Sie sind auf Seite 1von 436

Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Armut
Michael Hartlieb

des Würdebegriffs

Paderborn · München · Wien · Zürich


Ferdinand Schöningh
Eine sozialethisch-systematische Relektüre
Verletzung durch extreme
Die Menschenwürde und ihre
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für
Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Umschlagabbildung:
Horst Hartlieb, Ohne Titel
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen


Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige
schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.

© 2013 Ferdinand Schöningh, Paderborn


(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.schoeningh.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München


Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

E-Book ISBN 978-3-657-77798-3


ISBN der Printausgabe 978-3-506-77798-0
VORWORT

Das vorliegende Buch wurde im Sommersemester 2012 von der Katholisch-


eologischen Fakultät der Universität Erfurt als Dissertation im Fach Christli-
che Sozialwissenschaft angenommen. Für die Veröffentlichung wurde es leicht
überarbeitet und einige neuen Quellen eingefügt. Aktualität und Bandbreite des
emas fordern zu ständiger Ergänzung, Reflexion und Erweiterung heraus, wes-
halb das Buch eher als Schnappschuss von Gedanken und Überlegungen zu ver-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

stehen ist, denn als ein ein für allemal abgeschlossenes Werk; Fehler und Auslas-
sungen gehen selbstverständlich voll zu meinen Lasten.
Dass dieses Buch das Licht der Welt erblicken konnte, ist zahlreichen Maieu-
tinnen und Maieuten zu verdanken, die auf die eine oder andere Weise – und
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

manchmal auch ihrer Rolle nicht gewahr – an der Entstehung der Konzeption
und inhaltlichen Gestaltung des Buches mitgewirkt haben. Namentlich danken
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

möchte ich Frau Professor Dr. Elke Mack, an deren Lehrstuhl dieses Buch in der
Hauptsache entstanden ist. Mit wissenschaftlicher Umsicht, umfangreichen fach-
lichen Hilfestellungen und ausgeprägter Sensibilität für die Sorgen und Nöte ei-
nes Doktoranden hat sie die Entwicklung der Arbeit in Zielsetzung und innerer
Gestalt sorgfältig begleitet. Ein Dank gebührt auch Herrn Professor Dr. Josef
Römelt, der das Zweitgutachten besorgt und mir darin wertvolle Hinweise für die
Überarbeitung gegeben hat. Danken will ich nicht zuletzt Herrn Professor Dr.
Dr. Gerhard Droesser, der mir stets die notwendigen Freiräume bei der Erstel-
lung der Arbeit gelassen, aber vor allem durch Gespräch und Diskussion viele
Gedankenwege beleuchtet hat.
Die wichtige Rolle der von mir besuchten Oberseminare möchte ich ebenfalls
hervorheben und denke dabei besonders an das philosophische Oberseminar von
Herrn Professor Dr. Eberhard Tiefensee, das mir einige Impulse für echte kriti-
sche Lektüre gegeben hat. Den Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und
Freunden, die mit mir die unterschiedlichen Aspekte von eologie und Philoso-
phie und alles dazwischen und darüber hinaus diskutiert haben, gebührt ohnehin
mein fortwährender und aufrichtiger Dank. An dieser Stelle möchte ich nament-
lich die Herren Dr. Florian Baab und Dr. Matthias Keserü erwähnen, mit denen
ich seit Jahren eng verbunden bin.

Das größte Verdienst gilt jedoch meinen Eltern, Christl und Horst Hartlieb, und
auch meinen Geschwistern Dominik und Carolin, die mich auf meinem Lebens-
weg immer unterstützten und mir bis heute Rückhalt und Orientierung bieten in
allem, was nichts mit wissenschaftlichen Elfenbeintürmen zu tun hat.

Ihnen, meiner Frau Tina und meinem Sohn Jakob widme ich dieses Buch.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT .................................................................................................. 5

INHALTSVERZEICHNIS ................................................................................ 7
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

I. EXTREME ARMUT IN DER GEGENWART ............................................. 13


A. Die Verletzung der Menschenwürde als neuer ethischer
Leitbegriff in der Armutsforschung ................................................. 17
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

B. Zum grundsätzlichen Aufbau der Untersuchung ............................ 19


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

II. EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND


ÖKONOMIE ........................................................................................ 23
A. Die Entwicklung des Entwicklungsbegriffs ..................................... 25
1. Armutsorientierte Entwicklung aus Sicht der Ökonomie ...................... 28
2. ... und die Aufgabe und Methode von politischer Philosophie
und Sozialethik? .................................................................................. 29
B. Methodische Vorüberlegungen zu einer angemessenen
Bestimmung von extremer Armut .................................................. 34
1. Die wissenschaftliche Armutsforschung und ihre blinden Flecken......... 36
2. Duale Armutsforschung zur Berücksichtigung der hermeneutischen
Dimension der Armut ......................................................................... 37
C. Soziologische, ökonomische und ethische Perspektiven auf den
Armutsbegriff ................................................................................. 40
1. Armut als Werturteil im sozialen Kontext ............................................. 43
a. Eine kurze Geschichte der Armut ..................................................... 45
b. Exkurs: Die ‚vorrangige Option für die Armen‘ als Resultat des
christlichen Armutsverständnisses ................................................... 52
c. Armut als gesellschaftliche Exklusion und dagegen integrierte
Armut............................................................................................. 55
d. Armut zwischen relativer, kontextueller und essentialistischer
Bestimmung ................................................................................... 61
e. Zur Reichweite der Moralmotivation von Armut ............................ 64
2. Armut in ökonomischer Perspektive ..................................................... 70
a. Relative Armut ................................................................................ 74
8 INHALTSVERZEICHNIS

b. Absolute Armut................................................................................ 77
1. Armutsschwelle und Armutsindikatoren ..................................... 80
2. Als Beispiel: Die Millennium Development Goals ....................... 87
c. Die problematische Unschärfe von Armutsindikatoren durch
Auditierung ..................................................................................... 89
D. Zusammenfassung zur Problematisierung des Armuts- und des
Wohlergehensbegriffs ..................................................................... 94
1. Die hermeneutische Dimension des menschlichen Wohlergehens ......... 95
2. Ausblick auf die folgenden Kapitel ........................................................ 96
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

III. ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN .......................... 99


A. Die normativen Bestimmungen der objektiven Bedingungen
des menschlichen Wohlergehens als naturalistischer
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Fehlschluss ..................................................................................... 100


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

B. Ein fehlender externer Standpunkt und das Problem richtiger


Kritik ............................................................................................. 103
C. Das Wohlergehen des Menschen ................................................... 106
1. Die aristotelische Perspektive ............................................................... 108
2. Das Wohlergehen des Menschen in kantianischer Perspektive .............. 110
a. Immanuel Kant ............................................................................... 111
b. Das Wohlergehen in liberalen Gesellschaften – John Rawls ............. 116
1. Rawls‘ ‚eorie der Gerechtigkeit‘ als Verheutigung der
Kant’schen Moralphilosophie ..................................................... 120
2. Kann Rawls mit seiner eorie das Wohlergehen der Bürger
sichern? ...................................................................................... 125
3. Zusammenfassung und Identifizierung der offenen
Enden I ...................................................................................... 130
4. Die Perspektive auf das Wohlergehen in der eorie der
Gerechtigkeit .............................................................................. 141
3. Das Wohlergehen des Menschen im Fähigkeitenansatz ........................ 142
a. Das aristotelisch-frühmarx‘sche Erbe im Fähigkeitenansatz .............. 145
b. Entwicklung und Wohlergehen als normative Kategorien
des Guten ........................................................................................ 148
c. Zur Kritik an der Begründung der Liste der Fähigkeiten .................. 153
d. Der Fähigkeitenansatz als politische Entwicklungsethik ................... 156
1. Die normative Festlegung der Schwellenwerte –
Menschenwürde und Gutes Leben .............................................. 160
2. Minimale Lebensqualität = menschenwürdiges Leben +
Fähigkeiten? ............................................................................... 165
e. Verletzt extreme Armut die Menschenwürde?
Zusammenfassung und Identifizierung der offenen Enden II ........... 171
INHALTSVERZEICHNIS 9

1. Sind Freiheit und Menschenwürde im Fähigkeitenansatz


gewährleistbar? ........................................................................... 174
2. Ein mehrdeutiges Ergebnis ......................................................... 177
D. Kritik des Wohlergehensmodelle des politischen Liberalismus
Rawls‘ und des Fähigkeitenansatzes Sens und Nussbaums
bezüglich der Achtung der Menschenwürde ................................... 178
E. Zusammenfassung .......................................................................... 181

IV. DIE ‚WÜRDE DES MENSCHEN‘ ALS ANSPRUCH AUF


wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

WOHLERGEHEN UND FREIHEIT VON ARMUT IN


IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE ............................................. 185

A. Der Menschenwürdebegriff im ideengeschichtlichen


Diskursraum – Methode und Problemstellungen ........................... 187
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

B. Zwei Hauptperspektiven auf die Menschenwürdesemantik


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

seit der Antike ................................................................................ 191


1. Die Gottesebenbildlichkeit als Wurzel der Würde? Kann sie
Hilfsansprüche begründen? .................................................................. 192
2. Die Stoa – die besondere Stellung des Menschen in der Welt als
Naturrecht .......................................................................................... 198
a. Das Weltbild der Stoa – Vernunft und Gleichheit .......................... 200
b. Gutes Handeln ist Handeln nach Maßgabe der Vernunft ................ 202
c. Von Aristoteles zur Stoa – Kontinuitäten und Brüche im
Menschenbild – Würde, Armut, Individualismus ............................ 204
3. Die Leistungswürde in der römischen Gesellschaft............................... 207
a. Die Bestimmung der menschlichen Würde im sozialen
Kontext der römischen Gesellschaft ................................................ 208
b. Ciceros stoischer eorietransfer und seine Fehlstellen
hinsichtlich sozial Benachteiligter – dagegen: Seneca ....................... 211
4. Systematisierung der Erkenntnisse ....................................................... 214
a. Die logos-Natur des Menschen ....................................................... 214
b. Die zwei Zugehörigkeiten des Menschen ........................................ 215
c. Die Würde als Maß des Wohlergehens im Gemeinwohl –
...und die Armut der Armen? .......................................................... 216
C. Die systematische Verschränkung griechischer und römischer
Würdesemantik im Christentum .................................................... 219
1. In der Patristik .................................................................................... 219
a. Die dignitas des Christen und die daraus folgende materielle
Unterstützung Bedürftiger .............................................................. 223
b. Exkurs I: Freiheit, Armut und Würde – im engeren Sinn eine
christliche Verknüpfung ................................................................. 225
10 INHALTSVERZEICHNIS

1. Ergebnissicherung....................................................................... 229
2. Neue Impulse durch das Christentum – Freiheit als
Grundlage moralischen Handelns an den Ärmsten und
Bedürftigen ................................................................................ 230
2. Die menschliche Würde in der Scholastik ............................................ 236
a. Anselm von Canterbury................................................................... 237
b. Exkurs II: Einbettung der Würde in die Konzeption der
Person – Unverfügbarkeit und Unmitteilbarkeit .............................. 239
1. Etymologie und Entwicklung des Konzepts der Person ............... 240
2. Die Transformation des Begriffs im christlichen Weltbild ........... 242
3. Folgerungen für eine an den Bedürfnissen des Menschen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

orientierte Ethik ......................................................................... 245


4. Ergebnissicherung und Kritik ..................................................... 247
c. omas von Aquin – Dignitas Humana .......................................... 251
1. Die scholastische Weltordnung ................................................... 253
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

2. Die Natur als eigengesetzlicher Ort ............................................. 256


3. Die Erlangung von Dignitas als moralische Aufgabe des
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Menschen ................................................................................... 259


4. Armut und Würde im christlichen Mittelalter – ein kurzes
Fazit mit omas von Aquin ...................................................... 263
d. Zusammenfassung des Verhältnisses von dignitas und Armut
in der Scholastik .............................................................................. 265
D. Die Wende zum Individuum und seinem Wohl in der
Neuzeit .......................................................................................... 267
1. Jeder Mensch ist selbst für sein gesellschaftliches Schicksal
verantwortlich ...................................................................................... 268
2. Von der dignitas hominis in der Renaissance ......................................... 271
a. Pico della Mirandola ....................................................................... 274
b. Giannozzo Manetti ......................................................................... 277
3. Weitere Entwicklungen für das Selbstbild des Menschen: Utopie
und Macht als neue Reflexionsflächen menschlicher Würde gegen
die Kontingenz des Daseins .................................................................. 279
a. Niccolò Machiavelli – Die Würde des Fürsten besteht in
seiner Macht ................................................................................... 281
b. omas Hobbes: Würde durch Selbstaufgabe der bürgerlichen
Moralfähigkeit ................................................................................. 286
4. Immanuel Kant: Der Neuansatz der philosophischen Begründung
von der Würde des Menschen .............................................................. 295
a. Der Gang der Argumentation in der ‚Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten‘..................................................................... 297
b. Zur Kritik an der starken Stellung der Vernunft .............................. 308
c. Vom moralischen Handlungsprinzip zum positiven Recht ............... 310
INHALTSVERZEICHNIS 11

d. Probleme der Kant’schen Moralphilosophie für eine globale


Welt mit Armut .............................................................................. 314
e. Die Menschenwürde zwischen Rechtsanspruch und der Hilfe
für Andere als Tugendpflicht .......................................................... 316
5. Zusammenfassung ............................................................................... 319
a. Die neue Stellung des Menschen in der Welt .................................. 320
b. Die Funktion der Menschenwürde in der Neuzeit .......................... 326

V. DIE ‚VERLETZUNG DER MENSCHENWÜRDE’ ALS TOPOS IM


MODERNEN MENSCHENRECHTSDISKURS .......................................... 331
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

A. Die gesellschaftspolitische Dimension der Menschenrechte in


Geschichte und Gegenwart – eine Hinführung .............................. 333
1. Der Schutz des Individuums geht jeder staatlichen Souveränität
voraus.................................................................................................. 336
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

2. Historische Texturen des Menschenrechtsdiskurses.............................. 338


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

3. Menschenrechte als basale Ethik für eine angemessene Gestaltung


der sozialen Welt? ................................................................................ 340
B. Zur Funktion der Menschenwürde im
Menschenrechtsdiskurs .................................................................. 342
1. Ein modernes Verständnis der Menschenwürde ist offen für
Begründungssprachspiele ..................................................................... 347
2. Die Menschenwürde als Anker der Menschenrechte ............................ 349
a. Der Geltungsgrund der Menschenrechte bedingt eine
Diskursverpflichtung hinsichtlich der Menschenwürde ................... 351
b. Ist die Rede von der Menschenwürdeverletzung in der
gesellschaftlichen Praxis nur eine plakative Leerformel? Was
bedeutete das hinsichtlich der Armut? ............................................. 355
c. Die grundlegende Problematik des strategischen
Zur-Sprache-Bringens von extremer Armut..................................... 357
C. Wie ist die Menschenwürde als rechtlich konstruierte
Fundamentalnorm zu verstehen, und was ergibt sich daraus
für die Armutsfrage? ....................................................................... 361
1. Der bleibende Wert der Genealogie der Menschenwürde für den
gesellschaftlichen Diskurs .................................................................... 365
2. Ist eine pragmatisch-diskursorientierte Lesart von Menschenwürde
und Menschenrechten für die Armutsfrage ausreichend? ...................... 367
a. James Griffin .................................................................................. 369
b. Robert Spaemann ........................................................................... 372
c. Michel Foucault ............................................................................. 374
d. Franz-Josef Wetz ............................................................................ 376
D. Zusammenfassung ......................................................................... 379
12 INHALTSVERZEICHNIS

VI. SCHLUSSBETRACHTUNG: KANN DIE MENSCHENWÜRDE DURCH


ARMUT VERLETZT WERDEN?.............................................................. 383
A. Verletzt das Fehlen von Rechten die Menschenwürde? ................... 384
1. Selbstachtung und Selbstwertschätzung als Zeugnis der
Menschenwürde bei Henry Shue .......................................................... 384
2. Die Probleme des Shue’schen Ansatz .................................................... 389
B. Extreme Armut ist als Beeinträchtigung der Autonomie zu
verstehen ........................................................................................ 392
C. Die kritische Funktion der Menschenwürde hinsichtlich
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

extremer Armut.............................................................................. 401


D. Welche sozialethischen Forderungen resultieren aus der
Verletzung der Menschenwürde durch erzwungene extreme
Armut? ........................................................................................... 403
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

1. Die institutionelle Dimension des Schutzes der Menschenwürde .......... 404


2. Welcher Art von Hilfe ist gegen eine Menschenwürdeverletzung
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

durch extreme Armut einzufordern? ..................................................... 408

VII. LITERATURVERZEICHNIS ................................................................... 413


A. Monographien ............................................................................... 413
B. Aufsätze ......................................................................................... 423
C. Artikel in Nachschlagewerken ........................................................ 434
D. Internetquellen .............................................................................. 435
I. EXTREME ARMUT IN DER GEGENWART

Am Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts leiden ungefähr eine
Milliarde Menschen in Afrika südlich der Sahara, in Süd-Ost-Asien und in La-
teinamerika, aber auch in einigen Regionen Osteuropas unter extremer Armut.
Diese bringt durch persistierende Mangelbedingungen die ständige Gefahr eines
Todes vor der Zeit mit sich, der durch Hunger, fehlenden Zugang zu genießba-
rem Wasser, Armutskrankheiten, mangelnde Hygiene, schnelle Seuchenausbrei-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

tung, sowie die weitreichenden Folgen von Demütigungserfahrungen durch Ar-


beitslosigkeit, Ausbeutung und soziale Marginalisierung droht. Extreme Armut ist
außerdem kein episodischer Abschnitt im Leben der von ihr Betroffenen, welcher
als rasch vorübergehende Mangelsituation eigenständig oder mit geringer Hilfe-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

leistung von außen schnell überwunden werden könnte, sondern sie prägt die Le-
bensweise der Armen tiefreichend, oft ausweglos, und das über Generationen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

hinweg.
Extreme Armut in der hier skizzierten Form betrifft deshalb zumeist nicht den
einzelnen Menschen, sondern sie kennzeichnet die Lebenslage und Lebensumwelt
von Familien, Gemeinden, Landstrichen oder sogar ganzen Staaten. Sie zeigt sich
in unüberschaubar vielen Ausformungen und Abstufungen von Bedürftigkeit und
existenzieller Not, da sie von den gegebenen ökologischen und kulturellen Um-
welten tief durchformt und bestimmt wird, aber sie beruht im Allgemeinen fast
immer auch auf einem problematischen Zusammentreffen von globalen und lo-
kalen Faktoren und deren Interdependenzen:
„Among the causes of poverty in developing countries are historical factors, such as
colonialism and slavery, inadequate endowments, defective social institutions, ill-
conceived national policies, and flaws in the international order which sustain abso-
lute poverty and undermine efforts to reduce it.“ 1
Die daraus entstehenden, lebensbedrohlichen Auswirkungen extremer Armut auf
die Betroffenen schildert omas Pogge mit folgenden Zahlen:
„People so incredibly poor are extremely vulnerable to even minor changes in natu-
ral and social conditions as well as to many forms of exploitation and abuse. Each
year, some 18 million of them die prematurely from poverty-related causes. is is
one-third of all human deaths – 50,000 every day, including 34,000 children under
age five.” 2

1
Diese Stelle ist dem ‚Erfurter Manifest‘ entnommen, das international renommierte Wissen-
schaftler während der Tagung ‚Absolute Poverty and Global Justice‘ in Erfurt im Jahre 2008 ge-
meinsam verabschiedet haben. Vgl. Mack; Schramm; Klasen; Pogge, Absolute Poverty and Global
Justice, S. XV.
2
Pogge, World Poverty and Human Rights, S. 2, unter Rückgriff auf Daten von Milanovic, ‘True
World Income Distribution, 1988 and 1993, S. 51-92.
14 EXTREME ARMUT IN DER GEGENWART

Diese Zahlen rütteln auf; die durch Pogge vermittelten Daten über extreme Ar-
mut sind nicht einfach nur Informationen, welche die Leserinnen und Leser sei-
nes Buches zur Kenntnis nehmen sollen, sondern sie sind gleichsam Appelle an
ihr Gewissen. Denn Pogge geht wie selbstverständlich davon aus, dass diesen
Zahlen eine Bedeutung innewohnt, deren Sinngehalt letztlich von allen Men-
schen als vorrangiges moralisches Problem interpretiert und als Anfrage an die ei-
gene Lebensführung nachvollzogen werden kann.
Die Bedeutung dieser Zahlen, d. i. hier natürlich die Hoffnung, dass ihre nicht
fassbare Höhe in moralischer Hinsicht so aufrüttelnd ist, dass sie kritisches Be-
wusstsein über das Ausmaß extremer Armut und daran anschließend ein Enga-
gement gegen Armut motivieren wird, könnte allerdings auch bestritten werden.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Jeder Mensch wäre nämlich, so könnte aus einer Gegenposition argumentiert


werden, für seine eigene Lebensführung als verantwortlich zu verstehen, und des-
halb sei er auch für die Versorgung mit den zum eigenen Überleben notwendigen
Gütern, aber auch für eine ordentliche Unterkunft und natürlich auch für das
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Gelingen seiner Lebenspläne allein selbst zuständig. Extreme Armut als lebensbe-
drohliche Mangelsituation wäre dann das Resultat selbstverschuldeter Entschei-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dungen und individuellen Unglücks, wäre als ‚bad brute luck‘ aber dann natürlich
kein moralisches Problem für die Mitmenschen – auch nicht für diejenigen, die
im Wohlstand leben. Es wäre aus dieser Perspektive also generell zu fragen, ob es
tatsächlich ‚ungerecht‘ und ‚moralisches Problem‘ zu nennen ist, „wenn die einen
hungern müssen und die anderen Austern und Champagner schlürfen?“ 3
Das erste Zitat stellt dieser kritischen Anfrage nach dem Ort und dem Sinn der
Moralität in der Armutsfrage aber verschiedene Beobachtungen gegenüber, die
sich primär 4 mit den Strukturen auseinandersetzen, die extreme Armut begünsti-
gen. Wenn historische Geschehnisse wie der Kolonialismus, stets nur defizitär
und unwägbar arbeitende oder sogar in der Bewältigung ihres Aufgabenbereichs
vollständig scheiternde lokale und globale Organisationen und Institutionen, so-
wie versagende soziale Kohäsionskräfte als Gründe für extreme Armut zu nennen
sind, dann wäre eine Lebenssituation großer Bedürftigkeit, Vulnerabilität und
existenzieller Bedrohtheit nicht als allein selbstverschuldet zu kennzeichnen, son-
dern vielmehr auch als Resultat äußerer Strukturen zu untersuchen, die eine be-
stimmte Lebenslage erzwingen. Extreme Armut wäre im Rahmen dieses Zusam-
menhangs, wenn sie also auch als Ergebnis äußerer Strukturen zu verstehen wäre,
genau deshalb unter dem Sinnhorizont eines dezidiert moralischen Problems zu
verstehen, weil sie Menschen zwingt, unter lebensbedrohlichen, aber in der
Hauptsache eben doch weitgehend vermeidbaren Bedingungen leben zu müssen.
Umstritten ist jedoch die Frage, was aus der Kennzeichnung extremer Armut
als einem der erstrangigen Probleme der Ethik folgen müsste. Ungerechte oder
benachteiligende Strukturen als Wirkursache extremer Armut sind gesichtslos

3
Krebs, ‚Gleichheit ohne Grenzen?‘, S. 12.
4
Zu den sekundär stehenden infrastrukturellen Ursachen, wie etwa geographische Lage, vorherr-
schendes Klima und andere Faktoren vgl. Fußnote 16.
EINLEITUNG 15

und durch die Komplexität der bestehenden, fein verästelten sozialen Gefüge
exakt identifizierbaren Verantwortlichen normalerweise weder verlässlich zuzu-
ordnen, noch ist ihnen ihre nur diffus zu erfassende Ursächlichkeit an extremer
Armut vorzuwerfen. Wäre es dann aber nicht die Aufgabe aller im Vergleich zu
den extrem Armen bessergestellten Menschen, so argumentieren zumindest Phi-
losophen wie Peter Singer und Peter Unger, finanziell umfassende und ohne
Rücksicht auf die eigene Lebenssituation selbstlose Hilfe zu leisten? 5 Müsste nicht
auf der Grundlage der Proklamation der Menschenrechte, zu deren Schutz sich
ein Großteil der Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg bereit erklärt hat, das Le-
ben jedes einzelnen Menschen und der Erhalt des menschlichen Lebens generell
immer und weltweit das höchste Ziel sein, und ergeben sich aus der lebensbedro-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

henden Mangelsituation der extrem Armen nicht moralisch leicht artikulierbare,


in Art und Umfang extensive Forderungen an Gesellschaft und Politik, die von
der Reformierung der ungerechten, armutsbegünstigenden institutionellen Struk-
turen, über weltweite Solidarität gegen Armut bis hin zur globalen Distribution
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

von Gütern mit dem Ziel globaler Gerechtigkeit reichen können und müssen? 6
Die möglichen Antworten auf diese Fragen sind jedoch allein schon deshalb
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

umstritten, weil die Lösungsansätze zur Beseitigung extremer Armut grundlegend


von der hermeneutischen Perspektive auf die Welt und den Mensch abhängen. In
der wissenschaftlichen Debatte der mit der Armutsproblematik beschäftigten
Disziplinen und in den umfangreichen gesellschaftspolitischen Diskursen wird
seit langem äußerst kontrovers diskutiert, Hilfe welcher Form und in welcher Ex-
tensität nun konkret und angemessener Weise in der Praxis gegen extreme Armut
zum Einsatz zu kommen hätte. Nicht einfacher wird die Lösung – oder wenigs-
tens die inhaltliche Eingrenzung – dieser Kontroverse dadurch, dass sich nach
Jahrzehnten weitgehend ergebnisloser Entwicklungshilfe und der Ernüchterung
über den breiten Graben zwischen eigenem Anspruch an effiziente Armutsreduk-
tion und den kläglichen Resultaten gezeigt hat, dass als hermeneutische Voraus-
setzung zu gelingender Hilfe die Perspektive der Armen auf ihre individuelle Le-
benssituation bei der Formulierung der Hilfsziele primär zu berücksichtigen ist.
Diese Hinwendung zum partnerschaftlichen Dialog mit den Betroffenen und der
Auseinandersetzung mit ihrer konkreten Lebenswelt versagt sich zwar nachdrück-
lich einem Paternalismus, der der bisherigen Entwicklungshilfe klassischer Gestalt
zu eigen war, andererseits werden die dabei von den Armen geäußerten Wünsche
und Ansichten, die entschieden konträr zu einem westlich geprägten Lebensstil
oder gegenüber Vorstellungen von westlichen ‚Entwicklungsstandards‘ positio-
niert sein können, von denjenigen, die sich zur Hilfe verpflichtet sehen, erst ein-
mal ausgehalten werden müssen.
Überhaupt scheint die Überlagerung der divergierenden Positionen und Ein-
sichten in der Armutsforschung ein äußerst komplexes und weitgehend inhomo-
genes Bild zu ergeben, das einen objektiv klaren und eindeutig für alle Menschen

5
Vgl. Singer, ‚Famine, Affluence, and Morality‘; Unger, Living High and Letting Die.
6
Siehe hierzu die Beiträge in: Pogge, Freedom from Poverty as a Human Right.
16 EXTREME ARMUT IN DER GEGENWART

als vorteilhaft ausgezeichneten ethischen Standpunkt bei den Maßnahmen gegen


Armut nicht in Aussicht stellt. 7 Dementsprechend ist die gegenwärtige Armuts-
forschung als durch eine fortlaufende Komplexitätsmaximierung der zu berück-
sichtigenden Sachverhalte, denn durch eine Reduktion auf einige wenige Grund-
charakteristika typischer Armutsursachen und -phänomene zu kennzeichnen. Da-
zu analog wird heute extreme Armut generell als mehrdimensionales Problem
charakterisiert, das sich einer schnellen Lösung anhand überstürzt und unüberlegt
postulierter politischer und ökonomischer Konzepte verweigert; da die „Struktu-
ren der Armut“ 8 als Kombination von allen Ursachen, die das Elend der Armen
aufrecht erhalten, trotz jahrzehntelangen Bemühens lokal und global agierender
politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Akteure bis heute nicht besei-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

tigt und in ihrer Durchschlagskraft auf die miserablen Lebensumstände der Ar-
men sogar meist nur geringfügig gemildert wurden, ist das eine letztlich realis-
tisch zu nennende Einstellung.
Das im Jahr 2009 in den Medien gemeldete und damit offizielle Eingeständnis
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

des voraussichtlichen Scheiterns der Millennium Development Goals im sub-


saharischen Afrika untermauert diesen Befund und verdeutlicht gleichzeitig, dass
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

die Bekämpfung extremer Armut zu den schwierigen und langatmigen Aufgaben


der Menschheit gehört und auch weiterhin gehören wird. 9 Und obwohl der Hu-
man Development Report 2013 einerseits einen starken Aufschwung des Südens
(‚Rise of the South‘) konstatiert, der die Kraft besitzt, ehemalige Entwicklungs-
länder in Schwellenländer, und ehemalige Schwellenländer in Industriestaaten zu
verwandeln, mahnt er andererseits dennoch vor der nach wie vor bestehenden,
eklatanten Ungleichheit der Lebensverhältnisse der Menschen. Ein friedlich-
wohlständiges globales Zusammenleben wird wohl weiterhin eine Wunschvor-
stellung bleiben, denn „[t]he changing global economy is creating unprecceden-
ted challenges and opportunities for continued progress in human development.
Global economic and political structures are in flux at a time when the world face
recurrent financial crises, worsening climate change and growing social unrest.“ 10
Welchen Stellenwert, das bleibt die offene Frage, wird die Bekämpfung extremer
Armut angesichts dieser komplexen Weltlage auf der globalen Agenda in den
kommenden Jahren einnehmen?

7
Vgl. Demele; Hartlieb; Noweck, Ethik der Entwicklung.
8
Boeckh; Huster; Mogge-Grotjahn, ‚Armut und soziale Ausgrenzung‘, S. 34.
9
World Bank, Global Monitoring Report 2009.
10
United Nations Development Programme, Human Development Report 2013, erhältlich unter:
<http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2013_EN_complete.pdf>, letzter Zugriff am 05.04.2013.
A. Die Verletzung der Menschenwürde als neuer ethischer
Leitbegriff in der Armutsforschung

Die vieldimensionalen Ursachen von extremer Armut werden durch die wissen-
schaftliche Forschung aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven heraus be-
leuchtet und untersucht. Durch sie entsteht ein umfassendes Wissen um die
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

komplexe Gemengelage der sozial-ökonomisch-institutionellen Kontexte von ext-


remer Armut; ein Wissen, welches in fachspezifischen oder interdisziplinären Er-
klärungsmodellen seinen Niederschlag findet. 11 Aber ebenso lassen sich im wis-
senschaftlich-gesellschaftlichen Diskurs Argumentationstendenzen erkennen, die
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

der wissenschaftlichen Untersuchung und Darstellung der komplexen Ursachen


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

und Formen extremer Armut entgegenstehen, damit Armut als mit einigen ideal-
typisierten Mustern und Merkmalen einhergehend untersucht werden kann und
diese Kennzeichen anschließend in einer ethischen Debatte fruchtbar gemacht
werden können. Den überaus komplexen Beschreibungskontexten von extremer
Armut steht dann eine handhabbar gemachte Beschreibung der Armut in abs-
trakt-formalen Begriffen entgegen, die es erlaubt, Armutsphänomene auch in der
Perspektive universaler ethischer Aufgabenstellungen zu problematisieren.
Als geläufiges Beispiel einer solchen Tendenz lässt sich folgender Schlüsselsatz
nennen: Ein Leben in extremer Armut ist eine Verletzung der Menschenwürde. Was
mit diesem Satz an abstrakten Vorstellungen über Armut mitgedacht wird, zeigt
sich beispielhaft in einer Rede des ehemaligen Direktors der Weltbank, Robert
McNamara, der extreme Armut als „a condition of life so characterized by mal-
nutrition, illiteracy, disease, squalid surroundings, high infant mortality and low
life expectancy as to be beneath any reasonable definition of human decency” 12
versteht. Im gleichen Kontext argumentiert die UN-Generalversammlung im Jahr
1992, dass „[e]xtreme poverty is a violation of human dignity and might, in some
situations, constitute a threat to the right to life.“ 13
11
Siehe zur näheren Entfaltung der unterschiedlichen emenbereiche das zweite Kapitel.
12
Zitiert nach: Singer, Practical Ethics, S. 219.
13
UN General Assembly Resolution 134, 18. Dezember 1992, zitiert nach: Mieth, ‚Menschenwür-
de und soziale Gerechtigkeit’, S. 134. Oder, wie die ‘UN Sub-Commission on the Promotion
and Protection of Human Rights’ feststellt: “We emphasise the pertinence of a human rights
based approach in dealing with poverty and extreme poverty related issues. As the Commission
on Human Rights recalled in Resolution 2003/24, ‘extreme poverty and exclusion from society
constitute a violation of human dignity.’ Poverty is a nexus at which the violation of various hu-
man rights converge. As described by the Committee on Economic, Social and Cultural Rights,
the condition of poverty is a sustained or chronic deprivation of the resources, capabilities, choic-
es, security and power necessary for the enjoyment of an adequate standard of living and other
civil, cultural, economic, political and social rights.” Commission on Human Rights, Economic,
18 EXTREME ARMUT IN DER GEGENWART

Es ist allerdings zu prüfen, ob eine Kennzeichnung von extremer Armut als


Menschenwürdeverletzung moraltheoretisch überhaupt in dieser universalisti-
schen Pauschalität zulässig sein kann. Wäre nicht grundsätzlich zu hinterfragen,
welchen Sinn überhaupt eine Feststellung der Menschenwürdeverletzung durch
extreme Armut hat, wenn der Kreis der unter die Verletzung subsummierten Ar-
men durch die Vielgestaltigkeit der ökologischen Umwelten, sozialen Lebenswel-
ten und institutionellen Strukturen offensichtlich so heterogen ist, dass sich aus
dieser Kennzeichnung möglicherweise überhaupt keine konkret fassbaren Ansatz-
punkte für die ethische Diskussion ergeben müssen? Führt eine Reduzierung der
komplexen Wirkursachen der Armut auf politisch nutzbare Schlagworte, ja sogar
des vieldimensionalen Begriffs der Armut selbst auf nur noch einen bestimmten
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Begriff von Armut nicht im Endeffekt dazu, dass sich mit der Verknüpfung mit
dem Menschenwürdediskurs eher die Frage nach den durch die Menschenwürde
überhaupt begründbaren materiellen Ansprüchen stellt, als dass nach den Ursa-
chen der Armut gefragt wird? Es wäre dann die vorrangige Aufgabe der vorlie-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

genden Arbeit, diese Eindimensionalisierung und Vereinheitlichung des Begriffs


der Armut im Zusammenhang mit der Menschenwürde kritisch zu hinterfragen,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

um dadurch auf die moraltheoretische Problematik aufmerksam zu machen, die


in der Formel von der ‚Verletzung der Menschenwürde durch Armut‘ steckt. In
der folgenden Untersuchung der unterschiedlichen Positionen zum ema wird
deshalb zu untersuchen sein, ob überhaupt und unter welchen Bedingungen eine
Kennzeichnung von extremer Armut als Verletzung der Menschenwürde ethisch
zu rechtfertigen wäre.
Die damit in den Blick kommende mögliche Eingrenzung der Verwendung
des Zusammenhangs dient einem doppelten Zweck: zum einen richtete sie sich
gegen eine begriffliche Überdehnung der Menschenwürdeformel und damit eine
gesellschaftspolitisch induzierte Gefahr, die bei übermäßig pauschalisierendem
Gebrauch der Formel droht, zum anderen richtete sich die Eingrenzung gegen
die der Pauschalisierung einwohnenden Probleme selbst: wenn die christliche
Ethik sich von ihrer Tradition her als dazu verpflichtet ansieht, von der individu-
ellen Person und ihrer je konkreten Lebenslage her zu denken, dann muss sie sich
dem subjektentfremdenden Abstraktum versagen, das einem Pauschalurteil – und
sei es auch in positiver Absicht verwendet – innewohnt.

Social and Cultural Rights, erhältlich unter: <http://www.unhchr.ch/huridocda/huridoca.nsf/


(Symbol)/E.CN.4.Sub.2.2003.NGO.14.En?Opendocument>, letzter Zugriff am 13.07.2012.
B. Zum grundsätzlichen Aufbau der Untersuchung

Mit ihrer Aufgabenstellung bewegt sich die Untersuchung in einem weiten Feld,
das sich von der Sozialethik über die politische Philosophie bis zur Ökonomie er-
streckt. Im zweiten Kapitel werden deshalb zunächst zur methodologischen
Grundlegung aus soziologischer und ökonomischer Perspektive die Problemlagen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

aufgezeigt, in denen sich derjenige befindet, der von extremer Armut im Rahmen
normativer ethischer Diskurse sprechen möchte. Dabei zeigt sich, dass sowohl die
Disziplinen der Soziologie wie auch die Ökonomie durch die Eigenart ihres epis-
temologischen Weltzugriffs auf je eigene Weise dann in große Schwierigkeiten
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

geraten, wenn es darum gehen soll, die Lebenssituation konkreter Menschen in


normativer Hinsicht als ‚arm‘ oder als ‚Menschenwürdeverletzung‘ zu bestimmen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Diese Problematik, die gewissermaßen die Grundtextur der gesamten Arbeit wi-
derspiegelt, lässt sich in einem Ausblick auf dieses Kapitel wie folgt zusammenfas-
sen: Die Frage nach der konkreten Existenz und der konkreten Form extremer Armut
ist keine der Betroffenenperspektive, sondern vor allem eine der Beobachterperspektive.
Gewissermaßen bietet auf dieses Problem auch die politische Philosophie der
Gegenwart, welche unter dem Leitbegriff des Wohlergehens die institutionellen
Erfordernisse untersucht, die den Menschen ein Leben ohne Armut gewährleisten
sollen, keine überzeugende Antwort. Dies wird im dritten Kapitel mit einer Ana-
lyse des sozialen Liberalismus von John Rawls einerseits und des Fähigkeitenan-
satzes (capability approach) von Amartya Sen und Martha Nussbaum andererseits
herausgestellt. Beide Positionen politischer Philosophie sehen mit ihren eorien
das Wohlergehen des Menschen unter dem Gesichtspunkt der institutionellen
Achtung der Menschenwürde als einerseits garantierbar und andererseits Armut
als vermeidbares Übel an. Wie sich aber in der anschließenden Diskussion beider
Standpunkte zeigen wird, ist die Operationalisierung der Achtung der Men-
schenwürde für einen positiven Begriff des Wohlergehens durch die eoriearchi-
tektonik beider Positionen letztlich als nicht vollständig gelungen auszuweisen.
Doch das zentrale Hindernis bei der Untersuchung des Zusammenhangs von
der Verletzung der Menschenwürde durch extreme Armut ist letztlich der Begriff
der Menschenwürde selbst, der in den philosophischen Diskursen der Gegenwart
oft nicht zu Unrecht verdächtigt wird, abseits von gesellschaftspolitisch beein-
flussten, strategischen Inanspruchnahmen eines als zur politischen ‚Signalsetzung‘
attraktiv wahrgenommenen Begriffs weder ethisch Orientierendes, noch inhalt-
lich Plausibles zur Bestimmung moralischer Problemstellungen beitragen zu kön-
nen. Diese Schwäche bildet sich bereits in der historischen Nachzeichnung der
Genealogie des Begriffes im ersten Teil des Kapitels vier ab, denn es existierte
noch nie eine einheitliche, die verschiedenen Kulturen und Gesellschaften über-
20 EXTREME ARMUT IN DER GEGENWART

greifende allgemeine Idee der Menschenwürde, und eine solche wird wohl auch
fürderhin abseits minimaler Grundübereinkünfte nicht in Aussicht stehen. 14
Trotzdem lassen sich, wie der – zugegebenermaßen dort denkbar knapp darge-
stellte – weite Bogen von der griechischen Antike über Neuzeit und Aufklärung
bis in die Gegenwart der politischen Menschenrechte im Kapitel fünf zeigt, einige
inhaltliche Grundmuster feststellen, die das Konzept der Menschenwürde bis in
die Gegenwart ethisch texturieren, wenngleich besonders im europäisch-
atlantischen Raum mit dem Beginn der Neuzeit eine fast vollständige Begriffsver-
schiebung stattfindet. Im Kapitel fünf zeigt sich nämlich, dass die Allgemeine Er-
klärung der Menschenrechte vordergründig die dispositiv zur Verfügung stehen-
den, klassischen Modelle und Weltanschauungshorizonte zur Begründung der
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Menschenwürde – beispielsweise die Gottebenbildlichkeit, bestimmte gattungs-


spezifische Eigenschaften wie Vernunft oder Willensfreiheit – demonstrativ nicht
weiterführt. Jene Erklärungsmodelle haben in der pluralen (Welt-)Gesellschaft
anscheinend entweder ihr legitimes Argumentationspotenzial aufgebraucht, oder
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

sie verloren ihren normativen Geltungsanspruch durch den kritischen Einfluss


moderner Ethik weitgehend.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Inwiefern dann aber überhaupt noch normative Kritik durch eine Verwen-
dung der Menschenwürdeformel formuliert werden kann, wird im gleichen Kapi-
tel durch eine Interpretation der Menschenwürde als ‚offener Begriff’ überprüft,
worin der Menschenwürdebegriff aus dem Spannungsverhältnis von Rechtsethik
und offenem Diskurs seine normative Stellung erhält. Besteht durch einen Dis-
kurs über die Inhaltsbestimmungen der Menschenwürde nicht aber die Gefahr
eines Relativismus, der jeden denkbaren normativen Kern der Menschenwürde zu
unterminieren in der Lage ist?
Es scheint deshalb mehr als fraglich zu sein, inwieweit die Menschenwürde als
Begründungstopos zur Hilfe für Arme geeignet ist, weil sie noch nicht hinsicht-
lich ihrer Implikationen für ihr Verhältnis zum Armutsproblem, abseits ihrer stra-
tegischen Nutzbarmachung als „manifesto right“ 15 im gesellschaftspolitischen
Diskurs, auf Sinn und Zweckdienlichkeit untersucht wurde. Soll die Menschen-
würde aber tatsächlich als kritisches Normativitätskriterium verstanden werden
können, mit dem zum einen weltweit geltende Ansprüche an Wohlergehen und
zum anderen Freiheit von den Zwängen extremer Armut artikulierbar sind, so
werden im Kapitel sechs die Wege entwickelt, wie aus der Sicht der christlichen
Sozialethik ein solches Verhältnis von der Menschenwürde und ihrer Verletzung
durch extreme Armut ethisch zu denken wäre. Soweit schließlich dort der Erweis

14
Christian ies bringt diese Problemstellung prägnant auf den Punkt: „Handelt es sich [bei der
Würde des Menschen, M. H.] um eine normative Forderung, die für die Moderne, die Zeit nach
1945, die westliche Staatenwelt spezifisch ist – oder um einen allgemeingültigen Wert, der in al-
len Kulturkreisen akzeptiert wird, bzw. problemlos akzeptiert werden könnte? […] Gehört die
Würde des Menschen zu den christlichen Werten, auf denen wir in interreligiösen bzw. interkul-
turellen Dialogen beharren sollten? Oder wird ein solches Insistieren nur als westliches Hegemo-
nialstreben wahrgenommen?“ ies, ‚Einleitung‘, S. 8.
15
Beitz, e Idea of Human Rights, S. 117.
I.B ZUM GRUNDSÄTZLICHEN AUFBAU DER UNTERSUCHUNG 21

einer Verletzung der Menschenwürde durch extreme Armut vor dem Horizont
einer identitätsformierenden Freiheits- und Selbstbestimmungsorientierung jedes
Menschen argumentativ geführt werden kann, verbleibt dann als abschließende
Aufgabe die Bestimmung der aus dieser Verletzungspotenzialität gebotenen Form
der Verantwortung der Menschen für die gegenseitige Achtung ihrer Menschen-
würde.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.


Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
II. EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT
UND ÖKONOMIE

Für die empirisch arbeitenden Wissenschaften sind es in der Hauptsache geogra-


phisch-klimatische 16, sozio-kulturelle 17, sowie natürlich die auf diesen Ursachen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

16
Vgl. die Forschungsergebnisse von Jeffrey Sachs, mit denen jener die geographisch-ökologischen
Umweltbedingungen als primär armutsbedingend nachgewiesen haben will: „A map showing the
world distribution of GNP per capita immediately reveals the vast gap between rich and poor na-
tions. Notice that the great majority of the poorest countries lie in the geographical tropics […].
In contrast, most of the richest countries lie in the temperate zones.” Weiter: “Among the 28
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

economics categorized as high income by the World Bank (with populations of at least one mil-
lion), only Hong Kong, Singapore and part of Taiwan are in the tropical zone, representing a
mere 2 percent of the combined population of the high-income regions. Almost all the temper-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ate-zone countries have either high-income economies […] or middle-income economies”. Sachs
folgert daraus, dass finanzielle Unterstützung zum Aufbau von Infrastruktur notwendig ist, die
die ärmsten Länder aufgrund ihrer nachteiligen geographischen Lage nicht selbst aufbauen kön-
nen. Vgl. Sachs; Mellinger, ‚e Geography of Poverty and Wealth‘, S. 70-76. Siehe auch: Sachs,
e End of Poverty. Vgl. dazu auch: Palmer; Parsons, e Roots of Rural Poverty in Central and
Southern Africa, S. 5f. Einen kritischen Standpunkt zur Position von Sachs nimmt dagegen Mike
Davis ein: in seiner Analyse des Entstehens der Armut der ‚Dritten Welt‘ ist die geographische
Lage ein wichtiger Faktor, jedoch nicht die Hauptursache der Armut; ein Faktor, der erst durch
schlechte Politik und ökonomische Fehlentscheidungen bedrohlich für das Leben der Menschen
wird. Vgl. Davis, Late Victorian Holocausts. Schließlich kritisiert omas Leatherman gegen eine
exklusive Zuspitzung auf die ökologischen Ursachen von Armut, dass diese Ursachen dann als
‘natürliche’ und ‘autopoietische‘ Faktoren begriffen würden, während die Menschen, die in der
Umwelt dieser Faktoren leben würden, als passive ‘Opfer’ dieser Faktoren dargestellt werden. Der
exklusivistische Begriff ökologischer Ursachen von Armut verkennt damit die enge lebensweltli-
che Dynamik, die den Menschen und seine ihn umgebende Natur in einen Verantwortungszu-
sammenhang überführt. Vgl. Leatherman, ‘A Space of Vulnerability in Poverty and Health’, S.
49.
17
Oscar Lewis geht davon aus, dass es eine ‚Kultur der Armut‘ ist, die für das Fortbestehen von
Armutsphänomenen auch bei substantieller materieller Unterstützung als verantwortlich zu sehen
ist. Ein Leben in Armut bringt verschiedene Handlungsmuster und Rollenmodelle hervor, die
zwar einerseits den Betroffenen den Umgang mit ihrer Armut erleichtern, die ihnen aber anderer-
seits dann schaden, wenn sie die Möglichkeit hätten, den Teufelskreis aus materieller Armut und
einer Sozialisation in der ‚Kultur der Armut‘ zu durchbrechen. Nach Lewis neigen Arme bei-
spielsweise durch den ständigen Mangel an lebensnotwendigen Gütern häufig zur schnellen Be-
dürfnisbefriedigung, wodurch sie aber auf Sparen und Bedürfnisaufschub verzichten müssten,
was ihnen insgesamt gesehen jedoch langfristig große Vorteile für ihre Lebenssituation eröffnen
würde. Damit sieht Lewis die ‚Kultur der Armut‘ als Resultat tradierter und internalisierter Wer-
te, die das Leben der Betroffenen zwar sichern helfen, aber nicht verbessern können. Im Gegen-
satz zu Lewis‘ Verständnis einer durch Armut internalisierten Kultur versteht Charles Valentine
Armut als situatives Resultat äußerer Umstände: die Armen bleiben nicht arm, weil sie den Re-
geln ihres eigenen Wertesystem gehorchen, sondern weil sie in Strukturen leben müssen, deren
Werte sie zwar internalisiert haben, durch welche sie aber durch ihre Armut auch nicht die sich
ihnen bietenden Chancen ergreifen können. Vgl. Lewis, Five Families; ders., e Children of
Sanchez; Valentine, Culture and Poverty. Siehe dazu auch: Lipton, Why Poor People Stay Poor. Für
24 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

fußenden politischen und ökonomischen Faktoren, die als primäre Hemmnisse


einer gelingenden menschlichen oder gesellschaftlichen Entwicklung18 am Persis-
tieren von Armut den größten Anteil besitzen, und deren Einfluss deshalb in den
unterschiedlichen an der Armutsforschung beteiligten Disziplinen kontrovers
diskutiert wird. Die vor Ort bei den Armen in empirischen Feldstudien und Sur-
veys vorangetriebene Erhebung von Daten bezüglich ihrer ökonomischen Situati-
on, der subjektiven Einschätzung ihrer individuellen Lebenslage, des potenziellen
Einsatzes ihrer Arbeitskraft, ihrer Beteiligung an gesellschaftlichen Netzwerken
usw. fließt ständig in die Entwicklung und Verfeinerung von Modellen ein, die
möglichst umfassend Aufschluss über die lokalen Problemlagen und die jeweils
möglichen Entwicklungsperspektiven geben sollen. Jene Modelle dienen an-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

schließend als Entscheidungsgrundlage für Art, Ausführung und Umfang der


Hilfsprojekte der zahlreichen staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsinstitutionen.
Der sich nach einigen Jahren einstellende Erfolg oder Misserfolg der getroffenen
Maßnahmen, der wiederum in evaluativen Datenerhebungen gewonnen wird,
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

bildet dann die kritische Reflexionsfläche für die weitere Forschung, bzw. für die
Modifizierung des ursprünglich als erfolgversprechend angesehenen Ansatzes. 19
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Entsprechend lassen sich in den Methodologien der an der Armutsforschung be-


teiligten, empirisch arbeitenden Wissenschaften weitreichende, teilweise umwäl-
zende Änderungen nachvollziehen.

eine Zusammenfassung der verschiedenen Positionen zur Kultur der Armut vgl. Müller, ‚“Kultur
der Armut“ – Mythos oder Wirklichkeit?‘, S. 43f.
18
Auf den Entwicklungsdiskurs, d. h. insbesondere die Frage nach den anstrebbaren Entwicklungs-
dimensionen des Menschen, der ganz eigene problematische Fragestellungen mit sich bringt,
wird an dieser Stelle nicht eigens eingegangen. Für einen umfassenden Überblick empfiehlt sich:
Chari, e Development Reader; Kesselring, Ethik der Entwicklungspolitik; sowie Demele; Hart-
lieb; Noweck, Ethik der Entwicklung. Aufmerksam machen muss allerdings auch, dass selbst der
ökonomische Diskurs zum Begriff der Entwicklung erst in jüngster Zeit als relevant herausgestellt
worden ist. Deshalb konnte Heinz Arndt, britischer Ökonom mit deutschen Wurzeln, noch
1981 feststellen, dass „[s]o commonplace has the concept of ‚economic development‘ become to
this generation, that it comes as a surprise to find the Oxford English Dictionary still unaware of
‚development‘ as a technical term in economics“, Arndt, ‚Economic Development: A Semantic
History‘, S. 457.
19
Eine schlüssige Zusammenfassung der Entwicklungsdebatte bieten: Kesselring, Ethik der Entwick-
lungspolitik, dort insbesondere das Kapitel 11; wie auch: iel, Neue Ansätze zur Entwicklungsthe-
orie. iel diagnostiziert sieben verschiedene Entwicklungsparadigmen, die sich verschiedenen
Phasen, bzw. auch Weltregionen zuordnen lassen. Siehe dort zum Scheitern von Entwicklungs-
theorien S. 10-17.
A. Die Entwicklung des Entwicklungsbegriffs

Im Verbund mit politisch motivierten Änderungen an den institutionalisierten


Hilfssystemen entstanden so in den letzten Jahrzehnten distinkte, methodolo-
gisch stark unterschiedlich geprägte Phasen, denen sich in der Rückschau be-
stimmte Entwicklungshilfeparadigmen zuordnen lassen. Von der ökonomischen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Wachstumstheorie der sechziger und siebziger Jahre, die sich am Ideal der umfas-
senden Modernisierung orientiert, führt der Weg über die Dependenztheorie, die
die gesellschaftlichen und ökonomischen Probleme der Entwicklungsländer vor
allem im Sinnhorizont von Macht- und Ausbeutungskonstellationen auffasst,
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

dann über das sogenannte ‚neoliberale‘ Modell des ‚Washington Consensus‘, und
endet schließlich in der Gegenwart vorläufig mit der Überzeugung, dass Entwick-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

lungschancen vor allem auf kulturellen Voraussetzungen aufruhen, die in der


Ausgestaltung der partnerschaftlichen Unterstützung stets mitbedacht werden
müssen. Letztendlich kann und darf, so der gegenwärtige Forschungsstand, Ent-
wicklung nur noch in nachhaltiger Form gedacht werden, um langfristig über-
haupt erfolgreich zu sein.
Die erste, nachkoloniale Phase der Hilfe lässt sich damit unter dem Schlagwort
der nachholenden Entwicklung zusammenfassen. In dieser Phase, die von einer
hoffnungsvollen und idealistischen Sicht auf die baldige Überwindung der Ursa-
chen von Armut geprägt war, ging man davon aus, dass wenige Jahrzehnte an
Entwicklungshilfe genügen sollten, bis sich die Mehrzahl der Entwicklungsländer
auf einem ähnlich (hoch-)industrialisierten Niveau wie die europäischen Staaten
befinden würden. Nachdem in den siebziger Jahren allerdings durch zahlreiche
Rückschläge bei der Verfolgung dieses ehrgeizigen Zieles offenbar wurde, dass das
zugrundeliegende Entwicklungsmodell wegen der Inkompatibilität einerseits
westlicher und andererseits sich entwickelnder Ökonomien vorerst als gescheitert
angesehen werden musste, weil die bis dahin als sinnvoll erachteten Hilfsmaß-
nahmen nur wenig Erfolg zeigten, empfahl man den Entwicklungsländern um-
fangreiche Strukturanpassungsprogramme durch eine durchgängige Liberalisie-
rung der Märkte und die Beendigung protektionistischer Praktiken, die in einem
Teil der Welt zwar tatsächlich große Erfolge mit sich brachten (v. a. in den ‚Ti-
gerstaaten‘ Südostasiens20), die Lage in zahlreichen anderen aber deutlich ver-
schlimmerten (z. B. in den Ländern Afrika südlich der Sahara). Waren zuvor die

20
Es ist das ostasiatische ‚Gänseflugmodell‘, an dem sich die ‚Tigerstaaten’ als Modell für ihre wirt-
schaftliche Entwicklung orientierten. Dieses gilt bis heute in der Forschung als die am ehesten
Erfolg versprechende Strategie auf dem Weg zu gelingender autochthoner Wirtschaftsentwick-
lung. Vgl. Korhonen, ‚Akamatsu Kaname (1896-1974)‘, S. 169-171.
26 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

Hilfsmaßnahmen zumeist paternalistischen Zuschnitts gewesen, oft zu wenig an


die kulturellen Gegebenheiten vor Ort angepasst, oft nur mangelhaft mit der lo-
kalen Bevölkerung abgestimmt, galt nun das Prinzip maximaler Marktöffnung als
bester Ausweg aus den kontinuierlich ansteigenden Armutsraten. Die Hoffnung,
dass sich durch die empfohlene weitreichende Marktöffnung und die Nutzbar-
machung komparativer Kostenvorteile durch einige industrielle Kernzonen soge-
nannte ‚trickle-down-Effekte‘ für die Armen ergeben würden, erfüllte sich aber
meist nicht. Ganz im Gegenteil zeigt sich heute, dass es nun in weiten Teilen Af-
rikas für Arme noch schwieriger geworden ist, ihre Agrarerzeugnisse auf dem
heimischen Markt anbieten zu können, weil ihre Erzeugnisse dort mit billigen
Importprodukten konkurrieren müssen, die aus Hochsubventionsländern wie
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

den USA und der EU eingeführt werden.


Als Resultat dieses langen Prozesses aus Rückschlägen und nur geringen Erfol-
gen ist festzuhalten, dass in der Gegenwart ein deutlich realistischeres Bild von
Armut und ihren Ursachen vorherrscht. Mit den Schlagworten „Hilfe zur Selbst-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

hilfe“ und „nachhaltige Hilfe“ 21 lässt sich diese zweite und noch aktuelle Phase der
Entwicklungsdiskussion konkretisieren. Diese nüchterne und weniger idealisti-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

sche Perspektive auf die Strukturen und Ursachen der Armut zeichnet sich vor al-
lem dadurch aus, dass nun auch andere und die reine ökonomische Betrachtung
transzendierende Überlegungen in die Gestaltung der Hilfsmaßnahmen mitein-
bezogen werden. So ist beispielsweise der bekannte wissenschaftstheoretische An-
satz des Nobelpreisgewinners Amartya Sen, nicht nur im engeren Sinne quantifi-
zierbare ökonomische Fakten, sondern auch den subjektiv geprägten Bereich
wert- und lebensqualitätsorientierte Datenerhebungen in Armutsanalysen mitein-
zubeziehen, sehr erfolgreich darin gewesen, den Horizont der Entwicklungsöko-
nomie für ethische Fragestellungen durch eine Orientierung an menschlichen
Bedürfnissen zu öffnen. 22 Auf seine Arbeit geht insbesondere der ‚Human Deve-
lopment Index‘ (HDI) zurück, der bei der Bewertung von Armut eine gegenüber
den klassischen ökonomischen Vergleichsmodellen stark ausgeweitete Datenbasis

21
Dalkmann, ‚Wege von der nachholenden zur nachhaltigen Entwicklung‘. Obwohl aber festzuhal-
ten ist, dass das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung aus der Verbindung zweier zuvor als von-
einander separiert angesehener Ziele, nämlich Entwicklung und Umweltschutz, entstanden ist,
kann das Modell der nachhaltigen Entwicklung, das für Industriestaaten diskutiert wird, nicht
eins zu eins auf Entwicklungsländer übertragen werden. Der „gesamte Komplex von Umwelt und
Entwicklung von Umwelt und Entwicklung in der Dritten Welt, die Zusammenhänge zwischen
reichtumsbedingter Umweltzerstörung in den Ländern des Nordens und armutsbedingter Um-
weltzerstörung in den Ländern des Südens“ müssen als getrennte Komplexe behandelt werden,
um die jeweiligen Ursachen und Verantwortlichen trennscharf in den Blick bekommen zu kön-
nen. Vgl. hierzu Wieland, Politik der Ideen, S. 31.
22
Siehe hierzu Nussbaum; Sen, e Quality of Life. Bekannt wurde Sen durch seine früheren Arbei-
ten über die Flutkatastrophe von Bangladesh, und dort für die Analyse, dass nicht schlechte Ern-
ten für die Hungersnot von 1974 verantwortlich zu machen seien, sondern vor allem eine man-
gelhaft arbeitende Verwaltung, die nicht fähig gewesen wäre, die vorhandenen Nahrungsmittel
gerecht zu verteilen.
II.A DIE ENTWICKLUNG DES ENTWICKLUNGSBEGRIFFS 27

verwendet, und dann etwa ‚weiche‘ Faktoren wie Bildungs- und Partizipations-
chancen zur Errechnung eines Lebensqualitätsindex berücksichtigt. 23
Aber auch die langfristige Erhaltung der natürlichen Ressourcen der Erde wird
vor dem Hintergrund eines kontinuierlichen Bevölkerungswachstums in den
Entwicklungsländern bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Entwicklungspart-
nerschaften gegenwärtig sehr ernst genommen; bekanntermaßen würde der west-
liche Lebensstil, wenn er von den heute bereits fast 7 Milliarden Bewohnern der
Erde gleichermaßen gepflegt werden würde, den Planeten in kürzester Zeit an
den Rand eines Ressourcenkollapses führen. 24 Außerdem geht man davon aus,
dass mit der Schonung der Ressourcen indirekt die Bewahrung der ökologischen
Lebensqualität der gesamten Menschheit zusammenhängt. Diese Rechnung be-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ziffert, dass ein weiter gesteigerter Ressourcenverbrauch eine höhere Belastung der
Umwelt nach sich führt, was zu einer in ihren Folgen noch nicht gänzlich ab-
schätzbaren Klimaveränderung beiträgt. Zahlreiche Studien zeigen über diese we-
nig erfreuliche Perspektive hinaus, dass im Endeffekt vor allem die Armen in den
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Entwicklungsländer von den schlimmsten Folgen der Klimaveränderung be-


troffen sein werden – durch weiter zunehmende Desertifikation, Trinkwasser-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

knappheit, Dürren oder umgekehrt Überflutungen zur Unzeit, durch immer


häufiger auftretende Wetterphänomene wie Tropenstürme oder ‚El Niño‘, oder
gar durch langfristig vollständige Überflutungen von Staatsterritorien, wie es etwa
für einige arme Inselstaaten im Pazifik prognostiziert wird. 25 Diese ökologischen
Veränderungen können zu weiträumigen Migrationsbewegungen führen, die mit
den dann zwangsweise einhergehenden sozialen Verwerfungen noch gar nicht in
ihren Folgen für die Armen abzusehen sind. 26
Dem Begriff der Nachhaltigkeit wohnt schließlich in politischer Hinsicht ein
als attraktiv empfundener kosmopolitisch-holistischer Gedanke inne, der den äl-
teren Entwicklungshilfemodellen mit ihren klar unterschiedenen Sphären von
Entwicklungshilfegebern und -empfängern noch fremd war. Da Nachhaltigkeit
durch die weltweite Interdependenz und die Entgrenzung der Wirkzusammen-
hänge nicht anders als eine globale Aufgabe gedacht werden kann, zielt sie darin

23
Vgl. die Website des HDI, auf der die jährlichen Veränderungen des Wohlstandsindexes abgebil-
det werden: <http://hdr.undp.org/en/statistics/>, letzter Zugriff am 13.04.2011. Kritisiert wird
der HDI insbesondere dafür, dass er die ‚Skandinavität‘ eines Landes abbildet, weil durch die
verwendete statistische Modellkonfiguration die Höchstzahl von 1 (=maximaler Wohlstand) nur
dann erreicht werden könnte, wenn alle Bewohner eines Landes entweder Schüler oder Studen-
ten sind. Vgl. Caplan, ‚Again the Human Development Index‘, erhältlich unter: <http://econlog.
econlib.org/archives/2009/05/against_the_hum.html>, letzter Zugriff am 13.04.2011.
24
Dies führt zu der heute schon ‚üblich’ zu nennenden Verknüpfung von entwicklungsethischen
mit umweltethischen Überlegungen. Siehe dazu auch: Dasgupta, Human Well-Being and the
Natural Environment.
25
Vgl. hierzu World Bank, Development and Climate Change, sowie: Wallacher; Scharpenseel,
Klimawandel und globale Armut.
26
Vgl. Kappas, Klimatologie, S. 269-275; Satterthwaite, ‚e Links between Poverty and the Envi-
ronment in Urban Areas of Africa, Asia, and Latin America‘, S. 73-92.
28 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

bereits auf „weltgesellschaftliche Strukturveränderung“ 27 ab, muss jetzt Kennzei-


chen einer Welt sein, in der Reiche und Arme nicht mehr Fremde, sondern Teil
einer sich gegenseitig verpflichteten Schicksalsgemeinschaft sind. 28

A.1 Armutsorientierte Entwicklung aus Sicht der Ökonomie

Da heute also der Versuch der Eindämmung und Beseitigung von Armutsstruk-
turen aus Sicht der empirisch arbeitenden Wissenschaften viel gezieltere und von
den angestrebten Wirkmechanismen her fein ausbalancierte Maßnahmen enthal-
ten muss als eine zentral gesteuerte ökonomische Unterstützung nach dem ‚Gieß-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

kannenprinzip‘ leisten kann, wird auch deutlich, warum der strikt sich als Anlei-
tung verstehende und dadurch meist lebensweltkontextfremde Ziele durchsetzen-
de westliche Paternalismus der ersten Phase der Entwicklungsmodelle notwendig
an sein Ende kommen musste. Der Kampf gegen Armut erfordert heute, so der
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

weitgehende wissenschaftliche Konsens, im Gegenteil offene Kommunikation


und Dialog, um unter Berücksichtigung der lokalen Situation die jeweils beste
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Methode der partnerschaftlichen Unterstützungsmaßnahmen bestimmen zu


können. Auf diesem Standpunkt beruhen jedenfalls moderne Hilfsmodelle von
Ökonomen, Soziologen und Politikwissenschaftler unter dem Schlagwort ‚Pro-
Poor-Growth‘ 29. Dieses ‚armutsorientierte Wachstum‘ steht für ein an die Markt-
teilnehmer und staatlichen Institutionen gerichtetes Ideal von Entwicklung und
Wachstum, das prioritär die Bedürfnisse der Ärmsten befriedigen soll. Die Sinn-
haftigkeit dieses Ideals zeigt sich besonders vor dem Horizont einer vernetzten,
globalisierten Welt, deren politische Richtlinien und Ordnungsstrukturen allen
Menschen gleichermaßen zum Vorteil gereichen sollten. Allerdings ist selbst ge-
gen moderne Entwicklungsmodelle wie das der ‚Pro-Poor-Growth’ kritisch be-
merkt worden, dass ihre ‚Vermessung der Welt‘ durch immer neue Armutsindi-
katoren, die konstruiert werden, um beispielsweise die Marktkompatibilität von
bestimmten Entwicklungsprojekten zu messen und daraus Reformstrategien ge-
gen Armut zu entwickeln, fast ausschließlich im methodologischen Rahmen und
im Sinnhorizont eines ökonomischen Weltzugangs, d. h. unter besonderer Be-
rücksichtigung von Effizienzkriterien stattfindet. Deshalb entstammen, so Kriti-
ker, die methodischen Instrumentarien, die heute zur kritischen Reformierung
und Weiterentwicklung der Institutionen der global governance herangezogen

27
Weidner, ‚Wie nachhaltig ist das Gemeinwohl?‘, S. 132, zitiert nach: Richter, ‚Nachhaltigkeit –
zeitgemäße Dimension eines politischen Begriffs‘, S. 265.
28
Vgl. ebd., S. 265ff.; v. a. auf S. 266 geht der Autor auf die ethischen Verpflichtungen ein, die sich
aus dem Nachhaltigkeitsprinzip für das Verhältnis von Industriestaaten und Entwicklungslän-
dern ergeben müssen: nämlich die Auflösung von Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrukturen,
sowie den Ausgleich von Disparitäten bei gleichzeitigem Schutz von kultureller Differenz.
29
Vgl. beispielsweise: Klasen, ‚Measuring Poverty and Deprivation in South Africa‘, S. 33-58; ders.,
‘In Search of the Holy Grail’, S. 63-94; Grimm; Klasen; McKay, Determinants of Pro-Poor
Growth; Rodrik, One Economics, Many Recipes; Dehesa, What Do We Know about Globalization?.
II.A DIE ENTWICKLUNG DES ENTWICKLUNGSBEGRIFFS 29

werden, auch weiterhin eher der effizienzorientierten Welt der Unternehmen als
dass sie die konkreten Überzeugungen und Wünsche abbilden würden, die in den
über die eigenen Wohlstandsvorstellungen deliberierenden lokalen Gesellschaften
gewonnen worden seien. 30 Inwieweit sich deshalb neue Machtasymmetrien ver-
stetigen werden ist noch nicht vollständig abzusehen, die Tendenz hierzu dazu
wird aber bereits von Ökonomen und Ethikern kritisch hinterfragt. 31

A.2 ... und die Aufgabe und Methode von politischer Philosophie und
Sozialethik?
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Neben den empirischen Wissenschaften sind auch die Geisteswissenschaften,


namentlich die ethisch arbeitenden Disziplinen der politischen Philosophie, die
Sozialwissenschaften und die (christliche) Sozialethik seit Jahrzehnten mit dem
Problem der extremen Armut aus ihrer eigenen hermeneutischen Perspektive be-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

fasst. Das Forschungsinteresse dieser Disziplinen richtet sich vor allem auf die
Klärung der Fragestellungen, die sich in der Vorstufe von Hilfsangeboten, oder in
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

der an diese anschließende Reflexionsstufe ergeben. Während sich die empiri-


schen Wissenschaften auf die konkreten und praxisgebundenen Konzeptionen,
Ausgestaltungen und Folgen von Hilfsangeboten konzentrieren, kreisen die Fra-
gestellungen der Geisteswissenschaften um die moralischen, rechtlichen und
emotiven Aspekte dieser Maßnahmen, außerdem besonders um die motivationa-
len Bedingungen von Hilfe, insofern sie etwa die Frage, wer helfen soll (Reich-
weitenproblematik) und mit welchen Verpflichtungsgrad, zu beantworten ver-
sucht. 32
Bei der kritischen Untersuchung der Armutsproblematik liegt die Leistung der
Ethik vor allem in ihrer Auseinandersetzung mit dem verfügbaren ethnologischen
Wissen, mit den kulturellen, sozialen und politischen Praxen, deren Einfluss auf
das Fortbestehen der Armut sie untersucht, sowie dem kritischen Bedenken des
Menschenbilds, das ihrer hermeneutischen Perspektive zugrunde liegt. Von den
Ergebnissen dieser Untersuchung ausgehend stellt sie die allgemeinen Entwick-
lungspotenziale und Chancen des Menschen zur Debatte und versucht von dieser
Warte aus anschließend zu argumentieren, was jedem Menschen an Gütern zu-
stehen sollte, welche politischen Systeme den Armutsabbau begünstigen, welche
Institutionen wie reorganisiert werden müssten, etc. In dieser Hinsicht bearbeitet

30
Vgl. Merry, ‚Measuring the World, S. 84. Vgl. dort: “Technologies of audit and performance
evaluation common in the corporate world now reach into many domains of global governance.
Since the mid-1990s, technologies that were developed in the sphere of business regulation have
jumped domains to human rights and corporate social responsibility.” Auf die Kritik der Autorin
wird im zweiten Kapitel im Unterpunkt C.2.c gesondert eingegangen.
31
Vgl. Pogge; Reddy, How Not to Count the Poor, erhältlich unter <http://ssrn.com/abstract=893
159>, letzter Zugriff am 27.05.2011.
32
Siehe für weiterführende Literatur und eine Darstellung der zentralen Positionen den Exkurs zum
Kosmopolitismus im dritten Kapitel im Unterpunkt C.2.b.3.(a).
30 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

etwa die Sozialethik normalerweise keine praktischen und direkt anwendungsbe-


zogenen Fragen hinsichtlich konkreter Hilfspraxis, sondern sie nimmt zur Artiku-
lation ihrer Kritik einen idealtheoretischen, reflektierten Standpunkt ein, der an-
schließend erst anwendungskompatibel übersetzt und für die empirisch arbeiten-
den Wissenschaften nutzbar gemacht werden muss.
Die Ethik verfügt für diese Aufgabe naturgemäß über ein völlig anderes Werk-
zeugset als die empirisch arbeitenden Wissenschaften; im Mittelpunkt ihrer Über-
legungen steht der Mensch, für den sie mit dem ihr eigenen Tiefenblick in sein
Wesen gerechte und förderliche Lebensumstände finden und beschreiben will.
Verschiedene philosophische Traditionen werden bei der Suche nach einer Stei-
gerung des menschlichen Wohls und bei der Identifikation derjenigen Umstände,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

die das Leben der Menschen einschränken oder existentiell gefährden, von der
Ethik benutzt und gegeneinander abgewogen. In der Armutsdebatte sind dies vor
allem in Kant’scher Tradition stehende Ansätze, die in zahlreichen Ausprägungen
präsent sind, sowie neoaristotelische Ansätze, aber ebenso können einige huma-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

nistische und sogar utilitaristische Positionen als relevante und für die Armutsfra-
ge wichtige Debattenbeiträge verzeichnet werden. 33
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Prinzipiell ist der Einbezug einer ethischen Reflexionsebene in die Armutsde-


batte kein additiver und potenziell überflüssiger Prozess, der auf die in der kon-
kreten Praxis sich vollziehenden Hilfsmaßnahmen aufgepfropft wird, sondern sie
ist notwendiger Bestandteil des gesamtwissenschaftlichen und gesellschaftlichen
Diskurses, in den die Ethik legitimatorisch rekonstruierende Grundlegungen und
advokatorisch erschlossene kritische Korrektive einbringt. Die Ethik ist mithin
die Instanz, welche die Kriterien der Hilfsmaßnahmen gegen Armut moraltheore-
tisch reflektieren und anschließend auf der Grundlage ihrer Resultate kritisieren
muss. Weil sie in diesem Prozess die Potenziale menschlicher Entwicklung argu-
mentativ konkretisiert, diese in ihre Überlegungen reflexiv einbezieht oder rechts-
ethisch einfordert, unterliegt sie allerdings ebenso einem Rationalitätsanspruch
wie die empirischen Wissenschaften; ihre Kerntätigkeit lässt sich angesichts dieses
Anspruchs als rekonstruktive Legitimation von Maßnahmen gegen Armut ausformu-
lieren. In diesem Prozess ist es Aufgabe der Ethik, für die anwendungsorientierte
Praxis normative Ankerpunkte zu entwickeln und von dieser Perspektive aus ethi-
sche Handreichungen zur Bewertung der Maßnahmen gegen Armut zu untersu-
chen.
Die Ethik grundiert dabei die anwendungsorientierten Wissenschaften effektiv
durch zweierlei Grundannahmen, die umgekehrt ebenso die eigentlichen Voran-
nahmen der modernen Ethik bilden. Das ist zum einen der Deutungshorizont
der Gleichheit aller Menschen, der aus der Rekonstruktion des menschenrechtli-
chen Paradigmas entsteht 34, und das ist zum anderen das Janusgesicht von
33
Siehe für eine umfassende Darstellung dieser Ansätze das dritte sowie das sechste Kapitel.
34
So grundsätzlich Kersting, der von den Menschenrechten als dem normativen Ort der Gerechtig-
keit in der Moderne ausgeht. Deren „Hauptprinzip ist nicht die Freiheit, sondern […] die
Gleichheit, da der Begriff der menschenrechtlichen Freiheit nicht unabhängig von dem Gleich-
heitsprinzip bestimmt werden kann.“ Vgl. Kersting, ‚Facetten der Gerechtigkeit‘, S. 194.
II.A DIE ENTWICKLUNG DES ENTWICKLUNGSBEGRIFFS 31

menschlicher Autonomie und Sozialität, das die Ethik gerade in der Armutsfor-
schung in den zahlreichen Abwägungsfragen vor große Herausforderungen stellt.
Deutlich wird nämlich die Spannung, die die Ethik hier reflexiv einbringt, in den
besonders umstrittenen Feldern der Debatte, die sich etwa um die Frage nach
persönlicher oder institutioneller Verantwortung für Hilfe drehen, oder um das
Verhältnis von Hilfsansprüchen an das Gemeinwesen im Gegensatz zur Ver-
pflichtung, sich selbst aus Armutsverhältnissen zu befreien.
Für die Armutsdebatte von eminenter Bedeutung ist in dieser Hinsicht beson-
ders die in modernen Ethiken getroffene grundsätzliche Scheidung der Fragen
nach dem ‚Rechten‘ und dem ‚Guten‘ in ihre je eigenen Sphären. Diese Auftren-
nung wird durch das ‚Messer‘ der Universalisierung vollzogen, das einen „Schnitt
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

[…] zwischen ‚das Gute‘ und ‚das Gerechte‘, zwischen evaluative und streng
normative Aussagen“ 35 setzt. Diese formale Aufspaltung dient dazu, die mit indi-
viduellen und kollektiven Lebensweisen verwobenen kulturell geprägten Werte,
die in der Alltagspraxis in vielerlei Formen zum Ausdruck kommen und den spe-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

zifisch lokalen und kontextuellen Umgang mit Armut entscheidend prägen, von
denjenigen universalen Normen unterscheiden zu können, die im Interesse aller
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Menschen normative Geltung innehaben sollten. 36


Diese Unterscheidung besteht nicht zum ethischen Selbstzweck, sondern sie
hat für die Ethik eine doppelte Funktion: (1) es ist der Ethik erst mit dieser Auf-
spaltung möglich, außerhalb der steten Gefährdung 37 durch eine stark kulturell
geprägte und dadurch subjektive Perspektivität auf das ‚Gute‘ auf formalem Fun-
dament erörtern zu können, was jeder Menschen aus moralisch gebotenen
Rechts- und Vernunftgründen als Anspruch einfordern können sollte. Vorausset-
zung für die Rekonstruktion der universalen Dimension der Sollgeltung ist die
widerspruchsfreie Begründung derselben; wenn ihr jeder Mensch unabhängig von
seiner spezifischen Biographie und gesellschaftlichen Verortung zustimmen kön-
nen soll, muss ein Begründungsmodus gefunden werden, der beispielsweise die
spezifischen Ziele der Individuen als deren Eigeninteresse entweder ausblendet
(wie der Entwurf des Urzustands bei Rawls), oder der den rationalen Diskurs
kompromissbereiter Teilnehmer als Prozess versteht, der tatsächlich zu einem
Konsens führen kann (wie bei Habermas).
(2) ist es der Ethik jedoch durch diese fundamentale Unterscheidung ebenfalls
möglich, in einem eigenständigen Reflexionsprozess und unabhängig von der
Rechts-, bzw. Gerechtigkeitsdimension beurteilen zu können, was der Mensch
für den autonomen Entwurf seiner Ziele – seiner Konzeption des Guten – benö-
tigt, und welche Bedürfnisse er minimal befriedigen können muss, um sein ‚Gu-
tes‘ überhaupt anstreben zu können. Inwieweit diese Auftrennung in einer rein
35
Vgl. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 35.
36
Vgl. ebd.
37
Diese Gefährdung wird allerdings von einer Reihe von Autoren gegenteilig als Chance ausgelegt,
bzw. wird der Versuch kritisiert, Gerechtigkeit außerhalb konkreter Wert- und Normsysteme als
inhaltlich überhaupt substantiell füllbar anzulegen. Vgl. für einen in dieser Perspektive bekannten
Ansatz: Walzer, Sphären der Gerechtigkeit.
32 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

formalen Abstraktionsleistung, in der also die Sollgeltung bestimmter Normen


sich dezidiert kontextlos erweisen muss und den Entwürfen des Guten gegen-
überzustellen ist, dann überhaupt noch inhaltlich substantielle ethische Aussagen
zulassen kann, ist unter den Vorzeichen der kommunitaristischen Anfragen an
eine liberale Konzeption politischer Institutionen allerdings immer wieder prob-
lematisiert worden. 38
Damit ist jedoch nur eine generelle Differenzierung der Interessenlagen der
Ethik an der Armutsproblematik vollzogen, denn die Scheidelinie zwischen der
Sphäre des Rechten und des Guten verläuft gerade in der globalen Domäne noto-
risch unscharf und unterliegt dort seit jeher hinsichtlich ihrer Art und Ausgestal-
tung großen Auseinandersetzungen. Besonders der Versuch, abseits formaler Ge-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

dankenexperimente universale Standards von Gerechtigkeitsübereinkünften zu


finden, die von allen Menschen akzeptiert werden können – oder zumindest in
dieser Hinsicht als universalgültig rekonstruierbar sind – verbleibt damit als Auf-
gabe der Ethik weiterhin bestehen. Das große Überthema der Ethik in der Ar-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

mutsdebatte, nämlich das Ideal der ‚globalen Gerechtigkeit‘ kritisch in den Blick
zu nehmen, ist in dieser Perspektive der Versuch, beide Sphären in ein angemes-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

senes Verhältnis zu setzen. 39


Gemäß den unterschiedlichen fachlichen Ausrichtungen und Traditionen der
beteiligten ethischen Disziplinen, gewissermaßen zwangsläufig, fallen die erarbei-
teten Perspektiven auf die komplexe, vieldimensionale Situation der Armen
höchst unterschiedlich aus. Diese Komplexität ist einerseits als Zeichen dafür zu
werten, dass extreme Armut aus zahlreichen Perspektiven betrachtet und analy-
siert werden kann: auch die Beschreibungen und argumentativen Folgerungen
werden dann diese Perspektivität notwendigerweise widerspiegeln. Andererseits
wird dieser im Grunde wenig überraschende Befund so zu werten sein, dass sich
darin deutlich die hermeneutische Perspektivität menschlichen Daseins mit sei-
nen Idealen, (Er-)Kenntnisarten, multiplen Entwicklungsformen und Lebenswel-
ten zeigt. Für den Politikwissenschaftler mag es beispielsweise erstrebenswert sein,
dass „ein gewisser Wohlstand wiederhergestellt [wird], um der Demokratie eine
Chance zu geben“ 40; das Ergebnis wäre dann eine Entwicklungsideologie, „in de-
ren Namen konkrete Aktionen wie Entwicklungshilfe, das Peace Corps und an-
dere organisiert“ 41 werden. Für den Sozialphilosophen hingegen mag es vordring-
lichstes Ziel sein, die Armen aus ihrer – global gesehen – marginalisierten Lage
heraus zur aktiven Teilhabe an den internationalen politischen und wirtschaftli-
chen Systemen zu emanzipieren, während ein Moralphilosoph oder Sozialethiker
beispielsweise vor dem Hintergrund der Gleichheit der Menschen globale Ge-
rechtigkeit anstrebt und jene als universal begründetes moralische Ziel des Han-
38
Vgl. Mack, Gerechtigkeit und Gutes Leben, S. 82ff.
39
Vgl. die Anthologie der relevanten Texte zur Frage nach globaler Gerechtigkeit in: Broszies;
Hahn, Globale Gerechtigkeit.
40
Bendix, ‚Strukturgeschichtliche Voraussetzungen der nationalen und kulturellen Identität in der
Neuzeit‘, S. 40.
41
Ebd.
II.A DIE ENTWICKLUNG DES ENTWICKLUNGSBEGRIFFS 33

delns ansetzt. Ethnologen und Kulturanthropologen hingegen werden möglich-


erweise die schützenswerten Kultursysteme, in denen Arme leben, gegen äußere
Einflüsse verteidigen wollen – und sei es selbst gegen die Bereitstellung von Me-
dizin, welche die lokal ausgeprägte Observanz bestimmter religiöser Riten und
den Besuch von Kultstätten überflüssig macht und damit wertbehaftete und le-
bensweltlich relevante kulturelle Institutionen zerstört. 42
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

42
Von dieser Tendenz berichtet anschaulich Martha Nussbaum in: dies., ‚Human Functioning and
Social Justice ‘, S. 202ff.
B. Methodische Vorüberlegungen zu einer angemessenen
Bestimmung von extremer Armut

Vor aller ethischen Reflexion auf das Verhältnis von ‚extremer Armut‘ und ihrer
‚Verletzung der Menschenwürde‘ muss ein reflektiertes, methodisches Selbstversi-
chern der gewählten Ausgangsbegriffe stehen, von dem aus dann im Anschluss die
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

eigentlichen Untersuchungsschritte hinsichtlich der Frage, welche Hilfsmaßnah-


men extreme Armut einfordert, unternommen werden können. Das Ideal hin-
sichtlich des Begriffs ‚extremer Armut‘ wäre, über eine objektive Bestimmung des
Armutsbegriff verfügen zu können, dessen formale Bedingungen – wer ist als arm
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

zu betrachten? – und Inhalte – was gilt als Armut? 43 – allen Menschen zugleich
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

zustimmen könnten, und von dem aus dann die Reflexion darauf, weshalb ext-
reme Armut als eine Verletzung der Menschenwürde zu verstehen wäre, gelingen
könnte. So wäre es möglich, von der Existenz objektiv bestehender Armutsphä-
nomene dann methodisch auf eine Verletzungen der Menschenwürde zu schlie-
ßen und von dieser ethisch reflektierten Grundlage die angemessenen Maßnah-
men der Armutsreduktion zu empfehlen.
Im dynamischen Gegensatz zu diesem Ideal stellt sich jedoch die globale Wirk-
lichkeit mit ihren sozial überaus komplex und vieldimensional geprägten Füllun-
gen des Armutsbegriffs dar. Obgleich Armut zwar normalerweise überall auf der
Welt grundsätzlich als Mangel an Gütern aufgefasst wird, erschöpft sich der Be-
griff darin keineswegs; zur ökonomisch informierten, quantitativen Beschreibung
einer dezidierten Nichtverfügbarkeit von materiellen Gütern als Spezifikum von
Armut treten gewöhnlich immer auch eine Reihe qualitativer Wertungen hinzu:
Armut ist dann je nach kulturell vorgeprägter Einschätzung unbeeinflussbares
Schicksal, selbstverschuldet, wird aus Gründen der Askese vielleicht sogar freiwil-
lig angestrebt oder dergleichen mehr – die Variationsmöglichkeiten der Ausdeu-
tungen zeichnen sich als endlos ab und beschreiben sehr genau den Umstand,
dass hinter jedem Menschen- und Weltbild letztendlich ein eigenes, semantisch
vieldimensionales Set an Armutsbegriffen steht, das dem Wandel der Zeit und

43
Hier gibt es natürlich zahlreiche Vorschläge, so z. B. von Gustavo Gutierrez: ‚Unbedeutendsein‘,
‚Vor-der-Zeit-Sterbenmüssen‘ und ‚Schuldlosigkeit‘ sind für ihn die Kriterien, die Armut grund-
sätzlich kennzeichnen. Während darin sehr gut die Ohnmachtserfahrung zum Ausdruck kommt,
die Armut für die Betroffenen bedeutet, bleibt allerdings der materielle Mangel unterbeleuchtet,
wie auch ‚Schuldlosigkeit‘ kaum als quantifizierbare normative Größe in den Blick kommen
kann. Die Begriffe sind zitiert nach: Rottländer, ‚Option für die Armen‘, S. 82.
II.B METHODISCHE VORÜBERLEGUNGEN 35

darin dem Wandel des menschlichen Daseins in den mannigfachen Lebenswelten


gehorcht. 44
Die kommunikativen Referenzierungen auf Armut in den unterschiedlichen
sozialen Systemen der Gesellschaften und Kulturen weltweit sind deshalb vielge-
staltig, nur selten zueinander kompatibel und dadurch in ihrem Facettenreichtum
außergewöhnlich schillernd. 45 Dieser Umstand erschwert es folgerichtig außeror-
dentlich, in reflektierter und angemessener Weise von der Armut sprechen zu
können, weil die Begriffssemantik immer schon durch die eigene kulturelle Per-
spektivität hermeneutisch vorgeprägt ist. Durch die semantische Dynamik, die
dem Begriff Armut innewohnt, bleibt seine inhaltliche Füllung darüber hinaus
auch in temporaler Perspektive nicht gleich, sondern sie ist ständigen Modifikati-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

onen unterworfen: die Bedeutung von Armut war dementsprechend in der euro-
päischen Kulturwelt der Antike eine wesentlich andere als im Mittelalter oder
heute – und die europäische Geschichte der Armut unterscheidet sich noch ein-
mal grundlegend von derjenigen der ärmsten Länder, wie im Folgenden zu zeigen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

sein wird. Aus diesen Gründen kann es nicht ausreichen, sich Armutsphänome-
nen nur deskriptiv zu nähern oder sie nur quantitativ fassen zu wollen; es ist
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

vielmehr als notwendig angezeigt, den Begriff der Armut selbst zu problematisie-
ren. 46
Diese Einsicht erfordert für das weitere Vorgehen, die Bedeutungen von Ar-
mut sowohl in ökonomisch/quantitativer als auch soziologisch/qualitativer Per-
spektive in systematischer Weise zu erschließen, um dadurch eine grundsätzliche
Reflektierbarkeit des Armutsbegriffs in der Ethik gewährleisten zu können. Das
zu Beginn dieses Abschnitts formulierte wissenschaftliche Desiderat, nämlich
über einen universal bestimmten, aber dennoch aussagekräftigen und inhaltsrei-
chen, substantiellen Begriff der Armut verfügen zu wollen, wird allerdings umge-
kehrt notwendigerweise dazu führen, dass zumindest bei der Formulierung eines
vor globalem Horizont reflektierbaren Begriffs von Armut Teile der partikularen,
hermeneutischen Perspektivität auf Armut verloren gehen müssen. Da aber keine
dominante, interkulturell geteilte und inhaltlich substantielle Füllung des Ar-
mutsbegriffs als existierend vorausgesetzte werden kann, wird Armut in den mit
ihr beschäftigten Forschungsgebieten als nur abstrakt ausbuchstabiertes, rationali-
siertes wissenschaftliches Konstrukt konkretisiert werden und zur Anschauung ge-
langen können.

44
Vgl. dazu folgenden Sammelband, in dem diese Verhältnisbestimmung vor dem Hintergrund
verschiedener religiöser und säkularer Weltbilder entfaltet wird: Galston; Hoffenberg, Poverty and
Morality.
45
Vgl. folgende Arbeit, die exemplarisch auf die kulturell geprägten Semantiken des Armutsbegriffs
in Deutschland, England und Russland eingeht: Baimursina, Die Analyse der phraseosemantischen
Felder Reichtum und Armut im Deutschen, Englischen und Russischen.
46
Vgl. Paugam, Die elementaren Formen der Armut, S. 13.
36 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

B.1 Die wissenschaftliche Armutsforschung und ihre blinden Flecken

Insofern bislang von Armutsforschung in den wissenschaftlichen Disziplinen ge-


sprochen wurde, war damit eine auf methodischen Untersuchungen beruhende,
‚normalwissenschaftliche‘ 47 Tätigkeit gemeint, die sich vor allem auf der von kon-
kreten Armutssituationen abstrahierenden, ökonomisch-sozialwissenschaftlichen
Makroebene mit den externen Einflüssen auf Menschen beschäftigt, welche durch
ihre umfassenden Wirkungen ein Leben in Armut verursachen. Damit ist der be-
reits angesprochene weite Bereich von ökologischen, infrastrukturellen, instituti-
onellen und globalen Größen angedeutet, die Armut kausal verursachen, Armut
als lebensweltliche Hintergrundstruktur begünstigen und – intentional oder nicht
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

– ihre Gestalt umfassend beeinflussen, und damit einen „space of vulnerability“ 48


schaffen, den extrem Arme nicht oder nur sehr schwer verlassen können. Als
ebenso wichtig ist jedoch auch ein wissenschaftlich gesichertes und in der wissen-
schaftlichen Auseinandersetzung mit den Ursachen von Armut mitbedachtes
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Wissen darum zu kennzeichnen, in welchem Verhältnis der menschliche Erfah-


rungsraum zur Armut steht, wie also auf der Mikroebene Armut vom Individuum
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

konkret erfahren und gedeutet wird.


Dieser Perspektivenwechsel ist notwendig und muss deshalb in der wissen-
schaftlichen Reflexion berücksichtigt werden, damit ein Paternalismus vermieden
wird, der aus einem externen, scheinbar objektiven Blickwinkel vorschreiben will,
welche Lebensumstände und welche Art von Mangel konkret als (extreme) Ar-
mut zu gelten haben und welche dagegen nicht. Eine in dieser Art erfolgende Ste-
reotypisierung der Armut, die aus Gründen der wissenschaftlichen Vereinfachung
und begrifflicher Abstraktion methodisch naheliegt, aber die Perspektive der Be-
troffenen nicht beachtet, blendet aus, dass Armut selbst in eng begrenzten lokalen
Gebieten nicht in eindimensional-homogener Form besteht, sondern auch dort
immer in vielfach ausdifferenzierten Formen und Gestalten existiert. Diese lokal
vielfältigen Formen der Armut, die als Ergebnis bestimmter örtlicher Machtver-
hältnisse, institutioneller und infrastrukturellen Strukturen oder vor allem auch
als Ergebnis geschlechtsspezifischer Benachteiligungsprozesse bestehen, werden
durch das Stereotyp eines harmonisierenden Armutsbegriffs eingeebnet, wodurch
in der Folge die je spezifischen Ansatzpunkte der Kritik zu Gunsten eines einzi-
gen aufgegeben werden. 49

47
Im Sinne von omas S. Kuhn; jener bezeichnet damit ein Set von paradigmatisch gewordenen,
methodisch strukturierten Wissenschaftspropädeutiken, das universalen, rationalen, allgemein
akzeptierten und geltenden Standards unterworfen ist. Der wissenschaftliche Zugang zur Armuts-
forschung soll sicherstellen, dass das Ziel durch Lösungsregeln strategisch erreicht werden kann.
Diese Regeln sind dem wissenschaftlichen Arbeiten in der Form eines Paradigmas inhärent.
48
Leatherman, ‘A Space of Vulnerability in Poverty and Health’, S. 51.
49
Vgl. Davies, ‘NGO Appropriation of Images of Poverty – A Hermeneutic Analysis’, erhältlich
unter: <http://www.saih.no/noop/file.php?id=4463>, letzter Zugriff am 29.04.2011.
II.B METHODISCHE VORÜBERLEGUNGEN 37

B.2 Duale Armutsforschung zur Berücksichtigung der hermeneutischen


Dimension der Armut

Die damit als notwendig skizzierte Berücksichtigung der Mikroebene der subjek-
tiven Erlebensperspektiven von Armut ist allerdings ungleich schwieriger wissen-
schaftlich nachzuvollziehen als auf der Makroebene die Erforschung der externen
Ursachen von Armut, weil es dazu notwendig ist, für die Messung menschlicher
Erfahrungen von Armut und der Einschätzung und Bewertung von Lebensquali-
tät objektive Methoden auszuweisen. ‚Armut‘, ‚Lebensqualität‘ oder ‚Wohlerge-
hen‘ als durch das eigene Erleben semantisch vieldeutige Begriffe lassen sich je-
doch kaum mit den formalen Mitteln empirisch arbeitender Wissenschaften in
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ihrer Breite erfassen. Eine wissenschaftliche Abstraktion von den mit dem inter-
nen Erlebnishorizont ‚Armut’, ‚Lebensqualität‘ oder ‚Wohlergehen‘ verbundenen
subjektiven Semantiken kann aber in umgekehrter Richtung vermeiden helfen,
und dies ist der positive Aspekt, einem Relativismus anzuhängen, der exklusiv das
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

individuelle, subjektive Erfahren der Armut als den einzig richtigen, epistemolo-
gisch validen Ausgangspunkt der Erforschung von Armut setzt.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Geht es also auf der einen Seite darum, die konkreten, subjektiven Armutser-
fahrungen in die wissenschaftlichen Modelle miteinzubeziehen, um einen wissen-
schaftstheoretischen Paternalismus zu vermeiden, müssen auf der anderen Seite
abstrahierend-universalistische Aussagen über Armut weiterhin möglich bleiben,
um einen validen und angemessenen Standpunkt zur Entwicklung anwendungs-
orientierter Modelle zur Beseitigung von Armut einnehmen zu können. Diese
beiden Dimensionen des internen und externen Zugangs zu Armut sind episte-
mologisch nicht – auch und gerade mit den Mitteln und Instrumenten der objek-
tiven Wissenschaften nicht - voneinander zu trennen, sondern bedingen einander
methodisch wie die beiden Seiten einer Medaille.
Dieser wissenschaftliche Ansatz, der sich als duale Armutsforschung bezeichnen
ließe, ist jedoch bislang kaum zur Problemlösung der vieldimensionalen Frage-
stellungen des globalen Armutsproblems verwendet worden. Zwar gibt es zahlrei-
che Untersuchungen mit dem Ergebnis, dass die Entwicklung einer Gesellschaft
durch eine hohe Armutsquote gestört wird, Armut demütigend, stigmatisierend
und ausgrenzend wirkt, und vor allem als gesellschaftlicher Sprengstoff dann
wirkt, wenn die Schere zwischen Armut und Reich zu weit auseinandergeht. 50 Für
den konkreten Erfahrungsbereich der Menschen wird außerdem angenommen,
dass durch Armut die Selbstachtung der Menschen verletzt wird, dass sich das so-
ziale Kapital einer Gesellschaft unter starken Ungleichheitsbedingungen bis zur
Auflösung vermindert, und dass sich Armut über die Generationen hinweg – mit
seltenen Ausnahmen – perpetuiert. 51 Dennoch ist bis heute in der Forschung
noch weitgehend unklar geblieben, wie sich die Makroebene der strukturellen,

50
Vgl. hierzu die ausführliche Stellungnahme in der Einleitung von: Grimm; Klasen; McKay, De-
terminants of Pro-Poor Growth.
51
Vgl. Butterwege, Armut und Kindheit, S. 35f.
38 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

externen Einflüsse auf Armut mit der Mikroebene der individuellen, subjektiv
geprägten Armutserfahrung verbindet, bzw. wo die Ansatzpunkte zu lokalisieren
sind, von denen aus schließlich eine kritische Reflexion des Verhältnisses von
Makro- und Mikroebene erfolgen könnte. 52
Zentral für die vorliegende Arbeit steht jedoch die ese, dass Armut aus-
schließlich im methodischen Zusammenhang der skizzierten Makro- und Mikro-
ebene untersucht werden kann, weil zwischen beiden ein moraltheoretisch-
ethischer Zusammenhang besteht. Die Einflüsse der Makroebene wirken schließ-
lich nicht kausal in dem Sinne auf die Individuen so ein, dass sie allein durch jene
in Armut verbleiben müssen. Menschen reagieren nicht einfach nur als statische
Objekte immer gleich auf unterschiedliche äußere Verhältnisse und deren Ein-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

flüsse, sondern sie werden sich in je verschiedener Weise dynamisch zu diesen


verhalten, z. B. mit Stärke und Durchhaltewillen oder Schwäche und Selbstaufga-
be und allen Schattierungen zwischen diesen Polen reagieren; sie können sich als
vereinsamte Einzelne aufgeben oder zu Gruppen solidarisch zusammenschließen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

und für ein besseres Leben kämpfen, sie können Kritik an den ungerechten Ver-
hältnissen üben und Dissidenten werden oder sich in ihr Schicksal ergeben. 53 Je-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

der Mensch, normalerweise auch der extrem Arme, ist Teil einer auf sozialen
Kommunikationen und Interaktionen beruhenden Kulturgemeinschaft, die Ver-
haltensmuster und spezifische coping strategies verfügbar hält, die dem Einzelnen
umfangreiche und situationsspezifische Handlungsmuster zum Umgang mit sei-
ner Lebenslage und Lebensumwelt anbietet. Dadurch sind Menschen nicht nur
passive Rezipienten der äußeren Einflüsse, sondern als aktive Gestalter in einem
wechselseitigen Verhältnis zu diesen äußeren Einflüssen, selbst wenn dieses aktive
Gestalten durch Armut nur in minimaler Form stattfinden kann.
Um diese Wechselwirkungen von Makro- und Mikroebene wissenschaftlich
und ethisch reflektiert aufbereiten zu können, ist es demnach auch und vordring-
lich notwendig, über ein Modell einer inneren Strukturierung von Armutserfah-
rungen – was also Armut für die Menschen und ihre Handlungsfähigkeit, ihren
Status als autonome, soziale und rationale Lebewesen, auch als Mitglieder einer
Gruppe beispielsweise unter dem Stichpunkt der ‚Verletzbarkeit‘ 54 bedeutet – me-
thodisch und instrumentell zu verfügen und dieses mit den Einflüssen der Mak-
roebene zu korrelieren.
Die Gründe für eine solche Vorgehensweise liegen für die Ethik auf der Hand:
es lassen sich dadurch objektive und subjektive Zugänge zu Armutsbedingungen
und Armutszuständen miteinander kombinieren (1), die dann eine wissenschaft-
lich fundierte Analyse und Kritik gesellschaftlicher Zustände ermöglichen (2) und
dadurch einen leichteren eorie-Praxis-Transfer zulassen. 55 Es geht in dieser spe-
52
Ebd., S. 36.
53
Vgl. dazu: Sedmak, ‚Christian Ethics and the Challenge of Absolute Poverty’, S. 69f.; ders., ‘Ein-
beziehung von Betroffenen in der Armutsforschung‘, S. 25-35; ders., ‚Coping Strategies and
Epistemic Resilience‘.
54
Vgl. Sedmak, ‚Arm zu sein, bedarf es wenig‘, S. 23f.
55
Vgl. Butterwege, Armut und Kindheit, S. 36.
II.B METHODISCHE VORÜBERLEGUNGEN 39

zifisch ethischen Perspektive also nicht mehr darum, einzelne Schlaglichter auf
singuläre Ursachen und Erfahrungen von und mit der Armut zu werfen, sondern
das ‚System Armut‘, also die Gesamtheit der Bedingungsstrukturen, objektiven
Ursachen und subjektiven Auswirkungen, insgesamt kritikfähig zu machen. Dies
lässt sich nur erreichen, indem die einzelnen Ebenen der Untersuchung „so mit-
einander ins Verhältnis gesetzt werden, dass gesamtgesellschaftliche Dynamiken
und Verlaufsprozesse von Armut deutlich werden und aufzeigbar ist, wie sich die-
se in den Individuen ‚inkorporieren‘ (Bourdieu) und damit unter bestimmten
Bedingungen materielle, soziale und individuelle Ressourcen von Armutsbe-
troffenen stabilisieren, die langfristig wiederum Armut und die sie bedingenden
gesamtgesellschaftlichen Strukturen perpetuieren.“ 56
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Mit diesem Ansatz der dualen Perspektivität auf Armut kommt in der wissen-
schaftstheoretischen Reflexion letztlich noch einmal in den Fokus, dass die Rede
über Armut und die Erfahrung von Armut auf den unterschiedlichen Ebenen der
semantischen Inhalte schon immer hermeneutisch vorgeprägt ist. Um also über
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

die Phänomene der Armut begründet in einem wissenschaftlichen Kontext reden


zu können, ist es unmittelbare Voraussetzung, die bestehende hermeneutische
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Perspektive im Zugang zu diesen Phänomenen eigens anzuerkennen und ethisch


zu reflektieren. Dies ist einerseits grundsätzlicher Bestandteil einer ethischen Aus-
einandersetzung mit dem Problem der Armut, andererseits aber auch in wissen-
schaftstheoretischer Hinsicht fundamental: gemeinsame und interdisziplinäre
Forschung ist freilich nur dann möglich, wenn sich die beteiligten Wissenschaft-
ler mehr oder weniger auf den gleichen Referenzpunkt bei ihren Überlegungen
beziehen können.

56
Ebd., S. 36f.
C. Soziologische, ökonomische und ethische Perspektiven
auf den Armutsbegriff

In der empirischen Forschung lassen sich Armutsphänomene in zwei grundsätzli-


chen Perspektiven ergründen; zum einen, indem sie als Verursacher und Ziel von
spezifisch lokal und damit soziokulturell durchstimmten Werturteilen (1) in den
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Blick kommen und als lebensweltlich verankerter sozialer Topos, als aus Armuts-
erfahrung geprägte Narration wahrgenommen, übersetzt und untersucht werden
können. Das Forschungsziel äußert sich in dieser Hinsicht als Versuch der Iden-
tifizierung und Untersuchung der komplexen historischen Gründe und Zusam-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

menhänge, die dazu führten, dass eine bestimmte Gesellschaft eine differenzierte
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Vorstellung davon tradiert, was es bedeutet, ‚arm‘ zu sein, und warum sie sich in
ihrem Verständnishorizont von anderen Gesellschaften möglicherweise absetzt. 57
Betreibt man soziologische Forschung in dieser Richtung, zielt man normaler-
weise noch nicht eine Bewertung der Werturteile selbst oder eine Kritik der ge-
sellschaftlichen Verhältnisse, die Armut hervorbringen an – denn das wäre ja
schließlich die Aufgabe der Ethik –, sondern nur eine Analyse der Gründe, die
eine Gesellschaft bewogen haben mochten, genau dieses und kein anderes dezi-
dierte Werturteil fällen zu können.
Zum anderen wird in einer ökonomisch geprägten Sichtweise auf die Armut
versucht, (2) die materiellen Einkommens- und Vermögenssituationen der Ar-
men als Baustein einer weltweit gültigen und objektivierten Definition von Ar-
mut heranzuziehen. Diese Perspektive blendet die lokalen Bedeutungsinhalte des
Armutsbegriffes aus; sie versucht vielmehr, ihren Armutsbegriff aus ‚objektiv‘ ge-
wonnenen ökonomischen Daten resultieren zu lassen, Daten, die etwa aus der
Höhe des Haushaltseinkommen armer Haushalte oder der Größe des Landbesit-
zes und des Vermögens gewonnen werden können. Diese Daten, die Armut als
Ergebnis quantifizierbaren Besitzes oder Einkommens bestimmen, haben an sich
jedoch noch keinen ethischen Wert, wie in gleicher Weise auch das bloße Fakten-
wissen darum, welche Sinn- und Verstehenshorizonte in einer konkreten Gesell-

57
Man denke hier natürlich vor allem an die Forschungsperspektive der Anthropologen, Ethnolo-
gen, Soziologen, und Sozialphilosophen. Diese Disziplinen fragen prinzipiell danach, wie sich
menschliches Verhalten überhaupt in Abhängigkeit von Umwelt und Mitmenschen erklären
lässt, welchen Regeln und Kontingenzen es gehorcht. Vgl. Groh, Anthropologische Dimensionen
der Geschichte, S. 8. Weiter ist auch das Forschungsgebiet der Kulturanthropologie zu nennen,
wie sie besonders im Werk von Clifford Geertz betrieben wird. Sein Ansatz richtet sich gegen
grob pauschalisierende und schematisierende ‚Großideen‘ zur Weltdeutung und sucht vielmehr
die Komplexität kultureller Systeme als eigentliche Stärke aufzufassen. Vgl. Fröhlich; Mörth,
Symbolische Anthropologie der Moderne.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 41

schaft mit Armut verbunden werden, keine eigenständige ethische Signifikanz auf-
zuweisen vermögen. Die mit empirischer Methode zu erreichende Synthese aus
diesen beiden Forschungsagenden kann hingegen wiederum einzig sein, diejeni-
gen universal mit Armut verbundenen empirisch zu erfassenden Bedeutungsin-
halte und materiellen Gemeinsamkeiten zu identifizieren oder als Abstraktum zu
generieren, und damit eine globale Armutsdefinitionen zu verfassen. Das ideale
Ergebnis dieses Vorhabens ist dann eine minimalkonsensfähige Beschreibung von
Armut, die im Umkehrschluss dadurch Armut als quantifizierbare Größe greifbar
macht.
Die empirische Forschung versucht damit letztendlich, ein im wissenschaftli-
chen Diskurs bestimmtes Set an sozialen (1) und materiellen (2) Attributen in ein
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

gewichtetes Verhältnis zueinander zu setzen, um damit einen argumentationsfä-


higen Begriff von Armut zu erhalten. Das Verhältnis, in dem diese Attribute zu-
einander stehen, wird durch zuvor verhandelte wissenschaftliche Vorannahmen
geprägt und schließlich allen davon ausgehenden Forschungen zugrunde gelegt.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Ist diese Basis gewonnen und als allgemeiner Forschungsstandpunkt anerkannt,


wird es dadurch überhaupt erst möglich, in wissenschaftlicher Perspektive Armut-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

sphänomene und deren Einfluss auf das Leben des Menschen ausdeutbar zu ma-
chen.
Eine moralische Signifikanz der Armut kann sich jedoch erst auf einer – nun
als ‚ethische‘ bezeichnete – Reflexionsebene erweisen, zu deren Voraussetzung die
beiden eben vorgestellten, empirisch arbeitenden Forschungsperspektiven als er-
kenntnistheoretische wissenschaftliche Vorarbeit gelten müssen. Aus Sicht der
ethischen Reflexionsstufe werden in den vorgängigen empirischen Perspektiven
die Potenziale wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Armutsphänomenen
überhaupt erst erschlossen, zum zweiten werden durch sie die Voraussetzungen
geschaffen, dass Armut in der Ethik überhaupt als moralisches Problem themati-
siert werden kann, weil sie nun, trotz aller anzunehmenden Unschärfe, als be-
grifflich gefasstes Objekt der ethischen Reflexion gegenübersteht. Dies erreichen
sie nicht allein dadurch, dass sie die Perzeption und Referenzierung der Armut in
den unterschiedlichen Kulturen inhaltlich erschließen und ökonomisch eine basa-
le Vergleichbarkeit der Lebensverhältnisse der Menschen herstellen, sondern vor
allem dadurch, dass sie in dieser Darstellung die Reflexionsfläche auf die qualita-
tiven Zusammenhänge und Kausalitäten von menschlichen Handlungen und
Armut aufscheinen lassen. Auf dieser Reflexionsfläche findet die wissenschaftliche
Ethik dann ihr Fundament, von dem aus sie die multidimensionalen Umstände,
die zu Armut führen, bewertet.
In diesem Prozess der Analyse und Untersuchung konkreter Armut offenbaren
sich bestenfalls einerseits die Faktoren, die jene persistieren lassen, andererseits
wird in diesem Prozess deutlich die nicht unbeträchtliche Verantwortung auf-
scheinen, die der Mensch für die Existenz von Armut trägt. In diesem Moment –
nämlich des strukturellen Erweises nicht der Schicksalhaftigkeit der Armut, son-
dern ihrer Gemachtheit – gerät die Möglichkeit eines ethischen Standpunktes
überhaupt erst in den Blick. Weil der Mensch ethisch in einer Doppelfunktion
42 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

als rationaler Schöpfer seiner kulturellen Systeme, Institutionen und Lebenswel-


ten, und gleichzeitig als ein ihnen weithin Unterworfener erschlossen werden
kann, kann er für extreme Armut und die Art ihrer historischen Fortschreibung
verantwortlich gemacht werden. Insoweit der Mensch vor diesem historischen, ge-
genwärtigen und zukünftigen Geschehen für das Bestehen von Armutsstrukturen ver-
antwortlich zeichnet, ist Armut als Handlung von Menschen an Menschen ein erst-
rangiges ema der Ethik.
Damit ist außerdem eine Antwort darauf gewonnen, warum es als notwendig
auszuweisen ist, einen allgemeinen Begriff von extremer Armut bestimmen zu
können – dieser korrespondiert dann mit der globalisierten und dadurch zuneh-
mend integrierten Welt der Gegenwart und weiteren Zukunft; und er bestimmt
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

die Verantwortung gegenüber extremer Armut moralisch in eben dieser Reich-


weite. Erst vom globalen Standpunkt aus sind kulturübergreifende Untersuchun-
gen der Auswirkungen menschlichen Handelns und korrespondierende Verant-
wortungszuschreibungen überhaupt möglich: Armut ist in dieser Perspektive
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

nicht mehr nur das Produkt und irgendwie bedeutsame Deutungsobjekt lokaler
Lebenswelten, sondern systematisch zurückgebunden an alle Menschen als Han-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

delnde weltweit.
Diese methodischen Vorüberlegungen zusammenfassend wird deutlich, dass in
der wissenschaftlichen Bearbeitung des emas ‚Armut’ eine breiter Komplexi-
tätsgraben zwischen den hermeneutischen Problemstellungen und den konkreten
gesellschaftlichen Praxen existiert, der erst übersprungen werden muss, bevor sich
Armut als genuines Projekt einer universal angelegten Ethik zeigen kann. Im In-
teresse der wissenschaftlichen Redlichkeit muss einerseits die Hermeneutik der
menschlichen Perspektive auf die Armut und die menschliche Verantwortung für
die Existenz der Armut erst hinsichtlich ihrer Kritisierbarkeit untersucht werden,
bevor sie ethisch reflektiert werden kann und dann als nun vorrangiges ema mo-
ralischer Stellungnahmen verhandelbar wird. Die Fokussierung auf die Möglich-
keit, Armut überhaupt im Rahmen ethischer Diskurse und Auseinandersetzungen
als moralisches Problem artikulieren zu können, entspricht im Übrigen der Be-
scheidenheit, die Jürgen Habermas hinsichtlich der möglichen ethischen Frage-
kontexte einfordert; denn obwohl er Armut und die Verletzung der Menschen-
würde in den Unrechtsstaaten zu den „vier großen moralisch-politischen Belas-
tungen unserer eigenen Existenz“ zählt, hat sich das Selbstverständnis der Ethik
vor allem darauf beziehen, den „moral point of view zu erklären und zu begrün-
den“ 58. Darin liegt aber das eigenständige Potenzial der Ethik, denn aus der Per-
spektive eines starken ‚moral point of view‘ – wie etwa dem der Menschenwürde,
wie zu erweisen sein wird – können benachteiligende gesellschaftliche Verhältnis-
se umfassender und vor allem von einem normativen Standpunkt aus kritisiert
werden, als wenn der ‚moral point of view‘ als nicht existierend abgewiesen wird.

