl gerne anstreben würde.
Allein das Argument, es würde nur Zeit brauchen, damit Descartes Pro-
gramm sich erfüllt und die Philosophie ihren Endzustand eindeutigster Ter-
minologie erreicht, scheint mir wenig überzeugend. Es gibt also u. U. Gründe,
warum die Metapher im philosophischen Diskurs persistiert, auch wenn man
oft versucht hat, sie auszuschließen. Auf diese überaus wichtige zweitau-
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Prämisse zu lesen gibt, die Wahrheitsfähigkeit der Texte allein der Philosophie
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
zuschreibt und eine phonozentrische Perspektive auf die Schrift ausstellt. Auf
der einen Seite gibt es die Philosophie mit ihren wohl definierten Begriffen,
auf der anderen die Literatur und Rhetorik mit übertragenem, figurativem
Sprachgebrauch.
Die Rhetorik will als dicere ad persuadendum accomodate überzeugen, was
den Verdacht der Unwahrheit des Konstatierten für die Philosophie aufwirft
oder sogar, wie bei Kant, zum Verdacht sprachlicher Überlistung führt.4 Als
Gemeinplatz der Philosophiegeschichte beginnt diese Opposition von Philo-
sophie und Rhetorik bereits bei Platon, der die Schönrednerei der Sophisten
aufzeigt. Diese Gegenüberstellung ist seit Platon, der dabei häufig unbe-
merkt selbst rhetorisch operiert, tradierte unreflektierte ‚Wahrheit‘ gewor-
den: als Minderwertigkeit der Rhetorik.5 Der Opposition von Philosophie und
Rhetorik, in der die Rhetorik von der Philosophie einer schlechten Bewertung
unterzogen wird, findet ihre Wiederholung in der Ablehnung der Metapher als
un- oder vorbegrifflich, als etwas, was dringend in Logizität aufgelöst gehört:
kurzum als Störung, und wenn überhaupt akzeptabel als bloßer Übergang zum
Begriff. Wie sie sicher wissen, geht das historisch an einigen Stellen so weit,
dass z.B. die berühmte Royal Society of London im 17. Jahrhundert gar ein Meta-
phernverbot für ihre so philosophischen Mitglieder erließ, die, jenseits des als
verwerflich kritisierten „trick of metaphors“,6 ganz im Sinne ihres Society-Mot-
tos „Nullius in verba“ zu bündigem und einfachem Sprachgebrauch angehalten
wurden.
Keine Denunzierung rhetorischer Eloquenz – das kann ich ihnen versi-
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chern –, ist eloquenter, als die, welche bei jenen Philosophen gefunden werden
kann, die die Metapher ablehnen. Ein Beispiel: John Locke, in seinem Essay
concerning human understanding, begreift den übertragenen Sprachgebrauch,
auch die Metapher, als „imperfection and abuse of language“. Dies tut er aber
mit nichts Geringerem als jenem berühmten Attribut mit dem Martianus
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Vergessenheit geraten. Vgl. Carlo Ginzburg, Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis,
Berlin: Klaus Wagenbach, 1996, Kap. IV.
6 Vgl. Thomas Sprat/Martyn Abraham Cowley, The History oft the Royal Society of London, for
the Improving of Natural Knowledge, London: T. R., 1667, S. 112.
7 Vgl. John Locke, An Essay concerning Human Understanding, hg. v. Peter H. Nidditch, Oxford:
University Press, 1975 [1690], III, X, § 34, S. 508 sowie William Harris Stahl, Richard Johnson,
Evan L. Burge, Martianus Capella and the Seven Liberal Arts, Bd. 2, New York: Columbia Uni-
versity Press, 1971–77 [1929/1933], S. 156f.
124 Thorsten Bothe
sagen will, er sei stark wie ein Löwe: „Comparatio est, cum dico fecisse quid
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hominem ‚ut leonem‘, translatio, cum dico de homine ‚leo est‘; ein Vergleich ist
es, wenn ich sage, ein Mann habe etwas getan ‚wie ein Löwe‘, eine Übertragung
(also Metapher, translatio) wenn ich von dem Mann sage: ‚er ist ein Löwe‘.“10
Aus diesem hochkomplexen textuellen Sachverhalt hat sich bis heute nur die
Schulweisheit und diese im Programm der akademischen Rhetorikkurzfassun-
gen völlig verunklärt erhalten, dass die Metapher eben ein abgekürzter Ver-
gleich sei, als wenn Tropen wie Realdefinitionen funktionieren würden. Doch
die Trope selbst wird durch eine Trope definiert, denn ausgewiesen ist sie als
abgekürzter Vergleich, „wie ein Löwe“, der selbst vergleichend die Metapher
ein- und vorführt. Ob dies die Metapher wirklich definiert ist zu hinterfragen.
Der Vergleich geht der Metapher in der Rhetorik im Text voraus, die Tropen
bilden bei Quintilian eine Beispielreihe, die hierarchisch – vom Vergleich bis
zur Hyperbel – aufeinander aufbaut.
8 Weiterführend zum Problem der Extension eines Begriffs siehe Hilary Putnam, Die
Bedeutung von „Bedeutung“, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1990, S. 53ff, dort allerdings das
Problem des Beispiels, S. 53: „Zum Beispiel heißt, Wasser zu sein, mit gewissen Dingen
flüssidentisch zu sein. Aber was ist Flüssidentität? x und y sind genau dann flüssidentisch,
wenn (1) x und y beide Flüssigkeiten sind und wenn (2) x und y in ihren wichtigsten physi-
kalischen Eigenschaften übereinstimmen“.
9 Vgl. Marcus F. Quintilian, Institutionis Oratoriae. Ausbildung des Redners, hg. v. Helmut
Rahn, 2 Bde., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995.
10 Ebd., VIII, S. 6 u. S. 9.
Hans Blumenberg. Metaphorologie – Unbegrifflichkeit 125
Auch bei der Metonymie, die der Synekdoche nachfolgt, ist dies der Fall: „Nec
procul ab hoc genere discedit metonymia; nicht weit von diesem genus11 liegt
die Metonymie“12 – in deutschen Übersetzungen steht für genus stets Synekdo-
che, aber Geschlecht verdeutlicht hier den genealogischen Aufbau, die Abfolge
der Beispiele in der Tropenreihe, ihre Verwandtschaft. Es ist eine hochproble-
matische, in ihrer Wirkung oft verkannte Einführung. – Eine Einführung,
die präziser, aber auch leichthändiger nicht sein könnte, denn schon die
sachliche Nachbarschaft zur Synekdoche, die das zuvor behandelte ge-
nus ist, genauer jedoch die Unterstreichung des bloßen ‚Nicht weit da-
von‘, das die sachliche Nähe in der sachlich richtigen, nämlich durchaus
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Von diesen beiden Beispielen, der Metapher und der Metonymie, gilt ohne
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weiteres, dass „ ‚das Definierte ist‘, was es logisch nicht sein darf, ‚im Definie-
renden der Definition mit eingeschlossen‘, das definiendum impliziert im defi-
niens der Definition“,14 so die wörtliche Diagnose aus der Weißen Mythologie
Derridas,15 mit Anspielung auf die Termini der klassischen Definitionstheorie,
auf die das Original im Französischen insistiert. Die These muss also lauten,
dass die genannten Stellen nicht (nur) rhetorisch definieren, was eine Trope
ist – wenn sie überhaupt definieren, sondern in der Einführung der Beispiele
diese exemplarisch vorführen. Diese Vorführung ist die Inszenierung und ein
Modus der Darstellung von Wissen über die rhetorische téchnē selbst, das allein
durch Konstatierung, also philosophisch, nicht zu sagen wäre. So macht uns
diese metaphorologische Pointe im Kleinen aufmerksam darauf, dass die Über-
setzung solcher Phänomene in logische Begrifflichkeiten zwar möglich sein
könnte, aber nicht ohne Gehaltsverlust. Nicht um die logische Verlegenheit der
Rhetorik geht es, sondern um eigenständige Wissensformen der Darstellung,
die vielleicht nicht an den Wahrheiten der Philosophie gemessen werden
11 Anselm Haverkamp, „Auswendigkeit. Das Gedächtnis der Rhetorik“, in: Figura cryptica.
Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, S. 130.
12 Ebd., VIII, S: 6 u. S. 23.
13 Anselm Haverkamp, „Auswendigkeit. Das Gedächtnis der Rhetorik“, in: Figura cryptica.
Theorie der literarischen Latenz, a.a.O., S. 130.
14 Ebd., S. 128 u. S. 129.
15 Jacques Derrida, „Mythologie blanche“, in: Marges – De la philosophie, hg. v. Ders., Paris:
Les Éditions de Minuit, 1972, S. 274.
126 Thorsten Bothe
Literatur
vérité dans les sciences. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der
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sche Auslegung der Natur unmittelbar auch die Frage der menschlichen Exis-
tenz betrifft. Im Begriff der Natur spiegeln sich die Dimensionen des Geistes,
der Geschichte und der Kultur und das bedeutet, dass sich im Verständnis der
Natur zeigt, wie die Modi menschlicher Existenz zu denken sind. In der wie-
derkehrenden philosophischen Verständigung über Natur wird aber auch eine
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dabei steht der Selbstauslegung des Menschen immer wieder das Leitbild einer
natura incorrupta gegenüber. Die Vorstellung einer latenten und überzeit-
lichen Integrität ursprünglicher Natur begleitet das philosophische Denken
und auch die mit Kant und Rousseau einsetzende Orientierung der Naturaus-
legung am Maß des Menschen, erweist sich letztlich als Kritik im Namen der
Natur. Natur nimmt damit die Funktion einer ursprünglichen Einheit und den
Charakter einer Norm an, von der aus Abweichungen je als Formen nachträg-
licher Entfremdung erscheinen. Heute kann es nicht mehr darum gehen, sich
antinaturalistisch oder konstruktivistisch gegen naturalisierendes Denken
auszusprechen. Heute stehen wir vielmehr vor der Herausforderung, gar nicht
mehr im Namen einer Natur sprechen zu können, denn es scheint unmöglich,
zu ihr zurück zu gelangen, oder sie auch nur als eine Orientierungsinstanz
unseres Handelns zu begreifen. Wir sind also herausgefordert, das Verhältnis
von Natur und Norm zu überdenken. Und vielleicht lässt sich von da aus auch
der Zusammenhang von Natur und Freiheit in ein neues Licht stellen.