58
Beide Zitate: Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 30.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 43

C.1 Armut als Werturteil im sozialen Kontext

Armut gehört als Situation unmittelbarer Güterknappheit und mittelbar als re-
flektierte soziale Erfahrung von Ausgegrenztheit, Unterdrückung und Zwang zu
den ältesten Erlebnissen der Menschheit. Als beschreibende Kategorie einer Mög-
lichkeit menschlicher Existenz ist sie immer schon präsent, als soziales Narrativ ist
sie wie kaum ein anderer den historischen, kulturellen, politischen, ökonomi-
schen und nicht zuletzt sozialen Deutungsschemata und -systemen der Lebens-
welt tief eingeprägt, in deren Kontext sie sich dynamisch wandelt. In jeder dieser
Dimensionen kann Armut einen eigentümlichen Sinn annehmen, denn die phä-
nomenale Existenz von Armut, gedeutet als offensichtliches Zeichen einer radikal
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

unterschiedlichen materiellen Ausstattung des Menschen und die daraus notwen-


dig folgende Auseinandersetzung mit ihr, gehört zu den grundlegenden Erfah-
rungen des Menschen in der sozial geprägten Perspektive auf sich und seine
Mitmenschen in der Welt. Daraus erhellt, dass die sozialen Narrative und Bedeu-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

tungszusammenhänge der Armut nicht grundsätzlich abgekoppelt von den sie


grundierenden Gesellschaften und Kulturen untersucht werden können – Armut
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ist bezüglich ihrer sozialen Aspekte nur kontextualisiert als Bedeutungsträger in


einer konkreten Gesellschaft oder Kulturgemeinschaft untersuchbar. 59 Im Gegen-
satz zu den primär ökonomisch geprägten und normativ verfassten quantitativen
Bewertungsschemata ‚absolute’ und ‚relative’ Armut ist die soziologisch unter-
suchbare Semantik der Armut dadurch relativistisch und kontextsensitiv ver-
fasst. 60
Dass mit dem Begriff der Armut ein umfassender Teilbereich des menschli-
chen Erfahrungsbereichs in der Welt semantisch eingefangen ist, zeigt sich bereits
daran, dass sie grundlegender Bestandteil zahlreicher kultureller Traditionen und
zentraler Bestandteil von Mythen ist und sowohl Religionen prägt (und von die-
sen geprägt wird) als auch die verschiedenen Weltbilder, die sich in den unter-
schiedlichen Kulturen vorfinden lassen. Das kontextuelle Eingebettetsein des Ar-
mutsbegriffs in eine kulturelle Umwelt äußert sich dort vor allem in den Reflexi-
onspraktiken, die Armut in einer religiösen Perspektive, in einer Machtkonstruk-
tion notwendiger sozialer Schichtung in Stände oder Kasten oder als Ergebnis
wirtschaftlicher Prozesse ausdeutet. 61 Dies hilft den Menschen dabei, Armutser-
fahrungen einzuordnen und durch gesellschaftlich bereitgestellte Deutungskate-
gorien in einem die eigene Situation transzendierenden Rahmen erklärbar zu ma-
chen. 62 In dieser Hinsicht fließt der Begriff der Armut in Gesellschaften oft in

59
Vgl. Dietz, Soziologie der Armut, S. 15.
60
‚Relative Armut‘ als ökonomische Definition ist dabei von der Relativität der Armut zu unter-
scheiden. Bezieht sich erstere auf die Frage nach der Anzahl der Armen, ist letztere bezogen auf
die inhaltliche Beschreibung der Armut. Siehe dazu auch den Unterpunkt D.1 dieses Kapitels.
61
Vgl. Dietz, Soziologie der Armut, S. 15.
62
Die Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Armut ist in allen Religionen ein wichtiger
Bestandteil der Verkündigung als auch der Glaubenspraxis. Vor allem das Christentum richtet
sich in seiner Botschaft speziell an die Armen, die im Gegensatz zu den Reichen in das Himmel-
44 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

andere Semantiken ein. Ist die Deutungskategorie einmal als Narrativ geprägt,
zeigt sich die soziale Nutzbarkeit des eingeübten Begriffe auch in anderen sozialen
Zusammenhängen – ‚arm‘ kann dann auch jemand sein, der in den sozialen Pro-
zessen nicht nur in die Kategorie mangelnder Güterausstattung eingeordnet wer-
den kann, sondern der sich in anderer Hinsicht als ‚arm‘ zeigt. Besonders religiöse
Weltanschauungen eröffnen in dieser Hinsicht oft Paralleldiskurse zur Sicht auf
Armut, die dann oppositorisch zum Normalverständnis der Armut in ihrer Ge-
sellschaft führen. Dies ist der Fall, wenn im materiellen Reichtum Lebende als die
eigentlich Armen verstanden werden 63, oder beispielsweise die Zugehörigkeit zu
paganen Religionsgemeinschaften deshalb zur Kennzeichnung mit dem Stigma
der ‚Armut‘ führt, weil sie als Ungläubige außerhalb des Kreises derer stehen, die
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

auf Erlösung und ewiges Leben hoffen dürfen. 64 Diese Beispiele umfassen nur ei-
nen kleinen Teil des mit Armut zusammenhängenden Deutungs- und Interpreta-
tionsraums, zeigen aber bereits deutlich, warum es im Sinne einer wissenschaftli-
chen Analyse von Armutsphänomenen notwendig ist, den Begriff auf eine allge-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

meine Definition zu verengen. 65


Armut ist zu allen Zeiten von den Menschen nicht nur als ein schwerwiegen-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

der und gefährlicher materieller Mangel begriffen worden, sondern vor allem
auch als ein abgegrenzter, besonderer sozialer Stand, der mit damit einhergehen-
den sozialen Attribuierungen gekennzeichnet wird. emen der sozialen Ausgren-
zung, der Isolation, der nur mangelhaften Partizipation am öffentlichen Leben,
allgemein: Bezeichnungen für nur begrenzte Handlungsspielräume der von Ar-
mut betroffenen Menschen beherrschen seit jeher die soziale Realität der Gesell-
schaften und ihre Traditionen. Wer arm ist, so die Grundtendenz dieser Erfah-
rungskategorien, dem ist die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Lebensfüh-
rung stark beschnitten, dessen Selbstwertgefühl ist stark angegriffen, dem fehlen
letztendlich sogar die Kompetenzen, materielle Ressourcen, so er sie denn über-
haupt erwerben kann, zur verantwortlichen Gestaltung seiner sozialen Konstella-
tionen und Lebensumwelten sinnvoll zu nutzen und zur Förderung des eigenen
Wohlergehens einzusetzen. 66

reich eingehen werden. Vgl. dazu im Besonderen den Abschnitt zur ‚vorrangigen Option für die
Armen‘, im Unterpunkt C.1.b dieses Kapitels, als auch: Til, ‚Poverty and Morality in Christiani-
ty‘.
63
LK 18,25.
64
Vgl. Kirchberger, Konversion zur Moderne, S. 222.
65
Vgl. dazu auch: Müller, ‚“Kultur der Armut“ – Mythos oder Wirklichkeit?‘, S. 51f.
66
Eine beeindruckende Geschichte des Umgangs mit der Armut im Horizont sozialer Kontrollme-
chanismen entwirft Anne McClintock, die in der Tradition Foucaults zeigen kann, wie sehr der
Umgang mit den Entwicklungsländern durch die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts
geprägt ist: „From the outset, the idea of progress that illuminated the nineteenth century was
shadowed by its somber side. Imagining the degeneration into which humanity could fall was a
necessary part of imagining the exaltation to which it could aspire. e degenerate classes, defined
as departures from the normal human type, were as necessary to the self-definition of the middle
class as the idea of degeneration was to the idea of progress, for the distance along the path of
progress traveled by some portions of humanity could be measured only by the distance others
lagged behind.” Vgl. McClintock, Imperial Leather, S. 46.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 45

C.1.a Eine kurze Geschichte der Armut

Die Geschichte der Armut ist gemäß ihrer Stellung als fortwährender Hinter-
grundtextur menschlicher Gesellschaften primär als Sozialgeschichte zu fassen. 67
In den archaischen Gesellschaften war Armut in ihrer Form als existenzielle Gü-
terknappheit der Urzustand des Menschen. Die Güterknappheit forderte vor al-
lem ein starkes soziales Band zwischen den Menschen ein: durch die Unwägbar-
keiten der Natur waren die Menschen zur Zusammenarbeit gezwungen, war re-
ziproke Hilfe in der Gruppe Voraussetzung des Überlebens. 68 Obgleich diese im
sozialen Band der Menschengruppen und -gemeinschaften sich äußernde Distan-
zierung zur unsozialen Natur den eigenmächtigen Kulturraum des Menschen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

bald bildete und durch die Erfindung technischer Werkzeuge schnell erweiterte,
blieb der Einfluss der Natur – in vielen Ländern bis heute – unberechenbar, ist es
immer noch möglich, dass durch vom Menschen unbeeinflussbare Ereignisse die
„prekäre Balance von Nahrung und Bevölkerung jederzeit zum Kippen“ 69 ge-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

bracht wird. Dem Menschen war es in der ganzen Frühphase seiner Entwicklung
nicht möglich, sich trotz der steten Erweiterung und immer besseren Beherr-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

schung seines Kulturraums von den Einflüssen der Natur vollständig zu emanzi-
pieren. Förderten in einem Jahr gute Ernten das Bevölkerungswachstum, sorgten
67
Die sozio-historische Armutsforschung ist ein relativ junges Forschungsgebiet, das sich bislang
vor allem dem europäischen Kontext gewidmet hat. An dieser Stelle kann nicht tiefer auf dieses
ema eingegangen werden als aus einer makroskopischen Perspektive – es sollen schließlich nur
die wichtigen Grundzüge der Entwicklung des Begriffs der Armut nachgezeichnet werden. Siehe
für den europäischen Raum zur Übersicht: Bolkestein, Wohltätigkeit und Armenpflege im vor-
christlichen Altertum, S, 181f. [dort interessant: die griechische Kennzeichnung der Armen als
diejenigen, die zum Lebensunterhalt arbeiten müssen]; Prell, Sozialökonomische Untersuchungen
zur Armut im antiken Rom; Alföldy, Römische Sozialgeschichte, S. 172f.; Mollat, e Poor in the
Middle Ages; Flood, Art. ‚Armut‘. Außereuropäische Gesellschaften sind in dieser Hinsicht auf-
grund einer schlechten Quellenlage bislang kaum untersucht worden, selbst große Kulturräume
wie der des Islam stehen erst seit der Jahrtausendwende im Fokus der Armutsforschung: siehe da-
zu die Fußnote 79. Afrika ist ema der historischen Armutsforschung nur mit seinen nördlichen
Kontinentteilen, weil dort Christentum und Islam den Kulturraum bestimmten. Vgl. für Afrika
auch: Tevoedjré, Poverty; Palmer; Parsons, e Roots of Rural Poverty in Central and Southern Af-
rica für einen Fokus auf die letzten zweihundert Jahre der afrikanischen Agrarwirtschaft; Außer-
dem auch: Iliffe, e African Poor. Lateinamerika kommt vor allem als Ausbeutungsobjekt euro-
päischer Mächte in den Blick, vgl. Beaudoin, Poverty in World History, S. 40f.; Gutiérrez, e
Power of the Poor in History. Für Asien vgl. Singh, Social Work Perspectives on Poverty; Gulati,
Profiles in Female Poverty; Richter, ‘Die Wahrnehmung von Armut im Alten China’ [dort mit ei-
nem interessanten Blickwinkel auf die innerchinesische anthropologische Begründung für indivi-
duelle Armut]. Für eine Untersuchung der moralphilosophischen Auseinandersetzungen der un-
terschiedlichen Religionen mit menschlicher Armut siehe: Galston; Hoffenberg, Poverty and Mo-
rality.
68
Hier geht es um eine generelle quantitative Einordnung über die verfügbaren Mittel. Wie der
anthropological turn in den 1960er Jahren deutlich macht, ist davon das soziale Selbstverständnis
der Urgruppen zu trennen. Bereits für die Frühzeit kultureller Entwicklung ist die soziale Logik
des Umgangs mit der Natur in Anschlag zu bringen, kann dann bereits zur Proklamation einer
‚ursprünglichen Überflussgesellschaft‘ führen, die Marshall Sahlins bereits 1968 entwirft. Vgl.
Sahlins, ‘La première société d'abondance’, S. 641-680.
69
Metz, Geschichte der sozialen Sicherheit, S. 13.
46 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

vielleicht schon im nächsten Jahr schlechte Ernten für Hungersnöte, denn „[d]ie
Biologie der Fortpflanzung war von der Biologie der Nahrung abhängig.“ 70 Zwar
konnte durch weitere Kulturleistungen zur Naturbeherrschung – etwa durch die
Bündelung größerer Bevölkerungsgruppen mit verschiedenartigen technischen
Fähigkeiten in der Stadt, welche ein ausgeklügeltes System der Vorratshaltung
ermöglichte – erreicht werden, dass der Einfluss der Natur mit steigender kultu-
reller Entwicklungshöhe immer stärker gemildert werden konnte. Doch führte
bereits die durch diese Systeme notwendig gewordene technische Spezialisierung
eines Teils der Bevölkerung und ihre Kenntnis von Techniken der Naturbeherr-
schung als Expertenwissen zu einer sozialen Diversifikation, die den Zusammen-
halt der vormals quasi-egalitären Urgesellschaften aufsprengen musste. Das zuvor
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

auf reziproker Hilfe beruhende System der gegenseitigen Solidarität wandelte sich
zu Gesellschaften, in denen die technischen und sozialen Fähigkeiten einzelner
zur Aufrechterhaltung der Kultur wichtiger werden als der frühere Zustand ge-
ringerer Kenntnisse aller. Der besseren Überlebenschance einer kleineren Elite
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

steht deshalb bald die prekär bleibende Situation der Armut vieler gegenüber, die
jedoch nicht gegen ihre Situation aufbegehren können – die Zukunft bleibt eine
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

stets ungewisse, nur die Vergangenheit bietet durch das bereits Erlebte Sicherheit:
„Der Hunger, die Furcht vor dem Verhungern wirft den Menschen auf die
Ohnmacht zurück, der er als Hoffnung nur die Religion entgegen zu stellen ver-
mag“ 71; die Umstände des Überlebens verbleiben als Gnade außerhalb menschli-
cher Verfügungsmacht.
Diese gesellschaftliche Aufscheidung bildete auch das soziale Grundmuster in
der Antike. Die Armen, Sklaven und Besitzlosen stellen die deutliche Mehrheit in
den Gesellschaften des Altertums, weswegen sie von den Besitzenden und Mäch-
tigen nicht als Teile des Gesellschaftsganzen ausgeblendet werden können. Ihre
Arbeitskraft, richtiger: die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft blieb notwendige öko-
nomische Voraussetzung für das Funktionieren der Stadtgesellschaften, respektive
der Staatsgemeinschaft. Verstand sich die Gesellschaft dezidiert als civitas, er-
wuchsen den Armen in der Gemeinschaft der Bürger mindestens grundlegende
Bürgerrechte, aber auch Pflichten wie etwa der Kriegsdienst. Der enge soziale Zu-
sammenhalt, auch als Selbstidentifikation gegenüber anderen Gemeinschaften,
setzte die Unterstützung der Armen als Aufgabe der gesamten civitas voraus. Bet-
telei von Mitbürgern musste deshalb umgekehrt als politische Schande aufgefasst
werden, als Versagen des im civitas-Gedanken doktrinär gewordenen idealisierten
Zusammenschlusses der Bürger zur Steigerung der Überlebenschance aller, die
der einzelne Bürger umgekehrt nicht gehabt hätte. 72
Verstand sich die Gemeinschaft hingegen von oben her als hierarchisch durch-
geordnete Sozialstruktur, dann wurde der Arme als Herd anarchischer und sozial-
revolutionärer Tendenzen gedeutet, als durch „Geschenke und Drohungen per-

70
Ebd.
71
Ebd., S. 14.
72
Ebd.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 47

manent zu pazifierendes Wesen“ 73. Die Gesellschaft gründete sich in diesem Bild
nicht auf der Grundlage gemeinsamer Zielsetzungen, sondern ist machtregulativ
durchherrscht von der kleinen Kaste der Potentaten und ihrer Familien, die aus-
schließlich an der Sicherung ihrer Macht und der Erweiterung ihrer Herrschafts-
zone interessiert sind. Beide Modellen überschnitten sich vielfältig im klassischen
Griechenland und im römischen Reich und erklären die Gleichzeitigkeit von ei-
nerseits Getreidezuteilungen an die Armen und andererseits die Spottreden der
Gebildeten auf die Armen, die eine Beteiligung an Grund und Boden zwar for-
derten, aber doch auf keiner rechtlichen oder sozial akzeptierten Grundlage ver-
langen durften. 74
Waren diese Deutungen der Armut bestimmt durch die Perspektive der Ge-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

samtgesellschaft, bzw. derjenige der herrschenden Eliten, setzte sich für Europa
durch das Christentum eine andere Lesart der Armut in den Vordergrund. Die
bisher durchgängig negativ konnotierten Begriffe Armut und Arbeit wurden
durch Christentum und das darin enthaltene Erbe des Judentums einer weitrei-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

chenden Umwertung unterworfen und in ein vorher unbekanntes Spannungsver-


hältnis zueinander gesetzt. 75 Der Neuansatz in der Deutung der Armut geht in
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

schöpfungstheologischem Horizont einerseits auf die Genesiserzählung zurück,


andererseits auf die Hochschätzung der Armut, die Jesus von Nazareth in Wort
und Werk verkündigte.
In der Genesiserzählung von der Vertreibung aus dem Paradies wird Armut als
existenzielles Zeichen des menschlichen Daseins und damit als anthropologisches
Essentiale eingeführt. Mensch zu sein bedeutet in ganz fundamentaler Weise, den
Ackerboden unter Schmerzen und im Schweiße des Angesichts bestellen zu müs-
sen. Diese Last muss der Mensch würdig ertragen, und sie auf sich zu nehmen
heißt, sich Gott und seiner Schöpfung zu unterwerfen. 76 Armut und Arbeit erhal-

73
Ebd.
74
Ebd., S. 15.
75
Vgl. Oexle, ‚Stände und Gruppen‘, S. 43. Vgl. auch: Oexle, ‚Arbeit, Armut, ‚Stand‘ im Mittelal-
ter‘.
76
Bezeichnend hierfür ist der im Alten Testament geschilderte Umgang mit den Armen, bzw. die
gesetzmäßig festgehaltenen sozialen Entlastungsfunktionen für die Armen, die auf die schöp-
fungstheologische Begründung zurückzuführen sind. In der Selbstreflexion des Volkes Israel auf
sich selbst wird die Erfahrung, dass Gott ein armes und versklavtes Volk befreite als solidarische
Handlung an den Armen gedeutet. Im Buch Exodus findet dies einen zentralen Niederschlag,
nämlich in der Proklamation des Sabbatjahres durch Gott: „Sechs Jahre sollst du dein Land besä-
en und seine Früchte einsammeln. Aber im siebenten Jahr sollst du es ruhen und liegen lassen,
dass die Armen unter deinem Volk davon essen“ (Ex 23,10-11). Im 5. Buch Mose 14,22-29 wird
darüber hinaus die Abgabe des Zehnten geregelt, von dem ein Anteil zur Armenfürsorge genutzt
werden soll. Später ermahnen die Propheten immer wieder zur Rücksicht gegenüber den Armen,
so zum Beispiel der Prophet Amos: „Höret dies, die ihr die Armen unterdrückt und die Elenden
im Lande zugrunde richtet“ (Am 8,4). Dabei wurde Armut jedoch nicht glorifziert: wie Spr 6,10-
11 zeigt, sondern ist dann zu kritisieren, wenn sie auf Faulheit beruht: „Ja, schlafe noch ein we-
nig, schlummre ein wenig, schlage die Hände ineinander ein wenig, dass du schläfst, so wird dich
die Armut übereilen wie ein Räuber und der Mangel wie ein gewappneter Mann.“ Dass Gott den
Armen stets beisteht, ist ein weiterer Topos, der beispielhaft von Jesaja gerühmt wird: „Die Elen-
den und Armen suchen Wasser, und es ist nichts da, ihre Zunge verdorrt vor Durst. Aber ich, der
48 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

ten dadurch einen Sinnzusammenhang, der in der Antike auf Unverständnis sto-
ßen musste: Arbeit wurde von den Sklaven erledigt und Armut verhinderte, sich
zum wirklichen Menschen entwickeln zu können, der sich mit Muße und in
Freiheit seinen Geschäften widmen darf. Jesus von Nazareth zeigte bereits durch
seinen Umgang mit den Armen und seine in den Evangelien immer wieder ge-
schilderten Zeichen der Solidarität seine besondere Wertschätzung für sie, und in
seiner Auseinandersetzung mit ihren Problemen legt er dar, warum ihr Status so-
teriologisch vorrangig vor dem der Reichen ist. In seinen Reden und Gleichnissen
nimmt er auf Gott stets als einen Anwalt der Armen Bezug. Deutlich wird dies
bereits an der Tatsache, dass es im Lukas-Evangelium in einem Fünftel aller Verse
um die Auseinandersetzung Jesu mit Geld und Besitz geht und seiner Botschaft
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

nach der rechte Umgang mit Vermögen nur in der Armenfürsorge liegen kann.
Beide Perspektiven – der schöpfungstheologisch-anthropologische und der je-
suanische – auf die Armut mussten in Konsequenz zu zwei verschiedenen Zu-
gangsweisen des europäischen Christentums auf Armut führen: es wurden die
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Armen verachtet, die sich der Arbeit grundsätzlich verweigerten und sich damit
dem menschlichem Schöpfungsauftrag entzogen, aber umgekehrt wurde eine
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Form der Armut hochgeschätzt, die in der Nachfolge Jesu Christi vollzogen wur-
de – nämlich als Absage an materiellen Genuss und dagegen eine ganzheitliche
Hingabe an Gott durch Taten der Nächstenliebe. 77 Beide Positionen lassen sich
bereits in den paulinischen Schriften ausgearbeitet vorfinden. So fordert Paulus
für die Armen einerseits Hilfe, die er aus dem Liebesgebot der christlichen Ge-
meinden ableitet, andererseits bezieht er aber klar Stellung gegen Müßiggänger
mit dem berühmt gewordenen Satz: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht es-
sen“ (es 3,1-15). 78
Diese Zweipoligkeit des Armutsbegriffs zeigte sich in gereifter Form im aus-
nehmend christlich geprägten, europäischen Mittelalter, in dem diese zwei Be-
deutungsformen der Armut weiterentwickelt wurden zu zwei korrespondierenden
Lebensweisen in der Armut, nämlich freiwilliger und unfreiwilliger Armut. 79 Die

HERR, will sie erhören; ich, der Gott Israels, will sie nicht verlassen.“ (Jes 41,17). Vgl. für diese
Beispiele Brandscheidt, Art. ‚Zehnt‘, S. 1394-1398.
77
Vgl. Metz, Geschichte der sozialen Sicherheit, S. 18.
78
Für die vieldimensionalen Entwicklungen des Armutsbegriffes in der urchristlichen Kirche kann
an dieser Stelle kein Platz sein. Verwiesen sei für einen umfassenden Überblick auf: Flood, Art.
‚Armut‘, § V. Siehe auch: Oexle, ‚Arbeit, Armut, ‚Stand‘ im Mittelalter‘, S. 68-72.
79
Der Islam kannte und kennt auch heute noch eine ähnliche Unterscheidung, und ähnlich wie im
christlichen Mittelalter blieb die Rolle der spirituellen Armut nicht unumstritten. Adam Abdel-
hamid Sabra hält fest, dass „some thinkers gave poverty an important role in their spirituality,
others were much more cautious in their evaluations of the holy poor”. Auch der Umgang mit
den materiell Armen war von dieser ambivalenten Haltung geprägt: „On the one hand, the poor
were despised and even feared by the upper classes. On the other, they were thought to hold a
special spiritual status, and one who gave them alms could expect to be rewarded for his actions.”
Oft wurden die Herrscher von den geistigen Führern für die Unterstützung der Armen verant-
wortlich gemacht; sie kamen dieser Verantwortung nach, indem sie entweder Teile der Lebens-
mittel, über die sie als mächtige Landbesitzer verfügten, an die Armen gaben oder Landbesitz in
Stiftungen (die sog. waqf) übereigneten, die dann wohfahrtliche Dienste bereitstellten. Vgl. Sab-
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 49

Idee der freiwilligen Armut war durch die Kirchenväter im Rekurs auf die Berg-
predigt gewonnenen worden und wurde von ihnen so ausgedeutet, dass nur der
„wahrhaft Arme Gott nahe sei“ 80. Es galt nicht Armut um der Armut willen, son-
dern Armut um der Nähe Gottes willen, um nicht abgelenkt durch irdischen Be-
sitz seinen Glauben leben zu können; deswegen wurden von den Idealen der
freiwilligen Armut materialistische Haltungen und der Gier nach Besitz scharf
abgegrenzt: wer danach strebte, konnte kein Heil erwarten. Unfreiwillige Armut
war hingegen das Los der großen Masse von Menschen, die sich aufgrund von
Mittellosigkeit, körperlicher Gebrechen oder aufgrund fehlenden familiären
Rückhalts keine kontinuierlich gesicherte Subsistenz in der mittelalterlichen Ge-
sellschaft sichern konnten. 81
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Auch wenn diese beide Formen der Armut vordergründig nichts miteinander
gemein haben und auch ihrem Inhalt nach streng voneinander geschieden werden
müssen, gab es in der mittelalterlichen Welt trotzdem vielfältige Überschneidun-
gen, vor allem dort, wo es um die Sicherung der materiellen Grundlagen der
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

menschlichen Existenz ging: „Die Armen drängten zu den Klosterpforten, um


von den pauperes Christi Brot zu bekommen. Sie bettelten an den Stadttoren, wo
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

sich auch oft die Niederlassungen der Bettelorden fanden.“ 82 Die unfreiwillig
Armen waren aber, das ist deutlich zu sagen, noch umfassend in das Gesell-
schaftsganze integriert, und konnten an die Bessergestellten Ansprüche zur karita-
tiven Unterstützung stellen, da die Unterstützung der Mittellosen und Ärmsten
als christliche Pflicht zur Erlangung des Heils galt.
Im Spätmittelalter fand dieses Verhältnis von Armut und Normalgesellschaft
in einer integrierten Gesellschaft allerdings ein langsames Ende, denn am Hori-
zont begannen sich die Frühformen der Neuzeit abzuzeichnen. Damit einher
ging die Entwicklung der Wirtschaft zu einem modernen, eigennutzorientierten
marktwirtschaftlichen Modell, in dessen Gefolge sich die Frage nach der Stellung
der Armen in der Gesellschaft verschärft stellte. Beide Entwicklungen, Neuzeit
und komplementär zur Neuzeit sich entwickelnde marktwirtschaftliche Wirt-
schaftsform, sind für einen neuen Typus von Armut verantwortlich. Durch das
Neuerstarken der Städte als eigenständige Macht- und Handelszentren und den
Beginn der Entwicklung moderner Geld- und Warenwirtschaft bilden sich frühe
industrielle Zentren, in denen die neue Lebensform der Lohnarbeiterschaft ent-
steht. Mit der gesteigerten wirtschaftlichen Entwicklung geht in Europa ebenso

ra, Poverty and Charity in Medieval Islam, S. 2-5. Obgleich es in der islamischen Welt kein arabi-
sches Wort für Mildtätigkeit gibt, kannte und kennt der Muslim verschiedene Praktiken, die der
Mildtätigkeit nahekommen. Neben der zakat, der Almosensteuer, gibt es die sadaqa, die freiwillig
gegebenen Almosen. Zakat ist eine der fünf Säulen des Islam und als solche die Pflicht jedes
Gläubigen. Wer ihre Zahlung verweigert, gilt als Apostat. Der Islam kennt dadurch sowohl indi-
viduelle Formen der Armenhilfe (sadaqa), institutionalisierte Armenhilfe (waqf), und Mischfor-
men aus beiden (zakat). Vgl. Sabra, Art. ‘Charity, Islamic’.
80
Vgl. Flood, Art. ‚Armut‘, § VI.
81
Vgl. Mollat, e Poor in the Middle Ages.
82
Flood, Art. ‚Armut‘, § VI.
50 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

eine Bevölkerungsexplosion einher, die letzte Reste des integrierten civitas-


Gefüges des Altertums auflöst.
In der zu neuen Größe erblühenden europäischen Stadt kamen durch diese
Entwicklungen Reichtum und Armut auf engem Raum zusammen; das machte
zwar einerseits neue Formen der Armenhilfe möglich, unterminierte aber ande-
rerseits letzte Reste des Gefüges der mittelalterlichen Ständegesellschaft durch die
Gefahr sozialer Unruhen. Nicht mehr Natural- und Tauschwirtschaft, sondern
die Geldwirtschaft bestimmte nun den Markt, und die vormals auf Almosen be-
ruhende, nur wenig institutionalisierte Armenhilfe konnte allein schon wegen der
Vielzahl der in die Städte drängenden Armen nicht mehr aufrechterhalten wer-
den. Taglöhner und Bedürftige, für die das starre soziale Regelwerk der Stände
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

nicht galt, waren als Zugehörige der unteren Schichten ständig mit der Armut
konfrontiert. Weil im Spätmittelalter durch Hungersnöte, Kriege und eine Reihe
von Naturkatastrophen viele Menschen gezwungen waren, ihre Heimat zu verlas-
sen, verstärkte dies europaübergreifend die Bildung einer Armenschicht. Zur
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Linderung der Not kam es in der Folge zur Gründung zahlreicher klösterlicher,
städtischer und bürgerlicher Hilfseinrichtungen, die von den Zeitgenossen als
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Zeugnisse eines neu erstarkten christlichen Solidaritätsbewußtseins intendiert wa-


ren. Die Naturkatastrophen, Kriege und Seuchen des Spätmittelalters führten
den Menschen jedoch ebenso deutlich vor Augen, dass die Armut der Volksmasse
nicht allein ein unabänderliches göttliches Schicksal sein konnte, sondern dem
unglücklichen Zusammentreffen verschiedener äußerer Faktoren geschuldet sein
musste. Faktoren, deren Einflüsse durch Menschenhand wenn nicht aufgehoben
dann doch zumindest aktiv und verantwortlich gelindert werden konnten.
Im Ausgang des Mittelalters, über die Renaissance bis in die frühe Neuzeit
nahm die Masse der Armen allerdings durch die zerstörerischen Auswirkungen
von Seuchen und die fortwährenden Kriege so stark zu, dass sowohl die neube-
gründeten als auch die von alters her bestehenden Fürsorgeeinrichtungen nicht
mehr in ausreichendem Maße helfen konnten. In der Folge wurden die Armen
nun zunehmend als Bedrohung der Gesellschaft wahrgenommen, weil ihre Un-
terstützung mit Almosen allein durch die schiere Masse der Hilfsbedürftigen als
große Gefahr für die Versorgung der Gesamtgesellschaft erscheinen musste. 83
Deshalb wurde in der europäischen Neuzeit als Kontrast zur verstärkt einsetzen-
den wirtschaftlichen Weiterentwicklung der Normalgesellschaft Armut immer
stärker als Ergebnis persönlichen Fehlverhaltens gedeutet und Armut insgesamt
als moralisches Problem für die Gesamtgesellschaft konnotiert. 84
Beide Tendenzen der Deutung von Armut – Armut als unglückliches Zusam-
mentreffen komplexer Faktoren und Armut als Gefährdung der Gesellschaft – er-
hielten sich bis in die Moderne und prägten insbesondere die frühen Soziologen

83
Vgl. ebd., außerdem auch Schmidt, Arme und ihre Lebensperspektiven in der frühen Neuzeit.
84
Vgl. Schäfer, ‚Geschichte der Armut im abendländischen Kulturkreis‘. So auch schon: Polanyi,
e Great Transformation, S. 147.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 51

und deren Auseinandersetzung mit dem Problem des Pauperismus. 85 Alexis de


Tocqueville, der eine – das Original ist verschollen – ‚Denkschrift über den Pau-
perismus’ verfasste, artikuliert schon 1835 einen weitgehend kulturalistisch-
relativen Standpunkt bei seiner Einordnung der Armutsphänomene. So hält er
fest, dass man bei der Betrachtung der verschiedenen Länder über ein „sehr un-
gewöhnliches und anscheinend unerklärliches Schauspiel [ins Staunen gerät,
M. H.]. Die Länder, die am meisten vom Elend betroffen zu sein scheinen, zäh-
len in Wirklichkeit die wenigsten Bedürftigen, und bei den Völkern, deren
Reichtum Sie bewundern, braucht ein Teil der Bevölkerung, um leben zu kön-
nen, die Unterstützung der anderen.“ 86 Die Lösung dieses merkwürdigen Rätsels
liegt für Tocqueville im Wort Bedürfnis: in denjenigen armen Ländern, in denen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

die Gesamtbevölkerung gleichermaßen arm ist, gibt es keine Menschen – oder


zumindest nur wenige –, deren materielle Lage sich so scharf von der anderer un-
terscheidet, dass von deutlicher Ungleichheit zu sprechen wäre. Die Armut exis-
tiert insofern nicht in diesen Ländern als soziales Problem, sondern erst dann,
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

wenn man die Lebensumstände der Betroffenen „auf ein anderes Universum von
Bedürfnissen bezieht, das sich permanent verändert und deshalb keinen absoluten
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Bezugspunkt darstellen kann.“ 87


Tocqueville sieht neben dieser scharfsinnigen Beobachtung aber auch, dass ein
Recht der Bedürftigen auf Unterstützung durch die Gesellschaft problematisch
sein könnte. Er fragt sich nämlich, was der „Gewinn des Anrechts sonst sein
[kann], als die rechtskräftige Festschreibung des Elends, der Bedürftigkeit und
der Unzucht desjenigen, der es erhielt?“ Denn das Recht auf Unterstützung „hebt
seine Abhängigkeit [des Armen, M. H.] hervor und bestätigt sie amtlich.“ 88 Diese
Intuition Tocquevilles war ein gängiger Topos besonders in England, wo die
staatliche Unterstützung der Armen als Gefahr für die Manufakturen und priva-
ten Unternehmungen gesehen wurde, insofern Arme nicht mehr für Lohn arbei-
ten würden, wenn sie einmal Unterstützung bekommen hätten. 89 Tocqueville
formuliert außerdem Bedenken, dass der Arme durch die Inanspruchnahme sei-
nes Rechts auf Unterstützung letztlich in seinen Status als Armer einwilligt; noch
nicht im Blick hat er allerdings die Veränderungen, die dieses Abhängigkeitsver-
hältnis auf die Persönlichkeit des Armen erwirken wird, indem sie ihn sozial de-
mütigt und disqualifiziert.
Auch Marx beschäftigt sich bekanntermaßen bereits in seiner Frühphase aus-
führlich mit den gesellschaftlichen Ursachen der Armut, und in seinem Haupt-
werk ‚Das Kapital‘ stellt er insbesondere seine theoriegeleitete Idee der industriel-
len Reservearmee vor, die im Takt der an- und abschwellenden wirtschaftlichen

85
Für eine eher allgemeine Übersicht, die auch zahlreiche Ausführungen zu den konfessionellen
Armutsdiskursen enthält, vgl. Schneider, Konfessionelle Armutsdiskurse und Armenfürsorgeprakti-
ken im langen 19. Jahrhundert.
86
Toqueville, ‚Denkschrift über den Pauperismus‘, S. 61.
87
Paugam, Die elementaren Formen der Armut, S. 34.
88
Toqueville, ‚Denkschrift über den Pauperismus‘, S. 73.
89
Siehe dazu die zeitgenössischen Beispiele in Polanyi, e Great Transformation, S. 154f.
52 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

Zyklen Arme an die Industrien als Arbeiter abgibt und wieder aufnimmt. Diese
Armee ist für Marx notwendiger Bestandteil des kapitalistisch-industriellen Sys-
tems, indem sie als ‚Vorratslager‘ industrieller Arbeiter dient; jedoch findet sich
unterhalb dieser Reservearmee noch eine weitere Stufe von Armut, nämlich das
von Marx so genannte Lumpenproletariat, das Heimatlose, Arbeitsunfähige,
Kranke, Verbrecher und Prostituierte umfasst. Diese Armen sind „das Invaliden-
haus der aktiven Arbeiterarmee und das tote Gewicht der industriellen Reserve-
armee“ 90, also mithin untrennbar mit den mit der Industrialisierung aufbrechen-
den Verwerfungen der Sozialstrukturen verbunden; moderne Armut ist damit für
Marx das Ergebnis des auf industrieller Massenarbeit beruhenden kapitalistischen
Systems, sie ist die für wirtschaftliches Arbeiten inhärent notwendige Schattenseite
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

des industriellen Fortschritts, der durch die Ausbeutung der Massen als Bestand-
teil seiner Wirkungsweise systemimmanent einen Bodensatz an Menschen im
Elend zurücklässt. Armut ist mit der Marx’schen Einbettung in eine umfassende
makroökonomische Analyse und der Identifikation der institutionellen Ursachen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

(das kapitalistische Wirtschaftssystem) nun nicht mehr nur als soziales und eigen-
verantwortetes Schicksal des Einzelnen gedeutet. Die Wirtschaftsordnung des
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Kapitalismus selbst ist es – laut Marx – die in umfassender Weise verantwortlich


für das Schicksal der Menschen ist, die sich seinem Einfluss deshalb auch nicht
entziehen oder widersetzen können.
Tocqueville und Marx identifizieren damit jeder auf seine Weise die Industria-
lisierung als Ursprungspunkt einer Armut neuen Typs. Während Tocqueville die
soziale und politische Abhängigkeit der Armen hervorhebt und sie als Opfer eines
Zivilisationsprozesses begreift, der eine ganze Schicht in eine prekäre Situation
am unteren und marginalisierten Ende der Gesellschaft hinabwürdigt, stehen für
Marx Ausbeutung und die Ungleichverteilung des Eigentums am Ursprung der
gleichsam industrialisierten Armut. 91

C.1.b Exkurs: Die ‚vorrangige Option für die Armen‘ als Resultat des
christlichen Armutsverständnisses

Im Rahmen des neuzeitlichen Verständnisses der Armut als Ergebnis von gesell-
schaftlich-ökonomischen Strukturen wurde auch eine spezifisch christliche Per-
spektive auf Armut entwickelt, die in sozialethischer Hinsicht das kritische Kon-
zept einer ‚vorrangigen Option für die Armen‘ hervorbrachte. Jene Perspektive, in
der lateinamerikanischen Kirche der 1960er und 1970er Jahre im Kontext der
‚eologie der Befreiung‘ entstanden, weist zwei distinkte Wurzeln auf: (1) La-
teinamerika war auch nach dem Ende der Kolonialzeit von äußerst scharfen Ge-
gensätzen von Armut und Reichtum geprägt, und die wirtschaftlichen Hoffnun-
gen der lateinamerikanischen Gesellschaften, die mit der Dekolonisation verbun-

90
Marx, MEW 23, S. 673.
91
Vgl. Paugam, Die elementaren Formen der Armut, S. 51.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 53

den waren, erfüllten sich für die Ärmsten weitgehend nicht. Die Ausbeutungs-
strukturen, die teilweise Ergebnis der Kolonialzeit, aber auch noch früheren Ur-
sprungs waren, bestanden fort und waren die Ursache für eine harte und raue so-
ziale Realität, die vom weit überwiegenden Teil der Bevölkerungen als in höchs-
tem Maße ungerecht empfunden wurden. (2) Durch das ‚aggiornamento‘ als the-
ologischem Grundthema des zweiten vatikanischen Konzils strahlten Impulse
nach Lateinamerika, die von der dortigen Kirche als Motivation aufgefasst wur-
den, sich eingehender und vor allem in kritischer Absicht mit der sie umgeben-
den sozialen Realität zu befassen, bzw. auch die eigene Rolle und die Verstri-
ckungen mit den Eliten kritisch zu hinterfragen. 92
Während der Bischofskonferenz in Medellín im Jahre 1968 wurden auf der
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Grundlage dieser kritischen Analyse nun besonders die sozialen Strukturen her-
ausgehoben, die für die bestehende gesellschaftliche Ungerechtigkeit als verant-
wortlich angesehen wurden: Zur Sprache kommt im Abschlussdokument das
Ausbeutungsverhältnis zwischen Reichen und Armen, und erstere werden ange-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

klagt, alles in ihrer Macht stehende zu tun, dass sich an diesem prekären Verhält-
nis von reich und arm nichts ändert. Das neue Bewusstsein der Armen für die
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Ungerechtigkeit ihrer Lebenssituation muss aber nun, so das Schlussdokument,


dazu führen, dass bestehende gesellschaftliche Systeme sozusagen ‚von unten‘ da-
rauf überprüfbar werden, ob sie basalen Gerechtigkeitsansprüchen über alle
Schichten hinweg gerecht werden können. Es geht also um die Entwicklung eines
Perspektivwechsels, der die gesellschaftlichen Strukturen aus der Sicht der Armen
kritisch überprüfbar macht. Eine Gesellschaft kann dann aber nicht als gerecht
gelten, wenn sie eine maximale Akkumulation von Reichtümern für die Eliten
ermöglicht, nicht aber die Bedürfnisse und die Hilflosigkeit der Armen berück-
sichtigt. 93
Der Problematisierung der gesellschaftlichen Strukturen entspricht im
Schlussdokument ein dreiteiliger Armutsbegriff, der die traditionellen Elemente
der christlichen Armutstypen aufnimmt, und jene mit sozialethischen Überle-
gungen in einen kritischen Kontext stellt. Armut ist (1) primär ein Mangel an
Gütern, der zumeist seine Ursache im ungerechten Verhalten der Menschen ge-
geneinander, bzw. in den ungerechten Strukturen hat. Dann gibt es (2) die geisti-
ge Armut, die sich durch einen autonomen Verzicht auf die materiellen Güter
auszeichnet und alles von Gott her und seinem Reich erwartet. Außerdem spricht
das Schlussdokument (3) von der Armut als Engagement: wer sich selbstbestimmt
in Armut begibt, kann dadurch einerseits das Übel der Armut seinen Mitmen-
schen demonstrativ vor Augen führen, andererseits sich selbst aber auch eine hohe
geistige Freiheit gegenüber den materiellen Gütern bewahren. Eingebettet ist die-
92
Vgl. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen, S. 151f., vgl. auch: Boff; Pixley, Die Option für die
Armen. Siehe hierzu generell die Originaldokumente von Medellín und Puebla: Bischöfliche Ak-
tion Adveniat, Sämtliche Beschlüsse der II. Generalkonferenz des lateinamerikanischen Episkopats in
Medellín; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Die Evangelisierung Lateinamerikas in Ge-
genwart und Zukunft.
93
Vgl. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen, S. 154.
54 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

ses Armutsverständnis in eine Christologie, in der die Menschwerdung Jesu


Christi als Armer, der sich selbst vorrangig an die Armen wendet, so gedeutet
wird, dass darin einerseits das Übel der Armut deutlich vor Augen geführt wird,
andererseits aber auch im Vorbild Jesu ein Paternalismus ausgeschlossen wird, der
die Armen als bloße Objekte der Hilfe ansieht. 94
Mit diesem christologischen Verständnis kommt die Bischofskonferenz in
Medellín insgesamt zum Ergebnis, dass eine sich als karitativer Akt verstehende
Hilfe nicht dazu geeignet sein kann, die Ursache der bestehenden gesellschaftli-
chen Ungerechtigkeit anzugreifen, weil dadurch nur den Opfern der Ungerech-
tigkeit geholfen wird, die systemisch-strukturellen Hintergründe der Armut aber
nicht berücksichtigt werden. Hingegen sind solche strukturellen Veränderungen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

als notwendig auszuweisen, die den Menschen als freies und verantwortliches
Wesen im Blick haben, wodurch gleichermaßen ein Paternalismus vermieden
wird, der die Armen ausschließlich als Empfänger karitativer Hilfe wahrnimmt.
Die strukturellen Änderungen können aber eben auch nur dann als gerecht gel-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ten, wenn sie auch aus der Perspektive der Armen für das Wohlergehen jedes
Menschen sorgen können. 95 Da das Engagement für die Armen, so arbeitet das
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Schlussdokument heraus, durch die darin zum Ausdruck kommende Nachfolge


Jesu Christi ein zentraler Bestandteil des christlichen Glaubens ist, ergeben sich
daraus auch weitreichende Konsequenzen für die Verfassung der Kirche, die sich
als Kirche der Armen und als Kirche für die Armen verstehen muss. 96 Es ist in
letzter Konsequenz die gesamte christliche Kirche mit allen ihren Gliedern, die
sich der hermeneutischen Perspektive der Armen und der Armut unterwerfen
muss, um dem ihr durch Christus gestellten Auftrag gerecht zu werden. 97 Die
‚Option für die Armen‘ hat dadurch einen theologischen Perspektivenwechsel zur
Folge, der letztlich auf praktische Veränderungen in dieser Welt zielt. Arme dür-
fen nicht länger auf das Jenseits vertröstet werden, sondern die Verbesserung ihrer
Lebenslage muss bereits in dieser Welt vorrangiges Ziel der Kirche sein. Durch
das zugrundeliegende christologische Verständnis der Option für die Armen wird
diese Verbesserung allerdings nicht einseitig-paternalistisch durchstimmt sein
können, sondern nur partizipativ-partnerschaftlich, im kontinuierlichen Dialog
mit den Armen. Indem sich die Kirche in dieser Welt für die Armen und allge-
meiner durch den Kampf für die Verbesserung der Strukturen für das Gemein-
wohl einsetzt, wirkt sie dadurch auch politisch: die Befreiung der äußeren Zwän-
ge zeichnet in dieser Hinsicht die Befreiung durch Jesus Christus nach. 98
Das Konzept einer ‚vorrangigen Option für die Armen‘ wird anschließend
durch das Abschlussdokument der Bischofskonferenz von Puebla im Jahr 1979
explizit, und vom in Medellín entwickelten Verständnis ausgehend, mit Inhalt
gefüllt. Auch in Puebla weist die Bischofskonferenz, noch deutlicher als bis dahin,
94
Vgl. ebd., S. 155.
95
Vgl. hierzu Gutiérrez, Nachfolge Jesu und Option für die Armen, S. 40f.
96
Vgl. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen, S. 156.
97
Vgl. Fisch, Option für die Armen konkret, S. 157.
98
Vgl. Boff; Pixley, Die Option für die Armen, S. 235-239.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 55

auf die Ungerechtigkeit der die lateinamerikanischen Gesellschaften bestimmen-


den Machtstrukturen hin, und gesteht auch selbstkritisch kirchliche Versäumnis-
se bei der Umsetzung der in Medellín getroffenen Überlegungen zu. Sie schließt
sich außerdem der christologischen Einbettung des Armutsbegriffs an, die „die
Option für die Armen nicht in einer Ethik der Gebote verwurzelt, sondern in ei-
ner Inkarnationstheologie, die mit der Menschwerdung auch die Armwerdung
Gottes in Christus betont und so, eindringlicher als das in einer Gebotsethik
möglich wäre, die unlösliche Verbindung von Glaube an Gott und Option für
die Armen deutlich macht.“ 99 Vor allem mit der Deutung der Armut innerhalb
dieses christologischen Kontextes werden auch die Armen als autonome Subjekte
dargestellt, die weder romantisierend als Heilige, noch als an ihrer Lage selbstver-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

schuldet Beteiligte symbolisiert werden. Sie sind ganz normale Menschen mit al-
len Fehlern, weswegen die vorrangige Option für die Armen „nicht auf der mora-
lischen Dignität [beruht, M. H.], die sich die Armen erworben haben, sondern
allein auf der Tatsache, daß Gott in Christus selbst arm geworden ist und den
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Armen damit diese Dignität schon zugesprochen hat.“ 100 Mit diesem christolo-
gisch fundierten Verständnis einer ‚vorrangigen Option für die Armen‘ entwickelt
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

die Kirche freilich kein weltanschaulich neutrales Modell zur kritischen Überprü-
fung bestehender gesellschaftlicher Strukturen, die Armut hervorrufen und perpe-
tuieren, sondern sie entwickelt mit der ‚Option für die Armen‘ ein epistemologi-
sches Modell, mit dem der Wechsel in die Perspektive der Armen als notwendig
für die Einnahme eines kritischen Standpunktes zu den sozialen Strukturen aus-
gewiesen wird. Es bleibt allerdings fraglich, wie ein solcher Perspektivwechsel tat-
sächlich gelingen kann. Die erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten, die mit
dem Versuch eines solchen Wechsels einhergehen, werden in den nächsten Ab-
schnitten behandelt.

C.1.c Armut als gesellschaftliche Exklusion und dagegen integrierte Armut

Deutlich wird in der weiteren soziologischen Auseinandersetzung mit dem Phä-


nomen der Armut, insbesondere bei Simmel, dass das Begriffsfeld der Armut
richtigerweise nicht von einem externen Standpunkt her konstruiert werden
kann, sondern gesellschaftsintern entwickelt und zugeteilt wird. In seinem Essay
‚Der Arme’ schreibt Simmel, dass sich der Arme gerade dadurch als solcher kon-
stituiert, indem er die Unterstützung anderer annimmt, dadurch gleichsam in
seine Rolle schlüpft und Verhaltensweisen ausbildet, welche ihn wiederum für
andere als ‚Armer‘ kenntlich machen. 101 Dass also die Erfahrung der Armut nicht
99
Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen, S. 162.
100
Ebd.
101
Vgl. „Der Arme als soziologische Kategorie entsteht nicht durch ein bestimmtes Maß von Mangel
und Entbehrung, sondern dadurch, daß er Unterstützung erhält oder sie nach sozialen Normen
erhalten sollte. So ist nach dieser Richtung die Armut nicht an und für sich, als ein quantitativ
festzulegender Zustand zu bestimmen, sondern nur nach der sozialen Reaktion, die auf einen ge-
56 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

nur als ein schicksalhaft vorkommender Bestandteil der Lebenswelt gedeutet


wird, sondern dass Armut überhaupt und generell durch den Menschen als solche
konstruiert wird und damit auch durch ihn veränderbar ist, ist eine Sichtweise,
die erst in der Beschäftigung mit den Auswirkungen der Industrialisierung durch
Soziologen und Anthropologen geprägt worden ist. Paugam hält dazu in der Tra-
dition Simmels fest: „Jede Gesellschaft definiert ihre Armen und verleiht ihnen
einen eigenen sozialen Status, indem sie sich dafür entscheidet, sie zu unterstüt-
zen. Den soziologischen Untersuchungsgegenstand par excellence stellt also nicht
die Armut, stellen auch nicht die Armen an sich als substantialisierte gesellschaft-
liche Wirklichkeit dar, sondern das Unterstützungsverhältnis und damit die
wechselseitige Abhängigkeit zwischen ihnen und der Gesellschaft, der sie angehö-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ren.“ 102 Armut ist durch die anderen sozial konstruiert, und durch das soziale
Verhalten der anderen wird der Arme in seiner Selbsterfahrung als Armer rollen-
konformistisch konstituiert. 103
Diese ese ist jedoch in vielerlei Hinsicht voraussetzungsreich: sie geht von
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

einer Gesellschaft aus, die sich selbst als ganze versteht und in diesem Selbstver-
ständnis überhaupt erst die Voraussetzungen vorfindet, einzelne ihrer Mitglieder
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

einer bestimmten Gruppe zuzuordnen. Stärker noch ist aber die Voraussetzung
der gesellschaftlichen Unterstützung als Kennzeichen der Armut als gesellschaftliche
Konstruktion, denn dies setzt bereits mindestens grundlegende Sozialsysteme vo-
raus, seien sie individueller (in Form von Almosen) oder institutioneller (bspw.
Armenhäuser die eine Stadt unterhält) Natur. Dieses Unterstützungssystem kann
allerdings nur dort entstehen, wo es innerhalb einer Gesellschaft voneinander
differenzierte Schichten mit unterschiedlichem Einkommen gibt, materiale Un-
gleichheit also auch erst die Möglichkeit bietet, dass die Wohlhabenderen über-
haupt etwas an die Armen abgeben können. Es ist letztlich die vorgängige Exklu-
sion der Armen aus der Normalgesellschaft, die in den wohlhabenden Gesell-
schaften den Impetus erzeugt, Unterstützungsleistungen anbieten zu wollen.
Die Vorzeichen der extremen Armut in den ärmsten Ländern der Erde sind
dieser Analyse aber als grundlegend entgegengesetzt aufzufassen: die Armut dort
besteht nicht als soziale Konstruktion, als informiertes Werturteil einer ausdiffe-
renzierten und stratifizierten industriellen Gesellschaft, sondern hinsichtlich der
materiellen Ausstattung der Bürger als Normalzustand, die in die soziale Logik in
essentieller Weise eingebettet ist. Extreme Armut ist dort in der Gesellschaft inte-
griert, d. h. sie ist omnipräsent und betrifft alle Bürger – meist bis auf wenige
Ausnahmen, nämlich die Herrschereliten, das Militär, einige Großgrundbesitzer
und reiche Familien. Die Herrscherschicht in vielen der ärmsten Länder betreibt
zumeist eine ausgeprägte Klientelpolitik und ist weder am Aufbau funktionieren-
der Sozialsysteme noch an einer Befriedung der ethnischen Konflikte, die oft als

wissen Zustand hin eintritt – genau wie man das Verbrechen, dessen unmittelbare Begriffsbe-
stimmung eine sehr schwierige ist, definiert hat als ‚eine mit öffentlicher Strafe belegte Hand-
lung‘.“ Simmel, Soziologie, S. 371f.
102
Paugam, Die elementaren Formen der Armut, S. 14f.
103
Vgl. Tomasello, Warum wir kooperieren, S. 10f.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 57

Erbe früherer Kolonialherren durch willkürliche Grenzziehungen entstanden


sind, interessiert. Sie sind dort durch ihre Mittel und Möglichkeiten dem vom
Mangel geprägten Leben der Armen völlig enthoben, an deren Schicksal sie sich
auch nicht beteiligen. Oder es fehlen, z. B. in ressourcenarmen und infrastruktu-
rell benachteiligten Ländern, ganz einfach die ökonomischen Mittel, um selbst
minimale soziale Schutzmaßnahmen realisieren zu können.
Weil also in den ärmsten Ländern fast alle Einwohner als extrem arm zu be-
zeichnen sind, konnte es historisch und kann es gegenwärtig innerhalb ihrer Ge-
sellschaften gar nicht zu der sozial ausdifferenzierenden gegenseitigen Konstrukti-
on und Zuweisung gesellschaftlicher Rollen und der Annahme sozial konstituier-
ten Rollenverhaltens kommen, welche Paugam als generelles Schema von (indust-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

riell geprägten) sozialen Ordnungen beschreibt. In dieser Hinsicht ist das Famili-
ensystem, das den gesellschaftlichen Aufbau der ärmsten Länder bis heute prägt,
vielmehr als sozialer Reflex darauf zu verstehen, dass die Lebenssituation der Mit-
glieder des Familienverbands weitgehend gleich ist und dadurch hierarchische
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Ausdifferenzierungen innerhalb der Familie entbehrlich erscheinen. Innerfamiliä-


re Solidarität als notwendige Ausdrucksform gegenseitig geschuldeter Hilfe kenn-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

zeichnet dann den sozialen Kontext der Familienmitglieder und unterstützt


dadurch andere Entwicklungsformen – z. B. eine stärkere Individualisierung der
einzelnen Mitglieder – nicht.
Integrierte Armut zeigt sich als gesellschaftliche Normalsituation an einem Ort
und ist dadurch ein Alltagsphänomen. Weil integrierte Armut bei aller Schwere
ein konstanter Bestandteil des Lebens ist, empfinden Menschen in armen Län-
dern selbst lebensbedrohliche Armut häufig als weniger belastend, als arme Men-
schen, die in wohlhabenden Ländern leben. Da ihr Leben in vielerlei Hinsicht
den Lebensweisen der traditionalen oder archaischen Gesellschaften ähnelt, ist
selbst die Arbeitslosigkeit, die in den westlichen Ländern als eine wichtige Ursa-
che für Armut gilt, dort keine eigentliche Ursache von Armut, weil jeder ständig
„mit irgendetwas mehr oder weniger beschäftigt ist. Die tägliche, mühevolle Ar-
beit bildet das Fundament der Gruppenzugehörigkeit.“ 104 Aus diesem Umstand
folgt jedoch nicht, wie während der Kolonialzeit vor allem in den wohlhabenden
Ländern angenommen wurde, dass Armut historisch in Afrika nicht existent war,
ja sogar der Mythos vom „glücklichen Afrika“ verbreitet wurde, weil es keine
ökonomischen Unterschiede gegeben hätte, Güter frei verfügbar gewesen seien
und die Familien bedürftige Verwandte unterstützten. Diese Sichtweise wurde
zwar erstaunlicherweise mittlerweile sogar von der indigenen Bevölkerung über-
nommen:
„ere were no poor and rich; the haves helped those who were in want. No man
starved because he had no food; no child cried for milk because its parents did not

104
Paugam, Die elementaren Formen der Armut, S. 284.
58 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

have milk cows; no orphan and old person starved because there was nobody to
look after them. No, these things were unknown in ancient Bantu society“ 105,
aber in gewisser Weise spiegelt diese Aussage die Analyse Tocquevilles wieder,
dass nämlich Armut als soziales Konstrukt erst in der Genese unterschiedlicher
Bedürfnisniveaus – bei Tocqueville in spatialer, hier in temporaler Dimension –
erkennbar wird. Dementsprechend steht im Hintergrund dieser Beschreibung das
Bild einer Gesellschaft, die nur wenig bis überhaupt nicht stratifiziert ist, dadurch
auch keine subkulturellen Schichtungen aufweist, den Unterschied von Reichtum
und Armut schon allein dadurch nicht kennt, weil alles zum Leben notwendige
wegen einer harschen und unbarmherzigen Umwelt geteilt werden musste.
Integrierte Armut wird daher in diesen Gesellschaften normalerweise bedeu-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ten, dass selbst extreme Armut nur dann als besonderes Schicksal erfahren wird
und der Gesellschaft als Objekt erst dann als zu bewertendes Ereignis gegenüber-
tritt, wenn sie durch einmalige oder seltene Ereignisse auf besondere Weise mit
der Alltagserfahrung kontrastiert, bspw. in der Form von Jahrhundertdürren und
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

großen Hungersnöten. Die hohe Schwelle, die für eine solche Symbolwerdung
eines Ereignisses notwendig war, sorgte dementsprechend in den großenteils
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

schriftlosen Kulturen überhaupt erst dafür, dass solche Ereignisse oral tradiert
wurden. Iliffe weist in dieser historischen Perspektive außerdem nach, dass für Af-
rika – wobei die Analyse teilweise auch für Lateinamerika bzw. Asien zutreffen
dürfte – in der Vorkolonialära zwar nicht wie für Europa der Mangel an verfüg-
barem Boden die Ursache für Armut gewesen ist, jedoch im Gegensatz zu Europa
klimatische und politische Unsicherheit stärker und zeitgeschichtlich länger für
Hungersnöte verantwortlich gewesen seien. 106
Extreme Armut entsteht somit als soziales Deutungsobjekt in den sich vormals
egalitär verstehenden und vormodernen Gesellschaften erst im Moment einer ein-
setzenden wirtschaftlichen oder sozialen Entwicklung, in deren Prozess sich die
Bevölkerung ausdifferenziert, also die vormals sich als homogene Gruppen erfah-
renden Familienverbände aufbrechen. Eine solche Entwicklung kann natürlich
auch extern gesteuert sein, etwa durch die Einführung von Eigentumsrechten an
Land und der Einschränkung des Nutzerkreises 107, durch Stratifizierung in unter-
schiedliche Schichten durch Privatvermögen usw. Erst dann also, wenn das zuvor
geschlossene soziale Verhaltensmodell sich nach außen öffnet oder von außen
aufgebrochen wird. Der soziale Umgang mit Armut, die nun in diesem Prozess
als soziales Phänomen hervortritt, muss jedoch zunächst gelernt werden, denn ex-
tern eingesetzte institutionelle Systeme und Wertschemata zur Linderung der
Armut sind häufig inkompatibel mit den lokalen Wertvorstellungen.
Generell ist daher für die soziologische Behandlung der Armut die globale
Gleichzeitigkeit von eigentlich inkompatiblen sozialen Armutssystemen und -symbolen
als Problem zu benennen, die als Ergebnis von ihnen einwohnenden geschichtli-

105
Iliffe, e African Poor, S. 3.
106
Vgl. ebd., S. 6.
107
Vgl. Amin, ‘Globalization and the Agrarian Question’, S. 166ff.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 59

chen Dimensionen besteht. Das Begriffsverhältnis von integrierter Armut und


den Folgen der Armut in entwickelten Gesellschaften wird in den Diskursen zu
oft ausgeblendet, dabei lassen sich gerade aus dieser Unterscheidung wertvolle
Einsichten in die Funktionsweisen von Gesellschaften, ihre (Über-)Lebensstrate-
gien, ihre Werte und ihr Ethos ziehen. 108
Inwieweit beispielsweise die eingebetteten Ökonomien 109 der ärmsten Länder als
Hintergrundtexturen der integrierten Armut mit den abstrakten wissenschaftli-
chen Instrumenten einer ökonomischen Handlungstheorie empirisch untersucht
werden können, ist ebenso stark umstritten. 110 Die sogenannten ‚Substantialisten‘
gehen in der Debatte davon aus, dass sich das Handeln der Bewohner dieser Län-
der generell nicht im Rahmen formaler ökonomischer Handlungsmodelle, also
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

etwa durch Grenznutzentheorie und Kosten-Nutzen-Kalküle erklären lässt, weil


sie ausschließlich nach der sozialen Logik ihrer in den lokalen Institutionen be-
heimateten kulturellen Prägungen handeln können, die nicht ökonomischen
Grundsätzen, sondern traditionalen Handlungsmustern einer Gesellschaft mit in-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

tegrierter Armut genügen. 111 In dieser Hinsicht wäre dann beispielsweise die hohe
Kinderzahl in den Familien nicht Ergebnis einer vorgängigen Kosten-Nutzen-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Kalkulation (um bspw. durch viele Nachkommen das Überleben im Alter zu si-
chern), sondern nur mit traditionell überlieferten Handlungsweisen erklärbar;
auch etwa die frühe Verheiratung junger Mädchen käme dann vor allem als tradi-
tionale Praxis in den Blick und nicht als ökonomisch-rationale Handlung, die vor
allem durch Mitgiftzahlungen zur Subsistenz von Familien beizutragen hat.
Dagegen wenden die sog. ‚Formalisten‘ ein, dass es durchaus möglich ist, öko-
nomische Handlungsmodelle als abstrakte Deskriptionen zur analytische Rekon-
struktionen konkreter sozialer Logiken von einem externen Standpunkt aus anzu-
legen, die es dann erlauben, unabhängig von einer gesellschaftsinternen Kon-
struktion ökonomischer oder sozialer Praxen in der Perspektive der je spezifischen
Binnenlogik verallgemeinerbare ökonomische Handlungsmotivationen herauszu-
arbeiten – also auch, das „Verhalten ihrer Mitglieder mit Hilfe von Nutzenopti-
mierungskalkülen zu erklären.“ 112 Auch wenn also beispielsweise eine hohe Kin-
derzahl von den Ärmsten deswegen als Normalpraxis angestrebt wird, weil es die

108
Dies ist insbesondere auch der Standpunkt der von Clifford Geertz entwickelten hermeneutischen
Kulturanthropologie. Diese soll es erlauben, die conditio humana durch eine ‚dichte Beschreibung‘
menschlicher Lebensvollzüge und Lebenssituationen vor unterschiedlichen kulturellen Horizon-
ten in den Blick zu bekommen. Vgl. Hornbacher, Art. ‚Clifford Geertz‘.
109
Das bedeutet hier, dass ökonomisches Handeln nicht nach abstrakten und formalen Handlungs-
parametern erfolgt, sondern in ein weitläufiges aber engmaschiges Netz kultureller Praxen, Insti-
tutionen und Traditionen amalgamiert ist.
110
Vgl. Groh, Anthropologische Dimensionen der Geschichte, S. 44.
111
Diese Richtung geht auf den Ethnologen Karl Polanyi zurück, der in seinem Buch ‚e Great
Transformation‘ beschreibt, wie sich in Europa zwischen 1750 und 1850 die Ökonomie und mit
ihr das Set an ökonomischem Denken als eigenständige Institution erst herausbildet. Vgl. Po-
lanyi, e Great Transformation.
112
Für diese Unterscheidung von Substantialisten und Formalisten vgl. Groh, Anthropologische Di-
mensionen der Geschichte, S. 44.
60 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

kulturelle Tradition so scheinbar verlangt, kann eine additive ökonomische Ana-


lyse zum Schluss kommen, dass dieses Verhalten einer Kosten-Nutzen-Analyse
unterliegt, weil dadurch das Überleben der Familie auch dann gesichert werden
kann, wenn einige ihrer Mitglieder Armutskrankheiten oder dem Hunger zum
Opfer fallen. Analytisch, hält Groh im Versuch der Synthese beider Standpunkte
fest, lassen sich zwischen den Subsistenzökonomien, zu denen auch die ärmeren
Länder gehören, und den marktwirtschaftlichen Ökonomien mit dieser Unter-
scheidung gravierende Unterschiede feststellen, die auf der ihnen zugrundelie-
genden sozialen Logik beruhen, und die folgenreich für den jeweiligen sozialen
Umgang mit der Armut sind. Als kategoriale Differenzierung zwischen beiden
Systemen (Subsistenzwirtschaft je zuerst genannt) hält er folgende soziale Einord-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

nung fest:
„Unterproduktivität versus Produktionsmaximierung; Mußepräferenz versus Maxi-
mierung materiellen Nutzens aus höchster Arbeitsleistung; Risikominimierung ver-
sus Profitmaximierung; Gebrauchswertorientierung versus Tauschwertorientierung;
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

das Prinzip >ausreichender Nahrung< versus Profitprinzip; Gruppeneinkommen


versus individuelles Einkommen.“ 113
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Diese Kategorien fallen in einer abschließenden Reduktion auf „Vermeidung o-


der Minimierung von Risiken“ 114 als oberstes Handlungsschema der Subsistenz-
wirtschaften zusammen: wer arm ist und täglich um sein Leben kämpfen muss,
der wird keine Handlungen als erstrebenswert akzeptieren können, die seiner be-
reits gefährdeten Existenz zusätzliche Risiken zumuten. Der Arme wird deshalb
versuchen, sich möglichst risikoavers zu verhalten. Diese Rekonstruktion des sozi-
alen Verhaltens innerhalb des von der sozialen Logik vorgegeben Rahmens einer
Subsistenzwirtschaft scheint angemessen für Gesellschaften, die durch eine ge-
fährliche Umwelt, durch Hunger und mangelhafte Infrastruktur jederzeit in Ge-
fahr sind, große Teile ihrer Mitglieder zu verlieren. Die optimale, spieltheoretisch
verifizierte Strategie ist für diese Gesellschaften also eine, die über die „Dauer des
gesamten Spiels, […] das Überleben der Gattung oder Population maximiert.“ 115
Der Begriff der sozialen Logik soll in dieser Perspektive jedoch nicht dazu die-
nen, integrierte Armut und die ihr entsprechenden Verhaltensweisen dem Um-
gang der wohlhabenden Ländern mit Armut gegenüberzustellen und aus der
Konfrontation dann, wie es die klassische ‚Modernisierungsthese’ unternimmt,
die Subsistenzwirtschaft den marktwirtschaftlichen Systemen unterzuordnen und
als etwas zu begreifen, das sich geschichtlich selbst überholt hat. Der Methoden-
streit über die Hermeneutik des Umgangs mit anderen Kulturen und dem Ver-
such, deren soziale Logik im Kontext ökonomischer Handlungstheorien zu re-
konstruieren, verdeutlicht vielmehr trefflich die Problematik, die sich im reflek-
tierenden Umgang mit Armut in anderen sozialen und ökonomischen Kontexten
stellt: die Vieldimensionalität der sozialen Konstruktionen führt leicht zu einem
113
Ebd., S. 67.
114
Ebd., S. 70.
115
Ebd., S. 71.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 61

Relativismus, der sie als sozial konstruiertes Abstraktum dem externen Einblick
scheinbar entzieht: spezifische soziale Logik ist nicht immer universale Logik.
Umgekehrt macht der geschilderte Zusammenhang jedoch auch auf die Gefahr
aufmerksam, anderen Kulturen, die ihr eigenes Wissen um den „Zusammenhang
zwischen Ökonomie, Ökologie und Gesellschaftsstruktur“ 116 in eine für sich zu-
nächst funktionierende und sinnvolle soziale Logik umsetzen konnten, unter dem
unkritischen Anlegen westlicher Maßstäben unrecht zu tun.

C.1.d Armut zwischen relativer, kontextueller und essentialistischer


Bestimmung
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Im Kontext kultureller Ausdeutung von Armutssituierungen wurde bislang ge-


zeigt, dass Aussagegehalte und Deutungsmuster von Armut als Bestandteile sozia-
ler Logiken und umklammernder kultureller Kontexte nicht als abstrakt festste-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

hende und inhaltlich unangreifbare Definition existieren können. Armut besteht


nicht als unüberwindliches, außerweltliches Schicksal ‚an sich‘, sondern Murray
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Edelmann beschreibt sie als eine soziale Problemstellung, die durch eine Gesell-
schaft in der Beschäftigung mit sich selbst dynamisch konstruiert und konzeptua-
lisiert wird. Armut beginnt deshalb als Problem erst dann zu existieren, wenn die
Mitglieder einer Gesellschaft über sich und die anderen Mitglieder nachzudenken
beginnen. Die Armut als Kategorie ‚gesellschaftlicher Zustände‘ kann nur dann
ema von sozialen Interpretationsschemata werden, wenn sie durch die Gesell-
schaft in diesem Prozess des Über-sich-Nachdenkens begrifflich determiniert und
zur sozialen Narration wird; sie ist nicht einfach schon als gegebenes Erken-
nungsobjekt a priori innerhalb eines sozialen Zusammenschlusses identifizier-
bar. 117 Vielmehr, hält Olaf Groh-Samberg fest, obliegt in „einer demokratischen
Gesellschaft […] die Definition dessen, was Armut ist und wie mit ihr umgegan-
gen werden soll, in letzter Instanz dem demokratischen Meinungsbildungspro-
zess.“ 118
Weil der sich ausformende ‚gesellschaftliche Ist-Zustand‘ durch diesen Prozess
der Reflexion der Gesellschaft auf das eigentümliche Selbst als Ergebnis dezidier-
ter kultureller Strukturen konstruiert und konserviert wird, gehört die Armut als
Beispiel einer komplexen sozialen Problemstellung zu den semantisch vieldeuti-
gen Begriffen des jeweilig vorherrschenden sozialen Sprachgebrauchs. Durch ihre
Stellung als erkanntes und reflektiertes gesellschaftliches Problem verweist Armut
aber ebenso ex negativo auf das vorherrschende idealtypische Leben in einer Ge-
sellschaft; im Rückbezug lässt sich dergestalt rekonstruieren, was der Armut se-
mantisch als Vorentwurf eines gelungenen gesellschaftlichen Lebens, als Wohler-

116
Nach einem Zitat von Jost Herbig aus einem Aufsatz im Merkur von 1981, zitiert nach ebd., S.
42.
117
Vgl. Edelman, ‚Die Erzeugung und Verwendung sozialer Probleme‘, S. 175.
118
Groh-Samberg, Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur, S. 28.
62 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

gehen, gegenüber steht. Armut kann durch ihre oppositorische Abhängigkeit von
der gesellschaftlichen Vorstellung des Wohlergehens deshalb unterschiedliche
Tendenzen ihrer Inhalte aufweisen, da beide, sowohl die Armut als auch das
Wohlergehen sich sozial je vom anderen her konstituieren. Mit diesem komple-
xen Verhältnis des gesellschaftlichen Ausdeutungsprozesses wird deutlich, dass
Armut mit dem sozial ausgehandelten Set unterschiedlicher materieller Mängeln
durch Attribute texturiert wird, die sich von anderen sozialen Gemeinschaften
radikal unterscheiden können, allerdings in formaler Hinsicht ökonomischen
Überlegungen zugänglich ist.
Wenn in einem gesellschaftspolitischen Diskurs auf Armut Bezug genommen
wird, offenbaren sich darin gemeinhin deutlich kulturell vorgeprägte Werturteile,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

die als bedeutsame sozial geprägte Intuitionen in einer bestimmten Lebenswelt


wurzeln. 119 Ihre Sinnhaftigkeit ist Ergebnis tradierter Praxis, muss sich in der Rea-
lität sozialer Prozesse als sinnvolle Kategorie erweisen. Die auf die Armut Bezug-
nehmenden als auch die Armen selbst gehen ja von einer ‚Normalpraxis‘ mensch-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

lichen Lebens in ihrer konkreten sozialen Gemeinschaft aus, die durch die Armut
nicht zur Entfaltung kommen kann. 120 Die Orientierung an dieser Normalpraxis
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ermöglicht erst die eigentliche Wertung, enthält also in sich in negativer Form
bereits die Maßnahmen, die gegen die Armut als notwendig empfunden werden.
Trotzdem ist auch in dieser Hinsicht das Verhältnis von den Armen und den An-
gehörigen der Normalgesellschaft voraussetzungsreich: es braucht ein starkes Be-
wusstsein um die Zusammengehörigkeit, um die Armut der Anderen als Problem
zu empfinden; das Fanal der Armut wird nämlich normalerweise erst dann als
wirklich belastend für das eigene moralische Selbstverständnis empfunden, wenn
das Ideal der Gleichheit in der konkreten Gesellschaft normativ ein hohes Anse-
hen genießt. 121 Dies macht jedenfalls deutlich, dass da die Gründe dafür, jeman-
den als arm zu bezeichnen, mannigfaltig sein können, wodurch der Begriff wie
eingangs beschrieben, in hohem Maße schillert. 122
Armut ist in modernen Gesellschaften dadurch nicht einfach ein Topos, der
als Diskursort besteht, sondern er bietet wie andere ambivalente sozial tradierte
Überlieferungen immer wieder, wie Jürgen Habermas feststellt,
„Anlaß zu Selbstverständigungsdiskussionen, die deutlich machen, daß den strei-
tenden Parteien zugemutet wird, bewußt zu entscheiden, aus welcher Kontinuität
sie leben, welche Traditionen sie abbrechen oder fortsetzen wollen. Und in dem
Maße, wie sich kollektive Identitäten nur noch in der zerbrechlichen, dynamischen
und zerfaserten Gestalt eines solchen dezentrierten, öffentlichen Bewußtseins aus-

119
Vgl. dazu Yapa, ‘What Causes Poverty?‘, S. 712.
120
Vgl. dazu: Baecker, ‚Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft‘, S. 94. Baecker hält dort
fest: „Die Gesellschaft wird auf der Seite der Konformität und alle die, denen geholfen werden
soll, kann oder muß, werden auf der Seite der Abweichung verrechnet. Hilfe wird dann zur Kor-
rektur von Abweichungen aus Interesse an der Norm.“
121
Vielleicht ein Hinweis darauf, warum Norwegen von allen Ländern der Erde den höchsten Anteil
seines BSPs für Entwicklungshilfe aufwendet.
122
Vgl. Jähnichen, ‚Der Wert der Armut‘, S. 151.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 63

bilden können, werden ethisch-politische Diskurse, die in die Tiefe reichen, sowohl
möglich wie auch unvermeidlich.“ 123
Habermas erläutert weiter, dass das Aufkommen des Vermögens zur rationalen
Reflexivität, welche, wie eben bestimmt worden ist, in einer Gesellschaft als
Kommunikationsgemeinschaft die Bestimmung von Armutssemantiken erlaubt,
einerseits den Individualisierungsgrad und die Möglichkeitsformen persönlicher
Lebensentwürfe weiter fördert, andererseits aber auch die zuvor opak in den so-
zialen Verbindungen verborgenen gesellschaftlichen Normen sezieren hilft und
transparent aufscheinen lässt. In diesem Prozess finden damit zwei auseinander-
laufende Entwicklungen statt: Erst wenn sich die Gesellschaftsmitglieder ihrer
Einzelverantwortung bewusst sind, sie sich darin als autonome Subjekte verste-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

hen, werden ihnen in den gesellschaftlichen Diskursen die allgemein geteilten


Normen des Zusammenlebens transparent aufscheinen. Erst von diesem Moment
an treten die zuvor in den geschlossenen Gesellschaften verborgenen Wertorien-
tierungen an das Licht der Öffentlichkeit, müssen sich nun die Gesellschaftsmit-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

glieder zu ihnen ethisch verhalten. 124


Das Habermas’sche Modell ist allerdings in hohen Maße voraussetzungsreich,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

denn es erfordert für diesen Selbstverständigungsprozess bereits eine ‚moderne’,


ausdifferenzierte liberale Gesellschaft, in der sich die Bürger als autonome Indivi-
duen verstehen, und von ihrem subjektiven Standpunkt her auf Armut mit star-
ken Werturteilen referenzieren können. Wenn Armut vor diesem Horizont das
Aufscheinen eines bestimmten Sets von menschlichen Attributen ist, das überall
auf der Welt in differenten Ausprägungen und als Ergebnis verschiedener lokal
wirksamer Determinanten phänomenal erfahrbar sein und thematisiert werden
kann, darf dieses Bewusstsein um Armut und die Kritikfähigkeit derselben jedoch
nicht nur auf liberale Gesellschaften beschränkt bleiben, sondern es gilt zu über-
legen, wie Armutssituationen auch in anderen, scheinbar kulturell inkompatiblen
traditionalen oder archaischen Gesellschaften, gegen einen überzogenen Paterna-
lismus und mit Eigenrecht als ethisch unhaltbar ausgemacht werden können.
In kulturanthropologischer Perspektive wird allerdings ebenso hervorgehoben
und kritisiert, dass eine derartige Doppelbödigkeit eines werthaltigen Begriffs wie
dem der Armut, der einerseits universale ethische Motivation hervorrufen sollen
und andererseits auch in spezifischen Gesellschaften und Kulturen seine gemein-
schaftsexplikative Funktion beibehalten sollen, zu einer grundsätzlichen Überlas-
tung des Begriffs führen könnte. Die Entkernung der Vieldeutigkeit von kulturell
stark aufgeladenen Begriffen zugunsten neutraler, objektivierter und universal zu-
gänglicher Begriffe könnte nämlich zu einem ethischen Positivismus führen, der
die Notwendigkeit partikularer, kulturrelationaler Sinngebungen als Fundament
der gelebten Ethoi negiert und dadurch abwertet. Der Versuch, die bestehenden
Formen menschlicher Armut bei der Beschreibung gesellschaftlicher Systeme und
als große, verbindliche, kulturelle Klammer zu beschreiben, muss zumindest auch
123
Habermas, Faktizität und Geltung, S. 126.
124
Vgl. ebd.
64 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

an der Wirklichkeit möglicher Verhaltensorganisationen und Daseinsformen ab-


geglichen werden, wie der Schüler Talcott Parsons, Clifford Geertz, kritisch fest-
hält. Kultur, so Geertz, bestehe nicht nur aus einem strukturierten System fest-
stehender symbolischer Akte, die dann gleichsam am Reißbrett analysiert werden
und den eigenen Wünschen nach umgeplant werden könne: hingegen muss dem
je sozialen Verhalten „Beachtung geschenkt werden, […] weil es nämlich der Ab-
lauf des Verhaltens ist – oder genauer gesagt, der Ablauf des sozialen Handelns –,
in dessen Rahmen kulturelle Formen ihren Ausdruck finden.“ 125

C.1.e Zur Reichweite der Moralmotivation von Armut


wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Damit ist dem Projekt des ethischen Verstehens und der systematisch-reflexiven
Einordnung von Armutsformen jedoch kein genereller Abbruch durch die Kul-
turanthropologie empfohlen, wird allerdings in Reichweite und Breite einge-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

schränkt; Der Begriff ‚Armut‘ kann, wenn er als semantisches Abstraktum ver-
standen wird, nur generalisierende und pauschale Bedeutungen vermitteln; um
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

wirklich zu verstehen, was Armut in einer Gesellschaft bedeutet, verlangt sie einen
Transfer auf die konkreten, tatsächlich gelebten Formen menschlichen Daseins in
der Wirklichkeit menschlicher Beziehungen, um einen hermeneutischen Ver-
ständnisraum für die sozialen Handlungen zu öffnen, die Armut hervorbringen
bzw. perpetuieren.
Dieses Verständnis öffnet, so Mörth und Fröhlich, den Horizont für ein Ver-
stehen menschlichen Miteinanders, dass das überstrukturierte Erbe der Kulturan-
thropologie mit ihrem zu starken Akzentuierung „ausgewogener Systeme, sozialer
Homöostase und zeitloser struktureller Bilder“ 126 und die Vorrangstellung „funk-
tionaler gegenüber dysfunktionalen Aspekten von Sitten und Gebräuchen“ 127 zu
Gunsten eines empathischen Verstehens sozialer Gewebe und sozialer Logiken auf-
bricht, das sich fortwährend selbst einer einordnenden und dadurch entdynami-
sierenden Tendenz durch die Wissenschaft entzieht. Eine bloß universale Aus-
deutung von Wertsystemen kann für das Analysieren und Verstehen dann jedoch
niemals hinreichend sein, weil sich die komplexen Sinninteraktionen des Men-
schen zuallererst auf der intersubjektiven, mikropersonalen Ebene vollziehen, und
vor allem dort auch ihren Ursprung haben.
Die Gefahr des menschlichen Daseins, nämlich durch die kontingenten Eigen-
arten menschlicher Interaktionen fortwährend vom Verfall jeder institutionellen

125
Geertz, Dichte Beschreibung, S. 25, zitiert nach: Fröhlich; Mörth, ‚geertz@symbolische-anthropo-
logie.moderne‘, S. 13. Andererseits kritisiert Christoph Antweiler nicht zu Unrecht, dass dadurch
die Welt als kulturelle Sinneinheit in zahlreiche voneinander isolierte Fragmente zerfallen muss,
was aber letztlich nicht der gegenwärtigen Lage entspreche, die sich vielmehr durch stark vernetz-
te Strukturen und eine hohe Dynamik von interdependenten Entwicklungen auszeichne. Vgl.
Antweiler, Mensch und Weltkultur, S. 10.
126
Geertz, Dichte Beschreibung, S. 97, zitiert nach siehe Fußnote 125.
127
Fröhlich; Mörth, ‚geertz@symbolische-anthropologie.moderne‘, S. 13.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 65

Ordnung bedroht zu sein, erfordert ein mikrosoziales, symbolhaft angelegtes


Sinnsystem, 128 wie Parsons schreibt: Weil die Fähigkeit des Menschen, mit ande-
ren Menschen in Symbolsystem leben zu können, fortlaufend durch den Men-
schen selbst gefährdet ist, wodurch das Zusammenleben jederzeit scheitern kann,
bedarf es „stabilizing mechanisms if the interactive system, as a system, is to func-
tion.” 129 Für die Mitglieder einer Gesellschaft, die ihre Interaktionen stabil und
auf der solidarischen Grundlage des Zusammenlebens dauerhaft erhalten wollen,
führt diese Einsicht zum Ergebnis, dass “this mutuality of interaction must be
mediated and stabilized by a common culture – that is, by a commonly shared
system of symbols, the meanings of which are understood on both sides with an
approximation to agreement.” 130 In der Synthese der Positionen von Geertz und
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Parsons bedeutet das immerhin gerade nicht, dass normative Standards innerhalb
einer spezifischen Kultur bereits an sich durch immer schon davon abweichende
menschliche Verhaltensweisen letztlich sinnlos wären; als Symbole kommunikati-
ver Akte besitzen sie ihren eigentümlichen symbolischen Sinn, der für jede Kultur
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

notwendig und zentral ist: denn die „[n]ormative regulation for the establishing
of standards is characteristic of all of culture; […] the conventions of the language
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

must be observed if there is to be effective communication.“ 131 Der potenzielle


Verstehenshorizont von konkreten Armutsphänomenen korrespondiert deshalb
notwendigerweise mit einer spezifischen Kultur, die den hermeneutischen Raum
zum Verständnis der Armut eröffnet und durch die Offenheit der gesellschaftli-
chen Symbolentwicklung dynamisch hält.
In diesem Akt einer kreislaufartigen, permanenten symbolisch-praktischen Ge-
sellschaftsfortschreibung ist ein Rückgriff auf in der Praxis wiederum verpflich-
tend zur Geltungen kommender normativer Symbolkonzeptionen wie dem der
Armut eingeschrieben, der allen Mitgliedern der spezifischen Kultur als Identi-
tätsgrundstock eingelagert ist. Denn gesellschaftliches Zusammenwirken als in-
tersubjektives Geschehen wird nur dann möglich, wenn einerseits der Interakti-
onspartner als autonomes Subjekt mit eigenen Zielen anerkannt wird, anderer-
seits aber jederzeit erwartet werden kann, dass die Normen der Gesellschaft den
anderen Mitgliedern als symbolisch angelegte, schließlich internalisierte Orientie-
rungen zur Verfügung stehen. 132 Doch was genau zeichnet den Anderen als Be-
sonderen vom Standpunkt des erkennenden Subjekts aus? Parsons antwortet da-
rauf, dass sich diese Frage nur beantworten lässt, wenn sie sich auf eine konkrete
gesellschaftliche Position oder den Status der Bezugsperson innerhalb der Struk-
tur interaktiver Systeme beziehen lässt. 133 Dies bedeutet nach Parsons, dass

128
Damit spielt Parsons natürlich auf Ernst Cassirers Begriff des animal symbolicum an und meint
damit den Menschen, der immer schon in Symbolsystemen mit anderen Menschen interagiert.
129
Parsons, Social Structure and Personality, S. 21.
130
Ebd.
131
Ebd.
132
Vgl. “Where the object is another person, the two, as ego and alter, constitute an interactive sys-
tem”, ebd., S. 22.
133
Vgl. ebd.
66 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

“[t]here is, within surprisingly broad limits, no intrinsic significance of persons to


each other independent of their actual interaction. […] what persons are can only
be understood in terms of a set of beliefs and sentiments which define what they
ought to be.” 134
Ethisch aufgeladene Bewertungsschemata wie der Armutsbegriff und mit ihm
verbundene moralische Handlungsmotivationen können damit laut Parsons ihrer
innersten Form nach nur innerhalb geschlossener kultureller Systeme existieren,
weil sie nur dort verstanden werden können. Dementsprechend muss daraus fol-
gen, dass “Moral standards, indeed, cannot in this respect be dissociated from the
content of the orientation patterns which they regulate.” 135 Streng genommen
führt diese Position damit zur engen Begrenzung normativer Inhalte auf die in-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

tersubjektive und intrakulturelle Symbolkommunikation, in der sie sich abhängig


vom gelebten Ethos bilden, durch gesellschaftliche Interaktionen aufrecht erhal-
ten werden oder schließlich wieder auflösen.
Andererseits, und das ist kritisch gegen diesen Standpunkt einzuwenden, ist
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

gegenwärtig umstritten, inwiefern solcherart geschlossene, streng inkulturiert ver-


standene Symbolsysteme, wie sie Geertz und Parsons annehmen, noch die Reali-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tät am Beginn des 21. Jahrhunderts abbilden können. Nicht wenige Forscher ge-
hen davon aus, dass man heute von einer Weltgesellschaft sprechen muss, die ent-
sprechend ihrer globalen Ausdehnung ebenso interaktionale Symbolsysteme von
globaler Reichweite inhäriert. 136 Da zweifellos davon auszugehen ist, dass auch die
lokalen Kulturen weiterhin bestehen werden und ihre Symbolsysteme wahr-
scheinlich sogar eine vorrangige Position in den sozialen Interaktionen einneh-
men werden, ist von einer gleichzeitigen Überlagerung, Durchdringung und wi-
derspenstigen Abstoßung der verschiedenen Ebenen der Symbolsysteme und der
darin vorfindbaren Semantiken auszugehen. Auf die Problematik eines aus (wohl-
gemerkt europäischer Warte) als weltweit gesetzten Symbolsystems weisen jedoch
kritisch Sebastian Conrad, Andreas Eckert und Ulrike Freitag hin, insofern das
Symbolsystem der modernen Welt „hier als ein Produkt abendländischer Traditi-
on [figuriert, M. H.], als eine europäische Leistung sui generis, die dann im Stadi-
um der Blüte in andere Regionen der Welt exportiert wurde. Diese eurozentri-
sche und diffusionistische Perspektive war von der Annahme begleitet, dass das
‚Wunder Europa‘ (Eric Jones), gemäß dem zugrunde liegenden Entwicklungs-
modell, in letzter Instanz ein universales Ereignis sei. Auf diese Weise konnte der
europäische Fall prinzipiell als einer unter vielen erscheinen, lediglich durch einen

134
Ebd.
135
Ebd., S. 23.
136
Die Symbolsysteme umfassen dabei natürlich besonders die Phänomene, die mit der Globalisie-
rung einhergehen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich ein ganzes Set globaler Interaktions-
semantik herauskristallisiert, die in fast jedem Land erkannt werden – seien es bestimmte Um-
gangsformen, die andere, wie zum Beispiel das Spucken auf den Boden ausschließen, bestimmte
Marken wie zum Beispiel Starbucks, McDonalds oder die Namen großer Hotelketten, und na-
türlich global agierende Unternehmen. Siehe dazu aus systemtheoretischer Perspektive: Stichweh,
Die Weltgesellschaft, S. 31f.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 67

zeitlichen Vorsprung ausgezeichnet – eine Sicht, die mit der Dichotomie von
‚entwickelten’ und ‚unterentwickelten’ Ländern im Zeitalter der Dekolonisation
korrespondierte.“ 137
Das moraltheoretische Desiderat, das es wie eingangs beschrieben einzuholen
gilt, bezieht sich innerhalb dieser Problemstellung auf die Begründung einer auch
transkulturell plausiblen moralischen Motivation, die durch Armut ausgelöst
werden kann. Als Ausgangspunkt dieses Spannungsbogens lässt sich umgekehrt
die Sorge benennen, dass gerade die Beachtung der hermeneutisch geprägten
Kontextualität der Erfahrungen und Bedeutungen, die mit dem Begriff der Ar-
mut in den unterschiedlichen Gesellschaft verbunden sind, den Begriff der Armut
auf globaler Ebene gleichsam entschärfen und dieser durch die Kontextualität
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

seinen Status als Grundlage der Kritik sozialer Verhältnisse verliert.


Die hermeneutische Beheimatung des Armutsbegriffs in den unterschiedlichen
Symbolsystemen der Welt verursacht dann ethische Sprachlosigkeit: denn gerade
weil Armut zu den semantisch komplexesten Begriffen des Sprachgebrauchs ge-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

hört, ist die Gefahr groß, dass der je nach sozialem Kontext in der globalen Welt
differierende, vielleicht sogar widersprüchlich Gebrauch des Begriffs zu Abnut-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

zungserscheinungen in der ethischen Reflexion führen kann, weil mit ihm dann
eine kritikferne Relativität einherginge, die sich der normativierenden Festlegung
seiner Inhalte im Grunde vollständig verweigern würde. Soll Armut im globalen
Kontext aber kritikfähig bleiben können und auch Bestandteil ethischer Überle-
gungen sein, dann müssen sich im Begriff zumindest grundsätzlich geteilte Erfah-
rungen aller Menschen auffinden lassen, die umgekehrt auch von allen Menschen
als globales moralisches Problem erkannt werden können. Ansonsten wäre Armut
bestenfalls als reflektierbarer Gegenstand einer partikularen Ethik geeignet, nicht
aber als ema einer Ethik, die sich als universalisierbar und normativ verstehen
will.
Dass die mikrosoziale, im kulturellen Kontext hermeneutischer Symboldeu-
tungen beheimatete Erfahrung der Armut durch Arme jedoch tatsächlich Charak-
teristika aufweist, die im Rahmen ökonomischer Modelle als universalisierbare
Bedeutungen des Armutsbegriffs ausgewiesen werden können, konnten Misturelli
und Heffernan empirisch nachweisen. Ihre Forschung belegt, dass Referenzierun-
gen auf den Armutsbegriff innerhalb größerer, kulturell nicht unbedingt homo-
gener Gruppen weitgehend nach denselben Mustern abläuft, und auch die im
Hintergrund sitzende moralische Symbolik bei dieser Bewertung recht ähnlich
ausgeprägt ist. Auch in Gesellschaften, in denen ein großer Teil der Bevölkerung
arm ist, können die Menschen sehr gut die deskriptiven Merkmale von den Ursa-
chen der Armut unterscheiden. Es ist ihnen damit, trotz divergierender Symbol-
systeme möglich, auf ihrem moralischen Kompass Armut treffsicher nach unter-
schiedlichen Kategorien einzuordnen:

137
Conrad; Eckert; Freitag, ‚Globalgeschichte, Globalisierung, Multiple Moderne‘, S. 12.
68 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

„on the one hand, the possession of assets or their lack, education and where one
lives were associated in the narratives with a specific status. Conversely, laziness, bad
luck, and wasting resources were considered causes of poverty. us, the analysis
confirmed that the poor held strong views regarding responsibility, and not all the
poor were seen in the same way. […] erefore, the poor themselves cast clear mor-
al judgments regarding the different causalities of poverty and by default those
trapped within it.” 138
Der Weg eines konkretisierten globalen Armutsbegriffs wird damit weiterhin
über den doppelten Boden der dualen Armutsforschung führen müssen, wie sie
bereits im vorherigen Abschnitt grob skizziert worden ist. Zu den makrosozialen
Beobachtungen aus der globalen Perspektive über die multidimensionalen Ursa-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

chen von Armut und ihre Auswirkungen auf die kulturellen Symbolsysteme müs-
sen dann die mikrosozialen und persönlichen Attribuierungen der Armut hinzu-
treten und in einer komplexen Textur amalgamieren, welche objektive, extern er-
fassbare Armutssituation und internes, subjektives Armutserleben in sich verei-
nigt. Denn erst in den gravierenden Auswirkungen auf den Einzelnen als Zwang
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

scheint im Begriff der Armut die Reflexionsfläche auf, auf der dann die makroso-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

zialen Einflüsse gerechtfertigt kritisiert und ema einer dezidiert ethischen Aus-
einandersetzung mit den Ursachen von Armut werden können.
Dass Armut in dieser Hinsicht dann aber eben auch umgekehrt mit gutem
Recht als Objekt für eine universal angelegte, makrosoziale Werthaltung auf der
globalen Ebene verstanden werden kann, zeigt eine weitere Beobachtung von
Edelmann. Wenn man von der Existenz einer Weltgesellschaft und ihrer Signifi-
kanz für das Zusammenleben der Menschen ausgeht, lässt sich dann aus dem
dort stattfindenden Umgang mit dem Begriff der Armut folgern, dass
„Probleme in die öffentliche Debatte […] nicht einfach [gelangen], weil sie da sind
oder weil sie wichtig für das Wohlbefinden sind. Sie zeigen an, wer rechtschaffen
und nützlich und wer gefährlich und unangebracht ist, welche Handlungen belohnt
und welche bestraft werden. Sie erzeugen Menschen als Subjekte mit besonderem
Bestreben, Selbstverständnis und Ängsten und schaffen Werthaltungen über die re-
lative Wichtigkeit von Ereignissen und Zielen.“ 139
Armut ist im globalen Raum als Topos moralischer Überlegungen präsent und
funktionalisiert; ihre Existenz als der Weltgesellschaft gegenüberstehendes Prob-
lemfeld erteilt Auskunft über den Zustand der Welt und die Wertsysteme, die in
der globalen Welt bestehen, aber auch über die Ziele, die in ganz allgemeiner
Form den Bestrebungen der Menschen und Institutionen innewohnen.
Es kann deshalb als weitere ese dieser Arbeit artikuliert werden, dass die Be-
zugnahme auf Armutsphänomene transkulturell eine so große Bedeutung in den
verschiedenen Handlungsfeldern von Politik, Öffentlichkeit und Wirtschaft be-
sitzt, dass er nicht allein als kulturell fragmentiert und dadurch inkommensurabel
zu verstehen ist, sondern ein mindestens grundsätzlicher positiver Konsens über

138
Vgl. Misturelli; Heffernan, ‚Never the Twain Shall Meet’, S. 179.
139
Edelman, ‚Die Erzeugung und Verwendung sozialer Probleme‘, S. 175.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 69

seine fundamentalste Bedeutung existiert, nämlich als existenzielle Mangelerfah-


rung des Menschen, die generell jeden betreffen kann. Kein Mensch, selbst wenn
er in den wohlhabendsten Ländern mit den umfangreichsten sozialen Sicherungs-
systemen lebt, ist von der Gefahr der Erfahrung ausgenommen, durch Unglück,
negative Lebensentscheidungen, Geburt in eine bereits arme Umwelt oder allge-
mein ‚bad brute luck‘ in bitterste und lebensgefährdende Armut abzurutschen,
aus der er sich selbst unter äußerster Kraftanstrengung nicht mehr befreien kann.
Das intuitive, existenzielle Wissen um diese jederzeit mögliche potenzielle Ge-
fährdung des eigenen Lebens wird als Voraussetzung einer fundamentalen Empa-
thie gegenüber offensichtlich140 Armen verstanden werden können, und dieses
Wissen weist außerdem die dem Menschen gegebene Möglichkeit aus, sich aus
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

der je eigenen Perspektivität in den anderen hineinzuversetzen, auch dann, wenn


der andere der völlig Fremde in einer anderen kulturellen Sphäre ist. 141 In diesem
Horizont wohnt dem Menschsein ein Gleichheitsparadigma inne – sofern man zu
akzeptieren bereit ist, dass ‚Menschsein’ eine grundlegende Wertungskategorie
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

moralischer Gefühle ist –, das im Rahmen eines in universalistisch Wertungska-


tegorien ausformulierten Menschenbildes bestimmend für den Großteil der ge-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

genwärtig akzeptierten Positionen in der politischen Ethik geworden ist. Es ist


dann zwar jederzeit zu bedenken, dass der sozial geprägte Begriff der Armut ein je
lokalgesellschaftlicher unterschiedlicher sein kann, dieser Begriff wird aber nur in
je spezifischer Weise die existenzielle Erfahrung des Menschseins mit dem Prob-
lem der Armut als Mangelsituation ausbuchstabieren.
Armut nimmt damit als Topos in der globalen Welt eine doppelte Funktion für
die perspektivische Gestaltung des sozialen Zusammenlebens der Menschheit ein,
die sich durch den integrativen Prozess der Globalisierung künftig noch deutli-
cher als Weltgesellschaft verstehen wird. Einmal kann das emergierende morali-
sche Bewusstsein für Armutsformen, die außerhalb des eigenen kulturellen Sym-
bolssystems vorherrschen, als wichtiges Zeichen dafür verstanden werden, dass die
vormals divergenten kulturellen Armutssemantiken und -interpretationen nun
immer weiter konvergieren und damit auch die Ansichten über die Ursachen der
Armut und daraus entspringende moralischen Motivationen zur Armutsredukti-
on. Zum zweiten scheint aber auch dann, wenn diese soziologisch und moralisch
gleichermaßen voraussetzungsreiche Ansicht nicht geteilt wird, sehr plausibel zu

140
‚Offensichtlich‘ verstanden im phänomenalen Sinne, d. h. dem externen Beobachter als durch
schlechte Kleidung, schlechte körperliche Verfassung, mangelhafte Behausung usw. zur Ansicht
gebrachte Armut. Andere Formen der Armut aufzudecken ist von diesem Standpunkt aus prob-
lematisch und oft gar nicht möglich.
141
Diesen intuitiven Standpunkt nimmt hier stellvertretende für andere Positionen der Philosoph
Peter Singer ein, der in seinem bekannten Aufsatz ‚Famine, Affluence, and Morality‘ als intuitive
Prämisse aufstellt: „I begin with the assumption that suffering and death from lack of food, shel-
ter, and medical care are bad. I think most people will agree about this, although one may reach
the same view by different routes.” In der bioethischen Debatte kritisiert er allerdings diese gat-
tungsorientierte Intuition, d. h. eine Intuition, die von der eigenen menschlichen Verfasstheit auf
diejenige anderer Menschen schließen lässt, als ‚Speziesismus‘. Vgl. Singer, ‚Famine, Affluence,
and Morality‘, S. 229ff.
70 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

sein, das Missverhältnis in der Verfügbarkeit über Ressourcen als eine der Moti-
vationen dafür heranzuziehen, sich vor dezidiert globalem Horizont mit den Ur-
sachen und Auswirkungen gravierender Armut deshalb zu beschäftigen, weil diese
Kategorie der Erfahrung mit der Armut in den allermeisten Kulturen geteilt
wird. 142 Die existenziell unüberwindbare, manchmal ferne, manchmal nahe Ge-
fahr eines Lebens in Armut, der letzten Endes kein Mensch entrinnen kann, und
die durch direkte Begegnung mit Armen in den Städten und Dörfern des Nahbe-
reich und über die Medien in den Fernbereichen der globalen Wüsteneien allge-
genwärtig ist, ist ein wichtiger Faktor der Empathie. Diese bestimmt letztlich vor
aller Ursachenanalyse extreme Armut als schwerwiegendes Problem, und sie mo-
tiviert intuitiv einer Anklage derjenigen, die ihr untätig und indifferent gegen-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

überstehen, oder die gar noch von der Armut der anderen profitieren.
Damit scheinen in beiden Dimensionen Grundzüge von Gerechtigkeitsdefizi-
ten der Weltgesellschaft auf, die im Umkehrschluss grundlegend andere Prob-
lemlösungen einzufordern scheinen als mildtätige Gaben oder Spenden, die nicht
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

gegen die Ursachen der Armut gerichtet sind, sondern nur gegen ihre Wirkun-
gen. 143 Bevor diese emen als Grundlage der überkulturellen moralischen Signi-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

fikanz der Armut weiter untersucht werden, erfolgt nun zuerst in einem weiteren
Analyseschritt die Darlegung der zweiten großen Kategorie, unter der Armut er-
forscht wird, nämlich die der Ökonomie.

C.2 Armut in ökonomischer Perspektive

In gewisser Weise strebt auch die Ökonomie an, von den mehrdeutigen und
letztendlich unklärbaren Fragestellungen, die eine soziologische und kulturher-
meneutische Bearbeitung der dichten Beschreibungen von Armut aufwerfen
muss, vollständig zu abstrahieren. 144 Sie verfolgt dieses Ziel durch ein Set empiri-

142
Joseph Raz kritisiert allerdings die Überzeugung, dass ein auf dieses universale Gleichheitsideal
sich aufbauende materielle Gleichheitsparadigma in der Bekämpfung der Armut notwendiger-
weise auf einen Egalitarismus verweisen muss, der nicht das Leiden und die Unterdrückung als
das eigentliche Übel der Armut aufzeigt, sondern der aus der in der Armut ersichtlichen materiel-
len Ungleichheit sogleich distributive Maßnahmen einfordert. Dieser rhetorische Egalitarismus,
der sich auf Gleichheitsslogans beruft, verkennt, so auch Henry Frankfurter, „dass keine notwen-
dige Verbindung zwischen dem Leben am unteren Rand der Gesellschaft und Armut in dem
Sinne [besteht, M. H.], in dem Armut ein ernsthaftes und moralisch unannehmbares Hindernis
zu einem guten Leben ist.“ Beide wenden sich damit gegen einen Egalitarismus, der sich als mate-
riell egalisierend versteht, und damit am eigentlichen Problem der Armut vorbeigeht. Vgl. Raz,
e Morality of Freedom, S. 227-233; Frankfurt, ‚Gleichheit und Achtung‘, S. 4, beide zitiert
nach: Hiebaum, ‚Gleichheit als Eigenwert‘, S. 37f.
143
Vgl. die hier grundlegende Aussage des zweiten Vatikanischen Konzils: „Zuerst muß man den
Forderungen der Gerechtigkeit Genüge tun, und man darf nicht als Liebesgabe anbieten, was
schon aus Gerechtigkeit geschuldet ist. Man muß die Ursachen der Übel beseitigen, nicht nur die
Wirkungen.“, Apostolicam Actuositatem, §8.
144
Der denkbar knappste Hinweis, warum Armut in ökonomischer Hinsicht niemals verschwinden
wird, ist wahrscheinlich Louis Makowski und Joseph M. Ostroy entnehmbar: Armut ist ein Prob-
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 71

scher Werkzeuge und Verfahrensweisen, das die lebensweltlich vieldimensionalen


Phänomene der Armut einebnet und dadurch ökonomisch unter den Kategorien
Einkommen und Vermögen fassbar und schließlich operationalisierbar macht, sie
also einer „konzeptionellen Vereinfachung“ 145 unterwirft. Methodisch werden zu
dieser Vereinfachung statistische Modelle benutzt, die einerseits möglichst fein
granuliert die unterschiedlichen Aspekte und Lebenssituationen armer Haushalte
in die Kalkulationen einbeziehen, die andererseits aber trotzdem generalisierende
Kennzeichen der armen Haushalte innerhalb eines bestimmten, vorher ausge-
wählten Untersuchungsbereiches zu ermitteln helfen. Fundamentales epistemolo-
gisches Raster ist für die Ökonomie die Tatsache, dass Menschen bereits durch
den Ort ihrer Geburt, ihrer familiären Einbettung, ihrer Ausbildung und die Be-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

rufswahl über stark divergierende Güterausstattungen und Einkommen verfügen.


Der Ökonomie kommt Armut dementsprechend in der fachtypischen, ressour-
cenanalytischen Dimension als (elementare) Einkommens- und Güterknappheit
in den Blick. 146
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Die Notwendigkeit einer ökonomischen Armutsmessung zeigt sich in unter-


schiedlichen Aspekten, deren primäre die gesellschaftspolitische Dimension ist.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Dort muss die Armutsmessung, Martin Ravallion zufolge, das Ziel haben, durch
die Veröffentlichung der Armutszahlen die Bevölkerung oder die Politik auf die
lokalen (oder natürlich auch globalen) Probleme aufmerksam zu machen, die
Armut begünstigen. Die Relevanz der Armutszahlen wird dann entsprechend
durch eine glaubwürdige und belastbare Methode der Armutserhebung gesteigert,
womit die Zahlen dazu beitragen, dass die Ursachen der Armut diskutiert und
bestenfalls beseitigt werden. Bliebe die Bestimmung der Armutszahlen hingegen
aus, wäre es ansonsten für die Öffentlichkeit leicht, Arme zu ignorieren, weil sie
statistisch, so Ravallion, unsichtbar blieben. 147 Andererseits wird die objektive
Messung der Armen oft durch versteckte politische Steuerungsversuche und Ma-
nipulationen beeinträchtigt bzw. unterbunden, oder mit der Armutsmessung sind
nicht transparent auszuweisende Interessen verbunden, die sich insbesondere bei
der Wahl der Armutsindikatoren niederschlagen. 148 Der Ökonomie kommt in-
nerhalb dieses Ansatzes also vor allem die Funktion zu, der lokalen oder globalen
Gesellschaft ‚objektive‘ Daten über die Lebenssituation ihrer Mitglieder zur Ver-

lem mangelnder Information. Am Wettbewerb kann nur die oder der effizient und zum eigenen
Nutzen teilnehmen, wer über private Informationen verfügt, die nicht jedermann zugänglich
sind. Der perfekte Wettbewerb, der auf dem allzugänglichen Verfügen über Information beruht,
führt im Gegensatz deshalb zu ‚zero profit‘. Armut ist deshalb ein Phänomen eines normal funk-
tionierenden Marktes und wird deshalb den Wettbewerb stets begleiten. Vgl. Makowski; Ostroy,
‚Perfect Competition and the Creativity of the Market’, S. 495.
145
Klasen, ‚Armutsreduzierung im Zeitalter der Globalisierung‘, S. 3.
146
Für eine ausführliche Darstellung siehe: Breyer; Buchholz, Ökonomie des Sozialstaats, S. 44ff. Vgl.
außerdem: Collier; Gunning, Globalization and Poverty.
147
Im Original: “[A] credible measure of poverty can be a powerful instrument for focusing the at-
tention of policy makers on the living conditions of the poor.” Vgl. Ravallion, ‚Poverty Lines in
eory and Practice’.
148
Siehe dazu in diesem Kapitel den Unterpunkt C.2.c.
72 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

fügung zu stellen, um mit Hilfe dieser Informationen dann zur Steuerung be-
stimmter sozialer, politischer oder wirtschaftlicher Prozesse beizutragen.
Mit diesem Informationsaspekt verbunden ist in den gesellschaftlich ausdiffe-
renzierten Gesellschaften westlicher Prägung das Faktum, dass sich deren Bevöl-
kerungen gemeinhin nicht mehr als weithin solidarische und integrierte Schick-
salsgemeinschaften verstehen, sondern eher als liberale Wettbewerbs- und Markt-
gesellschaften, in denen die Individuen sich als für ihr Wohl weitgehend selbst
verantwortlich verstehen. Die ökonomische Bemessung der Bürger zur Darstel-
lung der unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft stellt in diesen Ländern
dementsprechend eine unter pragmatischen Gesichtspunkten angemessenere, weil
rationalere Methode der sozialen Einordnung und Bewertung des Erfolgs der Ge-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

samtgesellschaft dar, als etwa die einer Bewertung auf der Grundlage besonderer
Verdienste bestimmter Bürger oder anderer vergleichbarer Bewertungsmaßstäbe.
Die allgemein fortschreitende Ökonomisierung der Lebenswelten spiegelt sich
dadurch auch in der Art des Blicks der Gesellschaften auf sich selbst und ihre
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Armen wieder: Einkommen und Vermögen sind die signifikantesten Konkretio-


nen des Erfolgs oder des Misserfolgs einer Gesellschaft, nicht aber etwa das
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Wohlergehen der Bürger, das sich auch nur schwer messen ließe.
Ein letzter Aspekt, der in den zurückliegenden Jahren insbesondere von
Coimbatore Prahalad stark gemacht wurde, bezieht sich auf die Notwendigkeit
der ökonomischen Untersuchung der Kaufkraft von armen Bevölkerungsteilen
für Wirtschaftsunternehmen, die durch diese Information überhaupt erst stich-
haltige Informationen über die Einkommenssituation eines großen Teils ihrer po-
tenziellen Kundschaft erhalten und ihr Produktangebot dementsprechend anpas-
sen können. Prahalad versucht nachzuweisen, dass Unternehmen, die ihre Pro-
dukte nach den Bedürfnissen einkommensschwacher Marktakteure entwickeln
(bspw. kleinere Verpackungseinheiten zum günstigen Preis, spezielle Kreditange-
bote, besondere Dienstleistungsangebote für Arme), einerseits mit dieser Strategie
sehr effizient am Markt agieren und erfolgreich sein können, aber andererseits, als
Epiphänomen, dadurch auch die Armen als Marktakteure ernst genommen und
mit wirtschaftlichem Handeln vertraut gemacht werden. Die Armen als ‚Bottom
Billion of the Pyramid‘ stellen für Prahalad dementsprechend einen überaus
wichtigen Wirtschaftsfaktor dar, der durch strategisch denkende Unternehmer
aber auch genutzt werden muss. Die ökonomische Bemessung der Einkommen
dient also auch in diesem Sinne der Informationserhebung für den Erfolg künfti-
ger Marktprozesse. 149
Die genannten Aspekte machen deutlich, dass die Ergebnisse der ökonomi-
schen Informationsgewinnung über Art, Umfang und Verteilung der Armut
grundsätzlich nicht auf einzelne Staaten beschränkt sein müssen, sondern diese
auch Berechnungen und Untersuchungen globaler Armutszahlen möglich ma-
chen. In der globalen Sphäre zeigt die makroökonomische Perspektive auf die ge-
genseitig in scharfer Konkurrenz stehenden Volkswirtschaften jedoch ein verste-
149
Vgl. Prahalad, e Fortune at the Bottom of the Pyramid.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 73

tigtes wirtschaftliches (Einkommens-)Ungleichgewicht zwischen Nord- und Süd-


halbkugel, deren Ursachen und Gründe eine ökonomische Analyse zu erhellen
hilft. Dieser Vergleich der unterschiedlichen Länder gelingt ihr in der globalen
Sphäre durch ein in lokale Kaufkraftparität umgerechnetes Bruttoinlandsprodukt,
das in streng ökonomischer Perspektive den Erfolg der unterschiedlichen Volks-
wirtschaften an der gesamtgesellschaftlichen Produktionsleistung bemisst. 150
Die Weite des makroökonomischen Blickwinkels unterwirft jedoch die lokalen
ökonomischen Faktoren, die den Erfolg der einzelnen Volkswirtschaften mitbe-
stimmen – etwa die der Umwelt, der Infrastruktur, der sozialen Strukturen –, ei-
nem Abstraktionsgrad, der den Einfluss dieser Faktoren nur schwer nachvollzieh-
bar und im globalen Vergleich schließlich faktisch irrelevant werden lässt. Glei-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ches lässt sich von den globalen Armutszahlen sagen, die eine Analyse aus den
ökonomischen Daten herausfiltert; die multidimensionalen Ursachen der Armut
werden durch eine rein vergleichende Gegenüberstellung von reichen und armen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

150
a) Diese Vergleichbarkeit wird in ökonomischer Hinsicht mit Methoden hergestellt, die etwa das
Bruttoinlandsprodukt als eigenständige Größe relativ zu anderen Bruttoinlandsprodukten be-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

stimmen und dadurch ein weltweites Ranking der Länder erlauben. In die Vergleichbarkeitsana-
lyse fließen drei Datensets pro Land ein: das Bruttoinlandsprodukt konvertiert in Dollar lokaler
Kaufkraftparität (Purchasing Power Parity [PPP] – vgl. dazu die Fußnote 164), die Bevölke-
rungszahl und die Einkommensverteilung gemessen in neun Decilen und die höchsten zwei Vin-
tilen. Die drei Datensets werden anschließend miteinander korreliert. Vgl. Bourguignon; Morris-
son (S. 729, s. u.). Der Gini-Koeffizient ermöglicht es darüber hinaus, aus internationaler Per-
spektive die relativen Ungleichheiten innerhalb der einzelnen Länder zu verdeutlichen und in ei-
nen Gesamtbezug zu setzen, der wiederum vergleichende Rückschlüsse auf relative Armut inner-
halb der einzelnen Länder erlaubt. Es wird mittlerweile angenommen, bzw. ist empirisch gesi-
chert, dass die Ungleichheit zwischen den Ländern auch deshalb so groß ist, weil die Ungleich-
heit innerhalb einzelner Länder so hoch ist. Vgl. Bourguignon; Morrisson, ‚Inequality Among
World Citizens: 1820-1992‘, S. 727. Die Autoren stellen dort heraus, dass die weltweite Un-
gleichheit vom Beginn der Industrialisierung bis in die 1950er Jahre steil angestiegen ist, dort ih-
ren Höhepunkt (Gini-Koeffizient von 0,61 zwischen ärmsten und reichsten Land, vgl. S. 728) er-
reichte und seitdem langsam sinkt. Die Armutsanteile innerhalb der Länder sind historisch je-
doch vom Grad der nationalen und internationalen Ungleichheit abgekoppelt: waren laut den
Autoren um 1820 83,9% der Weltbevölkerung extrem arm, fiel der Anteil bis 1992 auf 23,7%
(im Vergleich: arm waren 1820 um 94,4%, fallend auf 51,3% 1992). In absoluten Zahlen stieg
dennoch der Anteil der extrem Armen im Vergleichszeitraum wegen der weltweit explodierenden
Bevölkerungszahl: von ca. 886,8 Millionen im Jahre 1820 auf über 1,2 Milliarden im Jahre 1992
(vgl. S. 731f). Seitdem ist die Zahl stetig zurückgegangen und beträgt heute etwa eine Milliarde.
Wie Ravallion bereits 1991 festhält, reagiert Armut als sozial durchstimmter Begriff sehr sensibel
auf die innerhalb einer Gesellschaft vorherrschenden Minimallevel an Güterverfügbarkeit durch
den Einzelnen. Sobald ein kritischer Minimallevel von Konsumtion überschritten wird, steigt die
nationale Armutslinie in Abhängigkeit von der durchschnittlichen Konsumtion deshalb rapide
an. Vgl. Ravallion; Datt; van de Walle, ‘Quantifying Absolute Poverty in the Developing World’,
S. 345-361.
b) Das Bruttoinlandsprodukt als wichtigster Faktor der Bestimmung zahlreicher internationaler
Kennzahlen wird dafür kritisiert, zu ungenau den Zustand der Wirtschaftssysteme und Volks-
wirtschaften abzubilden. In der 2010 erschienen Monographie ‚Mismeasuring our Lives’ kritisie-
ren die Nobelpreisgewinner Amartya Sen und Joseph Stieglitz, sowie der französische Ökonom
Jean Paul Fitoussi dementsprechend, dass das Bruttoinlandsprodukt darin versagt, begründete
Aussagen über die Wirtschaftsleistung und den sozialen Fortschritt eines Landes zuzulassen. Vgl.
Stiglitz; Sen; Fitoussi, Mismeasuring Our Lives.
74 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

Ländern auf einer strikt einkommens- oder vermögensbasierten Berechnungs-


grundlage nicht in den Blick kommen. Die ökonomische Analyse kann metho-
disch nicht das Gesamt aller möglichen Ursachen und Einflüsse der problemati-
schen Lebensumstände der Armen berücksichtigen, sondern tatsächlich nur vom
wirtschaftlichen Handelns des homo oeconomicus als Blaupause ausgehend unter-
suchen, inwieweit mangelhaftes Einkommen und Vermögen in einer bestimmten
Gesellschaft als nicht ausreichend für ein gelingendes Leben auszuweisen sind.
Der ökonomischen Logik zufolge werden Arme also nur dann ihre von Armut
geprägte Lebensweise verlassen können, wenn sie über genügend Einkommen
und Vermögen verfügen, um über einen ökonomisch festgelegten, genau be-
zifferbaren Schwellenwert zu gelangen. Amartya Sen begann deshalb schon in den
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

1970er Jahren, die ökonomischen Methoden zur Armutsmessung zu erweitern,


indem er unterschiedliche Indikatoren zur Bestimmung der Lebensqualität als
‚functionings‘ operationalisierte. 151 Diese Erweiterung des ursprünglich einkom-
mens- und vermögensbasierten Ansatzes der Ökonomie versucht damit, durch
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

die Berücksichtigung weiterer Faktoren für ein gelingendes Leben eine genauere
Auflistung der Ursachen zu ermöglichen, die für Armut gegenwärtig verantwort-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

lich zu machen sind. Dieser Ansatz befindet sich damit an der Schnittfläche von
Ökonomie und einer an der Befriedigung von Grundbedürfnissen verfassten
Ethik, und stellt einen Vermittlungsposition zwischen ökonomischen und ent-
wicklungsethischen Konzepten dar, wie sich noch deutlich ausführlicher im drit-
ten Kapitel zeigen wird.