Ein Angebot in dieser Richtung verbindet sich heute mit dem Namen Spi-
nozas. Von ihm geht das Versprechen eines Neuanfangs in der Frage nach
der Natur und dem Menschen aus. Man bezieht sich damit erneut auf einen
Denker, der in rationalistischem Duktus und metaphysischer Ausrichtung das
Ganze der Natur zu erfassen gesucht hat und dabei die ordnende Funktion
der Ontologie im Sinne des frühneuzeitlichen Anspruchs genutzt hat, die Welt
als Ganzes erklärbar zu machen und die Weltkonvergenz der metaphysischen
Bestimmungen sicherzustellen. Die Einheitsbegriffe von Gott, Natur und
Substanz dienten ihm dazu, die Wirklichkeit auf der Grundlage einer ontolo-
gischen Bestimmung des Ganzen erfassbar zu machen und dabei das Eine und
das Viele in ein modales Verhältnis zu bringen. Spinoza musste die cartesia-
nische Frontstellung gegen die ausgedehnte Welt nicht weiter fundieren, um
die Freiheit des Menschen gegenüber der Natur denken zu können. Er wollte
vielmehr zeigen, dass der Mensch allein als Teil der Natur zur Freiheit kommt,
und dass die Intelligibilität des Menschen nur als ein Teil der Intelligibilität der
Natur verstehbar ist.
Spinoza beginnt sein System in der Ethica von 1677 mit einer Kritik der
Voraussetzungen des Anfangs, indem er mit der Ontologie als einer Theorie
der elementaren Dimensionen von Wirklichkeit und der Bestimmung einer
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Essenz einsetzt, die Ursache und Voraussetzung ihrer selbst ist und ihre eigene
Existenz einschließt. Mit dem Prinzip der causa sui stellt er eine immanente
Selbstursache, das heißt eine sich selbst erzeugende Unterscheidung an den
Anfang, um die Emergenz seines Systems voraussetzungskritisch und ohne
transzendente Herleitungen aufzubauen und den Gesamtzusammenhang des
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Seins weder in etwas Größeres einzuschließen noch ihm eine prima causa zu
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unterlegen. Immanenz ist der allgemeine Horizont, in dem Spinoza die Frei-
heit findet, die Natur als Ganzes nach ihren eigenen Bedingungen zu verstehen.
Die radikale Selbstständigkeit und Unbedingtheit der Substanz, die die Natur
ist, setzt voraus, dass es nur eine Substanz geben kann. In ihr differenzieren
sich die Attribute der Ausdehnung und des Denkens und Spinoza stellt diese
Attribute in ein horizontales Verhältnis. Er vermeidet ihre Hierarchisierung
und somit gibt es keine Überordnung des Intelligiblen über das Körperliche
und nichts, was der Natur übergeordnet wäre, sondern nur ihre verschiedenen
Attribute und daraus hervorgehend ihre Modi in mannigfaltigen Verbindungen.
Der Begriff der Natur wird nicht in derselben systematischen Weise be-
stimmt, wie die anderen Grundbegriffe in Spinozas Ontologie. Natur drückt
sich vielmehr als eine Macht im Sinne der potentia aus, d.h. als eine imma-
nente „Macht der natürlichen Dinge (rerum naturalium potentia)“.1 Spinoza
gibt der Natur damit ihre Virtualität und ihre Potentialität zurück und sucht
mit der Unterscheidung von natura naturans und natura naturata seine Vor-
stellung einer dynamischen und in unterschiedlichen Ausdrucksformen wan-
delbaren Welt zu markieren. Natur ist schaffende Natur (natura naturans),
während die durch sie zum Ausdruck kommenden Modi geschaffene Natur
(natura naturata) sind. Hier zeigt sich ein Begriff der Natur, wie er dem la-
teinischen Verb naturare zugrunde liegt, das den aktiven, hervorbringenden
1 Baruch de Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat, Hamburg: Felix Meiner, 1994 [1677], S. 15.
Natur und Norm. Spinozas immanente Ordnung der Natur 129
Charakter der natura deutlich macht und weit über ihre reine Bestimmung als
essentia hinausgeht.
Die drei Einheitsbegriffe von Natur, Gott und Substanz werden im Sinne
eines methodischen Holismus verwendet, der eine in ihm herrschende Plurali-
tät und Dynamik umfasst. Spinozas Grundbegriffe nehmen eine rein nominale
Funktion ein. Durch ihren nominalistischen Gebrauch sperrt er sie gegen ihre
Verdinglichung und gelangt zu einem antiessentialistischen Naturbegriff und
einer dynamisierenden Desubstanzialisierung des Einheitsdenkens von Na-
tur. Spinozas Natur kann also als eine Instanz verstanden werden, die keinen
fundierenden Charakter hat und nicht in apriorischer Unabhängigkeit gegen
ihre Ausdrucksformen steht, sondern die vielmehr in einer immanenten Kon-
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zeption von Kräften und Relationen aufgeht. Natur ist keine determinierende
Instanz, sondern Natur ist gerade die Potentialität pluraler Verbindungen und
Formen. Von diesen Grundlagen ausgehend, verortet Spinoza auch den Men-
schen in einem naturgesetzlich bestimmten Ganzen, denn die gemeinsame
Natur der Menschen ist ihr Sein als Modi einer unendlichen Substanz in einem
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handeln wie ein Staat im Staat, nicht wie etwas, das außerhalb der Natur liegt,
sondern, wie andere natürliche Dinge auch, nach der inneren Notwendigkeit
und den allgemeinen Gesetzen der Natur.
Unter diesen Voraussetzungen ist Naturalisierung also keine Rückführung
auf eine vorgängige Einheit, sondern vielmehr der Versuch, die mannigfaltigen
Modi des Ausdrucks der Natur je selbst als ihre immanenten Teile zu verste-
hen. Für die Natur gibt es kein Außen, keine transzendenten Instanzen, aus
deren Gesetz sich normative Gehalte ableiten ließen. Und daher gibt es für
Spinoza auch kein Sein und kein Sollen, nichts Gutes und nichts Schlechtes
in der Natur. Die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der Dinge ist kei-
ne normative Frage von gut und schlecht, denn diese Werte entspringen nur
den jeweiligen Affektionen mit denen die Menschen umzugehen haben. Die
Vollkommenheit der Dinge ist vielmehr eine Potentialität, d.h. eine Macht im
Sinne der potentia und damit sind die Qualifizierungen von gut und schlecht
ein mehr oder weniger entfaltetes Potential der Natur und die Macht der Dinge
ist ihre Macht, sich als Natur zu entfalten. Spinoza leitet aus seiner ontologi-
schen Konzeption eine strikt antimoralische Haltung den so unterschiedlichen
Dingen der Natur gegenüber her. Realität und Vollkommenheit sind für ihn ein
und dasselbe, weil die unterschiedlichen Dinge in ihrer jeweiligen Form ihr
zur individuellen Vollkommenheit realisiertes Vermögen sind. Der Eindruck
der Unvollkommenheit eines Individuums kommt nur dadurch zustande, dass
wir es auf ein ursprüngliches Wesen, wie auf eine Norm zurückführen und an
diesem abgleichen. Spinoza beurteilt die Schwächen und Fehler der Menschen
130 Kerstin Andermann
nicht, sondern ist überzeugt: „Es geschieht nichts in der Natur, was ihr selbst
als Fehler angerechnet werden könnte; denn die Natur ist immer dieselbe, […]
d.h. die Gesetze und Regeln der Natur, nach denen alles geschieht und aus
einer Form in eine andere sich verändert, sind überall und immer dieselben.“2
Unter Vollkommenheit versteht Spinoza also die jeweilige Realität eines Din-
ges, d.h. die Weise in der es existiert und wirkend ist. Im Vergleich sehen wir,
dass die Dinge mehr oder weniger Realität haben und wir nennen sie vollkom-
men oder unvollkommen, je nach ihrem Grad an Realität. Es ist also das in
seiner Art vollkommen, was in der Natur ist und an der Positivität der Natur
teilhat und das unvollkommen, was nicht oder graduell weniger an der imma-
nenten Kausalität der Natur teilhat. So wird deutlich, warum das, was in der
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Natur ist, in der jeweiligen Art in der es in der Natur ist, vollkommen ist und die
Gleichwertigkeit der Dinge wird aus der Immanenz der Natur erklärt.
Spinoza bietet uns also eine Konzeption von Normen, die nicht auf Model-
len der Negation, der Verwerfung, der Ausschließung oder der Pathologisie-
rung beruht, sondern diese eher im Sinne immanenter Kräfte versteht. Der
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Gegenstand einer Norm geht dieser nicht voraus und kann sich dementspre-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
chend nicht von ihr befreien, sondern die Wirkung von Normen kann ledig-
lich moduliert werden. Subjekt und Objekt der Norm stehen nicht in einem
vertikalen Konstitutionsverhältnis, sondern unterstehen einer immanenten
Potentialität, die sich im Moment ihrer Wirkung realisiert. Eine Norm wirkt
in diesem Sinne nicht auf vorhandene Elemente ein, sondern realisiert sich
erst in ihrer Wirkung und in ihrem Ausdruck. Es gibt keine Wahrheit und kei-
nen Wert der Normen, der diesseits oder jenseits ihrer Wirkungen zu finden
wäre. Normen immanent zu denken heißt nicht, zwischen normierender und
normierter Kraft, wie zwischen Herr und Knecht, zu unterscheiden, sondern
vielmehr, ihre Konstitution in einer Natur anzunehmen, in der sich Individua-
tion durch die Modulierung von Normen vollzieht. Normen zu verstehen heißt
nach Spinoza, sich in einer Dynamik normierender Kräfte zu bewegen und sie
in ihrer immanenten Kausalität zu erkennen.
Nimmt man den Gedanken einer immanenten Natur ernst, entfaltet sich
der Mensch nicht gegen die Natur und in Absetzung von ihr, sondern in Kon-
tinuität zur Natur. So muss auch die Freiheit im Ausgang dieser Kontinuität
gedacht werden, denn der Mensch steht der Natur nicht gegenüber und sollte
diese nicht als Beschränkung seiner Freiheit verstehen. Frei zu sein kann nicht
länger heißen, sich der Natur entgegen zu setzen, sondern frei zu sein heißt,
die Intelligibilität der Natur als die eigene zu erkennen. Spinoza wusste, dass
die Menschen das Verhältnis von Natur und Freiheit falsch verstehen und
Literatur
In den vergangen 20 Jahren aber besonders seit dem 11. September 2001
sind hunderte von neuen Grenzen weltweit entstanden: Kilometerlange
Stacheldrahtzäune, eine Unmenge neuer Schutzmauern, zahlreiche Offshore-
Gefangenenlager, biometrische Reisepass-Databanken, und Sicherheitskontrol-
len aller Arten.1
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Dies hebt der Philosoph Thomas Nail am Anfang seines kürzlich veröffentlich-
ten Buchs, Theory of the Border, hervor. In einer Zeit, in der ich zum Beispiel
nach Kalifornien oder auch nach Südafrika hin und zurück fliegen kann für
den halben Preis eines iPhone 7, visumfrei könnte man meinen, dass über-
all Grenzen verschwinden. Aber in der Tat, genau das Gegenteil passiert. Im
Jahr 2015 wurden mehr Mauern zwischen Nachbarländern gebaut als zu je-
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momentan errichtet.
Aber dieser Beitrag trägt den Titel Über Grenzen zwischen Mensch und Tier.
Was haben solche Grenzen – sichtbare Grenzanlagen und Kontrollen zwi-
schen Ländern mit Grenzen zwischen Menschen und Tieren – zu tun? Gemäß
Nail ist die Grenze „ein Prozess sozialer Spaltung“. Sie führt „eine Zweiteilung
oder eine Gabelung von irgendeiner Art in die Welt ein“.2 Aber Grenzen, alle
Grenzen – wie Étienne Balibar gesagt hat – „haben eine Geschichte; der Begriff
der Grenze hat eine Geschichte“.3 Und wenn wir lang genug zurück in die Zeit
reisen, sehen wir, dass Grenzen oder genauer gesagt die Fähigkeit, Grenzen zu
setzen und zu erkennen, eine zentrale Eigenschaft ist, die zumindest gemäß
manchen PhilosophInnen und AnthropologInnen den Menschen von ande-
ren Tieren unterscheidet. Zusammen mit der Sprache oder der Vernunft und
unzähligen anderen Eigentümlichkeiten gilt sie als ein spezifisches Merkmal.
Friedrich Hegel behauptet in seinen Vorlesungen über die Philosophie der
Religion aus dem Jahr 1827: „Das Tier, der Stein, weiß nicht von seiner Schran-
ke.“4 Menschen wissen im Gegensatz dazu, dass sie „beschränkte Wesen“ sind.
Aber sobald wir wissen, dass wir beschränkt sind, haben wir bereits die Grenze,
1 Thomas Nail, Theory of the Border, Oxford: Oxford University Press, 2016, S. 1.
2 Ebd., S. 2.
3 Étienne Balibar, Politics and the Other Scene, London/New York: Verso, 2002, S. 77.
4 Georg W. F. Hegel, Vorlesungen über Die Philosophie Der Religion I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
1986, S. 317.
die alle Tiere beschränkt, überschritten. „Ich“, schreibt Hegel, „das Wissen, das
Denken überhaupt, ist beschränkt, aber es weiß von der Schranke, und eben
in diesem Wissen ist die Schranke nur Schranke, nur ein Negatives außer uns,
und bin ich darüber hinaus.“5 Zu sagen, dass der Mensch das einzige Tier ist,
das wissen kann, dass es beschränkt ist, ist nur ein anderer Weg um zu sagen,
dass nur der Mensch denken kann.
Obwohl alle Menschen von Natur aus denken, sind wir vermutlich mit der
Zeit viel besser darin geworden: „Gedacht haben zwar die Menschen von An-
fang an, denn nur durch das Denken unterschieden sie sich von den Tieren;
allein es haben Jahrtausende dazu gehört, bevor es dazu gekommen ist, das
Denken in seiner Reinheit und dasselbe zugleich als das schlechthin Objek-
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tive zu erfassen.“6 Nach Hegel ist die menschliche Geschichte die Geschichte
unserer geistigen Entwicklung oder, genauer gesagt, die gemeinsame Entwick-
lung der Gestalten des menschlichen Bewusstseins und des Geistes – eine
Geschichte die von dem abstrakten leeren Sein (das als „Ich=Ich“ bestimmt
werden kann) bis zur absoluten Idee (die in der Religion und besonders in
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der Philosophie ihren höchsten Ausdruck findet) läuft. Am Anfang dieser Ge-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
5 Ebd.
6 Georg W. F. Hegel, Die Wissenschaft Der Logik, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl M. Michel, Frank-
furt a. M.: Suhrkamp, 1970, §86 Z.
7 Émile Durkheim/Marcel Mauss, „Über einige primitive Formen von Klassifikation“, in:
Schriften Zur Soziologie Der Erkenntnis, hg. v. Hans Joas, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987
[1903], S. 174.
8 Ebd., S. 174f.
Über Grenzen zwischen Mensch und Tier 135
Nur schrittweise sind wir allmählich durch einen Prozess sozialer Entwick-
lung dazu gekommen, klar zu denken, die Fähigkeit zu erwerben, ähnliche
Dinge zusammenzufassen, sie gewissermaßen, gemäß Durkheim und Mauss,
„in einem idealen, von klar definierten Grenzen umschlossenen Raum zu ver-
einen und dann als Gattungen oder Arten zu bezeichnen“.9
Wenn Menschen nie gelernt hätten, sich von anderen Tieren sowie von
Pflanzen und leblosen Objekten zu unterscheiden, wären die Menschen nie
Menschen geworden. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben führt aus,
und ich stimme zu, dass „die Festlegung der Grenze zwischen Humanem und
Animalischen … eine grundlegende metaphysisch-politische Operation [ist],
durch die alleine so etwas wie ein ‚Mensch‘ bestimmt und hergestellt werden
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kann“.10 Ohne diese Grenze zu leben wäre „gefährlich“ für das menschliche
Leben. Friedrich Nietzsche hat das schon im Jahr 1874 erkannt als er ge-
schrieben hat, dass der „Mangel aller cardinalen Verschiedenheiten zwischen
Mensch und Tier … wahr … aber tödlich“ ist“.11 Ohne eine feste Grenze zwi-
schen Mensch und Tier werden der Mensch, so wie wir ihn kennen gelernt
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haben, und darüber hinaus das Tier und das Göttliche undenkbar.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Aber ist nicht genau dies schon passiert? Seit Darwin, aber besonders in den
letzten 30 Jahren hat sich die Grenze zwischen Tieren und Menschen, wie der
Primatenforscher und Ethnologe Frans de Waal bemerkt hat, „in einen Schwei-
zer Gruyère voller Löcher verwandelt“.12 Wir finden immer wieder Fähigkeiten
im Tierreich, von denen wir früher gedacht haben, dass nur der Mensch sie
aufweist. Leute, die von der Tatsache menschlicher Einzigartigkeit überzeugt
sind, sind nach de Waal damit konfrontiert, dass „entweder sie die Komple-
xität menschlichen Verhaltens stark überschätzen oder aber die Fähigkeiten
anderer Spezies unterschätzen“.13 Aber ich will nicht den Versuch machen, zu
zeigen, dass es keine Grenze zwischen uns und anderen Tieren gibt. Trotz der
Tatsache, dass, um wieder einmal auf Nietzsche zurückzugreifen, „die Wissen-
schaft den Menschen lehrt, sich als Tier zu betrachten“,14 gibt es offensichtlich
eine Grenze. Überall gibt es Grenzen in Form von Zäunen, Mauern, Käfigen,
9 Émile Durkheim/Marcel Mauss, „Über einige primitive Formen von Klassifikation“, in:
Schriften Zur Soziologie Der Erkenntnis, a.a.O., S. 176.
10 Giorgio Agamben, Das Offene, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, S. 31.
11 Friedrich Nietzsche, „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, in: Kritische
Gesamtausgabe. Werke und Briefe, begr. v. Giogio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New
York: Walter de Gruyter, 1975 [1870], § 9.
12 Frans de Waal, Are We Smart Enough to Know How Smart Animals Are?, London: Granta,
2016, S. 268.
13 Ebd., S. 268.
14 Friedrich Nietzsche, „Nachgelassene Fragmente, in: Kritische Gesamtausgabe. Werke und
Briefe, a.a.O., 5[36], http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/NF-1870,5.
136 Paul Matthews
Gehäusen und Gehegen, unter anderen. Aber sogar solche Grenzen haben
eine Geschichte. Das heißt, dass sie immer in Bewegung sind und diese Be-
wegung unseren Begriff vom Menschen beeinflusst. Jaques Derrida zufolge,
durchläuft diese Geschichte momentan „eine außerordentliche Phase … für
die wir keinerlei Maßstab besitzen“.15 Wir müssen lernen, danach zu handeln.
Literatur
Balibar, Étienne, Politics and the Other Scene, London/New York: Verso, 2002.
Derrida, Jacques, Das Tier, Das ich also Bin, Wien: Passagen, 2006.
Durkheim, Émile/Mauss, Marcel, „Über einige primitive Formen von Klassifikation“,
in: Schriften Zur Soziologie Der Erkenntnis, hg. v. Hans Joas, Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp, 1987 [1903].
Hegel, Georg W. F., Die Wissenschaft Der Logik, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl M. Michel,
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Hegel, Georg W. F., Vorlesungen über Die Philosophie Der Religion I, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 1986.
Neil, Thomas, Theory of the Border, Oxford: Oxford University Press, 2016.
Nietzsche, Friedrich Kritische Gesamtausgabe. Werke und Briefe, begr. v. Giogio Colli/
Mazzino Montinari, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1975 [1870].
Waal, Frans de, Are We Smart Enough to Know How Smart Animals Are?, London:
Granta, 2016.
15 Jacques Derrida, Das Tier, Das ich also bin, Wien: Passagen, 2006, S. 57.
Kristin Drechsler
Was geht uns der Tod an? Eigentlich eine unsinnige Frage, denn, wenn es et-
was gibt, dessen wir uns sicher sein können, ist es doch wohl, dass wir sterben
werden und der Tod uns so gesehen immer irgendwie etwas angeht und wir
uns ihm ganz gleich, ob wir unsere Aufmerksamkeit auf ihn richten oder nicht,
nicht entziehen können.
Ja, schon in der banalsten alltäglichen Tätigkeit, wie z.B. wenn ich eine
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Schüssel vom oberen Küchenschrankfach holen möchte, wofür ich z.B. auf
einen Tritthocker steigen muss, bin ich dem Tod sehr nah. Man denke an
Statistiken, wonach sich mehr tödliche Unfälle im Haushalt ereignen als im
Straßenverkehr.
Aber ist das wirklich so? Bin ich dem Tod in diesen Momenten wirklich
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Zeichnet sich der Tod nicht gerade dadurch aus, dass ich ihm eben nicht
nah sein kann, da es in seiner Nähe dieses ‚ich‘ ja gerade nicht mehr gibt?
Zwar ist unser Sein immer schon ein „Sein-zum-Tode“, wie es Martin Hei-
degger in Sein und Zeit ausführt und unsere Lebenswelt demnach immer auch
eine Sterbenswelt. Und doch geht der Tod uns hier nur indirekt an, da er zwar
der Horizont des Lebens ist, aber selbst stets uneinholbarer Negativraum
bleibt. Er ist nicht bestimmbar, nicht erlebbar oder erfahrbar.
Diese Nicht-Bestimmbarkeit des Todes kann zu einer Haltung verleiten, die
für die Moderne häufig als symptomatisch angesehen wird und die der franzö-
sische Historiker Philippe Ariès in seiner wegweisenden Studie zur Geschichte
des Todes als „kollektive Verschwörung des Schweigens“ bezeichnet.
Von einem Schweigen bezüglich des Todes zu sprechen erscheint wiederum
vor dem Hintergrund gegenwärtiger Diskussionen z.B. um ein selbstbestimm-
tes Sterben oder bezüglich der Frage nach der aktiven/passiven Sterbehilfe
merkwürdig.