C.2.a Relative Armut

Vom hermeneutisch bestimmten, soziokulturellen Konzept der Armut, wie es im


letzten Abschnitt entfaltet wurde, reichen dennoch einige Verbindungen in die
Ökonomie: hier wie dort ist Armut primär als relativer Begriff referenziert, denn
der quantitativen Bestimmung von ‚wenig verfügbare Güter/wenig Einkommen‘
als ‚Armut‘ muss dementsprechend komplementär eine Bestimmung von ‚vielen
verfügbaren Gütern/viel Einkommen‘ als ‚Wohlergehen‘, also ein komparatives
Element, funktional gegenübertreten. Den ‚Wohlhabenden’ auf der einen Seite
stehen also unter ökonomischen Gesichtspunkten zwangsläufig diejenigen gegen-
über, die relativ weniger besitzen. Diese der gesellschaftlichen Logik eingeschrie-
bene komplementäre Relation von arm und reich fand sich bereits in der vorgän-
gigen soziokulturellen Bestimmung der Armut – allerdings nicht bei der inte-
grierten Armut, deren Hauptkennzeichen ja gerade das Fehlen dieses komparati-
ven Merkmals war. Durch die komparative Methodik der Ökonomie ermöglicht
diese Relationalität auf der ersten Analysestufe keine wertende Aussage darüber,
was die Höhe an verfügbarem Einkommen oder Gütern für die Menschen quali-
tativ bedeutet.
151
Siehe dazu den Unterabschnitt C.3 im dritten Kapitel.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 75

Will man in ökonomischer Hinsicht mit dem Wissen um die quantitative


Höhe und Verfügbarkeit von Einkommen oder Gütern beispielsweise eines
Haushalts eine qualitative Aussage ermöglichen, sind auf der zweiten Analysestufe
nachgeordnete Werturteile als Beurteilungsregeln notwendig, die dann die absolu-
te Höhe der verfügbaren Ressourcen einschätzbar machen. Erst diese Interpreta-
tionsleistung auf einer nachgeordneten zweiten Analysestufe kann es erlauben,
vorgefundene menschliche Bedürfnisse mit dem Grad an Befriedigung zu korre-
lieren, die durch das verfügbare Einkommen oder Güterbesitz erfüllt werden
können. Diese Interpretationsleistung wird durch nichts anderes als das Wissen
um die sozialen Standards ermöglicht, die die Mitglieder einer Gesellschaft teilen,
oder um deren mehrheitliche Anerkennung in einer Gesellschaft fortlaufend ge-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

rungen wird. 152


Relative Armut korreliert normalerweise die Einkommenssituation der Haus-
halte mit dem Median der Gesamthaushaltseinkommen, wobei die Armutsgrenze
auf einen – letztlich willkürlich – bestimmten Prozentsatz des Gesamtmedianein-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

kommens der Haushalte festgelegt wird. 153 Die Willkür bei der Bestimmung der
relativen Armutsschwelle zeigt sich besonders darin, dass sie bereits aus ökonomi-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

schen Gründen – nämlich dem grundsätzlichen Knappheitsparadigma, dem die in


der Volkswirtschaft insgesamt verfügbaren Güter unterworfen sind – an der
durchschnittlichen Einkommens- und Vermögenssituation des gesellschaftlichen
Durchschnitts orientiert wird, sie gleichwohl aber deutlich unter diesem Durch-
schnitt liegen muss: sonst wäre nämlich mindestens das Erreichen der relativen
Armutsschwelle durch die angenommene Ressourcenknappheit gar nicht für alle
erreichbar. 154 In den wohlhabenderen Ländern gilt diese Grenze gleichzeitig auch
als sozio-kulturelles Minimum. Unterschreitet ein Haushalt diese Schwelle wird für
die Statistik angenommen, dass die verfügbare Konsumkraft nicht ausreicht, ge-
sellschaftliche Partizipation der im Haushalt Lebenden vollumfänglich zu ge-
währleisten. 155 Für die statistische Auswertung wird dabei normalerweise stipu-
liert, dass alle erwachsenen Personen die gleichen Grundbedürfnisse besitzen; Be-
dürfnisunterschiede werden nur insofern in die Berechnung aufgenommen, als
die Anzahl der im Haushalt lebenden Personen relevant für die Gesamtbedürfnis-
se sind, die durch das Haushaltseinkommen gedeckt werden können, bzw. das

152
Siehe für die grundlegenden sozialen Phänomene der Armut den ersten Abschnitt dieses Kapitels.
In der Ökonomie wird jedoch ebenso versucht, objektive Standards für die Armutsbewertung
heranzuziehen, indem etwa der Nahrungsbedarf in Kalorieneinheiten oder andere biophysikali-
sche Größen zur Bestimmung minimaler Güterausstattungen herangezogen werden. Vgl. dazu
auch Fußnote 158.
153
In der EU gilt eine relative Armutsschwelle des Nettoäquivalenzeinkommens von 60% des jewei-
ligen nationalen Mediandurchschnitts. Wer also weniger als 60% des Medianhaushalteinkom-
mens zum Leben verfügbar hat, gilt als relativ arm. Mit dieser Linie wird außerdem in Europa
das sozio-kulturelle Existenzminimum gleichgesetzt.
154
Vgl. Hauser, ‚Überwindung von Armut und sozialer Ausgrenzung – eine Illusion?‘, S. 39. Das
bedeutet also in abstrakter Form, dass die Schwelle relativer Armut diejenige ist, die theoretisch
alle Bürger trotz der gleichzeitig angenommenen Güterknappheit erreichen können.
155
Vgl. Ravallion, ‘On the Welfarist Rationale for Relative Poverty Lines’.
76 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

Kinder einen anderen Bedürfniszuschnitt aufweisen als Erwachsene. Durch eine


Äquivalenzskala 156 müssen dementsprechend die Bedürfnisse eines Kindes auf das
eines Erwachsenen umgerechnet werden.
Wie die Haushalte ihr Einkommen tatsächlich zur Bedürfnisbefriedigung der
einzelnen Mitglieder aufteilen, ist normalerweise nicht Gegenstand der statisti-
schen Untersuchung. Die Entscheidung zur Festlegung einer bestimmten relati-
ven Armutslinie ist deshalb natürlich grundsätzlich umstritten, weil ihr stets das
Stigma der Willkür anhaften wird. Die Entscheidungen, die zur Festlegung der
Grenze führen, spiegeln in besonderer Weise die Hypothesen der Statistiker wie-
der, die dem gewählten Zugang gemäß nur mit pauschalisierenden Maßstäben
die Lebenssituationen und Bedürfnisse der Betroffenen einschätzen können, also
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

gar nicht die subjektiven Einschätzungen der Betroffenen bezüglich ihrer je eige-
nen Lebenslage in ihrer komplexen Breite erfassen können. Da aber andererseits
die subjektiven Bedürfnisse der einzelnen Menschen niemals anders als relativ ge-
fasst werden können, entziehen sie sich einer normativen Grundlegung, die
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

gleichwohl das a priori des Statistikers bildet. Die abstrakten Vorannahmen zur
Begründung der Armutsgrenze sind aber dennoch notwendig, um den Anteil ar-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

mer Haushalte in einer Gesellschaft überhaupt näherungsweise beziffern zu kön-


nen. 157 Dieser Problemlage entsprechend ist die relative Armutslinie oft ema
politischer und sozialer Auseinandersetzungen im Horizont der Debatten um so-
ziale Gerechtigkeit – nämlich vor allem dann, wenn anhand dieser Armutslinie
innergesellschaftlich distributive Vereinbarungen getroffen werden müssen. 158
Es ist allerdings auch wichtig zu bedenken, dass sich der Anteil relativ armer
Haushalte durch die verwendete ökonomische Methodik immer nur in Relation
zu den ökonomischen Kenndaten eines spezifischen Landes beziffern lässt. Das ist
dadurch einsichtig zu machen, weil global gesehen sehr große Unterschiede zwi-

156
Das Haushaltsnettoeinkommen wird dabei „durch die Summe der Gewichte der jeweiligen haus-
haltsspezifischen Skala dividiert und das Ergebnis – das so genannte Nettoäquivalenzeinkommen
– jedem Haushaltsmitglied zugeordnet. Auf diese Weise wird also ein gewichtetes Pro-Kopf-
Einkommen als Wohlfahrtsindikator ermittelt. Als Äquivalenzskala wird neuerdings die modifi-
zierte OECD-Skala verwendet, die dem ersten Erwachsenen im Haushalt ein Gewicht von 1,0,
weiteren Mitgliedern über 13 Jahre Gewichte von 0,5 und jüngeren Kindern Gewichte von 0,3
zuordnet.“ Vgl. Hauser, ‚Überwindung von Armut und sozialer Ausgrenzung – eine Illusion?‘, S.
41.
157
Vgl. Paugam, Die elementaren Formen der Armut, S. 8f. sowie Andreß, Empirical Poverty Research
in a Comparative Perspective.
158
Die Armutsschwelle definiert sich als die Summe der aufzubringenden Geldmittel, die nötig sind,
um ein Referenzlevel an Wohlbefinden zu erreichen, ab dem eine Armutssituation verlassen wird.
Das Referenzlevel wird nicht völlig frei bestimmt, sondern er beruht hinsichtlich der Armutsbe-
stimmung auf Informationen über minimale Versorgungbedürfnisse des Körpers, um die biologi-
sche Funktionalität des Körpers aufrecht zu erhalten, Wissen um die Anforderungen für die Er-
haltung der Gesundheit, die aktive Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben oder
ähnliche qualitative Bestimmungen. Dass diese Informationen zur Bestimmung der Armuts-
schwelle je völlig unterschiedlich zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden können und
dadurch ihr Aussagegehalt wissenschaftlich stark umstritten ist, dürfte nachvollziehbar sein. Vgl.
für eine Darstellung der angelegten Bestimmungsraster zur Kalkulation der Armutsschwelle:
Ravallion, Art. ‚Poverty Lines‘.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 77

schen den aggregierten Medianhaushaltseinkommen der Länder existieren, und


dann im Vergleich zu den Schwellenländern und ärmsten Ländern die Armen in
den Industriestaaten einen immer noch extrem hohen Lebensstandard aufweisen.
Der im direkten Einkommensvergleich zwischen wirtschaftlich weit auseinander-
liegenden Ländern sich zeigende hohe Lebensstandard der Armen in den wohl-
habenden Ländern kaschiert jedoch nicht, dass auch relative Armut einen gravie-
renden, selbstwert- und selbstachtungszerstörenden Einfluss auf die von ihr Be-
troffenen haben kann, weil sie die eigene, subjektiv wahrgenommene Lebenslage
gegenüber den Besserstehenden als marginalisiert und vom gesellschaftlichen Le-
ben ausgeschlossen erfahren. 159 In den wohlhabenden Ländern bestehen wie
überall kulturell vorgeprägte Erwartungshaltungen an die Bedürfnisse, die ein
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Mensch zur angemessenen Teilhabe an der Gesellschaft befriedigen können muss.


Deshalb wird auch dort von den Betroffenen die Erfahrung von Armut als schwe-
re Einschränkung ihrer Chancen erfahren, und deshalb gilt das sozio-kulturelle
Minimum als Minimalziel eines sozial angemessenen Lebensvollzugs in einer spezifi-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

schen Gesellschaft. Obgleich die nackte Existenz durch verschiedene soziale Für-
sorgeeinrichtungen in den wohlhabenden Staaten normalerweise geschützt ist, ist
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

die Erfahrung der Deprivation 160 durch Armut in den Kategorien sozialer Schwä-
che, sozialer Isolation und Stigmatisierung trotz des in absoluter Hinsicht ver-
gleichsweise hohen Lebensstandards so hoch, dass Armut auch in reichen Län-
dern wie Deutschland als dezidierte Menschenrechtsverletzung in den Blick poli-
tischer und juristischer Auseinandersetzungen kommen kann. 161

C.2.b Absolute Armut

Die ökonomische Rationalität in der Bestimmung relativer Armut bezieht sich


auf Länder, deren wirtschaftliche Struktur eine breite Ausdifferenzierung der Ein-
kommen zeigt, also vor allem Länder mit durchschnittlich hohem oder mittlerem
Einkommen wie z. B. Industriestaaten und Schwellenländer. Nur in diesen Län-
dern ist die Bevölkerung durch eine weite Einkommensspreizung soweit stratifi-
ziert, bzw. ist die Lebensqualität generell mindestens so hoch, dass eine relative
Armutsbestimmung in ihrer Funktion als Schwellenwert eines sozio-kulturellen

159
Vgl. Paugam, Die elementaren Formen der Armut, S. 10. Beziehungsweise, wie Daniela Klimke
herausstellt, spiegelbildlich sich die Bessergestellten von den Armen abschließen: „Das meritokra-
tische Ideal überkommener Zeiten wirkt umso mehr als sicherheitsstiftende Illusion, wie der sozi-
ale und ökonomische Status aller prekär wird. So könnten nicht nur die gefährlichen und ‚un-
würdigen Armen’ leicht zur Projektionsfläche misslungener Lebensführung genutzt werden. In
Zeiten der Pflicht zur Selbstaktivierung dienen dann solche Figuren der Vergewisserung, das ei-
gene Lebensunternehmen zu meistern und zugleich als Warnung, dass dort unten der Moloch
nichtresponsibilisierbarer Daseinsweisen lauert.“ Die Marginalisierung ist ein doppelbödiges Ge-
schäft, das eine Perspektive auf beide an diesem Prozess beteiligten sozialen Gruppen ermöglicht.
Vgl. Klimke, Exklusion in der Marktgesellschaft, S. 9.
160
Vgl. Dietz, Soziologie der Armut, S. 99.
161
Vgl. Segbers, ‚Menschenwürde, Menschenrechte und Armut‘, S. 62f.
78 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

Partizipationsminimums schon durch die Zahl der Betroffenen und dem damit
zusammenhängenden Aussagegehalt über den Anteil armer Haushalte überhaupt
ökonomisch und soziologisch sinnvoll erscheint.
Die Einkommenssituation der Bevölkerung von Entwicklungsländern stellt
sich dagegen völlig anders dar. Dort ist die große Mehrheit der Menschen sehr
arm, wodurch als Voraussetzung der für die Bestimmung der relativen Armut
notwendige komparative Faktor entfällt. Eine Gleichsetzung der großen Armut
beinahe aller mit dem sozio-kulturellen Minimum, wie es bei der relativen Armut
geschieht, muss dementsprechend ebenso ausscheiden, weil integrierte Armut,
wie im vorherigen Abschnitt erläutert wurde, die sozialen Lebensformen in Gänze
prägt. Dadurch lässt sich keine Unterscheidung zwischen der Normallebensweise
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

und einem Leben in Armut treffen, wie es zur Definition eines sozio-kulturellen
Minimums notwendig wäre; integrierte Armut selbst gibt die allgemeinen An-
haltspunkte zur Auseinandersetzung mit den bestehenden sozialen Lebensformen
der gesamte Gesellschaft vor und ist in dieser Hinsicht die allgemeine Reflexions-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

fläche, auf der arme Gesellschaften in ökonomischer Perspektive untersuchbar


werden.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Die Bestimmung des ökonomischen Schwellenwerts, ab dem extreme Armut –


entgegen der relativen Armut – die von ihr Betroffenen permanent mit der stän-
digen Gefahr eines frühen Todes bedroht, kann deshalb nicht durch die einfache
Bestimmung einer willkürlich festgelegten Einkommenshöhe erfolgen. Denn nur
aus der numerischen Höhe des Einkommens und ihrer anschließenden Bewer-
tung und Einordnung lässt sich ohne weitere Qualifizierungen nicht erfassen, wie
gefährlich extreme Armut für die Betroffenen ist. Das Mindestmaß an Einkom-
men oder Gütern, das für die Befriedigung der lebensnotwendigen Grundbe-
dürfnisse vorauszusetzen ist, lässt sich nur dann auf eine Zahl bringen, wenn das
weite und vieldimensionale Feld menschlicher Bedürfnisse, im Menschen ange-
legte Entwicklungsfähigkeiten, und die Bedürfnisse, die die sozialen Konstellatio-
nen einfordern, zu seiner Bestimmung als Mindestlevel des Wohlergehens 162 her-
angezogen werden. Eine quantitativ errechenbare Minimalhöhe an Einkommen
und Gütern benötigt deswegen a priori durchgeführte Überlegungen hinsichtlich
des qualitativen Mindeststandards, unter denen die Menschen ihr Leben führen
sollten. Mit der Qualifizierung dieses untersten Schwellenwerts ist die absolute
Armut klar von der relativen Armut zu unterscheiden, deren Grenzwert sich im-
mer in Abhängigkeit bestimmter gesellschaftlicher Kennzahlen verändert und
schon dadurch keine qualitative Bestimmung absoluter Untergrenzen durch die je
verfügbaren lebensnotwendigen Güter zulässt. In einem gewissen, eingeschränk-

162
Dieser Begriff entspricht im Englischen dem Ausdruck ‚well-being‘, und fängt leider im Deut-
schen nicht die große semantische Bandbreite ein, die im englischen Begriff mitschwingt. Eine
andere mögliche Übersetzung wäre Wohlbefinden, die im Weiteren aber nicht verwendet wird.
Mit ‚Wohlbefinden‘ wird üblicherweise ein vor allem subjektiv erlebter Zustand bezeichnet, wäh-
rend ‚Wohlergehen‘ zumindest im Deutschen eine stärker objektive Konnotation beinhaltet. Der
Begriff oszilliert damit in der Bezeichnung einer Lebenssituation zwischen einem externen, objek-
tiven und einem internen, subjektiven Standpunkt.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 79

ten Sinn ist die Bestimmung der absoluten Armutsgrenze dennoch als relativ zu
betrachten: im Gegensatz zur Bestimmung über andere Einkommenshöhen wie
bei der relativen Armut wird sie komparativ zu einem qualitativen Mindestlevel
an Wohlergehen bestimmt. 163
Absolute Armut markiert entsprechend dieser Unterscheidung die absolute und
weltweit geltende Einkommensuntergrenze, unterhalb der das Leben der Armen
durch zahlreiche Gefährdungen fortlaufend in seiner Persistenz bedroht ist. Seit
der Überarbeitung der statistischen Einflussgrößen und der Neuberechnung der
ökonomischen Faktoren durch die Weltbank im Jahr 2005 beträgt diese Unter-
grenze $1,25 in lokaler Kaufkraftparität (PPP = Purchasing Power Parity). 164 Das
bedeutet, dass wer nach statistischer Bemessung weniger als diese $1,25 PPP am
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Tag zur Verfügung hat, als absolut Armer gilt.


Der Doppelaspekt von quantitativer und qualitativer Bestimmung der Mini-
malschwelle menschlichen Wohlergehens findet sich prägnant in der Armutsbe-
stimmung der Weltbank wieder, die schreibt, dass
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

“[p]overty is pronounced deprivation in well-being, and comprises many dimen-


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

sions. It includes low incomes and the inability to acquire the basic goods and ser-
vices necessary for survival with dignity. Poverty also encompasses low levels of
health and education, poor access to clean water and sanitation, inadequate physical
security, lack of voice, and insufficient capacity and opportunity to better one’s
life.” 165
Hier wird besonders hervorgehoben, dass absolute Armut als vieldimensionaler
Faktor wesentlich weitere Lebensbereiche berührt als sonst die mangelhafte Ver-

163
Vgl: „An absolute approach in the space of capabilities translates into a relative approach in the
space of commodities“, Sen, ‘Development: Which Way Now?’, S. 168.
164
Die lokale Kaufkraftparität (Purchasing Power Parity [PPP]) entstammt als Modell der makro-
ökonomischen Analyse. Man spricht dann von Kaufkraftparität, wenn Waren und Dienstleistun-
gen eines standardisierten Warenkorbs in zwei geographischen Räumen für den gleichen Geldbe-
trag – hier: $1 – erworben werden können. Müssen in der Analyse unterschiedliche Währungs-
räume verglichen werden, ist es notwendig, Wechselkurse in die Kalkulation miteinzubeziehen.
Die Methode zur Gewinnung des standardisierten Dollars ist allerdings seit jeher umstritten. Als
besonders problematisch wird von den Kritikern der standardisierte Warenkorb betrachtet, der
auf der einen Seite handelbare Güter enthält, die überall auf der Erde ungefähr gleich viel kosten,
der auf der anderen Seite aber auch Dienstleistungen enthält, die normalerweise in den weniger
entwickelten Ländern viel günstiger zu erhalten sind als in den entwickelten Ländern, wodurch
das Bruttoinlandsprodukt der Entwicklungsländer generell als tendenziell zu gering ausgewiesen
ist. Außerdem, so die Kritiker, seien die Währungen ärmerer Länder generell unterbewertet, so
dass sich ihr Pro-Kopf-Einkommen in Dollar-Kaufkraftparität zumeist höher darstellt als wenn
man sie mit offiziellen Wechselkursen umrechnen würde. Schließlich bildet der für die Umrech-
nung standardisierte Warenkorb die durchschnittliche Konsumneigung eines Landes (oft mit e-
her urbaner Tendenz als ländlicher Tendenz) ab, die sich normalerweise jedoch deutlich von der-
jenigen der Armen unterscheidet. Für eine laufend aktualisierte Zusammenfassung der Debatte
vgl. Pogge; Reddy, How Not to Count the Poor, erhältlich unter <http://ssrn.com/abstract=893
159>, letzter Zugriff am 27.05.2011. Für die Gegenposition der Weltbank siehe: Ravallion,
‚How Not to Count the Poor?’.
165
Vgl. World Bank, ‚Poverty and Inequality Analysis‘, erhältlich unter: <http://go.worldbank
.org/VFPEGF7FU0>, letzter Zugriff am 01.06.2011.
80 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

fügbarkeit von Ressourcen im Horizont eingeschränkter Haushaltskaufkraft, wel-


che in den klassischen ökonomischen Ansätzen ausschließlich in den Blick
kommt, deutlich machen könnte. Absolute Armut ist dadurch vielmehr die Be-
zeichnung für eine spezielle Lebensform, die eng mit der integrierten Armut als
Gesellschaftsform zusammenhängt. Menschen, die in absoluter Armut leben
müssen, sind vor allem damit beschäftigt, äußere Einflüsse abzuwehren, die auf
verschiedene Weise verhindern, dass ihnen eine ungefährdete Subsistenz möglich
ist. 166 Das Wohlergehen des Menschen unterliegt durch absolute Armut in ent-
scheidenden und meist unbeeinflussbaren Momenten seines Lebensvollzugs ex-
ternen Einflussgrößen, die seinem individuellen Verantwortungsbereich in gro-
ßen Teilen entzogen sind.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Die ökonomische Minimalschwelle, die mit einem täglichen Einkommen von


$1,25 PPP festgesetzt ist, ist vor diesem Hintergrund die statistisch berechnete
Grenze, über der die Auswirkungen extremer Armut durch die Betroffenen soweit
gemildert werden können, dass Armut keinen lebensgefährlichen Einfluss mehr
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ausübt: zum Beispiel, in dem dann eher die Möglichkeit besteht, medizinische
Hilfe in Anspruch zu nehmen oder ein Medikament erworben werden kann, in
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dem Kinder zur Schule geschickt werden können, in dem sauberes Wasser erwor-
ben werden kann. In der Methodik der Armutsmessung wird dieser Annahme
entsprechend angenommen, dass erst mit einem Einkommen über dieser Mini-
malschwelle ein wenigstens äußerst bescheidenes Wohlergehen des Menschen
möglich ist, wenngleich sicher noch lange nicht von einem ‚guten Leben‘ gespro-
chen werden könnte.
Die Bestimmung des Schwellenwertes absoluter Armut erfolgt in der Ökono-
mie also über einen Dreischritt, den Martin Ravallion wie folgt definiert: zuerst
wird ein spezifischer Indikator des Wohlergehens festgelegt (1), anschließend
wird als Armutslinie (poverty line) ein minimalakzeptabler Standard dieses Stan-
dards bestimmt, um die absolut Armen von den Nicht-Armen unterscheiden zu
können (2), bevor schließlich statistisch das Verhältnis des Indikators gegenüber
der Armutslinie errechnet und dadurch die Gesamtzahl der Armen als Ergebnis
des Dreischritts summiert werden kann. 167

C.2.b.1 Armutsschwelle und Armutsindikatoren


Andererseits wirft die Bestimmung des untersten Schwellenwertes große metho-
dologische Schwierigkeiten auf. Das Wohlergehen des Menschen als quantifizier-
bare Größe bestimmen zu können ist ein notorisches Problem der Ökonomie, da
sie ja für diese Aufgabe einen Weg finden muss, das Niveau des Wohlergehens in
der Bandbreite von biologischen bis geistigen Potenzialitäten des Menschen ob-

166
Vgl. Haughton; Khandker, Handbook on Poverty + Inequality, S. 2f.
167
Diese Definition gilt natürlich für Armutsschwellen allgemein. Vgl. Ravallion, ‘Poverty Lines in
eory and Practice’.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 81

jektiv messbar zu machen. 168 Die Bestimmung des untersten Schwellenwertes von
$1,25 PPP steht und fällt dementsprechend mit der Möglichkeit, minimales
Wohlergehen tatsächlich als überhaupt messbar ausweisen zu können. Andern-
falls wäre die methodisch intendierte Signifikanz der absoluten Armutsschwelle
als Doppelfunktion von Einkommenshöhe und Lebensqualität nicht aufrechtzu-
erhalten. Generell problematisch ist bei der Definition einer weltweit gültigen,
absoluten Armutslinie außerdem die von der Realität vielschichtiger und vieldeu-
tiger Armutswelten abstrahierende Methode der Armutsmessung, weil sie die Ge-
samtsumme der absolut Armen als relativ homogene Gruppe konstituiert. Die
Armutslinie von $1,25 PPP subsummiert alle Menschen, die sich in der nach
weltweit geltenden, statistischen Indices bestimmten gleichen prekären Lebensla-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ge befinden, ohne methodisch einen Reflexion auf die völlig unterschiedlichen


Herkunftskulturen oder Lebenswelten der Betroffenen zu thematisieren. 169 Doch
wer wollte ernsthaft bestreiten, dass sich Umwelt, Kultur, Lebensform und
dadurch auch die spezifische Mangel- und Bedürfnissituation der Armen im sub-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

168
Kritisch verzeichnet Leif Wenar zu diesem Anspruch: „Yet what is remarkable in these debates is
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

how deep the disagreements run about what economic methods are appropriate for assessing the
data, and about what data are relevant for evaluating particular development strategies. Indeed,
even the most widely used World Bank statistics addressing elementary questions like how many
poor people there are in the world, and whether that number is increasing or decreasing, have
been strongly criticized by responsible academics as ‘neither reliable nor meaningful’.” Vgl.
Wenar, ‘What We Owe to Distant Others’, S. 294. Siehe zu diesem Problem aus ethnologischer
Perspektive auch: Leatherman, ‘A Space of Vulnerability in Poverty and Health’, S. 49.
169
Gerade der Unterschied zwischen städtischer und ländlicher Armut wird dadurch eingeebnet,
obwohl sich die Phänomene extremer Armut an diesen beiden Orten in globaler Perspektive am
deutlichsten unterscheiden. Extreme Armut zeigt sich in ruralen und urbanen Gegenden also in
stark unterschiedlichen Ausprägungen, wie Satterthwaite bemerkt, weshalb in den meisten Län-
dern eine einkommensbasierte Armutslinie diejenigen stark unterbewertet, die als Arme in teuren
Gegenden leben: „In most low- and middle-income nations, very considerable differences
between locations would be expected in the price of food staples, water, sanitation, fuel and shel-
ter. At one extreme, there are particular rural locations where significant sections of the popula-
tion have little or no monetary costs for food […], water […], sanitation […], shelter […] and
fuel […]. At the other extreme, there are particular locations in cities where low-income groups
concentrate because of the advantages these provide with regard to livelihoods, but where access
to all these goods and services is highly monetized – for instance, rent paid for tiny rooms […],
payments made for the use of toilets, and high prices paid for water, fuel, food and getting to and
from work. It is obvious that the same income-based poverty line cannot be used for both these
extremes – it will greatly overstate income poverty in the rural area and understate it in the urban
location. is is not to claim that such rural locations are devoid of poverty; poverty levels there
can be high for other measures of deprivation – people may, for instance, have little or no provi-
sion for infrastructure and services, little or no rule of law (especially for poor groups), and no
democratic channels that allow poor people political voice and influence. e water may be free
but it may involve long journeys to and from the source, and it may be contaminated. Nor is this
to imply that all rural locations have lower living costs than all urban locations. Particular rural
locations may have high living costs for low-income groups – for instance, migrant labourers who
live in temporary camps, or landless agricultural workers who rely on the farmer’s ‘shops’ and
who may also have to rent accommodation. At the same time, households in many urban centres
(especially the smaller and less prosperous ones) may be able to access many essential goods for
free or cheaply, and many low-income urban dwellers grow part their food.” Vgl. Satterthwaite,
‚e Millennium Development Goals and Urban Poverty Reduction’, S. 187.
82 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

saharischen Afrika ganz außerordentlich von denen der lateinamerikanischen un-


terscheiden wird? Tatsächlich ist die von der Weltbank festgelegte Einkommens-
obergrenze von $1,25 pro Tag in lokaler Kaufkraftparität das einzige Merkmal,
das die zahlreichen Realitäten der extremen Armut unter sich vereint, damit aber
auch die Vielfalt von menschlichen Daseinsformen und subjektiv erfahrenen Le-
benswelten ökonomisch auf eine einzige reduziert.
Die Einengung auf einen hauptsächlich als Einkommensarmut verstandenen
Begriff von Armut – obwohl, wie gezeigt werden wird, Armut auch durch andere
Indikatoren gemessen werden kann und sollte – ist vor dem Horizont schneller
Aussagemöglichkeiten über die Höhe der Armut verständlich und besitzt dort
gewiss ihren guten und richtigen Sinn. Problematisch wird die Ökonomisierung
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

eines absoluten Armutsbegriffs allerdings dann, wenn er nicht durch komplemen-


täre Überlegungen zur konkreten Situation der Betroffenen erweitert wird, bzw.
besonders die lokalen Gegebenheiten untersucht werden, die Armut kontinuieren
lassen. Denn allzu leicht verführt das Wissen um scheinbar genau feststellbare
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Zahlen in eine ‚Allmachtsfalle‘, die Helmut Reifeld als Kennzeichen aller bisheri-
ger Versuche, die Entwicklung der Ärmsten auf der Grundlage nur scheinbar
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

plausibler und nachvollziehbarer Fakten voranzutreiben, beschrieben hat. Die


von ihm kritisierte Überzeugung, mit der ökonomischen Qualifizierung der ar-
mutsrelevanten Indizes auch schon wissen zu können, was die Ursachen von Ar-
mut seien, habe als „‚Planungseuphorie‘ immer wieder zur Formulierung von
Maßnahmen geführt, die bei den Armen nicht angekommen seien.“ 170

C.2.b.1.(a) Der einkommensorientierte Ansatz


Der ‚klassische‘ ökonomische Indikator zur Bestimmung des Wohlergehens eines
Haushalts ist in den entwickelten Ländern die Messung des Einkommens als
Summe aus Konsum und Reinvermögen. Während diese beiden Größen in den
entwickelten Ländern das Niveau des Wohlergehens von Haushalten relativ ko-
härent widerspiegeln können, spielt das Nettoeinkommen als Indikator für Ar-
mut in Entwicklungsländern nur eine untergeordnete Rolle, weil die Armen
normalerweise über kein regelmäßiges Einkommen verfügen; es ist deshalb dort
die Summe der Konsumaufwendungen, die als oft einzig messbare Größe für das

170
Beide Zitate: Reifeld, ‚Armutsbekämpfung unter den Bedingungen der Globalisierung‘, S. 50.
Vor dieser Gefahr sind selbst Soziologen und Philosophen nicht gefeit, die sich schon lange mit
Armutsthemen auseinandersetzen. Ein besonders deutliches Zeichen für diese Allmachtsfalle sind
zum Beispiel die 312 Milliarden Dollar, die omas Pogge zur Beseitigung extremer Armut
weltweit als Pauschalbetrag veranschlagt – vgl. Pogge, World Poverty and Human Rights, S. 2.
Richard Hauser hält gegen den imaginierten Nutzen von Pogges Milliardenbetrag aus dezidiert
ökonomischer Perspektive fest, dass „die völlige Beseitigung von Armut auch auf lange Sicht eine
Illusion bleiben wird. Denn wirtschaftliche Entwicklung ist zwar eine notwendige, aber noch
keine hinreichende Voraussetzung für die Reduzierung oder gar Beseitigung von Armut. Hierzu
bedarf auch ausreichender Entwicklungshilfe und eines Regierungssystems, das der sozialen Absi-
cherung und der Beseitigung von Armut Priorität einräumt. Hierfür gibt es kaum Anzeichen.“
Vgl. Hauser, ‚Überwindung von Armut und sozialer Ausgrenzung – eine Illusion?‘, S. 35.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 83

dauerhafte Einkommen den primären Stellenwert in der ökonomischen Untersu-


chung einnehmen kann. Mit diesem Problem verbunden ist, dass die Aufwen-
dungen für Miete und der Besitz dauerhafter Güter nur geschätzt werden kön-
nen, um eine wenigstens angemessene Annäherung an das Gesamthaushaltsein-
kommen zu erreichen. Der klassische Ansatz beruht also auf einer Nutzenkalkula-
tion, und der Nutzen, den ein Haushalt durch sein ihm verfügbares Einkommen
generieren kann, dient als Maßstab für sein Wohlergehen. Durch diese Methode
der Bestimmung des Wohlergehens werden jedoch andere Einflüsse ausgeblendet,
die als ebenso wichtig für das Wohlergehen des Menschen gelten müssen: etwa
die Nutzung öffentlicher Güter, die Möglichkeit des Genusses von Freizeitaktivi-
täten, im Endeffekt also der weite Bereich menschlicher Aktivitäten, der außer-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

halb der ökonomisch bezifferbaren Zusammenhänge von Einkommen und Ver-


mögen steht, aber generell als wichtig für das Dasein des Menschen in den unter-
schiedlichen sozialen Konstellationen zu erachten ist. Einkommen und Konsum
werden in dieser Hinsicht als neutrale ‚Inputs‘ angesehen, die Nutzeneinheiten
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

für einen Haushalt generieren können, ohne dass diese einer reflektierenden qua-
litativen Untersuchung unterworfen werden.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

C.2.b.1.(b) Der lebensqualitativ orientierte Ansatz


Davon unterscheiden sich Modelle, die ihren Fokus in der Bestimmung des
Wohlergehens auf den qualitativen ‚Output‘ legen, der vom Haushalt mit dem
ihm zur Verfügung stehenden Einkommen und Gütern generiert werden kann,
und die entsprechend der qualitativen Ziele ihre Indikatoren auswählen. Diese
Modelle gewinnen die Armutsschwelle etwa aus dem Kalorienverbrauch der
Haushaltsmitglieder pro Tag, dem Verhältnis der Ausgaben für Nahrungsmittel
im Vergleich zu den Gesamthaushaltsausgaben oder aber den Ernährungsstatus,
der über die körperliche Entwicklung gemessen werden kann. 171 Im Gegensatz zu
den einkommensnutzenorientierten Modellen sind diese Modelle nicht neutral
gegenüber den Aktivitäten, die ein Haushalt mit den ihm zur Verfügung stehen-
den Konsumeinheiten entfaltet; dadurch, dass sie in ihren Zielvorgaben qualitati-
ve Maßstäbe an die Lebenssituation der Haushalte anlegen, wie etwa eine durch-
schnittlich zu erreichende Lebenserwartung oder den prozentualen Anteil der
Nahrungsmittelausgaben, orientieren sie den qualitativen Gesamtnutzen, den ein
Haushalt anstreben und erreichen sollte, an diesen normativen und gewisserma-
ßen paternalistisch angelegten Vorgaben.

C.2.b.1.(c) Vergleich beider Ansätze


Für die ökonomische Interpretation von Armut weisen damit letztlich beide An-
sätze in unterschiedlicher Weise Problemstellungen auf. Der einkommensorien-
tierte Ansatz muss darauf vertrauen können, dass die Methoden zur Bestimmung
171
Haughton; Khandker, Handbook on Poverty + Inequality, S. 9.
84 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

des Haushaltseinkommens korrekt sind und dadurch die Armutsschwelle auf sta-
tistisch gerechtfertigter Grundlage berechenbar wird: ein besonders in Entwick-
lungsländern notorisch schwieriges und fehlerträchtiges Unterfangen, weil entwe-
der die Datenlage bestenfalls lückenhaft ist, wenn überhaupt Daten vorliegen 172,
oder weil es durch die von Diskontinuitäten geprägte Einkommenssituation ar-
mer Haushalte relativ problematisch ist, das Einkommen zu errechnen – selbst
dann, wenn dies näherungsweise über den Konsum geschehen kann. 173 Besonders
der Faktor Zeit ist bei der Berechnung des Einkommens, welches immer in Ab-
hängigkeit zu einer vorher gewählten Zeitspanne untersucht wird, schwer zu be-
rücksichtigen: viele Betroffene mögen durch äußere Umstände für eine kurze
Zeitspanne arm sein (durch eine Naturkatastrophe, eine familiäre Notsituation,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

etc.), ihre Aussichten könnten sich aber in naher Zukunft schnell verbessern (weil
etwa die Wirtschaftslage eines Landes im Allgemeinen eine positive Tendenz
aufweist). Wird die Bemessungsperiode zur Feststellung der Haushaltseinkom-
mens hingegen für zu lange Zeitabschnitte gewählt, könnten andererseits Hilfs-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

maßnahmen oder institutionelle Unterstützungspläne viel zu spät angeboten


werden. 174
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Allerdings stoßen auch ökonomische Modelle, die bestehende Armut über


qualitativ bestimmte, normative Indikatoren wie den Ernährungszustand der Per-
sonen eines Haushalts messen, an Grenzen. Die Modelle setzen nämlich von ei-
nem Standpunkt a posteriori voraus, dass ein Haushalt in der Vergangenheit alles
Notwendige veranlasste, um die in den qualitativen Vorgaben festgelegten Ziele,
bspw. die Sicherung des bestmöglichen Ernährungszustands aller Personen des
Haushalts, zu erreichen. Vom normativen Standpunkt dieser qualitativen Min-
desterwartung ausgehend wird über die Indikatoren darauf geschlossen, wie viele
Haushalte durch ein Unterlaufen der Zielvorgaben als arm zu kennzeichnen sind.
Allerdings, das zeigt die Realität, ist die Ursachen für das Verfehlen der im Indi-
172
Viele Untersuchungen der Weltbank verweisen immer wieder auf diesen Umstand, und auch in
den großen Untersuchungen zur Armutsentwicklung wird immer wieder darauf hingewiesen,
dass für eine Reihe von Ländern Daten nur interpoliert werden können, weil sie nicht in gesi-
cherter Form vorliegen. Für die Armutsmessung generell als problematisch auszuweisen ist damit
das große Informationsdefizit, das sich vor allem auch in den nur stichprobenhaft stattfindenden
Surveys zur Haushaltssituation methodisch zeigt. Mit vertretbarem Aufwand ist es überhaupt
nicht möglich, in großen Ländern die Situation armer Haushalte in Abhängigkeit von den zahl-
reichen Einflussdimensionen (geographische Lage, infrastrukturelle Anbindung, Stadt-Land-
Problematik, etc.), denen sie unterworfen sind, vollständig abzubilden. Auch hier spielt das her-
meneutische a priori des Statistikers oder Armutsforschers eine große Rolle, die zu selten proble-
matisiert wird.
173
Wie Haughton und Khandker zeigen, ist bereits die Selbsteinschätzung des Einkommens durch
die Betroffenen oft fehlerhaft. Dies hat verschiedene psychologische und kulturelle Gründe:
Menschen vergessen oft Dinge, die verkauft wurden oder Geld, das sie erhalten haben (1), halten
Informationen über die volle Höhe ihres Einkommens aus Furcht vor Steuernachzahlungen oder
ihren Nachbarn zurück (2), geben keine Informationen über Einkommen weiter, die sie über il-
legale Aktivitäten wie Schmuggel, Korruption, Drogenanbau oder Prostitution verdienten (3),
oder sie ihr Einkommen schlicht nicht valide kalkulieren konnten, wie z. B. den Wert der Rinder
im Besitz. Vgl. Haughton; Khandker, Handbook on Poverty + Inequality, S. 23.
174
Vgl. ebd., S. 22.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 85

kator enthaltenen qualitativen Ziele nicht immer die tatsächliche Armut der un-
tersuchten Haushalte. Körperliche Mangelerscheinungen der Haushaltsmitglieder
werden z. B. im Regelfall durch die ‚Output‘-orientierten Modelle so gedeutet,
dass ein Haushalt über zu wenig Einkommen verfügt, um sich in angemessener
Höhe mit überlebensnotwendigen Nahrungsmitteln zu versorgen. Einkommens-
armut ist nun allerdings nicht die einzige Möglichkeit, um körperliche Mangeler-
scheinungen der Haushaltsmitglieder zu erklären. Neben der beinahe schon banal
zu nennenden Möglichkeit, dass keines der Haushaltsmitglieder über Kocherfah-
rung verfügt, um sättigende und gesunde Mahlzeiten zuzubereiten, ist auch der
lebensweltliche Kontext des armen Haushalts in den Blick zu nehmen, der viel-
leicht wegen mangelhafter Infrastruktur – durch nur schlecht ausgebaute Straßen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

zum Transport frischer Nahrungsmittel, durch fehlende Märkte in der näheren


Umgebung – deshalb keine angemessene Lebensführung unterstützt, weil nicht
genug Lebensmittel zum Einkauf zur Verfügung stehen, weil Feuerholz knapp ist,
weil sauberes Trinkwasser von weither beschafft werden muss, usw.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Und wie sollten Haushalte behandelt werden, die eigentlich über genug Ein-
kommen verfügen, um für alle Haushaltsmitglieder in ausreichender Höhe Nah-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

rung, Kleidung und Unterkunft kaufen zu können, die aber trotzdem nach den
qualitativen Indikatoren als extrem arm gelten? Sollte dieser Umstand dann ge-
rechtfertigter Weise zur externen, paternalistischen Bevormundung der Haushalte
hinsichtlich ihrer Ausgabenstruktur führen dürfen? Was sagt eine ökonomisch
bestimmte Armutsschwelle denn letztlich überhaupt aus, wenn sich die ökonomi-
sche Situation eines Haushalts nicht komplementär zum Anschein verhält, den er
nach Außen hin vermittelt? 175 Jedenfalls wird an diesem nicht überwindbaren
Graben zwischen dem objektiv (mehr oder weniger, s. o.) feststellbaren Niveau
der materiellen Einkommenssituation einerseits und den extern angelegten quali-
tativen Zielvorstellungen andererseits deutlich, dass bei der Nichterfüllung von
qualitativen Zielsetzungen des Wohlergehens nicht kausal auf ein bestimmtes
Einkommen geschlossen werden kann, das für ihre Erfüllung minimal notwendig
wäre.
An den Problemstellungen, die beide Zugänge für eine Bestimmung der Ar-
mutsschwelle mit sich bringen, zeigt sich, dass sowohl eine rein einkommens- o-
der konsumzentrierte Bestimmung des menschlichen Wohlergehens im Rahmen
einer Nutzenkalkulation, aber auch eine paternalistische Bestimmung erwartbarer
qualitativer Ziele methodisch nicht genügen kann, eine aussagekräftige Armuts-
schwelle zu definieren: (1) Dem einkommensorientierten Ansatz mangelt es an
erkenntnisbildendem Wissen a priori um die Ursachen und Begleiterscheinungen
der Armut, weil die Höhe des Einkommens allein, wie gezeigt wurde, noch keine
hinreichende Ausgangsbasis für eine Bestimmung von Armut sein kann. Das ver-
fügbare Einkommen oder der Konsum eines Haushalts allein ist ein möglicher,
aber noch nicht hinreichender Grund für die Festlegung einer Armutsschwelle. (2)
Allerdings kann auch in gegenläufiger Perspektive die Bestimmung angemessener
175
Vgl. ebd.
86 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

Zielsetzungen des Wohlergehens nicht rekursiv zur Bestimmung einer bestimm-


ten Einkommenshöhe führen. Es droht nämlich dann die Gefahr, idealistische
und dadurch letztlich paternalistische Zielsetzungen zur Begründung einer Ar-
mutsschwelle zu verwenden, die wenig mit den konkreten (Überlebens-
)Bedürfnissen der Betroffenen vor Ort, sowie deren autonomer Lebensgestaltung
zu tun haben würden.
Andererseits weiten die Modelle einer qualitativen Bestimmung von Ar-
mutsindikatoren aber den Blick auf die nicht-ökonomischen Gründe von Armut:
es darf zwar nicht allein vom Verfehlen qualitativer, nicht-ökonomischer Indika-
toren wie etwa beispielsweise der Lese- und Schreibfähigkeit automatisch auf
ökonomische Ursachen geschlossen werden, aber auf andere strukturelle Faktoren,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

die Analphabetismus generell begünstigen wie hohe Schulgebühren, geschlechts-


exklusive Schulbildung – vorzugsweise von Jungen gegenüber den Mädchen –,
oder schlicht das Fehlen von Schulgebäuden. Eine sachliche Bewertung der Be-
gründungsmöglichkeiten einer ökonomisch fundierten absoluten Armutsschwelle
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

wird deshalb zum Ergebnis kommen müssen, dass beide Modelle einander kon-
textualisiert werden müssen, um dann von konkreten armen Haushalten auf die
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

allgemeine Situation aller armen Haushalte abstrahieren zu können.


Es sind dann bestimmte soziale und institutionelle Verhältnisse, die durch ih-
ren Einfluss die lebensgestaltenden Entscheidungen der Haushalte mitprägen.
Für diese perspektivische Aufweitung stehen in besonderer Weise die qualitativ
orientierten Modelle ein: sie erlauben keinen kausalen Rückschluss auf die Ein-
kommenssituation spezifischer Haushalte, sondern sie objektivieren die institutio-
nellen Rahmenbedingungen, die mit großer Wahrscheinlichkeit und auch abhängig
vom durchschnittlichen Einkommen bestimmte Armutsmuster hervorrufen kön-
nen. In diesem Prozess kommt damit der institutionelle Rahmen einer spezifi-
schen Gesellschaft – respektive generell der Gesellschaften, in denen absolute
Armut endemisch ist – in den Blick, der als Summe aller wirtschaftlichen, kultu-
rellen und gesellschaftlichen Strukturen, in denen die von Armut Betroffenen le-
ben müssen, kritisch zu analysieren ist. Für die Schwelle absoluter Armut, die be-
reits zu Beginn dieses Abschnitts als Konstrukt aus quantitativen und qualitativen
Vorannahmen bestimmt wurde, bedeutet das, dass sie nicht allein als ökonomi-
sches Instrument zur Gewinnung der globalen Zahlen absolut Armer dient, son-
dern dass sie gleichermaßen dazu benutzt werden kann (und sollte), institutionel-
le Strukturen zu kritisieren, die das Wohlergehen der Menschen systematisch be-
hindern. Die Einkommenssituation armer Haushalte wäre dann nicht nur auf der
Grundlage quantitativer Maßstäbe zu reflektieren, sondern sie müsste auch kri-
tisch befragt werden, welche qualitativen Ziele angesichts der je spezifischen insti-
tutionellen Struktur der unterschiedlichen Staaten mit diesem Einkommen er-
reicht werden können, und welche strukturellen Probleme dort auffindbar sind,
die das Wohlergehen extrem Armer verhindern.
Dieser theoretische Zuschnitt der absoluten Armut beschreibt ihr Verhältnis
zu einem Minimallevel an Wohlergehen als ein normatives, im Gegensatz zur re-
lativen Armut, die ihr Verhältnis zum menschlichen Wohlergehen durch eine
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 87

subjektiven Einschätzung der sozio-ökonomischen Mindestausstattung in einer


bestimmten Gesellschaft beschreibt. Sie unterscheidet sich dadurch von einer
durch absolute Armut angezeigten Verletzung des objektivierten, normativ ge-
setzten und dadurch als allgemein geltenden minimalen Levels an Lebensqualität
des Menschen kategorisch.
Durch diese Unterscheidung wird allerdings nicht artikuliert, dass die relativ
Armen als Bedürftige aus ihrer subjektiven Perspektive weniger unter ihrer Situati-
on leiden würden, als dies absolute Arme tun. Wie an anderer Stelle bereits darge-
stellt, lassen sich sogar gewichtige Argumente dafür aufführen, dass relativ Arme
aus ihrer subjektiven Perspektive sogar schwerer unter Armut leiden können als
absolut Arme, die in Gesellschaften leben, in denen integrierte Armut vorherr-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

schend ist. Dafür sprechen hauptsächlich psychologische Gründe, die in be-


stimmten sozio-kulturellen Verhältnissen wurzeln. 176 Es wird jedoch aus Abgren-
zungsgründen davon ausgegangen, dass absolute Armut – sofern sich der ihr in-
nenwohnende objektive Status eines Minimallevels an Wohlergehen begründen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

lässt – durch ihre Stellung als unterster Schwellenwert in ethischer Hinsicht die
moraltheoretisch bedeutendere Stellung einnimmt, weil das konkrete menschli-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

che Leben hier in seiner Existenz bedroht ist. Die Beschränkung der Untersu-
chung auf extreme Armut dient damit vor allem auch dem weiteren systemati-
schen Vorgehen, und stellt keine eigentliche Wertung im engeren Sinne dar; kei-
nesfalls ist aus dieser methodischen (Vor-)entscheidung zu schließen, dass beste-
hende Armut in den wohlhabenden Industriestaaten zu bagatellisieren sei, oder
womöglich gar gegen extreme Armut aufgerechnet werden dürfe, wenn es um die
Unterstützung von Bedürftigen außerhalb des Staatsgebietes geht. 177

C.2.b.2 Als Beispiel: Die Millennium Development Goals


Der Spannungsbogen in der ökonomischen Bestimmung von absoluter Armut
einerseits durch den Indikator der Einkommensarmut und andererseits durch
qualitativ verfasste Indikatoren, deren Erreichen als notwendig für die Beseiti-
gung extremer Armut angesehen werden, zeigt sich in seinem Bezug auf die insti-
tutionellen Strukturen nachdrücklich an den Millennium Development Goals178
(MDGs), die nach über zehn Jahren Verhandlungszeit im September 2000 von
den Staatenlenkern der Welt als globale Ziele verabschiedet wurden und seither
die Agenden zahlreicher global agierender Institutionen – vor allem der World
Bank 179, des IMF 180, der staatlichen 181 und kirchlichen Hilfsorganisationen, zahl-
reicher NGOs sowie auch privater Stiftungen bestimmen.

176
Vgl. für die physio-psychischen Gründe dazu Fußnote 53.
177
Vgl. Dietz, Soziologie der Armut, S. 10.
178
Vgl. für die Liste und umfangreiches, weiterführendes Informationsmaterial: <www.un.org/mill
enniumgoals>, letzter Zugriff am 21.03.2012.
179
Vgl. für die Ziele der World Bank: <http://go.worldbank.org/JQ9Z4PTBY0>, letzter Zugriff am
07.06.2011. Die World Bank setzt ihren Fokus auf zinslose Kredite für Entwicklungsländer,
Fördergelder und Bürgschaften, mit denen die Ursachen der Armut bekämpft werden sollen.
88 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

Die Millenniumsziele benennen in konkreter Form acht bis 2015 einzulösende


quantitative und qualitative Zielvereinbarungen, zu deren Erreichung sich die un-
terstützenden Staaten selbst verpflichteten. Die acht MDGs formulieren als Ziel-
setzungen qualitative Verbesserungen der strukturellen Grundlagen der Lebens-
welt der Armen und fordern daher nicht nur die quantitative ‚Halbierung des An-
teils 182 der Menschen, die weniger als $1 am Tag verdienen‘ ein (Ziel 1), sondern
vor allem auch die Sicherstellung elementarer Schulbildung für alle Kinder, egal
ob Jungen oder Mädchen (Ziel 2), die Einebnung aller geschlechtsspezifischen
Einschränkungen im Besuch von Bildungseinrichtungen (Ziel 3), die Reduzie-
rung der Sterblichkeit der Kinder unter 5 Jahren um zwei Drittel (Ziel 4), die
Verminderung der Todesrate von Müttern um drei Viertel und die Ermögli-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

chung eines allgemeinen Zugangs zu Fortpflanzungsmedizin (Ziel 5), einen


Stopp der HIV-Ausbreitung sowie medikamentöse Versorgung aller an HIV Er-
krankten (Ziel 6), die Förderung von Prinzipien nachhaltiger Entwicklung und
den Zugang zu sauberem Wasser sowie mindestens einfachen sanitären Anlagen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

(Ziel 7) und die Erfüllung institutioneller Zielvorgaben, welche ein transparentes


Handels- und Finanzsystem einfordern, das den besonderen Bedürfnissen der
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Entwicklungsländern gerecht wird, und das eine Lösung für das Schuldenprob-
lem der Entwicklungsländer findet (Ziel 8).
Die MDGs stellen in dieser Zusammenstellung einkommens- und strukturen-
abhängiger Ursachen extremer Armut gegenwärtig – auch durch die ihnen zu-
grundeliegende weitreichende politische Unterstützung – den Minimalkonsens
der Gründe bestehender extremer Armut dar. An den Zielen, die in den MDGs
formuliert sind, zeigen sich also negativ gewendet die Ursachen extremer Armut:
Menschen sind zwar durch eine mangelhafte Einkommenshöhe in ökonomischer
Hinsicht als arm zu bezeichnen, aber ihr Leben in Armut wird durch zahlreiche
weitere strukturelle Faktoren tief beeinflusst, die die Verwirklichung ihrer Le-
benschancen qualitativ einschränken.

Durch Fachberatungen für bessere Nutzung der Böden durch die Agrarwirtschaft und Ernäh-
rungsprogramme will sie dazu beitragen, die Ernährungssituation besser zu gestalten.
180
Vgl. für die Ziele des IMF: <http://www.imf.org/external/np/exr/facts/mdg.htm>, letzter Zugriff
am 07.06.2011. Der IMF sieht seinen Schwerpunkt in der Beratung staatlicher Institutionen von
Entwicklungsländern, außerdem stellt er finanzielle Unterstützung zur Verfügung und verhandelt
über Schuldenerlasse. Außerdem versucht der IMF zu erreichen, dass die politische Linie in den
wohlhabenden Ländern sich für die Entwicklungsländer unterstützend auswirkt, dort Märkte für
Waren aus Entwicklungsländern geöffnet werden, und die Selbstverpflichtungen zur Entwick-
lungshilfe eingehalten werden.
181
Vgl. für Deutschland: <http://www.bmz.de/de/ministerium/aufgaben/index.html>, letzter Zu-
griff am 07.06.2011. Dort werden explizit die Millenniumsentwicklungsziele als grundlegende
Orientierung für die eigene Arbeit aufgeführt.
182
Das Wort ‚Anteil‘ ist eine spätere Modifikation der MDGs und deshalb Ort der Debatte zwi-
schen omas Pogge und der Weltbank. Ursprünglich stand an dieser Stelle schlicht das Wort
‚Zahl‘. Wegen des weltweit unverminderten Bevölkerungswachstums erleichtern sich die Staaten
durch diese kleine Änderung nun ihre Arbeit, kritisiert omas Pogge, denn der Anteil ist we-
sentlich leichter zu senken als die absolute Zahl der absolut Armen. Vgl. dazu: Pogge, ‚How
World Poverty is Measured and Tracked’, S. 51-68.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 89

Die Bestimmung der möglichen Inhalte der qualitativen Zielvorgaben und der
dazu notwendigen institutionellen und gesellschaftlichen Strukturen ist aber auch
abseits von den MDGs allein auf der Grundlage des ökonomisch verfügbaren In-
strumentariums nicht möglich. Die reflektierte Bestimmung der qualitativen
Zielvorgaben ist die Aufgabe der politischen Ethik und Sozialethik, die sich aus
dem Wissen um die menschliche Bedürfnisnatur den möglichen Inhalten der Vo-
raussetzungen zum menschlichen Wohlergehen annähern kann. Die hierzu wich-
tigsten Positionen der Gegenwartsethik werden im nächsten Kapitel dargestellt
und erörtert. Nun gilt es aber zuerst noch einmal, die Armutsindikatoren einer
Kritik zu unterziehen, um herausarbeiten zu können, was diese tatsächlich messen
können und an welchen Problemstellungen sie letztlich scheitern müssen. Es wird
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

sich dabei herausstellen, dass es insbesondere die Audit-Kultur moderner, einer


weitgehenden Ökonomisierung unterworfenen Institutionen ist, die die Mittel
der Armutsbekämpfung auf internationaler Ebene zunehmend von den tatsächli-
chen Bedürfnissen der Betroffenen vor Ort abstrahiert.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

C.2.c Die problematische Unschärfe von Armutsindikatoren durch


Auditierung

Die Indikatoren der Armutsmessung beruhen, wie in den letzten Abschnitten ge-
zeigt wurde, auf statistischen Modellen, die die äußerst komplexen und vielfälti-
gen Daten aus den unterschiedlichen Studien und Haushaltsbefragungen in eine
abstrakte und formalisierte Struktur kondensieren sollen. In diesem Vorgang der
Formalisierung kann methodisch weder auf die subjektive erfahrene Situation der
Betroffenen, noch auf den lebensweltlichen Kontext der Haushalte, die die für die
Erhebung der Daten notwendigen Informationen liefern, Bezug genommen wer-
den. Die Indikatoren werden vielmehr intentional so zugeschnitten, dass sie das
zugrunde liegende Datenmaterial vereinfachen und zuspitzen. Erst durch diesen
Vorgang der Zuspitzung können die erhobenen Daten überhaupt erst als Basis
für politische Auseinandersetzungen mit der Armut dienen: als zwar abstraktes,
dafür aber standardisiertes Wissen. 183
In die unterschiedlichen Indikatoren fließt, dem ökonomischen Hintergrund
der meisten Datenerhebungen gemäß, vor allem quantitativ erfassbares Datenma-
terial ein, z. B. wird für den armutsrelevanten Indikator der Müttersterblichkeits-
rate der Alphabetisierungsgrad oder die Zahl der Nachkommen statistisch in ei-
nen Zusammenhang gesetzt. Darüber hinaus wird aber auch qualitatives Daten-
material in die Indikatoren einbezogen, etwa indem versucht wird, die quantitativ
verfügbaren Zahlen mit der Qualität der Gesetzgebung hinsichtlich formaler
Gleichberechtigungsansprüche oder mit einer gesetzlich festgelegten Quotenrege-

183
Vgl. Merry, ‘Measuring the World’, S. 86. Vgl. dazu auch Groh-Samberg, Armut, soziale Aus-
grenzung und Klassenstruktur, S. 27f. Groh-Samberg hebt besonders die politische Vereinnah-
mung der Beschreibung von Armutsphänomenen kritisch hervor.
90 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

lung zum Mädchenanteil in den Grundschulen zu korrelieren. Dass die daraus re-
sultierenden Indikatoren zur Armutsmessung es nicht erlauben werden, als objek-
tive Aussagen über die Höhe an Armut verstanden werden zu können, wird daran
ersichtlich, dass die Auswahl und Korrelation der unterschiedlichen quantitativen
und qualitativen Faktoren in hohem Maße von der vorgängigen Interpretation
der verfügbaren Daten und dadurch von den hermeneutischen Vorannahmen der
Statistiker über die vermutete Gesamtwirkung der unterschiedlichen strukturellen
Einflüsse auf die Ursache von Armut abhängt.
Die Statistiker sind letztlich dafür verantwortlich, dass das Verhältnis, in dem
die unterschiedlichen Faktoren in die Indikatoren einfließen, sehr genau analy-
siert und erörtert wird. Je nach ihrer hermeneutischen Perspektive auf die struk-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

turellen Ursachen der Armutsindikatoren ist es für unterschiedliche Forscher-


gruppen natürlich sehr wahrscheinlich, in dieser Abwägung des Verhältnisses der
Faktoren in den Indikatoren auch zu völlig unterschiedlichen Zusammenstellun-
gen quantitativer und qualitativer Faktoren zu gelangen. 184 Die Problematik die-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ser oft nicht transparent gehandhabten hermeneutischen Bestimmung durch Sta-


tistiker wird offensichtlich, wenn es um die konkreten Maßnahmen der Armuts-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

bekämpfung geht, die sich aus den Indikatoren im Umkehrschluss ergeben: je


nach methodisch gewählten Zusammenhang aus den unterschiedlichen Ursachen
der Armut in einem gewählten Land bieten sich völlig unterschiedliche Herange-
hensweisen ihrer Beseitigung an. Wenn im angeführten Beispiel ein Armutsindi-
kator die Müttersterblichkeitsrate vor allem auf den lokal hohen Anteil von weib-
lichen Analphabeten zurückführt, ergeben sich daraus andere Schritte (Bau von
Schulen, Förderung der Geschlechtergerechtigkeit) als wenn sie auf schlechte hy-
gienische Verhältnisse zurückgeführt wird (dann: Bau von Krankenhäusern,
Brunnenbohrungen). Positiv gewendet bedeutet dieses Wissen um die hermeneu-
tisch getroffenen Annahmen der Statistiker jedoch auch, dass neue wissenschaftli-
che Erkenntnisse über die verschiedenen Ursachen der Armut in der Zukunft da-
zu dienen können, die Armutsindikatoren besser und feiner abgestimmt konstru-
ieren zu können. Außerdem sind die Armutsindikatoren nicht für alle Ewigkeit
konstruiert, sondern sie stehen ja wiederum selbst in einem dynamischen Ent-
wicklungsverhältnis zur sozialen Erfahrung der Armut, welche die hermeneuti-
sche Perspektive der Statistiker mitprägt. Sicher ist aber gleichfalls, dass ein gene-
reller Konsens über das Verhältnis der unterschiedlichen strukturellen Ursachen
der Armut bei der Bestimmung der Armutsindikatoren sicher nicht zu erzielen
sein wird.
Die Armutsindikatoren als Ergebnis umfassender statistischer Analyse und
Abwägung zeichnen aber auch für ein politisches Phänomen verantwortlich, von
dem die globalen und lokalen Institutionen zunehmend beherrscht werden: die
Entscheidungen zu Handlungen, die im Raum politischer oder gesellschaftlicher
Diskurse getroffen werden, beruhen immer seltener auf Wertüberzeugungen oder

184
Vgl. Merry, ‘Measuring the World’, S. 86. Bereits in Fußnote 164 wurde der Streit um die Me-
thodologie der Gewinnung der absoluten Armutslinie dargestellt.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 91

Akten öffentlicher Deliberation, sondern vermehrt auf der scheinbar rationalen


und objektiven Basis der von Experten erstellten statistischen Informationen und
Indikatoren. Diese Entwicklung lässt sich dadurch erklären, dass die zahlreichen
Meinungen und konkurrierenden Weltanschauungen in der globalen Welt der
Gegenwart als undurchschaubar, vieldeutig und überkomplex erlebt werden. Die
aus der Hermeneutik dieser Meinungen und Weltanschauungen entstehende Plu-
ralität der möglichen Beschreibungen von Phänomenen und Auseinandersetzung
wird dadurch an sich problematisch, während hingegen der Prozess der ökono-
misch informierten Gewinnung von statistischen Daten als transparenter, vor al-
lem auch als rational nachvollziehbarer erscheint.
War in vormoderner Zeit das Wissen von Informationen der Schlüssel zur
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Macht, und deshalb auch nur in der Hand der Mächtigen, verbindet sich mit
Statistiken die Hoffnung, dass jene als analytische Instrumente die Wirklichkeit
anschaulich und objektiv erfassbar werden lassen können. Diese Hoffnung ver-
kennt allerdings grundsätzlich, dass auch die von Wissenschaftlern erstellten
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

komplexen Statistiken und Indikatoren nur aus subjektiver Expertenhand stam-


men und durch ihre auf Vorannahmen beruhende Konstruktion gar nicht den
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

objektiven Charakter aufweisen können, der ihnen in der Öffentlichkeit zuge-


schrieben wird. 185 Mit der Selbstaufgabe der Verantwortung wandert schließlich
das agens der Handlungsmacht von den eigentlich dafür vorgesehenen internatio-
nalen und globalen Institutionen in die Hand eines kleinen Kreises von Experten,
die der für ihre anspruchsvolle und potenziell folgenschwere Arbeit – betroffen ist
davon immerhin das konkrete Leben von Menschen hoher Vulnerabilität – not-
wendigen Legitimation weitestgehend entbehren. Wobei allerdings ebenfalls fest-
gehalten werden muss, dass teilweise auch die angesprochenen Institutionen mit
weltweiter Reichweite dafür kritisiert werden, nicht ausreichend demokratisch le-
gitimiert zu sein. 186
Von den Auseinandersetzungen um die Inhalte der Indikatoren abstrahieren
die Indikatoren zwar, aber dadurch geht natürlich auch die mögliche Ambivalenz
der Ergebnisse, die ja ansonsten die Ambivalenzen der Ausgangsannahmen spie-
gelbildlich zeigen könnten, verloren. Die den Indikatoren vorgängigen eorien
und verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze werden eingeebnet, um in ökono-
mischer Hinsicht dort eine Vergleichbarkeit herzustellen, wo es letztlich durch
die als vorrangig bestimmte persönliche Erfahrung der eigenen Lebenssituation

185
Viele überzeugende Beispiele für dieses Problem nennt: Satterthwaite, ‚e Millennium Develo-
pment Goals and Urban Poverty Reduction‘, S. 184ff. Auch Satterthwaite geht davon aus, dass
die meisten der zweifelhaften Statistiken – die dann immerhin für die Bestimmung der Armuts-
schwellen herangezogen werden! – auf zweifelhaften Definitionen oder parteiischen Vorannah-
men beruhen. Vgl. dort beispielsweise S. 186: „At their root, most dubious statistics […] are
based on dubious definitions or assumptions. An urban dweller who answers ‘yes’ to the question
‘Do you have access to a latrine?’ is often classified as having access to sanitation. ere are no
enquiries into the quality of the latrine, the ease of access, the cost (many urban dwellers only
have access to local public toilets with charges they cannot afford) or the provisions for hand
washing.”
186
Vgl. Merry, ‘Measuring the World’, S. 85.
92 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

durch die Betroffenen keine geben kann: die Spannung von abstrahierender öko-
nomischer Methode und soziokulturellem Kontext lässt sich niemals lösen. Diese
Problemdimension zeigt sich übrigens schon auf der sprachlichen Ebene. Die In-
dikatoren benennen das, was sie messen, mit einem Namen, der an sich nicht
selbst-evident für eine bestimmte Messmethode oder ein bestimmtes Maß ist,
dem dann aber in den Debatten in Politik, Wirtschaft oder Öffentlichkeit oft ge-
nau derjenige Wert gleichsam übergestülpt wird, den zuerst der Indikator als ei-
gentliche Schwelle bezeichnete. ‚Armut‘ oder ‚Rechtsstaatlichkeit‘ sind beispiels-
weise derartige Kategorien, die semantisch kein Potenzial für einen inhärent
messbaren Wert aufweisen, und die dementsprechend erst durch eine Abstrakti-
onsleistung und durch die Erweiterung mit erläuternden Daten als Indikator
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

verwendet werden können. 187 Wie Indikatoren benannt werden und wer ent-
scheidet, was oder welche Faktoren oder Ursachen sie repräsentieren, ist damit in
grundlegender Weise entscheidend für die Art und Weise, wie ein Indikator an-
schließend verwertbare Daten produziert, bzw. wie er in der gesellschaftlichen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Debatte benutzt wird. 188


Durch diese problematische Eigenschaft sind die Indikatoren aber auch leich-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tes Ziel desjenigen Vorwurfs, dass ihre Konstruktion ideologiegeleitet erfolgt, in-
dem sie nämlich vor allem den hermeneutischen Horizont der Statistiker wider-
spiegeln. Erhärtet wird dieser Vorwurf durch die systematische Ausblendung der
Entstehungsgeschichte der Indikatoren, sobald sie in eine scheinbar objektive
Form gegossen wurden und dann im gesellschaftspolitischen Diskurs verwendet
werden. Denn wenn nicht konsistent nachzuvollziehen ist, auf der Grundlage
welcher interpretativen Vorentscheidung die Indikatoren konzipiert wurden,
schreiben sie leicht ein objektiviertes Set von Attributen der Armut fest, das nur
den statistisch erfassbaren Teil der Betroffenen, aber eben nicht alle potenziell Be-
troffenen umfasst. 189
Ein integraler Bestandteil der Armutsmessung mit Hilfe von Indikatoren ist
schließlich der damit methodisch zusammenhängende Prozess regelmäßiger Au-
dit-Verfahren. 190 Das bedeutet, dass die verantwortlichen lokalen Institutionen,

187
Vgl. ebd., S. 84. Das beste Beispiel ist in diesem Kontext natürlich die Gleichsetzung der $1,25
PPP-Grenze mit absoluter Armut.
188
Vgl. ebd.
189
Ideologiekritik wird an den gegenwärtigen Indikatoren insoweit geübt, als sie ein westlich gepräg-
tes Wachstumsparadigma inhärieren, das dementsprechende Zielsetzungen in kulturfremde Um-
gebungen implantiert. Vgl. ebd., S. 85. Auch der indische Ökonom Surjit Bhalla wirft der World
Bank vor, die Armutszahlen ausschließlich ideologiegeleitet zu analysieren: „e most likely ex-
planation for the large variation in estimates [der Weltarmutszahlen; M. H.] is ideology. at
economists, especially policy economists, are ideological animals first, and researchers second, is
the worst kept secret of the profession.” vgl. Bhalla, ‚Trends in Worlds Poverty – Ideology and
Research‘, erhältlich unter: <http://www.oxusinvestments.com/files/pdf/em280600.pdf>, letzter
Zugriff am 07.06.2011. Andere Ökonomen gehen allerdings davon aus, dass die Bestimmung
von Indikatoren durch globale Institutionen gerade dazu hilft, eine einseitige Ideologisierung zu
verhindern, so z. B. Cherchye; Watteyne, ‚Attacking Poverty: Is It Globalisation? Or Is It the In-
stitutions?‘, S. 593.
190
Vgl. Macionis; Plummer, Sociology, S. 178.
II.C SOZIOLOGISCHE, ÖKONOMISCHE UND ETHISCHE PERSPEKTIVEN 93

z. B. die Verwaltungsbezirke eines Landes, die Performance der von ihnen beauf-
sichtigten Staatsorgane bei der Wahrung der Menschenrechte oder bei der Erfül-
lung rechtsstaatlicher Zielsetzungen selbst anhand der mit diesen Zielen korres-
pondierenden Indikatoren untersuchen. Während die Verantwortungsübernahme
dieser Aufgabe einerseits der Unmöglichkeit geschuldet sein mag, parallel welt-
weite Überprüfungen der Einhaltung von Indikatoren in einem engen Zeitfenster
durchzuführen, bedeuten die Audits andererseits einen legitimatorisch fragwürdi-
gen Verantwortungsübergang. Subsidiär wird die Verantwortung von der ur-
sprünglich unabhängig überwachenden globalen Instanz auf die untergeordnete
Instanz übertragen. An die übergeordnete Instanz, etwa die UNO oder die Welt-
bank müssen die entsprechenden Institutionen schließlich nur noch melden, ob
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

sie den Schwellenwert der einzelnen Indikatoren erreichen oder ob sie ihn verfeh-
len werden. Weil die Indikatoren aber nur abstrakt bestimmt sind, überträgt sich
in diesem Prozess der Einschätzung der eigenen Performance das Interpretations-
problem der Inhalte von Indikatoren auch auf die Audit-Kultur.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Waren früher die Länder verpflichtet, in großangelegten Studien nachzuwei-


sen, dass sie die Menschenrechtssituation im Kontext der lokalen politischen und
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gesellschaftlichen Situation verbessern konnten, genügt heute das Einhalten von


abstrakten Indikatoren, deren systematischer, innerer Aufbau als Zusammenstel-
lung verschiedener Ursachen und Faktoren von Armut nichts mit der konkreten
Situation der Armen vor Ort zu tun haben muss. 191 Die Probleme, die sich aus
der Audit-Kultur entfalten können, sind damit vielfältig. Durch die Messung der
eigenen Performance anhand abstrakter Indikatoren ist die Gefahr groß, dass die
lokal existierenden Ursachen von Armut nicht ausreichend berücksichtigt wer-
den, bzw. von den verantwortlichen Institutionen zugunsten der Erfüllung der
Indikatoren weniger Beachtung erfahren. Korruption und verschleiernde Prakti-
ken lokaler Institutionen führen außerdem oft dazu, dass die Situation der Men-
schen in einem Land durch die vorgetäuschte Erfüllung von Indikatoren viel po-
sitiver dargestellt wird, als es nach genauerer und kritischer Untersuchung eigent-
lich der Fall wäre. Umgekehrt könnte eine möglichst negative Darstellung der ei-
genen Situation dazu dienen, in weit höherem Umfang Hilfsgelder zu beziehen,
als dies eigentlich notwendig wäre.

191
Vgl. „Instead of pressuring countries to conform to human rights laws on the basis of ambiguous
and contextualized accounts in country reports or case studies – reports in which each country is
presented as shaped by its history, social structure, wealth, and political agendas – indicators pro-
vide comparable information in numerical terms.” Merry, ‘Measuring the World’, S. 88.
D. Zusammenfassung zur Problematisierung des Armuts-
und des Wohlergehensbegriffs

In diesem Kapitel wurde erörtert, dass es aus ökonomischer Perspektive nicht ge-
lingen kann, extreme Armut ausschließlich quantitativ über den Schwellenwert
eines minimalen Einkommens zu bestimmen. Ein Schwellenwert, dessen Unter-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

laufen ein Leben in ‚absoluter Armut‘ anzeigen soll, gilt deshalb gleichzeitig als
die unterste Schwelle eines minimal akzeptablen Niveaus an Wohlergehens und
muss deshalb ein qualitativ bestimmtes Set von Annahmen über ein Minimallevel
an mit dem Einkommen von $1,25 PPP erreichbarer Lebensqualität inkorporie-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ren. Der Schwellenwert der ‚absoluten Armut‘ legt damit die Armutslinie fest, un-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

terhalb der sich die Betroffenen in extremer Armut befinden und er stellt somit
auch gleichzeitig einen Anknüpfungspunkt zur ethischen Frage dar, welche
Wohlergehensansprüche Menschen überhaupt haben. Weiterhin können mit sei-
ner Hilfe die strukturellen Ursachen von extremer Armut auf der Ebene der insti-
tutionellen Strukturen kritisiert werden, insofern sie das Wohlergehen des Men-
schen behindern. Die gegenwärtigen globalen Ziele im Kampf gegen extreme
Armut stellen in diesem Sinne, wie an den Millennium Development Goals ge-
zeigt wurde, eine komplexe Mischform an quantitativen und qualitativen Min-
deststandards menschlichen Daseins dar. Beispielhaft lässt sich dies an den
MDGs nachvollziehen, die sich nicht an den überholten Modellen von Hilfs-
maßnahmen orientieren, nämlich der finanziellen Unterstützung ohne die gleich-
zeitige Forderung nach der Erfüllung von Konditionalitäten. Im Gegenteil for-
dern sie die globale Gewährleistung von Bedingungen ein, die allen Menschen
das Erreichen eines minimalen Niveaus an quantitativem und qualitativem
Wohlergehens ermöglicht. 192 Vor diesem Hintergrund und angesichts der bislang
erarbeiteten Ergebnisse scheint es für das weitere Vorgehen dieser Arbeit zunächst
zweckmäßig zu sein, extreme Armut als Summe von Einkommensarmut und fehlen-
den Bedingungen für das individuelle Wohlergehen zu definieren.
Es wurde in diesem Kapitel jedoch auch kritisch ausgeführt, dass die Ar-
mutsindikatoren, die die zurückgelegte Strecke bei der Erfüllung qualitativer Zie-
le – derjenigen Ziele also, die von den Institutionen und den Haushalten erreicht
werden sollten, um wenigstens das minimale Niveau an Wohlergehen der Be-
troffenen gewährleisten zu können – häufig nach methodologisch wenig transpa-
renten Verfahren von Experten bestimmt werden, deren hermeneutische Perspek-
tive außerdem einen großen Einfluss auf die Konkretisierung der Armutsindika-

192
Vgl. Gough; McGregor; Camfield, ‘eorising Wellbeing in International Development’, S. 4.
II.D ZUSAMMENFASSUNG 95

toren besitzt. Bei der wissenschaftlichen Systematisierung der Armutsindikatoren


werden lokal bestehende kulturelle Symbolsysteme, die eng mit einem sozial be-
stimmten Begriff von Armut verwoben sind, absichtlich nicht berücksichtigt und
zu Gunsten eines von außen angelegten, vor globalem Horizont stehenden und
abstrakten Begriffs extremer Armut zurückgestellt. Die Beachtung der subjektiven
Erfahrung der von Armut Betroffenen, die im ersten, sozialwissenschaftlichen
Teil des Kapitels als zentraler Aspekt des richtigen Umgangs mit Armut herausge-
arbeitet wurde, spielt dadurch in der ökonomischen Betrachtung von Armut-
sphänomenen eine letztlich nur untergeordnete Rolle. Worin das Wohlergehen
der Menschen bestehen könnte, das durch extreme Armut verhindert wird, ist
aber umgekehrt nicht voraussetzungslos von der globalen Warte aus zu bestim-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

men: wie die kulturell unterschiedlich geprägten Vorstellungen von Armut und
die mit ihr zusammenhängenden Sinndeutungen unterliegen auch die Vorstel-
lungen des Wohlergehens der Prägung durch die unterschiedlichen kulturellen
Symbolsysteme, die die Erwartungen der Menschen an die Möglichkeiten der
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Ausgestaltung ihres Lebens gewissermaßen determinieren.


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

D.1 Die hermeneutische Dimension des menschlichen Wohlergehens

Dass auch die subjektive Erfahrung des Niveaus individuellen Wohlergehens,


ähnlich wie die Erfahrung von Armut, tatsächlich von starken kulturellen Prä-
gungen abhängt, zeigt sich paradigmatisch an den sozialwissenschaftlichen For-
schungsergebnissen von Valerie Møller, die in Südafrika zur älteren Generation
gehörende schwarze und weiße Einwohner der gleichen Schicht und mit ungefähr
gleicher ökonomischer Lebenslage zu deren persönlicher Einschätzung des Ni-
veaus ihres Wohlergehens befragte. Trotz der in objektiver ökonomischer Hin-
sicht weitgehend identischen Lebenssituationen schätzten beide Gruppen ihre
Lebensqualität subjektiv äußerst unterschiedlich ein:
„we found that the black elderly tended to endorse most complaints covered in the
survey, including illness, other minor disabilities, everyday activities of living and
worries in life, whereas the white elderly appeared to deny experiencing many of
these problems or to admit experiencing them only to a lesser degree.” 193
Erst nach langer Ursachensuche dieser doch deutlich differierenden Einschätzung
fand die Forschergruppe um Møller eine überzeugende Erklärung: für südafrika-
nische Schwarze beginnt mit dem Eintritt in das Alter traditionell ein Lebensab-
schnitt, in dem sie von ihren Kindern Unterstützung bei der häuslichen Arbeit
verlangen. Durch die gesellschaftliche Modernisierung Südafrikas und die damit
einhergehende Individualisierung und Entfamiliarisierung der jüngeren Genera-
tionen ist es nun aber für diese normal geworden, nicht mehr bei den Eltern zu

193
Møller, ‘Researching quality of life in a developing country’, S. 251.
96 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

wohnen. Es findet durch ihr Verhalten ein deutlicher Bruch mit den traditionel-
len kulturellen Erwartungen der Eltern statt.
In der Untersuchung Møllers zeigte sich damit letztlich, dass sich die subjektiv
negative Einschätzung der Lebenslage der älteren Schwarzen nicht erster Hand
auf eine Mangelsituation materieller oder körperlicher Art bezog, sondern von der
Enttäuschung über vernachlässigte sozialen Bindungen herrührte und in diesem
Fall mit den stetig sich verringernden Unterstützungsdiensten durch die eigene
Familie in Verbindung gebracht wurde. Das einseitige Aufgeben traditioneller so-
ziale Verhaltensmuster durch die Jüngeren prägten hier umfassend das subjektive
Erleben der eigenen Lebensqualität durch die Älteren. Wie Møller und ihr Team
jedoch ebenfalls herausfinden konnten, unterlag auch die Lebenslageneinschät-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

zung der befragten weißen älteren Bürger tradierten sozialen Verhaltensmustern:


da in den modernen westlichen Gesellschaften für ältere Generationen Unabhän-
gigkeit und Eigenständigkeit als Idealform würdigen Alterns gelten, verhielten
sich die befragten Weißen entsprechend ihres traditionellen kulturellen Hinter-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

grunds und stellten ihr Lebenslage in deutlich günstigerem Licht dar, als es ihre
tatsächliche körperliche Verfassung und ökonomische Situation hätte vermuten
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

lassen sollen. Bei gleicher Lebenslage und von einem externen Standpunkt als
gleich auszuweisendem qualitativem Grad des Wohlergehens ist damit der unter-
schiedliche kulturelle Hintergrund die Ursache für gravierend unterschiedliche
Armutserfahrungen.

D.2 Ausblick auf die folgenden Kapitel

Soll das Niveau individuellen menschlichen Wohlergehens für die Ethik über-
haupt kritisch hinterfragbar gemacht werden können, müssen also Methoden
überlegt werden, die angeben, wie der Grad des Wohlergehens zu messen sein
könnte, und wie ein Standardniveau des Wohlergehens normativ zu fassen wäre.
Eine Möglichkeit wäre hier die subjektive Selbsteinschätzung der Betroffenen, die
allerdings, wie das Beispiel aus Südafrika gezeigt hat, eine gravierende Problem-
stellung mit sich bringt: würde der Grad des Wohlergehens ausschließlich über
die subjektive Einschätzung individueller Lebenssituationen durch etwa von Ar-
mut Betroffene bewertet, besteht durch deren unhintergehbar hermeneutische,
kulturell determinierte Perspektive das Problem, dass den Betroffenen möglich-
erweise sowohl die Ausweglosigkeit als auch eine mögliche Ungerechtigkeit ihrer
spezifischen Lebenssituation ausgeblendet bleibt. Wenn das internalisierte, kultu-
rell geprägte Rollenverhalten Handlungsoptionen verdeckt oder die eigene Identi-
tät vor allem im Rahmen sozialer Fremderwartungen konstruiert ist, wird das Ni-
veau des persönlichen Wohlergehens möglicherweise viel positiver eingeschätzt,
als es in Anbetracht der äußeren Umstände zu erwarten wäre.
Es ist ein in der empirischen Praxis sich sogar häufig zeigendes Phänomen, dass
sich der Mensch auch mit für seine Entfaltung als Persönlichkeit äußerst nachtei-
ligen und ungerechten Lebensumständen arrangieren kann. Beispielsweise geben
II.D ZUSAMMENFASSUNG 97

von extremer Armut betroffene Frauen bei Haushaltsbefragungen oft zum Aus-
druck, nicht unglücklich, im Gegenteil sogar sehr zufrieden mit ihrem Leben zu
sein. 194 Das unterstreicht jedoch noch einmal deutlich, warum ergänzende objek-
tive Maßstäbe zur subjektiven Einschätzung des Wohlergehens zur Anwendung
kommen müssen. Objektive Maßstäbe des Wohlergehens hätten dann die Aufga-
be als kritische Referenzfixpunkte, unabhängig von der kulturellen Prägung, der so-
zialen Konstellationen und der Lebenswelt der Betroffenen deren Blick auf die
Dimension der ihnen tatsächlich zur Verfügung stehenden Möglichkeiten von
Wohlergehen zu eröffnen.
Zu diesem makrosozialen, objektiv verfassten Standpunkt zur Kritik der mul-
tidimensionalen Ursachen von Armut müssen aber die mikrosozialen und subjek-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

tiven Armutserfahrungen und gleichzeitig die subjektiven Vorstellungen des


Wohlergehens hinzutreten, um einen Begriff von Armut in den Blick zu bekom-
men, der die äußeren Strukturen, die das Wohlergehen verhindern, ebenso auch
aus der Perspektive der Betroffenen kritisierbar macht. Erst in den – als solchen er-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

lebten – gravierenden und traumatisierenden Auswirkungen der äußeren Struktu-


ren auf den Einzelnen als ein Zwang, der das eigene Wohlergehen behindert,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

scheint im Begriff der Armut die Reflexionsfläche auf, auf der dann die makroso-
zialen Einflüsse gerechtfertigt kritisiert und ema einer dezidiert ethischen Aus-
einandersetzung mit den Ursachen von Armut werden können.
Die Begründung dieser Mittelposition erfolgt also letztlich daraus, dass allein
weder kulturrelativistische noch universalistische Ansätze zur Bestimmung des
Wohlergehens von Personen genügen können. Ein starrer Kulturrelativismus
nämlich, der das persönliche Empfinden der Betroffenen als einzigen Maßstab
zur Bestimmung des Niveaus ihres Wohlergehens setzt, stößt auf das Problem ei-
ner selbstauferlegte Beschränkung bei der Bestimmung allgemeiner Grundsätze
des Wohlergehens, weil er ja gerade die Möglichkeit der Formulierung allgemei-
ner Normen des Wohlergehens verneint, die dann eine externe, kritische Reflexi-
on der spezifischen kulturellen Ausprägungen der Grundsätze des Wohlergehens
erlauben würden. Das subjektiv erlebte Wohlergehen würde dementsprechend
nur vor dem hermeneutischen Horizont der kulturell geprägten Erfahrungen des
Wohlergehens kritisierbar. Dieser Standpunkt bedeutete letztlich die Selbstaufga-
be jedes Ansatzes einer sozialethischen Kritik in globaler Perspektive.
Andererseits wäre es ebenso einseitig, allein und ausschließlich eine als objektiv
gesetzte Sammlung abstrakter Vorbedingungen des Wohlergehens zur Bewertung
der Lebenssituation einzelner Betroffener heranzuziehen, da in diesem Vorgang
der einzelne Menschen in seinen konkreten kulturellen und sozialen Konstellati-
onen, letztlich in seiner einzigartigen Identität, aus dem Blick geraten und damit
ein kruder Kulturrelativismus gegen einen ebenso kruden Universalismus einge-
tauscht würde. Dieser krude Universalismus könnte dann zwar in seiner universa-
listischen Perspektive jede kulturell bestehende Ausgestaltung des Wohlergehens
formalistisch auf einige abstrakte Begriffe transzendieren, welche aber dann nur
194
Jan; Masood, ‘An Assessment of Life Satisfaction among Women’, S. 33-42.
98 EXTREME ARMUT IN WISSENSCHAFT, GESELLSCHAFT UND ÖKONOMIE

als hohle Platzhalter verblieben, weil ihre semantische Inhaltsanreicherung durch


subjektive Erfahrungen und Wünsche durch den Universalismus selbst gerade
nicht gewollt werden kann.
Es zeigt sich deshalb, dass sich die Bedingungen für das Wohlergehen des
Menschen nicht einfach nur aus der individuellen Erfahrungswelt bestimmen las-
sen, weil von einem externen Standpunkt aus oft nicht zu unterscheiden ist, in-
wieweit körperlich-seelisch-geistig empfundenes Wohlergehen mit den tatsächli-
chen biologischen und psychischen Tatsachen konvergieren. Wenn es aber mög-
lich ist, dass Menschen aus ihrer subjektiven Perspektive ihre Lebensqualität posi-
tiv einschätzen, obwohl ihr Leben aus objektiver ökonomischer Perspektive durch
Mangel bedroht ist, dann kann die Suche nach den Bedingungen minimalen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

menschlichen Wohlergehens als Schwellenwert und Abgrenzung gegenüber der


absoluten Armut nicht anders erfolgen als durch die Suche einerseits nach objekti-
ven Bedingungen des Wohlergehens und andererseits nach dem Erweis eines Prä-
ferenzvorteils dieser Bedingungen gegenüber anderen Bedingungen aus der sub-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

jektiven Perspektive.
Darin knüpft diese Konzeption der Suche nach den objektiven und subjekti-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ven Modi des Wohlergehens an die Forschungsrichtung der dualen Armutsfor-


schung an, die im ersten Teil des Kapitels über Armut im sozialen Kontext entwi-
ckelt wurde. Diese Doppelstruktur aus dem Versuch, einerseits objektive Normen
des Wohlergehens aus einer externen Perspektive zu gewinnen und diese anderer-
seits mit den subjektiven, internen Einschätzungen der Betroffenen in einen Kon-
text zu setzen, lässt jedoch durch die je spezifische soziale und kulturelle Situiert-
heit der Betroffenen erwarten, dass kein letztgültiger Konsens über die substanti-
ellen und reichhaltigen Inhalte, die zum Wohlergehen als nötig erachtet werden,
aus der Perspektive der subjektiven Erfahrungen des eigenen Wohlergehens zu er-
zielen sein wird.
III. ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

Gegen einen absolut gesetzten kulturellen Relativismus, der die Bedingungen des
Wohlergehen des Menschen immer in Beziehung zu seinem sozialen Umfeld und
der gesellschaftlichen Tradition untersuchen und keinen Transfer der Ergebnisse
auf andere Kulturkreise zulassen würde, respektive die Aufstellung eines Kataloges
universaler Maßstäbe des Wohlergehens als letztlich sinn- und gehaltlos unterstel-
len würde, versucht eine allgemeine Definition der Bedingungen menschlichen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Wohlergehens die weite Dimension der Daseinsweisen zu erschließen, die alle


Menschen als präferabel – als ‚gut‘ – für ihr eigenes Leben bezeichnen würden.
Doch wie kann es überhaupt möglich sein, die allgemeinen Bedingungen des
Wohlergehens in ihrer materiellen und immateriellen Gestalt so zu formulieren,
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

dass sich tatsächlich jeder Mensch mit seiner immer schon kulturell geprägten ei-
genen Vorstellung eines guten Lebens in einer allgemeinen Definition der Bedin-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gungen des Wohlergehens wiederfinden könnte, und die allgemeinen Bedingun-


gen des Wohlergehens trotzdem noch als kritischer Standpunkt dienen können?
Im folgenden Kapitel wird gezeigt werden, dass die beiden Hauptströmungen der
politischen Philosophie auf diese Frage sehr unterschiedliche methodische und
inhaltliche Antworten geben. Der Weg, den Amartya Sen und Martha Nussbaum
beschreiten, bestimmt sich durch eine prozessuale Bestimmung der Vorausset-
zungen menschlichen Wohlergehens, nämlich mit der Begründung objektiver
Faktoren des Wohlergehens im gesellschaftlichen Prozess, die dann als kritische
Reflexionsfläche eingesetzt und mit der subjektiven Evaluation der Betroffenen
abgeglichen werden können. Das Wohlergehen der Betroffenen als Korrelat der
normativen Bedingungen des Wohlergehens und einer entsprechenden subjekti-
ven Affirmation dieser Bedingungen ist damit als ganzheitliches Wohlergehen –
und nicht nur als explizit ökonomisches – des Menschen skizziert. 195 Der in kan-
tianischer Tradition stehende John Rawls hingegen bestimmt das Wohlergehen
des Menschen als Ergebnis einer gerechten staatlichen Grundstruktur, die durch
die Autonomie der Bürger und die Distribution von Gütern die innere und äuße-
re Freiheit aller Bürger garantieren soll.
Beide Ansätze operieren mit einem Begriff von der Menschenwürde, der je-
weils als Anker für das den Positionen inhärente Menschenbild bestimmt ist, und
mit dem sich entsprechend die eorien des Wohlergehens verbinden. Im sechs-
ten Kapitel wird dann, aufbauend auf den in diesem Kapitel erörterten Begrün-
dungsgängen, fundamentalethisch argumentiert werden, dass die Menschenwür-
de als ein objektiv bestehender kritischer Standpunkt für menschliches Wohler-
gehen zu verstehen sein kann, den alle Menschen aus ihrer subjektiven Perspekti-
ve positiv affirmieren können. In diesem Kapitel geht es nun aber zuerst darum,
195
Gough; McGregor; Camfield, ‘eorising Wellbeing in International Development’, S. 5.
100 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

gegenüber dem zweiten Kapitel noch einen Schritt zurückzutreten, um dann auf
einer von den konkreten gesellschaftlichen Praxen abstrahierenden Ebene der po-
litischen Ethik zu untersuchen, welche Konzepte auf dem Fundament praktischer
Philosophie zur Gewährleistung menschlichen Wohlergehens als geeignet anzu-
sehen wären, um einerseits die autonome Lebensgestaltung aller Menschen –
auch und besonders der Armen – zu gewährleisten, und um andererseits zu unter-
suchen, inwiefern das Wohlergehen des Menschen normativer Geltungsgrund für
institutionelle Neuansätze und Reformen sein kann und muss.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

A. Die normativen Bestimmungen der objektiven


Bedingungen des menschlichen Wohlergehens als
naturalistischer Fehlschluss
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Ein erkenntnistheoretisch fundamentales Problem bei der Bestimmung minima-


ler Wohlergehensansprüche des Menschen tritt hinsichtlich der Gefahr eines na-
turalistischen Fehlschlusses zu Tage, der mit der normativen Setzung der Bedin-
gungen des Wohlergehens verbunden ist. 196 Die universalistische Dimension des
Unterfangens, nämlich die Bestimmung eines absolut gesetzten und als objektiv
bestehend vorausgesetzten Mindestniveaus an menschlichem Wohlergehen, be-
dürfte hierzu nämlich epistemologisch einer vollständig übersehenen Anschauung
der Natur des Menschen, aller seiner potenziellen Ziele und Fähigkeiten, also ei-
nem anthropologisch umfassenden Wissen um die weiten Potenziale seines We-
sens, das nicht durch den Rahmen enger sozialer und kultureller Kontexte, in de-
nen der Mensch den symbolsystemischen Vorprägungen, sozialen Verhaltens-
mustern und Rollen unterworfen wird, hermeneutisch determiniert sein darf. In-
wieweit diese hermeneutische Barriere überhaupt durchbrochen werden kann,

196
Die Bestimmung des naturalistischen Fehlschlusses geht auf die analytische Philosophie Georg
Moores zurück, hat ihre Wurzeln aber ebenso in den Werken von Hume (dort als Sein-sollen
Fehlschluss, der aber eine andere Zielrichtung hat: aus einer deskriptiven Aussage – das, was ist, –
lässt sich laut Hume keine normative – das, was sein soll – Aussage begründen). Moore konze-
diert der Ethik drei Fragestellungen, die ihre Inhalte bestimmen: Was bedeutet ‚Gutheit‘ (1),
welche Dinge werden durch das Attribut ‚Gutheit‘ kontextuell bestimmt (2), und durch welche
Mittel ist es möglich, die Dinge der Welt so gut wie möglich zu machen (3). Moore argumen-
tiert, dass es nicht möglich ist, von den Eigenschaften eines natürlichen oder übernatürlichen
Dinges ausgehend zu definieren, was Gutheit sein soll, da diese Bewertung sprachanalytisch eine
wertungsermöglichende Prämisse einfordert, die dem Objekt nicht per se innewohnt. Naturalisti-
sche Ethiken aber vermischen laut Moore unangemessen die erste und zweite Frage, die die Ethik
stellen kann, indem sie von der Gutheit der Dinge, die das Attribut Gutheit aufweisen, auf die
‚Gutheit an sich‘ schließen. Da Moore damit die Definierbarkeit des Guten verneint, bleibt für
ihn nur die Möglichkeit einer intuitionistischen Ethik, die sich dezidiert normativen Aussagen
zur Letztbegründung verweigern muss. Vgl. Moore, Principia Ethica, S. 38ff.
III.A NORMATIVE BESTIMMUNGEN DES WOHLERGEHENS ALS FEHLSCHLUSS 101

war schon ema des ersten Abschnitts des letzten Kapitels; Aussagen über das
Wohlergehen des Menschen durch Wahrheitspräsuppositionen – beispielsweise:
‚es ist wahr, dass die Erfüllung dieser spezifischen Auswahl von Grundbedürfnis-
sen zum Wohlergehen des Menschen unbedingt notwendig sind‘, sind, das wurde
vor allem durch die Metaethik und analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts
gezeigt, nicht als gültig anzusehen, da die Prädizierung von deskriptiven Aussagen
mit Wahrheitsgeltungsansprüchen nicht zulässig ist und generell von der Frage
nach dem Wahrheitsanspruch normativer Aussagen streng zu trennen ist. 197
Der naturalistische Fehlschluss findet also bei Aussagen über das menschliche
Wohlergehen dann statt, wenn von deskriptiven Sach- oder Situationsbeschrei-
bungen, wie sie etwa über die je spezifischen Ursachen und Ausdrucksformen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

menschlichen Wohlergehens empirisch erschlossen werden können, auf eine all-


gemeine, normative Geltung dieser Faktoren geschlossen wird. Insofern also bei-
spielsweise aus der subjektiven Perspektive eine bestimmte materielle Güteraus-
stattung deskriptiv als ‚gut‘ bewertet wird, darf daraus logisch eben nicht folgen –
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

sonst wäre es ein naturalistischer Fehlschluss –, dass die beschriebene Güteraus-


stattung in universaler Perspektive für alle Menschen als ‚gut‘ zu gelten habe und
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dementsprechend so lange moralisch handlungsmotivierend sein muss, bis alle


Menschen in den Genuss der mit dem ‚Guten‘ verbundenen Güter gelangen. Der
Versuch, allgemeingültig-universale Aussagen über das Wohlergehen des Men-
schen zu treffen, setzte die Existenz eines ‚Reichs objektiver Werte‘ voraus, das
vor dem Horizont eines moralischen Realismus objektiv wahre Aussagen über das
Wesen des Menschen ermöglichen würde. Gegen die Gefahr eines naturalisti-
schen Fehlschlusses ist ein solches Reich aber gerade nicht zu postulieren oder gar
zu beweisen; dagegen ist die subjektiv-hermeneutische Perspektive des Menschen
auf sich und seine Lebenswelt als einzige Möglichkeit anzusehen, Werte und de-
ren Geltungsansprüche zu rekonstruieren. 198
Mit der Problemstellung des naturalistischen Fehlschluss ist aber zuerst einmal
völlig unklar, ob und wie überhaupt normativ begründbare, objektiv bestehende
und temporal unveränderliche Aussagen über die Voraussetzungen und die For-
men des Wohlergehens des Menschen so zu treffen sind, dass daraus dann in ei-
ner weiterem Schritt auch moralische Handlungsmotivationen entstehen können.
Der Versuch, das Wesen des Menschen in seiner umfassenden Potenzialität zu er-
schließen und inhaltsreiche Aussagen über die Voraussetzungen seines Wohlerge-
hens zu treffen, ist dementsprechend mit folgendem Dilemma konfrontiert:
„1. Das Aufstellen ethischer Normen verpflichtet zur Anerkennung der Existenz ob-
jektiver Werte (im Sinn des ontological commitment). So wie die Existenz physi-
scher Objekte eine Bedingung der Wahrheit physikalischer Sätze ist, so ist auch die
197
Vgl. Schrader, ‚Moralische Wahrheit und moralisches Wissen‘, S. 21.
198
Wenn Schrader deshalb schreibt, dass Rawls dazu beigetragen hat, die Sprachlosigkeit normativer
Ethik angesichts der metaethischen Bestimmung der Unmöglichkeit gehaltvoller universaler
Normen zu durchbrechen, spielt er hinsichtlich dieser radikalen Subjektivität auf die Gesell-
schaftsmitglieder in der ‚eorie der Gerechtigkeit‘ an, die alle ihr eigenen Ziele des Guten verfol-
gen. Vgl. ebd., S. 21f.
102 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

Existenz objektiver Werte eine Bedingung der Verbindlichkeit ethischer Normen.


Wer normative Ethik betreibt, ist folglich aus Gründen der Kohärenz daran gebun-
den, solche Werte ontologisch auch anzuerkennen.
2. Die Anerkennung der Existenz objektiver Werte hat zur Folge, dass die Ontolo-
gie der Ethik wissenschaftlich nicht akzeptabel ist. Man muss folglich im Aufbau
der normativen Ethik den ontologischen Gürtel von vornherein enger schnallen
und versuchen, die ontologische Verpflichtung auf objektive Werte zu vermei-
den.“ 199
Das Problem des durch die Metaethik aufgedeckten naturalistischen Fehlschlus-
ses führt damit auf einer ersten Stufe zu einer grundsätzlichen Sprachlosigkeit
hinsichtlich der möglichen moralischen Objektivierung von Werten und anderer-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

seits gehaltvoller materialethischer Aussagen, weil deren stipulierte Universalität


nun nicht mehr letztgültig begründet, sondern nur subjektiv als wahr oder un-
wahr aufgefasst werden kann. Die tatsächliche Konkretion wahrheitsassertorischer
Momente in der Festlegung normativer universaler Standpunkte, die mit deskrip-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

tiven Beschreibungen eine enge Verbindung eingehen, beschäftigt die philosophi-


sche Forschung, die sich mit der Letztbegründung absoluter Standards auseinan-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dersetzt, sehr. 200

199
Greimann, ‚Das ontologische Dilemma der normativen Ethik’, S. 15f.
200
Siehe zu diesem Problem auch den in diesem Kapitel im Unterpunkt C.3 untersuchten Fähigkei-
tenansatz von Martha Nussbaum und ihren dort vorgestellten Lösungsvorschlag, der aus der
Konfrontation mit diesem Problem entstand.
B. Ein fehlender externer Standpunkt und das Problem
richtiger Kritik

Während auf der ökonomischen Ebene diese Universalisierung durch die, wie ge-
zeigt wurde allerdings immer schon problematische Umrechnung der unter-
schiedlichen Währungen auf einen kaufkraftparitätisch bereinigten Wert erfolgen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

kann, ist die Bestimmung eines Mindestniveaus an Wohlergehens in dieser uni-


versalen Dimension ungleich schwieriger, zumal sich diese Bestimmung nicht
ausschließlich auf bloß intuitive ethische Erkenntnisprozesse – die durch ihre
hermeneutische Perspektive immer schon relativiert sind – verlassen kann, son-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

dern im Rahmen der christlichen Sozialethik als kognitivistischer Ethik auch an-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gehalten ist, letztgültige Wertaussagen in einem Gerüst universaler Normen zu


verankern. Diesen Abstraktionsprozess zu einem erfolgreichen Abschluss zu füh-
ren, ist angesichts der Ermangelung eines idealen externen Standpunkts, von dem
aus diese Bestimmung erfolgen könnte, allerdings von vornherein als äußerst
problematisch, ja letztlich sogar unmöglich zu kennzeichnen.
Weil kein externer Standpunkt vorstellbar ist, der einen absoluten, objektiven
Blick auf den Menschen und seine Natur ermöglicht, da die menschliche Wahr-
nehmung immer schon einer hermeneutischen Perspektivität und durch die Iden-
tität geprägten Subjektivität unterliegt, schlägt Hilary Putnam als Ausweg aus die-
ser aporetischen Situation, nämlich einerseits der erwünschten Sollgeltung von
Normen und Werten und gleichzeitig andererseits ihrer nur subjektiven Erweis-
barkeit, die Einnahme eines rationalen ‚internen Standpunkts’ als Standort für
die kritische Analyse vor. Das Subjekt, das seine Wissensannahmen einer rationa-
len internen Aufarbeitung und Reflexion unterwirft, spiegelt in diesem rationalen
Prozess nämlich wieder, dass „die Objektivität normativer Behauptungen nur aus
dem gemeinsamen Einverständnis moralischer Subjekte über tief geteilte Über-
zeugungen und nicht aus der Berufung auf einen externen [oder transzendenten;
M. H.] Parameter gewonnen werden kann.“ 201 Wahrheitsansprüche werden da-
mit vom Kopf auf die Füße gestellt: es ist nicht das ewige Reich der Werte, dass
ein Set an Wahrheiten durchstimmt, sondern ein rationaler Konsens oder ein Dis-
kurs, in dem die geteilten Anschauungen der Werte ihre Form gewinnen, letztlich
dadurch erst ihre Wahrheitsgestalt erlangen. Der ‚God’s Eye View‘, wie Putnam
den idealtheoretischen externen Standpunkt nennt, muss dementsprechend als
überholte Reminiszenz an eine früher angenommene Wahrheitsfähigkeit trans-
zendenter Metaphysik betrachtet und deshalb schließlich als haltlos aufgegeben

201
Pauer-Studer, ‚Einleitung‘, S. 10.
104 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

werden. 202 Für die hier angezielte Suche nach Modi ethischer Reflexion, in denen
objektive Aussagen über das Wohlergehen des Menschen ohne einen Rückgriff
auf einen idealen externen Standpunkt zumindest – wenn schon nicht gesichert,
dann – möglich bleiben sollen, bestehen dementsprechend zwei notwendige Vo-
raussetzungen: metaethisch sind die Wahrheitsansprüche der materialethischen
Aussagegehalte so begründbar zu halten, dass von ihnen keine Gefahr eines kru-
den Relativismus ausgeht, welcher das von einer Gruppe von Menschen als wahr
Erachtete ohne weiteres externe Kriterium schließlich als das Richtige bewertet.
Gleichermaßen sind sie so zu formulieren, dass sie keinen Bezug auf einen exter-
nen idealen Standpunkt sozusagen durch die Hintertür in die Begründung ein-
spiegeln.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Vor diesem theoretischen Hintergrund der handlungspragmatischen und in-


tersubjektiven Wahrheitsbestimmung durch einen (ethisch auch rekonstruierba-
ren) vernünftigen Konsens oder Diskurs ist dann allerdings auch zu bestimmen,
wodurch die Aussagen über das Wohlergehen des Menschen ihren kritischen Ge-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

halt erlangen – mit Otfried Höffe: „wann die Auszeichnung, ‚kritisch‘ oder auch
‚ungegängelt‘ zu sein, wohlverdient ist.“ 203 Denn durch die zwangsweise Aufgabe
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

des externen, idealen Standpunkts ist nun ein diskursiv und rational ausgehandel-
tes Set an Konditionalitäten des Wohlergehens gegen andere Sets zu verteidigen,
die sich gegebenenfalls ebenso auf ihr Recht begründeter Wahrheitsansprüche be-
rufen können. Die Zielsetzung, nämlich die Modi des menschlichen Wohlerge-
hens in einer dezidiert universalen Dimension zu bestimmen, verlangt einen
dementsprechend universalen Grund der Kritik: wie in der Einleitung dieses Ka-
pitels angeführt und im sechsten Kapitel dann ausführlich entfaltet, wäre als uni-
versales Fundament der Kritik der Begriff der Menschenwürde auszuweisen, der im
Deutungshorizont der Menschenrechte den kritischen Standpunkt zu denjenigen
Lebensverhältnissen bildet, die das Wohlergehen des Menschen in äußerster Wei-
se behindern.
Für den kritischen Referenzpunkt der Bewertung der Bedingungen für das
Wohlergehen des Menschen ergeben sich daraus zwei Inhaltsdimensionen: eine
„negative, kompromittierende oder emanzipierende Kritik“ 204 oder eine „affirma-
tive oder apologetische“ 205, also positive Kritik. Obwohl beide Kritikkonzeptio-
nen dem Freiheits- und Gerechtigkeitsprogramm der Neuzeit folgen, gibt es zent-
rale Unterschiede. Die negative Kritik wird aufzudecken versuchen, welche Be-
dingungen zum Wohlergehen noch nicht vorliegen und worin die Freiheitswahr-
nehmung der Menschen beschränkt wird. Darin übersieht sie aber die bereits
vorhandenen Grade des Wohlergehens, und sie entdeckt „in den entsprechenden
Institutionen nur eine Macht […], die es zu brechen gilt. 206 Auf der anderen Seite
leidet der affirmative kritische Standpunkt unter einer fortdauernden Überschät-
202
Vgl. Putnam, Realism With a Human Face, S. 18ff.
203
Höffe, Moral als Preis der Moderne, S. 244.
204
Ebd.
205
Ebd.
206
Ebd., S. 245.
III.B EIN FEHLENDER EXTERNER STANDPUNKT 105

zung der bereits überwundenen Hindernisse auf dem Weg zum Wohlergehen der
Menschen – perspektivisch wird er vor allem die Chancen betonen und nicht die
Bedrohungen, wie der emanzipatorische Standpunkt. 207 Höffes Unterscheidung
macht hier deutlich, dass mit dem Erweis der Möglichkeit eines kritischen Stand-
punkts die Arbeit der Ethik noch nicht beendet ist; sie muss ebenso zur Vermitt-
lung zwischen den beiden Kritikpolen beitragen, die Höffe hier skizziert. Auch
der Versuch dieser Vermittlung wird im sechsten Kapitel erfolgen.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

207
Vgl. ebd.
C. Das Wohlergehen des Menschen

Das Interesse daran, die Bedingungen des Wohlergehens des Menschen unter ob-
jektiven Gesichtspunkten zu bestimmen, reicht in der philosophischen Tradition
weit zurück. Seit der griechischen Antike ist das Erreichen von Glück in der
Doppelbedeutung von Wohlergehen und Lebensglück zentrales ema der un-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

terschiedlichen philosophischen Schulrichtungen – mit Ausnahme der Kyrenai-


ker. 208 Die eudaimonistischen Ethiken befassen sich entsprechend dieser Ausrich-
tung mit der Frage, welche äußere und innere Voraussetzungen, sowie welche
Handlungen als zwingend notwendig erachtet werden müssen, um dem Men-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

schen Lebensglück zu ermöglichen. Diese Intention ist ausgedrückt in den


Grundfragen der praktischen Philosophie: ‚wie soll ich leben, was ist das Richti-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ge?’, die letzten Endes in der Frage münden: ‚Worin besteht für den Menschen
ein gutes Leben?’ Die Beantwortung dieser Fragen geschieht dann von einer idea-
lisierten Zielvorstellung her, nämlich durch eine inhaltsreiche Füllung des Be-
griffes des ‚guten Lebens‘, das das Leben des Menschen in einer teleologischen
Dimension zu deuten hilft: die Bewertung menschlicher Handlungen bestimmt
sich dementsprechend an der Orientierung des letzten Ziels des Glücks. Durch
diese teleologische Bestimmung der Handlungsziele scheidet sich die Sphäre des
Guten als Bewertungsmodus a posteriori von der Sphäre des Rechten, in der sich
das Handeln nach vorgängigen Überlegungen nach den Grundsätzen des Rechten
a priori bestimmt. 209
Der Glücksbegriff an sich ist – wie jeder klassische Philosophiebegriff – schil-
lernd, und wurde und wird in den verschiedenen Deutungsdimensionen, in de-
nen die verschiedenen Konzeptionen des Glücksbegriffs aufscheinen und sich sei-
ne Semantiken ausprägen, unterschiedlich gebraucht. Als Lebensglück kann das
Wohlergehen unter der Deutungskategorie der Zeitlichkeit untersucht werden:
einerseits als präsentische Momentaufnahme einer plötzlich ins Bewusstsein drän-
genden psycho-physischen Emphase – beispielsweise durch die während eines
kürzeren Zeitabschnitts gefühlte Empfindung von Glück nach einem äußerst po-
sitiven Ereignis – andererseits als episodisch andauernde, längere Lebensphase, die
in der bewussten Reflexion als glücklich bezeichnet wird, weil die einmal ins Au-
ge gefassten und angestrebten Lebenspläne bestens gelungen sind. Ebenso kann
das Glück aus der Perspektive eines internen als auch eines externen Standpunk-
tes untersucht werden, wodurch dann die Existenz von Glück in einer vorgängi-

208
Vgl. Horn, Art. ‘Glück/Wohlergehen‘, S. 375.
209
Vgl. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 81. Siehe auch: Rawls, Eine eorie der Gerech-
tigkeit, S. 43.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 107

gen Aufscheidung in subjektive und objektive Momente untersuchbar wird. Die-


se Deutungskategorie knüpft in dieser Hinsicht an den vorherigen Abschnitt an,
da in der Erörterung der objektiven Voraussetzungen zum Lebensglück die objek-
tiven Maßstäbe deutlich werden können, die als Voraussetzungen des Guten Le-
bens, bzw. des Wohlergehens gelten müssen. Diese letzte Kategorie ist als Suche
der objektivierbaren Ursachen und Handlungen mit dem Ziel des guten Lebens
diejenige, unter der seit der Antike der Glücksbegriff im Fokus der philosophi-
schen Erörterungen stand.
Das Streben nach Glück gelingt unter diesen objektiven Hinsichten vor allem
dann, wenn es durch rationale, autonom getroffene Entscheidungen gefördert
werden kann: „Die Pläne müssen unseren Lebensbedingungen angepasst sein,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

und die Gewißheit [des Eintretens des Glücksereignisses, M. H.] muß sich auf
vernünftige Annahmen gründen“ 210, wie Rawls ausführt. In dieser objektiven
Dimension des Begriffs ist das Wohlergehen des Menschen damit kein zufälliges
Geschehnis, das aufgrund äußerer Einflüsse plötzlich ins Dasein tritt und viel-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

leicht schnell wieder verschwindet. Das Glück als langfristiges Wohlergehen wird
dagegen insoweit planbar, als sich in ihm das Gelingen allgemeiner Lebenspläne
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

in Geltung setzen kann, Menschen also kontinuierlich dazu fähig sind, ihr Leben
autonom zu bestimmen und gefasste Entscheidungen auch gegen äußere und in-
nere Widerstände durchzusetzen. Die objektive Erörterung der Voraussetzungen
zum Wohlergehen bildet eine Grundlage, die unterschiedlichen Erfolge der Men-
schen bei der Erzielung ihres Glücks reflexiv zu bewerten. Darin wird es grund-
sätzlich von den anderen Glücksvorstellungen geschieden, die ja meist weder
planbar noch intentional erstrebt werden können – sie geschehen einfach. Eine
Reflexion auf die Ursache des radikal subjektiven mentalen Zustands des Empfin-
dungsglücks, das durch die ihm innewohnende Individualität der Empfindungen
generell der Mitteilbarkeit an andere sowie einer objektiven Vergleichbarkeit der
verschiedenen Empfindungsglücke enthoben ist, muss deshalb objektiv scheitern:
das subjektiv empfundene Glück bleibt der Außenwelt verschlossen, ist allenfalls
durch Sprache und emotive Gestik vermittelbar, unterliegt im Gebrauch dieser
Hilfsmitteln aber den üblichen Übersetzungsproblemen. 211
Von diesem Problem der objektiven Uneinholbarkeit des Empfindungsglücks
ausgehend wurde in den philosophischen Hauptströmungen des 20. Jahrhunderts
der Glücksbegriff generell kritisiert: der Mensch sei ein im Dasein existentiell auf
sich zurückgeworfenes Subjekt, das je im Kontext seiner sozialen Umwelt dazu
verpflichtet sei, individuell seine je eigene Idee des Guten zu entwerfen. Ansons-
ten lebt der Mensch, wie Sartre schreibt, im „dumpfen Glück eine unwahre Exis-
tenz.“ 212 Eine gesellschaftlich-sozial verbindliche, gehaltvolle Idee des Glücks als

210
Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 595.
211
Vgl. Horn, Art. ‚Glück/Wohlergehen‘, S. 376.
212
Sartre, Die Wörter, S. 136. Sartre stellt sich mit diesem Ausspruch in die Reihe von Heidegger
und Adorno, deren anthropologische Konzepte sich ebenso von den klassischen Vorstellungen
des guten Lebens lösen. Vor allen sozialen Beziehungen und Verpflichtungen zur Solidarität steht
108 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

Voraussetzung zum Gelingen eines individuellen Lebens scheint aus dieser kriti-
schen Perspektive eine fehlleitende Vorstellung zu sein, weil sich darin der
Mensch seiner Autonomie beraubt und den Glücksversprechungen heteronomer
Institutionen verfällt. In diesem Kontext wurde auch die zeitliche Komponente
der Glücksorientierung kritisiert, denn überhaupt die Möglichkeit, längere Zeit-
abschnitte als glücklich bezeichnen zu können, schien angesichts der geschichtli-
chen Ereignisse des 20. Jahrhunderts als geradezu zynischer Akt. Unter den Vor-
zeichen der (Post-)Moderne erscheint die praktische Lebensrealisierung von
Glück und der Erfolg von Lebensplänen vielmehr als nur noch fragmentarisch
möglich, weil das Leben in starker Abhängigkeit von heteronomen Strukturen
und Akteuren steht, deren Entscheidungsgewalt oft als irrational-irreversibler
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Einfluss erfahren werden. Ein gutes Leben als lineare und kohärente Abfolge ge-
glückter autonomer Entscheidungen wird in dieser realistischen Perspektive nicht
mehr ernsthaft vertreten werden können.
Das Anstreben des Lebensglücks fordert vor dem Sinnhorizont der klassischen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Positionen ja genau die entgegengesetzten äußeren Verhältnisse und subjektiven


Verhaltensweisen: Planbarkeit, ein hohes Maß an persönlicher und materialer Au-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tonomie, soziale Solidarität. Beide Konzepte – gutes Leben/Glück und maximale


Individualität scheinen jedenfalls gegenwärtig nicht mehr miteinander kompati-
bel zu machen sein, noch weniger angesichts der als plural erfahrenen Leben-
sumwelten, in denen die unterschiedlichen Lebenspläne eine gehaltvolle gesell-
schaftliche Glückskonzeption weder opportun erscheinen lassen, noch überhaupt
benötigen. 213

C.1 Die aristotelische Perspektive

Es war in der klassischen Philosophie Aristoteles‘ eudaimonistischer Ethikent-


wurf, der den Menschen noch exklusiv als Wesen bestimmt, das Kraft seiner Na-
tur und mit seinen voluntativen Handlungen nach dem strebt, was in seiner Na-
tur als ‚gut‘ angelegt ist. Das oberste Ziel des Strebens, das um seiner selbst willen
von allen Menschen gewollt wird, bezeichnet Aristoteles als das Glück, „das wir
um seiner selbst willen und niemals zu einem darüber hinausliegenden Zweck“ 214
anstreben. Damit ist das Glück als das oberste Gute aber noch nicht inhaltlich
bestimmt: es könnte ja je nach persönlicher Vorliebe ganz unterschiedliche und
individuell bestimmte Ausdeutungen annehmen. Deswegen zieht Aristoteles eine
starke Verbindung von seiner Definition des Glücks als Vollendung des Strebens
hin zur vernünftigen Natur des Menschen als Ausgangspunkt des Strebens, und
in dieser Relation wird das Glück konkret gemacht: da laut Aristoteles die spezifi-

ein Authentizitätsdogma der eigenen Identität, das vor allem dem hündischen Verfolgen fremder
Lebensgestaltungskonzeptionen kritisch gegenübersteht.
213
Vgl. Horn, Art. ‚Glück/Wohlergehen‘, S. 376.
214
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1097a24-b12.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 109

sche Fähigkeit der Natur des Menschen das Vermögen der Vernunft ist, besteht
die Aufgabe des Menschen darin, sich seiner Vernunft dauerhaft auf bestmögliche
und tugendhafte Art zu bedienen, um sein Glück von dieser Ausgangsanlage aus-
gehend zu erreichen. 215 Glück ist damit das um der eigenen Natur willen Gewoll-
te, beim Menschen mithin eine Perfektionierung der eigenen Vernunftnatur.
Als Mensch ein gutes Leben zu führen bedeutet dementsprechend, seine Fä-
higkeiten, die bereits als entwickelbare Möglichkeitsformen in der menschlichen
Natur angelegt sind, aktiv zu verwirklichen – aber so, dass in ihrer Entwicklung
die rechte Mitte gewahrt bleibt. Aristoteles geht nämlich davon aus, dass alles
durch ein Zuviel oder Zuwenig zerstört wird, weswegen zum Glück nur gelangen
kann, wer im rechten Maße sittlich handelt, „mit Notwendigkeit handelt, wert-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

voll handelt“ 216. Die Fähigkeit zur Erlangung des Glücks steht in einem Abhän-
gigkeitsverhältnis zum praktischen Gebrauch der Vernunft unter dem Aspekt der
Tugend und der Klugheit – und das über einen längeren Zeitraum, nämlich das
volle Menschenleben, hinweg: „[d]enn eine Schwalbe macht noch keinen Früh-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ling und auch nicht ein Tag“ 217. Der sittliche Vollzug der menschlichen Natur
beschränkt sich für Aristoteles jedoch nicht allein in der tugendhaften Orientie-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

rung der Handlungsziele zur Erlangung des Glücks, denn er setzt sich schließlich
auch mit den äußeren Voraussetzungen auseinander, die die Bedingung der Mög-
lichkeit zur Erlangung des Glücks darstellen: für Aristoteles zählen dazu körperli-
che Unversehrtheit, ästhetische Schönheit und Gesundheit, vor allem jedoch ge-
eignete institutionelle Rahmenbedingungen der polis, die den Menschen in der
tugendhaften Vollendung seiner Natur unterstützen. 218
Die tugendhafte Zielorientierung des Einzelnen am guten Leben bedarf dem-
entsprechend einer umsorgenden und weitreichenden institutionellen Anleitung
durch ein Gemeinwesen, die dem Menschen durch dessen Sozialnatur, wie Aris-
toteles festhält, aber nicht wesensfremd ist. Der Staat, bei Aristoteles die polis,
kommt hier als Einrichtung mit pädagogischem Auftrag in den Blick und ist
deswegen essentielle Voraussetzung für die menschliche Entwicklung, weil Aristo-
teles eine naturnotwendige und letztlich unhintergehbare sozialen Anbindung des
Einzelnen an die polis als anthropologisches Faktum setzt, soll der Mensch tu-
gendhaft und glücklich leben. Das Wohlergehen des Einzelnen als Lebensglück
ist in der aristotelischen Konzeption ein grundsätzlich gesellschaftlich-politisch
orientiertes, im Sinne einer gegenseitigen Relation und Einflussnahme von Bür-
ger und Staat. Die gegenseitige Bezogenheit von Menschen und Staatswesen ist
eine conditio sine qua non, die in der Wesensnatur beider Entitäten angelegt ist.
In dieser Perspektive einer gleichursprünglichen Verwiesenheit des Staates und

215
Vgl. ebd., 1097b34-1098a17.
216
Ebd., 1098b26-1099a13. In gewisser Weise ordnet Aristoteles die ganze – wohlgemerkt: prakti-
sche – Philosophie diesem Anspruch unter, denn „wir philosophieren nämlich nicht, um zu er-
fahren, was ethische Werthaftigkeit sei, sondern um wertvolle Menschen zu werden“. Vgl. ebd.,
1103b26-1104a12.
217
Ebd., 1098a18-b5.
218
Vgl. ebd., 1099a14-1099b23.
110 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

des autonomen Bürgers aufeinander führt Aristoteles eine Deutung ein, die später
Hegel unter dem Begriff des sittlichen Staates weiterentwickeln wird. Dort wird
der Staat zur höchsten Form der Vermittlung von Individualität und Gesell-
schaftlichkeit, der dann die familiären und ökonomischen Beziehungen der Men-
schen rational begründet, überbaut und dadurch sittlich transzendiert. 219
Allerdings nimmt Aristoteles auch eine für die Philosophie als zentral anzuse-
hende und folgenreiche Aufscheidung innerhalb der epistemologischen Katego-
rien der Ethik vor. Durch die Bestimmung des richtigen Handelns in konkreten,
lebenspraktischen Bezügen, wodurch dieses nur innerhalb bestehender sozialer
Bindungen und kultureller Prägungen ausgedeutet werden können, setzt Aristote-
les die praktische Vernunft mit der Klugheit gleich und scheidet diese dadurch
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

von der theoretischen Erkenntnis als rationaler Verstandesleistung a priori, wel-


che in seinem philosophischem System der erkenntnistheoretischen Durchdrin-
gung der Metaphysik dient. Durch die durch die Aufklärungsphilosophie not-
wendig gewordene Zurückweisung metaphysischer Begründungssysteme wird
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

nun allerdings auch für die praktische Vernunft fraglich, wie ihr Rationalitätsver-
sprechen in der Klärung praktischer Fragen der Ethik und gelebten Moral ange-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

sichts ihrer moraltheoretischen Unterordnung unter einen starken metaphysi-


schen Deutungsrahmen überhaupt eingelöst werden kann. 220 Moderne nonkogni-
tivistische Ansätze in der Ethik streiten genau deshalb die menschliche Fähigkeit
zur Bildung universalisierter moralischer Urteile auf der Grundlage praktischer
Rationalität ab, weil ihnen die praktische Rationalität ohne einen normativen,
metaphysisch verankerten Rahmen selbst als haltlos erscheinen muss und also nur
noch in emotiv aufgeladenen, aber dadurch allein in intersubjektiven Narrations-
vorgängen nachvollziehbaren Aussagen moralische Wahrheitsansprüche generiert
werden können. Die Antwort der utilitaristischen eorien auf den Verlust me-
taphysischer Begründungssysteme ist ebenso moraltheoretisch eingeengt: morali-
sche Urteile werden auf eine zweckrationale und funktionalisierte Folgenabschät-
zung reduziert, in der dadurch gleichwohl das (inter-)subjektive Urteil des Ein-
zelnen aufgeben werden muss. 221

C.2 Das Wohlergehen des Menschen in kantianischer Perspektive

Durch die Aufklärung setzt mit Kant und seinen Nachfolgern aber auch eine kri-
tische Tradition ein, die sich einerseits gegen Aristoteles und seine metaphysisch
durchwobene Konzeption eines strebensethisch-praktisch erreichbaren ‚guten Le-
bens‘ stellt, andererseits aber den genuinen Erkenntnisanspruch der praktischen
Vernunft rettet, obgleich sich darin auch der Ansatz der Ethik fundamental vom

219
Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 536. Siehe hierzu auch: Kersting, Politik und
Recht, S. 407f.
220
Vgl. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 81f., vor allem auch S. 121.
221
Vgl. ebd., S. 81.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 111

Konsequentialismus und teleologischen Materialismus Aristoteles‘ entfernt, ihm


nun spiegelbildlich gegenübertritt.

C.2.a Immanuel Kant

Denn im Gegensatz zu Aristoteles, der seine Ethik des ‚guten Lebens‘ auf Klug-
heitsargumente und empirischem Erfahrungswissen gründet, also aus einer Be-
stimmung a posteriori setzt, lehnt Kant in Anlehnung an Hume und dessen Pos-
tulats des Sein-sollens-Fehlschlusses die Möglichkeit empirisch erschlossener Soll-
geltung von Handlungen, die dadurch letztlich heteronom als gut bestimmt sind,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ab. 222 Kants Konzeption der Bildung moralischer Urteile geschieht im Gegensatz
zu Aristoteles‘ empirischem Wirklichkeitszugang in einem synthetischen Ver-
nunftprozess a priori, denn
„alle Moralphilosophie beruht gänzlich auf ihrem reinen Teil, und, auf den Men-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

schen angewandt, entlehnt sie nicht das mindeste von der Kenntnis desselben
(Anthropologie), sondern gibt ihm, als vernünftigem Wesen, Gesetze a priori, die
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

freilich noch durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft erfordern, um teils zu unter-


scheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, teils ihren Eingang in den
Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung verschaffen […].“ 223
Also nicht die Anschauung des Menschen und seiner Natur kann primär in der
Erörterung gerechtfertigter moralischen Urteile etwa über die Bedingungen des
Wohlergehens stehen, wie Aristoteles es mit seinem Essentialismus vertritt, son-
dern durch die prämissive Setzung des ‚Menschen als Vernunftwesen‘ durch Kant
ist diesem die aprioristische Möglichkeit des Wirkens der reinen, unbeeinflussten
Rationalität bei der Bestimmung der moralisch richtigen Handlungen gegeben.
Die Frage nach dem ‚was kann/soll ich wollen‘ muss sich deshalb bei Kant von
den konkreten, zweckrationalen und lebenspraktischen Urteilen und Erfahrungen
lösen und wird zu einer deontologisch-autonomen Entscheidung über moralische
Handlungen und Pflichten: „Der kategorische Imperativ, der die Handlung ohne
Beziehung auf irgendeine Absicht, d. i. auch ohne irgend einen andern Zweck für
sich als objektiv notwendig erklärt, gilt als ein apodiktisch (praktisches) Prin-
zip“ 224. Durch die unbedingte Orientierung des moralischen Urteils an der Ver-
nunft verliert die Zweckrationalität unter dem Klugheitsparadigma ihren hand-
lungsbestimmenden Charakter, der den Menschen in den klassischen ethischen
eorien sein Wohlergehen anstreben ließ; als nur mehr relatives Sollen, das die
Relation von Wertpräferenzen und Zwecksetzungen in konkreten Situationen

222
Vgl. Kaulbach, Immanuel Kants <Grundlegung zur Metaphysik der Sitten>, S. 110-113.
223
Kant, GMS, AA 04: S. 389, 026-33.
224
Ebd., S. 415, 02-05. Vgl. dazu Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, S.
180f.
112 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

einfordert, ist sie bei Kant dem absoluten Sollen des kategorischen Imperativs
moraltheoretisch nach- und untergeordnet. 225
Der praktischen (Lebens-)Erfahrung kann dementsprechend nur noch die
Aufgabe zukommen, die moralischen Urteile gehaltvoll anzureichern – wirklich
modifizieren im Sinne einer voluntativen Entscheidung gegen das allgemein Sit-
tengesetz kann sie diese durch die kategorische Sollgeltung des Imperativs aber
gerade nicht. Kant muss allerdings begründen, weshalb die reine Vernunft über-
haupt das richtige Handeln motivieren kann, worin also ihre Fähigkeit zur Mora-
lität überhaupt fundiert ist. Ansonsten wäre nicht einzusehen, dass und inwiefern
durch die reine Vernunft überhaupt moralisch gerechtfertigte Urteile entstehen
könnten. Um diesem Anspruch Genüge zu tun, entwickelt nun auch Kant eine
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Vorstellung des absoluten Guten. Dem Guten nähert sich der Mensch aber nicht
teleologisch wie bei Aristoteles durch die Orientierung an seinem Wesen zur Er-
reichung des Lebensglücks an, sondern das Gute zeigt sich vielmehr im guten
Willen des Menschen selbst: Der kategorische Imperativ „betrifft nicht die Mate-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

rie der Handlung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern die Form und das
Prinzip, woraus sie selbst folgt, und das Wesentlich-Gute derselben besteht in der
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Gesinnung, der Erfolg mag sein, welcher er wolle.“ 226


Die ‚Gutheit‘ einer Handlung bestimmt sich nicht vom Ziele her – damit wäre
ja das autonom getroffene, a priori bestimmte moralische Urteil konsequentialis-
tisch aufgehoben –, sondern vom Grad der Autonomie her, das ist die freiheitli-
che Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung aus moralischer Einsicht durch gute, ratio-
nale Gründe, die den guten Willen des Menschen am universalen Sittengesetz
orientieren und ihn letztlich in seinem Handeln verpflichten. Entsprechend die-
ser freiheitsgarantierenden Prämisse, welche die Willkür des Einzelnen im allge-
meinen Sittengesetz bindet, muss die Vernunft die Handlungsziele uneigennützig
und im kategorischen Einklang mit eben jenem Sittengesetz verfolgen. 227 Die mo-
225
Zu diesem Verhältnis von kategorischem und praktischem Imperativ siehe insbesondere das vier-
te Kapitel, wo es im Unterpunkt D.4 ausführlich erläutert wird.
226
Kant, GMS, AA 04: S. 416, 10-13.
227
Für eine Darstellung und umfassende Kritik der Kant’schen Verknüpfung des höchsten Guten
mit der Aufrechterhaltung der Option für Gott als Motivation zur Orientierung am Guten siehe:
Hübenthal, Grundlegung der christlichen Sozialethik, S. 80-93. Hübenthal kritisiert hier Sala, der
Kant darin ein Dilemma unterstellt, dass jener einerseits an den „moraltheoretischen Grundopti-
onen“ (S. 83) der Autonomie und des Formalismus festhalte, andererseits aber auch das Gottes-
postulat nicht fallen lasse. Aus diesem Dilemma versuche sich Kant laut Sala dadurch zu lösen,
indem er ein besonderes Gebot einführt, nämlich, „das höchste Gut zu befördern“ (ebd.). Weil
der Mensch durch sein Menschsein aber niemals in der Lage sein werde, dieses Gebot völlig zu
erfüllen, musste „Kant dann das Gottespostulat einführen, um die Verwirklichung der Sollens-
forderung auf diese Weise sicherzustellen“ (S. 84). Hübenthal geht davon aus, dass Salas Kritik
von einer „unzulässig einseitigen teleologischen Ethikauffassung getragen“(S. 86) sei, die an der
eigentlichen Intention Kants vorbeigeht. Denn „im kantischen Modell wird der Mensch dagegen
als ein zur Freiheit befähigtes und herausgefordertes Wesen verstanden. Moralisches Handeln
spielt sich dementsprechend auch nicht innerhalb eines immer schon vorgegebenen, teleologisch
integrierten Regel- und Bedingungszusammenhangs ab, sondern versucht gerade, sich ins Ver-
hältnis zu aller Bedingtheit zu setzen und die entsprechenden Handlungsimpulse zu inhibieren.“
(S. 97).
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 113

ralischen Maximen, die durch das Urteil der Vernunft handlungsverpflichtend zu


befolgen sind, stehen diametral gegen den Lustinstinkt des Menschen, der seine
Ziele allzu oft an kurzlebigen Leidenschaften und Glücksempfindungen ausrich-
tet. 228
Der Bruch zur eudaimonistischen Ethik Aristoteles ist damit vollständig. Nicht
mehr das an den menschlichen Wesensmerkmalen oder der menschlichen Natur
zu orientierende Wohlergehen des Menschen, das nur auf dem problematischen
erkenntnistheoretischen Fundament empirischen Erkennens und daraus folgen-
der heteronomer Sollgeltung bestimmt wird, kann Bestandteil der praktischen
Vernunft sein, sondern allein die an der Maßgabe der Universalisierbarkeit for-
malisierte Normbegründung durch rationale Akteure ist bei Kant das moralphilo-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

sophische Refugium, in der die praktische Vernunft hinsichtlich der Bestimmung


der ethisch überhaupt anstrebbaren Ziele tätig sein kann. 229 War bei Aristoteles
zur Bestimmung des Guten die Berücksichtigung der sozialen Bindungen und
kultureller Prägungen geradezu notwendig, um zu situativ angemessenen Hand-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

lungspräferenzen und Handlungsbeurteilungen aus Klugheitserwägungen zu ge-


langen, kann Kant allerdings vorgeworfen werden, dass der Formalismus, mit
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dem die abstrakten Sätze des Sittengesetzes auf ungleichartige Fälle angewendet
werden kann, dem „Kontext der jeweiligen Situation keine eigene Relevanz“230
zukommen lässt. Das konkrete Gute ist nun das, was sich aus der entwickelten
Möglichkeitsform des moralisch Rechten unter der Ägide des Vernünftigen ergibt
– es ist Ergebnis der Willkür (d. i. im Kant’schen Sinne das freie Handeln im
selbstverantworteten Gestaltungsraum) des Menschen, der durch seinen guten
Willen gemäß seiner Maximen moralisch handeln kann.
Die Kant’sche Konzeption einer dem Subjekt anheimgestellten, vernunftorien-
tierten deontologischen Moralverwirklichung bleibt einem philosophischen Geist
verpflichtet, der die sozialen Bezüge des Einzelnen nicht außer Acht lässt, ja sogar
besondere Rücksicht auf den Nächsten und seine Achtung einfordert. Darauf

228
Vgl. Luf, ‚Freiheit als Rechtsprinzip‘, S. 97ff. Siehe dort vor allem auch die Fußnote 1, in der Luf
nachzuweisen versucht, dass auch die deontologische Ethik nicht frei von teleologischen Momen-
ten ist. Diese kommen dann zum Tragen, wenn „auf der Anwendungsebene (also nicht auf der
Begründungsebene) auf teleologische Erwägungen empirisch-praktischer Art“ rekurriert wird.
Durch die Aufscheidung von moralischer Begründungs- und Anwendungspragmatik wird der
Teleologie dadurch gleichsam der Stachel gezogen, den sie gegen die Universalisierbarkeit der
Zwecke ausfahren kann.
229
Wolfgang Kersting hält entsprechend dieses fundamentalen Bruches gegenüber Aristoteles fest,
dass die „Kantische Vernunftgesetzgebung […] nicht dem legeshierarchischen Modell des klassi-
schen Naturrechts [folgt, M. H.], […] kein höchstes Gesetz [formuliert, M. H.] und […] keinen
höchsten Zweck aus[zeichnet, M. H.]“. Vgl. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschafts-
vertrages, S. 181.
230
Wellmer, Ethik und Dialog, S. 129ff., zitiert nach: Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S.
85. In dieser Kritik liegt der Ansatzpunkt des Kommunitarismus, der eine Gegenbewegung zum
liberalen Modell Rawls’scher Provenienz darstellt. Er plädiert für eine stärkere Kontextualisierung
der moralischen Urteile, die dezidiert die sozio-kulturelle Prägung in ihren Urteilen berücksichti-
gen müssten. Für die mittlerweile klassischen Positionen siehe MacIntyre, Der Verlust der Tugend;
Sandel, Liberalism and the Limits of Justice; Walzer, Sphären der Gerechtigkeit.
114 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

verweist zentral der kategorische Imperativ, der schließlich gerade die Selbstbe-
schneidung der eigenen Willkür vor der Willkür der Anderen als kategorisch gel-
tendem Gesetz der menschlichen Vernunft festlegt. Der moralische Standpunkt,
den die einzelne vernünftige Person einnehmen muss, wird freilich erst durch an-
dere Personen gefährdet, wird also erst durch die Existenz anderer Freiheit als
Entscheidungsproblem einer nicht entgrenzt agierenden subjekthaften Ver-
nunftsperspektive vorgeführt. Diesen Gedanken führt John Rawls implizit wie
folgt aus: „[…] [W]enn man sich die moralischen Grundsätze als Gesetze in ei-
nem Reich der Zwecke vorstellt, so liegt auf der Hand, daß diese Grundsätze
nicht nur für alle annehmbar, sondern auch öffentlich sein müssen.“ 231
Mit dieser ese zeigt sich der einschneidenste Wandel zwischen aristotelischer
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

und kantianischer Perspektive auf die Sozialität des Menschen und dessen daraus
entspringenden moralischen Verpflichtungen. Konnte durch die teleologische
Konzeption des guten Lebens bei Aristoteles ein für alle Bürger gleichermaßen
abgestimmtes Set an Handlungsmotiven und -empfehlungen zur Erreichung des-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

selben mindestens pädagogisch propagiert, wenn nicht sogar durch Zwang


durchgesetzt werden, muss diese Option in der Kant’schen Perspektive auf das
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Wohlergehen des Menschen in seinen sozialen Beziehungen prinzipiell ausschei-


den – und zwar aus folgendem Grund: der Bürger, der autonom handelt, also
„die Grundsätze seiner Handlung als bestmöglichen Ausdruck seiner Natur als
eines freien und gleichen Vernunftwesens gewählt hat“ 232, wird sich gegen eine
Konzeption des moralischen Standpunkt entscheiden (müssen), die ihm möglich-
erweise „wegen seiner gesellschaftlichen Stellung oder seiner natürlichen Gaben
oder wegen der Eigenart seiner Gesellschaft oder wegen seiner zufälligen Wün-
sche“ 233 nur eingeschränkte Handlungsautonomie erlauben wird. In diesen auch
nur potenziellen Einschränkungen seiner Ziele wird der Bürger eine Beschnei-
dung seiner zentralen Interessen als Vernunftwesen erblicken und deswegen ge-
sellschaftlichen Arrangements nicht zustimmen, die gegen die Entfaltung seiner
Autonomie gerichtet sind, bzw. irgendwann in der Zukunft diesen Effekt zeigen
können. Daraus muss zwangsläufig folgen: je mehr die „Glücks- und Wichtig-
keitsvorstellungen der Individuen divergieren, desto weniger kann sich die staatli-
che Ordnungspolitik auf die integrative Funktion von Glücks- und Wichtigkeits-
vorstellungen stützen, desto stärker muß die gesellschaftliche Einheit dem Regi-
ment der Formalität, Negativität und Neutralität anvertraut werden“ 234, wie
Kersting festhält. Das positive Verfügen über einen eigenen moralischen Stand-
punkt, der durch die Bewahrung der je eigenen Autonomie gesichert werden
muss, führt zwangsläufig zu einer Risiskoaversion gegen Modelle des sozialen Zu-
sammenlebens, die diese Autonomie bedrohen können.

231
Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 284.
232
Ebd.
233
Ebd.
234
Kersting, Politik und Recht, S. 161.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 115

In dieser Kant‘schen Perspektive auf die Sozialität des Menschen ist offensicht-
lich, dass die die sozialen Bindungen einhegenden Ordnungsinstitutionen – als
deren Primat: der Staat – ihre Macht nur in einem eng begrenzten Rahmen ausü-
ben können, in der Autonomie ihrer Bürger – modern: an ihrem menschenrecht-
lichen Anspruch – an ihre rechtlichen Grenzen stoßen müssen. Die politische
Herrschaft des Staates wird durch Kant angesichts der unhintergehbaren Auto-
nomie der Bürger, dem das positiv gesatzte Recht notwendigerweise entsprechen
muss, begrenzt. Trotzdem ist der Staat als Einhegung für das Zusammenleben
freier Bürger unbedingte Notwendigkeit, wie Kant schreibt, denn er ist der „In-
begriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des
anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

kann.“ 235
Das Recht bildet dabei die theoretische Brücke zwischen dem moralischen
Standpunkt der Bürger einerseits und dem gemeinsamen Willen aller Bürger an-
dererseits, der in der positiv gesatzten Verfassung die Moralität in eine rechts-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ethisch wirksame Form gießt: „Das öffentliche Recht wird auf ein Volk bezogen,
welches des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Verfassung (constitutio), bedürfe, um dessen, was rechtens ist, teilhaftig zu wer-


den.“ 236 In dieser ethischen Ausdeutung des Staatsgefüges, das seine Grundlage in
der voluntativen Mitgliedschaft moralischer Subjekte findet, treten bei Kant an-
dere Ideen der Staatsfundierung notwendig zurück: nicht das abstrakte Kollektiv,
nicht das Territorium oder das Gewaltmonopol des Monarchen können den
Staat konstituieren, sondern die Gemeinschaft der Vernunftwesen. Dadurch wird
der Staat bei Kant „streng auf eine rechtsstaatliche civitas begrenzt.“ 237 In dieser
vernunftbegründeten Einhegung des Machtbereichs des Staates wird jedoch auch
der aristotelischen Idee einer übergreifenden Vorstellung des Guten und der
Möglichkeit, präpolitische Voraussetzungen des Wohlergehens postpolitisch, d. h.
nach dem Verlassen des Naturzustandes, zu bestimmen, das Fundament entzo-
gen; weil in der Moralphilosophie Kants der Einzelne vermöge seines guten Wil-
lens letztlich allein als je autonomes Individuum das Gute wollen kann, wird
dementsprechend im Staatswesen das moralische Subjekt keine heteronome Ein-
mischung in seinen innersten Kern willkürlicher Autonomie zulassen – das Gute
wird sein individuelles Gute sein, das er nach wohlerwogenem Urteil anstrebt.
Das Gut, das ein Staatswesen für seine Bürger anstreben kann, ist dadurch ein
Gut zweiter Ordnung, indem es nur abstrakt die Ziele der Willensentscheidun-
gen seiner Bürger als wohlerwogene moralische Urteile ermöglichen muss, aber
selbst keine materialen Gehalte des Guten aufweisen kann und darf.

235
Kant, RL, AA 06: S. 230, 24-26.
236
Pfordten, ‚Zum Begriff des Staates bei Kant und Hegel‘, S. 103-120.
237
Ebd. In diesem Zusammenschluss des Willens erweist sich für Kant letztlich die praktische Ver-
nunft, die eine Erweiterung der Idee „des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemei-
nen gesetzgebenden Willens“ ist. Vgl. Kant, GMS, AA 04: S. 431,16-18.
116 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

C.2.b Das Wohlergehen in liberalen Gesellschaften – John Rawls

Wie aber, das heißt in welcher institutionellen Ausgestaltung ist eine Gesellschaft
vorstellbar, in der einerseits den Bürgern das autonome Verfügen über ihren mo-
ralischen Standpunkt ermöglicht wird, in der aber andererseits auch das Wohler-
gehen der Bürger unter Fairnessbedingungen, d. h. unter Wahrung der Autono-
mie anderer Bürger, möglich sein kann? Eine mittlerweile epochal 238 zu nennende
Antwort auf dieses Problem hat John Rawls mit seiner „eorie der Gerechtig-
keit“ vorgelegt, die er in die Ahnenreihe einerseits klassischer Vertragstheoretiker
der Aufklärung – Locke, Rousseau und Kant (aber nicht Hobbes!) – einordnet,
andererseits von der moraltheoretischen Fundamentalorientierung her dezidiert
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

an Kant anschließen lässt. 239


Es ist bei Rawls die konstruktivistische Inszenierung eines Gedankenexperi-
ments, nämlich des hypothetischen Urzustands (original position) hinter einem
Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance), der zur folgenden konsentischen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Entscheidungsfindung beitragen soll: inwiefern lässt sich das individuelle Wohl-


ergehen der Bürger durch eine gerechte Grundstruktur der Institutionen inner-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

halb eines Staatswesens trotz konkurrierender Interessen und verschiedener Ta-


lente und Leistungsfähigkeiten aus einer Überlegung a priori maximieren? Ohne
hier auf alle Feinheiten und später von Rawls veröffentlichten, teilweise umfas-
senden Modifikationen seiner eorie eingehen zu können, seien hier nach einer
kurzen Erörterung der Ziele der ‚eorie der Gerechtigkeit‘ zumindest die grund-
legenden methodischen Tragpfeiler seiner eorie genannt. 240
Rawls verfolgt in seiner eorie der Gerechtigkeit zwei thematische Stoßrich-
tungen, die sich in ihrer Zielorientierung vielfach überschneiden. Zum einen geht
es ihm darum, moraltheoretische Instrumente zu konstruieren und konzeptionell
so miteinander in ein Verhältnis zu setzen, dass ein an Kant angelehntes liberales
und pluralismuskompatibles Menschenbild strukturell mit den Gerechtigkeitsan-
forderungen moderner, liberal-aufgeklärter Gesellschaften moralphilosophisch
verbunden werden kann. Zum anderen will er mit seiner eorie zeigen, dass mit
seiner liberalen Konzeption der Institutionen eines gerechten Staates der Utilita-

238
Epochal unter anderem deshalb, weil erst nach der von Rawls 1971 veröffentlichten ‚eorie der
Gerechtigkeit‘ überhaupt erst wieder Philosophinnen und Philosophen in nennenswerter Zahl
damit begannen, sich ernsthaft mit den Problemen praktischer und politischer Philosophie ausei-
nanderzusetzen. Die Lage vor der Rawls’schen Veröffentlichung fasst Kersting griffig folgender-
maßen zusammen: „die Rationalisierung und Optimierung menschlicher Lebensverhältnisse, die
die frühe neuzeitliche Philosophie gerade durch Aufnahme moderner wissenschaftlichen Denkens
erreichen wollte, glaubt die emanzipierte, sich aus aller methodologischen und teleologischen Be-
vormundung lösende Wissenschaft jetzt ohne jeden philosophischen Beistand gewährleisten zu
wollen. Das große Erbe von Hobbes, Locke, Kant und Hegel verstaubte.“ Kersting, Politik und
Recht, S. 18.
239
Siehe dazu den Abschnitt 40 der ‚eorie der Gerechtigkeit‘.
240
Für eine Darstellung des Werkes und insbesondere auch seiner sozialethische Rezeptionsgeschich-
te siehe: Bormann, Soziale Gerechtigkeit zwischen Fairness und Partizipation; Pogge, Realizing
Rawls; Mack, Gerechtigkeit und Gutes Leben.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 117

rismus als das theoretische Fundament der seinerzeit zahlenmäßig überwiegenden


modernen Moralphilosophien systematisch überwunden werden kann, ja sogar
muss. Denn der klassische Utilitarismus als Grundlage politischer Philosophie
krankt für Rawls an der Voraussetzung eines überbordenden Altruismus einiger
zum Nutzen und Vorteil vieler und beruht damit auf einem Menschenbild, dem
Rawls nun die Rationalität und das Eigeninteresse aufgeklärter moralischer Sub-
jekte gegenübersetzt, die umfangreich über Chancen und Freiheiten verfügen sol-
len, um ihre private Vorstellung des Guten anzustreben. 241 Es wäre nämlich im
Utilitarismus als ausgesprochen ungerecht auszumachen, „daß der Verlust der
Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird“ 242.
Weil der Utilitarismus nicht zu jeder Zeit die absolute Unverletzlichkeit jedes
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Menschen als Gerechtigkeitsanspruch garantieren kann, muss er, so Rawls,


zwangsweise als ethische Fundamentaltheorie gerechtigkeitsorientierter Erörte-
rungen ausfallen: der Utilitarismus als teleologischer eorieansatz scheidet zwar
das Gute als Nützlichkeit vom Rechten, muss das Recht aber dadurch, weil es im-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

plizit in seinem eorieaufbau dem Guten nachgeordnet ist, so konzipieren, dass


dieses das Gute maximiert. 243
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

In dieser Abhängigkeit des Rechts liegt die Gefährdung der grundlegenden


Bürgerrechte des Einzelnen, die sich deshalb für Rawls gerechtigkeitstheoretisch
nicht begründen lässt, ebenso, wie er dem aristotelischen Essentialismus, der als
das Wohlergehen und das Gute des Menschen die „Verwirklichung der besten
menschlichen Fähigkeiten in den verschiedenen Erscheinungsformen der Kul-
tur“ 244 ansieht, aus diesem Grund eine Absage erteilen muss.
Um angesichts der Probleme, die der Utilitarismus für die Wahrung der Bür-
gerrechte aufwirft, einen angemessenen Ansatz entwerfen zu können, müssen
Rawls zufolge mindestens drei Bedingungen erfüllt werden: 245 eine eorie der
Gerechtigkeit darf erstens in der formalen Erörterung der moralischen Konzeption
keine teleologische Verschmelzung von den Rechten und vom Guten aufweisen,
bzw. eine gegenseitige Abhängigkeit vom Rechten und vom Guten beinhalten.
Rawls geht im Gegensatz davon aus, dass allein ein deontologischer Ansatz in der
Tradition Kants dazu geeignet sein kann, die Unverletzlichkeit und Sicherheit der
Bürger zu schützen. Wenn das Rechte dem Guten jedoch kategorial vorgeordnet
ist, dann impliziert sich darin ein kritischer Ansatzpunkt, unter dem institutionel-
le Strukturen hinsichtlich ihrer rechtsethischen Plausibilität kritisiert werden
können.
241
Siehe dazu den Abschnitt 30 der ‚eorie der Gerechtigkeit‘, insbesondere S. 216: „Wir kommen
also zu dem unerwarteten Ergebnis, daß das Prinzip des Durchschnittsnutzens die Ethik eines
vernünftigen einzelnen (ohne Risikoscheu) ist, der seine eigenen Interessen möglichst fördern
möchte, während das klassische Prinzip [des Utilitarismus, M. H.] die Ethik vollkommener Alt-
ruisten ist.“ Vgl. Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 216.
242
Ebd., S. 20.
243
Vgl. ebd., S. 42.
244
Ebd., S. 43.
245
Vgl. für den folgenden Abschnitt: Bormann, Soziale Gerechtigkeit zwischen Fairness und Partizipa-
tion, S. 65-67.
118 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

Es reicht für Rawls zweitens aber auch nicht aus, seine eorie nur als Ergebnis
eines formalen Diskurses über logische und semantische Definitionen zu generie-
ren, die ausschließlich durch abstrakte Begriffsanalyse zu ihren Inhalten kommt.
Vielmehr ist es notwendig, die verschiedenartigen gehaltvollen Moralvorstellun-
gen durch ein ‚Überlegungsgleichgewicht‘ so auf einen gemeinsamen Nenner zu
bringen, dass es „uns alles zu sagen ermöglicht, was wir nach reiflicher Überle-
gung sagen möchten“ 246. Das Ziel ist dementsprechend eine formalisierte und
dennoch gehaltvolle eorie, ein Mischsystem aus von den Bürgern geteilten abs-
trakten normativen und moralisch gehaltvollen deskriptiven Annahmen, die re-
flexiv vom moralischen Standpunkt ausgehend in ein Verhältnis gesetzt werden
können. Würde dieser Schritt ausbleiben, hätte das Staatswesen letztendlich keine
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

moralische Legitimation.
Als dritte notwendige Voraussetzung sieht Rawls die Entwicklung von eindeu-
tigen und nachvollziehbaren Entscheidungskriterien, die dabei helfen, die forma-
len Grundsätze und Prinzipien der eorie hierarchisch zu ordnen. Denn wäh-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

rend der Intuitionismus, gegen den sich Rawls stellt, davon ausgeht, dass es eine
Familie von Grundsätzen gäbe, aus denen intuitiv eine gerechte Kombination
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

verschiedener Annahmen über die gerechte Grundstruktur herzustellen sein


könnte, vertritt Rawls dagegen eine begründete, aber feststehende hierarchische
Struktur der Grundsätze und Prinzipien, die letztlich dabei helfen, potenzielle
Priorisierungsprobleme und Abwägungsfragen in der eorie zu lösen. 247
Die eigentliche Problemstellung, nämlich, wie die Ermöglichung von Wohler-
gehen jedes Menschen innerhalb eines Staatswesens strukturell garantiert werden
kann, zeigt sich bei Rawls spezifisch in der Abkehr von den früheren Begrün-
dungsmustern kontraktualistischer eorien. Besonders bei Hobbes, aber auch
noch bei Locke, Rousseau und Kant hatten die in den Vertragsmodellen geschil-
derten Abläufe des Vertragsschlusses die Aufgabe, philosophisch legitimierend zu
begründen, warum eine spezifische Herrschaftsform besteht und der dieser Herr-
schaftsform jeweils entspringende Souverän nach innen und nach außen mit
Recht agieren kann. Rawls dagegen möchte sich mit seiner eorie auf einer mo-
raltheoretischen, formal-abstrakten Ebene die Grundsätze und Prinzipien hypo-
246
Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 133.
247
Diesen Ansatz einer intuitiven Gewichtung von nicht mehr weiter abstrahierbaren Gerechtig-
keitssätze vertritt in gewisser Weise auch Amartya Sen in seinem Buch ‚Ideas of Justice‘. Vgl. Sen,
Ideas of Justice. Vgl. außerdem Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 52ff. Rawls Auseinander-
setzung dort mit dem Intuitionismus nimmt weitgehend die Kritik vorweg, die nach der Ver-
öffentlichung der ‚eorie der Gerechtigkeit‘ von anderen Philosophen geäußert wurde, z. B.
vom bereits genannten Michael Walzer mit seinem Buch ‚Sphären der Gerechtigkeit‘. Rawls
selbst, der den intuitionistischen Standpunkt in seiner eorie der Gerechtigkeit auch den ‚plura-
listischen‘ nennt (S. 53), skizziert diesen Standpunkt als Überzeugung davon, dass „die Viel-
schichtigkeit der moralischen Tatsachen […] eine vollständige Analyse unserer Urteile [verhinde-
re, M. H.] und […] eine Mehrzahl konkurrierender Grundsätze [erfordere, M. H.].“ (S. 58)
Rawls Gegenargumentation besteht darin, die „ethischen Kriterien [anzugeben, M. H.], aus de-
nen die Gewichte folgen, die wir nach unserem wohlüberlegten Urteil für die verschiedenen
Grundsätze für angemessen halten. Eine Wiederlegung des Intuitionismus besteht in der Angabe
der Konstruktionskriterien, die es angeblich nicht gibt.“ (S. 59).
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 119

thetisch erörtern, die gleichsam auf ewig die Grundsätze des Zusammenlebens auf
der Grundlage der als gerecht konzipierten Institutionen zu rechtfertigen vermö-
gen, und die von allen Bürgern der entsprechenden Gesellschaften reflexiv als
richtig und angemessen rekonstruiert und als kritischer Kontrapunkt zu den viel-
leicht ungerechten eigenen Institutionen gesetzt werden können.
Der hypothetische Urzustand ist dabei der eigentliche Konnex zur Kant’schen
Moralphilosophie. In ihm beraten die Menschen hinter dem Schleier des Nicht-
wissens über die Grundstruktur ihrer Gesellschaft, nämlich die Gerechtigkeits-
prinzipien, die den Institutionen zugrunde liegen sollen. Der Schleier sorgt dafür,
dass die Menschen im Urzustand nur wissen, dass sie freie und gleiche Vernunft-
wesen sind und nur „diejenigen Umstände kennen, die Gerechtigkeitsgrundsätze
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

überhaupt nötig machen“ 248. Die Menschen besitzen durch den Schleier nur ein
allgemeines Wissen über die Grundgüter, derer sie zur Verwirklichung ihrer Inte-
ressen bedürfen, sie haben außerdem nur ein abstraktes Wissen über die Zusam-
menhänge, die konkrete Gesellschaften politisch, wirtschaftlich und psycholo-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

gisch prägen, und sie wissen Folgen abzuschätzen. Der Schleier verbirgt ihnen al-
lerdings jede Kenntnis über ihre soziale Stellung, ihre Interessen und Kenntnisse,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

und natürlich auch die Talente und Fähigkeiten, die sie vielleicht einmal verwirk-
lichen wollen. Die Menschen im Urzustand, die die Grundstruktur ihrer Gesell-
schaft entwerfen wollen, wissen auch, dass eine gesellschaftliche Zusammenarbeit
zum gemeinsamen Vorteil aller gereicht und daher wünschenswert und möglich
ist, und sie wissen ebenso, dass sie zwar auf die Erfüllung der eigenen Wünsche
bedacht sein werden, aber andererseits desinteressiert am Nächsten sind, bzw.
nicht neidisch auf dessen Erfolge sein werden.
Auf welches System der Verteilung der Früchte der gesellschaftlichen Zusam-
menarbeit werden sich die Menschen im Urzustand nun einigen? Unter den Vo-
raussetzungen, dass das Grundgut der Freiheit vorrangig und für alle gesichert
wird, dass die Maximin-Regel (d. i. die Sicherstellung der Annehmbarkeit der
schlechtestmöglichen Position) zur Anwendung kommt, und dass jeder Vorteile
aus dem gesellschaftlichen Arrangement ziehen wird, kommt Rawls zur Einschät-
zung, dass die Menschen im hypothetischen Urzustand folgende Grundsätze als
Grundlage ihrer Vereinigung wählen würden:
„Erster Grundsatz: Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamt-
system gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.
Zweiter Grundsatz: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgender-
maßen beschaffen sein:
(a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am we-
nigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen [dies ist das sog. Diffe-
renzprinzip, M. H.], und

248
Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 284.
120 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

(b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer
Chancengleichheit offenstehen.“ 249
Rawls geht davon aus, dass sich die Menschen genau diese Regeln ihres Zusam-
menlebens wählen werden, weil sie sich als vernünftige Individuen hinter dem
Schleier einstimmig und verpflichtend ausschließlich auf die Prinzipien einigen
können, die den formalen Prinzipien der Allgemeinheit, Unbeschränktheit,
Öffentlichkeit, Rangordnung und Endgültigkeit genügen können. Der Urzu-
stand ist selbstverständlich, das wird an diesen zahlreichen Voraussetzungen und
theoretischen Stellschrauben mehr als deutlich, tatsächlich niemals von Rawls als
historisch Situation in der Menschheitsgeschichte verstanden worden, sondern er
ist ein theoretisches, formalisiertes Konstrukt, das schematisierte Ergebnisse her-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

vorbringen soll, mit denen die ethische Rekonstruktion der Gerechtigkeitsgrund-


sätze gelingen kann.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

C.2.b.1 Rawls‘ ‚eorie der Gerechtigkeit‘ als Verheutigung der Kant’schen


Moralphilosophie
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Die spezifisch kantianische Tradition kommt für Rawls in der durch den Schleier
des Nichtwissens konstruierten formalen Autonomie der sich im Urzustand be-
findlichen Menschen zustande. Rawls sieht die Autonomie des Menschen im An-
schluss an Kant dann gewahrt, wenn der Mensch „die Grundsätze seiner Hand-
lungen als bestmöglichen Ausdruck seiner Natur als eines freien und gleichen
Vernunftwesens gewählt hat, nicht wegen seiner gesellschaftlichen Stellung oder
seiner natürlichen Gaben oder wegen der Eigenart seiner Gesellschaft oder wegen
seiner zufälligen Wünsche. Nach solchen Grundsätzen handeln heißt heteronom
handeln.“ 250 Durch den Schleier des Nichtwissens wird durch eine grundsätzliche
Ausblendung aller heteronomen Einflüsse und Gefährdungen der Entscheidungs-
freiheit der Menschen im Urzustand überhaupt erst eine Situation geschaffen, in
der autonome Subjekte gemeinsam beraten können, um im Konsens über die Re-
geln ihres Zusammenlebens als die kategorischen Imperativen ihrer Gesellschaft
zu beraten. Der ‚gute Willen‘ bei Kant, der die Orientierung am Sittengesetzt
motivational praktisch erst ermöglicht, erfährt bei Rawls jedoch eine andere Aus-
richtung: dort sind es die Grundgüter, die jeder vernünftigerweise haben möchte
und die von jedem unabhängig von seinen sonstigen Zielen angestrebt werden. 251
Ferner geht Rawls davon aus, dass der Urzustand eine notwendige Erweiterung
der Kant’schen Position ist, weil Kant für ihn nicht nachvollziehbar zeigen kann,
worin das Handeln nach dem Sittengesetz die menschliche Natur deutlich ma-
che, das Handeln nach anderen Grundsätzen jedoch nicht. 252 Im Rekurs auf

249
Ebd., S. 336.
250
Ebd., S. 284.
251
Zur Kritik am Rawls’schen Grundgütermodell vgl. in diesem Kapitel die Unterpunkte C.2.b.2
sowie C.2.b.3.(b).
252
Vgl. ebd., S. 287. Siehe dazu auch: Freeman, Rawls, S. 285.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 121

Sidgwick führt Rawls aus, dass Kant die Lesart zulasse, dass das „intelligible Ich
jede widerspruchsfreie Menge von Grundsätzen wählen könne, und daß das
Handeln nach solchen, wie sie auch beschaffen sein mögen, genügt, damit sich
die Entscheidung als die eines freien und gleichen Vernunftwesens darstellt.“ 253
Weil Kant die Garantenstellung eines höheren Prinzips unabhängig von der Ver-
nunftfähigkeit der moralischen Subjekte nicht begründe, bzw. nicht konsistent
begründen könne 254, kann die Orientierung am Sittengesetz durch den guten
Willen nicht als gesetzt gelten. Es ist dann, zumal unter liberalen Vorzeichen,
schwierig zu argumentieren, warum ein Set an Überzeugungen gegenüber einem
anderen vorteilhaft und vernünftig sein soll, wenn doch beide auf der Grundlage
wohlüberlegter Urteile zustande gekommen sein könnten.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Rawls nun sieht diese Begründungslücke in der Argumentation von Kant


durch seine Konzeption des Urzustands geschlossen – obwohl er seine Lösung
vorsichtig nur als möglichen „Vorschlag“ 255 bezeichnet. Im Urzustand können
zwar die Menschen freiheitlich aus allen möglichen Grundsätzen wählen, aber
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

„sie möchten auch mit eben dieser Wahlfreiheit ihre Natur als vernünftige und
gleiche Mitglieder des intelligiblen Reiches ausdrücken, d. h. als Wesen, die die
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Welt so betrachten und das in ihrem Leben als Mitglieder der Gesellschaft aus-
drücken können.“ 256 Die Begründungslücke, die Rawls bei Kant hinsichtlich der
letzten Motivation zum Sittengesetz zu erkennen meint, wird durch den Urzu-
stand letztlich dadurch geschlossen, dass in ihm gemeinsam hinter dem Schleier
des Nichtwissens ein konsentisches Urteil über die Grundsätze des Zusammenle-
bens gefällt wird. Durch die formale Reduktion der Menschen auf bloße morali-
sche Subjekte im Urzustand kommt „unsere Natur [dadurch, M. H.] zur Gel-
tung, wenn wir gemäß den Grundsätzen handeln, die wir wählen würden, wenn
diese unsere Natur sich in den Bedingungen der Entscheidung ausdrückt.“257
Rawls meint damit, dass letztlich ein wohlbegründetes relationales Verhältnis von
den Grundsätzen, über die die Menschen im Urzustand als vernünftige und mo-
ralische Subjekte urteilen, zur Wesensnatur des Menschen insgesamt zu ziehen
sein muss: der Urzustand ist damit in gewisser Weise die in soziale Bezüge ge-
wendete hypothetische Rekonstruktion der menschlichen Autonomie. Rekursiv
muss für Rawls aus dieser Bestimmung folgen, dass Menschen dann ihre Auto-
nomie und ihre Unabhängigkeit von inneren und äußeren Zwängen erweisen
können, „wenn sie nach Grundsätzen handeln, die sie im Urzustand anerkennen
würden.“ 258 Diese „verfahrensmäßige Deutung“ 259 von Kants Begriffen der Auto-
nomie und des kategorischen Imperativs fordert schließlich ein, dass diesen
Grundsätzen von jedem Menschen zugestimmt werden könnte, und in der abso-

253
Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 287.
254
Vgl. dazu Fußnote 227.
255
Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 288.
256
Ebd.
257
Ebd.
258
Ebd.
259
Ebd., S. 289.
122 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

luten Autonomie des Einzelnen bei der Zustimmbarkeit zu den Grundsätzen


sieht Rawls auch das Interesse jedes Menschen absolut gewahrt. 260
Die Überzeugung Rawls‘, den Urzustand als universalisierbare sozialethische
Rekonstruktion Kant’scher Moralphilosophie betrachten zu können, gleichsam
als „Rahmen einer empirischen eorie“ 261, war allerdings schnell scharfer Kritik
ausgesetzt, die einerseits auf den eigenwilligen Rawls‘schen Autonomiebegriff ab-
hob und andererseits die Grundgüterkonzeption verdächtigte, einen eng deter-
minierten Gesellschaftstypus, nämlich ausschließlich Gesellschaften des liberalen
Typs hervorzubringen. 262 Denn während bei Kant Autonomie ja gerade bedeutet,
dass der Verstand sich seinen Willen ohne ein konkretes Wollen, sondern durch
sich selbst, als synthetische Leistung der Vernunft a priori als Gesetz gibt, sind die
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Menschen im Urzustand nach der Rawls‘schen Konzeption sehr wohl daran inte-
ressiert, Zwecksetzungen zu verfolgen. Durch den Schleier des Nichtwissens sind
diese Zwecksetzungen zwar von individuellen Zielvorstellungen und Wünschen
bereinigt, nichtsdestotrotz muss davon ausgegangen werden, dass die Menschen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

im Urzustand die von Rawls als allgemeine Interessen bezeichneten Grundgüter


zwangsweise verfolgen werden (Grundgüter, die zur Bestimmung der universal-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gültigen Gerechtigkeitsgrundsätze motivational notwendig sind), die schon allein


durch die darin sich zeigende Heteronomität der ‚fremden‘ Bestimmung der
Grundgüter mit der ursprünglichen Autonomiefunktion Kants nicht kompatibel
zu machen sind. 263
Problematisch wird dies in besonderer Weise für die Rawls’sche Deutung des
kategorischen Imperativs, den er ja, wie an anderer Stelle bereits geschildert, mit
den zwei Gerechtigkeitsgrundsätzen ineinssetzt, auf die sich die Menschen im

260
Rawls‘ Ausgestaltung des ‘sozial orientierten Kontraktualismus‘ ist durch die rational antizipier-
bare Besserstellung der Menschen in einer Gesellschaft mit gerechter und rechtethisch für alle
gleichermaßen geltender Grundstruktur gegen die Kritik gefeit, die Ernst Tugendhat gegen den
Kontraktualismus deswegen vorbringt, weil jener die Maximen von Gerechtigkeit und Gleichheit
verwechsele. Denn „in einem Vertrag fragt sich jeder nur, ob, wenn er dem Vertrag beitritt, es
ihm besser gehen wird als ohne Vertrag, während es auch diese andere Dimension gibt, in der
man sich fragt, ob das wechselseitige Verhältnis ausgewogen ist. Diese Dimension der Gerechtig-
keit wird im Kontraktualismus ausgeblendet. Der Kontraktualismus ist der Versuch, eine Moral
zu konstruieren, deren Funktion es ist, die eigene Macht des Einzelnen zu vergrößern, während
der Sinn von Moral und Gerechtigkeit in der Alternative zur Macht liegt.“ Gerechtigkeit wird in
konkreten Gesellschaften jedoch überhaupt nur dann herrschen können, wenn die Bürger im-
merfort ihrer fundamentalen rechtlichen Gleichheit bewusst sein können. Vgl. Tugendhat, Anth-
ropologie statt Metaphysik, S. 145f.
261
Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 290.
262
Vgl. für die folgende Übersicht wiederum Bormann, Soziale Gerechtigkeit zwischen Fairness und
Partizipation, S. 146ff.
263
Auch Jürgen Habermas nimmt für die von ihm mitentwickelte Diskursethik in Anspruch, den
kategorischen Imperativ durch eine eorie der Anerkennung, die auf Hegel zurückgeht, in-
tersubjektiv einholen zu können, ohne wie dieser die Moralität als Kennzeichnen des moralischen
Subjekts im sittlichen Staat auflösen zu müssen. Er versucht vielmehr zu zeigen, „daß sich der
Sinn des Moralprinzips aus dem Gehalt unvermeidlicher Präsuppositionen einer nur mit anderen
gemeinsam auszuübenden Argumentationspraxis erklärt.“ Vgl. Habermas, Erläuterungen zur Dis-
kursethik, S. 100.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 123

Urzustand einigen würden: als kategorische Grundsätze sozialen Zusammenle-


bens, die für jeden freien und gleichen Menschen gelten und die von diesen keine
besonderen Wünsche oder Ziele voraussetzen. Erst diejenigen Wünsche und Zie-
le, die nicht vernünftigerweise von jedermann angestrebt werden, sind laut Rawls
in einer Reprise auf die Kant’sche Diktion als hypothetische Imperative zu be-
zeichnen: dazu gehören dann beispielsweise gehaltvolle Ideen des Guten, beson-
dere materielle Wünsche des Einzelnen und dergleichen mehr.
Es ist allerdings fraglich, ob die Auftrennung in kategorische und hypotheti-
sche Imperative tatsächlich so einfach in seiner eorie nachzuzeichnen ist, wie
dies Rawls vermeint. Das Vorhaben Rawls‘, Kants subjektzentrierte Moralphilo-
sophie sozialkonstruktivistisch einzuholen muss nämlich einerseits dem unhinter-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

gehbaren Autonomiegrundsatz der vernünftigen Einzelnen genügen, andererseits


muss auch klar werden, wie das Verhältnis der Menschen zueinander so rekon-
struiert werden kann, dass sie sowohl aneinander desinteressiert sind, als auch zur
Steigerung des gemeinsamen Wohls interagieren. In gewisser Weise soll diese
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Leistung in der Rawls‘schen eorie durch die Konzeption der Grundgüter er-
bracht werden, die für Rawls dadurch, dass Menschen „unter sonst gleichen Um-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ständen […] lieber mehr als weniger Freiheiten und Chancen, Vermögen und
Einkommen“ 264 haben, die Autonomie der Subjekte letztlich durch die Auswahl
und den Zuschnitt der Grundgüter garantieren sollen. Allerdings sind die
Grundgüter nicht nur Voraussetzung für die Autonomie, sondern sie sollen
dadurch, dass jeder ihrer bedarf und sie jeder anstrebt, auch den gesellschaftlichen
Zusammenhalt motivieren, im Kern: die Grundlage der Gerechtigkeitskonzepti-
on als ‚schwache Idee des Guten‘ fundieren und letztbegründen helfen. 265
In diesem Punkt weicht Rawls allerdings von Kant fundamental ab. Denn es
ist nicht zu sehen, wie die von Rawls konstruierten Teilnehmer des Urzustands
im Sinne Kants als autonome Wesen, durch den Gebrauch der reinen Vernunft
und von der Warte ihrer selbstverantworteten moralischen Standpunkte über die
Grundsätze der Gerechtigkeit verhandeln sollen, wenn Rawls im gleichen Mo-
ment starke Orientierungspole einbaut, die die Urteile der Teilnehmer in deutli-
cher Weise beeinflussen müssen und sollen. Das ‚Überlegungsgleichgewicht‘, das
Rawls als Prozess der Gerechtigkeitsfindung ersinnt – nämlich als andauernder
Prozess in einer wohlgeordneten Gesellschaft, in der die für die Grundstruktur
erarbeiteten Grundsätze der Gerechtigkeit mit den intuitiv bestehenden Voran-
nahmen über Gerechtigkeitsvorstellungen abgeglichen werden – gibt beredt da-
von Zeugnis, dass die von Rawls angezielten Grundsätze der Gerechtigkeit gar
nicht kulturinvariant im Sinne einer in Reinform vorliegenden Autonomie der
Teilnehmer im Urzustand sein können. Mit der Betonung der geteilten intuitiven
Grundlagen bei der Findung der Grundsätze wird deutlich, dass diese Teilneh-
mer nicht irgendwelche sein können, sondern zumindest einen grundlegenden

264
Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 434.
265
Vgl. dazu auch: Habermas, Faktizität und Geltung, S. 86.
124 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

Minimalkonsens über die Struktur ihrer späteren Gesellschaft teilen müssen. 266
Generell sind die Teilnehmer des Urzustands durch die sehr genaue Konstruktion
der eorie faktisch gezwungen, in die Verhandlungen einzutreten und dabei
auch zu den von Rawls implizierten Ergebnissen zu kommen. Zu diesem Prob-
lem hält besonders Herta Nagl-Dogecal kritisch fest, dass eine „bestimmte Gesin-
nung zu haben – in diesem Fall: die vereinbarten Prinzipien aus innerer Überzeu-
gung einzuhalten –, […]nicht vertraglich vereinbart werden [kann, M. H.]. Ein
diesbezüglicher Versuch würde an einer Aporie scheitern: Die Vertragsparteien
müssten ja gerade darauf verzichten, künftig eine Gesinnung – die immer nur
‚meine eigene‘ sein kann – zu haben.“ 267
Der kategorische Imperativ, den Rawls selbst in den Gerechtigkeitsgrundsätzen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

des Urzustands impliziert sieht, wird durch diese Kritik zu einem hypothetischen
herabgeschwächt, also zu imperativischen Überlegungen, die sich aus der mensch-
lichen Klugheit als Wissen um die Anforderungen des Lebens speisen. Für Kant
betrifft ja der kategorische Imperativ schließlich „nicht die Materie der Handlung
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern die Form und das Prinzip, woraus sie
selbst folgt, und das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung, der
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Erfolg mag sein, welcher er wolle“ 268 – ein Ergebnis, mit dem Rawls gerade wegen
der aus diesem Spruch resultierenden Unklarheit für die zu findenden Prinzipien
der Gerechtigkeit in seiner eorie aber eben nicht einverstanden sein kann.
Auch Bormann schließt dementsprechend seine Analyse mit der Erkenntnis,
dass Kant „die beiden Prinzipien der Fairnesskonzeption daher zweifellos als blo-
ße zweckrationale Ratschläge der Klugheit“ betrachten und „Rawls Anspruch
energisch widersprechen [würde, M. H.], eine authentische Interpretation seiner
Lehre vom kategorischen Imperativ vorgelegt zu haben.“ 269 Dass Rawls das Wir-
ken der für Kant zentral stehenden reinen Vernunft nicht in seine eorie des
Urzustands einbaut, sondern dort vielmehr nur eine zweckorientierte Rationalität
zum Fundament seines eoriegebäudes erhebt, entfremdet ihn weiter von der
Kant’schen Argumentation. 270 Allerdings führt Bormann auch zwei gewichtige
Argumente für die kantianische Tradition, in der Rawls steht, an: beiden Autoren
ist eine moralische Perspektive als Ausgangspunkt zu eigen, von der aus die mora-

266
Vgl. Schweppenhäuser, Die Antinomie des Universalismus, S. 115f.
267
Nagl-Dogecal, ‚Moral und Religion aus der Optik der heutigen rechtsphilosophischen Debatte‘,
S. 468.
268
Kant, GMS, AA 04: S. 416, 10-13.
269
Bormann, Soziale Gerechtigkeit zwischen Fairness und Partizipation, S. 149.
270
Habermas dreht dieses Argument gegen Rawls (allerdings mit seiner Diskursethik im Blick) um:
Kant hätte nämlich den „autonomen Willen mit dem omnipotenten verwechselt; um ihn als den
schlechthin herrschenden denken zu können, mußte er ihn ins Reich des Intelligiblen versetzen.
In der Welt, wie wir sie kennen, erlangt aber der autonome Wille nur in dem Maße, wie sich die
Motivationskraft guter Gründe gegen die Macht anderer Motive durchsetzen kann.“ Vgl. Ha-
bermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 110. Allerdings ließe sich hier ebenso kritisch einwen-
den, dass dadurch wie bei Rawls das eigentliche deontologische Moment – nämlich das Handeln
aus Pflicht nach einem wohlerwogenen Urteil a priori – verloren gehen muss. Hier wie dort ist al-
so zu fragen, inwieweit die eorie dann überhaupt noch als kantianisch zu bezeichnen ist.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 125

lischen Prinzipien als Ergebnis von der menschlichen Fähigkeit zur Moralität und
praktischer Vernunft entwickelt werden. Während Kant die menschliche Auto-
nomie als genuinen Ort des ‚moral point of view‘ entwickelt, versucht Rawls, wie
gezeigt, den Urzustand als instrumentell-rationale und prozedurale Gewinnung
eben jenes Standpunktes zu konzipieren. Beide vertreten in ihrem Vorhaben ei-
nen entschieden kognitiven Standpunkt in einer normativen Ethikkonzeption, in
deren „Zentrum die Unverletzlichkeit jedes Einzelnen und der Schutz von indi-
vidueller Freiheit und Selbstbestimmung stehen.“ 271
Gerhard Schweppenhäuser schwächt in seinem Fazit gegenüber Bormann die
Leistung Rawls‘ jedoch sogar noch weiter ab: sei bei Kant noch von einem „laten-
ten, authentischen Gehalt moralischer Autonomie“ zu sprechen, unterliegt diese
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

bei Rawls einer „manifesten Depotenzierung“ durch die sozialorientierte Rekon-


struktion des normativen moralischen Standpunkts. Deshalb kann es von vornhe-
rein nicht gelingen, die „rationale Bestimmung der Autonomie im Sinne Kants
mit der Tendenz zur instrumentell-rationalen Bestimmung des Moralischen bei
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Rawls in eins“ zu setzen; bei Rawls bleibt durch die instrumentelle Rationalität
schließlich „kein stringentes normatives Fundament übrig“, mit dem sein eigenes
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Fundament kritisiert werden könne – es bliebe nur das „Beharren auf Tugenden
und Werten partikularer [liberaler, M. H.] Gemeinschaften“. Schweppenhäuser
schließt mit der Erkenntnis, dass sich an diesem Punkt die „unerledigte Antino-
mie universalistischer Ethikbegründung in der praktischen Philosophie der Ge-
genwart“ zeigt, die Aufzulösen bis heute nicht gelungen sei. 272

C.2.b.2 Kann Rawls mit seiner eorie das Wohlergehen der Bürger sichern?
Damit bleibt für die weitere Analyse festzuhalten, dass Rawls’ eorie der Ge-
rechtigkeit nicht als der ideale Ort einer theoretischen Bestimmung des individu-
ellen Wohlergehens gelten darf, da die Autonomie der Teilnehmer an den Ver-
handlungen des Urzustands nicht in der autonomen Extensität als gesichert
scheint, wie dies Kant eigentlich als notwendig vorsah. Andererseits darf Kant
hier auch nicht als unverrückbarer Markstein verstanden werden. Kant selbst
wurde ja bereits von seinen Zeitgenossen dafür kritisiert, dass er die Vernunft des
Einzelnen verabsolutiere, darin bindungslose Individuen als egoistische Monaden
erschaffe. An seiner normativen Konzeption der Moralität wird dementsprechend
bis heute kritisiert, dass er die sozialen Beziehungen, in denen jeder Mensch un-
widerruflich verstrickt ist, nicht in der Weise berücksichtigte, wie es eigentlich
dem Wissen um den Menschen als Beziehungswesen entsprechen müsste. Rawls’
Versuch einer normativen Rekontextualisierung der Autonomie des Einzelnen in
einer Rekonstruktion von Moralität, die das Soziale als Bestandteil ihrer Eigen-
tümlichkeit berücksichtigt, ist angesichts seines Erfolges, dabei die schwerwiegen-
den Probleme der Vorstellung eines moralischen Realismus zu umgehen, gar

271
Bormann, Soziale Gerechtigkeit zwischen Fairness und Partizipation, S. 152.
272
Alle Zitate dieses Absatzes siehe: Schweppenhäuser, Die Antinomie des Universalismus, S. 117.
126 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

nicht hoch genug zu würdigen. In der Rawls’schen eorie sind es nun die der
gesellschaftlichen Grundstruktur innenwohnenden Grundsätze der Gerechtigkeit,
die das moralische Fundament der Urteilskraft des Einzelnen wie auch der Gesell-
schaft insgesamt auf einer intersubjektiven Ebene rechtfertigen, und nicht ein aus
dem metaphysischen Raum einzuholendes Reich moralischer Werte. 273 Rawls
kann insofern als Vertreter eines vernunftgebundenen Pluralismus gelesen wer-
den, der das Staatswesen von seinem sittlich-moralischen Überbau aristotelisch-
hegelianischer Tradition befreit und es als liberale Anstalt der Aufrechterhaltung
und Förderung der Autonomie der Bürger rekonzipiert.
Allerdings muss Rawls nun begründen, auf welcher motivationalen Grundlage
sich die individuenzentrierten Zielsetzungen der Kant’schen Moralphilosophie
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

mit dem Willen der Bürger zur gemeinsamen Zusammenarbeit in einer Gesell-
schaft so verbinden lassen, dass die institutionelle Grundstruktur gerecht und fair
bleibt. Denn war bei Kant, wie weiter oben gezeigt, der Staat nur soweit zur
Machtausübung legitimiert, wie er die Autonomie seiner Bürger garantieren
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

konnte, bewegt sich bei Rawls die Notwendigkeit der Begründung des Willens
der Bürger in den Kernbereich des eigentlichen Legitimationsprozesses des Staates
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

hinein, dessen Fundament im Urzustand gelegt wird. Da es der hypothetische


Urzustand ist, der moraltheoretisch als Garant der Autonomie der Bürger in der
zukünftigen Verbindung untereinander gekennzeichnet wird, führt Rawls an die-
ser Stelle ein Modell ein, mit dem er den Willen der Bürger zur gemeinsamen
Zusammenarbeit in einem Staatswesen als begründbar ansieht. Es sind nun in
seiner eorie die gesellschaftlichen Grundgüter, die als materiale, gleichwohl nur
schwache Idee des Guten die Beratungen der Menschen im Urzustand orientie-
ren und dadurch die Entscheidungen über die Struktur der gerechten Gesellschaft
in fundamentaler Weise ausformen.
Die Grundgüter, welche vernünftige Menschen „unabhängig davon, was sie
sich sonst wünschen, […] als Vorbedingungen der Ausführung ihrer Lebensplä-
ne“ 274 anstreben, bezeichnet Rawls als nur schwache Idee des Guten, weil sie im
Gegensatz etwa zum aristotelischen Entwurf der politischen Philosophie keine
genaue inhaltliche Ausdeutung dessen enthalten, wie eine perfekte Staatsform
auszusehen habe und welche Güter in welcher Höhe dazu notwendig seien; die
gesellschaftlichen Grundgüter, die Rawls annimmt – „Rechte, Freiheiten und
Chancen sowie Einkommen und Vermögen [sowie das, M. H.] Grundgut der
Selbstachtung“ 275 sind als so allgemeine und universale Güter konzipiert, dass sie
seiner Ansicht nach jeder Mensch mit Hilfe gesellschaftlicher Zusammenarbeit
entweder erlangen will, oder sie auf jeden Fall – auch gegen externen sozialen
Einfluss – für sich verfügbar halten will. Weil die Grundgüter durch die orientie-
rende Funktion, die sie im Urzustand inne haben, später dann inhärent mit der

273
Siehe dazu auch: Rawls, ‚Kantian Constructivism in Moral eory’, S. 515-572; Freeman, Rawls,
S. 315ff.
274
Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 434.
275
Ebd., S. 83.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 127

entstehenden Grundstruktur des liberalen Staatswesens verquickt sein müssen,


sind sie dementsprechend zu den zentralen moraltheoretischen Bausteinen der
Gerechtigkeitstheorie zugehörig. Rawls unterscheidet im Übrigen auch zwischen
unterschiedlichen Güterklassen – neben den genannten gesellschaftlichen Grund-
gütern beschreibt er außerdem die natürlichen Güter der unterschiedlichen Indi-
viduen, wie „Gesundheit und Lebenskraft, Intelligenz und Phantasie“, die seiner
Ansicht nach aber nicht Bestandteil der Überlegungen zur gerechten Grundstruk-
tur sein können, denn als persönliche und unübertragbare natürliche Ausstattung
des Menschen können sie nicht Gegenstand der gesellschaftlichen Distribution
werden. 276 Der Versuch, über die Anreize der gesellschaftlichen Grundgüter die
Motivation der Menschen zur Verhandlung einer gerechten Grundstruktur zu
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

begründen, wurde zwar positiv aufgenommen, erregte andererseits aber auch um-
fassenden Widerspruch vieler Kritiker:
(1) Mit der Formalisierung der Güter auf wenige Grundtypen umgeht Rawls
das methodische Problem eines überbordenden Güterpluralismus, der entstehen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

würde, wenn die zur Realisierung aller Lebenspläne aller Menschen notwendigen
Güter für die Konzeption der gerechten Grundstruktur bedacht werden und in
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ein vernünftig zu begründendes Verhältnis gesetzt werden müssten. Weil Rawls


annimmt, dass alle Grundgüter ausnahmslos für jedes Individuum zur Erfüllung
seiner Präferenzen voraussetzende Funktion haben, ohne schon vorzugeben, wel-
chen Inhalts diese Präferenzen sein werden, lässt sich hier mit Recht von einer
nur schwachen Idee des Guten sprechen. Denn mit dieser Konzeption scheint es
möglich zu sein, die „Interessen jedes Menschen in allgemeiner und objektiver
Weise zu erfassen, ohne die besonderen Neigungen und Präferenzen aller einzel-
nen Personen beachten und miteinander verrechnen zu müssen.“ 277 Insofern ist
das von Rawls vertretene Grundgütermodell gerade darin eine Abkehr von utilita-
ristischen Berechnungsmethoden des größten Nutzens eines bestimmten Güter-
pools, weil es sich der Aufsummierung und Verrechnung der unterschiedlichen
Güter von vornherein verweigert, die utilitaristische Güterverrechnung sogar als
potenzielle Verletzung der Gleichheit der Menschen kritisieren muss, wenn die
Grundgüter zugunsten einer bestimmten Güterverteilung beschnitten werden
können.
Andererseits ist die formalisierte Zusammenstellung der Grundgüter wegen ih-
rer Inkohärenz kritisiert worden, denn es ist durch Rawls nicht einsichtig ge-
macht worden, welche Grundgüter als eigentliche Ergebnisse des gesellschaftli-
chen Zusammenschluss zu werten sind, und welche als vorgängige und grundle-

276
Allerdings wäre hier Rawls kritisch zu hinterfragen, inwieweit nicht – etwa angesichts der Mög-
lichkeiten moderner Medizintechnik, die von den Krankenkassen nicht für jeden Bürger finan-
zierbar ist und deshalb oft erst nach intransparenten Entscheidungen zur Behandlung freigegeben
wird – auch die als natürliches Gut angenommene Verfügbarkeit über einen gesunden Körper
ema von gesellschaftlichen Gerechtigkeitsfragen werden kann.
277
Koller, ‚Die Grundsätze der Gerechtigkeit‘, S. 46, zitiert nach Bormann, Soziale Gerechtigkeit
zwischen Fairness und Partizipation, S. 153.
128 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

gende Voraussetzung für diese bestehen. 278 Diese Unterscheidung ist innerhalb
von Rawls eorieaufbau allerdings nicht trivial sondern moraltheoretisch wie
rechtsethisch notwendig, weil im Urzustand das Verhältnis der Reichweite der
Institutionen und der Autonomie der Individuen ausgehandelt wird, bzw. dort
legitimatorische Kraft durch die Grundgüter erhält. Vermögen und Einkommen,
auch Chancen sind sicherlich als mögliche Ergebnisse der gesellschaftlichen Zu-
sammenarbeit zu sehen und deshalb unmittelbar gerechtigkeitstheoretischen Ent-
scheidungen zu unterwerfen. Viel weniger klar ist jedoch der Ort von Rechten,
Freiheiten und der Selbstachtung, die Rawls den Grundgütern zurechnet; diese
Güter sind nämlich nicht als Ergebnis eines sozialen Zusammenschluss zu werten,
sondern als deren Voraussetzung, indem sie die Stellung der Individuen zueinan-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

der normativ garantieren und moraltheoretisch verpflichtend als Grundrechte


festhalten. Demnach ist gegen Rawls zu unspezifisches Grundgütermodell festzu-
halten, dass es nicht die Institutionen sein können, die diese Grundgüter in ihrer
vollständigen Dimension garantieren werden, sondern diese speziellen Grundgüter
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

sind notwendige Bedingung der Möglichkeit einer gerechten Gesellschaft überhaupt –


und dies vor jeder existierenden gesellschaftlichen Institution. Rawls könnte al-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

lerdings argumentieren, dass eine Gesellschaft nur dann gerecht sein und nur
dann das Wohlergehen ihrer Bürger gewährleisten kann, wenn sie diese Grundgü-
ter von vornherein anerkennt, in ihren Institutionen diese Grundgüter also in-
haltlich eingeprägt sind und sich in der gesellschaftlichen Praxis stets zeigen. Die-
ses Argument kann aber nichts an der theoretischen Inkonsistenz des Grundgü-
termodells ändern, das keine Unterscheidung zwischen existierenden und ange-
zielten Gütern kennt.
(2) Die Grundgüter dienen bei Rawls außerdem dem Zweck, eine Orientie-
rung der Menschen im Urzustand zu leisten, die erst mit der Kenntnis der
Grundgüter und ihrer Erstrebenswertsamkeit überhaupt die motivationale Ener-
gie aufbringen werden, in die Verhandlungen zur Bestimmungen der Grund-
struktur ihres Staatswesens einzutreten. Darin übernehmen die universal gelten-
den Grundgüter, welche also auch alle Menschen anstreben, in gewisser Weise
die Rolle des guten Willens bei Kant. Ist er es dort, der die autonomen, vernünf-
tigen Handlungen des Menschen überhaupt erst zur Umsetzung bringt, ist es in
der Rawls’schen Gesellschaft eine nur schwache Idee des Guten, die das Handeln
der Bürgerschaft in den vorgegebenen Strukturen einer liberalen, auf gerechten
und rationalen Grundstrukturen basierenden Gesellschaft harmonisiert, die dem
Einzelnen ein Maximum an persönlicher Freiheit zur Erlangung seiner Strebens-
ziele zugesteht.
Andererseits, so der bedeutendste Einspruch der Kritiker, ist das Grundgüter-
modell von Rawls liberalistisch-individualistisch verengt, weil es seinen Fokus
weniger auf einen wohlverstandenen Pluralismus setzt, sondern vor allem bewusst
einen Gesellschaftstypus westlicher Provenienz propagiert. Damit müsste das
Grundgütermodell entgegen Rawls‘ eigenem Anspruch, nämlich einer maximalen
278
Vgl. Bormann, Soziale Gerechtigkeit zwischen Fairness und Partizipation, S. 156f.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 129

Neutralität in der Formulierung der gesellschaftlichen Grundgüter, als gescheitert


gelten, weil Rawls seine allgemeine Wünschbarkeit eben gerade nicht begründen
kann. Verschiedene Argumente sprechen laut den Kritikern für diese Analyse: der
Wert des einzelnen Individuums würde nirgendwo auf der Welt so hoch gehalten
wie im Westen, während anderswo, beispielsweise in Afrika oder Asien, die indi-
viduelle Identität und Autonomie eine viel geringere Rolle spielte und von der so-
zialen Bedeutung innerhalb dieser Gesellschaften hinter die Familien- oder Sip-
penidentität zurückträte. 279 Art und Ablauf des hypothetischen Urzustandes kön-
nen also, so die Kritiker, keinesfalls den von Rawls selbst angestrebten überzeitli-
chen Charakter der Gerechtigkeitsgrundsätze hervorbringen, sondern werden nur
für ein bestimmtes Gesellschaftssystem relevante und auch nur dort sinnvolle Er-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

gebnisse zeitigen.
MacIntyre weist in diesem Kontext darauf hin, dass es einen überzeitlich gülti-
gen Katalog von Grundgütern gar nicht geben könne, weil die Objektivation
selbst basalster Vorstellungen des Guten ja sowohl von Gesellschaft zu Gesell-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

schaft unterschiedlich sei, als sich auch in derselben Gesellschaft in oft nur kurzer
Zeit schnell ändern könne. 280 Und wie Walzer 281 festhält, erhalten gesellschaftli-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

che Güter erst innerhalb des konkreten gesellschaftlichen Prozesses von Tausch
und sozialer Wertung ihren eigentlichen Status als gesellschaftliches Gut, und
Rawls Stipulierung der Grundgüter für den hypothetischen Urzustand a priori
muss in diesem Licht als Anmaßung erscheinen, respektive als Verkennung der
eigentlichen Genese der Grundgüter. 282 Als Antwort auf diese Kritik schränkte
Rawls in einer späteren Revision seiner eorie den vormals extensiven Entwurf
der Grundgüter ein: die Grundgüter seien nun nur noch an Personen adressiert,
die vollwertige Mitglieder einer liberalen und demokratischen Gesellschaft sei-
en. 283 Den Zirkelschluss, den Rawls hier in seiner Begründung begeht – nämlich
darin, dass die in den Grundgütern zugrundeliegenden Prämissen bereits vom
Ende der zukünftigen Gesellschaftsordnung her begründet sind – bezeichnet Pe-
ter Koller zu Recht als späte „Bankrotterklärung seiner ganzen eorie der Ge-
rechtigkeit“ 284, weil sie die eigentlich wegweisende Idee dieses früheren Werkes
ohne Not unterminiert. Dabei hätten die „kommunitaristischen Wünschelruten-
gänger“, die ihren Blick auf die sozialen Kohäsionskräfte der Vormoderne richte-
ten und diese in der Gegenwart wieder eingesetzt sehen möchten, letztlich über-

279
Vgl. Wei-Ming, Confucian Traditions in East Asian Modernity.
280
Vgl. MacIntyre, Der Verlust der Tugend, S. 325ff.
281
Vgl. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit.
282
Vgl. Koller, ‚Soziale Güter und soziale Gerechtigkeit‘,S. 93.
283
Vgl. Rawls, Political Liberalism, S. 93ff.
284
Koller, ‚Soziale Güter und soziale Gerechtigkeit‘, S. 93. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt
Amartya Sen der konzediert, dass „[t]here is a real tension here within Rawls’s own reasoning
over the years […]; he seems to accept that there are incurable problems in getting unanimous
agreement on one set of principles of justice in the original position, which cannot but have dev-
astating implications for his theory of ‚justice and fairness‘.” Vgl. Sen, e Idea of Justice, S. 58.
130 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

sehen, dass ihre „Traditionsmilieus […] sittlich ausgebleicht“ sind und die „All-
gemeinheit […] die Sinnverwaltung längst privatisiert“ 285 hat.
Das harmonistische Ideal einer sittlichen, am gemeinsam geteilten Guten ori-
entierten Gemeinschaft – Gemeinschaft im Gegensatz zur Gesellschaft – des
Kommunitarismus deutet in seiner theoretischen Schwammigkeit nur aus, dass
seine Protagonisten selbst keine eigene eorien bieten können, die als stichhalti-
ger Gegenpol zum sozialen Liberalismus Rawls dienen könnten; die kritische
Schuldigkeit des Kommunitarismus hat sich darin eingelöst, dass Rawls und an-
dere Vertreter des Liberalismus mindestens anerkennen müssen, dass auf der
höchsten Abstraktionsebene wiederum das Gute dem Rechten voransteht; und
zwar tut sie dies, weil „die Gerechtigkeitsvorstellungen des Liberalismus ja nicht
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

zwischen den Sternen hängen, sondern Ausdruck bestimmter Formen menschli-


chen Zusammenlebens sind; und diese hinwiederum sind Spiegelbilder vorausge-
setzter Idealvorstellungen menschlicher Lebensführung und politischer Exis-
tenz.“ 286 Wenn in konkret bestehenden Gesellschaften das Gute dem Rechten
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

deshalb nachgeordnet ist, um den Menschen eine selbstverantwortliche Bestim-


mung ihrer Lebenspläne zu ermöglichen, bleibt davon die abstrakte Frage unbe-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

rührt, inwieweit das bestehende liberale Welt- und Menschenbild ‚als Gutes‘ dem
Wohlergehen des Menschen förderlich sind, oder in dieser Hinsicht als konkur-
renzlos zu bewerten sind.

C.2.b.3 Zusammenfassung und Identifizierung der offenen Enden I


Aus diesen Kritikpunkten erschließen sich für eine abschließende Zusammenfas-
sung dieses Abschnitts folgende noch offene Enden für dieses Kapitel. Rawls ver-
wendet die Autonomie und Freiheitsorientierung des Menschen als Zentralper-
spektive seiner eorie der Gerechtigkeit, orientiert seinen Gesellschaftsaufbau
aber nicht an der individualistisch-atomistischen Konzeption Kants, sondern er
versucht, die normative Grundlegung des moralischen Standpunktes so in einem
hypothetischen Urzustand zu fundieren, dass die Autonomie der Individuen in-
nerhalb der Konzeption einer gerechten sozialen Grundstruktur rekonstruiert,
begründet und normativ wirksam wird, und nicht a priori – wie bei Kant – vor
aller sozialer Vergesellschaftung besteht, um dann die praktische Legitimation der
sozialen Bindungen allein negativ zu beschränken. Damit stellt Rawls‘ ‚eorie
der Gerechtigkeit‘ eine Antwort auf die erkenntnistheoretischen Umwälzungen
der Moderne dar, die einerseits ein transzendentales Reich der Werte und der
gemeinsam geteilten Überzeugungen des Guten unterminieren mussten, und die
andererseits die Wichtigkeit der Autonomie des Einzelnen trotz und gerade we-
gen der Sozialnatur des Menschen nicht leugnen konnten. Rawls‘ eorem einer
Gesellschaft, die dann gerecht zu nennen ist, wenn sie die ihnen verfügbaren
Grundgüter – die Rawls zunächst ausdrücklich als allgemein und neutral verstan-

285
Für beide Zitate: Kersting, Politik und Recht, S. 53.
286
Ebd., S. 56.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 131

den wissen will – unter Berücksichtigung fairer Distributionsmodi so verteilt,


dass jeder Bürger seine persönliche Auffassung des Guten verfolgen kann, ver-
deutlicht diesen Ansatz auch auf der Ebene der materiellen gesellschaftlichen Ent-
scheidungen. Die ‚eorie der Gerechtigkeit‘ ist in dieser materiellen Hinsicht so
konzipiert, dass sie eine maximierte Minimalgrundlage dessen propagiert, was für
Menschen mit stark divergierenden Ansichten über das Gute als gerecht unter
Fairnessaspekten gelten kann.
Das Grundgütermodell nimmt diesen Gedanken auf und zeigt deshalb zum
einen stark autonomieorientierte Züge, weil es dem Einzelnen in der konkreten
Gesellschaft die Entscheidung darüber überlassen will, wie er die ihm zur Verfü-
gung stehenden Güter zur Maximierung seines Wohls einsetzen kann. Damit löst
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Rawls das Pluralismusversprechen der aufgeklärten Moderne ein, das sich starker
Ideen des Guten und ihrer Propagierung enthält, und die Menschen selbst auto-
nom über ihre Ziele und ihre Lebenspläne entscheiden lassen will. Zum zweiten
dienen die gesellschaftlichen Grundgüter als „Informationsbasis“ 287 der
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Rawls’schen eorie, weil die Höhe ihrer Verfügbarkeit für den einzelnen Men-
schen direkt mit der verwirklichten Gerechtigkeit innerhalb einer gesellschaftli-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

chen Grundstruktur zusammenhängt. Je gerechter eine Gesellschaft, so lässt sich


daraus schließen, desto gerechter wird die Verteilung der Güter, und umso höher
wird die Gleichverteilung der Chancen zwischen ihren Mitgliedern sein. Zum
dritten will das Grundgütermodell erklären, in welchen sozialen Dimensionen
überhaupt eine rationale Motivation zur gesellschaftlichen Zusammenarbeit be-
stehen kann. 288
Weil das Grundgütermodell in diesen drei Perspektiven der archimedische
Punkt der Rawls’schen Begründungsleistung ist, der die unterschiedlichen eo-
rieelemente überhaupt erst miteinander verzahnt und funktional verbindet, ist
hier auch eine mögliche Schwachstelle aufzufinden, die tatsächlich schnell von ei-
ner Reihe von Kritikern angegriffen wurde. Als wichtigste Kritikpunkte zeigte
sich dabei in einem ersten Problemkreis die mangelnde Kohärenz in der Zusam-
menstellung der Grundgüter. Weil sich Rawls selbst ostentativ in die Tradition
Kants stellt, er aber auch nicht näher erläutert, in welchem Verhältnis die Grund-
güter zueinander stehen, ergibt sich, wie gezeigt wurde, ein Spannungsverhältnis

287
Graf, ‚Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer eorien‘, S. 15.
288
Elizabeth Anderson stellt allerdings in Anlehnung an Amartya Sen heraus, dass die motivationale
Grundlage zur Befolgung gesellschaftlicher Normen nicht allein im Streben nach Grundgütern,
die durch die Gesellschaft erarbeitet werden, erklärt werden kann. Rawls‘ Grundgütermodell –
am ehesten mit einem Modell vergleichbar, das das Verhalten von Individuen durch strategischen
Entscheidungen von homini oeconomici, die als rationale Egoisten konzipiert sind, begründet, be-
darf Anderson zufolge zweier Erweiterungen: Anderson möchte das Grundgütermodell durch die
Ergebnisse der Evolutionsbiologie erweitert wissen, die den Konformitätsdruck gesellschaftlicher
Arrangements durch vererbte genetische oder kulturelle Dispositionen als Selektionsvorteile aus-
weisen. Als zweites Moment bezeichnet sie die soziale oder kulturelle Rationalität, über die der
Mensch als homo sociologicus verfügt: konformistisches Verhalten zu gesellschaftlichen Normen
erklärt sich in diesem Modell nicht aus materiellen Nutzenerwägungen, sondern als Ausdruck der
eigenen sozialen Identität. Vgl. Anderson, ‚Beyond Homo Economicus’, S. 171.
132 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

von den fundamentalen Bürgerrechten zu den Rechten, die sich die Menschen
gegenseitig gewähren und erst durch die anfängliche Übereinkunft im Urzustand
als solche legitimiert werden.
Als zweiter Problemkreis, der mit der Kommunitarismusdebatte eng verbun-
den ist, stellt sich die Auswahl der Grundgüter durch Rawls dar, die für die Kriti-
ker nicht das Gesamt der vorhandenen Kulturen und deren Werte moraltheore-
tisch subsumieren können, insofern bei allen Versuchen Rawls‘, die Möglichkeit
der Erlangung des Guten durch den Einzelnen von möglichen sozialen Vorfor-
mulierungen freizuhalten und die Grundgüter dementsprechend neutral zu for-
mulieren, immer der Fokus auf dem Einzelnen und seiner unbedingt zu wahren-
den Autonomie liegt. Die kommunitaristischen Kritiker machen deshalb in einer
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Fundamentalkritik geltend, dass soziale Werte, Bindungen und Ziele des Guten –
das Wohlergehen des Menschen – niemals ohne vorgängige Orientierungen an
den Werten der Gemeinschaft möglich sein können, die Ziele des Einzelnen –
trotz allem vorausgesetztem Willen zur Autonomie – organisch in der Herkunft
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

einer konkreten Lebenswelt wurzeln müssen. Diese Kritik vergisst allerdings oft,
dass der Urzustand nicht als sozialwissenschaftliches Realmodell vorgestellt wer-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

den darf, sondern nur als Modell einer Idealtheorie, mit dessen Hilfe überhaupt
erst die grundlegenden Sätze einer Gerechtigkeitstheorie vor dem Horizont eines
formalisierten Menschenbildes überlegt werden können. Der kommunitaristische
Einspruch übersieht dementsprechend, dass Rawls mit dem Grundgütermodell
nicht das Gesamt der sozial möglichen Güter abbilden will, sondern mit dem Gü-
termodell nur die Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Sozialität auf ihrer
fundamentalsten Stufe abmisst.
Der dritte Problemkreis erstreckt sich auf die ökonometrische Angemessenheit
der Grundgüter. Als Informationsquantoren über die Güterverteilung in einer
Gesellschaft erlauben die Grundgüter nämlich komparative Vergleiche zwischen
den Bürgern, denn „sie ermöglichen interpersonelle Vergleiche, da der gleiche
Index an Grundgütern dazu benutzt werden kann, die soziale Situation jedes
Bürgers zu bewerten.“ 289 Durch die Rawls’sche Konzeption der Grundgüter in-
nerhalb seines eoriegefüges ist jedoch nur ein eingeschränkter – so im Übrigen
von Rawls intendiert – Vergleich zwischen den Bürgern möglich. Weil die Bürger
ihr Leben nach den von ihnen selbst entworfenen Plänen des Guten verfolgen
können sollen, die sich natürlich von den anderen Lebensplänen anderer Bürger
in weiten Teilen unterscheiden können, wäre es nicht sinnvoll, die unterschiedli-
chen praktisch eintretenden Erfolge in der Verfolgung dieser Lebenspläne kom-
parativ abzugleichen oder durch distributionelle Maßnahmen auszugleichen; die
Sinnlosigkeit dieses Unterfangens lässt sich leicht daran einsehen, dass es unter
rechtsethischen Gesichtspunkten, also der Leitfrage des ‚Richtigen‘, weitgehend
unmöglich sein dürfte, das Lebensglück eines Mönches und eines erfolgreichen
Managers auf der Bewertungsgrundlage der diesen beiden zur Verfügung stehen-

289
Rawls, ‘Social Unity and Primary Goods’, S. 163, zitiert nach: Graf, ‚Der Fähigkeitenansatz im
Kontext von Informationsbasen sozialethischer eorien‘, S. 15.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 133

den Güter zu messen. Die Grundgüter erlauben deshalb allein eine Bewertung in
der objektiven Dimension des Rechten, aber nicht in der subjektiven Dimension des
Guten. Die ‚soziale Situation‘, die Rawls im oben angeführten Zitat als durch die
Grundgüter komparativ vermittelbar ausgewiesen haben will, stößt dementspre-
chend schon dort an eine Vergleichsgrenze, wo der einzelne Bürger beginnt, die
Grundgüter für die Verfolgung seiner subjektiven Lebenspläne einzusetzen und
sie in diesem Prozess in seinem eigenen Verfügungsbereich als personales ‚Eigen-
tum‘ in Gebrauch zu nehmen.
Während diese Einsicht auf der einen Seite im Besondern den liberalen Cha-
rakter der Rawls’schen eorie verdeutlicht, weil damit tatsächlich nur der abso-
lute Grundstock der rechtsethisch notwendigsten Güter als gesellschaftlich distri-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

butionierbar ausgewiesen wird, während der diffuse weite Bereich der Güter, die
für die Erzielung der unterschiedlichen Entwürfe des Guten möglich sein wür-
den, notwendig von Distributionsüberlegungen ausgeblendet bleiben muss, wur-
de auf der anderen Seite kritisiert, dass das von Rawls entwickelte Modell der
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Grundgüter in keiner Weise sensibel auf die reale, stark divergierende Lebenssitu-
ation der Menschen in den realen Gesellschaften reagieren würde.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Dieser Vorwurf, schon früh vom Nobelpreisgewinner Amartya Sen vorge-


bracht, bezieht sich vor allem darauf, dass in Rawls‘ ‚eorie der Gerechtigkeit‘
der Erfolg der konkreten Lebenspläne der Menschen nicht mehr berücksichtigt
wird, sobald deren Verfügen über die Grundgüter innerhalb gerechter Institutio-
nen theoretisch geregelt ist; als „arrangement-focused view of justice“ muss Rawls‘
idealtheoretische „perfectly just society“ in Sens Kritik hinter ein „realization-
focused understanding of justice“ zurückfallen, weil seiner Ansicht nach nur in
letzterem Ansatz die „actual realizations and accomplishments, rather than only
[…] the establishment of what are identified as the right institutions and rules“
zur Bewertung und Kritik von Gesellschaften herangezogen werden dürfen. 290

C.2.b.3.(a) Exkurs: Kosmopolitismus – Eine globale Erweiterung des Kant-


Rawls’schen eoriegefüges
Sen eröffnet mit dieser Kritik auch eine Brücke zum Blick über den Tellerrand li-
beraler, demokratischer Gesellschaften hinaus, deren Grundstruktur allein Rawls
in seiner ‚eorie der Gerechtigkeit‘ legitimatorisch rekonstruiert: Rawls Model-
lannahme stellt schließlich nur gerechtigkeitstheoretische Fragestellungen im en-
gen Rahmen dieser Gesellschaftstypen, bietet aber keine Werkzeuge zur gerech-
tigkeitstheoretische Analyse von Gesellschaften, die nicht weitestgehend diesem
Modelltypus entsprechen – außer in der fundamentalsten Bewertung, dass diese
Gesellschaft eben grundsätzlich nicht als gerecht zu bezeichnen sind. 291

290
Alle Zitate dieses Absatzes siehe Sen, e Idea of Justice, S. 10.
291
Es steht hier außer Frage, dass diese Entscheidung von Rawls theorieintrinsisch ist; weil Rawls die
überpositive Geltung der Gerechtigkeitssätze nicht naturrechtlich, sondern kontraktualistisch,
d. i. durch die voluntative Entscheidung der verhandelnden Teilnehmer des Urzustandes, herlei-
134 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

Der offensichtliche Graben, der zwischen den Möglichkeiten autonomer Le-


bensplanung und sozialem Rückhalt in der gerechten Gesellschaft Rawls‘ besteht,
und der globalem Welt, in der nur wenige Staaten sozio-kulturell mit dem
Rawls’schen Projekt kompatibel zu sein scheinen, wurde neben Sen dementspre-
chend schnell von zahlreichen weiteren Philosophen als Resultat eines moraltheo-
retisch verengten Fokalpunkts kritisiert. Problematisch scheint an der ‚eorie
der Gerechtigkeit‘ von Rawls nämlich der Perfektionismus zu sein, der ihren Prä-
missen für die konkrete Ausgestaltung der gesellschaftlichen Institutionen inne-
wohnt. Denn die gerechte Gesellschaft, die sich in den Grundsätzen der Gerech-
tigkeit impliziert, und die Rawls in den nachfolgenden Überlegungen zu einer
eorie eines gerechten institutionellen Staatswesens ausbaut, scheint vorderhand
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

nichts anderes zu sein als das, wie Rawls sie selbst bezeichnet: eine Idealtheorie.
Die Liste der Staaten, die sich an dieser Idealtheorie messen lassen könnte, um-
fasst dementsprechend nur wenige, vor allem in liberaler Tradition stehende, eher
westlich geprägte, Staaten, und sie enthält überhaupt keine Länder, in denen ext-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

reme Armut die normale Lebensform ist. Weil Rawls eorie im Endeffekt kaum
Bedingungen dafür enthält, wie Länder, die sich in ihrer politischen Gestaltung
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

sehr weit entfernt von der Idealtheorie befinden, einem gerechten Gesellschafts-
aufbau annähern können, gab es relativ zügig nach der Veröffentlichung seiner
eorie der Gerechtigkeit zahlreiche Versuche, die Gerechtigkeitsgrundsätze auf
die globale Ebene zu übersetzen, um unter dem Stichwort ‚globale Gerechtigkeit‘
die moralischen Verpflichtungen der Weltbürger untereinander gegen den status
quo eines in vielerlei Hinsicht defizitären internationalen Völkerrechts neu be-
gründen zu können. 292
Das Wohlergehen des Menschen müsse, so die Kritik, nämlich nicht nur in li-
beralen Gesellschaften durch die Grundgüter quantifizierbar sein und garantiert
werden können, wo es dezidiert vom Einzelnen angestrebt werden müsse und
durch weitgehend gerechte Institutionen auch könne, sondern aus moralischen
Gründen müsse doch davon ausgegangen werden, dass alle Menschen weltweit
dazu in der Lage zu sein hätten, ihr Leben selbstbestimmt und selbstverantwort-
lich führen zu können. Es genüge also nicht, eine ideale Konstruktion gerechter
Institutionen zu entwerfen, die dann wegen der bei Rawls zur Anwendung ge-
kommenen Prämissen nur mit einem kleinen Kreis von Gesellschaften kompati-
bel zu machen wäre: die reale – ungerechte und ungleiche – Situation der gesam-
ten Welt erfordere doch vielmehr, die Prämissen der eorie so anzupassen, dass

ten muss, ist ein einfacher Transfer der gerechten Grundstruktur auf andere Gesellschaftstypen
nicht möglich, weil dort nicht von den gleichen Konsensstrukturen, die eine Rekonstruktion der
überpositiven Geltung eben jener Grundstruktur möglich machen würde, auszugehen ist. Vgl.
dazu: Höffe, Art. ‚Naturrecht‘, S. 1296-1318.
292
Siehe für Quellen Fußnote 295.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 135

sie zur ‚realistischen Utopie‘ 293 einer gerechten Welt werden könne, als „ideale
Gesellschaftsordnung, die in dieser Welt wirklich funktionieren würde.“ 294
Viele politische Philosophen, zu denen prominent Charles Beitz und omas
Pogge zu zählen sind, versuchten in der Folge, weite Teile der Rawls’schen Ge-
rechtigkeitstheorie – insbesondere Rawls‘ Überlegungen zu gerechten Distributi-
onsgrundsätzen – in den globalen Raum zu transferieren, um mit einer auf die-
sem Wege gewonnenen ‚gerechten Grundstruktur der globalen Institutionen‘
Möglichkeiten an der Hand zu haben, die globale Sphäre gerechtigkeitstheore-
tisch und -praktisch zum größten Wohl aller Menschen zu reformieren. 295
Dieser kosmopolitistische Zugang auf die Welt geht moraltheoretisch zwar
ebenso wie der Rawls’sche von der Kant‘schen Prämisse aus, dass moralische
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Prinzipien immer transzendentale, universale Geltung beanspruchen müssen, um


wahrhaft universal sein zu können; im Unterschied zu Rawls sehen Kosmopolitis-
ten jedoch durch eine Vielzahl gegenwärtiger Phänomene in Gesellschaft, Wirt-
schaft und Kultur den Standpunkt begründbar, dass dementsprechend auch der
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Bezugspunkt und die Reichweite des Anwendungsbereichs der moralischen Prinzi-


pien notwendig global bestimmt sein muss. 296 Aus dieser moraltheoretischen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Prämisse und aus der damit verbundenen deontologischen Argumentation folgen


selbstverständlich weitreichende ethisch gebotene Handlungsverpflichtungen, die
sich unmittelbar auf die kulturellen, politischen ökonomischen und gesellschaftli-
chen Verhältnisse der Gesellschaften zueinander auswirken würden. Denn wenn
das Verhältnis der Gesellschaften zueinander unter dezidiert moralischen Ge-
sichtspunkten bestimmt würde, ergäbe sich daraus emanzipationsmotivierende
Unterstützung unterdrückter Völker, notwendige, umfassende Reformen der be-
stehenden globalen Institutionen zu einem gerechten System des globalen Institu-
tionalismus (wenn nicht gar eines Weltstaats) und nicht zuletzt neue und extensi-

293
Der Begriff stammt von John Rawls, eine kosmopolitische Erweiterung liefert: Joób, Globale Ge-
rechtigkeit, S. 74.
294
Pogge, John Rawls, S. 35.
295
Charles Beitz erblickt beispielsweise in den globalisierten wirtschaftlichen Interdependenzen den
Boden, auf dem sich eine ‚internationale Moralität‘ aller Menschen herausbildet, welche gerechte
Distribution zwischen allen Staaten nach dem Vorbild des Rawls‘schen Differenzprinzip als nun
‚globales Differenzprinzip‘ einfordern müsste. Vgl. Beitz, Political eory and International Relati-
ons, S. 143-161. Das Argument, dass sich die Reichweite der moralischen Verpflichtung durch
die Wirkungen der Globalisierung in die globale Domäne verschiebt, wird prominent von Onora
O’Neill entwickelt. Weil ihr zufolge in den bekannten Gerechtigkeitstheorien die ökonomische
Macht einzelner Akteure zu wenig berücksichtigt wird, erwächst umgekehrt diesen Akteuren die
Verantwortung, sich an Distribution zu beteiligen. Auch sie betont die Notwendigkeit der Re-
formierung globaler Institutionen, um weltweit bestehende Ungerechtigkeit zu minimieren. Vgl.
O‘Neill, Bounds of Justice, S. 186-202. In ähnlicher Weise argumentiert der Rawls-Schüler
omas Pogge, der auf der Grundlage eines in kantianischer Tradition stehenden universalisti-
schen Begriffs der moralischen Person moralische Handlungen nur noch in universal-
kosmopolitischer Dimension als bewertbar ansieht: Pogge, ‚Cosmopolitanism and Sovereignty‘,
S. 48f.
296
Vgl. „What makes cosmopolitanism distinctive is rather their view of proper scope of moral prin-
ciples, which they extend to include (at least) all humans wherever they live.” O‘Neill, Bounds of
Justice, S. 188.
136 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

ve Modi globaler Distribution, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der Men-


schen und ihren Eigentumsansprüchen gerecht werden können, und die unge-
rechte Verteilung natürlicher Güter und Bodenschätze reorganisieren würden.
Andererseits nimmt der Kosmopolitismus eine Anzahl von moraltheoretischen
Entscheidungen und grundsätzlichen Weichenstellungen vor, die teilweise heftig
kritisiert werden. Die bestehenden moralphilosophischen Modelle und Vorstel-
lungswelten sind nämlich so gut wie nicht auf die nun notwendige globale
Reichweite der kosmopolitisch eingeforderten Verantwortung eingestellt, sondern
beziehen die meisten ihrer Intuitionen und Prämissen aus der nationalstaatlichen
Gedankenwelt, in deren Horizont die klassische politische Philosophie ihre wis-
senschaftliche Semantik formte. In diesem Sinne stellt es gegenwärtig das größte
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Problem für einen philosophischen Kosmopolitismus dar, die Relation von Rech-
ten und Pflichten global neu zu bestimmen, dazu die moralische Relevanz von
Staatsgrenzen in ein rechtes Verhältnis zu setzen, und sich dabei insgesamt gegen
politische Philosophen zu positionieren, die deontologisch argumentierte Ver-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

pflichtungsgrade gegenüber Fremden als unbegründbar, bzw. verfehlt ansehen.297


Letztere argumentieren gegen die notwendigen weitreichenden Veränderungen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

des moralischen Kompasses, die sich aus der Kant’schen Tradition für den Kos-
mopolitismus hinsichtlich Autonomie und Verantwortung ergeben, mit der
Überforderung, die daraus für den moralisch (sinnvollerweise) nur eingeschränk-
ten Horizont des einzelnen Menschen entstünde. Dagegen stellen sie, beispiels-
weise in der Armenhilfe, humanitäre Konzepte freiwilliger Spenden und damit
letztlich eine moralmethodische Selbstbeschränkung, die sich nicht zum Anwalt
fremder Lebensentwürfe machen soll. 298
Für die Existenz dieses Spannungsverhältnisses steht bezeichnenderweise auch
der späte Rawls, der unter dem Titel ‚Das Recht der Völker‘ einen Debattenbei-
trag zur Frage des Kosmopolitismus veröffentlichte. 299 In diesem Spätwerk skiz-
ziert er Wege, wie liberale Gesellschaften unter Respektierung ihrer je schützens-
werten sozialen und kulturellen Besonderheiten in der globalen Domäne mit
nicht-liberalen Gesellschaften solcherart interagieren können, dass eine Zusam-
menarbeit zum gemeinsamen Vorteil unter strikter Berücksichtigung der Men-
schenrechte als möglich verbleibt. Rawls entwickelt mit dieser Zielvorgabe eine
Neufassung des Völkerrechts, die zwar einerseits die im Geist der Menschenrech-
te texturierte Interaktion der Völker betont, die andererseits jedoch keine Distri-
butionssysteme zwischen reichen und armen Ländern vorsieht. Es verbleibt den
wohlhabenden Staaten nur im extremen Notfall eine Pflicht zur Hilfe durch hu-

297
Siehe für die Darstellung der Diskussion und weitere Literatur die Fußnote 821.
298
Siehe hierzu besonders Angelika Krebs Standpunkt, den sie prägnant in der Einleitung des von
ihr herausgegebenen Sammelbandes zur Egalitarismuskritik vorstellt: Krebs, Gleichheit oder Ge-
rechtigkeit, S. 7-37.
299
Vgl. Rawls, Das Recht der Völker. Für die Kritik innerhalb der Disziplin der politischen Philoso-
phie siehe die nachfolgende Fußnote 300. Für eine umfassende (rechts-)philosophische Ausei-
nandersetzung mit dem ‚Recht der Völker‘ vgl. Cremer, ‚John Rawls‘ „e Law of Peoples“‘, S.
97-126.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 137

manitäre Unterstützung. Die Einhegung der Forderungen nach globaler Gerech-


tigkeit durch ein System globaler Distribution in seiner Position sieht Rawls vor
allem darin begründet, dass jede Gesellschaft ihre eigene Kultur und ihre eigenen
Überzeugungen des Guten bewahren können soll. Kosmopolitisten kritisierten
diese Schrift deshalb umfassend dafür, dass sie einem ‚statism‘ verhaftet bliebe,
der die prä-globalisierte Welt des ‚westfälischen Systems‘ und den politischen Re-
alismus der herrschenden Machtelite als immer noch bestehenden status quo ima-
giniere. 300
In der Erweiterung des Rawls’schen Ansatzes auf die Fragestellungen des Kos-
mopolitismus zeigt sich somit an dieser Stelle, dass Rawls mit seiner eorie der
Gerechtigkeit für den Neuansatz praktischer Philosophie zwar viel geleistet hat,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

weil er ihr überhaupt erst wieder die moraltheoretische Redefähigkeit nach einer
langen Zeit der Stille gegeben hat. Allerdings ist seine eorie als dadurch belastet
anzusehen, dass insbesondere sein Grundgütermodell zu einseitig auf liberale Ge-
sellschaften zugeschnitten scheint, weil es als Grundlage der Gerechtigkeitsüber-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

legungen seine Tauglichkeit fast ausschließlich in diesen unter Beweis stellen


kann. Mit dieser – für seinen eorieaufbau vorderhand notwendigen – Ent-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

scheidung gerät der gerechtigkeitstheoretische Ansatz Rawls‘ allerdings in die Ge-


fahr, die Ansprüche der Menschen, die entweder nicht in der von Rawls voraus-
gesetzten Gesellschaft leben, oder die auf andere Weise durchs Raster der ‚eorie
der Gerechtigkeit‘ fallen, grundsätzlich nicht zu beachten.

C.2.b.3.(b) Weitere Probleme des Grundgütermodells


Amartya Sen wirft deshalb Rawls vor, dass er durch die besondere Konzeption des
Urzustands zwar auf der einen Seite von starken moraltheoretischen Vorannah-
men ausgeht und in diesem Geiste Instrumente entwirft, die in der Idealtheorie
zwangsläufig zur Begründung einer gerechten Grundstruktur führen müssen, die
aber auf der anderen Seite konkrete Ungerechtigkeiten, die trotz des ausgefeilten
Begründungsrahmens durch das komplexe Wesen und Verhalten des Menschen
entstehen müssen, ausblenden.
Dieses Problem zeigt er exemplarisch an der ‚Freiheit‘ auf, die in der eorie
Rawls‘ den Rang eines Grundguts innehat. In Rawls eorie kann ein Mensch
dann über jenes Grundgut verfügen, wenn er in einer Gesellschaft lebt, die durch
eine liberale und autonomiefreundliche Grundstruktur konstruiert ist. 301 Nach
300
Vgl. Buchanan, ‘Rawls‘s Law of Peoples’; Kuper, ‘Rawlsian Global Justice’; Beitz, ‘Rawls’s Law of
Peoples’; Cabrera, ‘Toleration and Tyranny in Rawls’s “Law of Peoples”’.
301
Roland Kley ist daher in seiner Analyse zuzustimmen, dass Rawls einen weithin negativ bestimm-
ten Freiheitsbegriff vertritt, der Freiheit in kantianischer Perspektive vor allem als die Summe der
liberalen Abwehrrechte versteht. Vgl. ders., Vertragstheorien der Gegenwart, S. 442. Ebd., S. 442f.,
hält er, diesen Gedanken erweiternd, fest, dass Rawls zwar einerseits tatsächlich darauf verzichtet,
Armut oder andere soziale Probleme als Freiheitsbeschränkungen zu bestimmen, er jedoch ande-
rerseits den Wert der Freiheit durch jene Probleme als beeinträchtigt ansieht. Es ist deshalb die
vordringliche Aufgabe der Gesellschaft, durch das Differenzprinzip den Wert der Freiheit für alle
Bürger zu egalisieren.
138 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

Ansicht von Sen berücksichtigt Rawls dabei jedoch nicht, dass Menschen durch
ihr Wesen, d. h. durch ihre stark divergierenden Talente, ihre sehr unterschiedli-
che körperliche und geistige Verfassung sowie durch ihre soziale Herkunft in ho-
hem Maße Einflüssen unterworfen sind, die die real existierende Freiheit empfind-
lich einschränken können und in den gegenwärtig äußerst komplexen Gesell-
schaften mit einer unüberschaubaren Vielzahl unterschiedlicher Faktoren, die auf
das konkrete Leben der Menschen einwirken, auch eingeschränkt werden. Rawls
übersehe entsprechend der Sen‘schen Analyse, dass jene Faktoren einen sehr viel
wichtigeren Einfluss auf den Lebenserfolg eines Menschen hätten als eine in der
Idealtheorie gewonnene gerechte Grundstruktur, selbst wenn sie absolut gerecht
wäre. Für ein besseres Leben der Menschen wäre es demgegenüber notwendig,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

sich auf die Maximierung der Chancen des Einzelnen in den konkreten Gesell-
schaften zu konzentrieren, und sich nicht wie Rawls auf die faire Verteilung eini-
ger Grundgüter zu konzentrieren, die ja in seiner eorie nur einen instrumentel-
len Charakter zur Erzielung des Guten aufwiesen. Dieser instrumentelle Charak-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ter des Grundgütermodells, zusammen mit der Garantie eines umfassenden Sys-
tems negativer Freiheiten in einer liberalen Gesellschaft, könne bei Rawls als
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

nicht ausreichend dafür angesehen werden, in der Realität einen egalitären Chan-
cenausgleich unter den Gesellschaftsmitgliedern zu erreichen. Denn durch die
unterschiedlichen innerlichen und äußerlichen Voraussetzungen gelingender
menschlichen Existenz des Menschen müsse es zwangsläufig zu massiven Verzer-
rungen in der möglichen Nutzung der Chancen kommen. 302
Der spezifisch kantianische Ansatz von Rawls müsse deshalb als zum Scheitern
verurteilt angesehen werden, weil er das konkrete Verhalten der Menschen – das
sich eben gerade nicht als stets rational fingieren lasse – nicht ausreichend berück-
sichtige, und also nicht a priori voraussetzen kann, dass sich aus der „acceptance
of some principles of justice“ automatisch „a total redesign of everyone’s actual
behaviour in line with that political conception of justice“ ergeben könne.
Vielmehr sei es so, dass
“the institutions have to be chosen not only in line with the nature of the society in
question, but also co-dependently on the actual behavior patterns that can be ex-
pected even if – and even after – a political conception of justice is accepted by
all.” 303
Sens Kritik und eigener Ansatz löst sich damit in einer fundamentalen Hinsicht
von Rawls grundlegenden eoriekonzepten. Die von Rawls in kantianischer
Tradition stehende Organisation des Urzustands als sozial vermittelter ‚moral
point of view‘ zur Entwicklung einer überzeitlich gültigen gerechten gesellschaft-
lichen Grundstruktur wird in Sens Modell von einem prozesshaften Modell
pragmatischer Gerechtigkeitssuche und Entwicklungsethik zur Maximierung des
Wohlergehens des Einzelnen abgelöst. Deshalb dürfen seiner Ansicht nach Ge-
302
Vgl. Sen, e Idea of Justice, S. 52-78; Graf, ‚Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informati-
onsbasen sozialethischer eorien‘, S. 16.
303
Sen, e Idea of Justice, S. 69.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 139

rechtigkeitssätze nicht als rational begründete ewiggültige aufgefasst werden, son-


dern als in konkreter sozialer und zeitlicher Situation verhandelte Lösungsansätze,
die ihre Gültigkeit stets praktisch dadurch erweisen müssen, dass sie das Wohler-
gehen des Individuums steigern können. In dieser Hinsicht bleibt Sen diesseits
der feinen Linie des Utilitarismus: auch wenn sein Ansatz, im Gegensatz zum
Rawls’schen, durch die Orientierung an der Steigerung der Chancen und der
Freiheit des Einzelnen einen grundsätzlich teleologischen Charakter aufweist, ver-
sucht er nicht, das Wohlergehen im Sinne einer aggregierten Nutzensumme aller
Mitglieder einer Gesellschaft zu vermehren, sondern vielmehr als primäre Sinn-
dimension einzelner Individuen zu steigern. Dies geschieht, indem jene beim
Bewusstwerden und Verwirklichen ihrer Chancen unterstützt werden.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Den Sen‘schen Einspruch sah Rawls allerdings teilweise voraus, und er äußer-
te sich schon in der ‚eorie der Gerechtigkeit‘ hinsichtlich des Verhältnisses sei-
nes Projekts zu dieser perfektionistischen Kritik:
„Der Gedanke ist verführerisch, daß jeder seine Fähigkeiten vollständig entfalten
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

könne, und daß wenigstens einige zu allseitig entwickelten Menschen werden. Doch
das ist unmöglich. Es ist ein Kennzeichen der menschlichen Gemeinschaftsorien-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tiertheit, daß der Mensch für sich allein nur ein Teil dessen ist, was er sein könnte.
Man muß in anderen die Eigenschaften finden, die man nicht entwickeln konnte
oder gar nicht besaß. […] Doch das Gute, das sich aus der Gesamtkultur ergibt,
geht weit über unsere Arbeit hinaus, in dem Sinne, daß wir keine bloßen Bruchstü-
cke mehr sind;“ 304
Rawls will hier seinen Standpunkt und die Grundlage, auf der seine eorieent-
faltung aufruht, als zutiefst realistisch verstanden wissen, indem er mit diesem
Absatz aufzeigt, warum der Mensch neben den anderen bislang erörterten Grün-
den hauptsächlich eines Staatswesens bedarf: weil er erst in diesem die Fähigkei-
ten erhält, durch soziale Kooperation zu einem Menschen zu werden, der sich in
der Verfolgung eigener Pläne in Freiheit entfaltet. Die nur an der je eigenen Na-
tur orientierte Perfektionierung der Fähigkeiten muss für Rawls auch deshalb
scheitern, weil die zu entwickelnden Fähigkeiten starke gesellschaftliche Vorprä-
gungen haben, also ohne die sozialisierende Gesellschaft überhaupt nicht in ihrer
Totalität übersehbar und dadurch auch nicht in Gänze erstrebbar sind. Von dies-
bezüglich großer Brisanz ist der letzte Satz des angeführten Zitats: eben weil der
Mensch als Einzelner gar nicht dazu befähigt werden kann, seine Fähigkeiten alle-
samt zu perfektionieren, ist in letzter Instanz ein liberales Staatswesen unumgäng-
lich; es ist in sich mehr als die Summe seiner Teile, weil es durch seine Freiheits-
dimension jedem Bürger die Entwicklung seiner Fähigkeiten erlaubt, die letztlich
in einer freien aber dennoch notwendigen (weil eben nicht jeder Bürger die glei-
chen Fähigkeiten hat) Kooperation aufgehen müssen. Rawls kann damit jedoch
nicht die Antwort auf die Kritik vorweg nehmen, der seine eorie später ausge-
setzt wird: auch das genannte Zitat geht davon aus, dass alle Menschen voll inte-
grierte und jederzeit zur Kooperation fähige Bürger eines Staatswesens sein wer-
304
Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 574.
140 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

den und die Freiheit ihrer Autonomie vollständig zur Erlangung ihres Wohlerge-
hens nutzen können.
Im Gegensatz zu Rawls, der die Freiheit der Individuen durch den Staat allein
negativ garantieren will und ihre Lebenspläne vollständig der Eigengestaltung
überlässt, fordert Sen also die gesellschaftlich-institutionalisierte Gestaltung einer
positiven Freiheitsdimension, die erst im Bewusstsein um die Verletzbarkeit der
Menschen und das potenzielle Scheitern ihrer Lebenspläne in der Realität des
menschlichen Daseins den Einzelnutzen der Individuen durch Entwicklungsemp-
fehlungen zu erhöhen vermag. In anderer Hinsicht ist sein Ansatz durchaus utili-
taristisch zu nennen, nämlich insoweit die geltenden Grundsätze der Gerechtig-
keit jederzeit daran abgeglichen werden müssen, ob es den Menschen möglich ist,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ihr Wohlergehen durch die Wahrnehmung von Chancen und Freiheiten zu stei-
gern.
Die von Sen als notwendig erachtete Eröffnung einer positiven Freiheitsdi-
mension verhindert innerhalb des Rawls’schen eoriegefüges einmal mehr das
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Grundgütermodell. Dieses weist zwar im starken Gegensatz zum Utilitarismus


nicht ‚Glück‘ oder eben das ‚Wohlergehen‘ als das einzige zu maximierende Gut
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

aus, und es werden wegen der Maximin-Regel auch nicht mehr Güter an diejeni-
gen Leute verteilt, die durch einen exquisiten Geschmack nur aufwändig zufrie-
denzustellen wären, allerdings ist es durch seinen Zuschnitt innerhalb des eo-
riegebäudes weitgehend indifferent gegenüber der Gefahr, die bestehenden Nut-
zennachteile benachteiligter Gruppen zu ignorieren. Wie sich der einzelne Be-
troffene, der sich mit seiner Lage konfrontiert sieht, subjektiv fühlt, ist in der
‚eorie der Gerechtigkeit’ ohne Belang, weil die gewählte Basis der Gleichheits-
bemessung explizit objektiv und eben nicht subjektiv verfasst sein soll – somit er-
hält jeder ohne Berücksichtigung seiner persönlichen leib-seelischen Verfassung
dieselbe Güterzusammenstellung. 305
Sen wirft Rawls sogar einen “fetishism” darin vor, dass jener “takes primary
goods as the embodiment of advantage, rather than taking advantage to be a rela-
tionship between persons and goods.” 306 Für Sen jedoch, der ja davon ausgeht,
dass die Grundgüter allein instrumentellen Zwecken dienen können, wird der
Horizont positiver Freiheit als eigentliche Verkörperung des sozial erarbeiteten
Vorteils erst dann eröffnet, wenn durch das Verfügen über Güter die positive Fä-
higkeit (capability) geschaffen wird, konkrete Funktionen (functionings) mensch-
lichen Lebens anzuzielen und diese schließlich aktiv ausführen zu können. In
Sens Worten bedeutet das:

305
Vgl. Sen, ‚Equality of What?’, S. 213-216. Dieses Argument gilt noch expliziter auf der globalen
Ebene: ein Set von geteilten gemeinsamen minimalen Überzeugungen, wie es für die Konzeptio-
nierung der Grundgüter notwendig ist, ist weltweit als nicht existierend anzunehmen, da die
Differenzen in den Grundüberzeugungen einfach zu groß zu sein scheinen. Da alle Menschen au-
tonome Wesen sind, wäre aber durch die vielgestaltigen Lebenswelten der Menschen möglich,
dass jeder einen anderen Vorteil aus ihnen zieht.
306
Beide Zitate ebd., S. 216.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 141

„A functioning is an achievement, whereas a capability is the ability to achieve.