Diese Debatten berühren jedoch die Problematik, die Ariès der modernen
Gesellschaft diagnostiziert, nicht. So scheint es zwar so, als wäre der Tod ge-
wissermaßen in der Mitte der Gesellschaft angekommen, zugleich ist für die
moderne Lebenswelt eine „Ausbürgerung der Toten“ in Krankenhäuser oder
Pflegeheime symptomatisch, wo der, so Ariès, „mit Röhrchen und Schläuchen
gespickte“ Sterbende als Patient um seinen Tod betrogen werde.
Das, worum der Sterbende betrogen wird, bezeichnet er unter anderem als
eine ‚würdige Vorbereitung auf das Sterben‘. Auch Walter Benjamin spricht
dass mit dem Tod schlichtweg ein Endpunkt gesetzt ist und er uns deshalb
nicht weiter zu kümmern braucht.
Ein frühes Zeugnis der ersten Vorstellung, wonach der Tod eine Schwelle in
eine andere Welt ist, findet sich in Platons Phaidon. Hier wird das letzte Auf-
einandertreffen von Sokrates und seinen Anhängern geschildert.
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Mit dem Tod, so die These, löst sich die Seele vom Körper. Das Sterben ist
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
deshalb (für den Philosophen) kein trauriges, sondern im Gegenteil ein fröh-
liches Ereignis. Schließlich gehe die Seele im Tod zu dem ihr Ähnlichen, dem
Unsichtbaren, Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen – also dem Reich der
Ideen – über. Da das Ziel des Philosophierens ist, sich zu Lebzeiten so nahe
wie möglich in Richtung der von den Sinnen ungetrübten Wahrheit zu bewe-
gen, ist die Philosophie so gesehen immer schon eine Vorbereitung auf den
Tod, weshalb der Tod, so Platon, den Philosophen „unter allen Menschen am
wenigsten furchtbar“ ist.
Dem gegenüber steht die Auffassung Epikurs, bei dem es heißt:
Gewöhne dich ferner daran zu glauben, der Tod sei nichts, was uns betrifft. Denn
alles Gute und Schlimme ist nur in der Empfindung gegeben; der Tod aber ist die
Vernichtung der Empfindung. […] Das Schauererregendste aller Übel, der Tod,
betrifft uns überhaupt nicht; wenn ‚wir‘ sind, ist der Tod nicht da; wenn der Tod
da ist, sind ‚wir‘ nicht.
Epikurs Auffassung vom Tod liegt ein atomistisches Seele- und Körperver-
ständnis zugrunde, das auf Demokrit zurückreicht und besagt, dass sowohl
Körper als auch Seele im Tod nicht mehr sind und sich auflösen.
In seinem Essay Philosophieren heißt sterben lernen führt Montaigne diese
beiden voneinander abweichenden Positionen zusammen und verbindet die
epikuräische Endlichkeit mit der platonischen Sinnhaftigkeit.
Der Tod wird bei ihm zur entscheidenden Wirklichkeit des Lebens, da erst
das Bewusstsein über unsere Sterblichkeit uns das Gefühl des Lebendigseins
Was geht uns der Tod an ? 139
über ihn noch gar über meinen noch unfertigen Garten gräme.“
Montaignes „Garten“ kann hier stellvertretend für die Bemühungen des
täglichen Lebens gelten, der Tod soll nicht daran erinnern, was vielleicht un-
erledigt ist, sondern einen wirklichen Endpunkt setzen, zugleich legt sein
Ausspruch nahe, dass hier der Schrecken und das Leiden an der Sterblichkeit
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überwunden sind: der Tod ist Teil alltäglicher Beschäftigungen, kein Unglücks-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Mitsein mit anderen ausschließt. Doch damit kann ich mich nicht abfinden.
Da es meinem eigenen Erleben entgegensteht. Denn stoße ich nicht in der
Einsicht in die Möglichkeit meines Todes immer auch an die Möglichkeit des
Todes meiner Mitmenschen?
Emmanuel Levinas zufolge bestimmt sich das „Verhältnis zwischen mir und
dem Anderen darin, von seinem Dem-Tode-Ausgesetzt-Sein berührt zu sein“.
Demnach nimmt mich der Tod des Anderen in Anspruch und trifft mich, „in
meiner Identität selbst als verantwortliches Ich. […] Mein Betroffensein durch
den Tod des anderen macht gerade meine Beziehung zu seinem Tod aus“.
Während eingangs die Rede davon war, dass der Tod als das uneinholbare
Negativ dem menschlichen Vorstellen unzugänglich bleibt und er uns deshalb
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im Grunde nicht angeht, ist dies im Grunde eine Auffassung, die auf einer
Sichtweise gründet, die den Anderen ausschließt. Sterben ist jedoch immer
auch In-Beziehung-Sein, womit die Frage, was der Tod uns angeht die Frage
danach ist, was und wie der Andere uns angeht.
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10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
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Disziplinen auf Konzepte einlassen, die Diskurse über ihre Grenzen hinweg
ermöglichen.
Dabei fragt sich, wodurch sich eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf
Gesellschaft auszeichnet. Mein Vorschlag ist, dass das grundsätzlichste Merk-
mal des Kulturellen in der Erzeugung und Bewältigung von Mehrdeutigkeit
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Kultur geht, immer auch andere Bedeutungen möglich sind, dass das Signifikat
nicht mit Sicherheit festzustellen ist und die daraus resultierende nicht enden-
de Potentialität, Lesarten zu generieren, könnten einen kleinsten gemeinsa-
men Nenner einer kulturwissenschaftlichen Perspektive bilden. Es könnte also
immer auch anders sein.
Diese Perspektive gilt es nicht nur theoretisch durchzuhalten, sondern auch
zu fragen, wie eine Methodologie beschaffen sein sollte, mithilfe derer wir im
Rahmen einer solchen kulturwissenschaftlichen Perspektive forschen können.
Um einer immer noch komplexer werdenden Wirklichkeit deskriptiv und
heuristisch gerecht zu werden, benötigen wir Verfahrensweisen, die einerseits
methodisch kontrolliert operieren und handwerklich lehr- und lernbar sind,
andererseits jedoch genau diejenigen interpretatorischen Freiräume eröffnen,
die notwendig sind, um ganze Bedeutungsspektren in den Blick zu nehmen.
Diese Dualität von Regelhaftigkeit und Freiheit ist ein Charakteristikum des
Spiels. Meine These ist daher: Wir brauchen spielende Methoden.
Mit einer solchen These macht man sich im wissenschaftlichen Kontext
sehr angreifbar. Das Spiel steht häufig per definitionem im Verdacht, „nicht
ernst“ und zweckfrei zu sein. Das gilt nicht für das Spiel der Kinder, dem
eine ganze Reihe identitätsbildender und erkenntnisstiftender Funktionen
Mein Argument ist jedoch ein grundsätzlicheres, das sich auf eine sehr
basale Eigenschaft des Spieles gründet: Im Spiel wird eine erstaunliche Be-
wusstseinsleistung erbracht, die meist wenig thematisiert wird. Wir schaffen
es dabei, den Rahmen „hier wird ‚nur‘ gespielt“ bewusst zu halten und ihn
gleichzeitig einzuklammern, um im Spiel aufzugehen, uns an ihm zu erfreuen
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und ein guter Spieler, eine gute Spielerin zu sein.3 Wir wissen also: Das ist ein
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Spiel, und vergessen diese Prämisse, um in das Spiel eintauchen und es genie-
ßen zu können. Das Spiel schafft es also, mehrere Wirklichkeiten oder Lebens-
welten ganz unspektakulär miteinander zu vermitteln.
Für die zeitdiagnostische Beschreibung einer Gesellschaft, innerhalb derer
wir selbst behände im Laufe eines Tages zwischen unterschiedlichen Wirk-
lichkeiten, wie Arbeit, Spiel, Religion, Fiktion, wechseln, können wir vom Spiel
lernen, dass es nicht darum geht, Wirklichkeiten getrennt voneinander zu be-
trachten, sondern gerade ihre faszinierende und komplexe, gleichzeitige Ko-
existenz heuristisch auszuhalten und abzubilden.
Fassen wir Kultur als Etwas, das nur zugänglich ist durch die Auseinander-
setzung mit immer auch anderen möglichen Sinn-Wirklichkeiten, so zeigt
sich, dass wir genau diese im Spiel verwirklichte Fähigkeit brauchen, um der
heutigen Wirklichkeit wissenschaftlich gerecht zu werden. Eine spielende
Interpretationsweise wird von unauflösbarer Mehrdeutigkeit nicht behindert,
sondern steuert im Gegenteil auf sie zu, findet sie auf und ist in der Lage, sich
mit ihr auseinanderzusetzen. In Anlehnung an Goffman4 kann man daher
2 Natascha Adamowsky, „Spiel und Wissenschaftskultur. Eine Anleitung“, in: Die Vernunft ist
mir noch nicht begegnet. Zum konstitutiven Verhältnis von Spiel und Erkenntnis, hg. v. Ders.,
Bielefeld: transcript, 2005, S. 11–30, hier S. 11.
3 Vgl. Baatz, Ursula, Vom Ernst des Spiels. Über Spiele und Spieltheorie, Berlin: Reimer, 1993.
4 Vgl. Erving Goffman, Interaktion. Spaß am Spiel, Rollendistanz, München: Piper, 1973, S. 38.
Es könnte auch anders sein 145
postulieren: Sie trennt uns vom ernsten Leben ab, indem sie uns eine Demons-
tration seiner Möglichkeiten und damit auch seiner Kultur, bietet.
Eine solche Methode müssen wir uns nun nicht erst ausdenken. Vielmehr
können bestehende Methoden darauf abgeklopft werden, wo sie spielende
Elemente enthalten, um diese stärker sicht- und nutzbar zu machen. Das
möchte ich Ihnen am Beispiel einer Methode illustrieren, die dafür besonders
geeignet ist: der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik. Entwickelt wurde
diese Verfahrensweise Ende der 1990er Jahre von Hans-Georg Soeffner und
seinem Team zur Interpretation von ursprünglich hauptsächlich textförmi-
gen Interaktionsprotokollen und Datenmaterialien.5 Mittlerweile wurden ihre
Grundsätze auch auf die Interpretation von Bild- und Videodaten übertragen.6
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Perspektive, aus der uns andere deuten, gründender Vorgang verstanden. Wir
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
lernen demnach, uns selbst zu verstehen, indem wir lernen, wie uns andere
verstehen.8
Um unseren Alltag zu bewältigen, sind wir ständig darauf angewiesen zu
verstehen. Dies geschieht zumeist schnell, routiniert und praxisorientiert, da
im Fluss des Handelns und Kommunizierens nur wenig Zeit bleibt.9 Es lassen
sich jedoch bereits im Alltag Übergänge zum wissenschaftlichen Verstehen
5 Vgl. Hans-Georg Soeffner, Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziol-
ogischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Stuttgart: UTB, 2004 [1989].