Functionings are, in a sense, more directly related to living conditions, since they
are different aspects of living conditions. Capabilities, in contrast, are notions of
freedom, in the positive sense: what real opportunities you have regarding the life
you may lead.” 307
Sen distanziert sich von Rawls‘ eorie also in der Frage nach der Ausgestaltung
des konkreten Lebens der Bürger; weil Rawls in liberaler Tradition auf die Eigen-
verantwortung der Bürger im Gebrauch der Grundgüter pocht, kann eben jener
Tradition vorgeworfen werden, dass sie den eigentümlichen Sinn der instrumen-
tellen Güter zu wenig aufzeigt, noch „hinreichende Anhaltspunkte für die Förde-
rung ihres wirklich menschlichen Gebrauchs gibt.“ 308 Dagegen formuliert Sen ein
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Modell, das die Bewertung der Güter stets davon abhängig macht, ob sie der
Steigerung des Wohlergehens der Menschen zuträglich sind oder nicht. 309

C.2.b.4 Die Perspektive auf das Wohlergehen in der eorie der Gerechtigkeit
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Mit dieser Feststellung ist nun in einer Rückführung auf den Ausgangspunkt die-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ses Kapitels zu überprüfen, inwieweit Rawls‘ ‚eorie der Gerechtigkeit‘ dazu an-
getan ist, das Wohlergehen des Menschen in der angezielten Verbindung von ob-
jektiver und subjektiver Dimension des menschlichen Daseins zu berücksichti-
gen. Ohne Frage ist es der unbedingte Vorteil der kantianischen Tradition, in de-
ren Gefüge sich Rawls ostentativ einordnet, die Autonomie der Individuen – ih-
ren Status als Personen – als unverrückbaren moralischen Standpunkt bei der Be-
gründung des gerechten Staatswesens zu verteidigen und die Begründung der Zu-
sammenarbeit zum gegenseitigen Wohlergehen selbst auf dem (hypothetischen)
Konsens der Beteiligten aufruhen zu lassen. Diese Konzeption entspricht nach
Rawls dem moralitätsfähigen Vernunftwesen Mensch am besten, weil darin seine
existenzielle Freiheitsorientierung explizit zum Ausdruck kommt, gleichzeitig aber
der Wert der Mitmenschen seinen eigenrechtlichen und unangreifbaren Bezugs-
rahmen erhält. Die Vorrangstellung des Rechten vor dem Guten ist weiterhin ei-
ne logische Konsequenz aus der kantianischen Tradition, weil nur in der negati-
ven Sicherung der Grundgüter durch den Staat der Boden sichtbar wird, auf dem
fruchtbare soziale Zusammenarbeit unter Wahrung der eigenen Autonomie und
der Verfolgung eigener Lebenspläne möglich scheint.
Das liberale Modell Rawls‘ bringt jedoch mit sich, dass die institutionalisierten
Modi, die das Wohlergehen der Menschen fördern sollen, a priori festgelegt wer-
den müssen, und deshalb indifferent gegenüber späteren Entwicklungen sein
werden. Sen versucht zu zeigen, dass diese methodische Vorentscheidung nicht
hinreichend sein kann, um das Wohlergehen der Menschen tatsächlich zu be-
stimmen oder garantieren zu können, weil Menschen schon durch ihre natürliche

307
Sen, On Ethics and Economics, S. 36.
308
Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, S. 41.
309
Als kritisches Gegenmodell siehe außerdem: Reinert, ‚No Small Hope’.
142 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

Ausstattung und ihre sozialen Kontexte zu unterschiedliche Lebensweisen pfle-


gen, bzw. ihr Wohlergehen von zahlreichen Faktoren abhängt, die in Rawls‘ e-
orieaufbau nur unzureichend berücksichtigt werden (können). Zusammengefasst
bedeutet das: das Rawls’sche Modell entwickelt nur moraltheoretische Instrumente
zur Bewertung der gesellschaftlichen Institutionen als Bedingungen der Möglichkeit
des Wohlergehens und nicht konkrete Maßnahmen zur Steigerung des Wohlergehens
selbst.
Die Frageperspektive, die Rawls in den Hintergrund seiner eorie stellt, be-
zieht sich also nicht auf die konkrete Konstruktion der sozialen Beziehungen für
eine bestehende Gesellschaft und ihrer entwicklungsethischen Perfektionierung,
sondern darauf, wie eine Gesellschaft politisch organisiert sein muss, damit die
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

menschlichen Eigenschaften am besten zur Entfaltung kommen können. 310 Wür-


de Rawls mit seiner eorie das Wohlergehen der Menschen selbst steigern wol-
len, wäre eine fundamentale Änderung des Bewertungsstandpunktes notwendig:
vom a priori des kantianischen moralischen Standpunktes wäre dann eine Bewer-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

tung a posteriori notwendig, wie sie Sen als notwendige Erweiterung vorschlägt.
Trotzdem: auch Sen weiß, dass die ‚eorie der Gerechtigkeit‘ in den institutio-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

nell ausgerichteten Überlegungen zum Wohlergehen des Menschen ihren richti-


gen und bahnbrechenden Platz einnimmt. Indem sie einen plumpen Utilitaris-
mus vermeidet und jedem Menschen die gleichen Freiheiten und Rechte zuge-
steht, ist ihr eoriegerüst eine theoretische Grundlage für die Steigerung des
Wohlergehens jedes Menschen, ohne aber die von ihm selbst angeregte Akzentu-
ierung der praktischen Steigerung des menschlichen Wohlergehens als eigentliche
Aufgabe annehmen zu können.

C.3 Das Wohlergehen des Menschen im Fähigkeitenansatz

Für die materialethischen Problemstellungen, welche die ‚eorie der Gerechtig-


keit‘ für den Geltungsbereich normativer moraltheoretischer Orientierung am
Wohlergehen des Menschen aufwirft, versuchen neben dem bereits genannten
Amartya Sen auch andere Philosophen und Ethiker eine Lösung zu finden. Insbe-
sondere die Philosophin Martha Nussbaum, seit den frühen neunziger Jahren
durch eine Zusammenarbeit mit Sen am WIDER-Institut in Stockholm in der
Armutsforschung engagiert, sieht sich in ihrer Arbeit der Aufgabe verpflichtet, die
normativen Grundlagen des von Sen entworfenen Fähigkeitenansatzes (Capabili-
ty Approach) so weiterzuentwickeln, dass er als eigenständiges ethisches Modell

310
Wie Pogge in seinen biographischen Notizen zu Rawls zeigen kann, ist dieses Interesse eng mit
der persönlichen Lebenserfahrung Rawls verbunden; im Hintergrund der ‚eorie der Gerechtig-
keit zeigt sich eine gewisse biographische Texturierung, auf der Rawls‘ eoriegebäude aufruht.
So wie Rawls selbst versuchte, ein „positiv lebenswertes Leben zu leben“, versuchte er auch die
„Frage nach dem lebenswerten Leben ein wenig voranzubringen“. Vgl. Pogge, John Rawls, S. 35.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 143

die Gerechtigkeitstheorie Rawls’ in ihren problematischen Aspekten – insbeson-


dere dem Grundgütermodell – zu ergänzen vermag. 311
Sen und Nussbaum verfolgen dabei unterschiedliche Forschungsschwerpunkte
bei der Ausgestaltung und Vertiefung des eoriegebäudes: Sen erforscht vor al-
lem die Möglichkeit der komparativen Messung von Lebensqualität (im Rahmen
von ‚Quality of Life Studies‘) über Funktionen, die dem Menschen als Tätigkeits-
potenziale verfügbar sein sollen und entwickelt in seinen Studien Methoden und
Richtlinien zur Armutsbekämpfung auf der ökonomischen Seite des Ansatzes,
welche beispielsweise zur Erstellung des „United Nations Human Development
Index“ (UNHDI) führten. 312 Im Anschluss an Sen, der das Wohlergehen des
Menschen durch innerhalb von konkreten Gesellschaften pragmatisch zu entwi-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ckelnden (Mindest-)Funktionen als Ergebnis von Fähigkeiten garantieren will,


liegt der Fokus Nussbaums auf der vertiefenden philosophischen Begründung des
entwicklungsethischen Programms des Fähigkeitenansatzes. Der Grundkonzepti-
on des Fähigkeitenansatzes ist bei Sen allerdings eine deutliche Parteinahme für
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

die Berücksichtigung kultureller Ausprägungen, von Lebensweltkontexten und


Traditionen bei der Entwicklung der Fähigkeiten eingeschrieben, während Nuss-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

baum, im Gegensatz zum in dieser Frage eher indifferenten Sen, auch das kriti-
sche Potenzial des Fähigkeitenansatzes als normativer ethischer eoriekonzepti-
on nutzbar machen will. 313 Das gemeinsame Forschungsprojekt lässt sich damit
hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Methodik im Grenzgebiet von Ökonomie
und Philosophie verorten. 314
Martha Nussbaum, die in den achtziger Jahren aufgrund ihres philosophischen
Werdegangs und der starken Beeinflussung ihres Denkens durch die politische
Philosophie Aristoteles‘ zur Gruppe der Kommunitaristen gerechnet wurde, posi-
tioniert sich mit der philosophischen Begründung des Fähigkeitenansatz in einer
Mittlerposition zwischen kantianisch geprägten Ansätzen in der Nachfolge Rawls
und aristotelisch-essentialistischen Philosophiekonzepten. Die genannten eo-
rieansätze werden durch Nussbaum einer umfassenden Kritik unterzogen, aber
nicht generell verworfen: Nussbaums eigener Ansatz enthält Anteile beider Tradi-
tionen, die bei ihr jedoch in einer Art von Metasynthese zusammenfallen sollen,
in den Zielsetzungen beider Traditionen mithin konvergieren. Sie will folglich
weder hinter den autonom-deontologischen Standpunkt der kantianischen Tradi-
tion zurück, noch will sie, wie es die aristotelische Position zunächst nahelegt, ih-
re epistemologische Perspektive primär auf der Geltung von Gemeinschaftswer-
ten begründen – ihr Ziel ist hingegen die Auflösung der extremen Dichotomie

311
Grundlegend für diesen Abschnitt ist deshalb der folgende, aus dieser Zusammenarbeit resultie-
rende Sammelband: Nussbaum; Sen, e Quality of Life.
312
Siehe hierzu die Website des Human Development Index: <http://hdr.undp.org/en/statistics/
hdi/>, letzter Aufruf am 04.08.2011.
313
Vgl. dazu die Einleitung zu Nussbaums Buch ‚Gerechtigkeit oder Das gute Leben‘ von Herlinde
Pauer-Studer: dies., ‚Einleitung‘, S. 7-23.
314
Vgl. die Einführung in das ema von David Crocker: ders., ‚Functioning and Capability’, S.
584-612, sowie Broszies; Hahn, Globale Gerechtigkeit, S. 34.
144 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

zwischen dem hohen Abstraktionsgrad der eorien sozialer Gerechtigkeit einer-


seits und den oft ungehörten Bedürfnissen und Einzelinteresse der betroffenen
Bürger andererseits. 315 Zusammengefasst bedeutet dies, dass Nussbaum „auf dem
Boden des anti-relativistischen, modernen, liberal-aufgeklärten Grundsatzes der
universalen Gerechtigkeit und Gleichheit eine eorie entwickeln [will, M. H.],
die es ermöglicht, den partikularen Kontexten des menschlichen Lebens Respekt
zu erweisen, zu inhaltlichen Aussagen vorzustoßen“ und „den politischen Libera-
lismus anthropologisch“ zu ergänzen und korrigieren. 316
Nussbaums philosophische Zielsetzung, die sich in dieser Synthese zeigt, ist
nichts weniger als die klassische ethische Frage nach dem guten Leben wieder als
normatives, philosophisch-politisches ema mit dem konkreten Leben der Men-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

schen in eine starke, letztlich unauflösbare Verbindung zu setzen. Dieses Ziel


kulminiert bei Nussbaum in einer konkret ausformulierten Liste von Fähigkeiten,
die „eine politische eorie elementarer Ansprüche“ 317 als aus Gerechtigkeits-
gründen einforderbare Grundlage des guten Lebens artikuliert. Damit will sie ei-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ne drohende formallogische Erstarrung der politischen Philosophie in kantianisch


bestimmten a priori-Argumentationen über die Bedingungen und Auswirkungen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

moralischer Rationalität auf den Erfolg der Lebenspläne durch tugendethisch-


praktische Überlegungen auflösen, um dann mit den im Fähigkeitenansatz zum
Ausdruck kommenden konkreten Richtlinien hinsichtlich allgemeiner Grundsät-
ze des Guten das Leben der Menschen zur ganzheitlichen Entfaltung bringen zu
können. 318
Im Gegensatz zur Gerechtigkeitstheorie Rawls‘ stehen hier nun also nicht die
konsentische Begründung und rechtsethische Legitimation gerechter Institutio-
nen im Zentrum des Ansatzes, in deren negativ garantiertem Schutz dann die In-
dividuen ihrem berechtigten Eigeninteresse nachgehen können, sondern die ge-
rechte Befriedigung der Bedürfnisse des einzelnen Menschen als einzigartigem Indi-
viduum innerhalb einer Gesellschaft.
Wie Sen kritisiert Nussbaum bei Rawls deshalb vor allem das Grundgütermo-
dell, insbesondere dessen monodimensionale Ausrichtung auf Einkommen und
Vermögen, weil sie es hinsichtlich der von ihr extensiv bestimmten, anthropolo-
gisch begründeten Möglichkeiten menschlicher Entwicklung als reduktionistisch
ansieht. 319 Sie stellt hingegen fest, dass zum Verständnis des Fähigkeitenansatzes

315
Vgl. Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 13.
316
Goertz, ‚Konkrete Freiheit‘, S. 325.
317
Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 218.
318
Vgl. “Nonetheless, I do hold out some hope that a much more modest and realistic goal can be
achieved by appeal to the concept of the human being: namely, that of setting forth a very basic
level of ethical judgment about ourselves […].” Vgl. Nussbaum, ‘Aristotle, Politics, and Human
Capabilities’, S. 120.
319
Vgl. „First, Sen and Nussbaum appeal to our (Aristotelian) considered judgments that commodi-
ties are not good in themselves but only by virtue of their relationship to – what they do for –
human beings.“ Crocker, ‘Functioning and Capability’, S. 591f. Allerdings, und das ist hier kri-
tisch festzuhalten, besitzen Einkommen und Vermögen auch für Rawls keinen Wert an sich: sie
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 145

prinzipiell die Einsicht gehört, „daß es nicht nur ein Grundgut, sondern mehrere
von der Gesellschaft zu verteilende Grundgüter gibt und daß diese Grundgüter
nicht einfach quantitativ miteinander zu verrechnen sind.“ 320 Nussbaum bestrei-
tet mit dieser kritischen Vorentscheidung im Übrigen nicht die Relevanz und
formalethische Gültigkeit einer liberalen Gerechtigkeitstheorie, sondern sie hebt
im Gegenteil ihren spezifisch funktional-instrumentellen Charakter für die ganz-
heitliche Entwicklung des Menschen hervor, weil in den liberalen eoriemodellen
sowohl die Freiheit als indexalisch primär stehendes Grundgut als auch der Auto-
nomieraum des Einzelnen einen theorieinhärent hohen Stellenwert inne haben,
und außerdem ihrer Meinung nach eine liberale Gerechtigkeitstheorie für die
richtige Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten die fundamentale Dispositi-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

on bilden muss. 321


In dieser politisch und sozial voraussetzungsreichen Konzeption umfassender
und ganzheitlicher menschlicher Entwicklung zeigt sich schließlich deutlich, dass
der Begriff der Entwicklung im Fähigkeitenansatz, bei Sen wie bei Nussbaum,
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

nicht auf eine ökonomische und wettbewerbsfokusierte Aggregationen von


tauschbaren Gütertypen reduziert ist, sondern vielmehr normatives Werkzeug ei-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ner Begründung und Bewertung gesellschaftlicher und individueller Handlungs-


weisen, das darauf abzielt, „[to improve, M. H.] the kinds of lives human beings
are living“ 322.
So begrifflich aufgeladen ist der Begriff der Entwicklung freilich nicht in der
üblichen umgangssprachlichen Weise allein als auf die wirtschaftliche und soziale
Besserstellung von Menschen – beispielsweise der ‚Armen‘ - in Entwicklungslän-
dern ausgerichtet zu verstehen, sondern er ist ein Begriffscontainer, der dichte und
als von Sen und Nussbaum universalgeltend angelegte Wertvorstellungen des Guten
enthält – als kritischer Kontrapunkt und hermeneutische Reflexionsgrundlage zu
allen Formen menschlichen Mangels und menschlicher Notlagen in allen Teilen
der Erde.

C.3.a Das aristotelisch-frühmarx‘sche Erbe im Fähigkeitenansatz

Dieses gedankliche Spektrum vor Augen lässt sich leicht der Bezug auf die aristo-
telische Tradition der Förderung des bonum commune herstellen, in deren Nach-
folge sich Sen und Nussbaum mit ihrem Ansatz verorten. Schon in Aristoteles

sind vielmehr die instrumentellen Mittel, die die Bürger zur Verfolgung ihrer Ziele benötigen.
Vgl. Rawls, ‘Kantian Constructivism in Moral eory’.
320
Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 231f.
321
Über die Methode, wie Sen und Nussbaum dies ermöglichen, vgl. Crocker, ‚Functioning and
Capability‘, S. 584-612. Crocker vermerkt dort: “Sen is ‘carving out’, to trade in our shovels for
knives, ‘capability space’. Nussbaum is arguing that we should fill in or elaborate that space with
‘capabilities’ that include but go well beyond Rawls’s two moral powers and his ideal of social co-
operation.”
322
Crocker, David A. (1992), ‘Functioning and Capability’, S. 586; Vgl. außerdem: Crocker, ‘De-
velopment Ethics’.
146 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

politischer Philosophie dient die Förderung menschlicher Fähigkeiten nicht dem


Eigeninteresse des Individuums, sondern sie wird von ihrem Nutzen für die sozia-
le Kooperationsgemeinschaft der polis begründet, in der allein sich das Individu-
um richtig und angemessen entfalten kann. Neben dem prononcierten Bezug des
Fähigkeitenansatzes auf Aristoteles‘ politische eorie weisen Nussbaum und Sen
auch die Frühschriften Karl Marx‘ als wichtige Inspirationsquelle aus, da Marx in
seinen ‚Ökonomisch-philosophischen Manuskripten‘ die Förderung der im Men-
schen angelegten Fähigkeiten als notwendig zur konkreten Realisierung seiner
anthropologischen ‚Wesenskerne‘ einfordert.323
Bei Nussbaum geht der Annahme der prinzipiellen Relevanz von menschlicher
Entwicklung in sozialen Bezügen die Intuition voraus, dass nur dann, wenn das
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Individuum sich seiner Fähigkeiten bewusst ist und um die Möglichkeiten weiß,
was es mit den ihm zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Gütern sinnvoll
anfangen kann, das Individuum schließlich als vollwertiger Kooperationspartner
anerkannt werden wird und es erst nach Erfüllung dieser Voraussetzung nach ei-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

nem ‚guten Leben’ streben kann. Mit der Herausarbeitung der menschlichen Fä-
higkeiten in ihrer eorie geht damit ein weitreichender pädagogischer Aspekt
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

richtiger und guter Lebensführung einher, der weit über die liberale Tradition des
Rawls’schen Ansatzes hinausgeht. Damit vermeint Nussbaum eine moralmotiva-
tionale Fehlstelle auffüllen zu können, die sie bei Rawls noch als offene Flanke
seiner eorie kritisierte. Denn durch die Konzeption der Teilnehmer des Urzu-
stands als vom Eigeninteresse geleitete rationale Egoisten kann Rawls zwar einer-
seits seine eorie in entscheidenden Punkten vereinfachen und überhaupt davon
ausgehen, dass die Verhandlungspartner im hypothetischen Urzustand sich auf
die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit einigen würden, andererseits blendet er
dabei andere notwendige Voraussetzungen des gelingenden Zusammenlebens in
realen Gesellschaften, wie z. B. altruistisches Handeln und Mitgefühl 324, von vor-
herein aus.
Nussbaum unterstellt Rawls in den Lösungsansätzen dieser Frage eine weitrei-
chende Inkonsequenz, denn obwohl Rawls sehr wohl davon ausgeht, dass auch in
liberalen Gesellschaften das solidarisch-gesellschaftliche Band mindestens grund-
legend geteilter politisch-sozialer Überzeugungen und einer gegenseitigen morali-
schen Achtung der Menschen bedarf, welche das egoistische Eigeninteresse über-
steigen müssen, 325 schließt er jene Faktoren trotzdem aus den Überlegungen der
Verhandlungspartner im Urzustand aus, weil dort nur „möglichst wenige und

323
Nussbaum bezieht sich auf den ‚humanistischen Marx‘ der 1840er Jahre, der von Aristoteles die
Idee übernimmt, dass menschlich-gutes Leben in der Erfüllung der Wesenskräfte liegt und dass
es rechtsethisch die menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen gelte. „Diese normative Anthropologie
erklärt die politisch-ökonomische Kritik von Marx an den Zuständen, die es den Menschen nicht
erlauben“, ein selbstbestimmtes, gutes Leben zu führen. Vgl. Goertz, ‚Konkrete Freiheit‘, S. 325.
324
Vgl. zur damit angesprochenen Kritik der Care-Ethik an der kantianischen Philosophietradition
die Fußnote 768.
325
Vgl. Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 176-182.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 147

möglichst schwache Voraussetzungen gemacht werden“ 326 sollen. Nun kritisiert


Nussbaum diese Rawls’sche Inkonsequenz – also dessen Bewusstsein einerseits
um die tatsächlichen sozialen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Menschen, die
aber andererseits hinsichtlich der methodologischen Gestaltung bei der Suche
nach den Gerechtigkeitsgrundsätzen ausgeblendet werden – nun nicht deswegen,
weil sie Rawls‘ eoriegebäude zum Wanken bringen würde, sondern deshalb
weil Rawls ihrer Meinung nach von reduktionistischen anthropologischen Vor-
annahmen – scharf gesagt: einer ‚Schrumpfanthropologie‘ – ausgeht, die letztend-
lich zu falschen Ergebnissen in der Konzeption der gerechten Institutionen füh-
ren müssen.
Die Verhandlungspartner im Urzustand sollten durch den Schleier des Nicht-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

wissens zwar Menschen repräsentieren, die lebenslang uneingeschränkt koopera-


tive Gesellschaftsmitglieder sein werden, wobei nach Nussbaum von Rawls aller-
dings unterschlagen wird, dass sein theorielastiger ‚Versuchsaufbau‘ des Urzu-
standes zu viel davon außen vorlässt, was zu einem Menschenleben als existentiell
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

zugehörig zu verstehen wäre, wie z. B. das Bedürfnis, in Zeiten äußerster Abhän-


gigkeit Hilfe angeboten zu bekommen, oder sich selbst altruistisch gegenüber an-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

deren zu betätigen. Eine Gerechtigkeitstheorie wird jedenfalls nur dann richtig


konzipiert sein, formuliert Nussbaum diese Überlegung, wenn sie „dieses Prob-
lem von Anfang an berücksichtig[t], schon bei der Gestaltung der institutionellen
Grundstruktur und besonders der eorie der Grundgüter.“ 327
Diese Berücksichtigung bedarf aber, das gibt Nussbaum zu bedenken, einer
Weiterentwicklung des bei Rawls zugrunde gelegten moraltheoretischen Modells,
welches nun nicht mehr allein mit dem Konzept einer Annahme allein egoistisch-
rationaler und vernünftiger Akteure auskommen kann, sondern auch Überlegun-
gen des Guten im fundamentalen eorieaufbau berücksichtigen muss. Es liegt
auf der Hand, dass damit die durch die kantianische Ethik erfolgte systematische
Aufscheidung der Geltungsbereiche des Rechten und des Guten sowie gleichzeitig
die Priorisierung des Rechten durch diese Selbstsituierung der eorie entfallen
muss. Folgerichtig plädiert Nussbaum in moraltheoretischer Hinsicht dafür, den
Geltungsbereich des Rechten wieder mit normativen Prämissen des guten Lebens
zu verknüpfen, also nicht nur wie Rawls eine schwache eorie des Guten zu ver-
treten, sondern eine dichte – allerdings: vage – Konzeption des Guten zu entwer-
fen. In dieser Synthese von Rechtem und Gutem soll Nussbaum zufolge eine li-
berale Gerechtigkeitstheorie entstehen, die dezidiert das Wohlergehen des Men-
schen fördert, ohne seine Ansprüche an eine autonome Lebensgestaltung zu un-
tergraben.

326
Ebd., S. 176.
327
Ebd., S. 182. Nussbaum greift hier auf die Argumente von Eva Kittay zurück, die schreibt, dass
„Abhängigkeit von jeder egalitären eorie von Anfang an berücksichtigt werden [muss, M. H.],
wenn diese alle Personen in ihrer Reichweite einschließen soll.“ Vgl. Kittay, Love’s Labor, S. 77.
148 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

C.3.b Entwicklung und Wohlergehen als normative Kategorien des Guten

Schon auf den ersten Blick ist angesichts der bisher erörterten weitreichenden
Problemstellungen klar, besonders hinsichtlich des Problems eines naturalisti-
schen Fehlschlusses, dass Nussbaums Fähigkeitenansatz dort auf Schwierigkeiten
stoßen wird, wo sie ihre Methode zur Benennung der Vorstellungen des Guten
als universalgültig und moralisch handlungsverpflichtend ausweisen muss. Um-
fassende Aussagen über die Voraussetzungen zum Wohlergehen eines konkreten
Menschen sind, das haben die ersten Kapitel gezeigt, in jeder Hinsicht notorisch
schwierig zu treffen, weil die dazu notwendige Gleichzeitigkeit der Einnahme von
subjektivem internem und objektivem externem Standpunkt theoretisch und
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

praktisch nur schwierig herzustellen ist, man sich diesem dualen Standpunkt
letztlich niemals vollständig annähern kann. Tatsächlich muss Nussbaum, wie
sich zeigen wird, große Anstrengungen innerhalb ihrer eorie unternehmen, um
einerseits die von ihr angestrebte Kultursensibilität gegenüber pluralen Lebens-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

kontexten theoretisch zu verankern, und andererseits Aussagen des Guten norma-


tiv so zu begründen, dass jenes Ziel nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ist. Durch die theorieinterne Verquickung der rechtsethisch einforderbaren Fä-


higkeiten mit dem Guten ist im Fähigkeitenansatz Nussbaums in dieser Hinsicht
auch der zentrale Begriff der ‚Entwicklung‘ ein zutiefst wertbesetzter und dadurch
zu problematisierender Begriff, weil sich bei der Analyse seiner Aussagegehalte
vermutlich relativ feste – monodimensionale – Kriterien offenbaren werden, wie
erstrebenswerte Formen eines ‚guten Lebens’ und das Vermögen eines nutzbrin-
genden Daseins in menschlicher Gemeinschaft erzielbar sind.
Der entsprechende Ausgangspunkt der Überlegungen Nussbaums ist die Natur
des Menschen, die von ihr allerdings nicht als objektives Faktum aufgefasst wird
(unter Berücksichtigung des naturalistischen Fehlschlusses auch nicht als solches
aufgefasst werden kann), sondern die unter der Einnahme einer epistemologi-
schen Position, die Nussbaum im direkten Bezug auf Hilary Putnam als ‚internen
Realismus‘ 328 bezeichnet, empirisch und hermeneutisch kontextuell – evaluativ –
zur Eingrenzung der für die gute und ganzheitliche Entwicklung des Menschen
normativen Fähigkeiten eingesetzt wird. 329 Zu diesem internen Realismus gehört,
das setzt Nussbaum als Prämisse, das intuitive und allgemeine menschliche Wis-
sen um die Sterblichkeit des Menschen und seiner Vulnerabilität, das Wissen um
die lebensnotwendige Erfüllung seiner Grundbedürfnisse, das Wissen um die
Entwicklungsfähigkeit seiner geistigen Potenziale, das Wissen um menschliche

328
Wie Putnam geht also auch Nussbaum davon aus, dass die Lehre vom ‚metaphysischen Realis-
mus‘ abzulehnen ist (siehe dazu in diesem Kapitel den Unterpunkt B). Weil die Wirklichkeit
immer schon menschlicher Deutung unterworfen ist, muss dementsprechend auch die Konzepti-
on von Wahrheit und Wissen, hier über das Wesen des Menschen, diese Perspektivität wider-
spiegeln. Vgl. Bobonich, ‘Internal Realism, Human Nature, and Distributive Justice’, S. 575f.
329
In ähnlicher Weise verfährt bereits Jean-Paul Sartre in seinem Aufsatz ‚Der Existentialismus ist
ein Humanismus‘, in: ders., Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Es-
says 1943-1948, S. 166f.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 149

Kultur, Kunst, Literatur u. a. – also all jenes Wissen, das in irgendeiner Weise
mit einem konkreten Bild vom Menschen zusammenhängt. Als Entscheidungs-
kriterium für oder gegen die Aufnahme einer Fähigkeit in die Liste dient an-
schließend ein hypothetisches Ausschlussverfahren, mit dessen Hilfe evaluativ über-
prüft werden soll, ob ein Mensch auch ohne jene Eigenschaft ein gutes Leben
führen könne. Nussbaum beschreibt dieses evaluative Moment als Prozess, bei
dem bei konkreten Menschen in einem hypothetischen Vorgang Schritt für
Schritt unterschiedliche Fähigkeiten aus der Summe der potenziellen Fähigkeiten
entfernt werden, woraufhin dann in einem zweiten Denkschritt, der internen
Evaluation, überprüft wird, ob der Mensch ohne die subtrahierte Fähigkeit im-
mer noch die Möglichkeit besäße, ein vollwertiges, gelingendes und gutes Leben
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

in Würde leben zu können.


Durch die evaluative Herausarbeitung der zentralen Fähigkeiten des Menschen
soll damit ein normatives Bild des Menschen entworfen werden, das letztlich eine
minimale Beschreibung der in der Natur des Menschen angelegten Entwick-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

lungsfähigkeit seiner Wesensmerkmale zum Guten beinhaltet. In der Nachfolge


des realistisch-empirischen aristotelischen Essentialismus bleibt Nussbaum mit
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

diesem Ergebnis aber nicht stehen: sie will mit dieser Mischung aus ontologischer
und intuitiv-evaluativer Methode die zentralen Fähigkeiten der Natur des Men-
schen an sich herausarbeiten, um die dabei entstehende Liste der Fähigkeiten
dann als normativen archimedischen Punkt der Ausgestaltung ihrer politischen
Ethik einzusetzen. 330 Durch die evaluative Methode, die laut Nussbaum von je-
dem Menschen in einem Gedankenexperiment nachvollzogen werden könne,
sieht sie den für die rechtfertigbare Konstruktion eines Normativitätskriteriums
notwendigen Verzicht auf metaphysische oder in der Hermeneutik von Kulturen
stehende Aussagen methodisch und moraltheoretisch eingelöst, weil jedem Men-
schen intuitives Wissen über die eigenen Bedürfnisse gegeben ist. Durch diese
Methode sieht Nussbaum außerdem generell metaphysisch oder generell weltan-
schaulich kontaminierte Beschreibungen des Menschen, wie etwa, dass er im Be-
sitz einer Seele sei oder als biologisches Wesen einer natürlichen teleologischen
Entwicklung gehorche, als aus dem eorieaufbau exkludierbar an.
Die Liste selbst will Nussbaum als semantische Urform der in der Wirklichkeit
sich zahllos verästelnden menschlichen Fähigkeiten verstanden wissen, um
dadurch unterschiedliche, plurale Ausdeutungen und weltanschaulich informierte
Konkretionen in den Kulturkreisen zu erlauben. Als normatives Faktum wird
durch Nussbaum schließlich nur gesetzt, dass jede einzelne der essentiellen Fä-
higkeiten ihrer Liste zur personalen Ausgestaltung verfügbar sein muss, weil jede
einzelne für gelingendes menschliches Leben generell unverzichtbar ist. 331 Im

330
Vgl: „My own concept of the human being plays this sort of role, at a very general level: we want
to find some at least provisionally nonnegotiable points in our judgments […]“, Nussbaum, ‘Ar-
istotle, Politics, and Human Capabilities’, S. 120.
331
Für eine kurze Einführung: Horster, Postchristliche Moral, S. 183; Kunze, Emanzipatorischer Es-
sentialismus, S. 22; Nussbaum, ‚Human Functioning and Social Justice‘, S. 205, eine erweiterte
150 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

ethischen Diskurs kann es dementsprechend nicht erlaubt sein, zu Gunsten der


Förderung einer Fähigkeit eine andere in ihrer Entwicklung zu benachteiligen
oder vollständig zu missachten. Die Liste der natürlichen Fähigkeiten des Men-
schen setzt sich nach Nussbaum aus folgenden Einzelelementen zusammen:
„1. Leben: Die Fähigkeit, ein menschliches Leben normaler Dauer bis zum Ende zu
leben; nicht frühzeitig zu sterben und nicht zu sterben, bevor dieses Leben so einge-
schränkt ist, daß es nicht mehr lebenswert ist.
2. Körperliche Gesundheit: Die Fähigkeit, bei guter Gesundheit zu sein, wozu auch
die reproduktive Gesundheit, eine angemessene Ernährung und eine angemessene
Unterkunft gehören.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

3. Körperliche Integrität: Die Fähigkeit, sich frei von einem Ort zum anderen zu be-
wegen; vor gewaltsamen Übergriffen sicher zu sein, sexuelle Übergriffe und häusli-
che Gewalt eingeschlossen; Gelegenheit zur sexuellen Befriedigung und zur freien
Entscheidung im Bereich der Fortpflanzung zu haben.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

4. Sinne, Vorstellungskraft und Denken: Die Fähigkeit, die Sinne zu benutzen, sich
etwas vorzustellen, zu denken und zu schlußfolgern – und dies alles auf jene „wahr-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

haft menschliche“ Weise, die von angemessener Erziehung und Ausbildung geprägt
und kultiviert wird, die Lese- und Schreibfähigkeit sowie basale mathematische und
wissenschaftliche Kenntnisse einschließt, aber keineswegs auf sie beschränkt ist. Die
Fähigkeit, im Zusammenhang mit dem Erleben und Herstellen von selbstgewählten
religiösen, literarischen, musikalischen etc. Werken und Ereignissen die Vorstel-
lungskraft und das Denkvermögen zu erproben. Die Fähigkeit, sich seines Verstan-
des auf Weisen zu bedienen, die durch die Garantie der politischen und künstleri-
schen Meinungsfreiheit und die Freiheit der Religionsausübung geschützt werden.
Die Fähigkeit, angenehme Erfahrungen zu machen und unnötigen Schmerz zu
vermeiden.
5. Gefühle: Die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer
selbst aufzubauen. […]
6. Praktische Vernunft: Die Fähigkeit, selbst eine persönliche Auffassung des Guten
zu bilden und über die eigene Lebensplanung auf kritische Weise nachzudenken.
(Hierzu gehört der Schutz der Gewissens- und Religionsfreiheit.)
7. Zugehörigkeit: (A) Die Fähigkeit, mit anderen und für andere zu leben, andere
Menschen anzuerkennen und Interesse an ihnen zu zeigen, sich auf verschiedene
Formen der sozialen Interaktion einzulassen; sich in die Lage eines anderen hinein-
zuversetzen. […] (B) Über die sozialen Grundlagen der Selbstachtung und der
Nichtdemütigung zu verfügen; die Fähigkeit als Wesen mit Würde behandelt zu
werden, dessen Wert dem anderer gleich ist. Hierzu gehören Maßnahmen gegen die
Diskriminierung auf der Grundlage von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, se-
xueller Orientierung, Kaste, Religion und nationaler Herkunft.
8. Andere Spezies: Die Fähigkeit, in Anteilnahme für und in Beziehung zu Tieren,
Pflanzen und zur Welt der Natur zu leben.

Diskussion des Aristotelischen Essentialismus bietet: Matthews, ‚Aristotelian Essentialism‘, S.


251.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 151

9. Spiel: Die Fähigkeit zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu genießen.


10. Kontrolle über die eigene Umwelt: (A) Politisch: Die Fähigkeit, wirksam an den
politischen Entscheidungen teilzunehmen, die das eigene Leben betreffen; ein Recht
auf politische Partizipation, auf Schutz der freien Rede und auf politische Vereini-
gungen zu haben. (B) Inhaltlich: Die Fähigkeit, Eigentum (an Land und an beweg-
lichen Gütern) zu besitzen und Eigentumsrechte auf der gleichen Grundlage wie
andere zu haben […]“ 332
Die inhaltlich weit gefassten natürlichen Fähigkeiten sind von Nussbaum er-
kennbar darauf angelegt, die gesamte Bandbreite menschlicher Lebens- und Um-
gangsformen abzubilden. Von Fähigkeiten, die zur biologischen Persistenz des
Menschen notwendig sind (Lebenserhaltung, sexuelle Aktivität, Gesundheit)
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

reicht die Liste bis zur Entfaltung der geistig-seelischen Anlagen des Menschen
durch Bildung, Erziehung und Spiel. Auffallend ist der spezifisch soziale Bezug,
den Nussbaum bei der Erläuterung der Fähigkeiten jeweils in Stellung bringt; die
menschlichen Fähigkeiten können, so lässt sich diese Ausdeutung ergänzen, nicht
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

solipsistisch-individualistisch entwickelt werden, sondern nur innerhalb funktio-


nierender sozialer Konstellationen. Kommt in dieser sozialorientierten Interpreta-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tion auf der einen Seite das spezifisch Aristotelische des Fähigkeitenansatzes in
den Blick, lässt sich dadurch auf der anderen Seite ein Konnex zur Gerechtig-
keitstheorie herstellen: eine Gesellschaft wird nur dann gerecht und gleich ge-
nannt werden dürfen, wenn sie die in den Fähigkeiten zugrunde gelegten Ent-
wicklungschancen des Guten allen Bürgern auf rechtlich garantierter Grundlage
gleichermaßen offeriert.
Aus dieser Verbindung von individualethischen mit sozialethischen Überle-
gungen resultiert bei Nussbaum eine Konzeption menschlicher Natur, die sich
moraltheoretisch nicht auf entweder die Fähigkeiten der autonomen ‚moralischen
Person‘ oder der gesellschaftlich geprägten ‚sozialen Person‘ reduzieren lässt; beide
Ausprägungen fallen in ihrem Ansatz als voneinander abhängig zusammen, was
von Nussbaum allerdings nicht weiter bezüglich möglicher Implikationen argu-
mentativ erörtert, bzw. als mögliches Problem analysiert wird. 333 Wie Christopher
Bobonich nämlich kritisch ausführt, könnte diese Uneindeutigkeit in Verbin-
dung mit dem intuitiv-evaluativen Standpunkt des ‚internen Realismus‘ aber bei
den eher allgemeinen biologischen Fähigkeiten dazu führen, dass durch die von
Nussbaum angelegten Kriterien auch nicht-menschliche Wesen (Bobonich nennt
Delphine, Gorillas und Marsianer) als Personen gezählt werden könnten, wäh-
rend andererseits die eher strikt formulierten Kriterien (z. B. die Fähigkeit zu la-
chen oder zu spielen) Personen als menschliche Wesen ausschließt, die, aus wel-
chen Gründen auch immer, nicht über diese Fähigkeiten verfügen. 334 Wenn
Nussbaum also Rawls deswegen kritisiert, dass er durch seine Konzeption des hy-
pothetischen Urzustands bestimmte menschliche Wesen, etwa geistig Behinderte,

332
Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 112-114.
333
Vgl. Bobonich, ‘Internal Realism, Human Nature, and Distributive Justice’, S. 576f.
334
Vgl. ebd.
152 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

zu deren Nachteil aus den Verhandlungen ausschließt, wäre also Nussbaums Liste
nach Bobonich deshalb zu kritisieren, weil ihre intuitive Kriteriologie zur Be-
stimmung der menschlichen Natur in zu geringem Maße den möglichen Sonder-
fällen angemessen scheint, und deshalb entweder nicht alle Menschen umfasst,
oder umgekehrt auch nicht-menschliche Wesen miteinbeziehen muss. Mit die-
sem Ergebnis wäre der Fähigkeitenansatz dann jedoch prinzipiell ungeeignet, die
potenziell extensiven Entwicklungstypologien jedes einzelnen Menschen abzubil-
den, oder davon ausgehend inhaltsreiche Überlegungen zur institutionell verorte-
ten Gerechtigkeit in pluralen Gesellschaften anzustellen.
Andererseits stellt Nussbaum aber ausdrücklich fest, dass der Fähigkeitenansatz
dazu dienen soll, eine „vorläufige und offene Liste jener Fähigkeiten [zu, M. H.]
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

entwerfen, die wir als die zentralen menschlichen Ansprüche verstehen, auf deren
Grundlage wiederum elementare soziale Gerechtigkeit definiert wird.“ 335 Im Inte-
resse Nussbaums scheint es also erklärtermaßen nicht zu liegen, für jede der mög-
lichen Hinsichten belastbare, ausgearbeitete und substantielle Modelle der
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

menschlichen Natur zu begründen, sondern in eher praktisch-pragmatischer Ab-


sicht zu einem Set intuitiv-konsensfähiger Grundfähigkeiten zu gelangen, von
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

denen aus dann die eigentliche philosophische Arbeit, nämlich die Kritik der be-
stehen gesellschaftlichen Verhältnisse, gelingen kann. Bobonichs Kritik an Nuss-
baum verfehlt damit der Sache nach deren eigentliche Intention; er kritisiert die
Liste als finalisiertes Ergebnis von Nussbaums philosophischer Methode und ver-
kennt damit deren prozessual-intuitiven Charakter.
Mit der Überzeugung, dass die Fähigkeiten nicht untereinander aufrechenbar
sind, trifft Martha Nussbaum jedoch eine starke, normative Entscheidung, die
sich rein intuitiv nicht sofort erschließt. Durch diese methodische Vorentschei-
dung will Nussbaum die potenzielle Erwägung von ‚trade-offs’ zwischen den Fä-
higkeiten aus Gründen der Gerechtigkeit von vornherein ausschließen. Im Nuss-
baum’schen Sinne wäre es nicht statthaft, zur Überlebenssicherung beispielsweise
die politischen Versammlungsrechte einzuschränken, weil beide auf je ihre Weise
zur freien Entfaltung des Menschen notwendig seien. Da die Fähigkeiten gemein-
sam die elementaren Ansprüche der Menschen in sich enthalten, und in Summe
„als notwendige Bedingung für ein achtbares und menschenwürdiges Leben ver-
standen“ werden müssen (was für Nussbaum ja letztlich auch begründet, eine be-
stimmte Fähigkeit in die Liste aufzunehmen), „ergibt sich […], daß die Fähigkei-
ten in einem grundlegenden Sinn nicht gegeneinander verrechnet werden kön-
nen.“ 336 Den Kriterien für ein achtbares und menschenwürdiges Leben kommt da-
mit eine fundamentale Bedeutung für das eoriegerüst des Fähigkeitenansatzes
zu. Durch sie wird erst bestimmt, welche Fähigkeiten in die Liste aufgenommen
werden können, und durch sie wird letztlich auch bestimmt, was in einer erwei-
terten Perspektive als gerecht in einem Staatswesen zu gelten habe. Ob Nussbaum
diesem Anspruch, nämlich einer nun damit notwendig gewordenen normativen

335
Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 232.
336
Ebd., S. 232f.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 153

Begründung von Achtbarkeit und Menschenwürde gerecht werden kann, wird sich
nach der nun folgenden Auseinandersetzung mit anderen kritischen Punkten des
Fähigkeitenansatzes zeigen.

C.3.c Zur Kritik an der Begründung der Liste der Fähigkeiten

Die von Nussbaum erarbeitete Methodologie zur Erstellung der Fähigkeitenliste


wäre jedoch auch in anderer Hinsicht der Kritik zu unterziehen, nämlich sowohl
hinsichtlich des der Liste zugrundeliegenden starken Intuitionismus, als auch hin-
sichtlich der daraus resultierenden, breit aufgefächerten Inhalte der Fähigkeiten-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

liste. Der Anspruch Nussbaums, mit ihrem Ansatz objektiv wahre, universal gül-
tige, allgemein zustimmungsfähige Fähigkeiten für eine normative Ethik generie-
ren zu können, kann nicht (allein) durch die Position des internen Realismus rea-
lisiert werden. Da schließlich Menschen aus ihrer je eigenen hermeneutischen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Perspektive die Liste formulieren, wird unweigerlich die unhintergehbare kultu-


relle Prägung und das Dasein innerhalb sozialer Bindungen die für den internen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Standpunkt notwendige Intuition beeinflussen. Die Liste der Fähigkeiten wird


deshalb zwangsweise entweder zu spezifisch formuliert werden, oder es werden
andere zentrale Fähigkeiten durch die hermeneutische Vorprägung der Intuition
nicht in ihrer Relevanz erkannt und deswegen nicht in die Liste mitaufgenom-
men werden. Dadurch besteht jederzeit die Gefahr, dass die Liste nur innerhalb
eines bestimmten Kulturkreises mit dem Geltungsanspruch des Guten und Ge-
rechten vertreten werden kann, während ihr in anderen dieser Geltungsanspruch
wahrscheinlich verweigert werden wird. Interkulturelle Vergleiche der Lebensver-
hältnisse und Lebenschancen unter dem Aspekt des Wohlergehens und der Ge-
rechtigkeit wären damit auf der Grundlage eines universalen Katalogs von
menschlichen Eigenschaften prinzipiell nicht möglich, da der eigenen Kultur
fremde, aber vor einem überkulturell erweiterten Horizont hingegen essentielle
Fähigkeiten möglicherweise gar nicht als solche erkannt werden könnten. 337
Cécile Fabre und David Miller halten deshalb kritisch fest, dass das Projekt
Nussbaums, nämlich die Natur des Menschen in ihren primären normativen Gel-
tungsansprüchen der Achtung und Würde zu erfassen und die essentiellen Fähig-
keiten aus allen sekundären kulturellen Überformungen herauszulösen, durch
den unhintergehbar hermeneutischen, subjektiven Blick als inhärentes Problem
ihrer Methode scheitern muss. Denn, so merken Fabre und Miller an, auch wenn
Nussbaum versucht, durch ihre evaluative Methode einen normativen internen
Standpunkt in der Bewertung fundamentaler Kriterien des Guten zu rekonstruie-
ren, wird sie nicht kategorisch ausschließen können, dass in diesem Prozess – in-
337
Auch wenn Kunze vorschlägt, zur Lösung dieses Dilemmas eine externe Position einzunehmen
und dann in dieser ‚advokatorischen Rolle‘ über die Fähigkeiten zu entscheiden, ist gerade dies
aufgrund der universellen Ausrichtung des Fähigkeitenansatzes nicht ausführbar. Dem Mensch
ist es nicht möglich, eine von seiner leibseelischen Disposition gänzlich unabhängige Perspektive
einzunehmen. Vgl. Kunze, Emanzipatorischer Essentialismus, S. 48.
154 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

tendiert oder nicht – metaphysische Vorannahmen zur Anwendung gekommen


sein könnten. 338 Bei der Benennung essentieller menschlicher Fähigkeiten sei ja
auch in der philosophischen Tradition regelmäßig auf metaphysische Begrün-
dungsmodelle zurückgegriffen worden, welche aber über den Verdacht der kultu-
rell geprägten Subjektivität hinaus erst recht nicht den universal-normativen An-
spruch der Fähigkeitenliste erfüllen könnten. 339
Genauer besehen besteht die Kritik von Fabre und Miller also aus dem Vor-
wurf, dass die von Nussbaum konkretisierten Fähigkeiten in ihrer Eigenschaft als
natürliche menschliche Wesenskerne sich immer an einem metaphysisch begrün-
deten Idealbild orientierten, das erst durch einige ‚Wissende‘ vermittelt und zur
Anschauung kommen würde, jene Fähigkeiten aber wenig mit den tatsächlichen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Erfahrungen von ‚normalen‘ Menschen in Geschichte und Gegenwart und


schließlich auch mit menschlichen Bedürfnissen und notwendigen Ansprüchen
auf Wohlergehen zu tun hätten. Diejenigen Einsichten in den Kern menschli-
chen Daseins, die in unhinterfragten metaphysischen Fundamenten gründen, er-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

lauben es letztlich auf einer zweiten Stufe nicht mehr, wirklich erlebte, objektive
menschliche Erfahrung als Ausgangspunkt und Reflexionsgrundlage der als essen-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tiell anzusehenden Fähigkeiten zu realisieren, da sie dem vorgängigen metaphysi-


schen Idealbild widersprechen. Letztlich würden also die von außerhalb in unsere
Wirklichkeit eingeführten ewiggültigen Aussagen mit der Tatsache kollidieren,
dass in Wirklichkeit die besten Antworten auf die eigenen Fähigkeiten von den
Menschen selber kommen. 340 Der evaluativ-intuitive Zugang zu den Fähigkeiten
als Wesenskerne des Menschen ist den genannten Kritikern zufolge demnach
zwei Gefahrenpolen ausgesetzt: zum einen der intuitiven und unbewussten Be-
rücksichtigung metaphysischer Quellen oder Idealbilder bei der Formulierung der
Fähigkeiten, zum zweiten einer Verklitterung kultureller Unterschiede, wodurch
entweder Fähigkeiten als universal benannt werden, die von kulturellen Vorprä-
gungen beeinflusst sind, oder die möglicherweise die für das Wohlergehen der
Menschen eigentlich relevanten Fähigkeiten wegen eben jener Vorprägung als
unbedeutend von der Liste ausschließt.
Nussbaum versucht dieser Kritik zu begegnen, indem sie das Verfahren der
Evaluation mit der methodischen Strategie des ‚internen Realismus‘ als Akt eines
politisch-deliberativen Diskurses und gerade nicht als metaphysisch-überzeitliche Be-
stimmung unabänderlicher Gegebenheiten ausweist. 341 Ihr zufolge muss die Fähig-

338
Für eine erweiterte Darstellung dieser Kritik siehe: Fabre; Miller, ‚Justice and Culture‘, S. 8.
339
Vgl. Nussbaum, ‘Human Functioning and Social Justice’, S. 206.
340
Vgl: „To cling to it as a goal is to pretend that it is possible for us to be told from outside what to
be and what to do, when in reality the only answers we can ever hope to have must come, in
some manner, from ourselves.“ Nussbaum, ‘Human Functioning and Social Justice’, S. 207. Die-
se Kritik übersieht allerdings, dass eine Einschätzung der eigenen Fähigkeiten auch schon ein ge-
wisses Maß an Lebenserfahrung, kritischer Selbstreflexion und Bildung braucht.
341
Vgl: “We follow this procedure in many ways, but, with Rawls, I imagine that we are following it
in a specifically political domain, seeking a conception by which people of differing comprehen-
sive views can agree to live together in a political community. is entails that we take into ac-
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 155

keitenliste deswegen als Ergebnis eines Überlegungsgleichgewichts – parallel zu des-


sen Funktion in der ‚eorie der Gerechtigkeit‘ von Rawls 342 – verstanden wer-
den, das als moraltheoretische Methode zur Vereinheitlichung der moralischen Ur-
teile mit den moralischen Grundsätzen innerhalb pluraler Gesellschaften mit unter-
schiedlichen Weltanschauungen dienen soll. 343 Mit den Worten Rawls‘ ausge-
drückt muss die Fähigkeitenliste letztendlich so beschaffen sein, dass sie „sowohl
vernünftigen Bedingungen genügt als auch zu [Fähigkeiten, im Original:
Grundsätzen, M. H.] führt, die mit unseren – gebührend bereinigten – wohl-
überlegten Urteilen übereinstimmt.“ 344 In diesem Sinne geht es Nussbaum also
nicht darum, in der Perspektive eines Wertrealismus normativ gehaltvolle Aussa-
gen aus einem metaphysischen Reich der ewiggültigen Tatsachen über die Natur
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

des Menschen zu deduzieren, sondern, wie Rawls, im Prozess der gesellschaftli-


chen Selbstverständigung
„to achieve consistency and fit in our judgments taken as a whole, modifying par-
ticular judgments when this seems required by a theoretical conception that seems
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

in other respects powerful, but modifying or rejecting the theoretical conception


when that has failed to fit the most secure of our moral intuitions.” 345
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Nussbaums Ansatz zur Verknüpfung des Guten mit dem Rechten erfährt in die-
ser Orientierung an den Prozessen gesellschaftlicher Deliberation eine sinnvolle
und notwendige Begrenzung der Reichweite des Guten, da nur solchen Fähigkei-
ten als Ausdruck des Guten zugestimmt werden wird, die zwar durch die norma-
tive Orientierung an der Natur des Menschen in substantieller Form gehaltvoll
sein werden, woraus aber umgekehrt eben nicht schon eine bestimmte Lebens-
weise des Guten resultieren wird, die anschließend teleologisch perfektioniert
werden muss. 346 Mit dieser Argumentation sieht Nussbaum den Standpunkt, dass
die Begründung der Fähigkeitenliste tatsächlich nur intern stattfindet, umfassend
gerechtfertigt: weil er zum einen seine Begriffe und Überzeugungen aus der
menschlichen Perspektive gewinnt, und weil er zum zweiten die evaluativen und

count not only our own judgments and the theoretical conceptions but also the judgments of our
fellow citizens.” Nussbaum, ‘Aristotle, Politics, and Human Capabilities’, S. 117.
342
Vgl. Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 38.
343
Nussbaum gesteht allerdings ein, dass dieser Prozess „slippery and delicate“ ist, weil er eine „sensi-
tive imagination“ und „lots of cross-checking” innerhalb der eorie benötigt. Vgl. Nussbaum,
‘Human Dignity and Political Entitlements‘, erhältlich unter: <http://bioethics.georgetown.
edu/pcbe/reports/human_dignity/chapter14.html>, letzter Zugriff am 12.08.2011.
344
Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 38. Rawls merkt ebd. außerdem an, dass durch seine Ent-
stehung das Überlegungsgleichgewicht nicht „notwendig stabil“ ist, weil „neue Bedingungen“
auftreten können oder „Einzelfälle, die uns zur Änderung unserer Urteile veranlassen“ können.
Diesem Umstand trägt Nussbaum insoweit Rechnung, als sie die Liste der Fähigkeiten als nur
‚vorläufig‘ und ‚offen‘ auszeichnet. Sie erkennt damit die Unsicherheit und Wandelbarkeit der
moralischen Urteile über die Natur des Menschen zumindest in methodischer Absicht an.
345
Nussbaum, ‘Aristotle, Politics, and Human Capabilities’, S. 117.
346
Vgl. ebd.
156 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

ethischen Urteile als archimedischen Punkt der Suchheuristik nach den Fähigkei-
ten einsetzt. 347

C.3.d Der Fähigkeitenansatz als politische Entwicklungsethik

In methodischer Anlage und von seiner Binnenlogik her, nämlich der Verknüp-
fung des Guten mit dem Rechten, ist der Fähigkeitenansatz gleichermaßen so-
wohl Entwicklungsethik als auch politische Ethik. Der große Unterschied – auch
Bruch – zu den politischen Ethiken kantianischer Tradition ist die Überzeugung,
eine Liste grundlegender Fähigkeiten, welche die Natur und das Wesen des Men-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

schen in substantieller Weise vor dem Hintergrund des zum Wohlergehen Not-
wendigen formen und konkret machen, als Forderung der Gerechtigkeit institu-
tionalisierbar und sozial verbindlich darstellen zu können.
Nussbaum, die den Begriff der Person als vor allem in den kantianisch gepräg-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ten ethischen eorien als zu reduziert ausweist, indem sie dort die fehlende Tie-
fendimension und mangelhaft berücksichtigte Komplexität der menschlichen Na-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tur als ungenügend für gerechtigkeitstheoretische Argumentationen und stichhal-


tige Begründung sozialer Kooperation herausarbeitet, stellt vor allem in dieser
Hinsicht ihren tugendethischen Ansatz frontal gegen die Sollensethik autonom
agierender Akteure. Durch seine Ergebnisorientierung ist im Fähigkeitenansatz
nicht die gute Gesinnung der moralischen Akteure bei der Erlangung und Maxi-
mierung ihrer guten Lebenspläne relevant, sondern vielmehr das richtige Ergeb-
nis, nämlich eine ganzheitliche Entwicklung hin zum freien autonomen Ge-
brauch der Fähigkeiten. Diesen entwicklungsorientierten Anspruch für alle Bür-
ger kann eine Vertragstheorie in der Tradition Rawls‘ schon allein deswegen nicht
erfüllen, weil jene ex post keine Argumente mehr für eine Unterstützung jener
Benachteiligter gelten lassen kann, die nicht bereits ex ante, z. B. im Natur- oder
Urzustand, Geltung erlangt hätten; durch die restriktiven Vorgaben des hypothe-
tischen Urzustands in Verbindung mit dem Grundgütermodell ist es ihr deshalb
schon prinzipiell nicht möglich, die weitreichenden Prämissen und Zielsetzungen
des Fähigkeitenansatzes in seiner Funktion als Entwicklungsethik für alle Men-
schen, und nicht nur die an Verhandlungen des Urzustandes beteiligten, einzuho-
len. 348
Die Fähigkeiten als Grundanlagen der menschlichen Natur müssen gefördert
und garantiert werden: an dieser Stelle tritt die Institution in die Gleichung des
Fähigkeitenansatzes, wird der liberale Staat, der seinen Bürgern Unterstützung
bei der Verfolgung ihrer eigenen Lebenspläne gewähren muss, relevant. Während
aber Sen nur im ganz Allgemeinen die Entwicklung der Fähigkeiten mit den
Grundgütern verbindet, ihre Art und Gestaltung als Aufgabe verfügbarer gesell-
schaftlicher Institutionen aber weitgehend offenlässt, auch nicht verbindlich insti-

347
Vgl. ebd., S. 118.
348
Vgl. Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 220.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 157

tutionell verortet, verknüpft Nussbaum die Liste der Fähigkeiten als Maxime ei-
ner pluralismusfähigen minimalen Idee des Guten in akzentuierter Weise mit den
Zielen des Staatswesens, das in ihrer Fassung des Fähigkeitenansatzes als seine ei-
gentliche Aufgabe die Förderung und Entwicklung der Fähigkeiten der Bürger
übernehmen muss. Wie Herlinde Pauer-Studer festhält, geht es Nussbaum in die-
ser spezifisch politischen Dimension „nicht darum, Menschen eine bestimmte
Form des Lebens vorzuschreiben, sondern um das Schaffen der Voraussetzungen,
damit Individuen die autonome Wahl eines Lebensplanes überhaupt offen-
steht.“ 349 Aus dem Erfolg der Menschen in der Erlangung und Ausgestaltung ih-
rer Fähigkeiten wird dementsprechend der Erfolg des Staates bei der Erfüllung
seiner Aufgaben ersichtlich, wie auch umgekehrt der Misserfolg der Bürger in der
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Entwicklung ihrer Fähigkeiten dem Staat anzulasten sein wird.


Die besondere entwicklungsethische Dimension des Fähigkeitenansatzes zeigt
sich, das wird an der Verknüpfung mit der politischen Ethik deutlich, in beson-
derer Weise innerhalb liberaler und pluralitätsfreundlicher Staatswesen, weil sich
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Nussbaum zufolge vor allem dort die moralische und soziale Dimension gesell-
schaftlicher Kooperationsprozesse in freier Weise äußern kann. 350 Im Gegensatz
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

zu Rawls, der die selbstvergessene Sorge um die Verwirklichung der Lebenswün-


sche und Wohlergehensansprüche von Mitbürgern nicht als grundlegendes Fun-
dament seiner Gerechtigkeitskonzeption aufnimmt, sondern vor allem das an der
Entfaltung der eigenen Freiheit orientierte Eigeninteresses als Triebfeder zur
Schaffung gerechter Strukturen anerkennt, setzt Nussbaum in aristotelischer Tra-
dition auf die Existenz starker sozialer Verbindungen, nämlich die „Bande der
Liebe und des Mitgefühls ebenso wie Verbindungen durch das Streben nach Vor-
teilen“ 351 zur Begründung der Verknüpfung der Entwicklungsethik mit der politi-
schen Ethik, und auf ein Menschenbild, das im Anschluss an Aristoteles die Per-
son als ein politisches und soziales Lebewesen setzt, „das nach einem durch und
durch sozialen Guten strebt und mit anderen auf verschiedene Ebenen komplexe
Zielsetzungen teilt.“ 352 Die Motivation zur gegenseitigen Unterstützung der Bür-
ger bei der Entwicklung ihrer Fähigkeiten kann diesem Menschenbild entspre-
chend nicht bloßen ökonomischen Erwägungen unterworfen sein, denn „[d]as
Gute der anderen bedeutet für solche Personen nicht einfach eine Einschränkung
ihres Strebens nach dem eigenen Guten, sondern ist vielmehr Teil ihres eigenen
Guten.“ 353
Der Reiz, den eine solche essentialistische Lösung für eine umfassend-
ganzheitliche und nicht nur ökonomisch bestimmte Begründung der gesellschaft-
lichen Kooperation zweifellos hat, wirft andererseits weitreichende Probleme für
die moraltheoretische Konzeption des Personalitätsprinzips innerhalb einer Ge-
sellschaft auf. Die stärkeren solidarischen Bande, die von Nussbaum für ihren
349
Pauer-Studer, ‚Einleitung‘, S. 20.
350
Vgl. Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 220.
351
Ebd., S. 221.
352
Ebd., S. 222.
353
Ebd.
158 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

Ansatz als Voraussetzung angenommen werden, sind nun nämlich dadurch onto-
logisch belastet, dass die fundamentalen Eigenschaften des Personseins in ihrem
Ansatz nicht a priori bestimmt werden, sondern im Modus gegenseitig affirmie-
render, prozesshafter gesellschaftlicher Begründung und wechselseitiger Anerken-
nung erfolgen.
Dient in der kantianischen Tradition die vorstaatliche Bestimmung der Person
aus einer vernünftigen Perspektive a priori dafür, einen Geltungsraum unbeding-
ter personaler Eigenschaften und moralischer Eigenrechte unveräußerlich und
normativ ursprünglich zu setzen, was gleichermaßen auch das Individuum vor
den Einflüssen und moralischen Übernahmeversuchen der eigenen autonomen
Sphäre durch andere Individuen schützt, entfernt sich Nussbaum mit der Preis-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

gabe dieses unbedingten Geltungsraumes dementsprechend weit von den ‚morali-


schen Monaden‘ der kantianischen Tradition. Folgerichtig betont Nussbaum,
dass man von einer „öffentlichen Konzeption der Person ausgehen“ 354 muss, die im
Begriff der Öffentlichkeit an den politischen Raum gesellschaftlicher Deliberation
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

über die gemeinsamem Entwicklungsziele und Vorstellungen des Guten gebun-


den ist. Wie Nussbaum vermerkt, folgert daraus, dass in durch „Gerechtigkeit
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

und Wohlwollen geprägten Beziehungen mit anderen und auf andere hin zu le-
ben, […] Teil einer öffentlich geteilten Konzeption der Person [ist], der aus poli-
tischen Gründen alle zustimmen.“ 355 Auch wenn Nussbaum nicht zu unterstellen
ist, dass sie an dieser Stelle antiliberales und antiplurales Gedankengut einführen
möchte, ist dennoch die Tendenz nicht von der Hand zu weisen, dass in dieser
weitreichenden Umgestaltung des Personenbegriffs trotz ihrer erklärtermaßen li-
beralen Grundüberzeugung kommunitaristische Ideale einer harmonischen Ge-
meinschaft eine nicht weiter argumentativ entfaltete Wiederbelebung erfahren.
Mit der Proklamation starker gesellschaftlicher Bande als notwendige Vorausset-
zung für ein Gelingen gegenseitig unterstützter Entwicklung vermeint zwar
Nussbaum die Probleme, die eine sozial ‚kühle‘ und anteilnahmslose liberalisti-
sche Gesellschaft für das Wohlergehen aller Mitglieder aufwirft, auflösen zu kön-
nen 356, allerdings kann sie an dieser Stelle nicht schlüssig zeigen, dass ihr Gegen-
programm tatsächlich so liberal ist, wie sie an anderer Stelle Glauben machen
möchte. 357

354
Ebd.
355
Ebd., S. 223.
356
Die Begründung für diese starken Voraussetzungen erfolgt bei Nussbaum strikt vor ergebnisori-
entiertem Horizont; zwar gibt sie mit Rawls zu, dass es „schwieriger [ist, M. H.], ein hohes Maß
an Wohlwollen und eine Verpflichtung zur Gerechtigkeit in die Grundlagen einer Grundlagen
einer eorie aufzunehmen, als in dieser Frage agnostisch zu bleiben. […] Wenn aber bestimmte
Probleme aufgrund der schwächeren Vorannahmen nicht gelöst werden können, brauchen wir
stärkere Vorannahmen.“ Vgl. ebd., S. 223.
357
In dieser Hinsicht ist auch Nussbaums immer wieder geäußerter Anspruch, ihren Fähigkeitenan-
satz als notwendige Substitution gegen Rawls‘ Grundgütermodell der ‚eorie der Gerechtigkeit‘
auszutauschen, eher kritisch zu lesen. Es ist zuerst einmal nicht einsichtig machen, wie beide
Modelle kompatibel zu machen wären, wenn bereits die Personenkonzeption so unterschiedli-
chen Zielsetzungen gehorcht.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 159

In entwicklungsethischer Hinsicht kann der Fähigkeitenansatz den Geltungs-


ansprüchen der unterschiedlichen Lebenspläne der Gesellschaftsmitglieder nur
dann gerecht werden – besonders, weil er sich ja dezidiert als in globaler Reich-
weite stehend verstanden wissen will –, wenn er diesen pluralen Lebensentwürfen
indifferent gegenübertritt, Entwicklung und Wohlergehen also auch dann garan-
tiert, wenn innerhalb einer ausdifferenzierten Gesellschaft radikal unterschiedli-
che Ideen des Guten von den Bürgern verfolgt werden wollen. 358 Als Entwick-
lungsethik und politische Ethik zugleich müsste der Fähigkeitenansatz dort eine
Verbindung schaffen, die einerseits die Gewährung der bürgerlichen Ansprüche
an Entwicklung zulässt und fördert, aber andererseits diesen Ansprüchen an Ent-
wicklung wohlbegründete Beschränkungen auferlegt, die dann greifen müssen,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

wenn politisch uneinlösbare Maximalforderungen kommunitaristischer Entwick-


lungsleistungen hinsichtlich gegenseitiger Anteilnahme und Unterstützung gegen
das Gebot der Liberalität des Staatswesens verstoßen.
Dieser Problemstellung, die freilich das Ergebnis einer theorieinhärenten und
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

dort fundamentalen Spannung von Rechtem und Gutem ist, will Nussbaum
dadurch entgegen treten, dass sie in der politischen Dimension den Fähigkeiten-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ansatz in der Extensität seiner Geltungsansprüche begrenzt. Dies will sie durch
einen methodologischen Vorentscheid und zweierlei Grenzziehungen garantieren:
(1) auf der metaethischen Ebene durch den bereits angeführten grundlegenden
Verzicht auf inhaltsverbindliche und dichte Beschreibungen eines guten Lebens,
indem Nussbaum also die Fähigkeitenliste als nur dichte vage eorie des Guten
verstanden wissen möchte, und dadurch Platz für eine kultursensible Anpassung
an lokale Traditionen ermöglicht. 359 (2) Auf der Ebene der praktischen politi-
schen Gestaltung, auf der dann beispielsweise die Frage nach der konkreten Aus-

358
Vgl. „Development ethics should forge a cross-cultural consensus in which a political communi-
ty’s own freedom to make development choices is one among a plurality of fundamental norms.
Further, these norms are sufficiently general to permit and also require sensitivity to societal
differences.” Crocker, ‘Development Ethics’, S. 11.
359
Vgl.: „Es ist völlig angemessen, daß verschiedene Staaten hier unter Berücksichtigung ihrer Ge-
schichte und ihrer besonderen Umstände zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, wenn diese
innerhalb bestimmter Grenzen bleiben.“ Die Pluralismuskompatibilität weist Nussbaum in vier
weiteren Argumenten nach: 1) Fähigkeiten und nicht Funktionen sind das Ziel des Fähigkeitenan-
satzes. Das heißt, nicht die tatsächliche von allen Bürgern erworbene Fähigkeit in der Form von
Funktionen ist Zeichen einer gerechten Gesellschaft, sondern vielmehr die Chance, eine Fähig-
keit zu entwickeln, aber nicht, sie etwa, bedingt durch gesellschaftlichen Zwang, ausüben zu müs-
sen (Nussbaum nennt als Beispiel die Amish, die sich nicht politisch betätigen, andererseits ande-
ren frei zugestehen, dies zu tun). 2) Freiheiten und Wahlmöglichkeiten sollen in der Liste aufge-
führt werden, was insbesondere Punkt eins akzentuiert. 3) Die Liste will Nussbaum als Objekt po-
litischer Ziele verstanden wissen, dem die Entwicklung der Fähigkeiten der Menschen obliegen
soll. 4) Für eine vernünftige Unterstützung der Bürger bei der Entwicklung der Fähigkeiten muss
geworben werden – sie kann nicht einfach verlangt werden. Mit Rawls konstatiert Nussbaum, dass
liberale Staaten dann am stärksten für ihre Ziele eintreten, wenn sie unvoreingenommen und oh-
ne paternalistischen Reflex versuchen, es gleichsam als Vorbild für die Welt ihren Bürgern zu er-
möglichen, Fähigkeiten bestmöglich zu entfalten. Für das Zitat: Nussbaum, Die Grenzen der Ge-
rechtigkeit, S. 115f.; für die Zusammenstellung der Argumente: ebd., sowie: Nussbaum, ‚Aristot-
le, Politics, and Human Capabilities‘.
160 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

gestaltung der Gesellschaft in ihren sozialen Grundstrukturen diskutiert wird,


muss Nussbaum durch die Konzeption des Fähigkeitenansatzes hingegen aus
Gründen der Gerechtigkeit garantieren können, dass eine Mindestschwelle an
Entwicklung stattfindet, ebenso wie dort eine Maximalschwelle gefunden werden
muss, ab der – ebenfalls aus Gerechtigkeitsgründen – keine weitere Entwicklung
der Fähigkeiten mehr durch die Bürger eingefordert werden kann.
Die praktische Begründung für diese politisch notwendige Begrenzungen liegt
angesichts des Nussbaum’schen eoriegebäudes auf der Hand: die Minimal-
schwelle markiert den Anspruch der Erfüllung der Menschenrechte, den alle Ge-
sellschaftsmitglieder gegenüber ihren jeweiligen Regierungen haben; er steht für
die Minimalanforderungen an gerechter und gleicher Behandlung, den alle Bür-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ger weltweit als Menschen haben. Die Maximalschwelle begründet sich, wiederum
in praktischer Hinsicht, aus den Forderungen, die der liberale Pluralismus der Le-
benspläne für eine Beschränkung der Entwicklungsförderung stellt. Ansonsten
könnte es zu einer staatlich gewollten perfektionistischen Überforderung der Bür-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ger bei der Entwicklung ihrer Fähigkeiten kommen, oder im umgekehrten Fall:
die Ansprüche der Bürger könnten zu einer Überdehnung der Staatshaushalte
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

führen, wenn auf die Förderung immer speziellerer Fähigkeiten Wert gelegt wird.
Die Maximalschwelle der Entwicklungsförderung muss in der politischen Di-
mension also letztlich so angelegt sein, dass allen Bürgern die Fähigkeit zu einem
guten Leben ermöglicht wird, ohne die Vagheit des Guten durch einen staatliche
verordneten Perfektionismus im praktischen Verfügen-können über konkrete Tä-
tigkeiten (functionings) überzustrapazieren.

C.3.d.1 Die normative Festlegung der Schwellenwerte – Menschenwürde und


Gutes Leben
Während die praktischen Begründungen der beiden Schwellenwerte in ihrer je-
weils dezidiert politischen Dimension unter pragmatischen Erwägungen nach-
vollziehbar sind, erscheint die Möglichkeit einer theoretischen Begründung der
beiden Schwellenwerte ungleich schwieriger. Nussbaum muss es nämlich gelin-
gen, ihre evaluative Deutung der Natur des Menschen als Fundament der Fähig-
keiten so normativ zu rechtfertigen, dass sich daraus eine tatsächlich benennbare
Mindestschwelle menschlichen Gedeihens und Wohlergehens ableiten lässt, die
anschließend in der politischen Domäne unbedingte Geltung erlangen kann. Die-
se normative Rechtfertigung der Mindestschwelle meint Nussbaum nun durch die
menschliche Würde herleiten zu können. Entsprechend geht sie in ihrem Ansatz da-
von aus, dass das institutionelle Versagen in der Bereitstellung der Mittel zur Er-
langung der Minimalschwelle von Fähigkeiten als Verletzung der menschlichen
Würde anzusehen ist. Der Staat, dem die Hege des Gemeinwohls unterliegt,
muss nämlich garantieren können, dass die Menschenrechte in seinem Verfü-
gungsbereich unbedingt geachtet werden; sofern er diesem Anspruch nicht nach-
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 161

kommen kann, macht er sich einer Verletzung der eigenen legitimatorischen


Grundlagen schuldig.
Nussbaums Konzeption der menschlichen Würde unterscheidet sich allerdings
in wesentlichen Punkten von der üblichen Begriffssemantik der Menschenwürde,
wie sich noch an späterer Stelle zeigen wird. Deshalb muss nun in einem ersten
Schritt aufgearbeitet werden, inwiefern die menschliche Würde überhaupt als tra-
gende Säule des Nussbaum’schen eoriegebäudes bestimmt wird. Schon zu Be-
ginn stellt Nussbaum deutlich heraus, dass ihre Würdekonzeption eine „wesentli-
che Abweichung vom Kontraktualismus“ darstellt, unter anderem deshalb, weil
sie sich mit dem Fähigkeitenansatz dezidiert vom „kantianischen Begriff der Per-
son“ 360 absetzen möchte – in welcher Hinsicht wurde bereits im vorangegangenen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Abschnitt gezeigt. Auch ihre Konzeption der menschlichen Würde ist entspre-
chend jener ersten Abgrenzung in substantieller Weise nichtkantianisch. Dieser
Schritt folgt einer theorieinternen Logik, die sich zwangsweise aus dem bei Nuss-
baum wesentlich erweiterten Verständnis der Person ergeben muss: im Gegensatz
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

zu Kant, der das ‚Menschliche des Menschen‘ gattungsethisch in dessen morali-


scher und prudentieller Vernunft begründet sieht und den Menschen als Person
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

angesichts dieser Vernunftfähigkeit als ‚Zweck an sich‘ vom Tier abgrenzt, beruft
sich Nussbaum auf die mindestens gleichartige Bedürftigkeit von Mensch und
Tier und folgert daraus, dass „für den Fähigkeitenansatz […] Vernunft und Ani-
malität eine integrierte Einheit“ 361 bei der Würdezuschreibung bilden müssen.
Durch das Eigenrecht der animalische Bedürftigkeit des Menschen vermag allein
Vernünftigkeit an sich deswegen nicht die natürliche Qualitätsstufe zu bestim-
men, die den Menschen a priori in einen Status der Würde transzendiert. Im Fä-
higkeitenansatz stellt nun deshalb „das Vernünftige einfach einen Aspekt des
menschlichen Tieres dar, und sicher nicht den einzigen, der für die Idee echter
menschlicher Tätigkeit relevant ist“ 362. Entsprechend ist die Würde, die Nuss-
baum in kantianischen Ansätzen ontologisch allein auf die Vernunft bezogen
sieht, keine ausschließlich und in unbedingter Weise nur dem Menschen zu-
kommende Eigenschaft, weil der „Fähigkeitenansatz in der Welt zahlreiche ver-
schiedene Arten der tierischen Würde“ zu entdecken vermag, „die alle Respekt
und sogar Ehrfurcht verdienen“ 363.
Dass die menschliche Würde sich auch durch den Gebrauch der Vernunft be-
stimmt, bestreitet Nussbaum dabei nicht, aber sie möchte diese menschliche Fä-
higkeit weder ontologisch idealisiert, noch als der Animalität des Tieres entge-
gengesetzt aufgefasst wissen. Auch durch den Gebrauch der Vernunft gesteht
Nussbaum dem Menschen deshalb keine Sonderstellung zu, denn „es handelt
sich einfach um die ganz gewöhnliche Fähigkeit des praktischen Nachdenkens,
die eine Möglichkeit des Tätigseins von Tieren darstellt“ 364, unter zahlreichen an-
360
Beide Zitate: Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 223.
361
Ebd.
362
Ebd., S. 224.
363
Ebd.
364
Ebd.
162 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

deren, wie sich an dieser Stelle sinngemäß ergänzen lässt. ‚Menschenwürde‘ be-
zeichnet bei Nussbaum deswegen nicht einen inhärenten ontologischen Status,
wie es die klassische kantianische Tradition nahelegt, sondern ist von ihrer be-
grifflichen Genese her ein je innergesellschaftlich konstruierter Begriff, der seine
konkrete Gültigkeit in sozialen Anerkennungsgeschehnissen, intersubjektiven
Rechtfertigungsprozessen und gesellschaftlichen Diskursen erlangt.
Indem durch Nussbaum einerseits das Primat der Vernunft für die Wesensbe-
schreibung des Menschen problematisiert, und andererseits die Zeitlichkeit, Vul-
nerabilität und Bedürftigkeit (siehe dazu den vorangegangenen Abschnitt) des
menschlichen Daseins in all seinen Facettierungen stark betont wird, ist im Fä-
higkeitenansatz also eine Dimension menschlicher Würde eröffnet, die den eigen-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

tümlichen Wert des Menschen auf der Basis seiner biologischen und geistigen
Verfasstheit relativiert, neu bestimmt und infolgedessen eine fundamentale Um-
wertung des in der kantianischen Tradition vorherrschenden Menschenbildes
vornimmt. Nicht wegen der menschlichen Vernunftfähigkeit zum richtigen mo-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ralischen Verhalten ist anderen Menschen Achtung entgegenzubringen, sondern


deshalb, weil diese Achtung eine Forderung der Empathie ist, die zwischen allen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Menschen auf lokaler wie globaler Ebene herrschen muss. Diese umfassende An-
teilnahme am Leben besteht allerdings nicht voraussetzungslos, sondern bedarf
einer liberalen und ‚progressiven‘ staatlichen Erziehung 365, wie Nussbaum an-
führt, damit von allen Bürgern die gemeinschaftsbildende Einsicht geteilt werden
kann, dass in „der Würde unserer menschlichen Bedürftigkeit selbst […] ein An-
spruch auf Unterstützung begründet“ 366 ist. Dieser pädagogische Anspruch ist al-
lein deswegen von Nöten, weil in einer liberalen und pluralen Gegenwart der
Sinn des Gemeinwohls als zentraler politischer Wert des Fähigkeitenansatz immer
wieder neu erlernt werden muss, seine ursprüngliche Texturierung durch die Be-
griffe der Tradition und Solidarität sowie durch die Illusion nationalstaatlicher
Homogenität nicht mehr den orientierenden Sinnhorizont für die Bürger bieten
kann, wie dies für Prämoderne und Moderne anzunehmen ist.

365
Das pädagogische Programm Nussbaums steht wiederum in Aristotelischer Tradition, von wel-
cher sie den umfassenden Anspruch, der an Erziehung gestellt werden kann, übernimmt. Ein
wichtiger Einfluss ist außerdem John Deweys Democracy and Education, das die Wichtigkeit der
Erziehung demokratisch-liberaler Werte und die Ausbildung kritischen Denkens einfordert.
Nussbaum stellt diesem Anspruch gemäß ihr Erziehungsprogramm auf drei Säulen, die zusam-
men das angemessene Verhalten der Bürger gegeneinander und gegenüber dem Staat garantieren
sollen: (1) die Fähigkeit zur Selbstkritik und zum kritischem Denken gegenüber der eigenen Traditi-
on, denn eine liberale Demokratie benötigt Bürger, die autonome Entscheidungen zu treffen in
der Lage sind, (2) die Fähigkeit, sich selbst als Mitglied einer heterogenen Nation und Welt zu sehen,
denn erst der Kontakt mit anderen kulturellen Kontexten wird deutlich machen können, was am
eigenen Verhalten fremdbestimmten Sozialverhalten gehorcht, und (3) die Fähigkeit, sich in das
Leben anderer Menschen empathisch hinzuversetzen, denn nur so wird es möglich sein, die Gefühle,
Wünsche und Ziele anderer Menschen nachzuvollziehen und zu respektieren. Vgl. Nussbaum,
‚Cultivating Humanity and World Citizenship’, S. 38f, erhältlich unter: <http://net.educause.
edu/ir/library/pdf/ff0709s.pdf>, letzter Zugriff am 12.08.2011.
366
Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 225.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 163

Vor diesem menschenbildlichen Horizont nun expliziert Nussbaum die Ver-


knüpfung ihrer (dichten, vagen) eorie des Guten mit ihrer aristotelisch abgelei-
teten Neubestimmung der menschlichen Würde; die Fähigkeiten sind nicht des-
halb als inhärent wertvoll zu bestimmen, weil sie zur Natur des Menschen we-
sensmäßig gehören, sondern als wertvoll, weil ihre Entwicklung als Möglichkei-
ten 367 zum Führen eines menschenwürdigen Lebens – „in den verschiedenen Le-
bensbereichen, mit denen es Menschen typischerweise zu tun haben“ 368 – ver-
standen werden muss. 369 Die Menschenwürde als philosophisch-politische onto-
logische Statusaussage über die Natur des Menschen hat in dieser Hinsicht für
Nussbaum keine praktische Relevanz, weil der Begriff der Menschenwürde in-
nerhalb ihrer eorie kein externes freistehendes normatives Element ist, dessen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Inhalt als mit begründeten Wahrheitsansprüchen selbst-evident und unumstöß-


lich aufzufassen wäre. Nussbaum will die menschliche Würde zwar auch als nor-
matives Element ihres Fähigkeitenansatzes verstanden wissen, aber so, dass „all of
its notions are seen as interconnected, deriving illuminations and clarity from
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

another.“ 370 ‚Normativ‘ ist die Menschenwürde deshalb bei Nussbaum nur in der
Hinsicht, dass für ihr Verständnis eine gemeinsam geteilte Verständigung über
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

die zentralen Fähigkeiten (auch hypothetisch) als vorliegend angenommen wird,


die praktischen Überlegungen zum Wissen, dass Menschen ein Leben leben müs-
sen, aufruht. Allein im Zusammenhang mit der Entfaltung eines konkreten Le-
bens in einer spezifischen Gemeinschaft wird die menschliche Würde entspre-
chend normativ wirksam werden, indem sie dann die Mindestanforderungen an
ein menschenwürdiges Leben politisch auszuformulieren hilft.
Diese Konzeption macht letztlich auch das Nussbaum’sche Verwerfen der
Menschenwürde als ontologische Statusbeschreibung notwendig: außerhalb der
Kontextualisierung durch das konkrete menschliche Dasein in seiner Bedürftig-
keit besitzt die Menschenwürde für sie keinen eigentümlichen Sinn, da diese ja
von vornherein als Synthese aus institutionell garantiertem Lebensvollzug mit der
– ebenso politisch garantierten – Möglichkeit, die eigenen Fähigkeiten zu entwi-
ckeln, gedacht ist. Nur in diesem Rahmen vermag die Menschenwürde als nor-
mativer Begriffscontainer über das Wissen um die Fähigkeiten des Menschen Be-
deutung zu erlangen, und ausschließlich in diesem Rahmen pragmatisch gewon-
nener Normativität erlangt der explizite menschenrechtliche Bezug des Fähigkei-
tenansatzes seine Geltung. Zu dieser Konzeption muss Nussbaum aus verschiede-

367
Hier scheint sich Nussbaum über die verwendete Begrifflichkeit nicht ganz im Klaren zu sein.
Während sie auf Seite 226 der ‚Grenzen der Gerechtigkeit‘ von eben den nicht zielgerichteten
Möglichkeiten spricht, ein Leben in Würde zu führen, verwendet sie auf Seite 225 die zielgerichte-
ten Mittel. Der Unterschied kommt insofern zum Tragen, als Nussbaum auf Seite 226 den in-
strumentellen Charakter des Mittels explizit ausschließt. Vgl. ebd.
368
Ebd., S. 226.
369
Vgl. „So we need a picture of human dignity that makes room for different levels of capability
and functioning and that also makes room for unfolding and development.” Nussbaum, ‘Human
Dignity and Political Entitlements‘, erhältlich unter: <http://bioethics.georgetown.edu/pcbe/
reports/human_dignity/chapter14.html>, letzter Zugriff am 12.08.2011.
370
Vgl. Nussbaum, Creating Capabilities, S. 29f.
164 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

nen, bereits mehrfach genannten Gründen kommen: da ihr Ansatz von vornhe-
rein durch die evaluative Eingrenzung der Fähigkeiten vom Standpunkt des in-
ternen Realismus aus geprägt ist, muss sie sich der Aufnahme von eoriebau-
steinen verweigern, die letztlich mindestens die Gefahr der Einschleppung meta-
physischer Vorannahmen und Überzeugungen mit sich bringen. Ansonsten wäre
die Wahrscheinlichkeit groß, dass weite Teile der Gesellschaft der Entwicklung
eines bestimmten Sets an Fähigkeiten nicht zustimmen könnten, weil deren Aus-
formulierung als von unerwünschten metaphysischen Überzeugungen ausgehend
aufgefasst werden könnte.
Mit der praktisch-politischen Begründung der menschlichen Würde verfolgt
Nussbaum entsprechend dieser Problemstellung also zusammengefasst zwei Stra-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

tegien. Zum einen will sie die menschliche Würde als ‚freistehende ethische Idee‘
konzipieren, die ohne Rückgriff auf metaphysische oder epistemologische Lehren
(etwa der Existenz oder Nichtexistenz der Seele oder der religiösen Offenbarung)
auskommt, weil sie ansonsten die Bürger entlang der Trennungslinie zwischen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

den religiösen und umfassenden ethischen Lehren entzweien würde. In dieser


Hinsicht geht es also, ähnlich wie bei der Ausformulierung der Fähigkeitenliste,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

in der theorieinternen Stellung der menschlichen Würde um eine Maximierung


der pluralistischen Kompatibilität.
Der zweite Punkt hängt mit der Herstellung dieser Kompatibilität eng zu-
sammen: die Bürger werden sich viel schneller auf einen (hypothetischen oder
praktischen 371) Konsens über den Umfang und den Geltungsbereich der Schwel-
lenwerte einigen können, wenn sie ihre Interessen trotz gegenläufig entworfener
Lebenspläne gewahrt sehen. 372 Die freistehende moraltheoretische Konzeption des
Fähigkeitenansatzes kann sich damit gar nicht durch einen Rekurs auf ein onto-
logisches Konzept der Menschenwürde herleiten lassen – das würde diesen Ver-
such ja gerade unterminieren – sondern die Menschenwürde wird erst durch die
evaluative Bestimmung der Fähigkeiten als normatives Kriterium konstruiert, das
dann in der Rückspiegelung auf die Fähigkeiten als expliziter politischer Bedeu-
tungscontainer instrumentalisiert wird. In dieser Funktion dient die Menschen-
würde im Fähigkeitenansatz als aktiv durch die Gesellschaft herzustellendes norma-
tives Kriterium für das Wohlergehen, nämlich für „polity choices that protect and
support agency, rather than choices that infantilize people and treat them as pas-
sive recipients of benefit.” 373

371
Nussbaum lässt diese Frage hier offen, geht aber offenbar, wie sich auf Seite 228 der ‚Grenzen der
Gerechtigkeit‘ zeigt, von beiden Fällen aus: einmal einem hypothetischen advokatorisch durchge-
führten Diskurs über die Mindestschwelle, aber auch einem praktischen Konsens, den sie „in
Übereinstimmung mit den Verfassern der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte […] über
Traditions- und Religionsgrenzen“ hinweg als realistisch ansieht. Vgl. Nussbaum, Die Grenzen
der Gerechtigkeit.
372
Vgl. ebd., S. 228.
373
Vgl. Nussbaum, Creating Capabilities, S. 30.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 165

Für die Bestimmung des ersten Schwellenwertes, der die „Minimalbedingung


eines menschenwürdigen Lebens“ 374 markiert, gelten seitens Nussbaum deshalb
zwei Vorannahmen, die sich aus der theorieinternen Verbindung des Rechten mit
dem Guten im Fähigkeitenansatzes ergeben, und die von der kritischen Warte
der Menschenwürde aus ihren Sinngehalt erhalten. Durch die Menschenwürde
werden nun zwei Anspruchsrechte der Bürgerinnen und Bürger garantierbar,
nämlich dass die Entwicklung ihrer Fähigkeiten gleichbedeutend und gegeneinan-
der unverrechenbar geschieht. Das muss theorieinhärent so sein, denn schließlich
werden in die Liste nur diejenigen Fähigkeiten aufgenommen werden können,
ohne die man sich im Prozess der Evaluation nicht vorstellen könnte, es noch mit
einem menschlichen Wesen zu tun zu haben, das seine eigene Idee des Guten
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

verfolgen möchte. 375 Entsprechend wird für den ersten Schwellenwert für jede
Fähigkeit individuell bestimmt werden müssen, ab welchem Punkt der Entwick-
lungshöhe ein menschenwürdiges Leben erreicht werden kann; weil der Fähigkei-
tenansatz außerdem davon ausgeht, dass unterschiedliche Menschen unterschied-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

liche Bedürfnisse haben werden, muss Nussbaum außerdem in grundsätzlicher


Weise zugestehen, dass innerhalb des Fähigkeitenansatzes die Minimalbedingun-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gen eines würdevollen Lebens nur „allgemein und annäherungsweise“ 376 bestimmt
werden können, „weil das angemessene Minimum einer Fähigkeit von unter-
schiedlichen Gesellschaften innerhalb bestimmter Grenzen unter Berücksichti-
gung ihrer Geschichte und ihrer spezifischen Umstände unterschiedlich festge-
setzt werden kann.“ 377 Allerdings kann diese Modifikationsmöglichkeit nicht allzu
weit gehen; die ‚bestimmten Grenzen‘, die Nussbaum hier gewahrt sehen möchte,
sind immer durch die potenzielle Fähigkeit des einzelnen Menschen begrenzt, ein
würdevolles Leben zu führen.

C.3.d.2 Minimale Lebensqualität = menschenwürdiges Leben + Fähigkeiten?


Der Fähigkeitenansatz ist schon in seiner theorieinternen Verknüpfung des Rech-
ten mit dem Guten ein ambitioniertes Projekt. Weil er aber als Gerechtigkeits-
theorie mit dieser Verknüpfung besonders hinsichtlich der Bestimmung und
Entwicklung des gesellschaftlichen Ranges des Einzelnen weitreichende Folgen
für das konkrete Leben der Menschen haben wird, muss sein eoriefundament
so konstruiert sein, dass seine gesellschaftlichen Auswirkungen von allen Men-
schen akzeptiert werden können. Gerade in dieser Dimension wird der Fähigkei-
tenansatz allerdings für den umfassenden Intuitionismus kritisiert, der seinen un-

374
Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 232.
375
Sen macht besonders deutlich, dass die Inkommensurabilität der unterschiedlichen Fähigkeiten
als Vorteil zu verstehen ist, weil dadurch die Komplexität des menschlichen Daseins eine ange-
messene Würdigung erfährt. Vgl. Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, S. 266-269.
376
Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 250.
377
Ebd.
166 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

terschiedlichen eoriebausteinen zugrunde liegt. 378 Vorbehaltlich der Zustim-


mung zu diesem Vorwurf ließen sich zwei Einsprüche – prominent tut dies Rawls
– gegen die Methodologie des Fähigkeitenansatz argumentieren: zum einen, dass
die prozesshafte Konstruktion der politischen Grundprinzipien, namentlich der
Fähigkeitenliste in ihrer engen Verbindung mit der Menschenwürde als kritischer
Reflexionsfläche, in unlauterem Maß auf freistehenden Intuitionen (besonders im
von Nussbaum vertretenen evaluativen Ansatz zur Bestimmung der Fähigkeiten)
beruhen würde, und zum anderen, dass durch die enorme Bedeutung der Intuiti-
on bei der Abwägung der Fähigkeiten „endgültige und eindeutig bestimmte Prin-
zipien“ 379 zur Festlegung verlässlicher und dauerhafter Grundsätze der Gerechtig-
keit theorieinhärent ausgeschlossen würden.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Nussbaum versucht, diese Einwände auf ein fehlendes Verständnis für den er-
gebnisorientierten Charakter ihres Ansatzes zurückzuführen, der ihrer Ansicht
nach die Genese seiner normativen Überzeugungen zumindest offenlegen würde,
während sie im Gegenzug Rawls vorwirft, dass freilich auch dieser starke intuitive
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

und theorieprägende Prämissen habe – etwa zur Unverletzbarkeit der menschli-


chen Person als grundlegende Achtung vor der Menschenwürde – aber „zwischen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

diesen grundlegenden Intuitionen und dem letztendlichen Ergebnis so viele


Schritte liegen, daß leicht übersehen werden kann, wie stark diese Intuitionen die
gesamte Argumentation prägen.“ 380 In gewisser Weise spiegeln diese gegenseitigen
Vorwürfe den grundlegenden Unterschied zwischen prozedural-prinzipienorien-
tierten und ergebnisorientierten Gerechtigkeitstheorien wieder; wird erstere von
starken normativen Prämissen und komplizierten Vorenscheidungsüberlegungen
ausgehen müssen, um zum erwünschten Ergebnis zu kommen, wird letztere auf
jene starken Prämissen inhärent verzichten, um vom angestrebten Ziele her, näm-
lich einer Maximierung der jeweils möglichen Gerechtigkeit pragmatisch ent-
scheiden zu können. Nussbaum kritisiert dementsprechend an den Vertretern der
prozeduralen Gerechtigkeitstheorien, dass sie das Pferd von hinten aufzäumten;
denn selbst das eleganteste Verfahren zur Begründung einer gerechten Gesell-
schaft wäre dann abzulehnen, wenn es „nicht zu einem mit unseren Intuitionen
über Würde und Fairneß übereinstimmenden Ergebnis führt.“ 381
Auch wenn man zugesteht, dass das Intuitionismusargument tatsächlich gene-
rell eorietypen betreffen muss, die einen moralischen Realismus vertreten 382, al-
so auch kontraktualistische Modelle im Sinne Rawls, dann ist dennoch zu hinter-
fragen, ob nicht eine prinzipiengeleitete Gerechtigkeitstheorie dann ihre unbe-
streitbaren Vorteile hat, wenn es um die unbedingte Beachtung der festgelegten
normativen Ankerpunkte einer eorie geht. Denn es ist zwar methodisch nach-

378
Prominent ist hier Rawls zu nennen, der im Abschnitt 7 seiner eorie der Gerechtigkeit auf den
Intuitionismus eingeht. Rawls, Eine eorie der Gerechtigkeit, S. 52-60.
379
Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 242.
380
Ebd., S. 243.
381
Ebd., S. 121. Siehe dort auch die folgenden Seiten für eine Fortsetzung dieser Diskussion.
382
Vgl. Halbig, ‘Die Realität der Moral‘,, erhältlich unter: <http://www.informationphilosophie
.de/?a=1&t=938&n=2&y=1&c=1&o=5>, letzter Zugriff am 22.08.2011.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 167

vollziehbar, dass Nussbaum aus Gründen der Pluralismuskompatibilität großen


Wert auf eine nicht-metaphysische Begründung der einzelnen eoriebausteine
bei der Bestimmung ihrer Fähigkeitenliste legt; andererseits wird man nicht um-
hin kommen, Nussbaum dann große Probleme bei ihrer eorie zu bescheinigen,
wenn es um einen Erweis des von ihr stark gemachten normativen Anspruchs der
Menschenwürde als kritischer Reflexionsfläche des Fähigkeitenansatzes geht, und
dort besonders, wo es den Ansatzpunkt und die Reichweite dieses Anspruchs be-
trifft. Denn Nussbaum konzipiert ihren Fähigkeitenansatz moraltheoretisch ei-
nerseits als freistehende eorie, die auf der Natur des Menschen als subjektiv –
und nicht objektiv! – eingefärbtem Informationsgeber aufruht, muss dadurch
aber andererseits in Kauf nehmen, dass sie insbesondere durch diese – für sie frei-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

lich notwendige Entscheidung – das normative Fundament ihres Ansatzes nicht


in dem Maße als Ergebnis von Prinzipien begründen kann, dass er dem von ihr
geäußerten Universalisierungsversprechen in den Fähigkeiten als angemessen kri-
tische Reflexionsfläche gegenübergestellt werden kann.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Die menschliche Würde als dezidiert nicht-kantianische Spezieswürde unter


gleichwertigen anderen Spezieswürden wird von Nussbaum letztlich als Ergebnis
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

der aus dem Fähigkeitenansatz geronnenen Intuitionen über ein gutes menschli-
ches Leben expliziert und dadurch zu unspezifisch bestimmt, als dass sie als eigen-
ständiges normatives Binnenkonzept dem Fähigkeitenansatz gegenübergestellt
werden könnte. In der vorliegenden Form erklärt sich die Menschenwürde in ih-
rer konkreten Begrifflichkeit allein aus dem engen Zusammenhang mit dem Fä-
higkeitenansatz, der aber ausschließlich in einer politisch-sozialen Dimension,
nicht aber in der individuellen Dimension, deutlich machen kann, woraus denn
die menschliche Würde ihre inhaltliche Bestimmung findet. Außerhalb dieses von
gesellschaftlicher Deliberation bestimmten Raumes muss der Begriff der Menschen-
würde von Nussbaum als letztlich inhaltsleer bestimmt werden.
Allerdings ist fraglich, ob diese alleinige Bestimmung der Menschenwürde in
Relation zu den Fähigkeiten nicht ohne Not substantielle andere Inhalte der
Menschenwürde aufgibt, die als wichtig zu erachten sind. Denn da Nussbaum die
Natur des Menschen als Fundament des Fähigkeitenansatzes braucht, wird es ihr
wegen des eigenen Anspruchs der Pluralismuskompatibilität, den sie mit der Me-
thode des internen Realismus zu begründen vermeint, nicht in toto gelingen, eine
objektive Bestimmung aller wesensnatürlichen Prämissen zu einem guten Leben
in den Fähigkeiten zu synthetisieren, und diese anschließend als universal ge-
rechtfertigt in Geltung zu setzen. 383 Demgemäß besteht hinsichtlich der Men-
schenwürde als kritischer Reflexionsfläche des Fähigkeitenansatzes die Gefahr,
dass nicht alle Entwicklungshemmnisse als für die Menschenwürde gefährlich
aufgedeckt werden können, etwa wenn sie – wie weiter vorne bereits dargelegt
wurde – beispielsweise keine Entsprechungen in den evaluativ bestimmbaren Fä-
higkeiten finden. Der von Nussbaum proklamierte Anspruch, die wichtigsten na-
türlichen Fähigkeiten des Menschen als fundamentales Gesamt seines Daseins be-
383
Vgl. Pauer-Studer, ‚Einleitung‘, S. 12ff.
168 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

stimmen zu können, kann deshalb mithin an seiner eigenen Zielsetzung, nämlich


alle Verletzungen der Menschenwürde als Gerechtigkeitsproblem zu identifizie-
ren, scheitern. 384
Der Fähigkeitenansatz als vom Ergebnis her denkendes ethisches Projekt leidet
in dieser Hinsicht unter einem methodologischen Dilemma: er entstammt zwar ei-
ner Traditionslinie, die die Natur des Menschen als Summe klar bestimmbarer
Eigenschaften objektiviert, aber er muss sich jener Normativität aus rechtsethi-
schen Gründen, nämlich der Aufrechterhaltung der Autonomie des Einzelnen
entziehen. Deshalb benötigt er eine kritische Reflexionsstufe, die die in der Natur
des Menschen kontingent, nur andeutungsweise und nie vollständig erkennbaren
Eigenschaften und Fähigkeiten konkretisiert und politisch nutzbar macht. Aber
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

diese Reflexionsstufe, nämlich die Menschenwürde, gehorcht notwendigerweise


den gleichen moraltheoretischen Vorbestimmungen wie die Gesamttheorie (bzw.
ist die Reflexionsstufe der Menschenwürde in der eorie Nussbaums in existen-
tieller Weise von der Bestimmung der Fähigkeiten in praktisch-politischer Weise
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

abhängig) und ist dadurch mit ihrer Aufgabenstellung als normativer Anker stark
funktional eingeschränkt.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Die gezeigte Spannung von Fähigkeitenansatz und der Menschenwürde ent-


steht mit diesen methodischen Einwänden also letztlich daraus, dass im prozess-
orientierten Ansatz Nussbaums im Gegensatz zum Kontraktualismus Rawls‘ „die
Ansprüche [der Bürger gegenüber ihrem Staat, M. H.] nicht als aus Ideen der
Würde und der Achtung abgeleitet verstanden werden, sondern als Vorschläge
zur Konkretisierung dieser Ideen.“ 385 Als bloßer ‚Vorschlag’ wird die Liste der Fä-
higkeiten aber nicht genügen können, die Sollgeltung der Menschenwürde zu ga-
rantieren, noch weniger, wenn theorieinhärent bedeutende Aspekte des Schutzes
der Menschenwürde vielleicht gar nicht in den Blick der politischen Entschei-
dungsträger kommen können, oder umgekehrt eine zu extensiv gefasste Liste zu
verwirklichender Fähigkeiten die gesellschaftspolitischen Entscheidungsträger
und die institutionellen staatlichen Strukturen durch zu viele an sie gerichtete
Ansprüche überfordert. 386

384
Nussbaum beschäftigt sich in ihren Werken erstaunlicherweise nicht ausführlich mit den Einflüs-
sen der Sprache, die ja in gewisser Weise das menschliche Erleben umfangreich filtert und seman-
tisch konfiguriert. Es ist mit diesem Befund aber doch wohl auch davon auszugehen, dass dem-
entsprechend auch die Liste der Fähigkeiten von semantischen Mustern und sozialen Vorprägun-
gen gezeichnet ist.
385
Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 243.
386
Dieses Problem des Nussbaum‘schen Würdebegriffs arbeitet in einer ähnlichen Auseinanderset-
zung auch Sabine Jentsch heraus. In ihrer Analyse zeigt sie, dass Nussbaum an einem inklusiven
Würdeverständnis interessiert ist und sich also deshalb nicht auf ein metaphysisches Verständnis
der Würde einlassen kann, weil „jedes nicht-metaphysische Vermögen, das wir zur Grundlage für
eine Zuschreibung diskursiven Respekts und möglicher Rechtsträgerschaft machen, aktuell mehr
oder weniger oder aber überhaupt nicht gegeben sein könne. Jede Anspruchstheorie, die sich auf
eine solche Eigenschaft oder ein solches Vermögen stützt, sei nur unter der Annahme hinrei-
chender Ähnlichkeit zwischen den Menschen nicht exklusiv. Da diese Ähnlichkeit aber empirisch
nicht gegeben ist, wären diejenigen menschlichen Individuen, die das betreffende Vermögen
nicht besitzen, von diskursivem Respekt und möglicher Rechtsträgerschaft ausgenommen, was
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 169

Weiterhin wird im Rahmen der ergebnisorientierten Ethik des Fähigkeitenan-


satzes die menschliche Würde, die ja aus der evaluativen Abwägung und an-
schließenden Bestimmung der zentralen menschlichen Fähigkeiten innerhalb
konkreter Gesellschaften ihren normativen Charakter erhält, in einer dezidiert
prozesshaften Perspektive bestimmt. 387 Sie wird erst dann als existent angenommen
werden können, wenn mindestens die grundlegenden Fähigkeiten durch den
Staat und die Gesellschaft für das Individuum im Rahmen des ersten Schwellen-
wertes eingelöst sind. Ein universal gesetztes Prinzip der Menschenwürde scheint
damit aber abseits von lokalgesellschaftlich vereinbarten Sondernormen nicht an-
zielbar: Nussbaum selbst gesteht ja unterschiedliche lokale Inhaltsverschiebungen
– zugegebenermaßen innerhalb der ‚bestimmten Grenzen‘, von denen Nussbaum
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

spricht – der Fähigkeiten und damit zusammenhängend der menschlichen Wür-


de zu. Angreifbar wird dieser Standpunkt dann jedoch deshalb, weil nicht klar
wird, wie die Fähigkeiten „ein menschliches Leben nicht bloß als >humanes<
qualifizier[en], sondern darüber hinaus auch den substantiellen Gehalt von un-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

veräußerlichen Rechten“ 388 definieren sollen. eorieintern ist dies für Nussbaum
selbstverständlich kein Problem, weil sie ja von einer explizit aristotelischen und
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gerade nicht kantianischen Idee der Würde ausgeht, also die gesellschaftspoliti-
sche Wirklichkeit, in der der Mensch lebt, als gleichursprünglich und auf starke
Weise verbunden mit dem Set fundamentalethischen Wissens um die Existenz-
bedürfnisse und die Entwicklungsfähigkeiten einer Person ansieht. Sofern aber
diese und keine andere Liste der Fähigkeiten die Natur des Menschen und seine
daraus folgende Stellung in der Welt mit seinesgleichen rechtsethisch begründen
soll, muss Nussbaum ein objektives Kriterium angeben können, das genau diese
Liste in verbindliche Geltung setzt. Die menschliche Würde kann diese Aufgabe
im Fähigkeitenansatz Nussbaums jedoch nicht leisten, wie in diesem Abschnitt
gezeigt werden konnte.

das Gebot umfassender Inklusion verletzt.“ Wie Jentsch zeigen kann, kann aber auch Nussbaums
eigene Konzeption der menschlichen Würde dem Inklusionsgebot nicht genügen: weil das Wohl-
ergehenskonzept, das ihrem Würdebegriff Substanz verleiht, eine Unterscheidung zwischen den
„akzidentellen Bedürfnissen und Fähigkeiten“ voraussetzt, auch wenn „diese Unterscheidung
nach Nussbaum immer nur ein Produkt menschlicher Reflexion auf sich selbst sein kann. Das
Inklusionsgebot bleibt nun deshalb dem Nussbaum‘schen Würdebegriff äußerlich, weil „erstens
jede alternative ‚freistehende‘ Konzeption menschlichen Wohlergehens ebenfalls eine Unterschei-
dung zwischen essentiellen und akzidentellen Bedürfnissen und Fähigkeiten voraussetzen muss;
dass auch diese Wohlergehenskonzeption daher zweitens nur unter der Annahme hinreichender
Ähnlichkeit zwischen den Menschen nicht exklusiv ist; und dass sie drittens eine Erweiterung des
Anspruchskatalogs nicht intern begründen kann, sondern eine normative Orientierung zweiter
Stufe benötigt, die uns sagt, wann und warum wir mit guten Gründen von der weniger inklusi-
ven zu einer umfassenderen Konzeption menschlichen Wohlergehens übergehen müssen und
wann nicht. Rawls’ und Nussbaums eorien sozialer Gerechtigkeit verbindet, dass ihnen eine
solche normative Orientierung höherer Ordnung fehlt.“ Alle Zitate vgl. Jentsch, ‚Perfektionismus
und soziale Gerechtigkeit‘, S. 793f.
387
Eine ähnliche Position vertritt Franz Josef Wetz, der mit seinem Ansatz im Unterpunkt C.2.d des
fünften Kapitels noch näher vorgestellt werden wird.
388
Hübenthal, Grundlegung der christlichen Sozialethik, S. 303.
170 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

Ein weiteres Problemfeld eröffnet der zweite Schwellenwert, den Nussbaum als
den Schwellenwert bezeichnet, ab dem ein ‚Gutes Leben‘ möglich ist, und mit
dessen Erreichen keine besondere Unterstützung bei der Entwicklung der Fähig-
keiten durch den Staat mehr notwendig sein soll. Insbesondere omas Pogge,
aber auch Christoph Hübenthal kritisieren am strukturellen Aufbau dieses zwei-
ten Schwellenwerts den ‚Sufficientarianism‘, den Nussbaum hier in ihren Ansatz
einführt, und der letztlich einen methodischen Bruch zum ersten Schwellenwert
darstellt. 389 In der Sichtweise Nussbaums ist die auf Gerechtigkeit hingeordnete
Güterdistribution innerhalb eines Staatswesens durch den Fähigkeitenansatz
dann als prinzipiell am Egalitarismus orientiert auszuweisen, wenn es durch diese
Distribution allen Menschen gleichermaßen ermöglicht wird, über den ersten
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Schwellenwert zu gelangen. Im Gegensatz dazu impliziert jedoch der zweite


Schwellenwert eine Hinwendung zum Non-Egalitarismus, wenden Pogge und
Hübenthal ein, weil er nicht auf die Gleichverteilung der Güter Wert legt, son-
dern „lediglich auf die jeweils ausreichende Zuteilung der funktionalen Befähi-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

gungen“ 390 zum guten Leben.


Das scheint aber intuitiv ungerecht zu sein, denn die bürgerlichen Gerechtig-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

keitsanrechte innerhalb eines institutionalisierten Rahmens sollten doch nicht


durch die natürliche und individuelle Grundkonstitution des einzelnen Men-
schen determiniert werden, sondern auch dann noch zur Distribution der in der
gesellschaftlichen Kooperation erarbeiteten Güter führen müssen, wenn bereits
einige der Bürger oder im Idealfall sogar alle Bürger den Schwellenwert zum gu-
ten Leben überschritten haben. 391 Ansonsten würde nämlich auch die Gestaltung
der Distribution ab dem zweiten Schwellenwertes in fundamentaler Weise dem
Menschenbild von gegenseitiger Unterstützung und Sorge widersprechen, das
Nussbaum entwickelt, weil Gerechtigkeit ab der zweiten Stufe dann im Prinzip
nur noch als individuenzentriert und nicht-relational aufgefasst werden müsste. 392
Gerechtigkeit würde dadurch schließlich allein auf ein suum cuique reduziert wer-
den und zwar die in den Fähigkeiten naturhaft angelegten Ansprüche der Men-
schen befriedigen, nicht aber gesellschaftliche Präferenzen und Zielsetzungen, die
über die Fähigkeiten hinauslangen.

389
Vgl. Pogge, ‘Can the Capability Approach be Justified?’, S. 12f., erhältlich unter: <http://
philosophyfaculty.ucsd.edu/faculty/rarneson/Courses/pogge1capability.pdf>, letzter Zugriff am
14.03.2012.
390
Hübenthal, Grundlegung der christlichen Sozialethik, S. 303.
391
Als reales Beispiel für ein solches Problem, nämlich das bereits alle Bürger ein ‚Gutes Leben‘ füh-
ren, aber dennoch das gesellschaftliche Surplus als Ergebnis der Kooperation weiter verteilt wer-
den muss, kann der Rentierstaat Norwegen aufgeführt werden, dessen Staatshaushalt durch die
Ölförderung in der Nordsee seit Jahrzehnten einen Überschuss bei gleichzeitiger maximaler För-
derung seiner Bürger aufweist. Der Überschuss wird zur Zeit in einem Staatsfond angelegt, der
zur Förderung der intergenerationellen Gerechtigkeit beitragen soll; er soll die zukünftigen norwe-
gischen Generationen am gegenwärtigen Wohlstand beteiligen, sobald die vergänglichen Roh-
stoffquellen versiegt sein werden.
392
Vgl. Hübenthal, Grundlegung der christlichen, S. 304f.
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 171

Jedoch bietet sich auch eine andere Lesart dieses zweiten Schwellenwertes an,
wie Hübenthal bei Nussbaum feststellt, nämlich die Ansicht, dass es die in der als
objektiv verstandenen Liste aufgeführten „funktionalen Befähigungen seien, die
egalisiert werden müssten, damit Gleichheit schon im größtmöglichen Umfang
hergestellt ist.“ 393 Auch wenn diese optionale Lesart sich als die eigentlich gemein-
te herausstellen sollte, argumentiert weiter Pogge, übersehe Nussbaum dann je-
doch die sich stets verändernden gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die sich
weitgehend unabhängig von den gleichen funktionalen Befähigungen der Men-
schen entwickeln werden, und deren Einfluss auf die tatsächlich wahrnehmbaren
Chancen nicht verkannt werden dürfen. 394 Auch wenn Nussbaum an dieser Stelle
einwenden könnte, dass es ja gerade die Anlage ergebnisorientierter Ansätze sei,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

zeitnah und nach gesellschaftlicher Deliberation die politischen Stellschrauben so


zu ändern, dass wiederum eine Maximierung der Fähigkeit des Einzelnen zum
guten Leben erfolgen könne, bleibt dennoch das Fehlen nicht-naturwesenshafter
politischer Entscheidungsrichtlinien festzuhalten, die unabhängig von den in den
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Fähigkeiten festgelegten Idealen über den Menschen andere Gleichheitsforderun-


gen verwirklichen könnten.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

C.3.e Verletzt extreme Armut die Menschenwürde? Zusammenfassung und


Identifizierung der offenen Enden II

Die folgende Bewertung versucht, die wichtigsten eoriebausteine des Fähigkei-


tenansatzes an der forschungsleitenden Frage dieses Hauptabschnitts zu bemes-
sen, also zu untersuchen, inwieweit es das theoretische Fundament des Fähigkei-
tenansatzes erlauben kann, Armut als eine schwerwiegende Verletzung der Men-
schenwürde zu identifizieren.
Bei Nussbaum ist der Fähigkeitenansatz schon durch seine Konzeption als
Entwicklungsethik darauf angelegt, eine mangelhafte Entwicklung menschlicher
Fähigkeiten nach einer Liste wesensnotwendiger Mindestfähigkeiten aufzudecken
und in den politisch-gesellschaftlichen Diskurs als eine Verletzung der menschli-
chen Würde und als Ungerechtigkeit einzubringen. Der Fähigkeitenansatz ist
formal so konzipiert, dass er prinzipiell alle Menschen inkludieren kann und da-
mit also auch diejenigen Menschen mit einschließt, die in den Gedankenexperi-
menten kontraktualistischer eorien keine Stimme haben, oder deren Beteili-
gung auf einen Zeitpunkt nach der ursprünglichen Übereinkunft postponiert
wird. Als umfassende politische eorie des Guten will er reduktionistische öko-
nomische Modelle der Bemessung von Entwicklung durch extensive anthropolo-
393
Ebd., S. 303.
394
Pogge notiert hierzu: “Above some threshold, she counts persons as functioning as equal citizens
even if some are functioning much better than others in the very respects in which no one is sup-
posed to fall below the threshold.” Vgl. Pogge, ‘Can the Capability Approach be Justified?’, S. 56,
erhältlich unter: <http://philosophyfaculty.ucsd.edu/faculty/rarneson/Courses/pogge1capability
.pdf>, letzter Zugriff am 14.03.2012.
172 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

gische Annahmen aufbrechen, die zwar auch in ökonomischer Hinsicht relevant


sind, aber auf einem ganzheitlichen Menschenbild beruhen, welches in umfas-
sender Weise menschliche Individuen als natürliche Teilnehmer von gerechtig-
keits-, soldidaritäts- und gemeinwohlorientierten Interaktionsgemeinschaften darstellt.
Mit Hilfe seines theoretischen Gerüsts operationalisiert der Fähigkeitenansatz Be-
stimmungsmöglichkeiten des Guten aus der Wesensnatur des Menschen und be-
gründet mit dieser gesellschaftspolitischen Dimension menschlichen Handelns.
Durch diese theoretische Ausgangsstellung ermöglicht es der Fähigkeitenan-
satz, erstens, ohne Beachtung von Staats- oder Kulturgrenzen auf globaler Ebene
die von vielen Faktoren abhängende mangelnde Fähigkeitenentwicklung als Sig-
nal der Ungerechtigkeit in den Lebensverhältnissen der Menschen zu benennen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

und für einen globalen institutionellen Ansatz der entwicklungsethischen Gerech-


tigkeitsförderung, beispielsweise durch Distribution, zu thematisieren. Zweitens
können entwickelte Fähigkeiten als Indiz dafür geltend gemacht werden, ob
Menschen die Summe ihrer Wünsche und Lebenspläne – ihre autonome Kon-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

zeption des Guten – selbstverantwortlich in ihrer Gesellschaft gestalten können.


Wenn gesellschaftlich garantiert wird, dass der Einzelne seine Fähigkeiten voll-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ständig im eigenen Ermessen entwickeln kann, ist abzusehen, dass die darin ge-
währte Freiheit instrumentell zur Verfolgung des eigenen Wohls genutzt werden
wird. Drittens ist der Fähigkeitenansatz bei der Analyse und Bewertung der kon-
kreten Lebenssituationen bezüglich der ihnen im Hintergrund stehenden politi-
schen und gesellschaftlichen Systeme zunächst indifferent, weil er von einer er-
kennbaren Wesensnatur des Menschen ausgeht, die er als von allen Menschen
gleichermaßen in der Evaluation rekonstruierbar voraussetzt. Er geht zwar davon
aus, dass es besonders liberale Systeme sein werden, in denen die Entwicklung der
Fähigkeiten gut gelingen wird, aber die Qualität des politischen Systems wird
ausschließlich an seiner instrumentellen Eignung für die Entwicklung der Fähig-
keiten festgemacht – die von starken kulturellen Vorannahmen geprägte Bewer-
tung von politischen Systemen als gut oder schlecht ist für den Fähigkeitenansatz
nicht relevant. Ein letzter wichtiger Vorteil des Fähigkeitenansatzes ist nach
Nussbaum, viertens, der bewusste Verzicht auf metaphysische Wurzelgründe, wie
etwa der Glaube an eine göttliche Schöpfung und der dadurch mögliche weltan-
schaulich kontaminierte, versteckte Einfluss bei der Bestimmung der natürlichen
menschlichen Fähigkeiten. Dadurch soll sich der Fähigkeitenansatz als anschluss-
fähig und diskursoffen für alle partikularen politischen und kulturellen Systeme
zeigen; jeder Mensch soll unabhängig von seiner Herkunft im Stande sein, durch
das Instrument des Überlegungsgleichgewichts eine weitgehend identische Liste
an Fähigkeiten zu erstellen. Eine sich auf metaphysische Fundamente berufende
Begründung bestimmter Fähigkeiten ist deshalb zwar nicht ex post ausgeschlossen,
verbleibt aber als nur zusätzliche Motivation und Methode der Letztbegründung
partikularen (Religions-)Gemeinschaften vorbehalten. Die von Nussbaum als
universalisierbar ausgewiesene evaluative Erstbegründung des Fähigkeitenansatzes
bleibt jedoch den dann als additive metaphysische Erklärungsmodelle der
menschlichen Wesensnatur ausgezeichneten Begründungen immer vorgeordnet
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 173

und trägt die normative Hauptlast des eoriefundaments des Fähigkeitenansat-


zes.
In Summe erscheinen diese Eigenschaften des Fähigkeitenansatzes in der gesell-
schaftspolitischen Dimension einerseits als hervorragend dazu geeignet, extreme
Armut und eine mangelhafte Entwicklung von Fähigkeiten als Verletzung der
Menschenwürde über nationale und kulturelle Grenzen hinweg zu konkretisie-
ren. Als universalisierbar vorausgesetzte Einsichten in die existentielle menschli-
che Bedürfnisnatur werden von Nussbaum zu Rechtsansprüchen an gerechte In-
stitutionen katalysiert. Die aristotelische Tradition einer ganzheitlichen Entwick-
lung des Menschen in seiner sozialen Umwelt wird andererseits von Nussbaum
von ihren bestehenden kommunitaristischen Überresten befreit und ethisch so
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

präpariert, dass sie als freistehende liberale eorie neben anderen eoriekon-
zepten, etwa dem sozialen Liberalismus Rawls‘, auf Augenhöhe bestehen können
soll.
Wie herausgearbeitet wurde, stehen andererseits einige basale ontologische und
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

normative Prämissen des Fähigkeitenansatzes seinem eigenen Anspruch im Weg,


jene ganzheitliche Entwicklung des Menschen vorantreiben und unterstützen zu
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

können. Denn auch wenn Nussbaum durch die Einnahme eines internen, realis-
tischen Standpunkts und die Suche nach einem Überlegungsgleichgewicht
Rawls’scher Provenienz den Einfluss metaphysischer Vorannahmen und Begrün-
dungsmuster bei der Suche nach den wesensnatürlichen menschlichen Fähigkei-
ten und Bedürfnissen auszuschalten sucht, wird damit noch nicht in letzter In-
stanz der Eindruck abgewiesen werden können, dass sich ihr Modell durch die
aristotelische Vermengung des Rechten mit dem Guten auf latent vorhandene, al-
lerdings nicht eigens ausgewiesene oder begründete metaphysische Einflüsse oder
anthropologische Einsichten stützt, die den Anspruch ihres Projektes hinsichtlich
weltanschaulicher Objektivität und Zustimmungsfähigkeit gegenüber den identi-
fizierten Fähigkeiten kompromittieren.
Nussbaum, die sich dieses Problems durchaus bewusst ist, versucht es durch
die Konzeption einer Ontologie zu lösen, die mit der kantianischen Vernunfttra-
dition (die ja erklärtermaßen von starken anthropologischen Vorannahmen aus-
geht, die a priori wirksam sind) bricht, um auf diesem Wege mit einem im höchs-
ten Maße metaphysisch bereinigten Menschenbild operieren zu können. Daraus
muss aber zwangsläufig eine freischwebende politische eorie entstehen, die oh-
ne normativen Ankerpunkt allein auf der menschlichen Intuition und einer aus-
gebildeten Reflexionsfähigkeit über das eigene Dasein beruht. Auf der Strecke
bleiben muss bei diesem Unterfangen als Nebeneffekt eine semantisch gehaltvolle
Konzeption der menschlichen Würde, obgleich Nussbaum gerade ihrer als zent-
rales Scharnier in ihrem eoriegebäude bedarf, um die Verbindung von theore-
tischer Suche nach den Fähigkeiten und ihrer Wirksamwerdung im gesellschaftli-
chen Prozess zu begründen. Weil die menschliche Würde durch die Nuss-
baum’sche eoriekonzeption aber nur Epiphänomen der entwickelten Fähigkei-
ten ist, nicht gleichursprünglich, und außerhalb des gesellschaftlich-politischen
Raumes keinen eigentümlichen Aussagewert besitzen kann, wird ihr semantischer
174 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

Gehalt innerhalb des Fähigkeitenansatzes auch nur als untergeschobener Konnex


zum politischen Menschenrechtsdiskurs aufgefasst werden können, nicht aber als
normativen Begriff mit eigentümlicher und feststehender Werthaftigkeit. Nuss-
baums Verwendung des Begriffs der Menschenwürde orientiert sich freilich nicht
an dessen orthodoxer Semantik, sondern an einer strategisch-pragmatischen Ver-
wendung, die die politische Signalfunktion und Motivation, die diesem Begriff
innewohnt, für das eigene Programm, im vorliegenden Fall einen bloßen Anstrich
von Normativität, benutzt. Dieser strategische Gebrauch wird letztlich aber nicht
darüber hinwegtäuschen können, dass auch das Inklusivitätsversprechen, das
Nussbaum hinsichtlich der Berücksichtigung der ganzen Menschheit gibt, durch
ihren Begriff der menschlichen Würde nicht untermauert werden kann, weil er
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

im Endeffekt semantisch völlig offen ist.


Für diese Diagnose spricht – ex negativo – im Übrigen auch die, man muss sa-
gen: folgerichtige Gleichsetzung der menschlichen mit der tierischen Würde
durch Nussbaum; sie erkennt zwar die Vernunft als menschliche Sonderfähigkeit
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

an, ordnet sie aber der allgemeinen tierischen Klugheit von Säugetieren bei und
unter. Der Begriff der menschlichen Würde, der theorieintern von ihr als kriti-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

sche Reflexionsfläche für die Bestimmung des verwirklichten Grades der Fähig-
keiten verwendet wird, ist durch die semantische Reduktion auf nicht-
metaphysische Begriffsinhalte inhaltlich beliebig und gegen andere Inhaltssets mit
Kriterien, die vor dem engen Horizont menschlicher Reflexivität mit seinen un-
wägbaren Einflüssen geformt werden, schlechthin austauschbar.

C.3.e.1 Sind Freiheit und Menschenwürde im Fähigkeitenansatz gewährleistbar?


Während eine semantische Reduktion der menschlichen Würde auf eine postme-
taphysische, sozial-konstruktivistische Begrifflichkeit immerhin dann noch als an-
gemessen zu betrachten wäre, wenn sie innerhalb der eoriekonzeption des
dann als dezidiert politisch zu verstehenden Fähigkeitenansatzes alle Bausteine
stützen und verkitten könnte, reißt sie durch ihre – immerhin theorieintern be-
gründete – semantische Variabilität eine Begründungslücke in die grundsätzliche
Motivation der Verfolgung des Fähigkeitenansatzes durch Sen und Nussbaum,
nämlich die Eröffnung einer ‚substantiellen Freiheitsdimension’ für den Menschen
durch die Entwicklung der Fähigkeiten.
Der Sen’sche und Nussbaum’sche Begriff der substantiellen Freiheit unter-
scheidet sich grundlegend von einer etwa moraltheoretisch begründeten, trans-
zendentalen Freiheit des Menschen, weil in ihm die entwickelten und die poten-
ziellen Fähigkeiten der Bürger innerhalb einer politischen Gemeinschaft als Vo-
raussetzung für freie Entscheidungen herangezogen werden. Eine Maximierung
der substantiellen Freiheit als Zielsetzung kann sich für Sen und Nussbaum dann
innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes verwirklichen, wenn in diesem einer-
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 175

seits und grundsätzlich die negativen Freiheitsrechte 395 garantiert werden, und
andererseits durch die positive Entwicklung ihrer Fähigkeiten die Bürger die akti-
ve Möglichkeit haben, autonome und freie Entscheidungen über ihre Lebensplä-
ne und ihre Zukunft zu treffen. Damit ist ein aktives Verfügen-können über sub-
stantielle Freiheit als gesellschaftlich-politisches Ergebnis richtiger Entwicklung
der Fähigkeiten bestimmt.
Das Wohlergehen des Menschen hängt in dieser Verknüpfung letztlich ganz
entscheidend davon ab, in welchem Maße die Entfaltung substantieller Freiheit
für das Individuum möglich ist; prinzipiell aber kann der Grad des Wohlergehens
als umso höher angesetzt werden, je mehr dem Einzelnen an substantieller Frei-
heit zur Nutzung von Chancen zur Verfügung steht. 396 Chancen sind im Fähig-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

keitenansatz aber nicht als bloße mengenmäßige Anhäufung verschiedener


Wahlmöglichkeiten ausgezeichnet, sondern Sen will sie als umfassende, existentielle
Potenzialitäten des Daseins verstanden wissen: als dauerhaft verfügbare und selbst-
verantwortlich ausgewählte Zugänge zur sozialen und materiellen Umwelt. 397 Sen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

will umgekehrt vermeiden, die aus der substantiellen Freiheit als individuelle
Vorteile erwachsenden Chancen an einem vorher festgelegten Wertschema ab-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gleichen zu müssen; durch den komparativen Vergleich der unterschiedlichen


Chancen der Gesellschaftsmitglieder zeichnet sich für ihn nur ein „Informations-
schwerpunkt“ ab, der „von sich aus keinerlei spezifische Formel für den Gebrauch
dieser Informationen“ 398 mitbringt und der deshalb „keine spezifische Faustregel
für politische Entscheidungen“ 399 ist. Andererseits gesteht Sen zu, dass die Infor-
mationen, die man über den messbaren Grad an substantieller Freiheit gewinnen
wird, einen großen Einfluss auf die Bewertung von Gesellschaften haben werden,
und darin sieht er auch den Hauptbeitrag des Fähigkeitenansatzes. Damit will
Sen gewährleistet sehen, dass die unterschiedlichen Chancen des Menschen in ih-
ren zahlreichen Kombinationsmöglichkeiten nicht auf ein singuläres Set an fest-
gelegten Funktionsweisen (functionings) reduziert werden müssen, um eine Ver-
gleichbarkeit herzustellen zu können, sondern dass intuitiv das, was „wir nach
Maßgabe dessen, was wir mit gutem Grund hochschätzen, miteinander verglei-
chen und gegeneinander abwägen können.“ 400
Das im Begriff der substantiellen Freiheit angelegte Freiheitsverständnis lässt
sich als spiegelbildlich zur Menschenwürdekonzeption von Nussbaum auffassen:
hier wie dort liegt der Fokus nicht auf dem Abgleich vorgefundener gesellschaftli-
cher Lebensformen mit einem normativ gesetzten Wert, sondern die Semantik
395
In ‚Idee der Gerechtigkeit’ kommt Sen auf die negativen Bürgerrechte unter dem Begriff des
„Prozess-Aspekts“ von substantieller Freiheit zu sprechen. Nur dann, wenn es die äußeren Um-
stände, z. B. ein funktionierendes Rechtswesen, zulassen, wird der einzelne Bürger dann auch sei-
ne Chancen (bei Sen der sog. ‚Chancen-Aspekt‘) wahrnehmen können. Vgl. Sen, Die Idee der Ge-
rechtigkeit, S. 256.
396
Vgl. ebd., S. 255 und 258ff.
397
Vgl. ebd., S. 259.
398
Beide Zitate ebd.
399
Ebd., S. 260.
400
Ebd., S. 261.
176 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

der Begriffe füllt sich erst im Prozess der gesellschaftlichen Deliberation um die
allgemeinen Zielsetzungen und Pläne. Wie bei Nussbaums substantiellem Men-
schenwürdebegriff, dessen Schwellenwerte das Wohlergehen der Menschen erst
nach einem Prozess bestimmter Zeitdauer (nämlich dann, sobald eine Gesell-
schaft ‚weiß‘, welche Schwellenwerte ihr angemessen erscheinen) bestimmen lässt,
ist Sens Freiheitssemantik ebenso in starkem Maße davon abhängig, dass es Ge-
sellschaften gibt, die bereits einen hohen Standard in der ethischen Auseinander-
setzung und im Wissen um die Einschätzung und Bestimmung der Chancen ha-
ben.
Die Intuition, die zur Bewertung der Chancen und der verfügbaren Freiheiten
erst ausgebildet werden muss, hängt deshalb in hohem Maße von der verfügbaren
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Informationsbasis ab, die Individuen und Gesellschaften über sich und ihre Fä-
higkeiten haben. Diese Informationsbasis muss ein weites Feld theoretischen und
praktischen Wissens über den Menschen, seine Rechte und seine leib-seelische
Verfassung abdecken – nur dann kann es überhaupt möglich sein, von einer in
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

einer Gesellschaft gegebenen Ist-Situation zu einer metapraktisch-reflektierenden


Erörterung der bestehenden substantiellen Freiheitsgrade als individueller Aggre-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gation der Chancen zu gelangen. Die ethische Bewertung der im gesellschaftli-


chen Diskurs festgelegten substantiellen Freiheit ist dann jedoch nur frei flottie-
rend und kann keinem universalen normativem Maß gegenübergesetzt werden,
bzw. auf dieses als Ankerpunkt verweisen. 401 Obwohl diese Konzeption also dem
Pluralitätsparadigma der unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften zu ent-
sprechen scheint, stößt sie jedoch dann an Grenzen, wenn ein (hypothetisches)
Kant’sches ‚Volk von Teufeln‘ Fähigkeiten als freiheitsfördernd in Geltung setzte
und zur Bewertung des Wohlergehens seiner Bürger heranzöge, die nach dem von
Nussbaum zur Bestückung der Liste herangezogenen Intuitionsprinzip des Über-
legungsgleichgewichts gegen die Menschenwürde oder gegen grundsätzliche
Rechtsansprüche des Menschen in fundamentaler Weise verstoßen würden.
Die normative Bindungslosigkeit des materialen Freiheitsbegriffs (und vice ver-
sa des Menschenwürdebegriffs) ist im Fähigkeitenansatz durch die Affirmativität
begründet, mit der er sich zum gesellschaftlichen Diskurs und einem dort je aus-
zuhandelnden Set an Informationen über erreichbare Chancen verhält. Gemäß
der Logik des Fähigkeitenansatzes kann die Freiheit nur induktiv aus den verfüg-
baren Chancen bestimmt werden; ein Rückschluss auf die menschliche Freiheit
in transzendentaler Hinsicht bleibt im Fähigkeitenansatz verschlossen und spielt
dort auch – gerade für Sen, der ja insbesondere an pragmatischen Lösungen für
drängende gesellschaftliche Probleme interessiert ist – keine Rolle. Angesichts die-
ser eoriekonzeption muss umgekehrt Sens Kritik an Rawls‘ Stellung der Frei-
heit innerhalb der Grundgüter – die bereits an anderer Stelle erwähnt wurde –,

401
Für eine Darstellung der Kritikpunkte an Sens Freiheitsbegriff siehe Fabre; Miller, ‚Justice and
Culture‘, S. 6-8. Fabre und Miller schließen ihre Untersuchung der Sen’schen Position mit dem
Ergebnis, dass „Sen’s conceptual framework provides no clear criterion for saying when a society
has developed to the point where it counts as minimally just.”
III.C DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN 177

als kategorial verfehlt angesehen werden. Sens Begriff der Freiheit entspricht sei-
nem entwicklungsorientierten Projekt der Maximierung von Chancen, während
Rawls im Rahmen seines kantianischen Gesellschaftsentwurfs einen transzenden-
talen, anthropozentrischen Freiheitsbegriff aufnimmt und ihn für seine politische
Philosophie voraussetzt. Damit vertritt Rawls einen Freiheitsentwurf, aus dem die
Gerechtigkeitsprinzipien durch Deduktion gewonnen werden müssen, weil die
transzendente Freiheit des Menschen nach diesen Prinzipien verlangt. Es ist letzt-
lich die Freiheit des Menschen, die zu einer liberalen Gesellschaftskonzeption
und darin einer gerechten Aufteilung der gesellschaftlich verfügbaren Ressourcen
führen muss. Wenn Sen also das Grundgütermodell Rawls‘ als bloßes Mittel zur
Anzielung von Freiheit kritisiert, übersieht er dabei, dass Rawls von der Existenz
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

einer Freiheit a priori ausgeht, die eng mit seiner Konzeption der Person ver-
knüpft ist und somit in diesem Gesamtzusammenhang die Prämisse der Gerech-
tigkeit als Fairness darstellt. 402
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

C.3.e.2 Ein mehrdeutiges Ergebnis


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Der abschließende Befund dieses Abschnitts muss also lauten, dass der Fähigkei-
tenansatz wichtige Impulse in der Bewertung des Wohlergehens der Menschen
liefert, weil er sich einer Reduzierung auf ökonomische Messmethoden konse-
quent versagt, hingegen die umfassende und ganzheitliche Entwicklung des Men-
schen im Rahmen einer zu stets zu verbessernden substantiellen Freiheit als Auf-
gabe seiner theoretischen Ausgestaltung wahrnimmt. Mit seiner Hilfe lässt sich in
der Darstellung der Lebensverhältnisse der Menschen und in der Analyse ihrer
Chancen und Fähigkeiten offenbar machen, dass das Wohlergehen des Menschen
wesentlich komplexer zu erfassen ist als allein über die Berechnung von Einkom-
men oder Vermögen; diesem Ergebnis entspricht auch, das will insbesondere
Nussbaum deutlich machen, dass die Präferenzen des Menschen bei der Auswahl
seiner Ziele und Lebenspläne zwar auch ökonomischen Überlegungen und Hand-
lungen unterliegen – mehr noch unterliegen sie aber je individuellen Entschei-
dungen, die stark kulturell geprägt sind, sich aus der Sorge um die Mitmenschen
speisen können, und generell von den institutionellen Gegebenheiten der Gesell-
schaft und dort dem Grad an Freiheit, die den Bürgern gewährt wird, abhängen.
Obwohl also der Fähigkeitenansatz als Entwicklungsethik dort seine gesell-
schaftspolitischen Vorteile unter Beweis stellen kann, wo er die Wichtigkeit von
Chancen und der Entwicklung der Fähigkeiten zur Befähigung von Menschen für
das Wohlergehen der Menschen zeigen kann, bleibt sowohl seine Verwendung
des Freiheitsbegriffs wie auch des Menschenwürdebegriffs als Bausteine seines
eoriegerüsts letztlich unbefriedigend. Beide Begriffe nehmen zwar eine zentrale
Position im Fähigkeitenansatz ein, weil sie entweder eine begründungslogische
Funktion für die Bewertung des Wohlergehens (Freiheitsbegriff) oder für die
Mindestausstattung an Fähigkeiten (Menschenwürde) innehaben, aber ihre in-
402
Vgl. Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, S. 288ff.
178 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

haltliche Bestimmung orientiert sich allein am quantifizierbaren und dadurch in-


strumentellen Erreichen einer bestimmten Menge an Fähigkeiten oder Chancen
innerhalb einer Gesellschaft. Beide Begriffe haben dadurch im Fähigkeitenansatz
keine eigenrechtlichen Inhalte, sondern ihre Konstituierung und Verwendung folgt
letztlich pragmatischen Erwägungen. Damit stehen sowohl die Freiheit als auch die
Menschenwürde als normative Begriffe auf den tönernen Füßen einer prozesshaf-
ten Gewinnung im politisch-gesellschaftlichen Diskurs. Wie im fünften Kapitel
zu sehen sein wird, ist diese Eigenart des Fähigkeitenansatzes – die nur pragmati-
sche Verwendung zentraler gesellschaftlich-politischer Begriffe – nicht per se als
negativ zu kennzeichnen, aber es wird deutlich zu machen sein, inwiefern aus die-
ser Eigenart Probleme entstehen können.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

D. Kritik des Wohlergehensmodelle des politischen


Liberalismus Rawls‘ und des Fähigkeitenansatzes Sens und
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Nussbaums bezüglich der Achtung der Menschenwürde

Wird also bereits jetzt, nach der Analyse des Fähigkeitenansatzes, ein endgültiger
Zusammenhang zwischen (extremer) Armut und einer Verletzung der Men-
schenwürde hergestellt werden können? Sen und Nussbaum sehen diesen Zu-
sammenhang gegeben, denn für beide ist Armut eine schwere Verletzung der
Entwicklungsfähigkeit und der unfreiwilligen Einschränkung der Chancen und
der substantiellen Freiheit des Menschen, die objektiv die Fähigkeit des Men-
schen auf Wohlergehen beschneidet. Deshalb wird die Menschenwürde durch
Armut verletzt: weil dem Menschen durch verschuldete oder unverschuldete Ar-
mut die praktische Freiheit genommen wird, seine Fähigkeiten gemäß seiner
menschlichen Natur und gemäß seiner eigenen Wünsche und Ziele entwickeln
zu können. Diese Aussage wird mit der Hilfe des Fähigkeitenansatzes für alle
Menschen weltweit geltend gemacht werden können und nicht nur für die Be-
wohner eines Staatsgebiets oder einer kleineren Gemeinschaft, weil im Fähigkei-
tenansatz vom Menschen und seiner Wesensnatur alle weiteren Überlegungen zur
potenziellen Entwicklung ausgehen. 403 Staaten, kulturelle Systeme und soziale
Logiken spielen dort nur insoweit eine Rolle, als sie die materiale Ausgestaltung
der Entwicklung beeinflussen; die Natur des Menschen an sich – und damit seine

403
Sen betont immer wieder diesen Standpunkt; im Gegensatz etwa zu Rawls geht es ihm nicht um
den Entwurf einer fein verästelten eorie, die dann allerdings nur in einer Idealsituation ihre
Vorteile ausspielen kann, sondern ihm geht es um den Entwurf einer politischen Ethik vor prag-
matischem Horizont, die in der Realität ihre wohlergehenssteigernde Wirksamkeit erweisen
kann.
III.D KRITIK DER WOHLERGEHENSMODELLE 179

Fähigkeitsanlagen – können sie nicht verändern. 404 Die grundsätzliche Entwick-


lungstendenz des Menschen, die aus dessen Natur und seinen Bedürfnissen ent-
steht, beeinflussen sie nicht.
Aus der Perspektive einer kritisch orientierten Ethik fehlt dem Fähigkeitenan-
satz aber eine regulative Norm, die als kritisches Gegenüber die Durchstimmung
und Feineinstellung der verschiedenen eoriebausteine ermöglichen und dar-
über wachen könnte, dass der starke Intuitionismus, der den Fähigkeitenansatz
durchzieht, im Rahmen von universal rechtfertigbaren Grundsätzen verbleibt.
Die Menschenwürde soll – insbesondere im Ansatz von Nussbaum – diese Auf-
gabe leisten und dem eoriegerüst die notwendige Stabilität verleihen, dabei ist
sie dort jedoch, wie gezeigt werden konnte, letztendlich nur Beiwerk einer im
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Ganzen vom Ergebnis her denkenden, sich teleologisch vollziehenden politischen


eorie, die entsprechend auch die Inhalte ihrer kritisch-reflexiven Begriffe erst
im Verlauf der gesellschaftlichen Diskurse bestimmt. Diese Ausrichtung spricht
natürlich nicht per se gegen den Fähigkeitenansatz und seine entwicklungsorien-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

tierte Zielsetzung. Sie macht aber deutlich, dass der Ansatz seine Wurzeln in der
Ökonomie und der politischen Philosophie hat, der begründungstheoretische
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Unterbau erst im Nachhinein konstruiert wurde und auch durch diese Genese
mit den aufgezeigten Problemen zu kämpfen hat.
Der soziale Liberalismus Rawls‘ auf der anderen Seite nimmt in seiner Konzep-
tion der Person implizit Maß an der Freiheits- und Menschenwürdekonzeption
Kants, die er aber nicht in ein entwicklungsethisches Programm im Sinne Sens
und Nussbaums umsetzt, sondern die er als a priori und grundlegende Motivati-
on seiner Gerechtigkeitstheorie voraussetzt. Während aber das prozesshafte Ver-
ständnis der Menschenwürde im Fähigkeitenansatz dazu führen muss, dass jene
durch äußere Umstände verletzt werden kann und fortlaufend in ihrer Sollgel-
tung aufrechterhalten werden muss, besitzt bei Rawls, dem kantianisch-
nominalistischen Würdeverständnis entsprechend jeder Mensch immer seine
Würde.
Allerdings, das konnten Sen und Nussbaum anhand der Grundgüter zeigen,
bzw. das arbeiteten auch andere Kritiker an Rawls Position heraus, misslingt
Rawls der eorietransfer eines ursprünglich individuenbezogenen kantianischen
Personenbegriffs auf den Urzustand und die dort stattfindenden Verhandlungen.
Auch die Grundgüter, so Sen und Nussbaum einmütig in ihrer Kritik, geben von
ihrer Konzeption her ein ganzheitliches Wissen um die Bürger vor, beruhen aber
letztlich nur auf einer mängelbehafteten und defizitären Vorstellung der mensch-
lichen Existenz, weshalb sie in komplexen und dynamischen Gesellschaften kei-
nesfalls zur endgültigen Begründung einer Form von Gerechtigkeit herangezogen
werden dürfen, da jene daraufhin von vornherein durch die fehlerbehafteten An-
nahmen des Grundgütermodells verfälscht würde.

404
Vgl. „Der Fähigkeitenansatz betont durchgehend die materiellen Aspekte aller menschlichen Gü-
ter, indem er unsere Aufmerksamkeit auf das lenkt, was die Menschen tatsächlich zu tun und zu
sein in der Lage sind.“ Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 397.
180 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

Auch wenn also Rawls die Sollgeltung der Menschenwürde durch den Aufbau
seines Ansatzes implizit als eingelöst verstanden wissen möchte, wird man eine
Verletzung der Menschenwürde durch Armut dann als möglich ansehen müssen,
wenn entweder eine Gesellschaft von vornherein nicht den Gerechtigkeitserfor-
dernissen an die Grundstruktur genügt, die Rawls aufstellt, oder wenn jene Ver-
letzungen nicht erkannt werden können, weil sie außerhalb der zu Beginn ‚ein für
allemal‘ festgelegten Grundsätze der Gerechtigkeit bestehen. Das Wohlergehen
des Menschen ist im sozialen Liberalismus Rawls‘ zwar auf der Ebene von gerech-
ten Grundstrukturen im Rahmen der eorie weitgehend garantierbar, nicht aber
seine tatsächliche Ausgestaltung in der ungeheuer komplexen Wirklichkeit der
modernen Welt mit ihren zahlreichen Akteuren auf den unterschiedlichen Ebe-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

nen der global governance. Extreme Armut ist, so könnte man diese Kritik auch
formulieren, leider gerade dort ein Problem, wo die von Rawls skizzierte liberale
Gesellschaft noch nicht einmal in den kritischen Rang einer utopischen Vorstel-
lung gelangt ist.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Damit entstehen für Rawls allerdings Probleme praktischer Art, die den nor-
mativen Begründungsproblemen des Fähigkeitenansatzes diametral gegenüber
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

stehen. Rawls liberaler Staat, der auf starken Prämissen aufruht, mag einerseits im
Ideal der ‚eorie der Gerechtigkeit‘ zu einer perfekt gerechten Gesellschaft mit
wohlhabenden und glücklichen Bürgern führen, für die Realität verfügt Rawls‘
Kontraktualismus andererseits aber nur über theoretisch wenig ausgearbeitete
Mittel, um seinen engen, staatsorientierten Ansatz auf eine Wirklichkeit zu über-
tragen, in denen Staaten und mit ihnen ihre Völker und Kulturen immer ein-
drücklicher vielgestaltigen und wechselseitigen Einflüssen im Rahmen der Globa-
lisierung unterliegen, letztlich auch die liberalen Völker im Sinne seines Ansatzes
bis heute in der Minderheit sind. Wenn Armut aber nur als Ergebnis mangelhaft
oder ungerecht arbeitender Institutionen gefasst werden kann, drohen allerdings
die Bedürfnisse und Rechte des einzelnen Individuums aus dem Blick zu geraten,
auch wenn diese implizit durch die Gesamttheorie geschützt werden sollen, ja so-
gar, wie bei Rawls, deren Ausgangspunkt bilden.
Diese theorieinterne Problematik kann Rawls auch mit seinem Spätwerk ‚Das
Recht der Völker‘ nicht aufbrechen, denn auch dort geht er von einem statism
aus, der auf der globalen Ebene die verschiedenen Völker unter dem Schutz-
schirm eines Völkerrechts kooperieren lässt, das durch ein starkes Souveränitäts-
gebot Einmischungen in die Angelegenheiten anderer Völker nur in extremen
humanitären Notfällen rechtfertigen kann, wenn überhaupt. 405 Problematisch ist
der Rawls’sche statism nun insofern, weil Rawls durch das von ihm als primär an-
gelegtes völkerrechtliches Beurteilungskriterium, nämlich das Souveränitätsrecht
der Völker, konkrete Bedürftigkeit und extreme Armut als unter moralischen Ge-
sichtspunkten unproblematisch für andere Völker ansieht, sofern die entspre-

405
Vgl. „Völker sind verpflichtet, anderen Völkern zu helfen, wenn diese unter ungünstigen Bedin-
gungen leben, welche verhindern, dass sie eine gerechte oder achtbare politische und soziale Ord-
nung haben.“ Rawls, Das Recht der Völker, S. 41.
III.D KRITIK DER WOHLERGEHENSMODELLE 181

chenden Institutionen des von Armut betroffenen souveränen Staates liberal oder
zumindest ‚annehmbar‘ aufgebaut sind (sogenannte ‚Outlaw-Staaten‘ fallen des-
halb nicht unter dieses Kriterium, sondern werden generell als ungerecht und illi-
beral bewertet). Er geht davon aus, dass die Bürger für den Staatsaufbau verant-
wortlich zeichnen, und nun auch vernünftigerweise mit dem Leben einverstanden
sein müssen, dass sie innerhalb ihres Staates führen können, und dies selbst dann,
wenn es im Vergleich mit anderen Ländern wesentlich schlechter ist.
Es bleibt jedoch fraglich, ob die im Rawls‘schen Verständnis zum Ausdruck
kommende Priorität der Souveränität den moralischen Intuitionen entspricht, die
extreme Armut hervorruft. Es ist Rawls sicherlich zu Gute zu halten, dass er nur
sehr vorsichtig die Souveränitätsrechte fremder Gesellschaften hinterfragt, um
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

sich nicht einem Paternalismus schuldig zu machen, der anderen Gesellschaften


das richtige institutionelle Verständnis des Umgangs mit ihren gesellschaftlichen
Zielen und Wohlergehensniveaus vorschreiben möchte. Andererseits wird an die-
sem Beispiel sehr gut deutlich, wie umfassend sich das Rawls’sche Verständnis
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

vom Verhältnis der sozialen Institutionen zu den einzelnen Menschen von dem-
jenigen Sens und Nussbaums unterscheidet. Darin zeigt sich prononciert der Un-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

terschied von kontraktualistischem und prozessorientiertem Institutionenbegriff,


sowie das Aufgabenspektrum, das den Institutionen aus dem jeweiligen Ver-
ständnis erwächst: während Rawls die Grundstruktur eines Staates ‚ein für alle-
mal‘ mit einem statischen, unumstößlichen Gerechtigkeitsbegriff und den
Grundgütern als konstanten Informationsträgern über die Stellung der Bürger
festlegen will, sind die Institutionen bei Sen und Nussbaum dazu angehalten, ihre
Arbeitsweise und ihre Begriffe von Gerechtigkeit dynamisch in je angemessenem
Maße der aktuell vorgefundenen Situation anzupassen, um zu einer steten Ver-
besserung der Lebenssituation der Bürger ihr Soll beizutragen. Dieser Aufgabe
gemäß werden Institutionen allein daran qualitativ messbar, inwieweit sie die das
Wohlergehen und die Entwicklung der Fähigkeiten ihrer Bürger in einem ange-
messenen Rahmen und vor allem – darauf weist Nussbaum hin – unter Maßga-
ben der politisch-gesellschaftlich auf pragmatischem Wege erreichbaren, nicht-
idealen Gerechtigkeitsziele unterstützen und fördern können.

E. Zusammenfassung

Den Beginn dieses Kapitels kennzeichnete die Frage nach den materiellen und
immateriellen Voraussetzungen, die durch die gegenwärtig wichtigsten Positionen
politischer Philosophie unter objektiven Gesichtspunkten als zum Wohlergehen
des Menschen und seiner Würde gemäß als notwendig bestimmt und ihrem In-
halt nach begründet werden. Es stand dort außerdem die ese im Raum, ob
nicht aus einer Missachtung dieser objektiven Voraussetzungen ex negativo auf die
182 ARMUT UND DAS WOHLERGEHEN DES MENSCHEN

Verletzung der menschlichen Würde durch extreme Armut geschlossen werden


könne.
Die im Anschluss durchgeführte Untersuchung der Hauptansätze der politi-
schen Philosophie, nämlich des sozialen Liberalismus von John Rawls und des
Fähigkeitenansatzes von Amartya Sen und Martha Nussbaum ergab nun aber
entgegen dieser geäußerten ese, dass beide Ansätze auf grundsätzlich gegenläu-
fige Interpretationen des Menschenwürdebegriffs zurückgreifen. Entweder trägt
er dort implizit zur Rekonstruktion menschlicher Wohlergehensansprüche bei
und wird insgesamt theoriebasal vorausgesetzt (Rawls), oder er wird explizit zur
Konstruktion der eoriearchitektonik eingesetzt (Nussbaum), um dann zu ob-
jektiven Aussagen über das Wohlergehen des Menschen zu gelangen. Als makro-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

soziale Gerechtigkeitstheorien verwenden also zwar beide Konzeptionen den Be-


griff der Menschenwürde, der allerdings in je unterschiedlicher Ausprägung und
Funktion zum Tragen kommt und deshalb auch zu deutlich unterschiedlichen
Interpretationen des Bestands und der Art und Weise menschlichen Wohlerge-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

hens in der gesellschaftlichen Praxis beiträgt: während Rawls das Wohlergehen


und die Würde der Bürger prioritär in der durch die gesellschaftliche Kooperati-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

on bestehenden Freiheitsdimension dann eingelöst sieht, wenn jeder Bürger sein


Eigeninteresse gekoppelt an gerechte Güterdistribution verfolgen kann, sieht
Nussbaum das Wohlergehen des Menschen dann gewährleistbar, wenn diejeni-
gen Fähigkeiten institutionell/gesellschaftlich gefördert werden, die als zentral für
ein Gutes Leben vor dem Horizont ihrer Fähigkeitenliste gelten können.
Einerseits spiegelt dieses Ergebnis natürlich die beiden divergenten Weltzu-
griffshermeneutiken der – ihrer Argumentationslogik nach gegensätzlichen –
eoriemodelle wieder, die jenen Ansätzen politischer Ethik zugrunde liegen,
nämlich zum einen den Kontraktualismus neuzeitlicher Prägung und zum ande-
ren dem teleologischen Perfektionismus aristotelisch-essentialistischer Provenienz.
Andererseits reflektieren sich im Ergebnis der differenten Wohlergehensmodelle
weitreichende Unterschiede in der Anschauung des Menschen – Unterschiede,
die dann in der theorieinternen Hermeneutik dem Begriff der Menschenwürde
eingebettet werden, und auf den sich die jeweilige Tradition implizit oder explizit
beruft. In der in diesem Prozess sich zeigenden divergenten Berufung auf die der
Menschenwürde eingebetteten expliziten Begriffs- und Sinnhorizonte wird so zu-
nächst zweierlei offenbar: (1) der Begriff der Menschenwürde ist weitgehend be-
zugsoffen und daher ist es leicht möglich, ihn innerhalb unterschiedlicher ethi-
scher Kontexte zu verwenden, und (2) es zeigt sich damit, dass der Begriff der
Menschenwürde selbst inhärente Spannungsfelder unterschiedlicher Bedeutungs-
potenzialitäten aufweist, wie sie – das ist allerdings zuzugeben – allen umstritte-
nen philosophischen Begrifflichkeiten zu eigen sind. 406
Im Kontraktualismus Rawls‘ ist die implizite, sich auf Kant berufende Men-
schenwürdekonzeption inhaltlich substantiell gefasst, indem dort ein eindeutig be-
stimmtes Begriffsfeld normativ verbindlich vorausgesetzter Aussagen – der
406
Diese Beobachtungen werden im fünften Kapitel auf ihre Validität näher überprüft.
III.E ZUSAMMENFASSUNG 183

Mensch ist Person – als feststehender Ausgangspunkt für die gesamte eoriear-
chitektonik dient. Bei Nussbaum hingegen lässt sich die prozesshafte Bestim-
mung der Menschenwürdekonzeption am Besten im wissenschaftstheoretischen
Sinn als pragmatisch beschreiben, weil sie explizit auf eine Begründung der Men-
schenwürde aus unveränderlichen Prinzipien oder Eigenschaften verzichtet und
den Begriff so konzipiert, dass seine Füllung durch eine, wie Pierce es genannt
hat, Konsenstheorie der Wahrheit überprüfbar gemacht zu werden hat: die der
Menschenwürdekonzeption dynamisch eingeschriebene Begrifflichkeit, die im
Prozess des gesellschaftlichen Lebens gewonnen wird, wird nur dann innergesell-
schaftlich (oder in einer Extrapolation auch auf der globalen Ebene) als angemes-
sen und richtig wahrgenommen werden können, wenn ihre inhaltliche Füllung
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

durch die Bürger in ihrer konkreten Lebenspraxis und den gesellschaftlichen Dis-
kursen nachvollzogen wird. Diese gesellschaftspragmatische Rechtfertigung einer
Würdekonzeption bezieht ihre Geltung deshalb auf ein „kontingenterweise ak-
zeptiertes normatives Verständnis von Personen“ 407 negiert aber eine „Rechtferti-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

gung, die sich auf eine notwendige moralische Wahrheit beruft oder auf das Re-
sultat eines Arguments über tief gehende moralische Begründungen“ 408, wie Dar-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

rel Moellendorf summierend festhält.


Das beschriebene Spannungsverhältnis im Menschenwürdebegriff besteht
demnach, wie die genannten Traditionen der politischen Philosophie zeigen, zwi-
schen dem Pol substantieller Verbindlichkeit einer ethisch begründeten und
normativ durchzusetzenden Semantik des Menschenwürdebegriffs einerseits und
dem Pol einer pragmatischen Verwendung in dynamischen und sozialen Bezie-
hungen andererseits, und verweist damit – insbesondere im Kontext des Men-
schenrechtsdiskurses, wie das fünfte Kapitel zeigen wird – letztlich auf eine frei-
schwebende Verstehensperspektive der Menschenwürde, die in ihrer begrün-
dungstheoretischen Tragweite kennzeichnend für moderne Ethiken generell ist. 409

407
Moellendorf, ‚Menschenwürde, Gleichheit und globale Gerechtigkeit‘, S. 303.
408
Ebd.
409
Vgl. dazu den Unterpunkt B.2 des fünften Kapitels. Außerdem ist in dieser Frage auch der Auf-
satz von Jürgen-Eckardt Pleines relevant, der dort das Spannungsverhältnis von gesellschaftlich
vorhandenem, praktischen Wissen und der moralischen Position der Aufklärung anschaulich dar-
stellt. Pleines, ‚Zur Sache des sogenannten Neoaristotelismus, S. 133-157.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
IV. DIE ‚WÜRDE DES MENSCHEN‘ ALS ANSPRUCH AUF
WOHLERGEHEN UND FREIHEIT VON ARMUT IN
IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Ist das Fazit des vorangegangenen Kapitels also letztlich nicht als ein starkes Indiz
dafür zu verstehen, dass das „Konzept [der Menschenwürde, M. H.] selbst ent-
weder komplett inhaltsfrei oder semantisch zu viel- bzw. uneindeutig sei, weil in
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ihm so viele divergierende begriffsgeschichtliche Traditionen zusammenflös-


sen“ 410? Ist es durch die festgestellte Uneindeutigkeit des Begriffs nicht sogar sinn-
los, mit dem Begriff der Menschenwürde bestimmte objektive und subjektive
Modi des Wohlergehens als festlegbar zu konkretisieren oder im Falle von extre-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

mer Armut die Menschenwürde als verletzt bestimmen zu wollen, weil die aus der
Menschenwürde bezogenen Normen und Überzeugungen dann faktisch nur auf
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

einen inhaltlich freischwebenden Kern verweisen, auf den je nach argumentati-


vem Interesse Bezug genommen werden kann oder nicht? Spräche nicht dieser
Sachverhalt dafür, die Rede von einer Verletzung der Menschenwürde durch Ar-
mut als hauptsächlich politisch motiviert, nicht aber auf angemessener morali-
scher Überzeugung beruhend abzulehnen? Muss nicht eigentlich sogar als höchs-
ter Trumpf für diese ese gelten, dass gegenwärtig zahlreiche Gesellschaften und
Kulturkreise existieren, die auf die Idee einer wie auch immer ausgestalteten
menschlichen Sonderwürde als Gattungswürde innerhalb ihres Welt- und Men-
schenbildes weder Bezug nehmen, noch sie als zu schützenden Wert rekonstruie-
ren können?
Andererseits kann die inhaltliche Unklarheit über den Materialgehalt und die
ethische Extensität des Menschenwürdebegriffs auch als Indiz dafür verstanden
werden, dass mit ihm ein philosophisch umstrittener Begriff vorliegt, der – wie
übrigens alle anderen philosophischen Begriffscontainer auch – immer wieder
ideengeschichtlichen Wandlungen und Reinterpretationen unterliegt, die sensibel
auf zeitgenössische Menschen- und Weltbildkontexte reagieren. Stellt man sich
parallel zu diesen Kontexten die mäandernde und vielfach verästelte Geschichte
des Menschen und seiner unterschiedlichen Kulturen vor Augen, wird die Ein-
sicht wenig erstaunen können, dass es ein singuläres überzeitliches Verständnis
einer normativen, universal feststehenden oder sogar metaphysisch begründeten
Begrifflichkeit von der Menschenwürde als einer bestimmten Idee vom Wesen
des Menschen und mit diesem Begriff verbundene Forderungen an eine men-
schenwürdige Lebenswelt in Vergangenheit und Gegenwart gar nicht geben

410
So fasst Müller griffig eine Debatte zusammen, die schnell darauf hinaus läuft, dass man mit und
durch die Geschichte einen normativen Begriff der Menschenwürde festzulegen versucht. Vgl.
Müller, ‚Ein Phantombild der Menschenwürde‘, S. 117f.
186 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

konnte und kann – dem philosophischen Ideal des eindeutigen, normativ ver-
wendbaren Begriffs also genau deshalb eine Pluralität von Überzeugungen, Mei-
nungen und Begründungssprachspielen gegenübersteht.
Gegenüber anderen philosophisch umstrittenen und mehrdeutigen Begriffen
lässt sich bei der Menschenwürde allerdings auch noch die die vorliegende Unter-
suchung zusätzlich behindernde Diagnose stellen, dass sie selbst keineswegs „zum
wohldefinierten Repertoire philosophischer Kernbegrifflichkeiten“ 411 von alters
her gehört, sondern tatsächlich auch in neuester Zeit in nuce nur skelettartig ent-
wickelt bleibt. 412 Diese Diagnose gilt entsprechend für alle Bereiche, in denen das
Wort Menschenwürde im Rahmen von Begründungsdiskursen verwendet wird –
im Fachdiskurs wissenschaftlicher Ethiken ebenso wie im öffentlichen Bereich ge-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

sellschaftlicher oder politischer Diskurse. Für die Beantwortung der Ausgangsfra-


ge des letzten Kapitels, nämlich der normativen Art des Zusammenhangs einer
Verletzung der Menschenwürde durch gravierende Armut, muss dieses Ergebnis
aber nun erneut eine Aufschiebung bedeuten, denn mit diesem Resultat bleibt
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

nun zunächst völlig unklar, wie Armut und mangelndes Wohlergehen überhaupt
als die Menschenwürde verletzbar dargestellt werden können. Denn je nach eige-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ner hermeneutischer Perspektive wird man, so konnte an den Ansätzen von Rawls
als auch von Nussbaum und Sen gezeigt werden, in dieser Frage zu tatsächlich
sehr unterschiedlichen Antworten kommen.

411
Vgl. dazu Baranzke, Würde der Kreatur, S. 38 und insbesondere dort die Fußnote 58, in der die
Autorin eine erhellende und den zitierten Befund bestätigende Übersicht über die Einträge zu
‚Menschenwürde‘ in den einschlägigen philosophischen Lexika gibt.
412
Bezeichnenderweise verweist Rensmann denn auch nur auf die zweitausendjährige ‚Genealogie‘
der Menschenwürde, die erst ab 1945 in einer rechtsnormierende Tradition mündet. Vgl. Rens-
mann, ‚Die Menschenwürde als universaler Rechtsbegriff‘, S. 75.
A. Der Menschenwürdebegriff im ideengeschichtlichen
Diskursraum – Methode und Problemstellungen

Für den philosophisch/ethischen Diskurs bringt die Eingangsdiagnose dieses Ka-


pitels, nämlich die einer in der philosophisch-ethischen Gegenwart freischweben-
den Semantik der Menschenwürde, jedenfalls mit sich, dass vor der Auseinander-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

setzung mit der Frage, ob und wie die Würde des Menschen durch Armut ver-
letzt werden kann, eine historisch-systematische Aufarbeitung des philosophi-
schen Begriffs ‚Menschenwürde‘ gestellt werden muss. Das Idealziel dieser Aufar-
beitung wäre eine an der menschlichen Geschichte geschärfte Erarbeitung der po-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

tenziellen Argumente der Abschlussdiskussion im letzten Kapitel, in welchem


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dann die Frage nach dem ‚ob‘ einer ‚Menschenwürdeverletzung durch Armut‘ be-
antwortet werden könnte. Es sind dann von dieser idealen Zielsetzung her die in
der Tradition bedeutsamen und zu unterschiedlichen Zeiten jeweils relevanten
Semantiken der Menschenwürde daraufhin zu untersuchen, ob sich nicht in
ihnen möglicherweise inhaltlich substantielle Merkmale finden lassen, die in den
unterschiedlichen geschichtlichen Epochen des Begriffes der Menschenwürde die
Tendenzen erkennen lassen, die es heute ermöglichen, einerseits auf eine Verlet-
zung der Menschenwürde durch Armut schließen zu können und die es anderer-
seits erlauben, die Menschenwürde als mit bestimmten menschlichen Ansprüchen
an Wohlergehen verbunden zu sehen.
(1) Gegen den Vorwurf der Inhaltslosigkeit des Menschenwürdebegriffs geht es
also im folgenden Prozess der historischen Nachzeichnung zuerst einmal darum,
mit der Hilfe der historisch mit dem Begriff der Würde verbundenen und in ihm
konzentrierten Überzeugungen und Inhalte einen nach außen hin abgegrenzten
Diskursraum einzuhegen, der nach innen offen für einen Diskurs der verschiede-
nen Würdeverständnishorizonte ist, nach außen jedoch nicht als „Leerstelle“ 413 er-
scheint, sondern als ein Begriffscontainer für im Widerstreit liegende substantielle
Inhalte, die bei aller philosophischen Aktualität zugleich geschichtlich verwurzelt
werden. Das in diesem Kapitel in Angriff genommene Unterfangen dient deshalb
weniger der – durchaus methodisch notwendigen – Selbstverständigung über eine
sozialethisch kritisierte, ideengeschichtliche Darstellung des Begriffs der Men-
schenwürde in seinem Verhältnis zum Wohlergehen des Menschen respektive
dessen Armutserfahrungen, sondern vor allem auch einer damit notwendig ver-
bundenen Analyse der mit der Entstehung der Idee der Menschenwürde begriffs-

413
Diese Bezeichnung verwendet Hoerster in kritischer Absicht, um deutlich zu machen, wohin ein
allzu leichtfertiger Gebrauch der Menschenwürdeformel führen muss. Vgl. Hoerster, Ethik des
Embryonenschutzes, S. 24.
188 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

geschichtlich verbundenen Menschen- und Weltbilder. Wie andere philosophi-


sche Begriffe auch ist das spezifische Verständnis der Menschenwürde nur im
hermeneutischen Zeit- und Ideenkontext konkreter Gesellschaften nachvollzieh-
bar, womit ein je spezifischer Gebrauch der Menschenwürdeformel in dieser Hin-
sicht Zeugnis einer langen und wechselvollen Geschichte des Menschenwürdebe-
griffs selbst ablegt.
(2) Es ist allerdings auch darauf zu verweisen, dass die folgende Auseinander-
setzung nicht jeder feinsten Verästelung der historischen Genese des Würdebe-
griffs folgen wird, sondern in ihr vielmehr nur die großen Bögen des Zusammen-
hangs aus Würdekonzeption und Selbstverständnis des Menschen dargestellt
werden. Besonders in der Neuzeit werden deshalb viele Nebenschauplätze dieses
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Verhältnisses ausgeklammert werden müssen, um dadurch besser die bedeuten-


den Leitthemen anschaulich und konkret machen zu können. Gleichfalls ist die
in der vorliegenden Untersuchung vorgenommene Einschränkung auf die abend-
ländische Geschichte der Idee von der Menschenwürde hier nicht so zu verste-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

hen, dass es spezifisch und exklusiv dieser geschichtliche Raum ist, in dem sich das
‚richtige’, oder ‚angemessene’ Verständnis der Würde des Menschen herausbildet.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Vielmehr ist der Kontext, in dem die christliche Sozialethik entstand, der
abendländische, weshalb es aus Gründen eines nachvollziehbaren hermeneuti-
schen Zugangs angezeigt scheint, entsprechend auch die abendländische Ge-
schichtsperspektive auf die menschliche Würde einer kritischen Relektüre zu un-
terziehen. Die Untersuchung der abendländischen Geschichte des Menschen-
würdebegriffs ist hier also vielmehr in ihrer modellhaft-idealtypischen Form rele-
vant, insofern sich an der geschichtlich-semantischen Entwicklung des Würdebe-
griffs eine sich in der Zeit radikal verändernde Stellung des Menschen zu sich
selbst und seinen Mitmenschen zeigt. Dieses Kapitel bildet damit auch die zent-
rale Vorarbeit für das sechste Kapitel über die sozialethische Einschätzung des
Zusammenhangs von der Menschenwürde und ihrer Verletzung durch Armut,
indem es dann insbesondere einerseits vor ideengeschichtlichem Hintergrund der
Entwicklung des Menschenwürdebegriffs und andererseits dem pluralistischen
Vordergrund der Gegenwart die Frage nach dem Verhältnis der Rede von der
Würde des Menschen und daraus folgender Ansprüche und Rechte auf ein Leben
ohne Armut, aber mit Wohlergehen und Solidarität stellt.
(3) Im zweiten Kapitel wurde versucht, sowohl in soziologischer wie auch
ökonomischer Perspektive anschaulich zu zeigen, dass Armut als ein vorrangiges
soziales und moralisches gesellschaftliches Problem, das durch den Menschen be-
kämpfbar ist, erst in der Neuzeit als eben solches erkannt wurde. Wenn nun in
der folgenden Auseinandersetzung die Etappen des Verhältnisses von menschli-
cher Würde und den sozialen Bedingungen menschlicher Lebenswelten beleuch-
tet wird, respektive auf Forderungen, die sich je aus der zeitgenössisch philoso-
phisch oder gesellschaftlich vertretenen Semantik der Menschenwürde ergäben,
Bezug genommen wird, dann ist dies vor allem das Ergebnis eines Versuchs der
Extrapolation des eben zeitgenössisch geltenden, abendländischen Verständnisses
der Menschenwürde hinsichtlich der hier verfolgten Fragestellung. Die Extrapola-
IV.A DER MENSCHENWÜRDEBEGRIFF IM DISKURSRAUM 189

tion kann aufgrund der ihrem Inhalt zugrundeliegenden hermeneutischen Heu-


ristik des Extrapolierenden natürlich keinen Anspruch auf Richtigkeit erheben,
sondern versucht vielmehr deutlich zu machen, welche Relevanz die Rede von der
Würde des Menschen je für eine bestimmte Gesellschaft zu einer bestimmten
Zeit hat. Zentraler für das Verständnis der Konstruktion des folgenden Abschnitt
ist denn auch der ihm zugrundeliegende methodische Ansatz, aus der ideenge-
schichtlichen Entwicklung des Menschenwürdebegriffs die Kennzeichnung von
‚extremer Armut als Menschenwürdeverletzung’ geradezu als Resultat dieser Ent-
wicklung zu verstehen.
(4) In der folgenden Untersuchung der historischen Entwicklung des Wür-
debegriffs wird sich durch diese methodische Grundlegung – soviel sei vorausge-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

schickt – prominent zeigen, dass die unterschiedlichen Lesarten der Menschen-


würde, zu denen sich die politischen Philosophien Rawls‘ und Nussbaums – wie
im letzten Kapitel geschildert – ins Verhältnis setzen lassen, entgegengesetzten
Menschenwürdekonzeptionen entsprechen, welche die beiden zentralen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Hauptcharakteristika der ideengeschichtlichen Entwicklungen – nämlich die Idee


einer metaphysischen wie einer gesellschaftlich vermittelten Menschenwürde – ab-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

bilden. Der jeweils unterschiedliche Bezug auf die Menschenwürde in den eo-
rien von Rawls und Nussbaum hob bereits unterschiedliche Akzente im Begriff
hervor, die ihrerseits auf eine jeweils lange Tradition verweisen. Während der
Gebrauch des Menschenwürdebegriffs bei Rawls (wie bereits angemerkt: dort
weitgehend nur implizit) auf eine Lesart der Menschenwürde verweist, die vor al-
lem als normativ zu denken ist, als Bestimmung einer feststehenden, unveränder-
lichen, metaphysischen Wesenskerns des Menschen, als zu einem bestimmten
menschenbildlichen Kontext gehörig, verweist der sozialpragmatische Gebrauch
Nussbaums auf eine deskriptiv gehaltene, für unterschiedliche gesellschaftliche
Deutungen sensible, letztlich auch möglicherweise schnelllebigen Modifikationen
unterworfene Lesart der Würde des Menschen, die sich durch die ihr eigene im-
manenzorientierte Hermeneutik nicht allein auf den Menschen als Anschauungs-
objekt beschränkt verstanden wissen kann, sondern auch versucht, Begrün-
dungsmuster für die Würdigkeit anderer Lebewesen zu entwickeln. Beide Ten-
denzen zeigen sich in unterschiedlicher Ausprägung in den unterschiedlichen
Epochen philosophischer Auseinandersetzung mit der Begründung einer spezifi-
schen menschlichen Würde.
Weil man von diesen methodischen Vorüberlegungen ausgehend als Prämisse
für die historische Untersuchung der Genese des Begriffs anerkennen muss, dass
(a) von einer seit jeher philosophisch unbestrittenen Idee einer von allen Men-
schen universell geteilten Ansicht über die genauere inhaltliche Beschreibung ih-
rer Würde sowie ihrer Auswirkungen auf die geltenden moralisch-sittlichen Ord-
nungen innerhalb der Gesellschaften nicht ausgegangen werden kann, und dass
(b) die Idee der Menschenwürde in gewisser Weise mit den jeweils vorherrschen-
den Menschen- und Weltbildern korrespondiert, sind zwei in die Irre leitenden
Engführungen in der Darlegung der historischen Genese des Menschenwürdebe-
griffs zu vermeiden: (1) die Genese des Begriffs ist nicht als monodimensionale,
190 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

kausal sich immer weiter selbst fortschreibende Entwicklungslinie aufzufassen, die


teleologisch in einem schon immer im Reich der ewigen Werte bestehenden Ide-
albegriff mündet, von welchem ausgehend dann andere und dann als letztlich
falsch erkannte Begriffsinhalte kritisierbar wären. Ein dagegen stehendes, kontext-
sensibles Verständnis der Entwicklung des Menschenwürdebegriffs muss sich in
der Methode offensiv gegen die Überzeugung der Moderne richten, das die Idee
der Menschenwürde und ihre Durchsetzung als Anker der Menschenrechte sich
letztlich als Erfolg der Neuzeit, als Siegeszug einer sich säkularisierenden Welt ge-
gen die vorneuzeitliche Lebenswelt, darstellt. 414 Es ist gegen ein sonst entstehen-
des überzeitliches, metaphysisches Begriffsparadigma eben vielmehr methodisch
davon auszugehen (2), dass die Menschenwürde – wie andere philosophische
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Kernbegriffe auch – in ihrer jeweils zeitgenössischen Interpretationen das Men-


schenbild widerspiegelt, das zu einer bestimmten Zeit herrscht, bzw. dort als Re-
ferenzgrundlage dient, um unerwünschte gesellschaftliche Entwicklungstenzen-
den ausgehend von der Grundlage eines im Begriff der Menschenwürde als nor-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

mativ gefassten Menschenbildes zu kritisieren.


Indem die folgende historische Untersuchung diese beiden Punkte zu beachten
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

versucht, hofft sie, sich im letzten Kapitel auf einen dann kontextsensiblen und zu-
gleich substantiellen Menschenwürdebegriff berufen zu können, der die Frage nach
einer Verletzung der Menschenwürde durch Armut in der Gegenwart zu beant-
worten hilft. An jener Stelle wird dann ebenfalls zu klären sein, inwiefern die Re-
de von der Menschenwürde normativen Boden berührt und die Menschenwürde
in dieser Hinsicht als Geltungsgrund ethischer Verhaltensimperative, die sich ge-
gen lebensbedrohliche Armut richten, eingesetzt werden kann. Die Nachzeich-

414
Damit wendet sich die folgende Darstellung sowohl gegen ein humanistisches Entwicklungsver-
ständnis, an dessen utopischem Ende eine in humaner Brüderlichkeit verbundene Menschenfa-
milie den verweltlichten Himmel auf Erden bewohnt, aber auch gegen einen Säkularisierungsbe-
griff als zentraler Grundlage der Modernisierungsthese, der sich selbst als die einzig vernünftige
Weltanschauung im Rahmen der Neuzeit und ihrer weiteren Entwicklung versteht. Casanova ar-
beitete in dieser Hinsicht heraus, dass die Säkularisierungsthese im Allgemeinen drei sehr unter-
schiedliche Modelle inhäriert: nämlich (1) Säkularisierung als Abtrennung der säkularen Sphäre
von der religiöser Institutionen und Normen, (2) Säkularisierung als Niedergang religiöser Über-
zeugungen und Praktiken und (3) Säkularisation als Marginalisierung des Religiösen zur Privatsa-
che. Jedes dieser Phänomene sei jedoch getrennt voneinander zu untersuchen, um seinen Einfluss
auf die Moderne je anschaulich machen zu können. Vgl. Casanova, Public Religions in the Mo-
dern World, S. 211. Der Mensch als ‚Begriff‘ ist schließlich das Ergebnis einer historisch und kul-
turell bedingten Praxis, wie ebenso die mit ihm verbundenen Attribute und Prädizierungen ein
Ergebnis historisch und kultureller Praxen sind, die auch weiterhin dem Wandel unterworfen
sein werden, nicht aber auf ein ‚Endziel‘, dessen Sinngestalt sich als in der Moderne zeigend an-
genommen wird, zuläuft. Diesen Umstand beschreibt Foucault treffend in seinem Buch ‚Die
Ordnung der Ding‘; für ihn ist der Mensch in der Form, wie er sich gegenwärtig seiner selbst
bewusst ist, in der spezifischen Formation seiner Selbstempfindungen und -beschreibungen, nur
ein zeitgeschichtlich verortetes Phänomen, das irgendwann durch andere Selbstempfindungen und
-beschreibungen abgelöst werden wird. Deshalb lässt Foucault sein Buch mit der berühmten
Vermutung enden, dass irgendwann „der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht
im Sand“. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 462. Siehe dazu auch: Erb; Sarasin, Art. ‚Michel
Foucault‘, S. 94.
IV.A DER MENSCHENWÜRDEBEGRIFF IM DISKURSRAUM 191

nung der historischen Genese des Menschenwürdebegriffs wird also zusammen-


gefasst dann von besonderem systematischen Wert für diese Arbeit sein, wenn sie
aus der historischen Analyse keine eindimensionale Inhaltsbeschreibung der Men-
schenwürde mit normativem Geltungsanspruch zu generieren versucht, sondern
wenn diese Nachzeichnung die Grundzüge der kontextuellen Entstehung eines
Welt- und Menschenbildes deutlich macht, das schließlich einen geistesgeschicht-
lichen Kontext und eine offene Perspektive für die heutigen Debatten um das
Wohlergehen des Menschen bietet und auf diesem Wege dann auch möglicher-
weise verdeutlicht – so die ese –, warum heute extreme Armut als Verletzung
der Menschenwürde gedacht werden kann.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

B. Zwei Hauptperspektiven auf die Menschenwürdesemantik


Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

seit der Antike


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Die Überzeugung, dass der Mensch über eine besondere Würde verfügen kann,
reicht bereits weit in die Menschheitsgeschichte zurück. Schon in der Antike
werden differenzierte Semantiken eines Würdestatus im allgemeinen Sprachge-
brauch verwendet, wodurch der Begriff grundsätzlich als sozialhistorisch alt ein-
zuordnen ist. 415 Zu den ältesten Vorstellungen betreffend der Selbstverortung des
Menschen im Kosmos zählt die Idee, dass ein Mensch gegenüber seinen tieri-
schen Mitgeschöpfen oder gegenüber anderen ‚minderwertigen’ oder ‚barbari-
schen’ Menschen einen besonderen Status inne hat oder – bei richtigem eigenem
Verhalten – haben kann. Dass ihm aufgrund seiner Vernunft, aufgrund seiner re-
flexiven, zeitbewussten Verstandesfähigkeiten und/oder aufgrund einer besonde-
ren (familienähnlichen) Verbindung mit einem Gott oder verschiedenen Göttern
eine herausgehobene, gattungsspezifische Sonderstellung und damit eine beson-
dere Würde im Universum zukomme, füllt diese Überzeugung einer menschli-
chen Sonderrolle mit kontextualisierendem Inhalt. 416
Der Mensch sieht sich und seine Sonderstellung im Universum begründet so-
wohl in der physischen Welt, als auch in der Metaphysik des Kosmos. Hier ist er
durch seine Fähigkeiten zur freien Schaffung von Kultur und leicht handhabbarer
Lebenswelt Herrscher über Natur und Tier, dort steht er durch seine freie Geis-
tigkeit im engen Schicksalsverbund mit den metaphysischen Mächten. Eingebet-

415
Inwieweit der Begriff der Würde der eigenständigen Entwicklung in anderen kulturellen und re-
ligiösen Kontexten entspringt, oder ob er dort nicht schon selbst Ergebnis der Begegnung mit
dem Abendland ist, untersucht Paul Tiedemann anschaulich in: ders., Menschenwürde als Rechts-
begriff, S. 136-145.
416
Vgl. Feldtkeller, ‘Grundtypen der Begründung von menschlicher Würde in der Religionsge-
schichte‘, S. 25f.
192 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

tet ist diese Überzeugung des Menschen hinsichtlich seiner eigenen Stellung in
der Antike in eine kosmologische Metaphysik, die das Verhältnis des Menschen
zu seiner Umwelt, einmal nach unten zu den Tieren und Pflanzen, einmal nach
oben, zu den Göttern, in ein hierarchisch gegliedertes Verhältnis im Rahmen ei-
ner vieldimensional aufgefächerten Schöpfungsordnung setzt. 417
Allerdings ist die Geschichte der Rede von der Würde des Menschen auch von
starken Umbrüchen und inhaltlichen Umdeutungen gezeichnet, die sich haupt-
sächlich aus den zwei unterschiedlichen Vorstellungshorizonten des Begriffes er-
klären. Das Narrativ der Würde folgt seit der Antike, wie sich im nun folgenden
ersten Abschnitt zeigen wird, nämlich grundsätzlich zwei Hauptperspektiven, ei-
nerseits dem metaphysisch, moralisch oder personal begründeten Sonderstatus
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

des Menschen unter seinen Mitmenschen oder Mitgeschöpfen, eben der soge-
nannten ‚metaphysisch begründeten Würde‘, oder aber andererseits als verdienst-
liches Resultat der eigenen sozialen Stellung innerhalb einer Gesellschaft als Vor-
stellung einer „Leistungswürde“ 418, aus der dem Träger dieser Stellung besondere
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ethisch-moralische Rechte und Pflichten gegenüber seiner Gesellschaft erwachsen.


Als verbindendes Charakteristikum ist für beide Hauptperspektiven festzuhalten,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dass sich sowohl die metaphysische als auch die soziale Würde im Rahmen eines
semantischen Deutungshorizonts entfalten, der im Kern durch die konkrete sozi-
ale Lebensform und die ‚Kosmovision‘ der Menschen bestimmt wird. Damit wird
im Rahmen der folgenden historischen Nachzeichnung des Würdebegriffs deut-
lich, weshalb der semantische Deutungshorizont der Würde immer wieder sozia-
len Modifikationen unterworfen ist: in basaler Weise ist die je aktuelle gesell-
schaftliche Vorstellung der menschlichen Würde abhängig vom Menschenbild
und der Selbstverortung des Menschen in der Welt.

B.1 Die Gottesebenbildlichkeit als Wurzel der Würde? Kann sie


Hilfsansprüche begründen?

Die menschliche Welterfahrung einer fundamentalen qualitativen Abgrenzung


seiner geistigen Fähigkeiten vom Tier- und Pflanzenreich, und gleichzeitig der Er-
fahrung körperlicher Unterlegenheit gegenüber einer stets gefährlichen Natur,
schlägt sich in den zahlreichen mythischen und legendenhaften Urerzählungen
von der Stellung des Menschen in der Welt nieder, die jene menschliche Urerfah-
rung exemplarisch zum Ausdruck bringen. In der für die jüdisch-christliche Tra-
dition in dieser Hinsicht primär stehende biblische Erzählung des Prozesses der
Schöpfung, der Genesis, ist es der schöpfende Gott, der nach seinem sechs Tage
dauernden Weltenschaffen schließlich dem Menschen die Verantwortung über
seine Schöpfung überträgt:

417
“e effect of this is to delimit human nature from above and below”. Vgl. Inwood, Ethics and
Human Action in Early Stoicism, S. 18.
418
Hattler, ‘Menschenwürde und Menschennatur’, S. 33.
IV.B ZWEI PERSPEKTIVEN AUF DIE WÜRDESEMANTIK IN DER ANTIKE 193

„Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie
sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das
Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also
den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau
schuf er sie. Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und ver-
mehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische
des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land
regen.“ 419
Neben der Verantwortung über Gottes Schöpfung als Zeichen der Sonderstellung
des Menschen in der Weltordnung wird an dieser Stelle jedoch auch eine andere
Eigenschaft des Menschen betont, die in der von altorientalischen Bildern durch-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

prägten Vorstellungswelt Israels, aber auch in anderen antiken Gesellschaften, ei-


ne prononcierte Stellung einnimmt: die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, in
der eine enge verwandtschaftliche Beziehung – vergleichbar der zwischen Eltern
und Kindern – zwischen Gott und Mensch zum Ausdruck kommen soll. 420 Mann
und Frau gleichermaßen stehen in diesem engen verwandtschaftlichem Verhältnis
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

zu Gott, sie sind, auch das schwingt im Sinngehalt des ‚Ebenbilds‘ mit, Repräsen-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tanten seiner Macht auf Erden. Im Gegensatz zu den Beschreibungen der Schöp-
fungsmythen anderer Völker werden jedoch in der Genesis nicht nur einzelne
Menschen vor allen anderen mit dieser Ebenbildlichkeit identifiziert (wie etwa bei
den Ägyptern nur der Pharao, bei anderen Völkern beispielsweise ausschließlich
der König 421), sondern alle Menschen sind in gleicher Weise Gottes Ebenbild. 422 We-
der große noch vernachlässigbar kleine Unterschiede der körperlichen oder geisti-
gen Fähigkeiten zwischen den Menschen, die eine Abstufung im Umfang der
Gottesebenbildlichkeit nach sich ziehen könnte, spielen in den biblischen Schöp-
fungsberichten eine Rolle. Solche Unterschiede werden auch im nachfolgenden
Korpus der Bibel nicht thematisiert.
Der in Worte gefasste Entschluss Gottes, den Menschen zu erschaffen („Lass
uns Menschen machen als unser Abbild“), gibt der Schöpfung des Menschen eine
eigene Dramatik und hebt ihn dadurch deutlich von der Schaffung der anderen
Geschöpfe ab. Der menschliche Sonderstatus kulminiert in der Abbildformel, die
die Intention des Textes, die besondere Würde des Menschen in dieser Sonder-
stellung deutlich zu machen, noch einmal akzentuiert. Denn in dieser Formel
ausgedrückt ist der Glaube, dass „[d]er Mensch […] nicht das kontingente Pro-
dukt einer unpersönlichen Schicksalsmacht [ist, M. H.], sondern das Ergebnis ei-
ner lebendigen Person, einer Intention, eines Beschlusses. All dieses macht als

419
Gen 1,26-28.
420
Zur grundsätzlichen Orientierung vgl. Hamman, L’homme, image de Dieu.
421
Vgl. zu einer kurzen Aufschlüsselung dieses emenkomplexes: Müller-Luckner, Anfänge politi-
schen Denkens in der Antike, S. 408. Ferner: Ockinga, Boyo, Die Gottesebenbildlichkeit im Alten
Ägypten und im Alten Testament.
422
Mit dieser Grundüberzeugung und ihrem universalen Adressatenkreis unterscheidet sich die jü-
disch-christliche Tradition allerdings auch deutlich von zeitgenössischen Schöpfungsberichten.
Vgl. Volp, Die Würde des Menschen, S. 67.
194 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Konsequenz nicht nur den personalen Gott aus, sondern auch den Menschen,
worin er sich vom Rest der Schöpfung unterscheidet.“ 423
Im Gegensatz zu anderen Menschenbildern der Antike ist dasjenige der Gene-
sis dadurch ganzheitlich – den ganzen Menschen umfassend – orientiert, denn
entgegen der „platonischen und stoischen Anthropologie findet sich hier nicht die
Vorstellung von genauer lokalisierbaren göttlichen Elementen im Menschen wie
etwa der ratio oder des erkennbaren καλον.“ 424 In der jüdisch-christlichen Tradi-
tion ist mit dieser Überzeugung der ganze Mensch in seiner Leiblichkeit Got-
tesebenbild, und nicht allein ein spezifisches, qualitativ bedeutsames und heraus-
gehobenes Unterscheidungskriterium. Die besondere Ausgangspositionierung des
Menschen in der Schöpfungsordnung durch Gott, seine Sonderstellung im Uni-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

versum wird damit innerhalb der Erzählung der Genesis in den folgenden drei
Eigenschaften zusammenfassbar: der Mensch ist Gott in seiner leiblichen Ganz-
heit ebenbildlich (1), erfährt sich dadurch als mit einer Verantwortungsaufgabe
für den Erhalt der Gesamtschöpfung ausgezeichnet (2), weshalb er sich die Erde
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

unterwerfen (3.1) oder als ‚Statthalter Gottes’ über sie wachen (3.2) soll. Die
Überzeugung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen lässt sich deshalb in drei
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Verständnisdimensionen deuten, welche die Sonderrolle des Menschen an kon-


kreten Inhalten oder Aufgaben festmachen. Die substantielle Position wäre so zu
kennzeichnen, dass dem Wesen des Menschsein ein eben inhaltlich substantielles,
qualitativ bedeutsames Charakteristikum einwohnt, das ihn zu Gottes Ebenbild
werden lässt, wie beispielsweise die Vernunftnatur. Die relationale Position wäre
als Überzeugung so zu bestimmen, dass es notwendig ist, in einer engen Verbin-
dung mit Gott zu stehen, um sein Dasein als gottebenbildlich verstehen zu kön-
nen, bzw. dass die menschliche Fähigkeit, tiefreichende und vielschichtige Bezie-
hungen unterhalten können, die Substanz der Gottesebenbildlichkeit des Men-
schen umfasst. Die funktionalistische Position wäre hingegen so zu skizzieren, dass
aus der Beschreibung der Genesiserzählung eine direkte Aufforderung zum ver-
antwortlichen Herrschen über die Erde resultiert: seinem Gott ist der Mensch
dieser Position zufolge also dann ebenbildlich, wenn er seinem Herrschauftrag
Folge leistet.
Die Gottesebenbildlichkeit als Glaubensinhalt ist jedoch nur schwierig in dar-
aus sich ergebende Fragestellungen hinsichtlich der ethischen Form und Art der
Verantwortung des Menschen für sich und andere zu übersetzen, wie Martin
Honecker hervorhebt. War in der Antike ansonsten die angenommene Got-
tesebenbildlichkeit dazu angetan, die Übereinstimmung der Politik eines Potenta-
ten mit dem Willen der Götter zu verdeutlichen – sie hatte dort also vor allem ei-
ne sozial-regulative und machtpolitische Sinnspitze – ist der egalitäre Charakter
der Gottesebenbildlichkeit in der Genesis vor allem glaubensimmanent als Aus-
druck einer Selbsterfahrung als ‚Gottes Eigenvolk‘, das eben alle Gläubigen – und
nicht nur die Eliten – umfasst, zu deuten. Problematisch ist denn freilich auch,

423
Ebd., S. 71.
424
Ebd., S. 66.
IV.B ZWEI PERSPEKTIVEN AUF DIE WÜRDESEMANTIK IN DER ANTIKE 195

das genaue Verhältnis zu bestimmen, in dem das Abbild Mensch zu seinem


Schöpfer steht, denn je nach Grad der seinsmäßigen Entsprechung ergäben sich
daraus unterschiedliche Grade der Verantwortung. Es ist aber prinzipiell davon
auszugehen, dass die Gottesebenbildlichkeit in der Erzählung der Genesis keine
fundamentalontologische Gleichsetzung Gottes mit dem Menschen meint, son-
dern „[w]enn eine Entsprechung zwischen Gott und Mensch besteht, dann äu-
ßert sie sich darin, daß dem Menschen die Schöpfung Gottes anvertraut wird,
daß er sie ‚bebauen und bewahren‘ soll. Es geht nicht um eine seinsmäßige Ver-
bundenheit […]“ 425.
Mit dieser Prämisse, so folgert Honnecker, sei die Gottesebenbildlichkeit des
Menschen jedoch vornehmlich „ein exegetisches und dogmatisches ema“426
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

und unter ethischen Gesichtspunkten sei sie nur insoweit relevant, als der Glaube
an die Gottesebenbildlichkeit gerade nicht mit der „sittlichen Persönlichkeit“ 427
des Menschen gleichgesetzt werden könne. Denn dies würde ja bedeuten, dass
das Handeln des Menschen, ob gut, ob schlecht, immer vor dem Horizont seines
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Daseins als imago dei verstanden werden und in dieser Perspektive bewertet wer-
den müsse. Die Reflexion auf das menschliche Handeln käme durch diesen De-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

terminismus schlicht schon vor den menschlichen Eigenschaften personaler Frei-


heit und Willensfähigkeit zum Ende. Der Moralität des Menschen wäre dann on-
tologisch letztlich und ausschließlich aus seiner Bestimmung als Gottes Ebenbild
ableitbar, nicht jedoch aus der Bestimmung des Menschen als Wesen von in sich
selbst vorfindbarer moralischer Daseinsrechte und -pflichten. 428 Die Gotteseben-
bildlichkeit ist in der Genesis deshalb vielmehr als explikatives und nicht-
substantielles Moment einer Verbindung zu verstehen, in der das Dasein des
Menschen auf seinen Schöpfer bezogen wird:
„Damit ist dem Menschen eine Würde verliehen, die in seinem Geschaffensein von
Gott begründet ist. Dabei ist wohl zu beachten, daß die Gottesebenbildlichkeit
nicht etwa dem Menschengeschöpf noch dazu verliehen wird; sie ist explikativ ge-
meint: damit, daß der Mensch von Gott geschaffen ist, ist er zu Gottes Ebenbild ge-
schaffen. Diese dem Menschen mit seinem Geschaffensein verliehene Würde ist
vollkommen unabhängig von allen möglichen Unterschieden zwischen Menschen-
gruppen, von völkischen, religiösen, rassischen und sozialen Unterschieden. Sie eig-
net dem Menschen jenseits all dieser Differenzierungen.“ 429

425
Leuze, Religion und Religionen, S. 122.
426
Honecker, Einführung in die theologische Ethik, S. 48.
427
Ebd.
428
Siehe dazu auch: Hidalgo, ‚Die Abkehr vom Sündenbock‘, S. 49f. Hidalgo bezieht sich in seinem
Aufsatz zwar auf die Menschenrechte, im entsprechenden Abschnitt gelten seine Analysen aber
ebenfalls für die Menschenwürde. In ähnlichem Kontext argumentiert, nun auf die Menschwür-
de bezogen, Walter Sparn, der deshalb die öffentliche Rede von der Menschenwürde, bzw. inner-
gesellschaftlich und in Rechtstexten strikt getrennt sehen möchte. Vgl. Sparn, ‚“Aufrechter Gang“
versus „Krummes Holz“?‘.
429
Westermann, ‚Das alte Testament und die Menschenrechte‘, S. 7, zitiert nach: Volp, Die Würde
des Menschen, S. 69.
196 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Zusammen mit der Einsicht, dass die Glaubensinhalte, die mit der Gotteseben-
bildlichkeit verbunden werden, immer schon hermeneutisch geprägt sind durch
das vorherrschende „Gesamtverständnis des Menschen […], als auch von der Ge-
samtsicht des Verhältnisses von Gott, Welt und Mensch“ 430 muss dieses explikati-
ve Moment dazu führen, dass sich die „im Symbol ‚imago dei‘ aufgeworfene Fra-
ge, was der Mensch ist, […]letztlich also nicht ethisch, sondern nur fundamental-
theologisch beantworten [lässt].“ 431 Daraus muss dann aber auch umgekehrt fol-
gen, dass der Glaube an die Gottesebenbildlichkeit nicht per se den Übersprung
zur Begründung daraus folgender ethischer Normen zulässt; aus dem Verhältnis
Gottes zu seiner Schöpfung ist theologisch in der Aussage der Ebenbildlichkeit
aber ein Menschenbild skizziert, das als hermeneutische Grundlage darauf auf-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

bauender Explikationen des Menschlichen dienen kann. 432


Aus dieser Annäherung an die Glaubensaussage von der Gottesebenbildlichkeit
wird bereits deutlich, dass sich der Konnex von der Glaubensaussage imago dei als
der Herkunft der Würde des Menschen nicht so einfach und unhinterfragt –
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

auch innerhalb eines innerchristlichen bzw. innertheologischen Diskurses nicht –


zu begründungstheoretischen Fragestellungen einer Würde des Menschen und
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

daran anschließender ethischer Aussagen herstellen lässt, wie es in der Literatur


oft geschieht. 433 Weiterhin ist gerade bei den Schöpfungserzählungen grundsätz-
lich zwischen der ursprünglichen Entstehungsintention und einer späteren Re-
kontextualisierung der Inhalte zu unterscheiden. Wie sich an späterer Stelle der
historischen Nachzeichnung zeigen wird, ist die Idee einer menschlichen Sonder-
stellung als Würde und daraus folgender ethischer Implikationen hinsichtlich der
Unterstützung Armer und Bedürftiger, die sich dem Menschen aus dem Eben-
bild-Gottes-sein erschließt, erst Ergebnis scholastischen Denkens des Mittelalters,
namentlich durch omas von Aquins. Die Würde des Menschen in der Got-
tesebenbildlichkeit ist damit als transzendent begründeter Sonderstatus auch in-
nerchristlich ein weitgehend kontextsensitiver Begriff, der erst im Laufe einer lan-

430
Honecker, Einführung in die theologische Ethik, S. 49.
431
Ebd.
432
Zur Stellung der Gottesebenbildlichkeit zum Recht siehe Vögele, ‚Die christliche Deutung der
Menschenwürde‘, S. 67ff. Siehe dazu auch Reinhard Marx und Helge Wulsdorf, die festhalten,
dass „[w ]ie der Würdetitel des Bildes Gottes […] auch das Personsein des Menschen eine seine
faktische Wirklichkeit überbietende Kategorie [ist, M. H.], die sich weder aus seinen empirischen
Merkmalen erschließen noch an seiner artspezifischen Differenz zu anderen Lebewesen ablesen
lässt.“ Vgl. Marx; Wulsdorf, Christliche Sozialethik, S. 75.
433
Dass mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ideengeschichtlich nicht auch automatisch
sein Würdestatus verbunden ist, sondern diese Verbindung erst im Mittelalter gesehen wurde,
wird dementsprechend in der sozialethischen Literatur meist nicht eigens behandelt, bzw. ausge-
blendet; vgl. z. B. das Kapitel ‚Biblische Motive‘ in der Darstellung von Wilhelms, in der er
schreibt, dass „mit der Ebenbildlichkeit Gottes dem Menschen eine unverlierbare Würde verlie-
hen [ist, M. H.], die ihn umfassend in die Verantwortung nimmt.“ Vgl. Wilhelms, Christliche
Sozialethik, S. 47.
IV.B ZWEI PERSPEKTIVEN AUF DIE WÜRDESEMANTIK IN DER ANTIKE 197

gen und widerspruchsreichen ideengeschichtlichen Wissenschafts- und Sozialge-


schichte die heutigen semantischen Ausdrucksmöglichkeiten erhielt. 434
Der Versuch, die Würde und den Wert des Menschen „durch ein göttliches
Wertabsolutum, von dem der Mensch profitiert“ 435 zu begründen, muss aus sozi-
alethischer Sicht damit mindestens aus zwei Perspektiven als problematisch ange-
sehen werden. Zum einen verdeutlicht die lange Zeitdauer, die zwischen der Ver-
schriftlichung der Genesis vor der Zeitenwende und der scholastischen Gleichset-
zung der Gottebenbildlichkeit mit der Würde des Menschen lag, dass sich auch
im tradierenden Umgang mit Glaubenssätzen inhaltliche Entwicklungen vollzie-
hen, die ihre Kerngehalte je zeitgeschichtlich unterschiedlich kontextualisiert auf-
scheinen lassen. Zum zweiten spricht dieses Ergebnis dafür, bei der Einbeziehung
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

von Glaubenssätzen zur Begründung partikularer Normen und Werten umsichtig


zu Werke zu gehen, um diese nicht für eine Anwaltschaft zu instrumentalisieren,
zu der sie von ihrem Sinngehalt möglicherweise gar nicht geeignet sind. Partiku-
lare Glaubensüberzeugungen wie die der Gottesebenbildlichkeit des Menschen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

können außerdem selbstredend in pluralen Gesellschaften nicht dazu herangezo-


gen werden, zur Letztbegründung weltanschaulich neutral verfasster Werte und
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Normen zu dienen, respektive zur Hilfe bei Armut und Bedürftigkeit zu motivie-
ren. Die Schöpfungserzählung der Genesis ist zwar als wichtige ideengeschichtli-
che Grundlage für die metaphysische Begründung der Sonderwürde des Men-
schen zu verstehen, dennoch aber hat das Bild der Gottesebenbildlichkeit selbst
in der weitgehend säkularen westlichen Kultur der Gegenwart viel von seinen
früheren Verständnisvoraussetzungen eingebüßt.
Diente die Erzählung der Genesis in diesem Abschnitt als Beispiel einer schöp-
fungsmythologisch-metaphysisch begründeten Sonderrolle des Menschen im
Kosmos, so entwickelte auch die griechisch-römische Antike in der stoischen Phi-
losophie, und besonders in der der Stoa zugrundeliegenden Axiologie, eine meta-
physisch fundierte Würde des Menschen. Wie sich im Folgenden zeigen wird,
gründet sich diese stoische Begründung der Würde auf einem fundamental ande-
ren Weltbild als dasjenige der Genesis, obgleich der stoische Begriff der menschli-
chen Würde stilprägend für die griechisch-römische Philosophie und später –
nach der Zeitenwende – wiederum die christliche eologie werden wird.

434
Vgl. insbesondere die je zeitgeschichtliche Verwobenheit der Gottesebenbildlichkeit mit Entwick-
lungen in Gesellschaft und Politik, die Yves Bizeul herausarbeitet; die Gottesebenbildlichkeit
kann in der soziologischen Analyse eine kriteriologische Funktion inne haben, die gesellschaftli-
che Fehlentwicklungen hinterfragt und angreifbar macht. Bizeul, Glaube und Politik, S. 87ff.
435
omas, Würde und Verhältnismäßigkeit, S. 30.
198 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

B.2 Die Stoa – die besondere Stellung des Menschen in der Welt als
Naturrecht

Einen zur metaphysischen Begründung der besonderen Stellung des Menschen in


der Welt grundsätzlich anderen Weg als die Schöpfungserzählung der Genesis be-
schreitet also die philosophische Schule der Stoa. Es ist dort die äußere Natur, in
deren harmonische Ordnung aller Dinge der Mensch eingepasst ist, und es ist die
eigene innere Vernunftnatur, aus der der Mensch die Grundstruktur seines Seins
erkennen und als anleitende Hintergrundtextur seiner Lebensführung überneh-
men muss, um ein Gutes Leben führen zu können. In der stoischen Philosophie
treten in diesem Weltbild zum ersten Mal verschiedenartige philosophische Er-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

klärungsmuster und Weltdeutungen zu einer Begründung der Sonderstellung des


Menschen in einer konsistenten und systematisch ausgearbeiteten Form zusam-
men, die in einem durch den Menschen erkennbaren und für seine sozialen Le-
bensführung zu nutzenden Naturrecht resultiert. 436 Die Idee des Naturrechts als
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Zusammenschau einer gleichzeitig natürlichen und göttlich durchwirkten Ord-


nung, der Vernunft, des Entwurfs eines Kompasses eudaimonistischer Lebensori-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

entierung und letztlich einer Einordnung der Erkenntnistätigkeit des Menschen


in seiner Stellung in der Welt findet hier ihren ersten großen Ansatzpunkt, aller-
dings in diesem weit aufgespannten Anspruch auch ihre allzeit innewohnende
Aporie, denn: „[a]ls das einzig Beständige am Recht der ewigen Natur muss [dem
Skeptiker] dessen Unbeständigkeit erscheinen.“ 437
Bis heute übt das im stoischen Weltbild erstmalig systematisierte Naturrecht
einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die reflexive Begründung und Legi-
timation der Funktionsweisen menschlicher Institutionen und ihrer Kritikfähig-
keit aus; denn mit der anthropozentrischen Konzeption des stoischen Naturrechts
geht eine „entschiedene Konzentration […] auf den Menschen“ 438 einher, die im
Gedanken von in seiner Natur vorfindbaren ethischen Idealen und Handlungs-
orientierungen dem Menschen ein kritisches Regulativ anreicht, das in der Ge-
schichte immer wieder zur Neubegründung gesellschaftlicher Institutionen, bzw.
zur Kritik bestehender sozialer Verhältnisse und Institutionen genutzt wurde –
vgl. etwa die welthistorische Bedeutung der amerikanischen Unabhängigkeitser-
klärung (1776) in Verbindung mit den vorher und nachher proklamierten Bill of
Rights in den unterschiedlichen amerikanischen Bundesstaaten, sowie der franzö-
sischen Déclaration des Droites de l‘Homme et du Citoyen (1789), in denen natur-
rechtliche Normen als Grundlage des staatlichen Rechts eingesetzt werden. 439 Aus
der Tradition des stoischen Naturrechts arbeitet Michael Rosenberger denn auch
zwei bis heute gültige Sinnspitzen heraus, die für die weitere Fragerichtung dieses

436
Zur Entwicklung des vorstoischen Naturrechtgedankens siehe Ricken; Wagner, Art. ‚Naturrecht‘,
§ I.2.
437
Nocke, ‚Naturrecht und Demokratie‘, S. 83.
438
Abel, Stoizismus und frühe Neuzeit, S. 3.
439
Vgl. Ricken; Wagner, Art. ‚Naturrecht‘, § II.
IV.B ZWEI PERSPEKTIVEN AUF DIE WÜRDESEMANTIK IN DER ANTIKE 199

Kapitels, nämlich die grundlegende Entwicklung des Welt- und Menschenbildes,


die zur heutigen Perspektive auf die Menschenwürde führen, von großem Interes-
se sind:
„Einerseits ruft es in Erinnerung, dass der Rückgriff auf das, was ist, für die Begrün-
dung unbeliebiger materialer Normen unverzichtbar ist. Ethische Normen lassen
sich nicht ohne Rückbezug auf das Sosein der Wirklichkeit begründen: ‚agere sequi-
tur esse’. Andererseits bietet das Naturrecht die Chance einer methodisch differen-
zierten Rückbindung des Sollens an das Sein – unter reflektierter Vermeidung eines
platten Naturalismus.“ 440
Mit der Anthropozentrik der Stoa, die sich als früher Paradigmenwechsel und
Bruch mit früheren Vorstellungen einer Gesamtdarstellung des Kosmos und des-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

sen letztlich nicht intelligibel erfassbaren kausalen Wirkungen auf das Leben des
Menschen auffassen lässt, verlieren jene Ursachen und Wirkmächte, etwa direkter
göttlicher Eingriff oder das Schicksal als vom Menschen unbeeinflussbare und
chaotische Kraft, ihren explikativen und orientierenden Sinn für den Lebensvoll-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

zug des Menschen. Die der Stoa inhärente, umfassende Veränderung der Per-
spektivität des Weltbildes lässt sich pointiert in den Selbstbetrachtungen des römi-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

schen Kaisers Marc Aurel nachvollziehen, der als einer der letzten bedeutenden
Stoiker gilt:
„Alles ist wie durch ein heiliges Band miteinander verflochten. Nahezu nichts ist
sich fremd. Alles Geschaffene ist einander beigeordnet und zielt auf die Harmonie
derselben Welt. Aus allem zusammengesetzt ist eine Welt vorhanden, ein Gott, alles
durchdringend, ein Körperstoff, ein Gesetz, eine Vernunft, allen vernünftigen We-
sen gemein, und eine Wahrheit, so wie es auch eine Vollkommenheit für all diese
verwandten, derselben Vernunft teilhaftigen Wesen gibt.“ 441
Der Mensch als vernünftiges Wesen erfährt sich selbst als Zentrum des Univer-
sums und kann anhand seiner aktiven Erkenntnistätigkeit an der Natur seine
Handlungsoptionen bewerten. Von dieser neuen Selbstverortung ausgehend ist es
ihm Pflicht, sich selbst als vernünftiges Wesen zu entwickeln und dieses Wissen
um sich in verantwortungsvoller Weise auf seine soziale Umwelt einwirken zu las-
sen.

440
Rosenberger, ‚Ein Du vom ersten Moment’, S. 673. Allerdings dürfte gerade der zweite von Ro-
senberger genannte Punkt durchaus schwierig in der pluralen Wirklichkeit unterschiedlicher Kul-
turen umzusetzen sein. Eine gemeinsame Position darüber, was als ‚platter Naturalismus’ und was
als reflektierter Standpunkt in dieser Frage zu gelten habe, dürfte demnach beinahe aussichtslos
zu finden sein. Auch den ersten Punkt betreffend stellen sich weitere Fragen: ist die Natur tat-
sächlich ein „truthmaker“, der die gebildeten ethischen Normen durch das anschließende Beru-
fen der vernünftigen Erkenntnis auf die Natur zur Wahrheit werden lässt? Vgl: Mulligan; Si-
mons; Smith, ‘Truth-Makers’, S. 287-321. Einen interessanten Ansatz zum ontologischen Natu-
ralismus und den hier nur kurz dargestellten Problemen liefert Armstrong, ‚A Naturalist Pro-
gram: Epistemology and Ontology’, S. 79 und vor allem S. 85-88.
441
Aurel, Selbstbetrachtungen, S. 9.
200 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

B.2.a Das Weltbild der Stoa – Vernunft und Gleichheit

Historisch geht die Stoa auf Zenon von Kition zurück, der in der ποικίλη στοά
(Stoa poikile), der namensgebenden attischen Säulenhalle, lehrt. 442 Die Systemati-
sierung der stoischen Lehre erfolgte jedoch erst in der zweiten Schülergeneration
durch Chrysippos, der mit dieser Leistung verantwortlich für den späteren Erfolg
der Stoa zeichnet. 443 Die stoische Lehre wird schnell populär und bleibt deshalb
nicht lange auf den griechischen Kulturraum beschränkt. Über den Lauf von
Jahrhunderten breitet sie sich in der Welt des Altertums aus und erringt insbe-
sondere mit der wachsenden Macht des römischen Reiches und durch einflussrei-
che Vordenker wie dem bereits zitierten Marc Aurel sowie Cicero große Erfolge
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

als Lebensphilosophie und Ethik der griechischen und römischen Elite. Es ist vor
allem jener lang anhaltende Erfolg bei den politischen und geistigen Eliten ihrer
Zeit, wodurch die Stoa ihre Wirkungsgeschichte nach sich zieht, die sich selbst
heute noch in bestimmten Teilbereichen der philosophischen Anthropologie
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

nachvollziehen lässt. 444


Die Stoa deutet den Kosmos, ähnlich wie vorher bereits Aristoteles, als einen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

einzigen und großen Organismus, der einem eingeschriebenen Lebensplan und


einem ewigen Ordnungsprinzip gehorcht. Dieser geordnete und vernünftige Le-
bensplan ist die lex divina, die aus dem göttlichen Prinzip, nämlich dem logos ent-
springt. 445 Im stoischen Weltbild fallen dementsprechend verschiedene frühere
philosophische Vorstellungen des kosmischen Aufbaus zusammen: die Idee eines
prinzipiell geordneten Kosmos unter dem Begriff des nomos wird mit dem göttli-
chen Weltgesetz, Anankē, verbunden, das der Vorsokratiker Demokrit postulier-
te. In der stoischen Interpretation des Kosmos als dem Ort, wo göttliche Ver-
nunft und göttliches Recht untrennbar aufeinander bezogen sind, ist dann aber
auch notwendig der Platz des Menschen im Kosmos neu zu bestimmen. Denn
wenn der Kosmos vollständig durch göttliche Vernunft und Ordnung determi-
niert ist, stellt sich umgehend die Frage nach der Möglichkeit eines freien
menschlichen Willens, um noch von potenzieller Handlungsfreiheit sprechen zu
können. 446
Das philosophische Verständnis von Recht und Natur ändert sich durch diese
Neuinterpretation des Daseins auf zweierlei Ebenen: zum einen muss nun in der
stoischen Lehre die erfahrbare Natur als Ort der Göttlichkeit identifiziert werden,
wodurch die ursprüngliche lex divina als das schicksalhafte Wirken der Götter in

442
Vgl. Fellmann, Philosophie der Lebenskunst, S. 51.
443
Vgl. Drechsler, Art. ‚Chrysippos‘,S. 173f.
444
Einen Versuch der Einordnung unternimmt Ernst Bloch – freilich in grundsätzlich sozialistischer
Zielrichtung – in seinem Buch ‚Naturrecht und menschliche Würde‘, vgl. Bloch, Naturrecht und
menschliche Würde. Neuere Ansätze untersuchen Keil; Cramm, ‚Naturalismus und menschliche
Natur‘, S. 192-195.
445
Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 111f.
446
Vgl. Baltzly, ‘Stoicism’, Abschnitt 3: Physical eory, erhältlich unter <http://plato.stanford.edu/
archives/win2009/entries/stoicism/>.
IV.B ZWEI PERSPEKTIVEN AUF DIE WÜRDESEMANTIK IN DER ANTIKE 201

der Welt nun in der göttlich geordneten lex natura aufgeht. Zum anderen ist
durch diese Umidentifizierung die Natur als eine durch die menschliche Er-
kenntnistätigkeit der Vernunft begründete entschieden anthropozentrische, den-
noch gleichzeitig immer auch göttlich durchwirkte Natur aufzufassen. 447 Das sitt-
lich gebotene Ziel eines vernünftigen menschlichen Lebens kann deshalb der stoi-
schen Auffassung zufolge kein anderes mehr sein, als die Akte der willentlichen
Selbstbestimmung und damit verbunden die Orientierung der Moralität an den
epistemisch erfassbaren Maßgaben der lex natura auszurichten. Dazu in die Lage
gebracht wird prinzipiell jeder Mensch durch seine logos-Natur, die ihm jene epis-
temische Leistung überhaupt erst ermöglicht.
Das relationale Verhältnis von Natur und Vernunft, das durch seinen durch-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

strukturierten Aufbau dem Menschen die Möglichkeit gibt, in der Anschauung


seiner eigenen und der Anschauung fremder Natur zu inhaltlich substantiellen
moralischen Sätzen zu kommen, spiegelt sich in der stoischen Axiologie wieder.
Auf der ersten kategorialen Erfahrungsebene dieses Wertsystems stehen die axio-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ma als diejenigen Werte, die zur freien Entfaltung des Menschen die notwendige
Voraussetzung sind. Zugriff auf den Inhalt der axioma, was innerhalb der stoi-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

schen Lehre ‚einen durch sich selbst klaren Satz’ bedeutet, erhält der Mensch je-
doch in sich selbst: die axioma sind also die angeborenen, ‚natürlichen‘ Wahrhei-
ten, auf die der Mensch als logos-Wesen durch reinen Vernunftgebrauch zurück-
greifen kann. Auf der zweiten kategorialen Erfahrungsebene des Wertsystems ste-
hen die positiv gedeuteten axia, welche das bezeichnen, was dem natürlichen Le-
bensvollzug des Lebewesens gemäß essentiell wichtig und dadurch zum grund-
sätzlichen Erhalt des Lebens notwendig ist. Die axia sind deshalb vom Guten et-
wa des tugendhaften Verhaltens grundsätzlich zu unterscheiden, weil sie diesem
als Ermöglichung moralischen Handelns überhaupt vorausgehen. 448 Den axioma
kommt im stoischen Lehrgebäude deshalb eine herausgehobene Stellung zu, weil
der Mensch mit ihrer Hilfe dazu befähigt wird, in wahren Sätzen – die axioma
entstammen ja der göttlich durchwirkten Natur – das zu benennen, was sittlich
gut an sich ist – was also das Glück ist, was notwendig für das menschliche Wohl-
ergehen Vorbedingung ist –, oder was durch sich für ein sittlich gutes Verhalten
sorgt. 449 Wie und auf welchem Fundament lässt sich aber das Gute deuten und
bestimmen? Hier greifen die Stoiker auf die Bestimmung des Guten von Sokrates
zurück, der mit einem relationalen Begriff des Guten operiert: „Gut ist nur das,
was den Menschen gut macht“ 450. Dies kann in der stoischen Weltordnung aber
nichts anderes sein als die Erkenntnis, „daß Glück in vollendeter Harmonie des

447
Pangle, ‚Socratic Cosmopolitanism’, S. 241.
448
Vgl. Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, S. 140. Windelband unterstreicht an
derselben Stelle auch eine zumindest grundsätzliche Wertschätzung der Lebensgüter durch die
axia, obwohl die axia ja eigentlich gerade nicht auf das Gute an sich verweisen können.
449
Vgl. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 112.
450
Pohlenz, Die Stoa, S. 120.
202 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Menschen mit sich selbst besteht und diese nur durch ein Verstehen und Einver-
ständnis mit der göttlichen Weltvernunft zu erreichen ist.“ 451

B.2.b Gutes Handeln ist Handeln nach Maßgabe der Vernunft

Trotzdem ist es für den Menschen in der Stoa gerade nicht zulässig, einer bloß
„naturalistischen Auffassung der Moral“ 452 zu folgen. Denn allein aus der An-
schauung der natürlichen Eigenwelt, bzw. der natürlichen Umwelt lassen sich
keine vernünftigen und ethisch konsistenten Handlungsnormen legitim gewin-
nen, ohne einen modern: naturalistischen Fehlschluss zu begehen. Den Maßga-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ben der Natur als dem Ort der göttlichen Vernunft Folge zu leisten fordert von
jedem Menschen vielmehr ein in der eigenen Vernunfthaftigkeit ruhendes, stän-
dig reflektierendes Handeln; animalischen, unvernünftigen Begierden dagegen
muss der stoischen Lehre nach apathisch begegnet werden, da sonst der Mensch
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

seinem Vernunftauftrag durch die der Welt innenwohnenden lex divina nicht ge-
recht werden kann. Darin aber, in der Gelassenheit einer in sich ruhenden, reflek-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tierenden, vernünftigen Person, die sich im Einklang mit der göttlichen Welt-
vernunft weiß, zeigt sich schließlich die ethische Sinnspitze der Stoa.
In der oikeiosis befindet sich der Mensch nämlich in einem „Prozeß, durch den
ein Lebewesen schrittweise seiner selbst inne und dadurch mit sich selbst vertraut
und einig wird“ 453. In einem ewigen Kreislauf der Erkenntnis seiner Natur er-
schließt sich dem Menschen das Gute immer als das, was ihn im Rahmen seiner
natürlichen Verfasstheit fördert und vernünftig Handeln lässt. Der richtige Ver-
nunftgebrauch in diesem Kreislauf wiederum entspricht der menschlichen Natur,
was ihn zirkulär wiederum weiterhin das Gute anstreben lässt, und so fort. Das
Leben des Menschen ist in der stoischen Lehre durch die axioma letztlich umfas-
send und wesensmäßig auf das Gute hingeordnet, und der Mensch erwirbt auf
diesem Wege eine herausragende Stellung unter seinen Mitmenschen, wenn er
sich den axioma seiner Natur entsprechend verhält. Es ist nach Maximilian
Forschner damit vor allem das im stoischen Wertesystem zum Ausdruck kom-
mende Verhältnis des Menschen zur Welt, das eine metaphysische Begründung
des menschlichen Würdestatus in der griechisch-römischen Philosophie erstmalig
systematisch zu denken erlaubt. Dies wird besonders dadurch deutlich, dass Cice-
ro später die axioma mit dem römischen dignitas 454 übersetzt, wodurch „sein e-

451
Forschner, Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 45f.
452
Fellmann, Philosophie der Lebenskunst, S. 52.
453
Forschner, Über das Glück des Menschen, S. 51.
454
Forschner, ‚Marktpreis und Würde oder vom Adel der menschlichen Natur‘, S. 48. Siehe für Bei-
spiele der Übersetzungen von axia und axioma auch: Lebech, On the Problem of Human Dignity,
S. 32-36.
IV.B ZWEI PERSPEKTIVEN AUF DIE WÜRDESEMANTIK IN DER ANTIKE 203

orieimport […] nicht zuletzt durch seine lateinischen Übersetzungen griechischer


Termini weit reichende Konsequenzen gezeitigt“ 455 hat.
Allerdings bleibt dann angesichts des ethischen Modells der oikeiosis doch frag-
lich, welchen Sinn die Vernunft und das Handeln des Menschen in einem har-
monisch verwobenen und dadurch letztlich determinierten Kosmos haben kön-
nen. Im stoischen Weltbild scheint doch die Freiheit des Menschen eine (wenn
auch schöne) Illusion zu sein, weil alle Natur göttlich durchwirkt ist und dem
menschlichen Willen keinen Eigenraum zur Entfaltung zugesteht. So führt denn
auch Bertrand Russell kritisch an: „Wenn die Welt vollkommen deterministisch
ist, dann werden die Naturgesetze bestimmen, ob ich tugendhaft sein werde oder
nicht.“ 456 Andererseits bietet die Stoa mit ihren ethischen Leitlinien eine Lösung
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

für dieses Problem, die sich zwar grundsätzlich an alle Menschen richtet, durch
die Aufgabenstellung jedoch nur von den Besten geleistet werden kann: denn der
Mensch ist dem Kosmos ja nicht einfach unterworfen, sondern er kann sich
durch seine Vernunft und seine Sprache zu diesem verhalten, das Schicksal eines
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

determinierten Kosmos also sozusagen durch seine natürlichen Fähigkeiten ein-


ordnen und erklären. Die Natur als der Ort der göttlichen Vernunft hängt als ob-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

jektiver Erfahrungsbereich davon ab, welche moralische Haltung ihr der Mensch
gegenüberstellt, letztlich davon, wie er sich die ihn umgebenden Dinge vorstellt.
In dieser ethischen Sinnspitze liegt zugleich aber auch das elitäre Selbstver-
ständnis der stoischen Lehre begründet, die die als allen Menschen durch ihr
Menschsein zuerst gleichrangig zukommende Veranlagung zur epistemischen Er-
kenntnis des Weltganzen empfindlich einschränkt. Denn nur in der Ausübung
der in diesem Verhältnis zur Welt sich zeigenden natürlichen Vernunft kann sich
jeder Mensch als wahrer Mensch und damit als seiner Aufgabe würdig erweisen.
Die menschliche Vernunftausübung im Horizont der Natur ist durch die Kon-
tingenz der menschlichen Natur, nämlich ihr Streben nach einfachen Lüsten und
schnellen Befriedigungen, immer vom Scheitern bedroht. Gehorcht der Mensch
in seinem Daseinsvollzug dem vernunftorientierten Maßstab der lex natura nicht,
hat er sein Anrecht auf wirkliche Freiheit verwirkt und exkludiert sich damit
selbst aus dem Kreis seiner Mitmenschen. Die moralische Gleichheit ist zwar im
Wesen des Menschen universal und substantiell angelegt, durch das konkrete und
kontingente Leben des Menschen ist sie jedoch jederzeit akut gefährdet. Die Wür-
de des Menschen als metaphysisches Ergebnis der moralischen Vollkommenheit
seiner vernünftigen Handlungen zeigt sich in diesem Zusammenhang als stets
mühevoll aufrecht zu erhaltende Freiheit in der Selbstbestimmung, die ihn allein

455
Torra, ‚Rhetorik und “Rhetorik”, S. 88. Dieser Aufsatz betont das rhetorische Programm Cice-
ros, der durch einen Rückgriff und eine Neudeutung griechischer Philosophie sein eigenes Re-
nommee in der politischen Arena Roms stärken will. Ähnlich argumentiert Bernhard Kytzler, der
bemerkt: „Cicero erst hat die lateinische philosophische Sprache geschaffen, hat, aus griechischem
Gedankengut schöpfend, um die Prägung von Begriffen gerungen, die in der von ihm geformten
Fassung dann in den europäischen philosophischen Diskurs eingegangen sind.“ Vgl. Kytzler, Art.
‚Cicero‘, S. 176.
456
Russell, Philosophie des Abendlandes, S. 274.
204 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

nach unten von den Sklaven positiv abgrenzt. Deshalb kann sich der Mensch nur
durch den im reflektierten Handeln sich zeigenden Erweis der Vernunft als dem
Prinzip der Freiheit unterstehend bezeichnen. Verlässt der Mensch den ethischen
Ordnungsrahmen aus Vernunftgebrauch, Selbsterkenntnis und göttlicher Welt-
vernunft, gibt er gleichsam seine Berufung zur Freiheit in diesem selbstverschul-
det auf und kehrt in den deterministischen Ordnungsrahmen, den der göttliche
Plan dem Kosmos eingeschrieben hat, zurück. Die Existenz in der Freiheit, die
sich der Mensch in dieser Konzeption durch sein eigenes, richtiges Handeln ver-
dienen kann, ist also fortwährend dadurch bedroht, dass er eben nicht dem Ideal
der menschlichen Vernunftnatur nach handelt: scheitert er, wird der Mensch
zum Sklaven. 457
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

B.2.c Von Aristoteles zur Stoa – Kontinuitäten und Brüche im


Menschenbild – Würde, Armut, Individualismus
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Mit dieser Auffassung spiegelt die Stoa den von Aristoteles vorher in seiner ‚Poli-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tik‘ entwickelten Standpunkt gebrochen und gewendet wieder, dass nämlich der-
jenige Mensch ein natürlicher Sklave sei, der die in ihm unter dem Begriff des lo-
gos angelegte Vernunft oder Sprachfähigkeit nicht nutze. 458 Der Zusammenhang
von natürlichen Rechten und der Fähigkeit jedes Menschen zur Erlangung einer
moralischen Würde, wenn er seiner Vernunftnatur entsprechend lebt, ist Aristo-
teles überhaupt noch völlig fremd. So, wie es sich später ähnlich in der römischen
Gesellschaft entwickeln wird, weist auch bei ihm die Würdigkeit des Menschen
noch keinen primär stehenden moralischen Sinngehalt auf, sondern dient in der
Hauptsache als Attribut zur Bestimmung der spezifischen gesellschaftlichen Stel-
lung. In seiner Politik begründet Aristoteles denn auch die Würdigkeit des Men-
schen allein auf die Grundlage seiner politischen Ämter oder seiner bürgerschaft-
lichen Zugehörigkeit. Je nach gesellschaftlicher Position in der griechischen polis
kann dergestalt Aristoteles den Menschen einen gewissen Anteil an Würde zu-
sprechen und im Gegenzug ein dem Würdestatus entsprechendes moralisch-
sittliches Verhalten einfordern: Großgeartetsein der Seele und Hochgesinntheit
als Anspruch, Freiheit als Voraussetzung. 459 Diesen Anteil an der gesamtgesell-
schaftlichen Würde, den die Bürger erwerben können, benutzt Aristoteles
schließlich auch als primären Faktor, um zum Entwurf eines Systems gerechter
Distribuierung der gesellschaftlichen Güter innerhalb der polis zu gelangen. Ge-
recht ist die Gesellschaft dann, wenn unter der formalen Berücksichtigung ihrer
Würde Gleiche Gleiches erhalten, und Ungleiche Ungleiches; daraus folgt aber,
dass „[a]lle formal das Gleiche, inhaltlich jedoch Verschiedenes, nämlich ein Jeder

457
“It turns out, […] that only the Stoic wise man is truly free. All others are slaves.” Vgl. Baltzly,
‘Stoicism’, Abschnitt 4: Logic.
458
Vgl. Aristoteles, Politik, 1280a34-35.
459
Vgl. Patt, Grundzüge der Staatsphilosophie im klassischen Griechentum, S. 142.
IV.B ZWEI PERSPEKTIVEN AUF DIE WÜRDESEMANTIK IN DER ANTIKE 205

das ihm Zukommende und Angemessene“ 460 erhält. Dass zu diesem Zweck die
der Distribuierung zugrundeliegende Würdekonzeption unter allen Mitgliedern
der Gemeinschaft wechselseitig anerkannt sein müsse, sieht allerdings auch Aris-
toteles ein: die potenzielle Ungleichverteilung der Güter im Staat erklärt Aristote-
les denn auch mit unterschiedlichen Maßstäben in der Bewertung der Würdig-
keit des Menschen. Ungerechtigkeit entsteht also schließlich dadurch, dass die
Bewertung der gesellschaftlichen Stellung des Einzelnen nicht auf einen allgemei-
nen Maßstab reduziert werden kann, respektive bei den Bürgern unterschiedliche
Maßstäbe zur Bewertung der Würde in Anschlag gebracht werden. 461 Damit wird
sogleich ersichtlich, weshalb Arme, Bedürftige und Bettler letztlich kein morali-
sches Problem für die aristotelische Legitimation der richtigen Staatsform darstel-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

len konnten: wenn jeder das ihm Zukommende auf der Grundlage des ihm An-
gemessenen erhält, ebenfalls aber jeder durch seine Wesensnatur die Stellung in
der polis einnimmt, die ihm gebührt, dann lassen sich keine objektiven, in der
Egalität des Menschen fundierte Gerechtigkeitsgründe finden, die ihm distributi-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ve Unterstützung von Rechts wegen und nicht als bloße Almosengabe zusprechen
würden.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Wie Aristoteles also noch nicht den Begründungsbogen von der natürlichen
Gleichheit des Menschen zu daraus sich ableitenden Gestaltungsvorgaben der so-
zialen Wirklichkeit der polis zu ziehen vermag, zieht auch die Stoa letztlich keine
sozialen Konsequenzen hinsichtlich des richtigen ethischen Umgangs mit materiell
Schlechtergestellten aus ihrer zentralen Idee der ursprünglichen Gleichheit aller
Menschen. Die dort naturrechtlich entwickelte Pflicht zu Moralität und Sittlich-
keit bleibt äußerst individualistisch verengt und orientiert sich vor allem in ihrem
Leistungsdenken an der Tugendhaftigkeit des Einzelnen. In beiden Perspektiven
bleibt deswegen die Staatsidee und mit ihr das Gemeinwohlinteresse abseits von
rein politischen Interessenlagen (z. B. materielle Unterstützung von Bedürftigen
zum Erhalt der eigenen Macht) unbehelligt von den moralischen Ansprüchen des
einzelnen Bürgers, wird der Staat noch nicht im Rahmen von Anspruchsrechten
zur Gewährung minimalen Wohlergehens des Einzeln, respektive zum Schutz vor
Armut verpflichtet. Trotz dieser Einschränkung markiert die Stoa dennoch einen
einschneidenden ideengeschichtlichen Wendepunkt in der Perspektive auf den
Menschen, weil dieser nun mit seiner Natur als Fixpunkt eines ethischen Egalita-
rismus in den Blick kommt: alle Menschen besitzen qua Natur von Beginn an die
Möglichkeit zur Erkenntnis der lex natura, sind durch ihre logos-Natur des Ver-
nunftgebrauchs fähig, und sie sind schließlich anthropo-logisch dazu angehalten,
sich beider Fähigkeiten zu bedienen, um ihre menschliche Freiheit als Menschen
nutzen zu können.
Mit dieser essentiellen Beschreibung des Menschen weist die Stoa ideenge-
schichtlich den Weg zur Charakterisierung des Menschen als Wesen, das auch
außergesellschaftlich gedacht werden kann, und das bereits durch seine Natur

460
Ebd.
461
Aristoteles, Politik, S. XXXVII.
206 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

über egalitäre Rechtsansprüche verfügt, die dann durch das sekundär stehende
Staatswesen gewährt werden müssen. Dieser Aspekt wird insbesondere für die
weitere Entwicklung eines metaphysischen Würdebegriffs perspektivisch wichtig
sein, weil mit der Erfahrung einer in der menschlichen Natur angelegten Gleich-
heit aller Menschen ein Fortschritt zu vorstoischen eorien ersichtlich ist, wel-
che die wesentlichen Eigenschaften des Menschen ausschließlich im Deutungs-
rahmen und vor dem Sinnhorizont konkreter gesellschaftlicher Praxen deuten
können. Noch Aristoteles spricht, das wurde bereits oben angemerkt, in seiner
‚Politik‘ von den Sklaven der attischen polis in eben jenem gesellschaftsdetermi-
nistischem Sinn als wie von einer natürlichen und durch den Menschen auszu-
beutenden materiellen Ressource. 462 Ernst Bloch verweist deshalb mit einigem Pa-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

thos auf das vom Grundsatz her egalitäre Menschenbild der Stoa, dem ihm zufol-
ge eine utopische Assoziation auf das vorgesellschaftliche ‚Goldene Zeitalter‘ in-
newohnt, das eine „mythologische Erinnerung an die Urkommune, an die Zeit
ohne Privateigentum, Amt, Krieg“ 463 enthält und auf die universelle Urgleichheit
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

des Menschengeschlechts verweist. Die naturrechtliche Ausgangsposition des


Menschen ist von diesem Ideal her deshalb notwendig universal bestimmt: alle
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Menschen sind gleich und Mitglieder einer umfassenden Gemeinschaft im „Ver-


nunftreich der Liebe“ 464. Aus diesem Gleichheitspostulat über den Menschen, das
sich aus der Ansehung seiner Natur ergibt, lässt sich eine naturrechtliche Vor-
rangstellung des Menschen entfalten, die den ethischen Grundstock seiner Wür-
de zu bilden in der Lage ist und prospektiv hinsichtlich ethischer Gleichstellungs-
imperative entwickelt werden kann.
Die Würde des Menschen zeigt sich in der Stoa in enger Verbindung mit der
moralischen Freiheit als Ergebnis der im Menschen waltenden Vernunft zur ur-
heberschaftlichen, schöpferischen Handlungsfähigkeit. In der Auflösung des
Spannungsverhältnis vom Wesen des Menschen und dessen Determinierung
durch die äußeren politischen Verhältnisse eröffnet sich durch das Gebot des
Vernunftgebrauchs und der daraus sich ergebenden Berufung zur Freiheit im tu-
gendhaften Handeln eine ethische Handlungsoption für alle Menschen, die nie-
manden vom Gebrauch dieser Fähigkeiten von vornherein ausschließt. Die indi-
viduellen Leistungsverpflichtungen, welche die Stoa für ein moralisches Leben nach
den naturrechtlichen Vorgaben einfordert, machen allerdings auch deutlich, dass
ein würdevolles Leben für niemanden von Geburt an garantiert ist, sondern von
jedem Menschen immer wieder neu verdient werden muss. 465 Umgekehrt kann
462
Vgl. den Aufsatz von Jill Frank, insbesondere dort die Fußnote 3 für eine grundsätzliche Darstel-
lung und weiterführende Literatur. Sie selbst vertritt in ihrem Aufsatz freilich das gegenläufige
Programm: ihr geht es darum, zu zeigen, „that, to Aristotle, nature, especially human nature, is
changeable and shaped by politics.“ In diesem Sinne müsste Aristoteles in dieser speziellen Frage
eher als Vordenker der Stoa gelesen werden. Frank, ‚Citizens, Slaves, and Foreigners’, S. 91ff.
463
Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 26.
464
Ebd.
465
Auf einen fundamentalen historischen Gleichklang von Freiheit und Würde weist in diesem Sin-
ne Orlando Patterson hin: in seiner Darstellung war die antike griechische Sklavenhaltergesell-
schaft die Vorbedingung für „die gesellschaftliche Konstruktion der Freiheit“, denn „[e]s mußte
IV.B ZWEI PERSPEKTIVEN AUF DIE WÜRDESEMANTIK IN DER ANTIKE 207

dies aber auch so verstanden werden – entgegen den vorstoischen Philosophien –,


dass die äußeren Umstände des Lebens, wie Armut oder Sklavenschaft, nicht als
eine grundsätzlich fehlende innere Orientierung des Menschen an Tugend und
Sittlichkeit aufzufassen sind, sondern dagegen die Anlage zur Freiheit in einem
tugendhaften und vernünftigen Leben egalitaristisch jedem Menschen einwohnt.