6 Vgl. Michael R. Müller, „Figurative Hermeneutik. Zur methodologischen Konzeption einer
Wissenssoziologie des Bildes“, in: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialfor
schung, Jg. 13, Heft 1, 2012, S. 129–161 sowie Jürgen Raab/Dirk Tänzler, „Video Hermeneutics“,
in: Video Analysis. Methodology and Methods. Qualitative Audiovisual Data Analysis in Sociol-
ogy, hg. v. Hubert Knoblauch/Berndt Schnettler/Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner, Frankfurt
a. M.: Internationaler Verlag der Wissenschaften, 2009.
7 Vgl. Herbert Blumer, „Der methologische Standort des Symbolischen Interaktionismus“, in:
Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. I., hg. v. Arbeitsgruppe Biele-
felder Soziologen, Reinbek: Rowohlt, 1969, S. 80–101.
8 Vgl. George H. Mead, Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist, hg. v.
Charles W. Morris, Chicago: University of Chicago Press, 1967.
9 Vgl. Ronald Kurt/Regine Herbrik, „Sozialwissenschaftliche Hermeneutik“, in: Handbuch
Methoden der empirischen Sozialforschung, hg. v. Nina Baur/Jörg Blasius, Wiesbaden: Springer
VS, S. 473–489, bes. S. 478.
146 Regine Herbrik
vor dem Hintergrund der Prämisse „Es könnte auch immer anders sein“: Wie
könnte es sonst noch sein und was lernen wir über das gerade So-Sein durch
den Vergleich mit anderen vorstellbaren Möglichkeiten? Daraus ergibt sich ein
Oszillieren zwischen dem Wirklichkeits- und dem Möglichkeitssinn, das meh-
rere Wirklichkeiten gleichzeitig auszuhalten im Stande ist, ähnlich wie wir das
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10 Vgl. Wolfgang Paetzold, Teflonherz und Liebesgier. Beziehungen in Zeiten der Ichsucht,
München: Diederichs, 2012.
11 Vgl. Ronald Kurt, Hermeneutik. Eine sozialwissenschaftliche Einführung, Stuttgart: UTB,
2004, S. 141ff.
12 Vgl. Jo Reichertz, Gemeinsam interpretieren. Die Gruppeninterpretation als kommunikati-
ver Prozess, Wiesbaden: Springer VS, 2013.
Es könnte auch anders sein 147
Alltags, aber auch zum Pragma der Wissenschaft, die das interesselose Verste-
hen fördert, während ihre Aufforderung zum Möglichkeitsdenken Mehr- statt
Eindeutigkeit herstellt.
Für eine gelungene Interpretation aktueller kultureller Objektivationen
werden also keine genialen Einzelgenies benötigt. Genauso wenig nützlich ist
ein kochrezeptartiges, methodisches Regelwerk, das uns daran hindert, Neues
zu sehen. Ich empfehle hingegen eine ausgewogene Spielrunde, deren Teilneh-
mer und Teilnehmerinnen sich in einen Wettstreit der, auch gern absurden,
Lesarten begeben, sich nie mit der ersten Interpretation zufriedengeben, sich
gegenseitig zuverlässig irritieren und hinterfragen. So kann im kommunikativ-
spielenden Hin und Her nicht die eine richtige Deutung gefunden, sondern
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Literatur
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Raab, Jürgen/Tänzler, Dirk, „Video Hermeneutics“, in: Video Analysis. Methodology and
Methods. Qualitative Audiovisual Data Analysis in Sociology, hg. v. Hubert Knob-
lauch/Berndt Schnettler/Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner, Frankfurt a. M.: Inter-
nationaler Verlag der Wissenschaften, 2009.
Reichertz, Jo, Gemeinsam interpretieren. Die Gruppeninterpretation als kommunikativer
Prozess, Wiesbaden: Springer VS, 2013.
Schleiermacher, Friedrich, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphiloso-
phischer Texte Schleiermachers, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
1995 [1838].
Soeffner, Hans-Georg, Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissensso-
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dedruck mit mechanischen Greiforganen aus Metall und Silikon gehört für sie
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1 Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt a. M.: Fischer Wissenschaft,
1994, S. 18.
2 Vgl. Die Bundesregierung, „CEBIT 2014. Vernetzt, aber sicher“, 10.03.2014,online unter:
https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2014/03/2014-03-10-cebit-rundgang
.html (zuletzt: 24.02.2017).
3 Ulrich Eberl, Smarte Maschinen. Wie künstliche Intelligenz unser Leben verändert, München:
Hanser, 2016.
inspirierter Lösungen. Damit adressiert der Begriff drittens den Umstand, dass
Ingenieure den Kontext der Beobachtung ihrer eigenen Apparate antizipieren
müssen: Nichtwissen ist konstitutiv für den Eindruck von Lebhaftigkeit. Nicht
zuletzt verweist der Begriff „Artefakt“ auf die Tatsache, dass es sich auch bei
smarten Maschinen um Konstruktionen handelt und damit um das Ergebnis
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4 Vgl. Jan Müggenburg, Lebhafte Artefakte. Eine Mediengeschichte des Biological Computer
Laboratory, Dissertation, Universität Wien, 2016.
5 Vgl. Anonymus, „See Illinois ‚Eye’ Which Computes“, Daily Illini, 05.05.1960, University of
Illinois Archives 11/6/17, Box 1, Mappe „Quarterly Progress Reports, April 1958–November
1960“.
Lebhafte Artefakte 151
auf ihrem zweistelligen Anzeigemodul. Die Maschine war das Ergebnis eines
Forschungsprojektes am Biological Computer Laboratory (BCL) der nahen
„University of Illinois“ in Urbana-Champaign.6 Wie der Direktor des Labors,
Heinz von Foerster, den interessierten Messebesuchern erklärte, sollte sie die
Funktionsweise der Netzhaut lebendiger Organismen nachahmen: Im Inne-
ren dieses „biological computer“ befinde sich ein elektronisches Netzwerk, das
analog zu den Nervenzellen einer Wirbeltierretina die Anzahl einer Gruppe
von Objekten mit einem Blick erfassen könne.7 Damit, so Foerster, verkörpere
die NumaRete das Prinzip der Mustererkennung, welches eine Forschergruppe
am MIT erst kürzlich experimentell an Froschaugen beobachtet und unter-
sucht habe.8 Solche biologischen Prinzipien als Vorbild für die Konstruktion
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intelligente Maschinen bereits im Jahr 1960 Realität seien. Tatsächlich war die
NumaRete jedoch weit davon entfernt, ein neuronales Netz nachzuahmen
oder gar zu sein. Auch wenn jeder Rechenschritt für sich eine parallele Opera-
tion war, so arbeitete sie tatsächlich seriell, d.h. die Fotozellen wurden Reihe
für Reihe und nacheinander eingeschaltet. Deshalb handelte es sich bei der
Maschine im Gegensatz zur organischen Netzhaut auch nicht um ein dyna-
misches System: Das Gerät musste immer wieder neu gestartet werden, wenn
man die Anzahl und Position der Objekte veränderte. Wenn überhaupt, so
bilanzierte Paul Weston, der eigentliche Konstrukteur der NumaRete und
Doktorand an Foersters Labor, später, habe seine Maschine durch die Anord-
nung identischer Rechenzellen den Anschein eines Nervennetzes suggeriert:
„[P]eople looked at it and said it has to be a neural net – but it wasn’t!“9 In
6 Vgl. Albert Müller, „Eine kurze Geschichte des BCL. Heinz von Foerster und das Biological
Computer Laboratory“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, Bd. 11,
Heft 1, 2000, S. 9–30.
7 Vgl. Anonymus, „A Retina That Counts“, Pressetext zur NumaRete anlässlich ihrer Ausstel-
lung in Springfield, 05.05.1960, University of Illinois Archives 11/6/17, Box 1, Mappe „Quarterly
Progress Reports, April 1958–November 1960“.
8 Vgl. Jerome Y. Lettvin/Humberto R. Maturana/Warren S. McCulloch/Walter Pitts, „Was das
Froschauge dem Froschgehirn erzählt“, in: Verkörperungen des Geistes, hg. v. Warren McCull-
och, New York: Springer, 2000, S.195–217.
9 Jan Müggenburg/James A. Hutchinson, „Kybernetik in Urbana. Ein Gespräch mit Paul
Weston“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Bd.19, Heft 4, 2008,
S. 126–139, hier S. 129.
152 Jan Müggenburg
Wirklichkeit sei seine Maschine vielmehr ein Beispiel dafür, „that technology
can duplicate aspects of biological performance but almost never by using
exactly corresponding mechanisms“.10 Um Mustererkennung zu duplizieren,
habe er deshalb eine Art „Rube Goldberg machine“ geschaffen.11 Eine Maschine
also, die durch eine komplizierte Konstruktion den gewünschten Effekt
erzielt und auf den naiven Betrachter intelligent wirkt.
Das Beispiel der NumaRete zeigt, dass eine medienwissenschaftliche Aus-
einandersetzung mit smarten Maschinen, die nur die nichtdiskursiven Ele-
mente ihrer medientechnologischen Verfasstheit in den Blick nimmt, zu kurz
greift. Vielmehr gilt es, sie als lebhafte Artefakte zu begreifen und den diskursiv
geformten Kontext ihrer öffentlichen Wahrnehmung zu berücksichtigen: Wel-
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ches Wissen ließ Foersters künstliche Retina um 1960 als intelligent erschei-
nen? Welche forschungspolitischen Kontexte innerhalb des amerikanischen
militärisch-industriell-akademischen Komplexes machten Mustererkennung
zu einem plausiblen Ziel ingenieurswissenschaftlicher Praxis? Und wie gelang
es Weston, eine Maschine zu konstruieren, die zwar kein neuronales Netzwerk
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war, aber als ein solches wahrgenommen werden konnte? Welche epistemi-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
10 Paul Weston, „A Walk Through The Forest“, in: An Unfinished Revolution? Heinz von Foer-
ster and the Biological Computer Laboratory BCL 1958–1976, hg. v. Albert Müller/Karl
Müller, Wien: edition echoraum, S. 89–115, hier S. 96.
11 Vgl. Jan Müggenburg/James A. Hutchinson, „Kybernetik in Urbana. Ein Gespräch mit Paul
Weston“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, a.a.O., S. 129.
12 Vgl. Andrew Pickering, Kybernetik und Neue Ontologien, Berlin: Merve, 2007.
13 Vgl. Donna Haraway, „Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the
Privilege of Partial Perspective“, in: Feminist Studies, Bd. 14, Heft 3, 1988, S. 575–599.
Lebhafte Artefakte 153
jetzt „erkannte“ der Roboter die Situation als eine Begrüßung, konnte dem
deutschen Gast nun aber nur noch hinterherwinken.14
Literatur
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10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Eberl, Ulrich, Smarte Maschinen. Wie künstliche Intelligenz unser Leben verändert,
München: Hanser, 2016.
Flusser, Vilém, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt a. M.: Fischer Wissen-
schaft, 1994.
Haraway, Donna, „Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and
the Privilege of Partial Perspective“, in: Feminist Studies, Bd. 14, Heft 3, 1988,
S. 575–599.
Lettvin, Jerome Y./Maturana, Humberto R./McCulloch, Warren S./Pitts, Walter, „Was
das Froschauge dem Froschgehirn erzählt“, in: Verkörperungen des Geistes, hg. v.