B.3 Die Leistungswürde in der römischen Gesellschaft

Ähnlich wie Aristoteles die Würde des Menschen als Leistungswürde und damit
als Statuskennzeichnung innerhalb der polis bestimmt, wird auch in der römi-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

schen Gesellschaft die dignitas des Menschen als Messgröße der unterschiedlichen
Dimensionen und Aufgabenstellungen des gesellschaftlich-politischen Raumes
und des Handelns des Menschen darin begriffen und theoretisch entfaltet. Die
Begriffsinhalte der Würde sind nach der konkret-praktischen Dimension des
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

menschlichen Alltags aufgefächert und dadurch mehrdeutig. In ihrer Kenntlich-


machung der sozialen Stellung des Einzelnen weist die Leistungswürde in der
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

römischen Gesellschaft dementsprechend vor allem das Gepräge einer strikt an


den Werten der Gemeinschaft orientierten Dimension auf: „Würde ‚ist in Rom
zunächst ein politischer Begriff’. Und weil sie es in Rom ist, ist sie es ihrem Ur-
sprung nach überhaupt“ 466, konstatiert Stephan Schaede, und mit Jean Philippe
Lévy lassen sich in der römischen Gesellschaft ausgehend von der primär stehen-
den gesellschaftlichen Deutungskategorie der menschlichen Würde zwar auch
metaphysische Begründungsmuster, die an die Stoa angelehnt sind, identifizieren;
beide sind aber im römischen Reich sehr eng aufeinander verwiesen und ergänzen
sich faktisch gegenseitig, wie sich im Folgenden zeigen wird. 467

Sklaverei geben, bevor überhaupt die Idee der Freiheit als eines Wertes entstehen konnte, das
heißt, bevor man die Freiheit für ein sinnvolles, nützliches und erstrebenswertes Ideal halten
konnte.“(S. 142). Deshalb „schätzte und kannte [jeder Grieche, M. H.] den Gedanken, wonach
ein Mann, der ‚wirklich frei‘ sein wollte, Macht haben und nach arete, der Würde, Unabhängig-
keit und Selbstbeherrschung adligen Lebens, streben mußte, und dazu bedurfte es der Verskla-
vung oder Unterjochung anderer Menschen und anderer Völker.“(S. 145) Wie die Würde ist
auch die Freiheit in der griechischen Gesellschaft dadurch ein relationaler Wert, der sich erst aus
der präsupponierten Differenz zu anderen Menschen erfahren lässt und daraus seine inhaltliche
Füllung generiert. Die Zitate entstammen: Patterson, ‚Freiheit, Sklaverei und die moderne Kon-
struktion der Rechte‘.
466
Schaede, ‚Würde – eine ideengeschichtliche Annäherung’, S. 17. Das Zitat entstammt: Kondylis;
Pöschl, Art. ‚Würde’, S. 637ff. In seiner Bestimmung der im römischen Sprachgebrauch politisch
gedeuteten dignitas verweist Schaede allerdings nicht auf die Rückbindung der Begriffsdeutung
zur Stoa durch Cicero. Im Gegenteil dazu entwickelt er auf den Seiten 17f. die römische dignitas-
Tradition als machtpolitisch erfolgreichen Gegenentwurf zur griechischen Demokratie.
467
Lévy, ‘Dignitas, Gravitas, Auctoritas Testium’, S. 27ff.
208 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

B.3.a Die Bestimmung der menschlichen Würde im sozialen Kontext der


römischen Gesellschaft

Auf der Ebene der allgemeinen Sittlichkeit kann sich der einzelne Mensch dem
römischen Verständnis von sittlicher Tugend zufolge dann als würdig erweisen,
wenn er sich ehrenhaft verhält, wenn er seinen Mitmenschen gegenüber recht-
schaffen und tugendhaft auftritt, wenn er nicht auf große Gewinne schielt, wenn
er sich loyal zeigt. Diese Werte – Ehrenhaftigkeit im persönlichen Verhalten,
Orientierung an den klassischen Tugenden, Orientierung am System der römi-
schen Stände sowie selbstgenügsame und im Ganzen bescheidene Selbstverortung
in deren vertikaler Auffächerung – bilden die äußeren Grenzen einer eudaimonis-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

tischen Ethik, an der sich der römische Bürger zur Erlangung und zur Wahrung
seiner Würde, hier nun vor allem verstanden als soziale Anerkennung, ausrichten
muss.
Auffällig ist bei der Reflexion auf die Art der hier benannten zentralen Werte
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

und Tugenden allerdings, dass das tugendgemäße Verhalten des Einzelnen inner-
halb des römischen Staatswesens nicht von der individuellen bürgerlichen mora-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

lisch-sittlichen Lebensverwirklichung her gedacht und gesellschaftlich eingefor-


dert wird, sondern moraltheoretisch vorrangig auf die Förderung des Gemein-
wohls abzielt. 468 Als Bürger des römischen Staates sich der dignitas als würdig zu
erweisen bedeutet, sich und sein Tun primär in den Dienst der Gemeinschaft zu
stellen. Dies verbietet umgekehrt, den eigenen Vorteil auf Kosten anderer zu su-
chen; die tugendethische Aufforderung, sich ehrenhaft zu verhalten, fordert sogar
vielmehr ein Verhalten gemäß der je spezifischen Stellung in der Gesellschaft ein.
Allgemein gesagt verbindet sich damit die Würde eines Menschen auf der Ebene
des sittlichen Ethos mit seinem individuellen Verhalten in der Gesellschaft für die
Gesellschaft. Vom Bürger kann also gemeinhin dann als von einer würdevollen
Person gesprochen werden, wenn er in seinem Wesen den gesellschaftlich geteil-
ten Werten entspricht, sich affirmativ und positiv gegenüber jenen verhält und
schließlich durch seine Handlungen gesellschaftsdienlich widerspiegelt.
Cicero entfaltet diesen Gedanken mehrfach in seinen Diskussionen über die
vita activa und die vita contemplativa als einander gegenübergestellte Modelle
zweier Lebensformen in seiner Schrift ‚De officiis‘. Die vita activa, die er unter
Verweis auf seine eigene Biographie mit dem Erfolgsversprechen eines gelingen-
den Lebens im Rahmen einer politischen Laufbahn verknüpft, bildet für Cicero
das zu präferierende Modell einer rationalen Lebensplanung. Rational deshalb,
weil der römische Bürger erst im Handeln für die Gesellschaft seine Tugendhaf-
tigkeit erweisen kann, und sich dadurch seines sozialen Status als wichtiger Be-

468
An dieser Stelle sei nur am Rande auf die bemerkenswerten Forschungsergebnisse von Volp hin-
gewiesen, der die Untersuchungsergebnisse über die ‚römischen Werte‘ von den Altertumsfor-
schern Drexler, Pohlenz und Pöschl mit deren Biographie, nämlich deren Nähe zum NS-Regime
verbindet und dabei zu einer äußerst kritischen Gegenposition kommt: Volp, Die Würde des
Menschen, Fußnoten 5 und 6 (S. 2f).
IV.B ZWEI PERSPEKTIVEN AUF DIE WÜRDESEMANTIK IN DER ANTIKE 209

standteil für den Staates rückversichern kann. 469 Denn „wer […] den Nutzen des
Staates zum Maßstab seines Handelns macht, der wird, so die Botschaft, eine we-
sentliche Naturanlage des Menschen realisieren und dazu beitragen, daß der Staat
als eine Gemeinschaft auf einer gemeinsamen Rechtsgrundlage und mit gemein-
samen Interessen Bestand haben wird.“ 470 Der Rückgriff auf die epistemische Me-
thode der stoischen Philosophie ist in diesen Überlegungen Ciceros unüberseh-
bar, denn „die cognitio contemplatioque naturae ist unvollkommen […], sofern
nicht aktive Betätigung (actio rerum) hinzu kommt“. 471 Mit dem Zwang, sich sel-
ber durch ein in diesem Sinne tugendhaftes Handeln für die Gemeinschaft als
würdig zu erweisen, verdeutlicht sich an dieser Stelle erneut, dass auch hier die
Würde dem Bürger nur attributiv nach einer vorgängigen Leistung beigeordnet
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

werden kann – nämlich eben dann, wenn sich sein Handeln innerhalb des für die
Gesellschaft Nützlichen in Wirkung setzt. 472
In einer weiteren Hinsicht, nämlich der eng mit der eben beschriebenen tu-
gendethischen Ebene verwobenen politischen Deutungsdimension der dignitas in
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

der römischen Gesellschaft, werden bestimmte offizielle Amtsvertreter als Wür-


denträger ausgezeichnet – eine Verwendung der dignitas, die bis in die heutige
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Zeit in der Semantik der Würde zentral erhalten geblieben ist. Römische Bürger
erwerben diese spezifische Würde als Bestandteil eines politischen Amts, das be-
reits durch das damit verbundene Ansehen und die jederzeit mögliche Exekution
von Macht qualitativ mit Würde ausgestattet ist. Diese Würde ist nicht Resultat
einer durch den Amtsinhaber erbrachten moralischen Leistung, dennoch ist auch
sie dem Amtsinhaber nur attributiv beigeordnet und kann durch Machtverlust
selbstverständlich, ähnlich wie durch ein nicht dem Staatswohl dienendes Verhal-
ten innerhalb der sittlichen Deutungsdimension, verloren gehen. Dass sich be-
stimmte, hervorgehobene Ämter durch eine mit der Auskleidung des Amtes ein-
hergehende Würde auszeichnen, ist im heutigen Sprachgebrauch insofern erhal-

469
Dennoch ist es falsch, die Würde mit einem (Eigen-)Nutzen zu identifizieren, den der Bürger aus
der vita activa gewinnt. Wie Lefèvre bemerkt, spricht Cicero nur den Nutzen, den der Bürger
durch sein Handeln für die Allgemeinheit bringt, an, versäumt es jedoch zu entwickeln, worin
denn für den Menschen oder die Gesellschaft das Nützliche an sich bestehe. Vgl. Lefèvre, Panai-
tos‘ und Ciceros Pflichtenlehre, S. 87.
470
Mueller-Goldingen, ‚Wertewandel, Werteverfall und Wertestabilität in Ciceros De re publica‘, S.
122.
471
Lefèvre, Panaitos‘ und Ciceros Pflichtenlehre, S. 77. An dieser Stelle wird der Vernunftgebrauch,
der in der Stoa konstitutiv war, jedoch durch eine eher pragmatische Weisheitsorientierung des
Handelnden (sapientia) abgelöst. Wie Lefèvre ausführt, meint Cicero die Weisheit hier in einer
praktisch orientierten, common-sense Dimension des Alltagsgebrauchs. Vgl. dazu ders., S. 76f.
472
Hossenfelder verweist an dieser Stelle auf die enge Verbindung des dignitas-Begriffs mit ästheti-
schen Konnotationen: „Auch wo Cicero mit dignitas die innere Würde des Menschen meint, ver-
bindet er sie – ganz im Einklang mit der antiken Auffassung der Einheit von ‚Gut‘ und ‚Schön‘ –
sogleich mit der Ästhetik der Lebensführung: Wenn wir bedenken wollen, welche Vorzüglichkeit
und Würde in unserer Natur liegt, dann werden wir einsehen, wie hässlich es ist, in Üppigkeit zu
verkommen und ein verwöhntes und verweichlichtes Leben zu führen, und wie schön [honestum
= kalon] ein sparsames, enthaltsames, ernstes und nüchternes Leben ist.“ Vgl. Hossenfelder,
‚Menschenwürde und Menschenrecht‘, S. 19.
210 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

ten, wenn etwa von der Amtswürde des Bundespräsidenten oder einer anderen po-
litisch einflussreichen Persönlichkeit, etwa eines Richters, gesprochen wird. Mit
dieser Auszeichnung geht eine explizite Erwartungshaltung der Bürger an den
Würdenträger einher, indem von ihm ein Verhalten nach den im Amt angelegten
moralisch-sittlichen Verhaltensnormen (etwa: ein ‚würdiges Auftreten‘, eine
‚würdige Sprache‘) eingefordert wird. Funktional ist dieses Würdeverständnis eng
mit dem unter den Bürgern geteilten Idealbild des je eigenen Staatswesens ver-
knüpft; in dem sie eine besondere und einflussreiche Position bekleiden, kann
von den Trägern der Amtswürde auch erwartet werden, dass sich in ihrem Han-
deln die Höchstform tugendhaft-sittlichen Agierens für das Gemeinwohl zeigt. 473
Nach Lévy sprechen sich die Bürger der römischen Gesellschaft ihre Würde in
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

einem sozialen Prozess gegenseitiger Anerkennung wechselseitig zu, und zwar ent-
sprechend ihres Standes oder des von ihnen ausgeübten Berufes in je abgestufter
Höhe. Ein Vertreter des Staates genießt eine höhere Würde als ein Handwerker,
eine Adelige verfügt über einen anderen Würdestatus als eine Marktfrau. Die
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Würde ist dadurch in der römischen (wie zuvor bereits in der griechischen) Ge-
sellschaft ein Begriff, der stark durch das soziale Selbstverständnis der Menschen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

geprägt wird und sich auf zwei grundlegende Kernbestandteile verdichten lässt:
die Würde der Bürger ist als Leistungswürde zu verstehen und muss durch jene
verdient werden. Deshalb besitzen Würde nicht alle Menschen gleichermaßen,
sondern graduell ihrer sozialen Position in der Gesellschaft entsprechend. 474
Wie bereits kurz angedeutet, lassen sich diese Würdekonnotationen, die inner-
halb der römischen Gesellschaft zur sozialen Statusbemessung benutzt werden,
exemplarisch in Ciceros Werken ‚De re publica‘ und ‚De officiis‘ finden; dort
entwickelt Cicero aber auch in Anlehnung an die stoische Philosophie eine meta-
physische Begründung der Würde, die jener Statusbemessung ein begründungs-
theoretisches Fundament unterlegt. Cicero, den schon Hegel in seinen Vorlesun-
gen als „elegante[n] Nachsprecher der stoischen Philosophie“ bezeichnet, führt
das stoische Weltbild dadurch „in die römischen Salons“ 475 ein. Die besondere
Eigenleistung Ciceros sieht Hegel in der normativen Grundlegung des positiven
menschlichen Gesetzes mit der Hilfe einer Rechtssystematik, die im stoischen
Naturrecht als Fundament aufruht. Cicero leitet nämlich das ius, des real existie-
rende, positive römische Gesetze, von der lex als dem allgemeinen, überzeitlichen
und natürlichen Recht ab. So gelangt er zu einer positiven Rechtsbegründung,
die durch die recta ratio den stoischen Vernunftbegriff zur menschlichen Reflexi-
473
In diesem Zusammenhang verweist Max Weber auf eine Grundlage dieser besonderen gesell-
schaftlichen Konfiguration: erst mit dem Aufkommen der bürokratischer Systeme konnte es dazu
gelangen, dass politische Ämter mit besonderen staatsbürgerlichen Pflichten, aber eben auch mit
einer spezifischen Würde ausgestattet werden. Vgl. Weber, Soziologie, S. 37f.
474
Vgl. Schaede, ‚Würde – eine ideengeschichtliche Annäherung’, S. 18. Schaede spricht der Cice-
ronischen Philosophie im Folgenden außerdem jede Perspektive einer fundamentalanthropologi-
schen Grundlegung der Würde ab, was sich jedoch durch die Quellen, wie im Folgenden gezeigt
werden kann, nicht stützen lässt. Hier ist kritisch festzuhalten, dass Schaede nicht auf die stoi-
schen Elemente in der Philosophie Ciceros eingeht.
475
Beide Zitate: Gans, Naturrecht und Universalrechtsgeschichte, S. 24.
IV.B ZWEI PERSPEKTIVEN AUF DIE WÜRDESEMANTIK IN DER ANTIKE 211

on des Naturrechts einsetzt. Die notwendige Bedingung der Reflexion der Ablei-
tung des ius aus der lex ist dabei die Billigkeit, unter deren Berücksichtigung das
ius hinsichtlich seiner Rationalität am Naturrecht abgeglichen werden muss. 476

B.3.b Ciceros stoischer eorietransfer und seine Fehlstellen hinsichtlich


sozial Benachteiligter – dagegen: Seneca

In gleicher Weise wie ihre Rechtsbegründung transferiert Cicero das Menschen-


bild der Stoa in das römische Rechtssystem und die ethische Grundordnung der
römischen Gesellschaft. Der vielzitierte und in dieser Hinsicht als Beweis erbrach-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

te locus classicus zu Ciceros Überlegungen zur naturrechtlichen Würde des Men-


schen findet sich in ‚De officiis‘, worin Cicero auf die rhetorische Frage:
„wodurch oder weshalb erhält ein Mensch seine Würde?“ folgendermaßen ant-
wortet: „weil wir alle an der Vernunft teilnehmen, an dieser Vorzüglichkeit, mit
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

der wir die Tiere übertreffen“ 477 Der Fokus dieser Aussage liegt insbesondere da-
rauf, dass ‚wir alle’, als Gattungswesen ‚Mensch’, und damit gleich der stoischen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Perspektive egalitär und inklusivistisch-universal, Vernunft besitzen. Im Vergleich


zum Tier verfügt jeder Mensch gleichermaßen über die Vernunft in einer natür-
lich angelegten Potenzialität 478; sie ist wie ein Keim, der durch tugendhaftes Han-
deln weiterentwickelt und zur Blüte gebracht werden muss.
Vergleicht man diese Stelle mit den anderen Überlegungen Ciceros zur Würde
des Menschen, zeigt sich jedoch schnell, dass Cicero den in der Stoa vorgelegten
Gedankengang an dieser Stelle nicht verlässt, sondern nur ausdeutet; der Mensch
besitzt zwar die Vernunft als Bestandteil seines natürlichen und überzeitlichen
Wesens, seine Würde aber doch nur in reflexiver Zuschreibung, die er sich durch
ein tugendhaftes und gemeinwohlschaffendes Handeln verdienen muss. Diese be-
sondere Relation von Vernunft als Gattungsmerkmal und der darauf aufsitzenden
Würde als Zeichen gelebter Sittlichkeit zeigt sich plausibel auch an den weiteren
Überlegungen Ciceros in ‚De officiis‘. Von der rhetorischen Frage ausgehend, wie
denn der Mensch seine Würde fortdauernd erhalten könne, antwortet Cicero:
„Die Lust ist der Vorzüglichkeit des Menschen nicht würdig genug, so dass es nö-
tig ist, sie zu verachten und zurückzuweisen.“ 479 Daraus ergibt sich im Umkehr-
schluss, dass der Mensch durch Genuss und einen unsittlichen, tugendvergesse-
nen und dem Gemeinwohl abträglichen Lebenswandel seine Würde verlieren
wird, weil er mit solcher Lebensweise gegen seine Menschennatur verstößt und
vor allem das Überleben der Gemeinschaft gefährdet. Da die Gemeinschaftsori-

476
Ebd., S. 25. Vgl. auch Ricken; Wagner, Art. ‚Naturrecht‘, § I.
477
Cicero, De officiis, S. 106.
478
Zentral ist hier die begriffliche Unterscheidung zwischen natürlich und angeboren. Wäre die
Würde angeboren, könnte sie nicht verloren gehen – undenkbar für die antiken Philosophen.
Deshalb betonen sie stets die nur natürliche Anlage, zu deren Erblühen jedoch jeder Mensch sei-
nen eigenen Beitrag leisten muss.
479
Ebd.
212 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

entierung von Cicero als zur Natur des Menschen gehörend betrachtet wird, ist
umgekehrt die menschliche Würde dann substantiell greifbar, wenn in der Praxis
der Lebensführung die gesellschaftlich vermittelten Werte inhaltlich affirmiert
werden.
Mit diesem Resultat lässt sich damit aber eine fortbestehende Dichotomie in
der Würdekonzeption der Stoa und der von Cicero übernommenen eoriebau-
steine hinsichtlich der Aufgaben des Einzelnen für die Gemeinschaft versus der
Aufgaben der Gemeinschaft für den Einzelnen zeigen. Die Grundkonzeption der
Würde des Menschen als Ergebnis menschlicher Vernunftfähigkeit führt noch zu
keiner kohärenten Synthese von der Natur des Menschen und seinem Platz in der
Gesellschaft. Die soziale Würde ist als streng individualistische Leistung hervor-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

zubringen – sie ist zwar extensiv an den Werten der Gemeinschaft orientiert, um-
gekehrt besitzt aber die Gesellschaft keine materielle Verpflichtung gegenüber
dem einzelnen Individuum, die ihn zur Erlangung seiner sozialen Würde befä-
higt. Eine Orientierung am Lustprinzip, ein Verstoß gegen gesellschaftlich gefor-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

derte Tugenden wird zwar nicht die Vernunftfähigkeit des Menschen einschrän-
ken, und damit das fundamentum inconcussum seiner logos-Natur zerstören, aber
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dieses Verhalten wird seinen moralischen Status verletzen, ihn letztlich als Mit-
glied der Gemeinschaft unwürdig machen. Die in der römischen Gesellschaft
vorherrschende Konzeption der Würde als Prinzip, das den Menschen auf einer
sittlichen Stufenordnung innerhalb des Gesellschaftsganzen bewertet 480 und ein-
ordnet, muss deshalb in Ciceros Überlegungen geradezu zwangsläufig einen me-
taphysisch-universalen Würdebesitz und daraus folgende Ansprüche an die Ge-
meinschaft durch jeden Bürger verhindern. 481
Damit jedoch kann die naturrechtliche Konstruktion der Würde des Men-
schen bei Cicero nicht das ethische Niveau der Leistungswürde verlassen: die dig-
nitas verbleibt eine elitäre soziale Zuschreibung für die Reichen und politisch Er-
folgreichen im römischen Imperium, für diejenigen also, die sich im Rahmen der
von Cicero anempfohlenen vita activa an den Tugendforderungen der stoischen
Philosophie messen lassen und dadurch im gesellschaftlichen Rahmen reüssieren
können. 482 Die Würde muss verdient werden von dem, der dazu überhaupt in der
Lage ist, alle anderen sind von der Erlangung der dignitas ausgeschlossen. Als weiterer
Befund lässt sich damit allerdings auch konstatieren, dass Hegel mit seinem Vor-
wurf des ‚Nachsprechens der stoischen Philosophie’ recht hat; erweiternd kann
man an dieser Stelle außerdem noch anfügen, dass Cicero in dieser Hinsicht nicht
nur keine neuen Ideen einbringt, sondern dass er mit seiner Konzeption der
Würde den elitenorientierten status quo des römischen Menschen- und Gesell-

480
„[I]n classical antiquity, it was known that a man’s value was measured by his response to the
demands made by the community.”, vgl. Boer, Private Morality in Greece and Rome, S. 140.
481
Diesen Befund unterstreicht Cicero ausdrücklich: „[…] und wenn alles von einem noch so ge-
rechten und maßvollen Volk geleitet, so ist doch eben die Gleichmäßigkeit unbillig dadurch, dass
sie keine Stufen der Würde kennt.“ Vgl. Cicero, De re publica, S. 43.
482
Sie hat daher für die römische Gesellschaft eine beinahe „technische Bedeutung“, vgl. Rilinger;
Schmitt; Winterling, Ordo und dignitas, S. 191.
IV.B ZWEI PERSPEKTIVEN AUF DIE WÜRDESEMANTIK IN DER ANTIKE 213

schaftsbildes eher noch unterstreicht und durch seine philosophischen Überle-


gungen legitimiert. Ähnlich vertritt diese Position Heide Baranzke – auch sie
vermerkt kritisch, dass „bei Cicero aus dem politischen Elitarismus ein kosmopo-
litischer elitärer Intellektualismus [wird], der zugleich anthropologisch in Form
der Affektkontrolle […] zurückschlägt.“ 483
Einen betont anderen Schwerpunkt als Cicero setzt in dieser Hinsicht aller-
dings Seneca, der die Sinnhaftigkeit der Würde dezidiert am sittlich angemesse-
nen Lebensvollzug aller Menschen ausdeutet, und sie dadurch in einem erweiter-
ten Kontext als dem exklusiver Orientierung am Gemeinwohl einordnet; im Ge-
genzug zu Cicero engt er die Bedeutungsgehalte der dignitas gerade nicht auf den
gemeinwohlgenerierenden Faktor einer sich zur Würde sedimentierenden vita ac-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

tiva ein, sondern er hebt den davon stets unabhängigen Ertrag des tugendhaften
Verhaltens für jeden Menschen hervor. Nicht nur die römischen Eliten, die an
der Spitze der ‚römischen Sklavenhaltergesellschaft‘ (Max Weber) stehen, und die
den „Wert des Menschen ausschließlich nach dem Dienstgrad bemessen“ 484, son-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

dern selbst Sklaven sind zu tugendhaftem Handeln und dadurch sozialer Würde
fähig, wie er in ‚De beneficiis‘ mit kritischem Blick auf die römische Gesellschaft
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

schreibt:
„Niemandem ist die sittliche Leistung verschlossen; allen steht sie offen, alle läßt sie
zu, alle lädt sie ein: sowohl Freigeborene als auch Freigelassene, wie Sklaven und
Könige und Verbannte. Sie wählt nicht nach Palast und Steuerquote: mit dem blo-
ßen Menschen begnügt sie sich […]. Es kann [auch] der Sklave gerecht sein, er
kann tapfer, kann hohen Geistes sein […].“ 485
Dennoch: wie Cicero formuliert auch Seneca keine Überlegungen bezüglich einer
aktiven Befähigung des Einzelnen zur Würde durch die römische Gesellschaft;
Arme und Benachteiligte können auf eine Unterstützung durch die Gemeinschaft
nur insoweit hoffen, als dass damit konkrete politische Interessen und Machtziele
verbunden sind. Der Mensch ist auch bei Seneca durch seine Vernunftnatur zur
Würde fähig, was sich aber ebenso wie bei Cicero nicht in einem unverlierbaren
Status des Individuums niederschlägt – wie bei diesem ist die Würde als indivi-
dualistisch anzustrebendes Ziel sozialer Leistung gedacht, muss der Mensch zwin-
gend tugendhaft entlang der Werte der Gesellschaft handeln, um sich seiner
selbst als würdig zu erweisen. 486

483
Baranzke, Würde der Kreatur, S. 78.
484
Klein, Das Staatsdenken der Römer, S. 244.
485
Seneca, De beneficiis, 3,18, zitiert nach: Hilpert, Die Menschenrechte, S. 96.
486
Vgl. Pöschl, Lebendige Vergangenheit, S. 238. Zum stoischen Weltverständnis des Seneca ist fer-
ner relevant: Setaioli, ‚Seneca and the Divine‘, S. 333-368.
214 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

B.4 Systematisierung der Erkenntnisse

Die Erkenntnisse zum Gebrauch des Würdebegriffs in der Antike sind damit viel-
fältig und müssen weiter systematisiert werden, um einen Erkenntnisgewinn für
die geistesgeschichtliche Entwicklung des Würdebegriffs bieten zu können.

B.4.a Die logos-Natur des Menschen

In den vorgestellten philosophischen Positionen der Antike ist die metaphysische


Begründung dessen, was den Menschen zu seiner Würde befähigt, eindeutig: es
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ist seine logos-Natur, die den Menschen – das nach menschlicher Selbsterkenntnis
einzige zum Vernunftgebrauch fähige Wesen in der physischen Welt – zum rich-
tigen Handeln anleiten kann. Indem der Mensch durch seine Natur am göttli-
chen logos teilhat, ist er ein Wesen, das nicht nur den Trieben und Instinkten sei-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ner animalischen Natur zugeschlagen ist, sondern das sich reflektierend zu sich
selbst und seiner Umwelt verhalten kann.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Allerdings, und das ist der Kernpunkt der stoischen dignitas-Tradition, bildet
diese zwar egalitäre Ausgangsposition des Menschen aber gerade durch ihre sitt-
lich unspezifische und durch die Kontingenz des Daseins stets gefährdete Stellung
im Kosmos – im Spannungsfeld also zwischen animalischen Leidenschaften und
vernünftigem Handeln – die zentrale Aufgabe zur sittlichen und gemeinwohlori-
entierten Lebensbewältigung des Menschen. Je nach seinem Erfolg bei dieser
Aufgabenstellung wird sich für den Menschen ein differenziertes Würdeniveau
ergeben, das dann sowohl seinen moralischen Status wie auch seine Stellung in
der Gesellschaft anzeigt. Die Würde als dignitas ist in diesem Kontext kein Be-
standteil der ontologischen Wesensbeschreibung des Menschen, sondern viel-
mehr eine auf vorgängigen innergesellschaftlichen Erwägungen beruhende
(Selbst-)Beschreibung des sittlichen Gelingens eines Lebens oder auch seines
Scheiterns.
Dass innergesellschaftliche Übereinkommen zum Begriff der Würde notwen-
dig sind, wird an der Ermangelung eines unverrückbaren Standpunkts a priori zur
normativen Einordnung des moralischen Würdestatus des Menschen deutlich.
Erst in der faktischen Lebensausgestaltung eines Menschen wird seine sittliche
Tendenz auf der Skala von ‚würdig‘ bis ‚unwürdig‘ einmittelbar – die vorgängige
wesensmäßige Beschreibung des Menschen als ‚mit Vernunft ausgestattet‘ bildet
dagegen nur die potenzielle Grundlage einer sich erst in der konkreten sozialen
Realität erfüllenden Würdezuschreibung. Problematisch bleibt in der antiken Be-
stimmung der dignitas deshalb die Rechtfertigung der normativen Faktoren, die
den Würdestatus des Menschen verbindlich und mit universellem egalitärem An-
spruch festlegen könnten. Dieses klassische Problem der naturrechtlichen Argu-
mentation – das richtige sittliche Verhalten, um dignitas zu erlangen, soll ja in der
Schau auf die lex natura gewonnen werden – besteht doch gerade darin, verbind-
liche, allgemeine und neutrale Normen erkenntnistheoretisch nachvollziehbar aus
IV.B ZWEI PERSPEKTIVEN AUF DIE WÜRDESEMANTIK IN DER ANTIKE 215

der Natur zu gewinnen, ohne nur diejenigen Normen finden zu können, die sich
aus der je gesellschaftsintern-hermeneutischen Deutung der Natur ergeben. Aus
der Perspektive des stoischen Naturrechtssystems aber können die zu jener Beur-
teilung und Rechtfertigung notwendigen Normen aber noch nichts anderes sein
als die der Gesellschaft einwohnenden Tugenden und Werte, die als verbindliche
Aussagen über Moralität und Sittlichkeit in die Natur hineingelesen werden und
von dort wieder als ‚erkennbares’ Naturrecht zurückgespiegelt werden.

B.4.b Die zwei Zugehörigkeiten des Menschen


wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Das große Verdienst der stoischen Schule und ihrer Entwicklung des Natur-
rechts, auch in Verbindung mit der Transformation in das römische politische
Denken durch Cicero und Seneca, ist jedoch die philosophische Entwicklung der
Lehre von der „zweifachen Zugehörigkeit des Menschen – sowohl zu der Gesell-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

schaft, in die er geboren wird als auch zu der menschlichen Gemeinschaft insge-
samt“ 487, wie Arnd Uhle ausführt. In dieser Hinsicht geht die Stoa weit über die
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Konzeptionen früherer philosophischer Schulen hinaus, in deren politischen


Schriftzeugnissen der Mensch vor allem als Einwohner einer bestimmten polis ge-
fasst wird, dem durch seine Zugehörigkeit zu jener polis anschließend entspre-
chend seiner Herkunft und Geburt spezifische Aufgaben, Pflichten und Rechte
erwachsen. Nun ist im stoischen Weltbild der Mensch als moralisches Subjekt
mit einer einzigartigen Identität nicht mehr ausschließlich als Teil einer sozialen
Gemeinschaft und einer weitreichenden Pflicht zur Förderung des Gemeinwohls
bestimmt, sondern er wird nun neben dieser kommunitären Subsummierung un-
ter eine politische Gemeinschaft gleichzeitig als Mitglied eines metaphysischen
Menschheitsbegriffs gefasst, der mit universalen und egalitären Wesenszügen ge-
kennzeichnet wird. Durch seine Wesensnatur ist der Mensch als natürliches Mit-
glied der gesamten Menschheitsfamilie auszuweisen. 488
Festzuhalten bleibt jedoch kritisch, dass sich trotz dieser stoischen Entwick-
lung der Spannungsbogen zwischen der natürlichen Würde des Menschen als
Vernunftwesen und der gesellschaftlich vermittelten Würde des animal sociale

487
Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, S. 122. Allerdings erscheint die in die-
sem Zusammenhang geäußerte ese Uhles, dass nämlich Ciceros Beschränkung der Würde auf
diejenigen, die sie sich verdienen können, als eigentliche Sinnspitze zu lesen sei: jeder kann sie er-
langen, solange er sich einer bestimmten Lebensformen enthält, allzu euphemistisch. Im Haupt-
text wurde bereits darauf hingewiesen, dass Cicero hier eine sittliche Universalität fingiert, die
sich weder im römischen Staat, noch mit seiner eigenen Pflichtenlehre in Übereinstimmung
bringen ließe. Vgl. zu seiner ese ebd., S. 122f.
488
Daher wird auch verständlich, warum die kosmopolitische Idee hauptsächlich auf die Stoa zu-
rückgeht. Der Mensch ist als Bürger nicht nur dem Gesetz einer bestimmten polis unterworfen,
sondern er ist – innerhalb der stoischen naturrechtlichen Argumentation – durch seine Vernunft-
fähigkeit ein Bürger der den Kosmos umfassenden perfekten Ordnung einer auf Vernunft gebau-
ten polis. Vgl. Kleingeld; Brown, ‚Cosmopolitanism‘, erhältlich unter <http://plato.stanford
.edu/archives/sum2009/entries/cosmopolitanism/>.
216 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

weder in der griechischen noch in der römischen Antike vollständig auflöst. Wie
sich in der römischen Antike insbesondere bei Cicero und Seneca zeigen ließ,
lässt sich trotz der natürlichen Zugehörigkeit des Menschen keine vollständige
Unabhängigkeit in der Beschreibung seiner Wesensmerkmale von denjenigen Be-
schreibungen seines gesellschaftlichen Status denken: in der römischen dignitas-
Tradition wird zwar die Vernunftfähigkeit des Menschen durch Cicero als uni-
versaler Ursprung seiner Würde gedeutet, einer Würde allerdings, die im gesell-
schaftlichen Kontext jederzeit durch einen unsittlichen Lebenswandel verloren
gehen kann, im Gegenzug sogar fortwährend verdient werden muss. 489 Damit
wurde jedoch auch herausgearbeitet, dass Cicero zwar einer der Protagonisten der
formalen Genese des Würdebegriffs ist, über die stoische Grundlagen hinaus aber
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

wenig mehr zu einer Entwicklung des Begriffs der Menschenwürde als Verbin-
dung einer Wesensaussage über den Menschen und daraus folgenden Verpflich-
tungen der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen beigetragen hat.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

B.4.c Die Würde als Maß des Wohlergehens im Gemeinwohl – ...und die
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Armut der Armen?

Der Würdebegriff ist in der antiken Gesellschaft eine vor allem auf die sozialen
Relationen der Bürger bezogene Größe und wurde wohl auch in der konkreten
gesellschaftlichen Praxis nur in diesem Kontext der Leistungswürde verwendet.
Zweifellos wurde dementsprechend dignitas in der römischen Gesellschaft nicht
als Begriff einer Idee von universalen Wesensmerkmalen und daraus dem Einzel-
nen ersprießenden besonderen moralischen Rechten und Pflichten gesehen, son-
dern sie vermittelte den Bürgern die Möglichkeit, sich wechselseitig in die gesell-
schaftlich vermittelten, hierarchischen Rangordnungen einzufügen. 490 Mit dem
Gebrauch der dignitas-Semantik kommt dadurch primär das gemeinwohlorien-
tierte Herrschafts- und Machtbewusstsein sowie damit verbunden das sittlich
richtige Verhalten der Bürger in einer vertikal ausdifferenzierten Gesellschaft zum
Ausdruck. 491 Es kann dementsprechend nicht davon ausgegangen werden, dass
mit den in der Stoa geäußerten Überlegungen hinsichtlich einer egalitären Aus-
gangsposition des Menschen in der konkreten griechischen oder römischen Ge-
sellschaft irgendwelche Anspruchsrechte von Armen auf eine bestimmte Unter-
stützung durch die Gemeinschaft aus Gemeinwohlgründen einforderbar gewesen

489
Schaede, ‚Würde – eine ideengeschichtliche Annäherung’, S. 18.
490
Schaede nennt an dieser Stelle beispielhaft die Freiheit, über die aber nur die homines liberi, also
die höheren Schichten der römischen Gesellschaft, verfügten, als wichtiges Ingredienz für Würde.
Vgl. Schaede, ‚Würde – eine ideengeschichtliche Annäherung’, S. 19.
491
Darauf deutet auch Ciceros semantische Ausdeutung des Würdebegriffs hin: Würde ist für Cice-
ro kein sich aus sich selbst heraus erhellender Begriff, sondern er muss auf andere Begriffe zu-
rückgeführt werden – etwa auf laus (Lob), honor (Ehre) oder auch gloria (Ruhm). Auch dies er-
klärt die gesellschaftlich ausdifferenzierten Konnotationen der ‚Würden‘. Vgl. Cicero, De re
publica, S. 53.
IV.B ZWEI PERSPEKTIVEN AUF DIE WÜRDESEMANTIK IN DER ANTIKE 217

wären; in der römischen wie bereits früher in der griechischen Gesellschaft mit
ihren extremen materiellen Unterschieden zwischen den unterschiedlichen gesell-
schaftlichen Klassen und dem elitären Selbstverständnis der Machteliten ist die
Stellung in der Gesellschaft mit der je individuellen Würde, die Ergebnis wechsel-
seitiger sozialer Anerkennungsprozesse ist, mehr oder weniger identisch, woraus
eben auch kein gesellschaftskritisches Potenzial des egalitären Ursprungs aller
Menschen in der Gesellschaft zugunsten Armer oder Bedürftiger erwächst. 492 Die
dignitas als Leistungswürde hat in dieser Perspektive keinen Berührpunkt mit na-
turrechtlichen Ansprüchen des Menschen an die Gemeinschaft, zumindest wurde
sie so gerade nicht verstanden. Werden den Armen materielle Güter zugeteilt,
dann aus politisch-instrumentellen Erwägungen, denn „die Armen der vorkon-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

stantinischen Epoche werden […] aus politischen Erwägungen unterstützt; nicht


versorgt“. 493
Willem Boer kritisiert in diesem Kontext daher auch aus einer sozialethischen
Perspektive den Versuch, das progressive und idealisierende Gedankengut antiker
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Philosophen heute als deskriptive Beschreibung real existierender sozialer Phä-


nomene und gesellschaftlicher Hintergrundannahmen zu deuten. Es wäre
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

hingegen vielmehr wichtig und zielführender, “to dismiss such concepts as having
nothing in common with the ideas that were really alive and influential in the
community. […] e reactions of such people [hier: Cicero und Seneca, M. H.]
to the whole of a society is limited and it would be misleading to allow our his-
torical perspective to be determined by their ideas alone.” 494 Berücksichtigt man
diese Kritik für das griechisch-römische Gesellschaftssystem, dann ist eben gerade
nicht davon auszugehen, dass die stoische Konzeption der Würde des Menschen
hinsichtlich eines potenziell mitdenkbaren inhärenten universal-egalitären Cha-
rakters tatsächlich praktische Auswirkungen auf das Verhalten der Bürger in den
antiken Gesellschaften gehabt haben soll: Ciceros hier dargestellte Äußerungen
über den Ort der Würde in der Gesellschaft geben davon selbst ja schon beredt
Auskunft. 495 Die universal-egalitäre Ausgangsidee der griechisch-römischen Stoa
diente in dieser Hinsicht niemals als kritischer Kontrapunkt zu einer im Höchst-
maß ungerechten, ungleichen und menschenverachtenden Wirklichkeit in den
griechischen Stadtstaaten und dem römischen Imperium, sondern letztlich sogar
zur Legitimation dieser Wirklichkeit.
Aus heutiger Sicht stellt Jürgen Habermas deshalb die Versuche der antiken
Philosophen, den Mensch und seine Orientierung am Sozialen durch bestimmte
ontologische Gattungsmerkmale wie Vernunft und Reflexionsfähigkeit entweder

492
Vgl. Heun, ‚Einflüsse der Stoa auf die Entwicklung von Menschenwürde und Menschenrechten
bis zum Ende des 18. Jahrhunderts‘, S. 240.
493
Burghardt, Kompendium der Sozialpolitik, S. 18.
494
Boer, Private Morality in Greece and Rome, S. 140.
495
Ähnlich argumentiert Arnd Uhle, der feststellt, dass „die Ansätze Ciceros ebenso wie die der Stoa
im Philosophischen [verharren, M. H.], […] nicht zu allgemeiner Durchsetzung [finden, M. H.]
[…] und nicht in der Lage [sind, M. H.], zu Forderungen an die politisch-staatliche Ordnung
vorzudringen.“ Vgl. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, S. 123.
218 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

vor anderen Gattungen oder vor anderen Menschen, die nicht auf der gleichen
Entwicklungsstufe stehen sollen, auszuzeichnen, schon auf der theoretischen
Ebene als gescheitert dar: „Die Höherwertigkeit der Species [oder des einzelnen
Menschen, M. H.] kann vielleicht einen Artenschutz begründen, aber nicht die
Unantastbarkeit der Würde der einzelnen Person als Quelle normativer Ansprü-
che.“ 496 Weiterhin stellt er kritisch fest, dass in den antiken Ausdeutungen des
dignitas-Begriffs die Idee der fundamentalen Gleichwertigkeit (im Gegensatz zur
egalitären ‚Gleichartigkeit’ in der Stoa) des Menschen vollständig fehlt; von dieser
Feststellung ausgehend formuliert er folgendes theoriegeschichtliches Programm,
das später zum großen Teil durch das entstehende jüdisch-christliche Menschen-
bild eingelöst werden wird, und dessen Einfluss auf die weitere Entwicklung des
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Menschenwürdebegriffs nun im nächsten Teil dargestellt werden soll: „Es geht


um den Wert des Einzelnen in den horizontalen Beziehungen zwischen den
Menschen, nicht um die Stellung ‚des‘ Menschen in der vertikalen Beziehung zu
Gott oder zu untergeordneten Seinsstufen. Zweitens [muss] an die Stelle der rela-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

tiven Höherwertigkeit der Menschheit und ihrer einzelnen Mitglieder der absolu-
te Wert der Person treten.“ 497 Der geistesgeschichtliche Weg muss mithin also
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dorthin führen, dass sich die Menschen aus dem absoluten Wert ihrer Würde
heraus gegenseitig die Einlösung ethischer Ansprüche schulden, die in der wechsel-
seitigen Anerkennung des Person-Seins dann auch Auswirkungen auf die gesell-
schaftlichen Systeme haben müssen.

496
Habermas, ‚Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte‘,
S. 351.
497
Ebd.
C. Die systematische Verschränkung griechischer und
römischer Würdesemantik im Christentum 498

Von der christlichen Frühzeit an waren neben dem (Neu-)Platonismus sowohl


der Anthropozentrismus als auch die logos-Orientierung der Stoa willkommene
Anknüpfungspunkte für die Kirche, deren Vordenker ihre – auch und vor allem
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

apologetische – Aufgabe darin sahen, auf der Grundlage des christlichen Glau-
bens zusammen mit Anleihen aus jenen Philosophien ein systematisch kohären-
tes, zur eigenen Glaubensüberzeugung kompatibles und zugleich in der paganen
Welt durchsetzungsfähiges Weltbild zu konstruieren. 499 Dies sollte einerseits der
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

internen Selbstversicherung dienen, zur Stabilisierung des gemeinsamen Glau-


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

bens auf der Basis eines kohärenten Systems von philosophischen Untermaue-
rungen der Glaubenssätze, auf der anderen Seite waren die christlichen Philoso-
phen aber auch bemüht, diese Kohärenz im Sinne eines durchgebildeten Weltbil-
des entweder für ihren Glauben werbend bei den gebildeten Nichtchristen einzu-
setzen, oder es in apologetischer Funktion in den Auseinandersetzungen mit pa-
ganen Philosophenschulen zu nutzen, um den Vorwurf zu entkräften, dass der
christliche Glaube ein aus der Unterschicht hervorgegangener irrationaler Aber-
glaube sei. 500

C.1 In der Patristik

Dementsprechend war es ein Hauptanliegen der christlichen Apologeten, die Ra-


tionalität des christlichen Glaubens zu erweisen, seinen absoluten Wahrheitsan-
spruch innerhalb eines nachvollziehbaren und überzeugenden philosophischen
Systems herauszustellen, und schließlich seine Heilstheologie als teleologischen

498
Für eine vollständige Darstellung der Patristik und ihre eigenständige Entwicklung einer christli-
chen Anthropologie im Spannungsfeld von paganer griechischer, römischer und gnostischer Phi-
losophie kann an dieser Stelle kein Platz sein. Zur Lektüre sei das bereits mehrfach zitierte Werk:
Volp, Die Würde des Menschen empfohlen, dass die zahlreich verästelten Wege der patristischen
eologie sensibel nachverfolgt.
499
Steffen Diefenbach verweist in diesem Kontext auf „eine fundamentale Differenz zwischen einer
rational-anthropozentrischen eologie der antiken Philosophenschulen und einer theozentrisch-
religiösen fundierten Rede von Gott im antiken Christentum.“ Vgl. Diefenbach‚ ‚“Biblizismus“
in der frühchristlichen Apologetik?‘, S. 76 und dort besonders auch die Fußnote 28.
500
Vgl. Goertz, Moraltheologie unter Modernisierungsdruck, S. 54. Eine religionswissenschaftliche
Einordnung apologetischer Phänomene leisten: Krech; Schwartz, Religious Apologetics – Philoso-
phical Argumentation, S. 7.
220 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Endpunkt vorhergehender Philosophien darzustellen. 501 Insbesondere in der pat-


ristischen Frühzeit des Christentums, vor allem im 2. und 3. Jahrhundert, schien
es deshalb notwendig, für das dazu zu verwendende Rüstzeug entweder auf be-
kannte und wohleingeführte philosophische Ideen und Termini zurückzugreifen
und sie in einer christlichen Perspektive neu- oder umzudeuten, oder eine Syn-
these zwischen den Modellen und Begriffen der vormals inkompatiblen Weltbil-
der herzustellen. 502 Dies setzte zeitgeschichtlich zwei Tendenzen in Gang: zum ei-
nen die Integration populärer und von der zugrundeliegenden Systematik her
kompatibler antiker Philosophien (wie eben der Stoa und des Platonismus) in ein
theologischen Normen unterworfenem Einheitsmodell der Welt, das hieß ein
vom christlichen Glauben durchstimmtes – wodurch dann die klassischen Philo-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

sophien das Gepräge von Hilfswissenschaften erhielten –, zum anderen das Kon-
vergieren von Philosophie und eologie in einem vereinheitlichten Gesamtmo-
dell des Kosmos überhaupt. 503 Die drei Hauptapologeten sind in der Patristik
Athanasius, Euseb von Cäsarea und Augustinus, wobei insbesondere letzterer mit
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

seinem Werk ‚Civitas dei‘ stoische Ideen mit dem Christentum verknüpft, denn
die ‚Civitas dei‘ ist für Augustinus „die sich realisierende Idee des göttlichen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Weltplans“ 504.
Die der Apologetik zugrundeliegende Systematik lässt sich hinsichtlich der
Transmission des dignitas-Begriffs in die christliche Weltanschauung prominent
vor allem an der eologie Augustinus zeigen, der den dignitas-Begriff zuerst
noch ausschließlich in der Nachfolge der römischen Tradition – d. i. als soziales
Bewertungs- und Anerkennungsschema für einen gesellschaftlichen Rang – ver-
wendet, dann aber mit der dignitas integra eine christlich reformulierte Idee der
menschlichen Würde präsentiert. 505 Die Auseinandersetzung mit der dignitas folgt
bei Augustinus der üblichen Strategie der Apologeten, einen zentralen Begriff der
jeweiligen ‚Gegenseite‘ zu entwerten (hier: Der egoistische Versuch des Men-
schen, gesellschaftliche Würden zu erlangen, ist eine Sünde wider Gott), an-
schließend im Rahmen der eigenen Weltanschauung zu reinterpretieren, um ihn
dann letztendlich als eigenständigen christlichen Begriff gebrauchen zu können

501
Goertz, Moraltheologie unter Modernisierungsdruck, S. 55f.
502
Noch stärker möchte Wolfgang Speyer diesen Punkt akzentuiert sehen: „Platonismus und Stoi-
zismus haben der christlichen eologie vor allem mit ihrer Tendenz zur Vergeistigung vorgear-
beitet.“ Vgl. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld, S. 253ff.
503
Vgl. Goertz, Moraltheologie unter Modernisierungsdruck, S. 55.
504
Baur, Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte, S. 115. An anderer Stelle in ‚Civitas Dei‘ (Buch
VIII, 1-12) verteidigt Augustinus den Platonismus gegen andere philosophische Strömungen die,
wie namentlich die Stoiker, eine materialistische Gottesvorstellung vertreten. Vgl. Horn, Augusti-
nus: De civitate dei, S. 89. Zur Frage, ob Augustinus‘ ‚Civitas Dei‘ als genuin christlicher Beitrag
zu Staatsphilosophie gelesen werden dürfe, siehe auch: Horn, Augustinus, S. 111ff.
505
Vgl. Augustinus, Sermones, Sermo 264, PL 38, Sp. 1215: “…quomodo qui accipit vestem, sed
manet ipse integer homo intus: et si senator accipiat vestem seruilem, si forte non potest intrare
ad consolandum aliquem in carcere compeditum cum ipsa senatoria veste, accipit habitum car-
ceris, videtur sordidus habitus per humanitatem; sed intus manet dignitas senatoria tanto magis
integra, quanto maiore misericordia voluit quod humilitatis erat induere”. Zitiert nach: Schaede,
‚Würde – eine ideengeschichtliche Annäherung’, S. 16.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 221

(bei Augustinus: der Mensch trägt dann Würde, wenn er bescheiden und christ-
lich lebt). Andererseits bricht Augustinus aber gerade durch seine Erbsündenlehre
mit dem emphatischen Gottesebenbildlichkeitsverständnis früherer christlicher
Philosophen und entzieht durch seine „Ablehnung der Willensfreiheit […] der
Würdekonzeption entscheidende Elemente“ 506, wie Werner Heun an der Kon-
trastierung mit den Zeitgenossen Augustinus‘ nachweisen kann.
Augustinus ist nämlich nicht der erste der christlichen Philosophen, der sich
mit dem Begriff der dignitas und den damit einhergehenden inhaltlichen Best-
immungen vor einem dezidiert christlichen Horizont beschäftigt; zuvor war es
bereits Tertullian, der einen unverlierbaren Wesensaspekt des Menschen prominent
in seiner christlichen Anthropologie zum ema macht, indem er diesen aus des-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

sen Gottesebenbildlichkeit herleitet und sie mit Überlegungen zur Sündhaftigkeit


des Menschen verbindet: Das Gute wohnt der menschlichen Seele als dem Eben-
bild Gottes inne, und kann auch durch die Sünde „nicht sowohl ausgelöscht als
vielmehr nur verdunkelt [werden, M. H.]. Es kann verdunkelt werden, weil es
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

nicht selbst Gott ist; es kann aber nicht ganz ausgelöscht werden, weil es von
Gott ist.“ 507 Tertullian findet also auf die Frage, worin denn die Gottesebenbild-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

lichkeit des Menschen besteht und wie sich die Art und Weise des Verhältnisses
von Gott und Mensch offenbar macht, die Antwort in der fundamentalen Gut-
heit, die dem Menschen von Gott geschenkt wird. Diese Gutheit macht die
Würde seiner Seele aus, die den Menschen Gott selbst dann ebenbildlich sein
lässt, wenn er in die größte Schuld verstrickt ist. Die Gottesebenbildlichkeit ist
damit von Tertullian als unverlierbares Gut bestimmt, welches den Menschen
selbst in seiner dunkelsten Stunde noch zu adeln vermag. 508
Dagegen geht Augustinus zuerst in der Tradition griechischer und römischer
Philosophen vor: er ordnet, ebenso wie Cicero und Quintilian in ihren rhetori-
schen Schriften, die Würde einerseits als auf wechselseitiger Anerkennung beru-
hendes soziales Akzidens der menschlichen Person zu 509, deutet sie in diesem
Schritt jedoch unter gnadentheologischen Aspekten: die Würde des Menschen ist
durch ihre Herkunft als soziales Bewertungsschema nichts, was den Gnadenakt
Gottes gegenüber den Menschen auf irgendeine Art und Weise beeinflussen
könnte. 510 Andererseits stellt sich Augustinus aber auch, indem er die Vernunftfä-

506
Heun, ‚Einflüsse der Stoa auf die Entwicklung von Menschenwürde und Menschenrechten bis
zum Ende des 18. Jahrhunderts‘, S. 241.
507
Vgl. Tertullian, De Anima, §41: „Quod enim a deo est, non tam extinguitur quam obumbratur.
Potest enim obumbrari, quia non est deus, extingui non potest, quia a deo est.“
508
Vgl. Wolf, Das Heilswirken Gottes durch den Sohn nach Tertullian, S. 190.
509
Vgl. Drotner, Person-Exegese und Christologie bei Augustinus, S. 86.
510
Vgl. die Auseinandersetzung Augustinus mit Julian, welcher unterstreicht, dass die Ausrichtung
des Gläubigen auf Gott hin in einer bewussten Entscheidung der Gnade vorausgehen müsse; Au-
gustinus antwortet, „daß, wenn von zwei Kleinkindern das eine am Leben bliebe und die Taufe
empfange, das andere aber vor der Taufe verstürbe, von keinerlei der Gnade Gottes vorgängigem
Verdienst die Rede sein könne. Denn hier gebe es mit Sicherheit keine Unveränderlichkeit des
Schicksals, keine Planlosigkeit des Zufalls und keine Würde der Person.“ Vgl. C Jul, 6, 14, 43
(PL 44, 847), zitiert nach: Drotner, Person-Exegese und Christologie bei Augustinus, S. 87.
222 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

higkeit des Menschen als singulären Unterscheidungsfaktor gegenüber der restli-


chen Schöpfung herausarbeitet, ostentativ in die stoische Tradition. In Bezug auf
Gen 1,26-28 macht dies Augustinus besonders deutlich, denn die Heilige Schrift
weist nach seiner Interpretation nachdrücklich darauf hin, „worin der Mensch
nach dem Bilde Gottes erschaffen ist: [es handelt] sich nicht um körperliche Züge
[…], sondern um eine gewisse intelligible Form des erhellten Verstandes.“ 511 Die-
se Einengung des imago dei-Gedankens auf die logos-Natur des Menschen, was
zugleich eine Abwertung des Leibes mit sich führt (auf den sich ausführlich noch
Paulus in seiner Leibtheologie bezog 512) kann nicht erstaunen, wenn man den
Versuch Augustinus‘ berücksichtigt, eine philosophisch belastbare Mittelposition
zwischen christlicher Tradition und stoischem und platonischem Weltbild zu
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

finden. 513
Wie bereits erläutert, entwickelt Augustinus aber auch einen eigenständigen,
nun christlichen Begriff der Würde, nämlich den der dignitas integra: Nach Au-
gustinus muss die „Würde […] von äußerlichen Selbstbestätigungen und Ehrun-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

gen prinzipiell frei [sein, M. H.]“ 514, ein Nachjagen unter dem „Vorzeichen
christlicher Demut“ 515 ist ihr abträglich. Mit dieser Einordnung ist der originäre
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Startpunkt für eine genuine christliche dignitas-Tradition gefunden, die sich zwar
auf die römischen und griechischen Vorläufer beruft, aber in der Reinterpretation
als Gegensatz zu jenem sozialen Maßstab dennoch eigenständige Akzente setzt:
die Würde des Menschen ist nach Augustinus genau dann falsch verstanden,
wenn sie unter dem Vorzeichen sozialer Anerkennung aktiv gewollt wird. Ein tu-
gendhafter Christ hingegen braucht nicht mehr die Anerkennung seiner Würde
durch andere, sondern sie zeigt sich in seinem freien und in sich ruhendem Ver-

511
Perl, Augustinus : Über den Wortlaut der Genesis, S. 101, zitiert nach Baranzke, Heike (2002),
Würde der Kreatur, S. 82.
512
Vgl. Strecker, Die liminale eologie des Paulus, S. 339-343. In diesem Zusammenhang vermerkt
Marlies Gielen außerdem das Fehlen einer näheren Auseinandersetzung des Paulus mit der imago
dei-Idee. Auf Gen 1,26f. geht Paulus nur in 1. Kor 11,2-16 ein, worin er – zeittypisch – die un-
mittelbare Gottesebenbildlichkeit des Mannes, aber die nur mittelbare Ebenbildlichkeit der Frau
(nämlich über den Mann als Mittelsperson) konstatiert und dies in pragmatischer Absicht zur
„Wahrung der Geschlechterrollensymbolik in der korinthischen Gemeinde“ einsetzt. „Entspre-
chend spielt die Frage der Gottesebenbildlichkeit des Menschen unter schöpfungstheologischer
Perspektive [bei Paulus, M. H.] eine allenfalls marginale Rolle.“ Beide Zitate: Vgl. Gielen, Paulus
im Gespräch, S. 64.
513
„Les Pères de l’Eglise vont identifier l’âme intelligible à l’image; le logikós doit être conforme au
Lógos. La raison est la dignité de l’homme. Le corps est exclu et, ce qui est plus grave, le péché –
qui est non conformité au dessein de Dieu – détruit le logikós… l’image de Dieu.“ Javelet, ‚La
dignité de l’homme dans la pensée du XIIe siècle’, S. 41.
514
Augustinus, Sermones, Sermo 264, PL 38, Sp. 1215, zitiert nach Schaede, ‚Würde – eine ideenge-
schichtliche Annäherung’, S. 16. Vgl. auch Peetz, ‚Augustin über menschliche Freiheit‘, S. 63,
worin Peetz die Umfunktionalisierung des virtus-Begriffs zu einer Negativschablone für das Han-
deln des Christen durch Augustinus herausarbeitet. Dies ist zur weiteren Entwicklung des grie-
chisch-römischen dignitas-Begriff parallel zu sehen.
515
So schreibt der in der Nachfolge Augustinus stehende Abt Guibert de Gembloux um 1208 in
Epistulae Guiberti, Epistula 42, CChr.CM 66a, S. 398, zitiert nach Schaede, ‚Würde – eine
ideengeschichtliche Annäherung’, S. 17.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 223

hältnis zu Gott. Im sich aus diesem Verhältnis ergebenden Verständnis der digni-
tas humana macht Augustinus deutlich, dass die dem Menschen durch Gott ver-
liehene Würde ein Geschenk ohne Bedingungen ist:
„Und welche große Würde Gott dir verliehen hat, erschließt sich am meisten dar-
aus, daß Gott, der allein von Natur aus dein Herr ist, andere Güter geschaffen hat,
über die auch du ein Herr bist.“ 516
Damit spielt Augustinus einerseits auf den Schöpfungsbericht und die Allmacht
Gottes an, will andererseits das bedingungslose Geschenk Gottes an den Men-
schen aber als Aufforderung verstanden wissen, durch seinen Lebenswandel sich
seiner Würde als Geschöpf Gottes und damit seiner Verantwortung für die
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Schöpfung als würdig zu erweisen. Und da Gott als Träger der höchsten Würde
identifiziert wird, wird durch Augustinus darin die Motivation für den Christen
verortet, sich seiner Rolle gemäß in Gottes Schöpfungsordnung so zu verhalten,
dass er darin an Gottes Würde partizipieren kann.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

C.1.a Die dignitas des Christen und die daraus folgende materielle
Unterstützung Bedürftiger

Wie Stephan Schaede im Kontext des augustinischen Würdeverständnisses auf-


zeigt, sind es insbesondere die Referenzen auf die in der römischen dignitas-
Semantik verwendeten Begriffe auctoritas und majestas, die nun auch in der au-
gustinischen eologie die weitere Entwicklung des in einem nun christlichen
Horizont stehenden Würdeverständnisses vorantreiben. Während auctoritas in
Verbindung mit der Würde ausdrückt, dass jemand ‚im Reinen‘ mit sich – au-
thentisch – ist, und sich und die Verhältnisse verantwortlich bestimmt, in denen
er lebt – hier ist offensichtlich der Freiheitsaspekt angezeigt, der sich aus der mit
einem hohen gesellschaftlichen Rang verbundenen Würde ergibt –, ist es insbe-
sondere die majestas, die innere Würde des Menschen, die die christlichen Philo-
sophen bis hin zu Luther gnadentheologisch mit Jesus‘ Tod am Kreuz in Verbin-
dung gebracht haben, weil sie für jene die besondere Berufung des Menschen
durch Gott ausdrückt: „Gott würdigt den Menschen in Jesus Christus so sehr,
daß der Mensch nicht nur über seinen Tod, sondern auch über Gott Macht ge-
winnt.“ 517 Doch sowohl auctoritas wie auch majestas benötigen eine geordnete
materielle Grundlage, die den Christen überhaupt erst ertüchtigen, in der von
Augustinus skizzierten christlichen Weise verantwortlich leben zu können; die Er-
langung dieser materiellen Grundlage verbleibt eben deshalb nicht allein im Ver-
antwortungsbereich des Einzelnen, sondern ihm muss bei seiner Lebensführung

516
Augustinus, Contra ep. fund. Man. 37 (CSEL 25/1, 243, 10-12), [Et hinc maxime adparet, quan-
tam tibi tribuerit dignitatem, quod deus, qui solus tibi naturaliter dominatur, fecit alia bona,
quibus tu quoque dominareris], zitiert nach: Volp, Die Würde des Menschen, S. 237.
517
Schaede, ‚Würde – eine ideengeschichtliche Annäherung’, S. 25, in einem Rückgriff auf ein Zitat
Luthers. Zur ausführlichen Exegese der zeitgenössischen Semantik von majestas siehe ebd. S. 26.
224 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

aus Christenpflicht geholfen werden, denn „allein das im Dienst und Auftrag der
Gottesgemeinde angewandte Eigentum des Einzelnen wie des Staates ist berech-
tigt, allein die Kirche gibt dem an und in sich Wertlosen Weihe und bleibenden
Wert.“ 518
Augustinus‘ Lehrer Ambrosius bringt parallel zu dieser Verknüpfung eine
wichtige Verknüpfung stoischer Philosophie mit dem Christentum ein: 519 in sei-
nen Überlegungen zur Sozialnatur des Menschen kommt er zum Schluss, dass die
Höchstform menschlicher Gemeinschaft darin bestehen müsse, ohne Privilegien
und Vorrechte bei gleicher Arbeit in der menschlichen Gemeinschaft denselben
Würdestatus zu genießen. 520 Stephan Schaede sieht in dieser Überlegung Ambro-
sius den durch christliches Gedankengut vorbereiteten Wendepunkt, der das an-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

tike Verständnis der Würde als im Sozialen geprägten Bewertungsschema über-


windet und, zusammen gelesen mit der oben aufgeführten Idee der augustini-
schen dignitas integra in eine egalitär-universale Bestimmung überführt: „[B]ei
Ambrosius ist die Würde mit dem Gleichheitsgrundsatz verknüpft. Das ist das
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Neue in der christlichen Auffassung der Würde. Sie wird von der Würde privile-
gierter freier Menschen zur Würde gleichermaßen aller Menschen.“ 521
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Auch im Sündenfall geht das Bild Gottes im Menschen nicht verloren, unter-
streichen Ambrosius wie Tertullian, und heben damit deutlich hervor, dass die
Würde des Menschen eine „natürliche Gabe ist, die im Menschsein als solchem
wurzelt.“ 522 Dennoch wird von Ambrosius die Dimension der Amtswürde nicht
aufgegeben, sie wird nun jedoch, im Gegensatz etwa zur weltlichen Würdehierar-
chie des römischen Staatswesens, glaubens- und berufungsintrinsisch gedeutet. In
der Kirche gibt es „fidei dignitates, Würden des Glaubens, die von unterschiedli-
cher Ehre seien, und Ambrosius denkt dabei zunächst an Apostel, Propheten,
[…] wobei vor allem die Priester zu Trägern der Glaubenswürde werden.“ 523
Dennoch sind die Würden des Glaubens kein Zeichen weltlichen Einflusses,
sondern Betonung eines herausgehobenen und gnadenreichen Gottesbezugs, der
allerdings auch jedem anderen Menschen kraft des göttlichen Heilswillens ver-
fügbar ist.
Die Grundzüge der Würde sind mit der patristischen Verhältnisbestimmung
des Christen zur Schöpfung Gottes damit neu gedeutet und mithin dem Christen
als seinem Wirken verfügbares und von ihm selbständig formbares, sozialrelatio-
nales Gut entzogen. Die dignitas integra äußert sich in einer akzentuierten Inner-
lichkeit des Gläubigen, in der gnadentheologischen Verwiesenheit des Einzelnen
auf Gott und sein Gebot. Gemindert wird sie durch alles, was diesen Zustand
durch Äußerliches, Materielles herbeizuführen trachtet, bzw., was die Beifallsbe-

518
Mausbach, Die Ethik des heiligen Augustinus, S. 285.
519
Vgl. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, S. 128.
520
Ambrosius, Exameron, dies 5, 15, 52 CSEL 32/I, S. 178f., zitiert nach Schaede, ‚Würde – eine
ideengeschichtliche Annäherung’, S. 29.
521
Ebd.
522
Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, S. 128.
523
Schaede, ‚Würde – eine ideengeschichtliche Annäherung’, S. 30.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 225

kundungen anderer herbeiführen soll. Die Gegenüberstellung der Würde des


Christen und der des Nichtchristen muss dann jedoch, ganz im Sinne Augusti-
nus, einen völligen Bruch aufzeigen: ist der Würdestatus bei den Nichtchristen
Ausdrucksform für soziale Integration und eine geglückte Karriere, muss sie bei
den Christen Zeichen einer geistigen, auf das Erlangen des Heils durch Gottes
Gnade bezogene Weltabkehr sein. Gegenseitige Hilfe in Notlagen muss vor allem
darauf gerichtet sein, diese Orientierung des Gläubigen an den Zielen der Kirche
zu gewährleisten.
Inwieweit ist aber mit der menschlichen Würde dann überhaupt noch ein Be-
griff von Freiheit zu verbinden, wenn das menschliche Leben nach augustinischer
Lesart allein in der christlichen Heilsorientierung seine Würde findet, und trotz-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

dem letztlich nur durch göttliche Gnade erlöst werden kann? Ist im augustini-
schen Würdeverständnis dadurch nicht sogar ein Rückschritt zu den vorchristli-
chen Gesellschaftssystemen zu erblicken, weil dem Menschen die Heilswirkung
von autonom bestimmtem moralischem Verhalten abgesprochen, und dadurch
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

die angeführte „frühchristliche, platonisch-stoisch geprägte Tradition der Beto-


nung der Menschenwürde […] durch den beherrschenden Einfluss Augustinus‘
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

für lange Zeit gebrochen“ 524 wird?

C.1.b Exkurs I: Freiheit, Armut und Würde – im engeren Sinn eine


christliche Verknüpfung

Auch die antiken griechischen und römischen Gesellschaften betonen den Wert
der Freiheit, allerdings dort mehr oder weniger ausschließlich auf das persönliche
Wohl und die soziale Stellung des Menschen in einer Gemeinschaft – als Prä-
skriptiv des Politischen – zurückgebunden und nicht als universalen Wert an sich
oder gar als grundlegende Dimension des menschlichen Daseins; 525 Freiheit als
Möglichkeitsform des wie ich in der Gesellschaft handeln will ist dadurch in der
Antike vornehmlich ein Privileg der gebildeten Oberschicht und vor allem des
Adels und enthält dort, im ausnehmend politischen Kontext, die Bedeutung von
sozialer Autarkie und Autonomie. Unfreiheit erleiden dagegen, im Wortsinne, die
Sklaven und unterjochten Völker. 526 Wilfried Nippel hält daher fest: „Kategorien
wie libertas (Freiheit) und civitas (Bürgerrecht) sind stets unter den Prämissen der
bestehenden Strukturen verstanden, deshalb nie universalistisch-egalitär ausgelegt

524
Heun, ‚Einflüsse der Stoa auf die Entwicklung von Menschenwürde und Menschenrechten bis
zum Ende des 18. Jahrhunderts‘, S. 241.
525
Eine Ausnahme bildet auch hier die Stoa mit der Betonung der logos-Natur des Menschen, wo-
bei, dies wurde im Abschnitt über die stoische Philosophie deutlich, ausschließlich die individuell
aufrechterhaltene Freiheit von unvernünftigen Begierden im Mittelpunkt steht.
526
Vgl. die Darstellung der Entwicklung des griechischen Freiheitsgedankens als Zeichen von Indi-
vidualisierungstendenzen bei Peter Spahn: ders. (1993), ‚Individualisierung und politisches Be-
wußtsein im archaischen Griechenland‘, S. 344f.
226 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

worden.“ 527 Während die aristokratische Oberschicht unter Freiheit die unge-
bundene Konkurrenz um politische Macht als auch die Ablehnung einer Kon-
zentration derselben in der Hand Einzelner versteht, fassen die Bürger ihre Frei-
heit so auf, dass sie im angemessenen Rahmen durch Stimmrecht politisch betei-
ligt werden müssen, bzw. durch Volkstribunen an den politischen Entscheidun-
gen partizipieren können. Außerdem sind sie stets an der Gewährung formaler
Rechtsgleichheit interessiert. 528
Dennoch ist trotz eigentlich positiver, ja geradezu pathetischer Konnotation
der Freiheit in der Antike – der Staat als der Ort, an dem sich die bürgerliche
Freiheit zeigt, ist in seiner Wichtigkeit für eben jene bereits erkannt und im Zent-
rum der systematischen Untersuchungen antiker Philosophie – ihr egoistischer
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Gebrauch durch die Vollbürger oder den Adel stets im Zentrum antiker Kritik,
nämlich dann, wenn deren freiheitliches Handeln andere Bürger in deren Verfol-
gung eigener Ziele behindert und damit schließlich das allgemeine Streben nach
Gemeinwohl einschränkt. Paradigmatisch für diese Kritik kann Aristoteles‘ Poli-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

tik stehen, in der er die Freiheit (ελευθερία) als zentralen Wert der Gemeinschaft
auf das rechte Gelingen des Staates hinordnet, aber die Verfassung als oberste
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Richtschnur einsetzt, die die Freiheit der Bürger eingrenzen muss: „In den De-
mokratien hinwieder, die am meisten als solche gelten, ist das Gegenteil von dem
zu finden, was Nutzen stiften kann, darum, weil man sich einen verkehrten Be-
griff von der Freiheit macht. […] [D]ie Freiheit aber soll darin liegen, daß jeder
tut was er will. […] Aber das ist ganz und gar verkehrt. Man soll es für keine
Knechtschaft halten, sondern für Befreiung aus der Knechtschaft, wenn man
nach der Verfassung lebt.“ 529
Die dauerhaft bestehende Gefährdung des harmonischen Zusammenlebens
durch uneingeschränkt ausgeübte Freiheit einiger ließe sich nach griechischem
Verständnis grundsätzlich auf zwei Wegen mindern: mit einer direkten Begren-
zung der Freiheit durch eine dazu geeignete Staatsform, oder mit einer dem Staa-
te als grundlegende Aufgabe erwachsende Erziehung der Bürger hinsichtlich der
durch Freiheit anzustrebenden rechten Ziele. Während die erste Möglichkeit ei-
ner tyrannis für die griechischen Philosophen allerdings durch die davon ausge-
henden Gefahren für den langfristigen Erhalt und das Wohlergehen der Gemein-
schaft wenig Attraktivität besitzt 530, ist es deshalb die zweite Möglichkeit, die das
griechische Denken durchzieht. Was aber sollen die Bürger wollen können? Wie
es bei Aristoteles im genannten Zitat bereits anklingt, ist es die Verfassung der po-
lis, die den möglichen Spielraum des Freiheitsgebrauchs aus Gerechtigkeitsgrün-

527
Nippel, ‚Politische eorien der griechisch-römischen Antike‘, S. 36.
528
Vgl. ebd.
529
Aristoteles, Politik, 1310a7-1310a32. Weitere innergriechische Kritik an falsch verstandener
Freiheit, vgl. Agard, ‚Greek Conceptions of Freedom’, S. 141. Für einen großen Überblick siehe:
Pohlenz, Griechische Freiheit.
530
Aristoteles, Politik, 1289a41.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 227

den 531 letztlich determinieren muss, da sie allein auf die Steigerung des Gemein-
wohls ausgelegt ist.
In dieser Annahme liegt allerdings schon ein möglicher Widerspruch vor: folgt
aus dem Freiheitsgebrauch, der sich als alleinige Befolgung des Gesetzes als sol-
cher setzt, nicht ein möglicher Beschnitt persönlichen Wohlergehens, etwa, in-
dem sich Freiheit nicht durch ein Handeln erkennen lässt, das die Mitbürger
zwar nicht schädigt, jedoch nicht dem Gesetz entspricht? Existiert nicht auch die
Gefahr, dass die Verfassung selbst ungerecht ist, indem sie zum Beispiel einigen
Gruppen den Bürgerstatus verwehrt, oder indem sie je nach Stellung unterschied-
liche Maßstäbe anlegt? 532 In der griechischen Antike ist für die Philosophen in
diesem Verständnis des sozialen Zusammenhangs von Einzelnem und dem Staat
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

kein Gegensatz zu finden – indem die höchsten Ziele des Einzelnen und die
höchsten Ziele der polis in der isonomen Gesellschaft sittlich völlig konvergieren
müssen, ist die Ausübung der Freiheit in diesem Sinne immer ein gemeinschaft-
lich gewollter und geordneter Akt; 533 ja, der einzelne Bürger erweist sich gerade
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

dann als besonders vernünftig und rational handelnd, wenn er sich ausschließlich
innerhalb der von der Gesetzgebung vorgegebenen Freiheitsspielräumen be-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

wegt. 534
Epiktet stellt der entgrenzten und zur Anarchie pervertierten Freiheitsvorstel-
lung falsch verstandener Demokratie dennoch bereits eine Vorstellung anthropo-
logischer Wesensfreiheit entgegen, wonach sich „wahre Freiheit als Einfügung in

531
Gerechtigkeit war für die Griechen implizite und konkrete Praxis des Staatswesens und seiner
Verfassung, und damit natürlicher Antagonist individuellen Freiheitsstrebens, denn: „praktisch
sah sich das Gerechtigkeitsverlangen, selbst das der vollen Objekte des Staats, so gut wie gestillt,
wenn das Gesetz ohne Voreingenommenheit und ohne Übergriffe gehandhabt wurde; Gerech-
tigkeit war synonym mit befolgter Gesetzlichkeit“, Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S.
51.
532
Vgl. den Begriff der Isonomie, der den griechischen Vollbürgern – und nur diesen – sowohl
Gleichheit vor dem Gesetz garantiert, als auch deren Herrschaft in den antiken Demokratien ver-
sinnbildlichte. Jeder Vollbürger hat dementsprechend das Recht, an der Gesetzgebung mitzuwir-
ken, sowie allgemein die Geschicke des Staates zu bestimmen. Vgl. Libero, Die archaische Tyran-
nis, S. 301ff. Es ist allerdings anzumerken, dass in den genannten Einsprüchen keine Argumente
moderner Staatstheorien in Anschlag gebracht werden – dies wäre dem Gegenstand unangemes-
sen. Der Ansatz der griechischen Philosophie, Recht und Freiheit in eins zu setzen, ist mit der
modernen Rechtsethik und ihrer notwendigen Auftrennung beider Bereiche grundsätzlich nicht
gleichzusetzen, wohl aber aufeinander zu beziehen. Siehe den Gegenentwurf einer modernen
Rechtsethik bei Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 42ff.
533
Arno Baruzzi spricht in diesem Zusammenhang der Gemeinwohlorientierung der Griechen von
einer „gemeinsamen[n] Freiheit (eleutheria), die der Gemeinschaft und Einheit der Polis ent-
springt“. Baruzzi, Freiheit, Recht und Gemeinwohl, S. 14. Beachte dort besonders auch S. 121, in
der er weiter ausführt, dass diejenige Lebenspraxis in der polis als gut gilt, „welche die Freiheit in
der Gemeinschaft, gar in der Einheit mit allen sieht.“
534
Vgl. auch die Antworten der griechischen Philosophen auf die Fragestellung, die Agard nennt:
Agard, ‚Greek Conceptions of Freedom’, S. 142f. Vgl. auch: Lewis, ‚Greek Ethics and Freedom’,
S. 17f; Stalley, ‘Plato’s Doctrine of Freedom’, S. 147ff. Hayek wiederum kritisiert aus seiner –
freilich zeitgenössischen – Perspektive einer stets vorzuziehenden individualistisch geprägten li-
bertären Grundposition die Rezeption der Freiheitsverfassung des antiken Griechenland als zu
sehr auf die Gemeinschaftsorientierung begrenzt. Vgl. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 212f.
228 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Gottes Weltordnung“ 535 zeigt, einer Weltordnung also, die den determinierenden
Rahmen der polis sprengt, immer noch aber naturrechtlich (die lex natura als lex
divina) eingefangen bleibt. Ganz verloren geht der weltliche Gemeinschaftsbezug
allerdings auch bei Epiktet noch nicht, denn die „Freiheit des wahren Selbst be-
steht in der Nachfolge Gottes und Integration in den Kosmos“ 536, womit er die sitt-
liche Aufgabe des Menschen: ein harmonisches Zusammenleben in sozialen Bin-
dungen anzustreben – hervorhebt.
In Rom stellt sich der gesellschaftliche Freiheitsdiskurs ähnlich dar wie in
Griechenland. Auch dort ist die Freiheit als libertas ein sozial vermitteltes und
von der Gesellschaft her bestimmtes Vermögen, das damit einen konstitutiven
Wert einer vor allem sich politisch verstehenden Gemeinschaft verkörpert. 537 Im
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

sozialen Gefüge zwischen Bürgern und dem Adel dient die Freiheit als Bewer-
tungsschema und Reflexionsebene der Möglichkeit einer Einflussnahme auf gel-
tendes Gesetz und die Machtverteilung im Staate. Besonders den Popularen ist
zur Zeit der römischen Republik die libertas „nicht Gegenstand von Gesetzen,
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

sondern deren Voraussetzung […]. Sie [die Freiheit, M. H.] bezieht sich auf die
Möglichkeiten politischer Willensbildung und hat damit einen strengen Bezug
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

[…] zur libertas als politischer Wille.“ 538


Die Fähigkeit zur Freiheit ist jedoch auch, wie in Griechenland, eng an den
Begriff der dignitas/auctoritas, und damit an den Vollbürger im eigentlichen Sinn
geknüpft, und weist damit ein mögliches Gleichheitsideal, noch mehr aber fak-
tisch vorhandene Gleichheit der Bürger, in die engen Schranken einer hierar-
chisch gegliederten Gesellschaft. „Da bei der Natur der sozialen Bedingungen nur
der Nobilis über libertas, soweit sie politische Willensfreiheit ist, in stärkerem
Maße verfügt und vor allem er soziales Prestige (dignitas, auctoritas) hat, ist der
Streit um die Ausgewogenheit zwischen dignitas/auctoritas und libertas immer ein
Streit unter Angehörigen der Nobilität“ 539, nicht aber unter allen Bürgern gleich-
ermaßen. Auch im römischen Reich bleiben andere Bevölkerungsgruppen als die
Vollbürger vom Freiheitsdiskurs, und mithin dem Ideal gleicher politischer Rech-
te, ausgeblendet. Bleicken schließt dementsprechend seine Analyse mit den Wor-
ten: „Es gibt also keine aequa libertas im Sinne allgemeiner politischer Gleich-
heit.“ 540 Im römischen Weltreich zeigt sich denn auch, wie in der griechischen po-

535
Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung, S. 30.
536
Ebd., S. 31. [Kursivsetzung durch mich, M. H.].
537
Vgl. Bleicken, Geschichte der römischen Republik, S. 30.
538
Bleicken, ‚Staatliche Ordnung und Freiheit in der römischen Republik‘, S. 213.
539
Ebd., S. 205f.
540
Ebd., S. 206. Auf Seite 207f verweist Bleicken jedoch auf einen Aspekt der Gleichheit, der allen
römischen Bürgern unbenommen ihres Prestige und Machtstatus garantiert wird: nämlich die
Gleichheit vor dem Gesetz, die als aequa libertas bekannt ist. Jedoch schränkt Bleicken auch an
dieser Stelle ein, dass „[d]er Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz […] selbstverständlich
nicht auf den Gedanken einer ‚natürlichen‘ Gleichheit des Menschen zurück[geht], doch kommt
die in ihm enthaltene Vorstellung, daß die Rechtsnorm des Privatrechts, des Strafrechts und des
öffentlichen Rechts für alle in gleicher Weise gelten, und d. h. auch daß diese Normen keine Pri-
vilegierung der sozial Stärkeren enthalten, der ‚natürlichen‘ Gleichheit sehr nahe.“
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 229

lis, „die selbstverständliche Abhängigkeit der libertas von den unbestrittenen sozi-
alen Bindungen“ 541.

C.1.b.1 Ergebnissicherung
Angesichts dieser Einschätzung ist allerdings abzusehen, und dies stützt den wei-
ter oben bereits erarbeiteten Befund, dass sich die dignitas in der griechisch-
römischen Antike nicht als Korrelat einer allen Menschen notwendigerweise
gleichermaßen zur Verfügung stehenden Freiheit definieren kann; wie die dignitas
ist auch die libertas ein erarbeitetes oder ererbtes Vermögen der politischen Eli-
ten, mindestens aber in abgestufter Weise eines der ‚Vollbürger‘, und dadurch
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

nur innerhalb des sozialen Kontexts eines politisch eng verschränkten Gemeinwe-
sens sinn- und bedeutungshaft. Daraus folgt jedoch auch, dass die Freiheit als Po-
tenzialität nur innerhalb dieser engen sozialen Verbindungen gelebt, ja überhaupt
nur dort erfahren werden kann – ein transzendenter, ins Absolute verweisender,
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

von der Gemeinschaft unabhängiger Begriff der Freiheit als sowohl unverletzbare
Freiheit des Individuums als auch konstituierendes Fundament des individuellen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Wohlergehens als auch des Rechts ist daraus nicht abzuleiten. 542
Die Freiheit ist in diesem auf das Individuum bezogenen Sinne deshalb keine
moralisch konnotierte Größe individuell zu nutzender Handlungspotenzialitäten,
wie Lewis bemerkt: „e problem of moral freedom was never an acute one for
the Greeks. is was because they thought of the moral life in terms of a good-
ness which men are by nature disposed to pursue.“ 543 In dieser Analyse verbergen
sich zwei Grundtendenzen des antiken griechischen Menschenbildes: zum einen
ist der Gebrauch individueller Freiheit bei den Griechen nicht notwendigerweise
Voraussetzung für das Wohl des Einzelnen, denn der Mensch strebt das Gute als
animal sociale an, und in dieser Deutungsperspektive sind seine Handlungen von
Natur aus immer auf das bonum commune hin ausgerichtet. Das Wohl des Staates
entwickelt sich damit entelechisch aus dem Wesen des Menschen heraus, welches
ihm bereits schon immer als anthropologische Konstante eingeschrieben ist. An-
dererseits verdeutlicht sich daran erneut, dass politische Freiheit selbstverständlich
nur innerhalb des geordneten Systems des Staatsganzen zum Ausdruck kommen
kann. 544
Die Gemeinschaft der Bürger im Staatswesen ist damit – wohlgemerkt: im
Idealzustand – die vollständige Konvergenz von moralischer Sittlichkeit, religiöser
541
Ebd., S. 206.
542
Vgl. auch die Diskussion des stoischen Moralsystems von Hübenthal, in der er schreibt, dass die-
ses „mit einem höchst unterentwickelten Freiheitsverständnis einhergeht“. Hübenthal, Art. ‚Eu-
daimonismus‘, S. 88.
543
Lewis, ‚Greek Ethics and Freedom’, S. 17.
544
Dies kritisiert Bloch an der naturrechtlichen Konzeption der Griechen, denn obwohl die Freiheit
des Menschen bereits als basaler naturrechtlicher Ausgangspunkt theoretisch ausformuliert wor-
den war, verblieb der Schritt in die praktische Staatsgestaltung: „Die Lehre von der ursprüngli-
chen Freiheit des Menschen hatte noch nicht einmal theoretisch die Forderung eines Rechts auf
Freiheit zur Folge.“ Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 50.
230 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Sinngebung und hierarchischer Schichtung der Bürger, die erst a posteriori, im


Anschluss einer Verhältnisbestimmung dieser Aspekte den Grad der (politischen)
Freiheit des einzelnen Bürgers erkennen lässt. 545 Auch die stoische Philosophie
verlässt diesen Pfad klassischer griechischer und römischer Freiheitskonzeption
nicht, obwohl sie durchaus, das hat sich bereits gezeigt, eigene Aspekte einbringt.
Die logos-Natur ermöglicht es zwar dem Menschen, sich durch den sittlich-
rechten Gebrauch seiner reflexiven Vernunft zum verantwortlichen Herrn der ei-
genen Leibnatur zu machen und dadurch moralische Freiheit innerhalb des durch
die lex natura vorgegebenen Rahmens zu genießen, jedoch ist es der stoischen
Lehre zufolge trotzdem immer möglich, durch triebhafte, unvernünftige Taten
den dadurch angezeigten Status der Würde zu verlassen, und zum Sklavendasein
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

zurückzukehren.
Die Freiheit ist dadurch in der stoischen Philosophie zwar tatsächlich ein indi-
viduelles Gut und dem Einzelnen zur verantwortlichen Ausgestaltung als ethische
Aufgabe in der Lebenspraxis zugewiesen, aber als sittliche Handlungsermögli-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

chung muss sie auch fortlaufend immer wieder erarbeitet und aufrechterhalten
werden – sie wird eben gerade nicht als jedem Menschen ontologisch verknüpfte
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Grundbestimmung, als ‚anthropologische Freiheit‘ oder ‚Wesensfreiheit‘ verstan-


den; durch die moraltheoretisch-wesensmäßige Verknüpfung des Einzelnen mit
dem Wohl des Staates ist sie, die persönliche und stoisch-endliche Freiheit, letzt-
lich immer dem Gemeinwohl des Staatsganzen untergeordnet. 546 Sowohl für die
politische, als auch für die metaphysische Freiheit ergibt sich damit für das klassi-
sche Griechenland und das römische Reich eine unauflösbare Verknüpfung mit
der gesellschaftlichen Position des Einzelnen und seiner Würde, bzw. seiner Au-
torität. Die soziale Stellung des Einzelnen lässt sich daher auch als archimedischer
Punkt bezeichnen, von dem aus innerhalb dieses Systems erst nähere Aussagen über
das Wesen der Individuen und ihre Freiheit möglich werden.

C.1.b.2 Neue Impulse durch das Christentum – Freiheit als Grundlage


moralischen Handelns an den Ärmsten und Bedürftigen
Ist damit die Genese politischer Freiheitskonzeptionen zeitgeschichtlich verortet,
beeinflusst und verändert nun dominant das aufstrebende Christentum den Blick
auf den Menschen und dessen Freiheitspotenzial als von ihm im Glauben an den

545
Diese Verhältnisbestimmung hat sich in der Moderne bekanntermaßen um hundertachtzig Grad
gewendet: die Freiheit ist dem Recht nicht nachgängig, sondern sie ist Ausgangspunkt und Ziel
der Rechtsgestaltung in einem zirkulären Begründungsrahmen; vgl. Böckenförde, Recht, Staat,
Freiheit, S. 44-49.
546
Zwar schreibt Wilfried Nippel, dass „[d]ie stoische Ethik eine Hinnahme des politisch-sozialen
Status quo bei gleichzeitiger Wahrung von innerer Freiheit und intellektueller Distanz“ ermög-
lichte – an der eigentlichen Problematik der stoischen Freiheitskonzeption – nämlich dem solip-
sistischen Elitedenken, das sich doch nicht unabhängig von sozialen Beziehungen denken kann –
ändert diese Möglichkeit jedoch nichts. Vgl. Nippel, ‚Politische eorien der griechisch-
römischen Antike‘, S. 34.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 231

dreieinigen Gott auszuweisende anthropologische Konstante; der historisch vor-


gängigen Konstituierung des Verständnisses der äußeren, politischen Freiheit in
den Gemeinwesen von Griechenland und Rom folgt nun ein ideengeschichtlich
langer Weg über die Frage nach der inneren Freiheit des Menschen bis hin zum
aufgeklärten status quo der Moderne, in der in den liberalen Staaten der Vorrang
der Freiheit als normativer Ausgangspunkt von Reflexionen über Gesellschaft,
Politik und Ethik gesetzt ist. 547 Hand in Hand geht mit diesem sich entwickeln-
den Vertrauen auf die selbstverantwortliche Handlungsfreiheit des Menschen ei-
ne schrittweise sich vollziehende Auflösung der Verantwortung des Staates für die
Observanz religiöser Symbolhandlungen, bzw. der engen Verflechtung mit der
jeweiligen religiösen Autorität, so dass dadurch, auch durch die geistesgeschichtli-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

chen Entwicklungen, die das Christentum initiiert hat, im Ergebnis die Sphäre
des Staates und die Sphäre des Religiösen heute getrennt sind. 548
Mit dem anbrechenden Zeitalter des abendländischen Christentums, und vor
allem durch die an dessen Beginn stehende Ausrichtung der paulinischen eolo-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

gie, erhält die Freiheit des Menschen eine radikal neue, gleichwohl aber zuerst aus
dem Glauben heraus geprägte soteriologische Sinnspitze: in der Errettung des
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Christen durch Jesus Christus und in dessen Nachfolge, in der glaubenden Er-
wartung des nahenden Anbruchs des Reiches Gottes offenbart sich Paulus zufolge
dem Menschen eine neue Form und Qualität der Freiheit, die einerseits die
Knechtschaft des Christen unter dem Kreuz adelt, andererseits aber seine indivi-
duelle Freiheit begründet.
Zum Schlüsseltext des paulinischen Freiheitsverständnisses wird 1. Kor 9,19,
wo Paulus schreibt: „Indem ich frei bin von allen, habe ich mich allen zum
Knecht gemacht“. 549 Die Gesetze der Welt (im Sinne der jüdischen Gebote oder
der stoischen lex natura), denen der Mensch entweder in selbstgefälligem Gehor-
sam folgt, oder die er missachtet und dadurch seine Sündigkeit offenlegt, verspre-
chen dem Menschen den nachhaltigen Genuss eines guten und gottgefälligen Le-
bens, den sie jedoch nicht werden einlösen können, denn die Befolgung der Ge-
setze allein wird nicht über den Tod des Menschen hinaus heilszuträglich sein.
Erst Christus mit seiner Heilstätigkeit, durch seine Ankündigung des Anbrechens
des Reiches Gottes und durch sein Opfer des Kreuzestodes als Zeichen der
Nächstenliebe, hat den Menschen „zur Freiheit befreit“ (Gal 5,1) – Freiheit muss
also nun, in der Auslegung von Paulus, als Gottes Zeichen der Gnade verstanden
werden. Dieses Gnadengeschenk fordert den Menschen vehement dazu auf, Gott
zu wählen und dem Beispiel des wiederauferstandenen Christus in seinen Taten
nachzufolgen. 550

547
Vgl. Wildfeuer, Art. ‚Freiheit‘, S. 353.
548
Vgl. Bizeul, Glaube und Politik, S. 31.
549
Schaede, ‚Würde – eine ideengeschichtliche Annäherung’, S. 30; Willis, ‘An Apologetic Apolo-
gia?’, S. 40.
550
Vgl. Pröpper, Art. ‚Freiheit‘, S. 381. Den diametral entgegengesetzten Standpunkt nimmt in der
Exegese von 1. Kor 9 und Gal 5,1 David Horrell ein: “Christian life is not about the exercise of
freedom or authority, however legitimate that freedom and authority might be. It is about a rig-
232 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Die Freiheit als göttliche Gnade weist bei Paulus damit einen zentralen weite-
ren Aspekt auf; denn darin, dass sie durch Jesus Christus in die Welt gekommen
ist, und mit seinem Heilswirken in der Welt verknüpft ist, ist sie ein geschichtli-
ches Ereignis geworden und wird von ihm in jener Perspektive gedeutet. Damit
wird nachvollziehbar, warum Paulus die von Jesus Christus in Wirkung gesetzte
Freiheit als Befreiung von den Problemen, Übeln und Lastern der Welt versteht
und damit auch einen ethischen Anspruch an die sozialen Zustände verknüpfen
kann. Denn aus diesem Bewusstsein, die Freiheit als Befreiung durch Gottes
Gnade erlangt zu haben, erwächst dem Christen im Gegenzug das Bewusstsein
um den sittlichen Imperativ, der sich auf ein Handeln in konkreten gesellschaftli-
chen Praxen aus „mündigen Gehorsam“ 551, im Wissen um den Heilsplan Gottes
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

und seiner Schöpfung als notwendig erweist. In dieser Freiheit transzendiert sich
dadurch, orientiert an der Liebe Christi zu den Menschen, die Existenz des Gläu-
bigen – lebend im Spannungsbogen von Freiheitsberufung und Gerufen-sein von
Gott muss er seine Freiheit dadurch erweisen, dass er dem Nächsten unabhängig
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

von dessen je spezifischer Situation und Zugehörigkeit hilft. Von diesem Freiheitsver-
ständnis geht umgekehrt auch eine Gefahr aus, vor der Paulus eindringlich in
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Gal. 5,13 warnt: „Ihr seid ja doch zur Freiheit berufen, Brüder, nur: sorgt dafür,
dass die Freiheit nicht eurer Selbstsucht Raum gibt, sondern dient einander in der
Liebe“. Daraus zeigt sich, dass Paulus nicht der individuellen und egoistischen
Verwirklichung von eigenen Plänen durch die geschenkte Freiheit das Wort re-
det, sondern die Freiheit der Christen dezidiert auf die Gemeinschaft der Men-
schen orientiert, die es zu ordnen und im Sinne wohlverstandener christlicher Mis-
sion und Nächstenliebe zu gestalten gilt.
omas Pröpper will diese grundlegende Verwiesenheit des Christen auf seine
Umwelt, die Paulus im Rahmen seiner Freiheitstheologie herausarbeitet, als einen
der ersten genuinen Versuche verstanden wissen, Freiheit und das Handeln des
Menschen in der Perspektive einer universalen moralischen Orientierung des
Menschen zur umfassenden Verantwortlichkeit für die Mitmenschen zu deuten.
Aber natürlich hat Paulus wegen seiner Naherwartung des Kommen des Reiches
Gottes noch keine politische Ethik oder dezidiert christliche Gesellschaftsord-
nung im Blick, die sich aus einem so verstandenen universalen Gedanken für die
Reichweite des Handeln des Menschen ergeben könnte: er entwickelt daher we-
der eine aus dieser Freiheitstheologie entspringende Ethik zur Gestaltung der so-
zialen Lebenswelten, noch empfiehlt er – abgesehen von praktischen Hinweisen
an seine Gemeinden – soziale Gesellschaftsformen, die diese Freiheitsverwirkli-
chung unterstützen würden. 552
Dennoch treten die Unterschiede paulinischer eologie gegenüber den älte-
ren griechischen und römischen Freiheitskonzeptionen klar heraus. Sind es dort

orous self-discipline rooted in concern for others. In the words of Paul’s own summary: it is
about acting on the basis not of knowledge, but of love; a love whose paradigm is Christ.” Hor-
rell, ‘eological Principle or Christological Praxis’, S. 95.
551
Pröpper, Art. ‚Freiheit‘, S. 381.
552
Ebd., S. 381f.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 233

die polis oder der Staat, die durch ihre politische Freiheitsgestaltung die Vollen-
dung der menschlichen Natur anstreben, deutet Paulus die Freiheit als Ort und
Ergebnis der Erlösung und als einen von Gott in Liebe gespendeten Stand der
Gnade. 553 Damit ist die Freiheit nun kein von außen – von den Mitbürgern, von
der Autorität – zugestandener, allerdings auch jederzeit widerrufbarer politischer
Wert oder sozialer Raum, der dann erst die innere Freiheit a posteriori ermöglicht,
sondern sie ist ein radikal im persönlichen Verhältnis jedes einzelnen Menschen
zu Gott sich fruchtbar machendes Geschenk, das dem Handeln in sozialen Bezie-
hungen vorausgeht und diese verantwortlich gestalten muss. 554 Historisch gesehen
findet die so verstandene Freiheit als Ausdruck der personalen Beziehung zu Gott
übrigens auch in der Geschichte des Volkes Israel keine direkte Entsprechung.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Die Texte des AT kennen die Freiheit zunächst ausschließlich als sozialen oder
politischen Wert; jedoch implizieren die dort enthaltenen Reflexionen auf den
Menschen, der aus eigenem Antrieb gegen die Gesetze verstoßen kann, aber auch
durch das besondere Verhältnis des Menschen zu Gott die Möglichkeit vorgängi-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ger Freiheitspotenziale. 555


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

C.1.b.2.(a) Um wessen Freiheit handelt es sich?


Nun wäre es freilich verfehlt, die neuen Aspekte der Freiheit, die Paulus entwi-
ckelt, unkritisch als universalistische und ideengeschichtlich neue Topoi stehen
zu lassen. Auch wenn „[m]an […] diese spirituelle Gleichheit und Freiheit aller
Menschen bei Paulus die ‚Sakralisierung der Freiheit‘ genannt [hat, M. H.], um
auszudrücken, daß hier die Grundlage für einen Freiheitsbegriff als einem auto-
nomen Wert gelegt wurde“ 556, bleibt zu vermerken, dass Paulus natürlich aus-
schließlich die Christen im Blick hat, wenn er die Freiheit in der dargestellten
transzendentalen Dimension entwickelt, und nicht in universal-egalitärer Per-
spektive alle Menschen. Ähnlich wie in der Stoa ein eingeschränkter Kreis von
Berufenen durch ihre Lebensführung individuelle Freiheit genießt, sind es nun
bei Paulus die getauften Christen, die durch ihren Glauben frei von Gesetz, Sün-
de und Tod sind. 557 Allerdings gibt es in diesem Punkt einen zentralen Unter-

553
Vgl. Pohlenz, Griechische Freiheit, S. 178ff.
554
„Freiheit und Unmittelbarkeit zu Gott gehören also zusammen“ Pannenberg, Systematische eo-
logie, S. 148. Vgl. dazu auch: Böckle, ‚Heutige Legitimität einer theologischen Materialethik‘, S.
316f.
555
Dies gilt natürlich ebenso für vergleichbare antike Gesellschaften, so auch für die Griechen und
Römer. Das Neue an der paulinischen eologie ist hier vielmehr die Entdeckung des Ursprungs
der Freiheit. In der Stoa, die vergleichsweise nahe der paulinischen eologie steht, ist es das
Vermögen des Vernunftgebrauchs, das bei richtigem Gebrauch Freiheit ermöglicht. Dem aktiven
Tun, das dadurch notwendig ist, steht in der paulinischen eologie die Gnade entgegen.
556
Volp, Die Würde des Menschen, S. 91. Beachte hinsichtlich des Taufaspekts auch besonders S. 92,
wo Volp exegetisch dezidiert auf den Taufritus eingeht, der erst durch die Eschatolisierung der
messianischen Zeit die Freiheit zur Freiheit schafft.
557
Vergleiche dazu Röm 6-8, wo Paulus den Zusammenhang von Christ-sein, Freiheit und Erlösung
explizit äußert.
234 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

schied zur stoischen Freiheitskonzeption: durch die Taufe bleibt die Freiheit dem
Menschen als Gnade auf ewig geschenkt und deckt dadurch seine wahre Würde
auf, während die Freiheit dem Stoiker durch fehlerhaftes Handeln verloren gehen
kann.
Außerdem verbindet sich in der Stoa mit der Freiheit kein sittlich-solida-
rischer Imperativ wie im Christentum: aus dem rechten Gebrauch der Vernunft
in der Stoa entsteht nicht in gleicher Weise wie aus dem ‚göttlichen Gnadenge-
schenk der Freiheit‘ die Verantwortung zur Hilfe für die Nächsten. Dennoch
bleibt die Frage nach der ‚universalen Tendenz‘, also der Brückenschlag von der
Gnade der Freiheit für Christen hin zu allen Menschen bei Paulus noch unbe-
antwortet; aus der Freiheit heraus sollen diese zwar in Liebe zu allen Menschen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

handeln, womit ein Teil der Universalisierungsanforderung erfüllt wäre, aber in


der Gnade Gottes stehen dennoch nur die erretteten Christen. Wie Paulus in Gal
3,26-28 schreibt, sind alle Menschen in Christus gleich und damit frei – gemeint
sind damit aber wohl tatsächlich nur die an Christus Glaubenden, und nicht An-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

dersgläubige oder Heiden. 558


Mit der paulinischen Konzeption der Freiheit des Christen sind, von diesen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

kritischen Anmerkungen abgesehen, daher die Spuren gelegt, die von den Kir-
chenvätern und schließlich auch von Augustinus und omas von Aquin als ba-
sale Richtschnur zur weiteren Verfeinerung ihrer theologisch-philosophischen
Weltanschauung genutzt werden. 559 Mit den genannten Aspekten der paulini-
schen eologie sind grundsätzlich auch die notwendigen Voraussetzungen und
Schritte ersichtlich, die zu einer späteren Synthese von der Würde des Menschen
und der Würdigung seiner Freiheitsorientierung führen werden. So deutet die
Verwendung des Würdebegriffs als dignitas integra (s. o.) durch Augustinus, der
damit die Gnade Gottes mit der richtigen Lebensführung durch den Christen in
Verbindung bringt, auf die Freiheit hin, die überhaupt erst die von Augustinus
für die Existenz der Würde zugrunde gelegte innere Beziehung des Gläubigen zu
Gott ermöglicht. 560 Die Würde und die Freiheit sind in dieser Hinsicht wesens-
mäßige, auf die uneinholbare Transzendenz Gottes verweisende, spezifisch identi-
tätsbestimmende Aspekte in der Person des Christen, die beide auf einem Gna-
dengeschenk Gottes beruhen, und die in dieser besonderen Verbindung den
Gläubigen dazu anhalten, aus dieser Gnade heraus auf ihre Umwelt aktiv zuzuge-
hen und in ihr in der Nachfolge Christi zu wirken – ohne aber dafür noch einmal
eine exklusive Heilsgewährleistung zu erhalten. Die mit diesem Zusammenhang

558
Ulrich Volp sieht diese Problematik auch bei den anthropologischen Entwürfen der großen
eologen des 20. Jahrhunderts, die alle zu einer eher „individual-ethischen‘ denn einer „allge-
mein-ethischen“ „Außensicht auf die Würde des Menschen kommen.“ Volp, Die Würde des Men-
schen, S. 7.
559
Diesen Konnex stellt Konrad Schüttauf her, betont aber gleichwohl, dass omas das augustini-
sche Gedankengut vor allem „scholastisch durchsystematisiert“. Schüttauf, ‚Menschenwürde‘, S.
29.
560
Zur augustinischen Dialektik von Freiheit und Gnade: Fischer, ‚Natur, Freiheit und Gnade‘, S.
75.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 235

umrissene ‚existentielle Innerlichkeit‘ des Christen in der eologie Augustinus


ist daher nicht von der Umwelt abgeschlossen, gar gesellschaftsfern, sondern sie
enthält in sich den Keim einer notwendigerweise nach außen zu orientierenden
Identität in der Person. 561

C.1.b.2.(b) Prospektive Wege zum Verständnis einer Verletzung der


Menschenwürde durch Armut im Christentum
Mit dem Begriff der Person verbindet sich allerdings auch eine weitere zentrale
Traditionslinie des Christentums, die für den Bedeutungszusammenhang von
Freiheit und Würde vor allem in gesellschaftlich-politischer Perspektive einen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

enormen Einfluss gewinnen wird. Denn durch die innere Würde (die majestas,
zur Herleitung s. o.), die den Menschen in seinem ihn transzendierenden inne-
rem (Gnaden-)Verhältnis zu Gott natürlicherweise auszeichnet, entsteht in sozia-
ler Perspektive eine äußere Würde (dignitas), die dem Individuum einen autono-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

men, extrasozialen Standpunkt verschafft, und die ihn dadurch aus dem kommu-
nitaristisch-homogenen sozialen Rahmen der antiken Gesellschaftsformen heraus-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

reißt.
Durch die Transzendierung des Mensch-Gottes-Verhältnisses in jedem Einzel-
nen, und durch die dabei stattfindende Bestimmung jedes einzelnen Individuums
als eines wertvollen Individuums, wird die ideengeschichtlich äußerst wirksame
hermeneutische Grundlage für die Semantik einer sozialen Unverfügbarkeit der
Person geschaffen, die schließlich in der Neuzeit dazu führen wird, dass die
Handhabe des Staates gegen seine Bürger an der Grenze dieser strikten individu-
ellen Unverfügbarkeit beschränkt werden muss und dieser außerdem starke
Schutzpflichten gegenüber seinen Bürgern hat. 562
Auch wenn mit diesem Wandel im philosophisch-theologischen Bild und Ge-
genstandsbereich der Person und ihrer essentiellen Bestimmungen wenig Konkre-
tes über das Verhältnis der Armen zur Menschenwürde ausgesagt ist, wird nun
doch in Ansätzen perspektivisch erkennbar, inwieweit die Idee der Unverfügbar-
keit der Person und die damit verknüpfte Freiheitsorientierung des Menschen
gleichermaßen zur Idee von einer Menschenwürdeverletzung durch Armut füh-
ren wird. Denn nun wären vor christlichem Verstehenshorizont diejenigen äuße-
ren, sozialen Umstände abzulehnen, die den inneren Unverfügbarkeitsbereich der
Person angreifen, indem sie seine selbstverantwortete, von Gott her relational be-
zogene Freiheit beschränken oder grundsätzlich in Abrede stellen. Tatsächlich
konnte die Wesenswürde des einzelnen Menschen aber durch Armut zeitgenös-
sisch noch gar nicht als verletzt angesehen werden, da die metaphysische Würde,
wie sich nun in der Untersuchung der scholastischen Weiterentwicklung der

561
Vgl. Steenblock, Kleine Philosophiegeschichte, S. 104.
562
Matz, „Zum Einfluß des Christentums auf das politische Denken der Neuzeit’, S. 27ff. Siehe da-
zu auch den folgenden Abschnitt über die ‚Wende zum Individuum und seinem Wohl in der
Neuzeit‘.
236 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Würdesemantik zeigen wird, allein in der Relation auf Gott bestimmt werden
kann, und dadurch nun zur Positionierung eines jedes Lebewesens in der den
Kosmos umspannenden, göttlichen Weltordnung herangezogen werden wird.