Warren McCulloch, New York: Springer, 2000, S. 195–217.
Müggenburg, Jan, Lebhafte Artefakte. Eine Mediengeschichte des Biological Computer
Laboratory, Dissertation, Universität, 2016.
Müggenburg, Jan/Hutchinson, James A., „Kybernetik in Urbana. Ein Gespräch mit Paul
Weston“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Bd.19, Heft 4,
2008, S. 126–139.
Müller, Albert, „Eine kurze Geschichte des BCL. Heinz von Foerster und das Biological
Computer Laboratory“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaf-
ten, Bd. 11, Heft 1, 2000, S. 9–30.
14 Vgl. „Bundeskanzlerin in Japan. Roboter verweigert Merkel die Hand“, ntv, 09.03.2015,
online unter: http://www.n-tv.de/mediathek/videos/politik/Roboter-verweigert
-Merkel-die-Hand-article14660721.html (zuletzt: 28.02.2017).
154 Jan Müggenburg
Meine Jugend dauerte bis zum Alter von 30 Jahren. Jedenfalls wenn man diese
Lebensphase ableiten mag vom allabendlichen Ritual, sich von Jugend-
Hörspielen in den Schlaf murmeln zu lassen. Oder, genauer gesagt, von einer
ganz bestimmten Hörspielreihe: Von Die drei ???, kurz auch „DDF“. Seit einem
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und damaliger Stargast des Abends, dass das Durchschnittsalter der Hörerin-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
nen und Hörer dieser Serie mit 24 Jahren im besten Studierendenalter lag. Mei-
ne Jugend sollte also nach jenem Abend noch weitere sechs Jahre andauern,
bevor das Ritual dann – ohne eigentlichen Anstoß und Grund – aus meinem
Leben verschwand.
Ich gebe auch ohne Umschweife zu, dass mich selbst nach Beginn meines
Medienwissenschaftsstudiums wie schon in der Kindheit jene Abenteuer, in
denen es um Gespensterschlösser und dergleichen ging, sehr viel mehr inte-
ressierten als die Folgen, in denen Büsten berühmter Schriftsteller oder gar
Philosophen eine Rolle spielten.1 Und dass mich die Hörspielserie sehr viel
intensiver fesselte als die ebenfalls populäre Buchreihe. Doch genau darin
gründet sich die These, der ich hier in gebotener Kürze nachgehen möchte:
Dass es nämlich gerade die Umsetzung der Fälle von DDF in Hörspielen ist,
die in einer in dieser Form bei keiner anderen Jugendserie zu findenden Ver-
handlung medientheoretischer und philosophischer Fragen mündet. Und
zwar nicht zuvorderst als schlaumeierische Verweise auf große Figuren – wie
in dem Büsten-Beispiel –, oder auf enzyklopädisches Lehrbuchwissen. Beider-
lei gehört zwar zum Inventar, vor allem in Form der wiederkehrenden lexika-
lischen Rezitationen durch Justus Jonas im ersten Viertel fast jeder Folge, die
meist quittiert werden von genervten Reaktionen seiner Partner, dem zweiten
Detektiv Peter Shaw (gesprochen von Jens Wawrczeck), und dem Experten
1 In der Hörspiel-Folge 5, Der Fluch des Rubins, spielen dreizehn gestohlene Büsten eine ent
scheidende Rolle für die Lösung des Falls, u. a. von Cicero, Homer und Shakespeare.
für Recherche und Archiv, Bob Andrews (gesprochen von Andreas Fröhlich).
Das Wesensmerkmal des spezifischen Denkstils dieser Hörspielreihe ist je-
doch treffender dadurch charakterisiert, wenn man Die drei ???-Hörspiele als
ein Medium begreift, das im Sinne des Medienwissenschaftlers Lorenz Engell
selbst Medienphilosophie betreibt.
Medienphilosophie, so schreibt Engell, sei „ein Geschehen, möglicherweise
eine Praxis, und zwar eine der Medien. Sie wartet nicht auf den Philosophen,
um geschrieben zu werden. Sie findet immer schon statt, und zwar in den
Medien und durch die Medien“.2 Engell geht es in seinem Aufsatz „Tasten,
Wählen, Denken“ darum, zu zeigen wie Medien durch ihr jeweiliges Prozessie-
ren und Funktionieren neuartige Denkvermögen freisetzen und unter je spezi-
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fische Bedingungen stellen; ja wie sie dadurch, dass sie bestimmte Verhältnisse
zwischen Menschen, Apparaten und der Welt einziehen, die Wahrnehmungs-
weisen dieser Welt transformieren. Eigentlich also eine ganz brave Adaptation
McLuhans, allerdings mit der über dessen Medienanthropologie hinausgehen-
den Pointe, dass Medien auch als technische Apparaturen insofern „philoso-
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2 Lorenz Engell, „Tasten, Wählen, Denken. Genese und Funktion einer philosophischen
Apparatur“, in: Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, hg. v. Stefan Münkler/
Alexander Roesler/Mike Sandbothe, Frankfurt a. M.: Fischer, 2003, S. 53–77.
3 Ebd., S. 55f.
Die drei ??? als Medienphilosophen 157
das Medium, das sie selbst ist“, so Engell. Hier entfalte sich das Fernsehen als
„philosophische Apparatur“.4
Entlang dieser Linie lassen sich auch in Bezug auf DDF zentrale philoso-
phische Stichworte vor Ohren – respektive an dieser Stelle leider nur in tran-
skribierter Form vor Augen – führen, die kursorisch zweierlei auf den Punkt
bringen: Erstens, wie in den Abenteuern der drei Detektive nachgedacht und
wie über das Nachdenken nachgedacht wird, und zweitens, wie das Medium
Hörspiel dabei selbst strukturell Denkvermögen freisetzt und seine Grenzen
und Potenziale thematisiert. Letzteres geschieht dabei ganz diesseits von
Anekdoten wie jener, dass der Europa-Hörspielverlag vor einiger Zeit einen
letzten Kauf von Tonbandmaterial tätigte, um weiterhin Liebhabereditionen
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4 Ebd., S. 61.
5 D ie drei ???, „Original-Musik“, hg v. Heikedine Körting, München: EUROPA, Timecode:
00:00:00–00.00.20. Auf diesem Tonträger findet sich passenderweise auch der Song „Ohne
Die drei ??? schlaf ich nicht ein“.
158 Sebastian Vehlken
Zu dieser Freizeit kommen Freiräume. So operieren Justus, Peter und Bob etwa
von ihrer geheimen, versteckten und mit allerlei Kommunikations- und Tech-
nik-Schnickschnack ausgerüsteten Wohnwagen-Zentrale auf dem Schrottplatz
der Firma Gebrauchtwarenhandel Titus Jonas aus, deren mediale Ausstattung
stetige Updates erfährt. Oder sie erleben ihre Abenteuer auf Urlaubsfahrten,
Vergnügungsparkbesuchen oder an anderen heterotopischen Orten, die dann
auch die Titel der Folgen markieren – von der Geisterinsel zu geheimnisvollen
Schlössern, Phantomseen, Silberminen und so weiter. Nur ab und an können
profane Arbeiten diese Freizeiten und Freiräume stören und unterbrechen,
meist in Person von Justus’ Tante Mathilda:
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Erzähler: ‚Justus, Bob und Peter waren in ihrer Zentrale auf dem Schrottplatz, bis
die Tür aufflog und Tante Mathilda hereinkam.‘
Tante Mathilda: ‚Hier sitzt ihr also! Das hätte ich mir denken können! Justus
Jonas, hast du nichts anderes zu tun?‘
Justus: ‚Ähhh …‘ (stammelt) ‚Ähh, äh im … im Moment, wir…. wir wir wir reden
im Moment über einen sehr wichtigen Fall, Tante Mathilda, und da …‘ (Tante
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Stelle!‘ “6
Es gibt also auch die Pflichten profaner Jobs. Im Übrigen gilt jedoch: Alles
Denken und Handeln konzentriert sich auf den Fall.
Ein zweites Stichwort sind Paradoxien. Immer wieder werden Brainteaser
eingestreut, oft von Justus in einer Art rhetorischen Fragens in Bezug auf ele-
mentare Gegenstände des jeweiligen Abenteuers vorgebracht und dabei gege-
benenfalls selbst kritisch reflektiert, oft jedoch auch durch andere Charaktere
der jeweiligen Fälle eingebracht – so wie in diesem Beispiel aus der Folge Die
drei ??? und die bedrohte Ranch:
Wie jeder interessante Pop-Text funktioniert mithin auch diese Serie auf
verschiedenen Rezeptionsebenen. Neben kindgerechter Action und Wissens-
vermittlung treten teils paradoxe Sprachspiele, die eher die Synapsen älterer
Hörerinnen und Hörer anregen.
Ein drittes Stichwort ist Signifikation: Keine Folge ohne die berühmte Visi-
tenkarte. Erst das Medium der Schrift macht aus drei Jungen ernstzunehmende
6 Die drei ???, „Die drei ??? und der Dopingmixer“, a.a.O., Timecode: 00:00:44–00:01:14.
7 Die drei ???, „Die drei ??? und die bedrohte Ranch“, a.a.O., Timecode: 00:06:20–00:06:23.
Die drei ??? als Medienphilosophen 159
Detektive. Ihre Autorität für eine Erwachsenenwelt stellt sich her über ein
Medium der Professionalität:
Ohne dieses Medium wären Die drei ??? nur ganz normale Jungendliche. Hier
ein Ausschnitt aus einem heimlich mitgeschnittenen Gespräch zweier Er-
wachsener über die drei Freunde:
Mann: ‚Wenn die drei Bengel Detektive sind, fress’ ich nen Besen!‘
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Frau: ‚Freddy täuscht sich aber doch normalerweise nicht. Er sagt, die drei seien
ganz schlaue Burschen. Hat sich über sie erkundigt. Sie nennen sich Die drei
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
8 Die drei ???, „Die drei ??? und das Riff der Haie“, a.a.O., Timecode: 00:02:25–00:02:33.
9 Die drei ???, „Die drei ??? und die Silbene Spinne“, a.a.O., Timecode: 00:15:55–00:16:24.
160 Sebastian Vehlken
z.B. 2015 eine Masterarbeit im Fach Library and Information Studies der HU
Berlin mit dem Thema Bobs Recherchen. Informationsmanagement und media-
ler Wandel bei ‚Die Drei ???‘.
Daran anknüpfen lässt sich Stichwort Nummer fünf: das Indizienpara-
digma. Die Arbeitsweise von DDF lässt sich im Sinne des italienischen Ge-
schichtstheoretikers Carlo Ginzburg als ein ebensolches fassen.10 Natürlich
ist das Vorbild für den hochintelligenten Justus Jonas niemand anderes als
Arthur Conan Doyles hochintelligenter Sherlock Holmes. Doch mit Ginzburg
ließe sich argumentieren, dass hier wie dort nicht reiner Rationalismus und
deduktive Schlüsse am Werke sind, sondern ein regelrecht intuitives Vorge-
hen, dass sich auf eine Kombinatorik von Nebensächlichkeiten stützt und das
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Charles S. Peirce als Abduktion klassifiziert hat: Als ein Vorgang, in dem eine
erklärende Hypothese allererst gebildet werde.11 Indizien sind hier nicht – wie
bei Serien wie CSI – Bruchstücke, die mittels naturwissenschaftlicher Me-
thoden nur mehr zusammengepuzzelt werden müssen und die Lösung des
Falles bereits in sich tragen. Ein Indizienparadigma im Sinne Ginzburgs als
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10 Vgl. Carlo Ginzburg, „Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes
nimmt die Lupe, Sigmund Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich
selbst“, in: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis,
hg. v. Ders., Berlin: DTV, 1983, S. 7–57.
11 Vgl. Thomas A. Seboek/Jean Umiker-Seboek, „,Sie kennen ja meine Methode.‘ Ein Ver-
gleich von Charles S. Peirce und Sherlock Holmes“, in: Der Kriminalroman. Poetik, Theorie,
Geschichte, hg. v. Jochen Vogt, München: Fink, 1998, S. 297–321.
12 Vgl. Daniel Eschkötter, The Wire, Zürich: Diaphanes, 2012, S. 56–59.
13 Vgl. Jacques Lacan, „Le seminaire sur ‚La Lettre volée‘“, in: Ecrits, Éditions du Seuil, hg. v.
Ders., Paris: Gallimard, 1966, S. 11–61. Vgl. außerdem Jacques Derrida, „Le Facteur de la
vérité“, in: Poetics 21, 1975, S. 96–114/vgl. John P. Muller, The purloined Poe: Lacan, Derrida
& psychoanalytic reading, Baltimore: The John Hopkins University Press, 1988/vgl. Barbara
Johnson, „The Frame of Reference: Poe, Lacan, Derrida“, in: Yale French Studies, New Ha-
ven: Yale University Press, Nr. 55/56, 1977, S. 457–505/vgl. Servanne Woodward, „Lacan and
Derrida on ‚The Purloined Letter‘“, in: Comparative Literature Studies, 26/1, 1989, S. 39–49.
Die drei ??? als Medienphilosophen 161
Justus: ‚Eine Tüte voller Geld … Na ja, weil es in der Tüte steckt, ist das Geld prak-
tisch unsichtbar …‘
Bob: ‚Hey Just, was ist denn?‘
Justus: ‚Hmm …, soll ich euch mal eine Geschichte erzählen?‘
Bob: ‚Ach, rede nicht um den heißen Brei, die Zutaten kannst du dir sparen!‘
Justus: ‚Es ist ein Mordfall. Eine Erzählung, die ich vor langer Zeit einmal gelesen
habe. Ein Mord, der mit einer unsichtbaren Waffe verübt wurde.‘
Mr. Prentice: ‚Ja …, und?‘
Justus: ‚In der Geschichte saßen ein Ehepaar und ein Freund in einem Zimmer.
Der Ehemann und der Freund gerieten in Streit und daraus entwickelte sind ein
Kampf. Dabei stürzten die Kerzen um, die die einzige Beleuchtung im Raum
darstellten.‘
Bob: ‚Und wie ging es weiter?‘
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Justus: ‚Da hörte die Frau ihren Mann schreien. Jemand stürzte zu Boden, die
Frau spürte, dass sie etwas berührte, die Diener kamen rein und machten Licht.
Der Mann war tot. Er war erstochen worden, aber im Raum war keine Waffe.‘
Peter: ‚Was?‘
Bob: ‚Ach, das gibt’s doch gar nicht! Eine Waffe muss dagewesen sein.‘
Peter: ‚Ja!‘
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Doch während sich die Franzosen anhand von Poes ,entwendetem Brief‘ in eine
ganze Semiotik-Theorie verstricken, ist Justus viel zu sehr klassischer anglo-
amerikanischer Pragmatist. Er taucht einfach im Swimmingpool, findet die
dort ,versteckte‘ Skulptur des gläsernen Karpatenhundes, und so ist der Fall
alsbald gelöst.
Das Stichwort Nummer sechs ist schlicht und einfach Hermeutik. Denn ein
Gutteil der detektivischen Arbeit ist Textarbeit – sie betrifft das Entziffern rät-
selhafter Testamente und geheimnisvoller Botschaften:
14
Die drei ???, „Die drei ??? und der Karpatenhund“, a.a.O., Timecode: 00:37:52–00:39:18.
162 Sebastian Vehlken
Justus: ‚Im Rätseltext steht: ,Wo der Wildhund haust, das beschirmte Auge
Rechts: zum Billabong!‘ – Wo der Windhund haust, das ist einfach Dingos Haus.
Ein Dingo ist ein australischer Windhund. Und ein Billabong ist ein australisches
Wort für Gewässer.‘
Alter Mann: ‚Aha … Das hört sich gut an.‘
Justus: ‚Also weist uns das erste Rätsel an, hierher zu kommen und einen Polizis-
ten ausfindig zu machen. Denn … ,das beschirmte Auge Rechts‘, heißt es. Wobei
,Rechts‘ groß geschrieben wird. Das heißt also nicht ,links‘ oder ,rechts‘, sondern
,das Recht‘.‘15
Dies wird in späteren Folgen wie Feuerturm noch einmal komplexiert, wenn
DDF nicht nur in der Geschichte eine Botschaft entschlüsseln, sondern ihr Fall
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und sie selbst zum Teil jener Story werden, die sie im Plot der Folge zu lösen
haben.
Ein siebtes Stichwort lautet Medienexpertentum, und mit diesem kommt
eine weitere – vermeintliche – Sehnsuchtsmaschine für Studierende der
Medien- und Kulturwissenschaften hinzu: Alle drei Detektive machen längst
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„was mit Medien“.16 Bob tut dies, wie schon erwähnt, über seinen Vater im
Zeitungs- und später Musikbusiness. Peters Vater ist seines Zeichens ein Film-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
15 Die drei ???, „Die drei ??? und die Gefährliche Erbschaft“, a.a.O., Timecode: 00:10:38–00:11:10.
16 Vgl. Nora-Nele Heinevetter/Nadine Sanchez, Was mit Medien. Theorie in 15 Sachgeschich-
ten, Paderborn: Fink, 2008 sowie Claus Pias, Was waren Medien?, Berlin: diaphanes, 2011.
17 Die drei ???, „Die drei ??? und der Rote Pirat“, a.a.O., Timecode: 00:24:21–00:24:44.
Die drei ??? als Medienphilosophen 163
Und während Peter sich zwar mit Zombiefilmen auskennt, aber oftmals die
Sinnfrage stellt, fungiert Justus nicht nur als kombinatorischer Antwortgeber,
sondern Mal um Mal auch als versierter Bastler – ganz egal, ob er in späteren
Folgen heimlich Computerspiel-Bestenlisten manipuliert, um im Score vor sei-
nen Freunden zu landen, oder ob er einfach nur Fernseher repariert wie in der
Folge Die drei ??? und das Narbengesicht.
Achtes und vorletztes Stichwort: Selbstreferenzialität. Was wäre für uns Post-
strukturalisten schockierender, als wenn nicht auch immer wieder selbstrefe-
renzielle Elemente in die Fälle eingestreut würden? Diese brechen sowohl mit
Zuhörererwartungen, etwa in der Folge „Die drei ??? und die Rache des Tigers“,
als Justus sich über das Rauchen einiger Zigaretten das Vertrauen einer Ziel-
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person erschleicht:
Ziemlich aromatisch.‘
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
Mann: ‚Hmm-hmm. Ja, gib‘ mal her deine Dose. (riecht) Hmm … riecht wirklich
gut! Davon genehmige ich mir eine.‘18
So etwas stelle man sich einmal bei TKKG vor! Die drei Detektive brechen aber
auch mit den Grenzen des Mediums, etwa wenn ein Gespräch in einer Ge-
schichte intermediale Verweise eröffnet, wie im Fall „Die drei ???: Geheimakte
UFO“:
Peter: ‚Und wie willst du das anstellen? Willst du etwa die Telefonlawine ein-
setzten? Die Leute halten uns doch für total bescheuert, wenn wir sie nach UFOs
fragen.‘
Justus: ‚Ich habe an eine andere Methode gedacht. Es gibt noch mehr Wege mit
vielen Menschen in Kontakt zu treten. Stichwort: Internet.‘
Bob: ‚Ahhh, Internet.‘
Peter: ‚Aha, und was soll ich mit diesem Stichwort anfangen?‘
Justus: ‚Das Internet ist ein weltweites Computernetz mit dessen Hilfe man so
ziemlich alles, was man will, erfahren kann.‘
Bob: (seufzt)
Justus: ‚Von Börsennachrichten bis hin zu Fanclubs von Jugendbuchserien ist
alles dabei!‘
Peter: (zustimmend) ‚Ehm-hm.‘
18
Die drei ???, „Die drei ??? und die Rache des Tigers“, a.a.O., Timecode: 00:31:19–00:31:16.
164 Sebastian Vehlken
Justus: ‚Und da ich mir vor einigen Monaten ein Modem angeschafft habe, bin
ich schon ein paar mal durchs Internet gesurft. Habt ihr zum Beispiel gewusst,
dass es sogar eine Rocky Beach-Homepage gibt?‘
Peter: ‚Nein, interessiert mich auch nicht.‘
Bob: ‚Mich auch nicht.‘19
klar, ob sich die drei Detektive gerade im Real Life des Hörspiels bewegen und
,ihren‘ Fall lösen, oder ob sie sich zu dritt in der Computerspielwelt bewegen
und dort einen Fall entschlüsseln – und ob nicht beide Fälle ineinanderfallen.
Als neuntes und letztes Stichwort in dieser unabgeschlossenen Reihe me-
dienphilosophischer Elemente bei DDF soll der Einschlafhemmer genannt
sein. Denn es gibt Folgen, die jedes beiläufige Hören und dabei In-den-
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Literatur
Die drei ???, hg. v. Heikedine Körting, München: EUROPA, 1979–2005 und ab 2008.
Derrida, Jacques, „Le Facteur de la vérité“, in: Poetics 21, ?: ? 1975, S. 96–114.
Eschkötter, Daniel, The Wire, Zürich: Diaphanes, 2012.
19
Die drei ???, „Die drei ???: Geheimakte UFO“, a.a.O., Timecode: 00:22:19–00:23:00.
Die drei ??? als Medienphilosophen 165
Ginzburg, Carlo, „Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes
nimmt die Lupe, Sigmund Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche
nach sich selbst“, in: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und
soziales Gedächtnis, hg. v. Ders., Berlin: DTV, 1983, S. 7–57.
Heinevetter, Nora-Nele/Sanchez, Nadine, Was mit Medien. Theorie in 15 Sachgeschich-
ten, Paderborn: Fink, 2008.
Johnson, Barbara, „The Frame of Reference: Poe, Lacan, Derrida“, in: Yale French Stu-
dies, New Haven: Yale University Press, Nr. 55/56, 1977, S. 457–505.
Lacan, Jacques, „Le seminaire sur ‚La Lettre volée‘ “, in: Ecrits, Éditions du Seuil, hg. v.
Ders., Paris: Gallimard, 1966, S. 11–61.
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Lorenz Engell, „Tasten, Wählen, Denken. Genese und Funktion einer philosophischen
Apparatur“, in: Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, hg. v. Stefan
Münkler/Alexander Roesler/Mike Sandbothe, Frankfurt a. M.: Fischer, 2003,
S. 53–77.
Muller, John P., The purloined Poe: Lacan, Derrida & psychoanalytic reading, Baltimore:
The John Hopkins University Press, 1988.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Seboek, Thomas A./Umiker-Seboek, Jean, „ ,Sie kennen ja meine Methode.‘ Ein Ver-
gleich von Charles S. Peirce und Sherlock Holmes“, in: Der Kriminalroman. Poetik,
Theorie, Geschichte, hg. v. Jochen Vogt, München: Fink, 1998, S. 297–321.
Servanne Woodward, „Lacan and Derrida on ‚The Purloined Letter‘ “, in: Comparative
Literature Studies, 26/1, 1989, S. 39–49.
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
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Holger Kuhn
Um ins „Land der Philosophen“1 zu gelangen, mussten Tim und Struppi nur zu
Hause bleiben. Dass die Helden zu Hause bleiben, ist nämlich die Pointe des
Bandes Die Juwelen der Sängerin von 1963. Tims Abenteuer haben ihn zuvor
an immer entlegenere Orte geführt: etwa nach Südamerika, in den Himalaya,
sogar bis auf den Mond. In den Juwelen der Sängerin herrschen dagegen ver-
kehrte Verhältnisse. Tim bleibt zu Hause in Schloss Mühlenhof. Dafür kommt
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die Welt zu Gast und verdrängt die Gastgeber aus dem Zentrum der Aufmerk-
samkeit: Vor allen Dingen findet sich die Operndiva Bianca Castafiore samt
Entourage ein. Außerdem herrscht ein nicht abbrechen wollender Zustrom an
Journalisten und Fotografen diverser Printmedien vor, und schließlich belagert
auch noch ein Fernsehteam die ehemals feudalen Räumlichkeiten. In diesem
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Band wird das Abenteuer ausgesetzt und dadurch zum Gegenstand medien-
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019
philosophischer Überlegungen.
Und dennoch wird im Verlauf der Erzählung immer wieder ein Abenteuer
in Aussicht gestellt. Denn die Castafiore hat wertvolle Juwelen im Gepäck.
Als kleine Konzession an das Genre bzw. die Serie, in der der Reporter Tim
detektivischen Ermittlungen nachgeht, verschwinden die Juwelen mehrmals
im Verlauf der Erzählung. Doch sie tauchen zumeist ebenso schnell wieder
auf, wie sie zuvor verschwunden sind. Jeder Versuch von Tim und den rasch
herbeigeeilten Detektiven Schulze und Schultze, das scheinbare Rätsel zu
lösen, erweist sich als unnötig, und zwar stets, bevor die Ermittlungen über-
haupt in Fahrt kommen können. So viel also zur Handlung bzw. zur Abwesen-
heit derselben: Die Handlung dreht sich im Kreis und will zu keinem richtigen
Ziel kommen.
Dieses Prinzip beherrscht den Band auf mehreren Ebenen: Dinge und
Informationen gelangen nicht oder nur verfälscht zu ihrem Ziel. Davon be-
troffen sind vor allem die Transportakte und Wege. Dies klingt etwa im run-
ning gag des Albums an. Denn den prächtigen Treppenaufgang im Foyer des
Schlosses erklimmt beinahe niemand ohne Störfall oder Sturz. Zu Beginn
1 Vgl. die Sonderausgabe des französischen philosophie magazine: „Tintin au pays des philos-
ophes“, hors-série, September 2010. Einige Anregungen verdankt der vorliegende Beitrag
auch Michael Cuntz, „Die Ketten der Sängerin. Zu Hergés Bijoux de la Castafiore“, in:
Akteur-Medien-Theorie, hg. v. Tristan Thielemann/Erhard Schüttpelz, Bielefeld: transcript,
2013, S. 691–739.
der Handlung bricht ein Stück aus einer Stufe aus und wird – trotz zahlloser
Anläufe – bis zum Ende nicht bzw. nur fast repariert. Daneben gibt es zahlrei-
che weitere Unfälle. Schon bei ihrer Ankunft verursachen die Schultzes einen
Auffahrunfall. Kapitän Haddock gelingt es, selbst den Rollstuhl, auf den er
(wegen eines Sturzes auf der besagten Treppe) angewiesen ist, zum Geschoss
zu machen, das Professor Bienlein und den angereisten Arzt wie Billardkugeln
gegeneinanderstößt.
Allerdings sind die Transportwege nicht die einzigen störanfälligen Kanäle.
Im erhöhten Maße gilt dies nämlich für die Kommunikationskanäle. Wer zum
Telefon greift, um den Maurer Stein anzurufen, wird falsch verbunden und
landet bei der Metzgerei Schnitzel. Der Band bietet zudem eine ganze Typolo-
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2 Vgl. Michel Serres, „Lachen: Die zerstreuten Juwelen oder die unversehrte Sängerin“, in:
Interferenz, Hermes, Bd. 2, Berlin: Merve, 1992, S. 309–332 sowie Ders., „Tintin ou le pica-
resque aujourd’hui“, in: Critique, Nr. 358, Moulinsart, März 1977, S. 197–207.
Tim und Struppi im „Land der Philosophen “ 169
Rauschen ist in dieser Welt nicht vorgesehen und eigentlich nicht möglich.
Ohne allzugroße Zuspitzung lässt sich behaupten, dass sich die Karriere Her-
gés darauf gründet, kein Rauschen zuzulassen! Wie aber wird es dann doch
möglich, dass sich in den Juwelen der Sängerin jeder Fall zum Unfall, jedes Ge-
räuch in Krach und jede Botschaft in Rauschen zu verwandeln droht?
Dies lässt sich exemplarisch an einer Szene herausarbeiten, in der sich –
ausgerechnet im stummen Medium Comic – die Geräusche vervielfältigen und
überlagern. In dieser Szene werden kaum inhaltliche Botschaften vermittelt,
stattdessen tritt der parasitäre Grund der Kommunikation schmerzhaft zum
Vorschein.
Die Castafiore verabschiedet sich in der obersten Zeile von Haddock, um
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ihre Tonleitern in einem anderen Raum des Schlosses zu üben. Sie lässt aller-
dings einen Papagei zurück, den sie Haddock als Gastgeschenk mitgebracht
hat. In der folgenden Panelzeile tritt dann die Doppelung aus Bild und Noten-
text ein, die fortan auf der ganzen Seite fortgeführt wird. Insbesondere steht
diese Darstellungsart, die den kontinuierlichen Klang der Musik ins Bild setzt,
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zeichnet sich normalerweise dadurch aus, dass eine Seite durch Panels unter-
teilt wird. Diese disjunktive Charakteristik des Comiczeichens wird hier kon-
terkariert von den kontinuierlichen und ununterbrochenen Notenlinien, die
sich über die drei unteren Panelzeilen legen.
In den beiden mittleren Panelzeilen vervielfältigen sich die Geräusche: Das
Telefon klingelt („Drrring Drrring“) und nicht nur Haddock antwortet, son-
dern auch der Papagei: „Halloo? Höören Sie“. Diese Antwort – ob nun vom
Papagei oder von Haddock gesprochen – hat übrigens kaum eine referentiel-
le Funktion, sondern sie entspricht dem, was Roman Jakobson als phatische
Funktion des Zeichens beschrieben hat. Denn sie nimmt auf den Kanal der
Kommunikation Bezug.3 Der Papagei, der in der Renaissance noch als Attri-
but der eloquentia, der Redekunst, galt, verweist in dieser Szene darauf, dass
vor jedem Austausch von Informationen zunächst einmal die kommunikative
Situation hergestellt werden muss. Es ist im Übrigen in dem Band gar nicht
auszumachen, von wem diese medienreferenziellen Worte („Halloo? Höören
Sie?“) eigentlich ursprünglich stammen. Denn der Papagei, selbstverständ-
lich auch ein geradezu emblematischer Nachplapperer, hat diese Antwort
bereits auf Seite 16 von Haddock vernommen. Ein noch genauerer Blick zeigt
allerdings: Dem Kapitän selbst wurde diese Antwort offenkundig noch davor,
3 Vgl. Roman Jakobson, „Linguistik und Poetik“, in: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971,
Ders., hg. v. Elma Holenstein/Tarcisius Schelbert, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979, S. 88–92.
170 Holger Kuhn
nämlich schon auf S. 12, von einem Dritten souffliert – und zwar ausgerechnet
vom Papagei. Wer spricht denn hier eigentlich und wer plappert nach? Offen-
kundig klingen eine Vielzahl an Stimmen mit. Auch das Notenband erklingt
stets noch im Hintergrund bzw. über den Panels. Noch in derselben Panelzei-
le verdichten sich die Geräusche, Töne und Stimmen weiter: Die Anruferin
ist falsch verbunden und wollte mit der Metzgerei Schnitzel telefonieren. Jetzt
klingelt der Papagei: „Drring Drring Drring“ und der zunehmend genervte
Kapitän bezeichnet den Papagei als „alte Schnatterkrähe“. Angesprochen
können sich aber auch die anderen Figuren fühlen. Nicht nur die Dame am
anderen Ende der Leitung. Im oberen Register singt auch die Castafiore emsig
weiter, stets auf die Silbe „ha“, so dass sich ein höhnisches „ha ha ha …“ ergibt.
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Die Castafiore, die in diesem wie in allen anderen Bänden immer das gleiche
Stück singt, gleicht im Übrigen auch einem Papagei. Haddock hat in der voran-
gegangenen Nacht sogar mittels Traumarbeit beide – Operndiva und Plapper-
vogel – metonymisch übereinander geschoben.
Ein erneuter Zeilensprung: „Was ist denn das für eine Ausdrucksweise?“
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zetert die Dame am anderen Ende der Leitung, die eine weitere genervte Stim-
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einen Dritten vor dem anderen. […] Es gibt stets ein Medium, eine Mitte, ein
Vermittelndes.“4
Literatur
Cuntz, Michael, „Die Ketten der Sängerin. Zu Hergés Bijoux de la Castafiore“, in:
Akteur-Medien-Theorie, hg. v. Tristan Thielemann/Erhard Schüttpelz, Bielefeld:
transcript, 2013, S. 691–739.
Jakobson, Roman, „Linguistik und Poetik“, in: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971,
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Serres, Michel, „Tintin ou le picaresque aujourd’hui“, in: Critique, Nr. 358, Moulinsart,
10 Minuten Philosophie, 9783770562480, 2019