C.2 Die menschliche Würde in der Scholastik

Nach der Übernahme des griechisch-römischen dignitas-Begriffs in die Vorstel-


lungswelt und den Sprachgebrauch christlicher Philosophen und eologen und
seiner anschließenden Transformation zum Signum eines besonderen Mensch-
Gottes-Verhältnisses, ist es anschließend in der westlichen Geistesgeschichte be-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

sonders die Hochscholastik, welche die Würde des Menschen auf der Grundlage
der wiederentdeckten klassischen Texte griechischer Philosophie und unter Ver-
weisen auf die Patristik, und dort besonders auf die Freiheits- und Gnadentheo-
logien Paulus‘ und Augustinus‘ aufs Neue reflektiert, aber auch in einen universa-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

leren Rahmen als diese stellt. Die universalistische Ausrichtung des europäischen
Wissenschaftslebens in der Scholastik erklärt sich einerseits daraus, dass nun, in
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

einem weitgehend christianisierten Europa, unter den Gelehrten eine christliche


Weltanschauung vorherrscht, die den Kosmos und die in ihm lebenden Geschöp-
fe in einer umfassenden Relation auf Gott als seinen Schöpfer begreift. 563 Dieses
Weltbild und die ihm inhärente epistemische Logik bilden die Grundlage einer
für aus neuzeitlicher Perspektive erstaunlich uniform angewendeten wissenschaft-
lichen Methode (die ‚scholastische Methode‘), deren philosophische Anwendung
jedoch andererseits eine systemimmanente, kritische Auseinandersetzung über das
Verhältnis von rationaler, empirischer Wissensperspektive zur transzendentalen
Glaubensperspektive noch vermissen lässt. Das heißt nun gerade nicht, dass die
scholastische Philosophie in Anwendung ihrer Methode und Ergebnissicherung
irrational wäre; ihr großes Anliegen ist im Gegenteil der Versuch, durch den
möglichst rationalen Gebrauch menschlicher Verstandestätigkeit das Verhältnis
der Schöpfung zu ihrem Schöpfer logisch zu ergründen, auf diesem Weg zu wah-
ren und epistemisch belastbaren ontologischen Aussagen über das Sein zu gelan-
gen, um anschließend ethisch-moralische Forderungen unter der Berücksichti-
gung der unterschiedlichen Seinsebenen der Schöpfung artikulieren zu können.
Deskriptive Aussagen, vernünftige, logische Schlüsse und dogmatische, traditio-
nelle Glaubensinhalte gehen in der Scholastik dementsprechend in eins – eine
Praxis, die erst Wilhelm von Ockham in der spätmittelalterlichen Nominalis-
musdebatte kritisieren wird, womit er das Tor zur wissenschaftlichen Methode
der Neuzeit aufstößt. 564

563
Daher ist es durchaus richtig, davon zu sprechen, dass die Philosophie des Mittelalter „von der
Antike und von der arabischen Wissenschaft her eine stark kosmologische Tendenz“ enthielt,
Flasch, Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung . Mittelalter, S. 33.
564
Indem sich Ockham als Vertreter des Nominalismus für eine methodische Trennung von Glaube
und Wissen einsetzen wird. Vgl. Elsas, Religionsgeschichte Europas, S. 170.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 237

Die Bestimmung des Menschen, ja des ganzen Kosmos erfolgt in der theologi-
schen Philosophie des europäischen Mittelalters, sofern sie sich an den Prämissen
der scholastischen Methode orientiert, daher grundsätzlich immer von Gott als
dem archimedischen Punkt aller Spekulation her. Als Anker und Fundamente der
scholastischen Methode gelten dabei Gottes Prädikationen, die jeweils die absolu-
te Höchstform einer spezifischen Eigenschaft zum Ausdruck bringen:
„Da Gott als Baumeister des Universums galt und da alle wahre Erkenntnis auf ihn
zurückgeführt werden sollte, laufen in der philosophischen eologie des Mittelal-
ters ihre axiologischen und ihre ontologischen, ihre kosmologischen und gnoseolo-
gischen Interessen zusammen.“ 565
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Die philosophischen Diskurse des Mittelalters sind daher mit gutem Recht, so-
fern sie in einer deduktiven Methodik mit Gott als erkenntnisleitendem herme-
neutischem Ausgangspunkt erfolgen, durchgängig als theologisch zu klassifizieren
– und dies gilt in besonderer Weise für die Würdekonnotationen, die, im Gegen-
satz etwa zur diesbezüglich apologetischen Konzeption Augustinus‘, nun voll-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ständig im christlichen Weltbild und mit dem argumentativen Instrumentarium


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

der Scholastik rekonstruiert wird.

C.2.a Anselm von Canterbury

Anselm von Canterbury, der Vordenker der Hochscholastik, entwickelt in seiner


Schrift ‚Monologion‘ eine Argumentationsfigur, die zum einen die Beweisfüh-
rung der Scholastik verdeutlicht, zum anderen aber auch akzentuiert, dass der
dignitas-Begriff im christlichen Mittelalter bei der Attribuierung Gottes und sei-
ner Geschöpfe einen außergewöhnlich hohen Stellenwert innehat: Die Naturen
der Dinge, schreibt Anselm, wiesen nicht eine Gleichheit der Würde auf, sondern
es müsse jeder, ob er wolle oder nicht, erkennen, dass die Würde der Dinge von
Natur aus unterschiedlich sei. 566 Der Mensch ist, stellt Anselm weiter fest, in der
nicht-intelligiblen Welt das Wesen mit der höchsten Würde. Die – je nach dem
Vermögen des Menschen angemessen zu gebrauchende – Vernunft ist, so konsta-
tiert Anselm, in der Lage, aus der empirischen Erfahrung der Rangstufen der
Würde ontologisch darauf zu schließen, dass es ein Wesen geben muss, welches
im komparativen Verhältnis zu den anderen Wesen das Höchstmaß an Würde be-
sitzt. 567 Außerdem stellt Anselm fest, dass dieses Wesen in der Einzahl vorkom-
men muss. Ansonsten gälte nämlich logisch, dass sich bei zwei gleichwürdigen
Naturen zwangsweise die Notwendigkeit einer höheren Würdestufe ergeben

565
Flasch, Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, S. 35.
566
Anselm von Canterbury, Monologion, Kapitel IV. [Amplius: si quis intendat rerum naturas velit
nolit sentit non eas omnes contineri una dignitatis paritate; sed quasdam earum distingui gradu-
um imparitate].
567
Anselm von Canterbury, Monologion, Kapitel IV. [Est igitur quedam natura que est summum
omnium que sunt].
238 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

würde, und sich dadurch die Ränge der jeweils höheren Würden bis in die Un-
endlichkeit fortsetzten – „das aber hält niemand für nicht widersinnig, außer wer
allzu widersinnig ist“ 568 – oder es gälte, dass das, durch das diese mehreren Natu-
ren so groß sind, etwas anderes ist als was sie selbst sind, wodurch sie mit Gewiss-
heit geringer seien, als das, wodurch sie groß sind. Das Wesen, das seiner Natur
wegen die höchste Würde prädiziert, setzt Anselm nun mit Gott gleich, und die-
ser ist deshalb genau das eine Wesen, „worüber hinaus nichts Größeres gedacht
werden kann“ 569. Im Umkehrschluss ist dadurch Gott aber auch derjenige Einzi-
ge, von dem alle anderen Grade der Würde, ja überhaupt die Möglichkeiten der
Zusprechung der Würde an geringere Wesen abhängen, denn da „die Vernunft
gelehrt hat, dass das, was durch sich ist und durch das alles andere ist, das Höchs-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

te von allem ist, was existiert, so ist umgekehrt entweder das, was das Höchste ist,
durch sich und alles andere durch dieses, oder es werden mehrere die Höchsten
sein; dass aber nicht mehrere die Höchsten sind, ist offensichtlich.“ 570
An Anselms ontologisch begründeter Argumentationsstrategie wird die ratio-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

nal-logische Denkweise und die Gedankenwelt der Scholastik besonders deutlich:


indem mit Gott der höchste für die Vernunft erkennbare Punkt an einem Pol des
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

epistemologisch zugänglichen Spektrums der Schöpfung installiert wird, ermög-


licht dieser, nach Anselm vernunftmäßig und logisch unerschütterliche normative
Standpunkt – denn sonst wäre er nicht Gott zu nennen –, die abgestufte Einord-
nung der darunter liegenden Wesen in eine Rangfolge der Wertigkeit oder auch
Würdigkeit in der göttlichen Schöpfung. Diese Strategie wirkt auf den ersten
Blick durchaus nachvollziehbar, offenbart aber auch sehr schnell ihre Schwächen:
sie kann nämlich auch so angewendet werden, dass sie wie eine Maschine göttli-
che Attribute generiert, welche dann eben wiederum in Abstufungen an die
Schöpfungsordnung angelegt werden können. 571 Angesichts dieser Problemlage
ist jedoch die eigentlich von Anselm angezielte normative Festlegung der Wert-
haftigkeit und Unangreifbarkeit der von Gott her relational bestimmten Begriffe
und ontologischen Aussagemöglichkeiten radikal gemindert.
Dennoch bleiben die Überlegungen Anselms zur Würde für diese Untersu-
chung interessant, denn sie zeigen, dass die dignitas nun in der theologischen
568
Anselm von Canterbury, Monologion, Kapitel IV. [Hoc autem nemo non putat absurdum nisi
qui nimis est absurdus].
569
Anselm von Canterbury, Proslogion, [quo nihil maius cogitari potest]. Diese Überlegung ist der
Ausgangspunkt von Anselms ontologischem Gottesbeweis. Nach Anselm ist dieser Begriff von
Gott (derjenige, über den hinaus nichts Größeres gedacht werden kann) nur dann logisch wider-
spruchsfrei, wenn Gott auch wirklich existiert. Obwohl hier nicht eigentlich ema, sei dennoch
darauf verwiesen, dass ontologische Beweise seit jeher umstritten sind und insbesondere Kant zu
schärfster Kritik bewegt haben.
570
Anselm von Canterbury, Monologion, Kapitel IV. [Nam cum paulo ante ratio docuerit id quod
per se est et per quod alia cuncta sunt esse summum omnium existentium; aut e conuerso id
quod est summum est per se et cuncta alia per illud; aut erunt plura summa; sed plura summa
non esse manifestum est.]
571
Im Original: “e ontological argument thus works as a sort of divine-attribute-generating ma-
chine.” Williams, ‘Saint Anselm’, §3.1, erhältlich unter <http://plato.stanford.edu/archives/
fall2008/entries/anselm/>.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 239

Überlegung tatsächlich nicht mehr nur auf konkrete Gesellschaftsverbände bezo-


gener und relational zwischen Menschen zugesprochener sozialer Wert aufgefasst
wird, sondern so, als dass er die metaphysische Wesensnatur des Menschen an
sich, in ihrer essentiellen Form beschreibt. 572 Gewinnt die Würde damit einerseits
ein Spektrum ontologisch-normativer Inhaltssemantik hinzu, erweitert sie An-
selm andererseits von ihrem Objekt her auf die menschliche Spezies; der essentiel-
len Aussage von einer inhaltlich so und so beschaffenen Würde liegt deshalb in
der Hauptsache nicht die Vorstellung der konkreten Natur einer individuellen
Person zugrunde, sondern, nach dem Muster eines Speziesbegriffs, die würdebe-
haftete Wesensnatur der gesamten Menschheit. Es geht dadurch zwar auch diejeni-
ge Funktion der Würde als Wertausdruck sozialer innergesellschaftlicher Verhält-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

nisse und Hierarchien verloren, die sich in der vorangegangenen Untersuchung


zur griechischen und römischen Gesellschaft als prekär erwiesen haben, und die
deshalb von Augustinus und den anderen Apologeten zurecht kritisiert und schon
im Sinne des christlichen Heils- und Gnadenverständnisses umgedeutet wurde;
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

doch ist dennoch auch Anselms ontologischer Argumentationsaufbau mit Hilfe


des Würdebegriffs nicht unproblematisch: indem er seine Semantik der dignitas
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

vollständig mit Gott als Höchstform des Ausdrucks kontextualisiert, ist ‚Würde‘
ohne Gott als notwendiger Bezugspunkt ihrer näheren Beschreibung in seinem
ontologischen System nicht mehr zu denken und verliert dadurch weithin die
Möglichkeit konkrete soziale Missstände zeitgenössisch kritisierbar zu machen.

C.2.b Exkurs II: Einbettung der Würde in die Konzeption der Person –
Unverfügbarkeit und Unmitteilbarkeit

Die in der Scholastik ans Ende kommende Transmission der vormals sozialrelati-
onalen Bedeutungen der dignitas hin zu eher essentialistisch-metaphysischen Be-
schreibungen ihres Inhalts innerhalb eines umfassenden christlichen Weltbilds
verdeutlicht sich jedoch vor allem dadurch, dass die Würde des Menschen nun in
die christliche Konzeption der Person als einer ihrer zentralen Inhalte eingebettet
wird, welche nun ihrerseits am Beginn einer geistesgeschichtlich äußerst fruchtba-
ren Tradition steht. Dieser Vorgang kündigte sich bereits im Abschnitt zum
christlichen Verständnis der Freiheit an. Boethius beschreibt die Person als ‚ratio-
nalis naturae individua substantia‘, als ‚individuelle Substanz der vernünftigen
Natur‘ – eine Wendung, die schnell kanonisch werden wird –, begründet damit
das Fundament einer bis heute zentralen Denk- und Rechtsfigur mit und stellt
mit dieser Leistung jedoch im Rückblick vor allem einen weiteren bedeutenden
Konnex von griechischer Philosophie und christlicher Weltanschauung her. Der
Begriff der Person kann in dieser Hinsicht als Chiffre für zahlreiche weitere, auf
verschiedenen Ebenen sich abspielenden Entwicklungen gelesen werden, die für

572
Vgl. Strombach, ‚ Zur Deutung der Strukturelemente des Unbelebten im Sinne der scholasti-
schen Substanzauffassung‘, S. 117-127.
240 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

das christliche Abendland als zentral zu nennen sind: die zunehmende Wertschät-
zung der Reflexivität des Bewusstseins und damit im besonderen Maße die Sorge
um das eigene Wohl als Zeichen zunehmender Individuation, aber, und das ist
das Entscheidende, gleichzeitig das Wertbewusstsein, dass der Einzelne aufgrund
dieser menschlichen Eigenart in existenzieller Weise unverfügbares Individuum
ist.

C.2.b.1 Etymologie und Entwicklung des Konzepts der Person


Für den Konnex von griechischer Philosophie zur christlichen eologie steht im
Mittelpunkt der von Boethius für die Definition der Person eingeführte Begriff
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

der Substanz (οὐσία) 573, der zwar in der platonischen und aristotelischen Philoso-
phie wurzelt, dann allerdings schnell zu einem zentralen Begriff der Metaphysik
und Ontologie der klassischen griechischen Philosophie und schließlich auch der
Scholastik wird. 574 Neben der Lehre von der Substanz ist jedoch auch der Begriff
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

der Person kein christlicher Neologismus, sondern er geht wahrscheinlich etymo-


logisch auf prosopon zurück, der in der Welt des griechischen eaters die Maske
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

bezeichnet, durch die der Schauspieler hindurchspricht, und mit der er seine Rol-
le verkörpert. 575 Wie Servais Pinckaers bemerkt, ist bereits durch diese Herkunft
aus dem Bereich des eaters der Begriff der ‚Person’ dazu prädestiniert, mit einer
Semantik der Würde amalgamiert zu werden, denn das antike eater ist als
Spiegel der Gesellschaft angelegt, der, wenn auch gebrochen, die Gesellschaft und

573
Lat. substantia. Terminologisch relevant ist außerdem die Übersetzung von omas von Aquin,
der οὐσία ins lateinische essentia (=Essenz) übersetzt.
574
Hierzu kurz: Plato vertritt unter dem, was geistesgeschichtlich als seine Ideenlehre bekannt wird,
dass sich die οὐσία als Totalität des Seienden (ἓν ὄν) nur vernunftmäßig, nicht aber durch
Wahrnehmungsprozesse erfahren lässt. Die οὐσία ist in dieser Hinsicht die Gesamtheit aller
Ideen, die unveränderlich und ewig das Prinzip des Seins bestimmt und dadurch ante res ist. Sie
bildet die Basis der ontologischen Schematik, die die Vernunft zur Erkenntnis der Dinge führt.
Die konkret erfahrbaren Dinge sind in diesem System nur Abbilder der Ideen und damit der To-
talität der οὐσία; sie stehen zwar in einem relationalen Verhältnis zu diesen, können aber niemals
zu ihnen völlig identisch sein.
Aristoteles kritisiert später in seiner Metaphysik und der Kategorienschrift die Ideenlehre Platons
und dessen Substanzbegriff grundsätzlich. Aristoteles lehnt die Vorstellung absoluter Wahrheiten,
die keinen Berührpunkt mit der Empirie haben ab, und auf der Grundlage dieser Kritik erarbei-
tet er in der Folge entscheidende Modifikationen: die πρώτη οὐσία, die erste Substanz, ist nun
bei Aristoteles ein räumlich und zeitlich spezifisch bestimmbares, konkretes individuelles Einzel-
ding, das mit keinem anderen Einzelding identisch ist. Die Gattungsmerkmale des Einzeldings –
das sind Universalien, die es wesensmäßig mit anderen Dingen teilt – bezeichnet Aristoteles da-
gegen als δεύτεραι οὐσίαι, als zweite Substanzen, die den Einzeldingen unbedingt korrespondie-
ren, und nicht von diesen subtrahiert werden können. Die Akzidentia schließlich beschreiben in
diesem Modell Attribute, welche Einzeldinge aufweisen können (‚blonde Haare‘), ohne dass sie
tatsächlich zur Substanz gehören würden – sie spiegeln eine bloß zufällige, wesensunabhängige
Eigenschaft wieder. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1028a10-1041b33; Brinkmann, Aristoteles‘ all-
gemeine und spezielle Metaphysik, S. 69f, sowie auch: Nussbaum, Gerechtigkeit oder das gute Leben,
S. 9.
575
Vgl. Weihe, Die Paradoxie der Maske, S. 99f.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 241

natürlich auch ihre Würdenträger wiederspiegelt. 576 Auch Cicero nimmt den Be-
griff der Person auf und spricht in ‚De officiis‘ davon, dass der Mensch von Natur
aus über mindestens zwei personae verfügt, das sind die zur Funktionsfähigkeit in
der Gesellschaft notwendige Rollen. Eine der personae besitzt die Funktion, ratio-
nale Verhaltensweisen – man kann sagen, die Anwendung instrumenteller, prak-
tischer Vernunft – in den sozialen Beziehungen walten zu lassen, während die
andere persona die basale Bedingung der Möglichkeit verkörpert, dass der Mensch
überhaupt in sozialen Beziehungen seinen Platz finden kann. 577 Beide Rollen sind
notwendiger Bestandteil der menschlichen Natur und bilden, je nach Renommee
des Individuums in der Gesellschaft, den Grundstock seiner Würde. Weil das In-
dividuum aber gerade in Gesellschaft lebt und durch die Kontingenzen des Le-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

bens gezwungen ist, sich zu entwickeln, ist er als Person nicht abgeschlossen, bzw.
durch diese beiden personae hinreichend qualifiziert – erst durch die Entschei-
dungen, die das Individuum im konkreten Leben treffen muss, wird er seine Per-
son im sozialen Wechselspiel mit seinen Mitmenschen und den staatlichen Insti-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

tutionen ausgestalten können und müssen. 578


Persona wird in dieser Hinsicht von Cicero daher auch als sozialer Prozess ver-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

standen, der aber, wie sich gezeigt hat, fundamental in anthropologischen Voran-
nahmen wurzelt; denn einerseits drücken die beiden allen Menschen gemeinen
personae aus, dass die Natur des Menschen einen normativen Einfluss auf sein
konkretes Leben besitzt, andererseits aber ist es für den Menschen ebenso not-
wendig, für ein gelingendes Leben in der Gesellschaft vernünftige und planvolle
Entscheidungen – freiheitlich – zu treffen. Die Semantik der ‚Person’ weist bei
Cicero deshalb zwei sich ergänzende, nämlich essentialistische und kontingente
Dimensionen auf: sie beschreibt einen wesensmäßig natürlich angelegten Kern,
den alle Individuen miteinander teilen, verweist aber entschieden auf die Kontin-
genz gesellschaftlicher Systeme, welche die konkrete Eigentümlichkeit der Indivi-
duen als solche erst gewährleistet und fördert. Kritisch lässt sich an diesem frü-
hen, vorchristlichen Personenbegriff allerdings ausweisen, dass dort der Person an
sich noch keine eigentümliche Individualität, keine individuelle Wertschätzung
eignet; der Mensch ist in ganz allgemeiner Weise ein Exemplar seiner Art, und
die Zuordnung des Begriffs der Person deutet aus, warum er in einer beliebigen
Gemeinschaft funktionieren kann – aber „in sich und für sich hat er keinen
Sinn“, wie Heinzmann anmerkt, denn „Wert und Existenzrecht des Einzelnen
sind eine Funktion seines Beitrags zu dem Gemeinwesen, in dem er zufällig
lebt.“ 579 Bei Cicero ist Person damit in der Hauptsache eine deskriptive Beschrei-
bung derjenigen Fähigkeiten des Menschen, welche seinen sozialen Rang begrün-

576
Im Orginial: „Effectivement le théatre antique était un miroir, parfois bien déformant, de la so-
ciété et de ses dignitaires.” Pinckaers, ‚La dignité de l’homme selon Saint omas d’Aquin’, S. 92.
Selbstverständlich spielt Pinckaers hier auf die antiken Konnotationen der Würde an, die aber
auch in der Scholastik, wie sich zeigen wird, noch wirksam sind.
577
Vgl. Splett, ‚“Das Vollkommenste in der gesamten Natur“‘, S. 37.
578
Vgl. Sturma, Art. ‚Person‘, S. 441; weiterhin: Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 212f.
579
Heinzmann, ‚Der Mensch als Person‘, S. 49.
242 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

den und aufrechterhalten – Fähigkeiten, die auf starken anthropologischen Vor-


annahmen aufruht. 580

C.2.b.2 Die Transformation des Begriffs im christlichen Weltbild


Der Begriff der Person, der sich im ciceronischen Denken vor dem Horizont der
Anthropologie und der daraus sich einstellenden sozialen Lebenspraxis entfaltet,
wird in der Patristik von Tertullian einem völlig neuen Bedeutungsfeld zugeführt;
Tertullian vereinigt nämlich dort den aristotelischen Substanzbegriff und den
römischen Personenbegriff zu einer Definition der trinitarischen Gestalt Gottes –
‚tres personae – una substantia‘ – und führt damit die Semantik der ‚Person‘ in
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

einen spezifisch christlich-theologischen Kontext ein, worin die Person als, nun
akzentuiert, normativer Begriff eine zentrale Position einnimmt. Motivation dieses
Prozesses der christlichen Neubestimmung der Person ist die vorgängige theologi-
sche Auseinandersetzung um das Wesen, modern: die Identität und die Natur Je-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

su Christi und sein daraus für die Christen sich erhellendes Verhältnis zu Gottva-
ter. Der Begriff der Person, der am Ende dieser Entwicklung steht und dadurch
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Wurzeln also auch in der Christologie aufweist, ist freilich ein vollständiger Bruch
mit der sich mit den Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit des Gelin-
gens des Sozialen beschäftigenden antiken Persontradition; indem der christlich
geprägte Personenbegriff am Ende dieser Entwicklung das Individuum gegenüber
seinen Mitmenschen und gewissermaßen seiner Umwelt überhaupt als unverfüg-
bar ausweist, ist der Mensch schließlich autonomes Subjekt eigener Verantwor-
tung gegenüber Gott und seinen Mitmenschen, und diesem Status gemäß zeigt
die Person „im souveränen ‚Haben‘ und Wahren ihres Was-Seins eine nur ihr zu-
kommende Dignität.“ 581
Die Ausgangslage der Problemstellung, die schließlich zur Übernahme und
Neudeutung der Personkonzeption im christlichen Horizont führt, ist also die
Frage nach dem Wesen von Jesu Christus, genauer: nach dem Verhältnis von
Göttlichkeit und Menschlichkeit in seiner Person. Jesus Christus wird von Chris-
ten als ganzer Mensch und ganzer Gott geglaubt, weshalb sich für die christlichen
eologen eine Beschreibung seines Wesens allein in einer eingeschränkten Deu-
tung, die sich nur auf seine zwei Naturen, Gott und Mensch je getrennt bezöge,
verbietet. Das eigentliche Wesen von Jesus Christus bleibt unergründlich, denn
das Problem besteht für die christlichen eologen darin, das Verhältnis zwischen
beiden Naturen, die sich nach platonischer und noch deutlicher aristotelischer
Substanzenlehre ja eigentlich deshalb gegenseitig ausschließen, da sie sich nicht
vermischen können, angemessen zu bestimmen, ohne eine der beiden Naturen

580
Diese Deutung der Person ist bis in die Moderne erhalten geblieben, firmiert nun aber eher unter
dem Begriff der Persönlichkeit, mit dem man jemanden bezeichnet, der sich etwa durch Habitus,
Originalität des Geistes und seine äußere Erscheinung auszeichnet.
581
Splett, ‚“Das Vollkommenste in der gesamten Natur“‘, S. 39.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 243

Jesu Christi aus der ontologischen Bestimmung auszublenden (oder sogar eine
der Naturen zu negieren).
Diese Verhältnisbestimmung ist in der frühen Kirche dauerhaftes Konflikt-
thema zahlreicher Konzile und führte letztendlich auch zum Ausschluss der aria-
nischen eologie aus dem Kanon der Rechtgläubigkeit. 582 Um zu einer überzeu-
genden Antwort auf das philosophische Problem der Synthese der unterschiedli-
chen Naturen Jesu Christi zu kommen, wird deshalb für die christlichen eolo-
gen die Definition und Deutung eines Begriffs attraktiv, welcher es vermag, ei-
nerseits vom simplifizierenden Naturbegriff zu abstrahieren, andererseits aber
dennoch Natur(en) in einem anderen Begriff subsummieren und dadurch
schließlich übersteigen zu lassen: die Person. 583
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Die Entscheidung, den Begriff der Person zu wählen, unterstützt dabei in der
genealogischen Nachzeichnung folgende Überlegung zum semantischen Charak-
ter des Personbegriffs: an der Frage, was und wer Jesus Christus eigentlich sei, al-
so an seiner Unergründlichkeit, zeigt sich für die Ethik exemplarisch, dass man
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

von der empirischen Anschauung der individuellen Existenz eines Menschen


nicht letzthin verbindlich und umfassend auf sein Wesen oder den Inhalt dessen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

schließen kann, was den Menschen in seinem Innersten ausmacht. Die Identität
eines Menschen als Grundlage seiner Person offenbart sich nach außen nur in ge-
brochenen Facetten, also fragmentarisch, und kann deshalb niemals vollständig
auf eine vereinheitlichte, stereotype Aussage gebracht werden. Außerdem zeigen
die Kontingenz des Lebens, unerklärliche Affekte, reflexiv zu entdeckende Fähig-
keiten und aus dem Innersten, Unbewussten heraus entstehende Wünsche, dass
es dem Menschen schon selbst nicht gegeben ist, das Wesen seiner eigenen Indi-
vidualität vollständig ergründen zu können; auch der Mensch ist sich selbst als
Rätsel aufgegeben, das er im Laufe seines Lebens durch andauernde Selbstreflexi-
on zu lösen versucht. 584
582
Die Strategie der arianischen eologen, nämlich die ganze Göttlichkeit Jesu durch gleichzeitig
angenommene Existenz eines menschlichen Scheinleibs – im Prinzip also durch die Negation der
menschlichen Natur – zu begründen, konnte sich innerkirchlich nicht gegen die kanonische
Auffassung, dass Jesus Christus ὁμοούσιος, wesensgleich mit Gottvater und dennoch ganzer
Mensch ist, durchsetzen und wurde schließlich beim Konzil von Nizäa von den Bischöfen
anathematisiert.
583
Teichmann, ‚e Definition of Person‘, S. 179f. An dieser Stelle geht Jenny Teichmann aber
auch darauf ein, dass der Begriff der Person der Ort wird, an dem sich die Idee der Gotteseben-
bildlichkeit manifestiert. Da Gott sich als rationales Wesen, aber nicht als körperliches Wesen er-
fahrbar macht, ist es die rationale Existenz des Menschen, die einerseits seine Gottesebenbildlich-
keit inhäriert, und die andererseits als Beweis für seinen Status als Person herangezogen werden
kann.
584
Für Stroumsa ist das Bewusstsein um die „radical reflexivity of the self“ das wichtigste Resultat
des entstehenden christlichen Weltbildes vom 2. bis zum 4. Jahrhundert. Ihren Höhepunkt fin-
det diese um sich selbst bewusste Reflexivität in dieser Periode in den Confessiones des Augustinus.
Stroumsa, ‚Caro Salutis Cardo’, S. 27. Auf S. 29 mahnt Stroumsa allerdings zur Vorsicht: dass
das Ideal der Selbstreflexion zuerst bei den Christen auftritt, ist nicht schon der Beweis dafür,
dass dieses Ideal ausschließlich bei ihnen entstehen konnte. Man müsse sich vielmehr bewusst
sein, “that we are dealing more with Weberian Idealtypen than with neatly delineated and differ-
entiated social realities.”
244 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Den für das moderne Verständnis der Person entscheidenden Schritt zu ihrer
Unverfügbarkeit als eigentlichem Topos schlägt allerdings erst ein Scholastiker,
nämlich Richard von St. Viktor, ein, indem er in seinem Werk ‚De trinitate‘ die
Person als eine nicht mitteilbare Existenz, eine incommunicabilis existentia be-
zeichnet. 585 Eine Person ist nämlich für St. Viktor gerade nicht ein individuelles
Ding, das aus dem Verstehenshorizont zuvor gewonnener allgemeiner Sätze über
das natürliche Wesens a priori gedeutet werden kann, sondern sie ist eine voll-
ständig in sich abgeschlossene, dem Betrachter opak erscheinende Entität, die
numerisch, formal und qualitativ einzigartig ist. Die Nichtmitteilbarkeit der Per-
son kann neben diesem Aspekt der externen Unverfügbarkeit aber auch so gedeu-
tet werden, dass das Person-Sein eine nach außen nicht darstellbare wie auch
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

nicht erfahrbare Selbstinterpretation des konkreten Individuums als Lebensleis-


tung bedeutet, die einerseits dem Menschen eigen ist, und die andererseits auf ei-
ne gleichermaßen vorhandene interne Unverfügbarkeit der Person verweist: seine
Person ist dem Individuum selbst nicht vollständig verfügbar. Das Ich äußert sich
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

nach außen als „ein Einzelnes ohne Durchgang durch einen Sinn, d. h. eine in-
haltliche Bestimmung.“ 586
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Auch die Identität der Person als Gesamtschau des sich im Individuellen aus-
drückenden Besonderen ist damit ein niemals abgeschlossenes, sich selbst auto-
poietisch hervorbringendes Ganzes und vollständig Integriertes – sie bildet sich
hingegen aus den unterschiedlichen Fragmenten des Selbst im Prozess der des-
halb notwendigen Selbstinterpretation und „impliziert also eine interpretative
Rückbezüglichkeit von Lebensäußerungen zu einem Selbst im Horizont eigener
Zeitlichkeit.“ 587 Auch das Person-sein ist deshalb ein dynamischer und letztlich
niemals abzuschließender narrativer Prozess, der sich über die vollständige Le-
bensspanne des Menschen erstreckt, wodurch es für andere unmöglich ist, den
Menschen in seiner gesamten Selbstheit vollständig zu übersehen – das Individu-
um selbst wird aber ebenso wenig jemals umfassend über seine Identität Auskunft
geben können. Es ist zwar möglich, den anderen zu fragen, wer er ist – die Frage
aber danach, was er ist, wird wegen der im Wesen des Menschen bestehenden in-
härenten Unmitteilbarkeit der Person, der incommunicabilitas personae, nicht be-
antwortet werden können.

585
Richard von St. Viktor, De Trinitate IV, 22, zitiert nach: Heinzmann, ‚Der Mensch als Person‘,
S. 53. Spaemann verortet dagegen den Ursprung des Ausdrucks „incommunicabilitas“ als Eigen-
schaft der Person bei omas von Aquin: Spaemann, ‚Über das Identifizieren von Personen‘, S.
223.
586
Vgl. ebd., S. 223.
587
Vgl. Mandry, Ethische Identität und christlicher Glaube, S. 226. Die im Text angedeuteten Über-
legungen zur Person verweisen natürlich in die Moderne und sind an dieser Stelle der Untersu-
chung eigentlich anachronistisch. Trotzdem wurde sie hier eingefügt, um deutlich zu machen,
welches Gewicht der Aspekt der Nichtmitteilbarkeit der Person inne hat.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 245

C.2.b.3 Folgerungen für eine an den Bedürfnissen des Menschen orientierte Ethik
Ganz in diesem Sinne erweist sich die Suche nach der personalen Identität Jesu
und der daraus resultierende christianisierte Personbegriff als Neuansatz einer
Anthropologie, die nicht versucht, über das Soziale das Individuum zu ergründen
und ihm dann einen eng bemessenen Platz in der Gesellschaft zuzuordnen, son-
dern die versucht, die Unmitteilbarkeit der menschlichen Person als eigentliches
Zentrum seines Wesens einzusetzen, und von diesem Nicht-Kern her den Men-
schen als ein Wesen zu fassen, dem eine rein deskriptiv-empirische Beschreibung
niemals gerecht werden kann. Das führt jedoch zum durchaus interessanten Er-
gebnis, dass sich die christliche Anthropologie bei der konzeptionellen Ausgestal-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

tung der Definition der Person ihrer Aufgabe über die via negativa nähert: was
über die Identität des Einzelnen mit Sicherheit ausgesagt werden kann, ist also ihr
Tenor, lässt sich nur vom Standpunkt der Negation ausweisen. Die Unverfüg-
barkeit und Unmitteilbarkeit der Person, könnte man in einem Vorgriff auf Kant
und den modernen Menschenrechtsdiskurs formulieren, müssen daher die grund-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

legenden Pole einer Ethik sein, welche die ganzheitliche, identitätsorientierte


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Entwicklung des Menschen ermöglichen will, und sie wird diejenigen äußeren
Zwänge anklagen müssen, die diesen Prozess verhindern oder unmöglich ma-
chen.
Elementarer Bestandteil der christlichen Anthropologie ist also mithin das ste-
te Mitdenken des Bewusstseins um die inhärente Unergründbarkeit der Aufgabe,
die sie sich gestellt hat. Die Rede von der Person ist immer auch eine Rede vom
Unergründbaren, die sich aus dem Glauben vom Abbild-Gottes-Sein des Men-
schen notwendigerweise ergibt. 588 Aber gerade weil die vorherigen antiken Men-
schenbilder letztendlich darin defizitär waren, dass sie den Menschen in seinen
sozialen Eigenschaften, seiner Zwangsorientierung am bonum commune und hin-
sichtlich seiner erreichbaren Fähigkeiten überdeterminierten, ist das dezidiert am
Begriff der Person sich ausformende christliche Menschenbild eine weitreichende
Entwicklung. Es denkt den Menschen nicht als zwar individuelles Subjekt einer
sozialen Masse, dem dann aber bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden
können, die das Individuum schließlich zu erfüllen hat, sondern es sieht den
Menschen deshalb als wertvoll an, weil er sich als Einzelner entwickeln kann und
muss: 589 als Individuum für die Gesellschaft, und nicht als Individuum in der Ge-
sellschaft. Anders in der Antike: da der Mensch dort in seiner Funktion als Mit-
glied eines Sozialverbandes gesehen wurde, gab es „keinen Anlass, zwischen Indi-
vidualität und Personalität zu unterscheiden. Nun aber zeigt sich: Erst das Durch-
sich-selbst-Sein macht eine menschliche Individualität zur Person.“ 590

588
Vgl. Heinzmann, ‚Ansätze und Elemente moderner Subjektivität bei omas von Aquin‘, S.
427ff.
589
Nicht angesprochen werden hier die eschatologischen und soteriologischen Aspekte, die dieser
Deutung innenwohnen. Sie kamen bereits im Abschnitt zur Freiheitstheologie von Augustinus
zur Sprache.
590
Splett, ‚“Das Vollkommenste in der gesamten Natur“‘, S. 39.
246 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Für die Würdekonzeption der Scholastik wird aber eben nicht nur der Perso-
nenstatus Jesu Christi bedeutsam, sondern es ist vor allem auch die Zuschreibung
des Personenstatus an den trinitarisch erkannten und geglaubten Gott, die den
Ausgangspunkt für weitere, von ihr abhängige anthropologische Überlegungen
bildet. Tertullian wurde schon mit seinem trinitarischen Personenbegriff genannt,
in welchem der kanonische Glaubensinhalt vom dreieinigen Gott Gestalt an-
nimmt: ‚Person‘ kennzeichnet dort zwar eindeutig identifizierbare Wesenheiten
(die drei trinitarischen Personen), die aber in einem so besonderen Verhältnis zu-
einander stehen, dass sich weder das Wesen nur eines göttlichen Individuums
vollständig ergründen lassen kann, noch dass sich die trinitarische Person intern
mit einem spezifischen Beziehungstypus (z. B.: Nachbarn, Freunde) charakterisie-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ren lässt. Im Mittelpunkt der trinitarischen Personenkonzeption ist die incommu-


nicabilitas ihrer Form und ihres Wesen Bestandteil ihres Identitätskerns. 591
Dadurch, dass Tertullian in der Patristik den Personenbegriff in einem neuen
Kontext deutet, entfernt er in diesem Prozess allerdings auch die bei Cicero im
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Vordergrund stehende deskriptive Grundierung des Begriffs allein aus der Natur
des Menschen und damit die ontologische ex ante-Verknüpfungen mit der Be-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dingungsmöglichkeit der Existenz des Menschen, auf die sich die Semantik ‚Per-
son’ zuvor ausnehmend bezog. 592 Der Personenbegriff wird dadurch für die weite-
re Entwicklung vieldeutig und offen für die bereits skizzierten Akzentverschie-
bungen – klassische Personenbegriffe, die das menschliche Bespielen sozialer Rol-
len als deskriptive Beschreibung der Person enthielten, rücken in den Hinter-
grund oder werden zu einem Bereich normativer anthropologischer Setzung um-
gearbeitet. Gott als Trinität ist im christlichen Glauben Person, und zwar als Ab-
solutum dieses Begriffs – als „personaler Gott“, der durch sein Personsein mit den
Menschen in einem Dialog steht. 593 In der Logik der Methode der Scholastik
wird es dann aber auch heißen müssen, dass der Mensch nur durch sein imma-
nentes Verhältnis zu Gott als Person bezeichnet werden kann, ja, dass die Attri-
bute, die das Personsein des Menschen begründen, sich durch ihre Herkunft aus
spezifisch göttlicher Schöpfung erklären. 594

591
Vgl. ebd., S. 38f.
592
Vgl. Sturma, Art. ‚Person‘, S. 441.
593
Vergleiche bezüglich dieser beiden Kategorien die kurze Darstellung von Wolf, der dem Per-
sonsein der Trinität noch eine dritte Kategorie hinzufügt, nämlich die Annahme einer spezifi-
schen Persönlichkeit Gottes. Die drei Kategorien des Personenstatus Gottes spiegeln dabei die ver-
schiedenen methodologischen Zugänge wieder, als deren Ergebnis sie stehen: die Struktur der
Wahrnehmung der menschlichen Realität, die das Personsein Gottes prägt, ein analoger oder
symbolischer Zugang zum Personsein Gottes, der sich aus der menschlichen Erfahrung speist,
und, als dritter Kategorie, die Beschreibung der Persönlichkeit Gottes als eine die menschliche
Erfahrungswelt weit übersteigende. Vgl. Wolf, ‚An Introduction to the Idea of God as Person‘, S.
26f.
594
Auch spezifisch nicht-theologische Untersuchungen dazu, wie der Personenbegriff seinen Sieges-
zug in Europa beginnen konnte, müssen konstatieren, dass er sich nicht auf der Grundlage säku-
larer historischer Prozesse bildete, sondern dass er ganz entscheidend vom vorherrschenden Welt-
bild abhing. Vgl. beispielsweise Alain Boureau, der die Auffassung vom Körper mit der über die
Person korreliert: „At present, although I maintain the idea of the sacrality of one’s own body in
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 247

Der theologische Ansatz Tertullians und seiner christlichen Nachfolger hebt


sich infolgedessen entscheidend von den in der Antike bestehenden, dort aller-
dings noch nicht explizit in eigenständiger theoretischer Begrifflichkeit ausformu-
lierten Überlegungen zur Person als dem Verfügen über soziale Rollen ab; Aus-
gangspunkt des christlichen Verständnisses der Person ist jetzt gerade nicht das
Funktionieren in Gesellschaft, das Cicero als Vertreter der antiken Philosophie
betont, sondern das, was das Person-sein existentiell als solches definiert – das al-
so, was „in der Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes grundgelegt“ 595 ist. Das
Wesen der göttlichen Person drückt sich bei Tertullian im innertrinitarischen Di-
alog aus, als auch im dialogischen Verhältnis von Gott und den Menschen, das
einerseits den Menschen zu großer Verantwortung verpflichtet, das aber eben an-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

dererseits nahelegt, dass auch von Gott in einem analogen Sinn als von einer Per-
son gesprochen werden kann. 596 Dieses Verhältnis von göttlicher Person und
menschlicher Person wird vor allem in der Hochscholastik bestimmendes ema.
Und weil in der Scholastik vor allem Boethius Definition der Person eine emi-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

nente Rolle für die weitere Entwicklung des Würdegedankens spielt, wird nun
noch zu untersuchen sein, inwieweit sie überhaupt in der Lage ist, das ‚Neue’ am
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

christlichen Personenbegriff zu transportieren.

C.2.b.4 Ergebnissicherung und Kritik


Aus dieser kurzen Rekapitulation der spätpatristischen und frühscholastischen
Begriffsgeschichte erhellt sich die Motivation des Boethius, die christlich modifi-
zierte aristotelische Konzeption der Substanz zur Definition seines Personenbe-
griff einzusetzen, bzw. dazu in Beziehung setzend die trinitarische Personen-
eologie Tertullians für einen nun christianisierten Personenbegriff heranzuzie-
hen, welcher den Menschen nun insgesamt als wertvolles, einzigartiges, als Geschöpf
Gott mit jenem selbst im Dialog stehendes und dadurch würdebehaftetes und freies
Individuum kennzeichnet. Eine Person ist in dieser Zusammenschau und
Amalgamierung der unterschiedlichen klassischen Traditionen ein konkretes und
für andere durch die Art seines innersten Wesens letzthin unbegreifbares und
dadurch unverfügbares Individuum. Durch seine Vernunftfähigkeit ist der
Mensch außerdem als Abbild Gottes gekennzeichnet und steht dadurch mit ihm
auf einer besonderen Ebene der Fähigkeit zum Dialog, die ihm darin außerdem
den Genuss der Freiheit eröffnet. Allerdings verpflichtet dieser Status des Person-
seins den Menschen auch in existentieller Weise: die Beziehung zu Gott und seinen
Mitmenschen hat der Mensch verantwortlich gestalten.

the Middle Ages, I think that my causality and chronology were a bit too recent. I therefore in-
tend to prove, or at least to suggest, that corporeal ipseity depends closely on elements latent in
Christian doctrine and vigorously actualized by thirteenth-century scholasticism.” Boureau,
‘Corps Mystique, Corps Sacre’, S. 5f.
595
Heinzmann, ‚Der Mensch als Person‘, S. 53.
596
Vgl. ebd.
248 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Obwohl sich diese klassische Deutung der Definition des Boethius zugegebe-
nermaßen beinahe schon zu flüssig darstellt, lässt sich trotzdem kritisch anfragen,
ob nicht Boethius mit seiner Definition das eigentliche christliche Charakteristi-
kum des Personenbegriffs, nämlich die leibliche Unverfügbarkeit der Person
dadurch verfehlt, dass er dem Menschen den Personenstatus nur im Horizont
seiner rationalis naturae zuschreibt. Wie Heinzmann kritisch anmerkt, denkt
Boethius nämlich noch „ganz im Horizont griechischer Philosophie, denn so ge-
sehen ist Person nichts anderes als ein Individuum, ein Exemplar der Art geistbe-
gabte Natur. Der unterscheidend christliche Ansatz“, der auf der Grundlage des
dialogischen Mensch-Gott-Verhältnisses die Werthaftigkeit und Würde des Men-
schen herausstellt, „ist damit völlig verfehlt.“ 597 Der Beitrag Boethius zur christli-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

chen Philosophiegeschichte wäre dann in der Bündelung und Konkretisierung


verschiedener Aussagedimension zur Person in einem Begriff zu sehen, ohne aber
tatsächlich den Durchbruch zur Eigentlichkeit des Begriffs in christlichem Hori-
zont sprachlich eingefangen zu haben.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Ein aus heutiger Perspektive bedeutender Ansatz zur Kritik liegt nun darin,
dass Boethius trotz seiner Leistung einer wegweisenden Verknüpfung von Sub-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

stanzontologie und Personsemantik seine Definition der Person zu vorausset-


zungsreich gestaltet. Denn seine Definition bedeutet im Umkehrschluss, dass
Menschen dann nicht als Personen zu bezeichnen sind, wenn sie, aus welchen
Gründen auch immer, nicht zum Vernunftgebrauch fähig sind. Das aber scheint
eine ungerechtfertigte Einschränkung zu sein, der viele Menschen hinsichtlich
ethischer Grenz- und Abwägungsfragen intuitiv nicht zustimmen würden. Ein
weiterer Einwand bezieht sich auf die Ausblendung wichtiger Aspekte des
Menschseins, namentlich seine Körperlichkeit und Emotionalität. Die sehr
schnell kanonisch gewordene Definition des Boethius kann dann in dieser Hin-
sicht als eines der Signale verstanden werden, welches durch die Geistesgeschichte
hindurch immer wieder ein Problemfeld der westlich geprägten Philosophie und
eologie anzeigt und dadurch deutlich erkennbar macht: nämlich die Verhält-
nisbestimmung von Geist und Körper, die bis in die Moderne hinein in der phi-
losophischen Debatte nichts von ihrer komplexen Problematik eingebüßt hat.
Wenn aber wie bei Boethius der Personenstatus ausschließlich auf dem als dort
notwendig erachteten Fundament einer rationalen Natur aufruht, liegt ein defizi-
täres Menschenbild vor, das die körperlich-leiblichen Aspekten des Menschseins
– und damit auch die leiblichen Bedürfnisse des Menschen – ausblendet, und
darüber hinaus das Fehlen dieser Aspekte auch nicht grundlegend thematisiert.
Die auch durch diese Definition wirksam gewordene Überzeugung, dass es
einzig nur die geistige Natur des Menschen sein kann, seine Fähigkeit zur Ver-
nunft, die seinen herausgehobenen Status in der Schöpfungshierarchie begründet,
führt mindestens seit der Stoa unweigerlich zu einer zunehmenden philosophi-
schen Abwertung des Körpers, die sich anschließend auch auf die tatsächlichen
kulturell und sozial geprägten Erwartungen durchschlägt – durch spezifische
597
Ebd.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 249

Machtstrukturen, die auf die Gesellschaft über einen längeren Zeitraum einwir-
ken, aber auch durch Selbstdisziplinierung der Bürger um des höheren Gutes wil-
len. War es in der stoischen Philosophie noch die Forderung der ἀρετή, die den
Menschen aus Tugendgründen zur Vervollkommnung seines Wesens durch Apa-
thie gegenüber den Bedürfnissen des Körpers anhielt, ist es nun im Christentum
das Bewusstsein um die Tendenz des Körpers zur Sündhaftigkeit, aber auch die
Sorge um seine künftige Erlösung, die für ein grundsätzliches Misstrauen gegen-
über dem Körper sorgte. 598 Als Ergebnis diese Entwicklung steht eine Leibverges-
senheit, ja eine sogar über lange Zeit vorherrschende Leibfeindlichkeit, die theo-
logisch die Patristik, Scholastik und die ihr nachfolgenden Epochen mit einem
stark ausgeprägten Dualismus von positiv konnotiertem Geistbesitz und negativ
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

konnotierter Körpergebundenheit geprägt hat. 599


In dieser Hinsicht wäre der Gebrauch des Wortes Person auch kritisch so zu
lesen, dass man in dieser Epoche zwar entscheidende semantische Anteile zum
Begriff der Substanz hinzufügt, mit diesem Prozess jedoch auch von der konkre-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ten Körperlichkeit des Individuums abstrahiert. Meint der Ausdruck ‚individuelle


Substanz‘ formal eine dezidiert materiale ‚Körperlichkeit‘, die durch eine geistige
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Form in ihrer äußeren Form determiniert ist, so kennzeichnet ‚Person‘ nun einen
anderen Akzent – als Begriff verschiebt er den Ort des Individuellen im Men-
schen von seiner Körperlichkeit hin zu seinem Anteil am Vernunftgebrauch. Dort
ist nun der einzige angemessene Ort, von dem aus Individualität und Identität
bestimmt werden. In gewissem Sinne ist damit die Person die christliche Mittel-
position zwischen materialer Substanz des Körpers und der metaphysischen Un-
räumlichkeit des Geistes.
Deshalb wäre es ebenfalls zu kurz gegriffen, wenn man die boethische Formel
nur als christlich gewendete Paraphrase der Semantik vom aristotelischen animal
rationale verstünde und daraufhin im Umkehrschluss annähme, dass bereits die
Griechen einen – wenn auch eben nicht expliziten – Begriff der Person hatten;
wie Dieter Teichert herausgearbeitet hat, stützt sich die aristotelische Philosophie
nämlich epistemologisch auf eine zu Boethius (und den auf seiner Definition
gründenden späteren Konzeptionen der Person) diametral entgegengesetzte Per-
spektive: In der aristotelischen Philosophie besitzt der Mensch nämlich nicht
durch sein natürliches Wesen Vernunft und steht auf dem Grund dieser Tatsache
über seinen Mitgeschöpfen, sondern weil er durch die Gunst der Göttern über
den anderen Wesen steht, hat er deshalb Vernunft, kann deshalb aufrecht gehen,
kann deshalb seine Hände zu einer Vielzahl von Tätigkeiten gebrauchen. Die Be-

598
Diese Tendenz des Christentums wird bereits in den frühesten Zeugnissen deutlich, und zeigt
sich in Haustafeln (Eph 5,21-6,9; Kol 3,18-4,1; 1.Petr. 2,18-3, 7), in Ermahnungen an die Ge-
meinden, und schließlich zentral im Werk der Kirchenväter. Vgl. Feichtinger, Die Christen und
der Körper.
599
Wobei ein extremer Dualismus auch die Schriften der sich formierenden Naturwissenschaften
geprägt hat. Vgl. z. B. ‚L’Homme Machine’ von Julien Offray de La Mettrie, in dem derselbe die
Vernunft als Triebmotor des Geistigen als eigenständige Kraft zugunsten der allein maschinellen
Funktionsweise des Körpers verwirft. Mettrie, Der Mensch als Maschine.
250 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

zeichnung des Menschen als ‚animal rationale’ „ist also bei Aristoteles nicht ein
Bestandteil der [anthropologischen, M. H.] Klassifikation, im Gegenteil: die Idee
vom Menschen als oberster Stufe der ‚scala naturae’ ist in gewisser Weise die
Grundlage der Klassifikation.“ 600
Aus diesem epistemologischen Zugang wird schließlich auch ersichtlich, wie
Aristoteles in seiner Politik zur Einschätzung kommen kann, dass die Menschen
nicht gleich seien, sondern es im Gegenteil sogar ‚natürliche Sklaven‘ gebe. Denn
aus der Annahme, dass die speziellen Fähigkeiten des Menschen seiner Höchst-
stellung in der Ordnung der Natur entspringen, ist der Schluss auf die Aussage
leicht, dass es niedrigere Menschen geben könne, die dementsprechend geringere
Fähigkeiten aufweisen, bzw. die Kapazität zur Vernunft nur in abgestuftem, ge-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ringerem Maße besitzen. Das Verständnis der ‚Person‘ im heutigen, vor allem
aber auch im boethischen Sinne könnte daher bei den Griechen keine kategoriale
Einordnung sein, die das konkrete Individuum vor dem Horizont einer Semantik
der universalen Egalität aller Menschen verstehen könnte; wie es sich auch schon
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

weiter oben beim fehlenden Verständnis der Griechen für die Idee einer universa-
len Gleichheit des Menschen erwies, gilt entsprechend, dass „Aristoteles […] kei-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

nen Begriff einer universalen, nicht auf bestimmte Merkmale des Menschen ein-
geschränkte Würde [kennt, M. H.], und er […] ebenso wenig einen universalen,
auf alle Menschen gleichermaßen ausgerichteten Personenbegriff [hat, M. H.].“ 601
Damit wird eindeutig, worin sich der Personenbegriff Boethius’ tatsächlich
von der Anthropologie der klassischen Antike absetzt, aber auch, worin er noch
im Menschenbild der Antike verharrt: der einzelne Mensch in seiner konkreten
Individualität klassifiziert sich durch sein vernünftiges Wesen als zur geschöpfli-
chen Menschheit zugehörig; dies macht die absolute Grundlage seiner Personalität
aus, auf der sich dann die Identität des Menschen entfalten kann. Das bedeutet,
positiv gewendet, auch: „Person sein heißt: eine Natur nicht nur sein, sondern
haben, sich zu ihr verhalten können.“ 602 Auf diese Weise beschränkt Boethius den
Personstatus als prädikative Eigenschaft auf die Potenzialität zur Vernunftfähig-
keit, und nicht auf den aktiven Gebrauch der Vernunft durch die individuelle
Person an sich. Neben der Menschheit gibt es schließlich überhaupt nur noch
zwei weitere in dieser Weise begabte Wesen: Gott und die Engel. 603
Die Kennzeichnung des Personenbegriffs als eigentliche Neuentwicklung
christlicher Philosophie ist damit einer kritischen Relektüre zu unterziehen, bzw.
in einer angemessene Weise zu deuten: neu ist der Begriff vor allem darin, dass er
eine bedeutende Verschiebung des Menschenbildes deutlich macht: vom Vorrang

600
Teichert, Personen und Identitäten, S. 37. Wenn Teichert auch in diesem Beispiel nachweist, dass
es hinsichtlich der Klassifikation des Menschen große Unterschiede in der Anthropologie der
klassischen Philosophie Griechenlands und der christlichen Philosophie gibt, zeigt sich in seiner
Untersuchung dennoch, dass auch die Griechen einen – wenn auch sehr abgeschwächten – Be-
griff von ‚Person’ hatten. Siehe dazu insbesondere das Kapitel 1 des vorbenannten Buches.
601
Ebd., S. 74.
602
Nissing, ‘Das Recht der Natur – Zur Einleitung’, S. 14.
603
Vgl. Rolnick, Person, Grace, and God, S. 37f.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 251

des Sozialverbandes in der antiken Welt leitet er über zum ethisch implizierten
Vorrang des Individuums, dem durch seine Natur eine besondere Würde und
dadurch auch ein besonderer Schutz (verpflichtend) zugedacht wird. Dass die
dem Personenbegriff zugrundeliegende anthropologische Beschreibung allerdings
noch starke Erinnerungen an das antike Menschenbild weckt, liegt im ange-
nommenen Dualismus von Körper und Geist begründet, der in der antiken Phi-
losophie wurzelt, und der noch bis in die Moderne das bestimmende Denkmo-
dell der unterschiedlichen Bilder vom Menschen bleiben wird.
Mit diesem Ergebnis bleibt die Idee der Person für die scholastische eologie
bestimmend und besonders nach Richard von St. Viktor für ihre weitere Ent-
wicklung bedeutend; da das Person-sein Gottes, das Tertullian in seiner trinitari-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

schen Formel deklamiert hatte, für die scholastischen eologen der zentrale
Ausgangspunkt ist, um davon ausgehend die Personhaftigkeit des Menschen zu
ihm in Beziehung setzen zu können, wird auch der Würdebegriff parallel zum
Personenstatus entlang dieser Verbindungslinien in der Scholastik weiter entwi-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ckelt. Personalität und Würde verknüpfen in diesem Sinne das Individuum mit
Gott, und in diesem In-Beziehung-Setzen von Gottes dreieiniger Person mit
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

‚höchster Würde‘ und der menschlichen Person mit ihrer ‚relationalen Würde‘
zeigt sich nun in herauszuhebender Deutlichkeit der Vorgang der Einbettung der
dignitas humana in den Begriff der Person. Das – nun auch ethisch bedeutsame –
Resultat der scholastischen Auseinandersetzung mit den Begriffen der dignitas
und der Person lässt sich in besonderer Weise bei omas von Aquin nachverfol-
gen.

C.2.c omas von Aquin – Dignitas Humana

In der hochscholastischen Gedankenwelt des omas von Aquin kulminieren


nämlich die Entwicklungen des Begriffs der Person, der Überzeugung einer indi-
viduell zu bestimmenden Freiheitsdimension des Menschen und seiner Anlage
zur Vernunft in einer christlich durchstimmten Naturrechtslehre 604, in welcher
der Begriff von der Würde des Menschen innerhalb eines vollständig durchge-
ordnet-gestuften christlichen Weltbilds zur qualitativen Bestimmung des Ver-
hältnisses von Gott und Mensch dient und dadurch in besonderer Weise auch ei-
ne ethische Sinnspitze erhält.
Einschränkend ist dieser Vorbemerkung allerdings sogleich anzufügen, dass es
auch in omas‘ Werk dem Begriff dignitas weithin an einer systematisch konsis-
tenten Verwendung mangelt. Dadurch kommt es erneut, wie in der Geschichte
des Begriffs bereits früher gezeigt werden konnte, zum synchronen Nebeneinan-
der beispielsweise antiker Anklänge an die Leistungswürde, wie aber auch einer
explizit metaphysisch begründeten Würde des in der Schöpfungsordnung an ers-

604
Für einen umfassenden Überblick über die thomistische Naturrechtslehre vgl. Ricken; Wagner,
Art. ‚Naturrecht‘, § II, dort v. a. S. 142ff.
252 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

ter Stelle stehenden Menschen. Obgleich der Aquinate von der dignitas also sehr
häufig spricht – der Corpus omisticus 605 weist in den unterschiedlichen Wort-
formen über eintausend Belegstellen aus – unterscheidet er nicht trennscharf und
konzise zwischen den unterschiedlichen Kontexten, in denen dignitas bei ihm je
spezifische inhaltliche Begrifflichkeiten ausdrücken soll, wodurch er den Begriff
entsprechend in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen methodisch unein-
heitlich nutzt. Allerdings, so wird im Folgenden zu zeigen sein, lassen sich klare
Tendenzen in der kontextuellen Verwendung des Begriffs der dignitas entdecken,
die auf die bislang erörterten Verwendungsformen des Begriffes verweisen, nun
aber auch spezifisch aus der Stellung des Menschen in der Schöpfungsordnung
ethische Normen des Verhaltens entwickeln. Aufmerksam machen muss jeden-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

falls im großen systematischen Entwurf der ‚Summa eologica‘ und den anderen
thomistischen Schriften besonders der Umstand, dass der Begriff der dignitas stets
dann die häufigsten Belegstellen aufweist, sobald es um Überlegungen zur Stel-
lung des Menschen in der Welt, sowie um den Personbegriff als Kennzeichnung
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Gottes und schließlich das dialogische Verhältnis der Person Gottes zur mensch-
lichen Person geht. 606
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

In dieser Einleitung ist auch festzuhalten, dass sich omas einerseits mit sei-
ner Verwendung des Begriffs der dignitas an der traditionellen Bezeichnung für
eine besondere soziale Position oder Stellung orientiert, andererseits jenen Status
aber in qualitativer Hinsicht so versteht, dass aus der Zuschreibung der Würde
eine ethische Verantwortung für den Träger der Würde erwächst. Diese Verant-
wortungszuschreibung ist für omas in der Schöpfungsordnung begründet, die
von Gott her dem Menschen als seinem Ebenbild und den anderen vernünftigen
Wesen je nach ihrer gestuften Würde ein ihrer Natur nach angemessene Verhal-
ten vorgibt. Dignitas wird durch omas als konstitutiver und in des Menschen
Geschöpflichkeit begründeter ontologischer Wesensaspekt ausgewiesen, wenn je-
ne als dignitas humana das selbstständige, vernünftige und freien Streben des
Menschen nach dem höchsten Guten bezeichnet, ein Streben, das gleichwohl
auch immer durch die Sündhaftigkeit des Menschen bedroht wird. 607 Diese sich
qualitativ bestimmende Wesenswürde ist also bei omas eine dem Menschen

605
Vgl. Busa, Corpus omisticum, <http://www.corpusthomisticum.org/it/index.age>, letzter Zu-
griff am 26.11.2010.
606
Sturma merkt in diesem Kontext an, dass die Person erst in der Philosophie der Neuzeit „moder-
ne Bestimmungen wie >Selbstbewusstsein<, >Lebensplan<, >Autonomie< und >Würde<“ erhält.
Dem ist allerdings nicht zuzustimmen, denn bereits in der Scholastik wird die Person mit diesen
Bestimmungen prädiziert; und anders wäre auch nicht einsichtig zu machen, warum der Perso-
nenbegriff überhaupt relevant werden sollte. Wie im Exkurs über die Person herausgearbeitet, ist
es schließlich gerade die Deutung der Person als das nicht Wissbare, was über die klassische Be-
stimmung des Menschen als animal rationale weit hinausreicht. Richtig ist allerdings die Be-
obachtung Sturmas, dass diese Bestimmungen immer auf Gott als alleinigem Gewährsmann be-
ruhen: die Person hat z. B. Autonomie und Würde durch Gott, und nicht durch sich selbst. Vgl.
Sturma, Art. ‚Person‘, S. 441.
607
omas von Aquin, Super Rom., cap. 2 l. 3: „Et iste est supremus gradus dignitatis in hominibus,
ut scilicet non ab aliis, sed a seipsis inducantur ad bonum.”
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 253

inhärierende, natürliche Eigenschaft, die in der Gottesebenbildlichkeit ihr Fun-


dament findet, und die dem Menschen deshalb auch zugleich Aufgabe für seine
gelebte Moralität sein muss. Der Mensch besitzt seine Würde dementsprechend
nicht schlechterdings als Ergebnis einer Eigenleistung, oder eines besonderen,
primär stehenden sozialen Anerkennungsprozesses durch andere, sondern er ver-
fügt ontologisch über sie allein auf der Grundlage seines geschöpflichen Ver-
wandtschaftsverhältnisses zu Gott. 608

C.2.c.1 Die scholastische Weltordnung


omas stellt sich mit seinem Verständnis des Würdebegriffs in die Tradition
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

von Tertullian, Ambrosius und Augustinus und baut deren christliche Beschrei-
bung der dignitas in sein hochscholastisch durchgeordnetes und systematisch
strukturiertes Welt- und Naturbild ein, das darin noch einmal eine prägnante
Weiterentwicklung zum vorscholastischen christlichen Weltbild erfährt. War zu-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

vor Anselm vor allem mit seiner ontologischen Methode für die Entstehung des
scholastischen Menschenbilds und Wissenschaftsverständnisses einflussreich, ist
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

nun besonders die thomistische Darstellung der Natur als göttlich gewollte
Schöpfung die Grundlage einer ideengeschichtlich für lange Zeit bestimmenden
Anthropologie und Ethik. Deren zentralen Motive bestimmen sich daraus, dass
omas in seinem Denken einen Konnex zwischen der Natur der menschlichen
Person 609 als geschöpftem Gegenüber des personalen Gottes, und der Frage nach
der Stellung des Menschen in einem von Gott geschaffenen Kosmos herzustellen
versucht. In existentieller Verbindung zu diesem Konnex stehen für omas die
Inhalte des natürlichen Sittengesetzes, welches einerseits durch die Stellung und die
Aufgabe des Menschen in der Welt einen ethischen Handlungsimperativ näher
qualifizieren soll, und mit dem omas andererseits ontologisch belastbare Aus-
sagen über das wechselseitige Verhältnis von Gott, Schöpfung und der Natur der
existierenden Wesen als begründbar sowie praktisch konkretisierbar ansieht.
Die christliche Anthropologie erhält dadurch einen weitreichenden anthropo-
zentrischen Spin, denn nun steht die Erkenntnis- und Vernunftfähigkeit des

608
Spaemann schreibt dazu: „Weil der Mensch als sittliches Wesen Repräsentation des Absoluten ist,
darum, und nur darum kommt ihm das zu, was wir ‚menschliche Würde‘ nennen.“ Zitiert nach:
Pfordten, Normative Ethik, S. 77.
609
Pinckaers verweist in diesem Zusammenhang auf die zentrale Problematik, die die eologen der
Scholastik mit dem Begriff der Person haben: einerseits wird Gott von ihnen als Person gekenn-
zeichnet und außerdem näher bestimmt, welche Qualität eine Person auszeichnet, andererseits
sehen sie sehr wohl, dass der Begriff weder auf das alte noch das Neue Testament zurückgeht,
sondern vielmehr eine patristische Schöpfung ist. omas jedoch sieht darin kein grundsätzliches
Problem (S.. I, 29, 3 ad 1): insofern es notwendig sei, den Glauben gegen Häretiker zu vertei-
digen, sei es ebenfalls notwendig, neue Begriffe einzuführen. Neue Begriffe, die im Sinne des
Heils gebraucht würden, wären nicht profan und stünden dann auch nicht gegen die Schrift.
Dieser Gedanke lässt sich auch auf die Menschenwürde übertragen, die ebenfalls keine genuine
Begrifflichkeit der Schrift ist. Damit wäre christlicherseits ihr auch apologetischer Charakter klar-
gestellt. Vgl. Pinckaers, ‚La dignité de l’homme selon Saint omas d’Aquin’, S. 89f.
254 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Menschen im Mittelpunkt einer konsistenten und geordneten Weltordnung. Es


ist der Mensch, der die Schöpfung als von Gott ausgehend erkennen kann und
ihre Hinordnung auf Gott in den teleologischen Prozessen der Natur rational
nachvollziehen kann. omas‘ Naturverständnis, das sich in dieser Perspektive
kenntlich macht, ist namentlich „in besonderer Weise durch den Gedanken der
Kreatürlichkeit bestimmt […], [indem, M. H.] der göttliche Logos auf je eigene,
und das heißt analoge Weise, Ursprungs- und Zielbestimmung von allem ist, was
existiert.“ 610 Diese scholastisch geprägte Auffassung der Welt mit dem Menschen
als vernunftbegabtem Mittelpunkt zeigt sich in klassischer Form in S.. I 93, 2,
wo omas die Verbindung der Schöpfung mit Gott in ihrer hierarchischen Di-
mension darstellt, darin aber allein dem Menschen den Ehrentitel des imago dei
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

zuweist:
„Gewisse Dinge sind Gott aber ähnlich zunächst und ganz allgemein, insofern sie
Dasein haben, zweitens insofern sie leben, drittens insofern sie erkennen oder Ein-
sicht haben. ‚Diese stehen‘, wie Augustinus sagt, ‚der Ähnlichkeit nach Gott so
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

überaus nahe, daß kein Geschöpf Ihm näher ist.‘ So ist es also klar, daß nur die ver-
nunftbegabten Geschöpfe im eigentlichen Sinne nach dem Bilde Gottes sind.“ 611
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Der Charakter der gesamten Schöpfung ist durch omas in ihrem existentiellen
Bezug auf Gott als in fundamentalster Hinsicht ‚gut‘ gesetzt; alles, was mindes-
tens ‚da‘ ist, hat durch sein Geschaffen-sein im Analogschluss eine wenigstens
kleine Ähnlichkeit zu Gott. Auch will omas die Verbindung selbst der kleins-
ten und unscheinbarsten Wesen mit Gott nicht als ontologisch belanglos verstan-
den wissen. Im Gegenteil wird in der thomistischen Kosmologie erst durch die
Berücksichtigung und Wertschätzung allen Seins deutlich gemacht, dass die
Schöpfungsordnung als ein Ganzes existiert und allein Gott als Ursprung, erhal-
tenden Garanten und Ziel ihrer Existenz besitzt. Auch die innerkreatürliche Ver-
bindung aller da-seienden Dinge in der von Gott gewollten Schöpfungsordnung
ist in diesem Sinne für omas als letztlich gut zu klassifizieren, denn „[t]he order
formed a Great Chain of Being, a huge, many-tiered, interrelated universe.“ 612
Der Mensch ist deshalb, obwohl er sich als Mittelpunkt, als ‚Brückenkopf‘ des
Verhältnisses der Schöpfung zu Gott betrachten darf, jedoch zu jeder Zeit Teil
der Schöpfung; obwohl er an der Spitze der Geschöpfe steht, erwächst ihm daraus
nicht die Fähigkeit zur absoluten Herrschaft über die Schöpfung, sondern viel-
mehr die Aufgabe zur besonderen Verantwortung für Erhalt und Pflege der
Schöpfung.
Die thomistische Darstellung des universalen Zusammenspiels des Da-
seienden besteht aber natürlich nicht im Selbstzweck eines logisch aufgebauten,
kohärenzorientierten theologischen Systems, sondern sie dient vielmehr auch zur
Veranschaulichung der epistemisch-systematischen Voraussetzungen des Werkes,
um frühere Naturrechtsansätze, wie etwa den der Stoa, mit dem christlichen
610
Wald, ‚Natur und Naturrecht‘, S. 121.
611
omas von Aquin, S.. I 93,2, zitiert nach: Baranzke, Würde der Kreatur, S. 86.
612
Ven, Human Rights or Religious Rules?, S. 189.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 255

Weltbild in einer harmonisierten Gesamtsicht vereinen zu können. Aus der vor-


gängigen Untersuchung, Reflexion und Einordnung aller Seinsstufen der Wirk-
lichkeit der Welt kann und muss sich für omas deshalb überhaupt erst erwei-
sen, wie sich der Mensch moralisch-sittlich verhalten muss, um seiner Natur als
Geschöpf zu entsprechen. Weil Gott der Urheber des Universums ist, muss sich
für omas an Gottes schöpferischer Handschrift erkennen lassen, wie seine Ge-
schöpfe – vor allem der Mensch, der sich durch Vernunftfähigkeit und in Freiheit
zu sich selbst verhalten kann – handeln müssen und sollen. Die scholastische
Schöpfungstheologie des omas besitzt deshalb durch die Untersuchung der Re-
lation des Menschen zu seinem Schöpfer im Begriff der Würde eine vor allem auf
die Fragen der moralisch anzustrebenden Zielsetzungen und Handlungsoptionen ge-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

richtete Perspektive, die sich auf seine eologie insgesamt durchzeichnet. Die Su-
che nach den natürlichen Konstellationen und voluntativen Möglichkeiten mora-
lischen Handelns durch freie und vernünftige Personen in der Schöpfung als Er-
weis ihrer Würde – die freilich als sündhafte Wesen stets der göttlichen Gnade
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

bedürfen – ist dadurch letztlich die epistemologische Fragestellung des thomisti-


schen Naturrechts. 613
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Es geht omas also im Kern um eine Systematisierung des Verhältnisses von


Gott, Natur und der Vernunft, womit er Konzeptionen „sowohl […] einer ratio-
nalistischen, beim Vernunftbegriff ansetzenden, wie von einer theologischen
Ethik“ 614 zu verknüpfen und außerdem den ‚Graben‘ zwischen Glauben und Wis-
sen mit der Anwendung der durch ihn zur Höchstform gebrachten scholastischen
Wissenschaftstheorie nach Möglichkeit zu schließen sucht. 615 Sein Ziel bei diesem
Unterfangen ist, mit der Darstellung der innerhalb der Schöpfungsordnung sich
zeigenden Relationalität und Verwobenheit des Da-seienden einerseits die ratio-
nal überprüfbare Vernünftigkeit theologischer Erkenntnisse hinsichtlich ihrer ob-
jektiv-empirischen Erfassbarkeit zu erweisen, und andererseits die ethische Rele-
vanz der Schöpfung als Schöpfung im Rahmen des christlichen Naturrechts zu
unterstreichen.
Für die christliche Anthropologie bedeutet das nun eben in besonderer Weise:
der Mensch ist in seiner geschöpften Naturhaftigkeit ein existentiell auf Gott
hingeordnetes Wesen, und seine (vernünftigen) Handlungen lassen sich objektiv
als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ danach bewerten, ob sie seiner Natur entsprechen oder

613
Dieser Zusammenhang von Naturrecht und es inhärierender Pflicht zum moralischen Verhalten
wird erst im Ausgang des Mittelalters, in der Spätscholastik, durch William von Ockham bestrit-
ten. Mit der Erfahrung der Kontingenz der Welt und der Kontingenz der Ereignisse kann nach
Ockham nicht davon ausgegangen werden, dass der Schöpfung ein göttlicher Plan eingeschrieben
ist, der ein rational erkennbares höchstes Ziel bereithielte und die Würdigkeit des Menschen da-
nach messbar macht, ob er entsprechend dem naturrechtlichen Rahmen der Schöpfungsordnung
gehandelt hat. Es ist im Gegensatz die Würde der menschlichen Natur so zu verstehen, dass dem
Menschen die Fähigkeit gegeben ist, autonom und freiheitlich zu handeln. Mit der Ock-
ham’schen Perspektive auf die Kontingenz der Welt ist die Begründbarkeit einer naturrechtlich
fundierten Moral praktisch aufzugeben.
614
Lohmann, Zwischen Naturrecht und Partikularismus, S. 177.
615
Vgl. Heinzmann, Art. ‚omas von Aquin‘, S. 200.
256 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

nicht. 616 Im Naturrechtsansatz des omas laufen dementsprechend verschiedene


vorscholastische Traditionslinien zusammen, die sich bei omas zu einem solitär
stehenden, systematisch begründeten christlichen Weltbild eigener Genuinität
verdichten. Aus der (1) rationalistisch orientierten stoischen Philosophie, die das
Begriffspaar lex divina/lex natura zur Bestimmung des ontologischen Status der
Seinsordnung beisteuert, aus dem (2) theologisch begründeten Verständnisses
von Gott als Person, und aus der (3) christlichen Anthropologie, die von der
Überzeugung geleitet wird, dass dem Mensch als imago dei der oberste Platz in
der Rangstufe der Schöpfung gebührt, entwickelt omas eine Naturrechtslehre,
die zwischen diesen Traditionen und den mit ihnen in den unterschiedlichen Ka-
tegorien des Daseins verbundenen Konzepten des Guten vermittelt. Er unter-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

scheidet dort namentlich die lex aeterna, das ewige Gesetz, welches analog zu
Gottes höchster Vernunft, der ultima ratio zu denken ist, und das allein Gott
vollumfänglich übersehen kann. 617 Das Naturgesetz als lex naturalis ist als Ge-
schaffenes Teilbereich der lex aeterna, dadurch abhängig von Gottes Vernunft
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

und ist deswegen auch lex divina 618 in Doppelfunktion. Da die Menschen durch
Vernunftgebrauch Teile der Eigenschaften und Inhalte des lex naturalis erkennen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

können, also als Geschöpfe auf das göttlichen Gesetz in nur gestufter Form zu-
rückgreifen können, ist nach omas auch das positiv gesetzte Gesetz der Men-
schen, das lex humana, in gewisser Weise abhängig vom göttlich gesatzten Natur-
recht, und damit mithin ebenso auf göttlichen Ursprung zurückzuführen.

C.2.c.2 Die Natur als eigengesetzlicher Ort


Der Mensch handelt nun dann ‚gut‘, wenn er sich an dem in seiner Natur zu fin-
denden lex naturalis orientiert, das heißt, wenn er nach Maßgabe seiner Vernunft
in seiner Wesensnatur jene moralisch richtigen Handlungsmöglichkeiten ent-
deckt und schließlich diejenigen Ziele voluntativ anzielt, die er zur Vollendung
der in seiner Natur angelegten Neigungen zum Wohlergehen braucht. Das ‚Gute’
ist demnach zuerst formallogisch als natürlich angelegtes Strebensziel gefasst; eine
inhaltliche Beschreibung dessen zu liefern, was tatsächlich als ‚gut‘ zu gelten habe,
ist dann die Aufgabe der praktischen Vernunft, die aus der Reflexion auf die We-
sensnatur bestimmen muss, welche Ziele zur Vollendung der eigenen Natur als
vernünftig anzusehen sind. Die Natur als Schöpfung besitzt in dieser Hinsicht die
instrumentelle Mittlerfunktion zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre, in-
616
Vgl. omas von Aquin, S.. I-II, q.18, a.2.
617
Für das Folgende: omas von Aquin, S.. I-II, q91.
618
Allerdings – darauf verweist Lohmann – ist der Gebrauch des Ausdrucks ‚lex divina’ bei omas
nicht ganz eindeutig. Es wird auch zur Kennzeichnung von AT und NT verwendet. Wozu
braucht der Mensch aber überhaupt noch eine besondere göttliche Gesetzgebung, wenn er doch
auch schon durch Vernunftgebrauch auf die lex naturalis rekurrieren kann (S.. I-II, q91,4)?
omas antwortet darauf, dass der Mensch die Weisung durch das lex divina benötigt, weil in
Gottes Offenbarung Wahrheiten enthalten sind, die im Modus der normalen Erkenntnistätigkeit
für den Menschen nicht zu erfahren sind. Lohmann, Zwischen Naturrecht und Partikularismus, S.
178f.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 257

dem sie dem Vernunftwesen Mensch als Erfahrungsort objektiver Aussagen dar-
über dienen muss, was als Gottes ewiger Wille anzusehen ist. Um die Natur als
Ort objektiver Aussagen über das Gute verstehen zu können, ist deshalb umge-
kehrt das thomistische Verständnis der Natur als göttliche Schöpfung vorauszu-
setzen. Denn aus dem materialen ‚Es ist‘ der Natur, sozusagen aus ihrem Dasein
allein, ergeben sich noch keine normativ gehaltvollen Aussagen über die in ihr re-
sidierende göttliche Vernunft. 619
Erst mit dieser basalen Differenzierung ist für omas die Zentralperspektive
auf den Menschen und seine Stellung in der Welt möglich, welche sich in ethi-
schen Imperativen richtigen Handelns nach den zielsetzenden Maßgaben der
Wesensnatur als des ‚Guten‘ manifestiert. Ähnlich wie in der stoischen Philoso-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

phie muss sich der Mensch gerade wegen seiner herausgehobenen Stellung in der
Welt, hier nun aber als Gottes Ebenbild mit einer besonderen Würde ausgestat-
tet, entsprechend richtig verhalten. Es ist die Fähigkeit zur Vernunft, die den
Menschen dazu verpflichtet, sich seiner personalen Natur und Freiheitsorientie-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

rung gemäß reflektierend zu sich selbst zu verhalten. In der Entscheidungsfin-


dung zur Bestimmung seiner Handlungsziele muss sich der Mensch auf vernünf-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tige Weise mit der eigenen Stellung als Geschöpf auseinandersetzen. Denn seine
Willensfreiheit (liberum arbitrium) als Person kann sich für omas erst im Ver-
mögen offenbaren, diejenigen Akte auszuwählen, die das Streben der eigenen
Leibnatur zu einer ganzheitlichen Entwicklung gemäß der vernünftig anzustre-
benden Ziele vorantreiben. Handlungen, die auf diese vernünftige Weise vom
Menschen gewollt werden, sind deswegen ‚gut‘, weil sie der inclinatio naturalis
entsprechen, d. i. der von Gott im Menschen angelegten innersten Neigung, die
ihn auf das je eigene Beste orientiert. Was aber kann dieses eigene Beste letztin-
stanzlich sein? Dem Aufbau der thomistischen Weltordnung zufolge wird es sich
teleologisch allein aus Gott, dem summum bonum bestimmen lassen, an dem sich
der Mensch, schon durch seine Geschöpflichkeit begründet, willentlich orientie-
ren muss. Die menschliche Vernunftfähigkeit zeigt sich somit darin, dass der
Mensch einen „Zusammenhang zwischen der [eigenen, M. H.] naturhaften Hin-
neigung und ihrem Gut“ 620 herstellen, und daraus auf die Inhalte der lex natura
schließen kann. Den inclinationes naturales kommt also mithin die Aufgabe zu,
als „Leitfaden für die Bestimmung des Gehalts der lex naturalis“ 621 zu dienen. Der
epistemische Deutungshorizont des zu Wollenden geht damit grundsätzlich vom
Menschen aus, der in aktiver Tätigkeit den göttlichen Ordnungszusammenhang
seiner Natur mit dem der Schöpfung vernünftig erfassen und für das eigene Le-
ben wirksam werden lassen muss, wobei er sich aber dennoch in der Auseinander-
setzung mit seiner Natur als grundsätzlich determiniert erfahren wird, weil er we-
der sein letztes Ziel selbst bestimmen, noch seine Natur verändern und letztlich
auch das letzte Ziel nicht ablehnen kann.

619
Vgl. Wald, ‚Natur und Naturrecht‘, S. 116.
620
Ebd., S. 123.
621
Ebd.
258 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

In der ‚Summa eologica‘ verzeichnet omas als grundsätzliche inclinationes


naturales die Selbsterhaltung des Lebens, die Fortpflanzung sowie die Entfaltung
geistiger Fähigkeiten. 622 Er weist allerdings auch darauf hin, dass die inclinationes
naturales nicht als Gesetze im Sinne von ausformulierten positiven Rechten ver-
standen werden dürfen: sie sind nämlich Gesetze nur insofern, soweit sie die Ver-
nunft des Menschen in Anschauung der Natur dazu macht. 623 Daraus folgt auch,
dass die physikalischen, „natürlichen Gesetzmäßigkeiten […] nun deshalb nicht
unmittelbar selbst schon als Gesetze für das sittliche Handeln gelten [können],
weil die einzelnen inclinationes naturae auf verschiedene Güter gerichtet und inso-
fern mögliche Objekte des menschlichen Willens sind.“ 624 Damit vermeidet
omas einen platten Naturalismus, der natürliche Neigungen als in juridische
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Normen übersetzbar auffassen würde; ihm zufolge wird hingegen die überzeitli-
che und übersoziale Natur erst dann als rechtsinhärierendes Gut aufgefasst wer-
den können, wenn der Mensch mit dem Gebrauch der Vernunft seinen Willen
ethisch am Guten orientiert. Das Gute zu bestimmen, dass der Mensch durch
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

sein Handeln anstreben soll, ist deshalb für omas eine Aufgabe, die sich aus der
inhärenten Abhängigkeit der Schöpfung von seinem Schöpfer ergibt: das mora-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

lisch Gute kann dann aber nur das sein, was die von Gott geschöpfte Natur zur Erfül-
lung bringt. Daher sind die natürlichen Neigungen im Menschen aber nun durch
omas – neben den oben angesprochenen Determinationen als Ergebnis der ge-
ordneten Schöpfungsordnung – auch nicht als völlig frei und ungerichtet be-
stimmt; sie gehorchen einerseits wiederum selbst dem einigenden Prinzip des
Willens, der das Gute für den Menschen will, und andererseits sind sie auch na-
türlichen Regelungsmechanismen unterworfen, die dazu führen können, dass ei-
ne Neigung zugunsten einer anderen Neigung zurückgestellt wird.
Deshalb darf innerhalb dieser vernünftigen und darin freien Selbstreflexion des
Menschen auf seine Handlungsziele nicht übersehen werden, dass durch die lex
natura der Schöpfung und dem Wesen jedes einzelnen Geschöpfes ein orientie-
rendes Telos innewohnt, das alles in der Schöpfung existierende auf das summum
bonum, nämlich Gott, orientiert. Die Willensfreiheit des Menschen zur Bestim-
mung der eigenen Akte, letztlich des eigenen Guten, ist damit gleichsam in der
natürlichen teleologischen Ausrichtung der menschlichen Geschöpflichkeit auf
Gott aufgehoben. Der Mensch steht bei omas im Spannungsfeld von einerseits
eigenrechtlichem Agierens als vernünftiges Wesen und andererseits der inneren

622
Vgl. omas von Aquin, S.., I-II, q.94, a. 2, zitiert nach Wald, ‚Natur und Naturrecht‘, S.
123.
623
Vgl. Finnis, Natural Law and Natural Rights, S. 35f. Das Verhältnis der menschlichen zur göt-
tlichen Sphäre ist überhaupt nur in analoger Weise zu erfassen, wobei der Unterschied von geis-
tiger und materieller Herkunft keinen Unterschied im Gebrauch der Wörter macht: „Because the
human soul is, for Aquinas, an immaterial substance, terms that signify perfections of the human
soul, such as „good“ or „wise“ or „living“, can „be applied to God properly (S.. 1, 13, 3ad1)
and thus are analogical rather than metaphorical names.” In diesem Sinne kann auch die ‚dignity‘
als aus Analogschluss gewonnen gedacht werden. Vgl. Gamwell, ‚Speaking of God after Aquinas‘,
S. 189f.
624
Wald, ‚Natur und Naturrecht‘, S. 123.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 259

Determination durch seine Natur als Mensch, die ihn zielorientiert auf das Gute
lenkt. Der Mensch kann dementsprechend nicht schlechthin alles wollen können,
sondern er wird durch den inneren Zwang – eben die inclinatio naturalis – seiner
Vernunft im Wollen beschränkt, wie omas in Bezug auf die aristotelische Ar-
gumentation in der Physik und der Nikomachischen Ethik feststellt. 625 omas will
aber die Stellung des Menschen in der Schöpfung nicht allein in der Vernunftfä-
higkeit des Menschen zum ethischen Handeln entlang der Vorgaben seiner Natur
verstanden wissen, sondern vielmehr auch und prononciert in seinem Status als
Person, wodurch der Mensch in der direkten Relation zum Person-sein Gottes
seine eigentliche Würde erhält.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

C.2.c.3 Die Erlangung von Dignitas als moralische Aufgabe des Menschen
Mit der Bestimmung des Menschen als das Geschöpf Gottes, das zu freier Hand-
lung innerhalb der durch das summum bonum determinierten Schöpfung fähig
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ist, nimmt omas die Attribuierung des Menschen mit einer besonderen Würde
über eine In-Verhältnis-Setzung seiner Wesensnatur mit derjenigen Gottes vor.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Wie sich aber im Folgenden zeigen wird, wird diese personale Würde bei omas
nicht allein mit der Stellung des Menschen ontologisch begründet, sondern sie
wird auch in quantitativ-materieller Hinsicht abgesichert und dadurch an die
Ethik zurückgebunden.
Der Mensch ist für omas durch seine Wesensnatur Gottes Ebenbild,
„[q]uia, sicut Damascenus dicit, homo factus ad imaginem Dei dicitur, secundum
quod per imaginem significatur intellectuale et arbitrio liberum et per se potestati-
vum“ 626. Durch seine natürliche Anlage zur Vernunft und durch seine Fähigkeit
zur freien Entscheidung ist der Mensch gottebenbildlich, woraus wiederum
menschliche Autonomie als ‚Herrschaft über sich selbst‘ erwächst. Jene Eigen-
schaften hat der Mensch aber natürlich nicht sozusagen autopoietisch durch sich
selbst, sondern durch seinen ihm in seiner Geschöpflichkeit erwachsenden Anteil
an der Natur Gottes, der als Ausgangs- und Endpunkt allen geschaffenen Seins
der Träger der höchsten Würde ist. Sowohl Gott als auch dem Menschen eignet
von dieser ontologischen Überlegung zur Gottebenbildlichkeit ausgehend die Be-
zeichnung Person, womit omas an Boethius‘ Satz der ‚Persona est naturae rati-
onabilis individua substantia‘ anknüpft. Damit ist also auch für omas die Ver-
nunftfähigkeit als moralische und kognitive Anlage im Menschen der archimedi-
sche Punkt der menschlichen Würde:

625
Vgl. ebd., S. 122. Dort besonders auch die Fußnote 5.
626
omas von Aquin, S.., I.II., Proœmium. „Weil, wie Damascenus sagte, der Mensch nach
dem Bild Gottes gemacht worden ist, insofern als mit Bild die Vernunft, der freie Wille und die
Herrschaft über sich selbst bezeichnet wird“ [Übersetzung M. H.].
260 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

„Et quia magnae dignitatis est in rationali natura subsistere, ideo omne individuum
rationalis naturae dicitur persona, ut dictum est. Sed dignitas divinae naturae exced-
it omnem dignitatem, et secundum hoc maxime competit Deo nomen personae.“ 627
Da Gott als Schöpfer des Universums die absolute Freiheit als Wesensmerkmal
attribuiert ist, ist die menschliche Freiheit als Bestandteil des Person-Seins konsti-
tutiv für seine Würde, und sie zeigt sich gerade darin, dass der Mensch von seiner
Natur her frei ist und nicht um anderer, sondern als unverfügbares Wesen um
seiner selbst willen geschöpft ist. 628 Prominent entfaltet omas außerdem in die-
sem Kontext des personalen Status des Menschen „das dominium sui actus (S.. I
29,1), die Herrschaft über und die Verantwortlichkeit für das eigene Handeln,
das die zur Würde notwendige Freiheit in der moralischen Dimension der Hand-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

lungsziele anschaulich werden lässt. Denn das Hauptmerkmal der substantiae ra-
tionales ist die Selbsttätigkeit“ 629, wie sie der Mensch in seinem willentlich-
verantwortlichen Handeln erweisen kann. Der Mensch lebt damit fortwährend in
einem Spannungsfeld aus dem autonom konstituierten Herr-über-sich-sein und
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

der natürlichen Verwiesenheit auf Gott. Seine Würde ist damit allerdings auch zu
jeder Zeit als derivativ ausgezeichnet: ihre inhaltliche Qualität bezieht sie von
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Gott – weshalb sie allerdings auch nicht verletzt werden kann, denn seinen Status
als Geschöpf kann der Mensch nicht verlieren.
Verwoben ist diese Bestimmung der menschlichen Würde bei omas mit den
traditionellen Begriffsbestimmungen, die in seiner Naturrechtslehre wieder auf-
genommen werden; wie bereits Cicero, setzt auch er die dignitas als ontologisches
Prädikat mit den stoischen axia gleich:
„Et inde est quod, sicut dicit Boetius, in libro de Hebdomad., quaedam sunt digni-
tates vel propositiones per se notae communiter omnibus, et huiusmodi sunt illae
propositiones quarum termini sunt omnibus noti, ut, omne totum est maius sua
parte, et, quae uni et eidem sunt aequalia, sibi invicem sunt aequalia.“ 630
Die dignitas ist somit ontologische Wertaussagen von einem existierenden Ding,
die völlig unanzweifelbar von jedem Menschen als wahr angenommen werden
muss, um überhaupt eine feste Grundlage für die Vernunfttätigkeit und daraus
entspringende ethische Überlegungen bilden zu können. Die dignitas stellt für
omas damit gleichsam einen unverrückbaren Baustein des logischen Funda-
ments des personalen Denkens über Gott, als auch den Menschen dar. In dieser
Funktion ist es letztlich nicht möglich, die dignitas in ihrer Bedeutung als axia

627
omas von Aquin, S.., I., q.29 a.3 ad2. “Deshalb, weil es eine große Würde ist, als vernünfti-
ges Wesen zu existieren, wird jedes Individuum mit vernünftiger Natur Person genannt. Die
Würde der göttlichen Natur geht über jede Würde hinaus, und demgemäß gehört der Name Per-
son im Besonderen zu Gott.“ [Übersetzung M. H.].
628
Vgl. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, S. 130.
629
Wildfeuer, ‚Menschenwürde – Leerformel oder unverzichtbarer Gedanke?‘, S. 42.
630
„Wie Boethius sagt, ist es daher so, dass bestimmte Axiome oder Behauptungen allgemein evi-
dent sind; diese Behauptungen sind solcherart, dass ihr Aussagegehalt allen bekannt ist, wie etwa:
„Jedes Ganze ist größer als seine Teile“, und, „Dinge, die ein und demselben Ding gleich sind,
sind sich untereinander gleich.“ [Übersetzung M. H.] omas von Aquin, S.. I. II. q94 2c.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 261

anders als unveränderlich und ewig – gleichsam als vorrangiges Attribut der gött-
lichen Person – zu denken, und damit als Axiom von Ontologie und Epistemolo-
gie. Darin wird wiederum die abgestufte Qualität deutlich, mit der die Würde
des Menschen durch omas an Gott gemessen wird: weil dieser imago dei als
Person ist, kommt ihm dignitas in gestufter Weise zu, die Höchstform derselben
findet sich jedoch allein in Gott.
Durch die damit angezeigte qualitative Stufung der Würde kann omas auch
die soziale und heilsgeschichtliche Verortung des Menschen in der Schöpfungs-
ordnung abhängig von dessen Stellung zu Gott rekonstruieren; während durch
das Heilsgeschehen die Christen in der göttlichen Gnade stehen und auf die Er-
langung des summum bonum hoffen dürfen, sind es unter jenen doch vor allem
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

die kirchlichen Würdenträger, die durch ihre Berufung über ein noch einmal
herausgehobenes Würdeniveau in der Schöpfung verfügen. Dementsprechend
stellt omas die Würdigkeit der kirchlichen Ämter und insbesondere des Papst-
amts heraus: „dignitas pontificalis excedit omnes alias dignitates“ 631. Der kirchli-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

che Stand erhält dadurch auch in seiner sozialen Relevanz eine exklusive Stellung.
omas spiegelt mit dieser Darstellung den allgemeinen gesellschaftliche Ord-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

nungsaufbau und das Selbstverständnis des geistlichen Standes wieder, das im


Hochmittelalter – weit vor der Trennung von Staat und Kirche – die europäische
Ständegesellschaft durchdringt. Die Bezeichnung des Papstes als Träger der
höchsten Würde kann in diesem Sinne durchaus als politische Aussage verstan-
den werden, welche die gesellschaftliche Position der Kirche auch für die weitere
Zukunft sichern will.
Die Würde als ontologische Qualität wird von omas allerdings nicht – und
das ist nun das entscheidende – nur unter dem Gesichtspunkt des Personenstatus
bestimmt, sondern er leitet aus ihr auch quantitative Forderungen ab, die er in
den natürlichen Gerechtigkeitsansprüchen der Christen untereinander begründet
sieht. In den inclinationes naturales des Menschen vermeint omas ja, so wurde
gezeigt, die grundlegenden Verwirklichungsbedingungen eines gelingenden, gu-
ten menschlichen Lebens durch die lex natura der menschlichen Vernunft ge-
offenbart zu sehen. Damit jene Neigungen aber überhaupt den Menschen frucht-
bringend auf das Gute hin orientieren können, bedarf es jedoch ihrer Unterstüt-
zung auch mit materiellen Gütern, damit die Verwirklichung seiner Ziele „jedem
Menschen mit unbedingter Notwendigkeit zugestanden werden“ kann. Die na-
türlichen Neigungen sind von omas deshalb auch als „konstitutiv für eine na-
türliche Gerechtigkeitspflicht“ 632 ausweisbar, und sie fordern dadurch in der
christlichen Gesellschaft für den Einzelnen soziale Bedingungen ein, die es ihm
erlauben, überhaupt seinen wesensnatürlichen Neigungen entsprechend handeln
zu können. Ohne jene Unterstützung innerhalb der sozialen Bande der christli-
chen Gemeinschaft ist die Fähigkeit zur Orientierung des eigenen Verhaltens am

631
omas von Aquin, Super Epistolam ad Hebraeos, cap. 5 I. 1.: „Die Würde des Papstamts über-
steigt alle anderen Würden“ [Übersetzung M. H.].
632
Beide Zitate: Wald, ‚Natur und Naturrecht‘, S. 124.
262 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

summum bonum grundsätzlich bedroht, wird letztendlich sogar die Vorbedingung


zur Gestaltung eines gelingenden menschlichen Lebens in der Anzielung des Gu-
ten nicht gewährleistbar. Materielle Armut wird vor diesem schöpfungstheologi-
schen Horizont also dann zum Problem, wenn sie den Einzelnen daran hindert,
seine personale Identität zu entfalten und sich als Geschöpf am Guten orientieren
zu können. Materieller Mangel und Bedürftigkeit strahlen negativ auf die Fähig-
keit des Erhalts der menschlichen Würde aus, weil der Menschen nicht mehr sei-
nen Aufgaben in der göttlichen Weltordnung gerecht werden kann. Zwar wird
seine personale Würde, die in seiner Gottesebenbildlichkeit begründet ist, nicht
verlorengehen, aber die Qualität seiner Würde wird dadurch eingeschränkt, dass
sich der Mensch nicht mehr entsprechend seiner in seiner Natur sich befinden-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

den Ziele auf das Gute orientieren kann.


Insgesamt besehen steht die Würdekonzeption von omas aber in einer un-
auflösbaren Spannung von Autonomie und Heteronomie: als geschöpfte Kreatur ist
der Mensch in einem von der lex natura durchzogenen Weltenlauf nicht dazu be-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

fähigt, sich in absoluter Freiheit stehend zu erfahren, weil er durch den zwar akti-
ven und freien Gebrauch der Vernunft seine natürliche Einbettung in die Ge-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

samtschöpfung als grundsätzlich heteronome Orientierung seines eigenen Han-


delns am Guten erkennen muss. Der Mensch wird, wenn er nach der Maßgabe
seiner Vernunft handelt, letztlich willentlich gar nicht anders handeln wollen, als
es ihm das göttliche Gesetz eingibt.
Mit dieser Auseinandersetzung zwischen Autonomie und Heteronomie zeigt
sich der weite Graben, der sich durch omas‘ Kosmologie zieht. Auf der einen
Seite steht der Mensch, der in seinem Person-sein und in seiner Individualität als
Gottes Ebenbild eine herausragende Würde erlangt, die der Gottes in gestufter
Weise analog ist, auf der anderen Seite steht aber eine Schöpfungsordnung, die
ihren Eigenwert nicht durch das Dasein an sich, sondern nur durch hierarchische
Rückbezüge der Schöpfung auf Gott als höchsten Wertträger gewinnen kann. 633
Jener Graben hat dementsprechend auch eine bedeutende Auswirkung auf die
thomistische Würdeprädikation des Menschen, weil sie dem Menschen auch
wiederum nur in Abhängigkeit von seiner besonderen Stellung zu Gotte attribu-
iert werden kann. Wenn die Genesis davon schreibt, dass Gott seine Schöpfung
‚gut‘ fand, resultiert dies nach omas also „aus der besonderen gottesebenbildli-
chen Würde des einzig vernünftigen und damit glückseligkeitsfähigen Geschöpfs
Mensch, d. h. omas lässt nach dem Modell der Teilhabe die Bonitas der gesam-
ten Schöpfung aus der dignitas des Menschen fließen, der seine Dignitas als
Ebenbild Gottes von Gott her bezieht.“ 634 Die Gutheit der Schöpfung ist also
primär in der Würde des Menschen vermittelt, der das Ebenbild Gottes ist.
In dieser Bestimmung des Verhältnisses von Gott, Mensch und Schöpfung
kommt die Scholastik in ihren anthropologischen und anthropozentrischen Mög-
lichkeiten gleichsam an ihr Ende. omas erörtert das christliche Menschenbild

633
Vgl. zu diesem Punkt Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 117.
634
Baranzke, Würde der Kreatur, S. 87.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 263

systematisch innerhalb einer ausformulierten Schöpfungstheologie, die alle Seins-


stufen umfasst und die er ontogenetisch und ontologisch mit dem Schöpfer des
Universums, Gott, in eine umfassende Beziehung setzt. Der Mensch ist in diesem
Weltbild nicht einfach nur ein existierendes Geschöpf, sondern er ist aktiv von
Gott gewollt. Er trägt den ethischen Sinn seiner Existenz in seinen innersten na-
türlichen Neigungen gleichsam in sich, denen er sich dann in seinem konkreten
Leben würdig erweisen muss, und die Orientierung seiner moralischen Handlun-
gen sein müssen. Ausschließlich in diesem Verhältnis zu sich selbst und in seiner
Relation zu Gott findet der Mensch seine Freiheit und schließlich auch seine
Würde, die ihm Abbild der Würde Gottes ist und die ihm dann gerechtfertigter
Weise eignet, wenn er sich ihr durch sein Handeln würdig erweist. Umgekehrt ist
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

der ethische Erweis der Gutheit der göttlichen Schöpfungsordnung im menschli-


chen Handeln der vorrangige Aspekt in der eologie des Aquinaten; diesen Er-
weis auch den Armen und Benachteiligten durch ihre eigene Lebensführung zu ermög-
lichen, muss das primäre Ziel der christlichen Gemeinschaft des Mittelalters sein.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

C.2.c.4 Armut und Würde im christlichen Mittelalter – ein kurzes Fazit mit
omas von Aquin
Für den sozialen Umgang mit den Benachteiligten und den Armen hat die christ-
liche Weiterentwicklung der Personenkonzeption von einem Begriff zur Kenn-
zeichnung sozialer Rollen hin zur Kennzeichnung des Menschen als ein dem So-
zialverband letztlich unverfügbares Individuum weitreichende Folgen, die bereits
im zweiten Kapitel über die Geschichte der Armut angeklungen sind. Denn wenn
nun Arme in ihrer personalen Individualität als rechtmäßige und von ihrem onto-
logischen Status her als gleichrangige Mitglieder der christlichen Gemeinschaft zu
gelten haben, dann ist auch ihr Schicksal in der Welt ein wichtiger Teil des bo-
num commune, dann entstehen aus ihrer materiellen Mangelsituation moralische
Aufgaben und Verantwortungen für die im Vergleich Bessergestellten und Wohl-
habenden.
Eingebettet ist dieses Verständnis, wie im vergangenen Abschnitt entfaltet
wurde, in eine von Gott geschöpfte und zu ihm in unverbrüchlicher Verbindung
stehende Weltordnung, in der jede Kreatur den ihr zugewiesenen Platz ein-
nimmt. Dadurch ist, im Gegensatz zu den antiken Gesellschaften, eine vertikale
Trennung zwischen den vermögenden Klassen und dem einfachen Volk nicht
mehr existent, sondern sie ist auf der Grundlage der Geschöpftheit aller Dinge,
und auf der Grundlage des personalen Status jedes Einzelnen, durchlässig – alles
ist mit allem verbunden. Die in der Antike völlig normale Ausbeutung der niede-
ren Stände und der Armen muss deshalb – zumindest der eorie nach – der
Verantwortung für das bonum commune weichen, das durch den am spirituellen –
und nicht am Machterhalt orientierten – Imperativ christlicher Nächstenliebe be-
stimmten Umgang mit den Armen gekennzeichnet wird. Als Verpflichtung zu
verstehende Almosengaben, die Gründung von Spitälern, der Bau klösterlicher
264 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Einrichtungen zur Armenfürsorge usw. sind dann prudentielle Möglichkeiten,


durch das eigene Handeln der personalen Geschöpflichkeit des bedürftigen Ande-
ren vor dem Horizont des Überbaus der göttlichen Weltordnung und vor allem
auch des eigenen Heils gerecht zu werden. 635
Diese theologische Argumentation lässt sich aber auch mit der konkreten so-
zialen Realität der mittelalterlichen Gesellschaft verknüpfen; denn durch die
Gleichzeitigkeit von geltendem spirituellem Armutsideal und dem Faktum mate-
rieller Armut der großen gesellschaftlichen Mehrheit war schließlich die Mög-
lichkeit gar nicht gegeben, die Armen aus ihrer Verantwortung für gemeinschaft-
liche Aufgaben auszublenden oder sie gar aus den sozialen Lebenswelten der
christlichen Gemeinschaft zu segregieren; im Gegenteil wurde eben auch deshalb
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

angenommen, dass jedem – auch dem Armen – ein individueller Platz als Ge-
schöpf in der von Gott bestimmten Weltordnung eignet. Dadurch nimmt eben
jeder Mensch eine Position im ordo ein, die aber zugleich bestimmte und seiner
Position angemessene Verhaltensimperative mit sich bringt. Das Verhältnis von
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Reichen und Armen nimmt mit den unterschiedlichen Aufgaben und Verhal-
tensweisen, die jene für das bonum commune zu erfüllen bzw. zu zeigen haben,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

„den Charakter einer Gegenseitigkeit, geradezu einer Symbiose. Die Reichen un-
terstützen die Armen, denn die Armen waren wichtig für das Seelenheil der Rei-
chen.“ 636
Weil die christliche Weltordnung der Scholastik sich in ihrem Aufbau aber vor
allem als statisch versteht und allein in ihrer spirituellen Orientierung am Escha-
ton ein letztes Entwicklungsziel aufweist, wird die Armut trotz der Gotteseben-
bildlichkeit des personalen Menschen und seiner damit einhergehenden Würde
nicht von ihrer Wurzel her als soziales Übel problematisiert. Armut existiert für
den Menschen des christlichen Mittelalters sozusagen nicht als eigenständiges so-
ziales Problem an sich, sondern sie ist eingepasst in einen Weltenlauf, der zwar
Handlungen aus Nächstenliebe einfordert, trotzdem aber zum göttlich gewollten
Grundnarrativ menschlicher Existenz gehört. 637 Armut fordert dem Liebesgebot
entsprechend moralisch zur Hilfe auf, aber nicht, um dann im Prozess der Hilfe
endgültig ausgelöscht zu werden, sondern um ein heils- und gnadentheologisch
orientiertes Band von Hilfsnehmern und Hilfsgebern im ordo der Welt zu knüp-
fen. 638 Seine Würde besitzt der Arme als Geschöpf Gottes – weshalb sie auch
durch Armut nicht verletzt werden kann.

635
Kramer, Umgang mit der Armut, S. 21-25.
636
Mikl-Horke, Sozialwissenschaftliche Perspektiven der Wirtschaft, S. 12.
637
Kramer, Umgang mit der Armut, S. 25.
638
Burghardt, Kompendium der Sozialpolitik, S. 19f.
IV.C DIE VERSCHRÄNKUNG DER ANTIKEN WÜRDESEMANTIK IM CHRISTENTUM 265

C.2.d Zusammenfassung des Verhältnisses von dignitas und Armut in der


Scholastik

Für die alte Kirche bis zum Ende der Scholastik lässt sich damit folgendes Fazit
hinsichtlich des Verhältnisses der dignitas und Armut ziehen: (1) die Würde des
Menschen ergibt sich aus seiner Schöpfung durch Gott, als dessen imago sich der
Mensch sieht. Durch Gott ist der Mensch Person, durch ihn verfügt er innerhalb
der Schöpfung über Freiheit und Vernunft – Begriffe, die dem Menschen im Ge-
gensatz zur griechisch-römischen Antike nicht mehr als Ergebnis einer sozialer
Stellung zugeschrieben werden, sondern die ihm wesenhaft aufgrund seines ge-
schöpften Menschseins und als unverfügbare Person zugeeignet werden. Die in
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

diesem Verhältnis sich zeigende gnadenhafte Beziehung des Menschen zu Gott,


seinem Schöpfer, ist damit der eigentliche Ankerpunkt der menschlichen Würde
in der Scholastik, denn sie beruht weder auf eigener Leistung, noch kann sie un-
abhängig von Gott als ihrem höchsten Träger gedacht werden. Aber besonders
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

omas bezieht in seine Überlegungen auch die Tatsache, dass jene menschliche
Würde von den gegebenen äußeren Umständen – konkrete Gesellschaftsform,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Art und Form der soziale Beziehungen, sogar der möglichen Zuteilung materiel-
ler Unterstützung bei Bedürftigkeit und Armut – abhängt, mit ein. Die äußeren,
gesellschaftlichen Umstände müssen, modern gesprochen, so durch den Einzel-
nen gestaltet werden, dass eine Orientierung des Menschen auf das höchste Ziel,
auf Gott hin, zu gewährleisten ist. Aus dem Geschöpftsein des Menschen er-
wächst ihm Verantwortung für seine Würde und die Würde anderer. (2) In die-
ser ontologisch starken Verbindung von Schöpferperson und Geschöpfperson im
Begriff der dignitas besteht im christlichen Weltbild der Scholastik also eine um-
fassende Verantwortung für Nächstenliebe und Solidarität, die als christliche
Fundamentalnormen damit äußeres Zeichen der menschlichen Würde im ver-
nünftigen Handeln werden. (3) die Würde wird auch zur Bezeichnung von sozia-
lem Status verwendet, nun allerdings vor dezidiert christlichem Horizont, und
dort bezogen eher auf die Schöpfungsordnung als den Aufbau der Gesellschaft:
hohe kirchliche Würdenträger besitzen eine besondere soziale Würde durch ihren
geistlichen Stand, während die in der griechisch-römischen Antike üblichen so-
zialen Würdeauszeichnungen von Machthabern mit dem christlichen Demutsge-
bot kollidieren. ‚Wahre‘ menschliche Würde fordert im Gegensatz zur antiken
Vorstellung nämlich geistige Armut ein.
Generell aber erstreckt sich, so zumindest Kendall Soulen und Linda Wood-
head, die Bestimmung der menschlichen Würde mit ihrer inneren Relation auf
Gott exklusiv auf die Christgläubigen; die menschliche Würde konkretisiert sich
in der Vorstellung der scholastischen Weltordnung nicht an der je individuellen
Würde der einzelnen Person und sie hilft auch nicht, daraus mögliche Anrechte
der einzelnen Person zu formulieren, sondern sie konkretisiert sich eher noch in
der Würde des ‚Menschen‘ - im abstrakten, allgemeinen Sinne der Bezeichnung
des Geschöpfs, bzw. der Würde der Menschheit oder letztendlich der Gesamtheit
266 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

der Christen. 639 Dass die Würde in der konkreten mittelalterlichen Gesellschaft
noch nicht als unbedingt zu schützende Eigenschaft jeder einzelnen Person, jedes
Individuums verstanden werden konnte, erklärt sich neben ihrer vorrangigen Zu-
schreibung an Christen durch zwei weitere Faktoren: (1) die Sündhaftigkeit des
Menschen stand bis in die Neuzeit einer eigenständigen christlichen Lehre von
der Würde des Menschen und grundlegender damit korrespondierender Rechte
entgegen. Die Erbsündenlehre legt nämlich grundsätzlich die Auffassung nahe,
dass der Mensch durch seine Sündhaftigkeit seine Rechte vor Gott verwirkt hat
und daraus folgend auch keine unbedingte Würde haben kann, die aller kirchli-
chen und weltlichen Gewalt entzogen ist. Armut wird zwar in der mittelalterli-
chen Gesellschaft nicht als göttliche Strafe für frühere Sünden verstanden, daraus
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

folgt jedoch noch nicht positiv, dass die Würde des Armen einen systematischen
Kampf der christlichen Gesellschaft gegen die Wurzeln seiner Armut hervorrufen
muss, denn (2) schließlich bleibt die christliche Anthropologie der Scholastik
immer noch stark auf ein System hierarchisch gegliederter Stände bezogen,
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

wodurch der Begriff der Würde in der konkreten Gesellschaft nach wie vor eher
seinem sozial differenzierenden Aspekt nach verwendet wurde, als dass sein ei-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gentlich egalitärer Charakter gesellschaftlich wirksam und für ihren Aufbau und
die Rechtssysteme funktionalisiert worden wäre. Als dezidiertes Instrument der
Begründung der Stellung des Menschen im Recht und als Maßstab sozialer Kritik
gegen Armut und materiellen Mangel konnte die scholastische Begriffsbestim-
mung der Würde dementsprechend weder eingesetzt werden, noch konnten die
Scholastiker jene Verwendung innerhalb ihrer fest gefügten Kosmologien über-
haupt erahnen; weil die Würde des Menschen in den konkreten Lebenswelten
der mittelalterlichen Gesellschaften nicht egalitär verstanden wird, bleibt aber
auch ihre potenzielle soziale Sprengkraft während der Scholastik folgenlos. Ihre
bedeutsame philosophische Geltung für das christliche Weltbild erlangt die Wür-
de dadurch vor allem im gedanklichen Zusammenhang mit den anderen für die
christliche Anthropologie relevanten Begriffen wie dem der Person und der Frei-
heit. Als wechselseitig aufeinander verweisende Grundbestimmungen des Men-
schen sind vor allem sie es, welche die Würde des Menschen in der sich von Gott
her bestimmenden christlichen Weltanschauung konkretisierbar machen.

639
Zur weiteren Vertiefung der drei emenfelder: Soulen; Woodhead, ‚Contextualizing Human
Dignity’, S. 6-8.
D. Die Wende zum Individuum und seinem Wohl in der
Neuzeit

„Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein den-
kendes Schilfrohr. […] Unsere ganze Würde besteht also im Denken.“ 640
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Im in der Spätscholastik beginnenden, sich über Jahrhunderte erstreckenden


Übergang zur Neuzeit orientieren sich das Selbstverständnis und die Selbstveror-
tung des Menschen in der Welt auf fundamentale Weise neu, womit ebenso
deutliche Umwälzungen im Menschenbild einhergehen. 641 Durch die beginnende
Erforschung der physischen Welt mit naturwissenschaftlich-empirischer Metho-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

de, durch breiten ökonomischen Aufschwung und auch durch weitreichende ge-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

sellschaftliche und politische Umwälzungen löst sich die starre Struktur der mit-
telalterlichen Gesellschaftsordnung zunehmend auf und schafft Raum für eine
Dynamisierung der sozialen Welt. War es seit der Antike das (später christiani-
sierte) gemeinwohlorientierte Staatswesen in seiner aristotelisch-autoritativen und
heteronomistisch bestimmten Form, von der aus die Stellung der Bürger mit ih-
ren Rechten und Pflichten in der Welt rekursiv bestimmt wurde, ist es nun der
einzelne, individuelle Mensch, der sich bewusst wird, dass er im Mittelpunkt der
von ihm gestalteten Welt steht. Das scholastische Weltbild des alles verbindenden
ordo, das die Schöpfungsordnung als durch ein starkes kreatürliches Band ver-
bunden und durch ein inneres Gut auf Gott hingeordnet imaginierte, verliert
damit einhergehend seine uniformierende Deutungsmacht und lässt Philosophen
Raum für die Suche nach einem Menschenbild, das der neuen Selbstverortung
des Menschen in einem aufstrebenden Europa Geltung zu verschaffen vermag.
Im Verlauf dieses Prozesses kommt alles mit dem Menschen im physischen wie
im metaphysischen Raum verbundene und bislang als sicher feststehend und
wahr Geglaubte auf den Prüfstand – sein Wesen ebenso wie seine Stellung in der
Gesellschaft wird hinterfragbar und schließlich auch in umfassendem Maße Ziel
von Kritik.
Wie sich bereits im zweiten Kapitel ankündigte, ist vor allem das neue Men-
schenbild der Neuzeit dafür verantwortlich zu machen, dass der ‚Mensch als Ar-
mer‘ als ‚Problemfall‘ in den Blick politischer Reformer kommen kann, dass Ar-
mut aber nun auch als abänderbarer Umstand begriffen wird, der nicht auf gött-
lich gewolltem Schicksal, sondern dem unglücklichen Zusammentreffen unter-
schiedlicher Ursachen und Faktoren – nämlich sowohl externer wie auch interner
640
Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere emen, S. 140.
641
Vgl. Flasch, Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung . Renaissance und frühe Neuzeit, S.
337f.
268 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

– beruht. Die Ergebnisse dieser Suche nach einem neuen Selbstbild des Men-
schen sind aber zunächst, nachdem der uniformierende ordo des Mittelalters seine
sozialbindende Macht verloren hat, vieldeutig und betreten „zerklüftetes Terrain;
nichts fügt sich zu einer Einheit. […] [A]uf die Frage nach dem Menschen im
Konfinium von Gesellschaft und Staat und auf die Frage nach dem Menschen als
sittlich handelndem Subjekt gibt sie keine eindeutige Antwort.“ 642 Wie August
Buck festhält, ist es jedoch genau diese vieldeutige Umbruchsphase mit ihren
zahlreichen offenen Entwicklungsrichtungen, in der die Konzeption der Wesens-
würde des Menschen ihre moderne Gestalt erhalten wird, weil der Mensch sich
nun selbst als „geistig-sittliches Wesen [erschließt, M. H.], das in Freiheit sich
selbst verwirklicht, ohne dabei seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu ver-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

nachlässigen“ 643. Wichtigster Anker dieses neuen Selbstverständnisses ist damit


die ‚Wende zum Subjekt’, während der sich der Mensch als geistiges und schöpfe-
risches Individuum entdeckt, sich auf sich selbst reflektierend als einzigartiges
Subjekt erfährt, und damit beginnt, seine eigentümliche Stellung in der Welt un-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

abhängig von allen metaphysischen Bezügen zu bestimmen. 644


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

D.1 Jeder Mensch ist selbst für sein gesellschaftliches Schicksal


verantwortlich

Dieses neue Selbstgefühl des Epochenübergangs wird treffend in Petrarcas Aus-


spruch „Ego sum unus utinamque integer“ – „Ich bin einer und möchte auch ei-
ner bleiben“ 645 auf den Punkt gebracht. Nimmt man Petrarcas Ausspruch in die
Engführung als ‚Symbolum’ der abendländischen Neuzeit, wird allerdings die
Frage nach den gesellschaftlich-sozialen Bedingungen für das Selbstgefühl der In-
dividuen zu voreilig abgeblendet. Wenn man nämlich davon ausgeht, dass die je-
weilige soziale Hintergrundstruktur den Horizont bildet, vor dem diese Entwick-
lungen zur sozialen Individualisierung stattfinden können, dann ist zu untersu-
chen, welche Rolle die Gesellschaft für die Menschen, die sich immer stärker als
Subjekte wahrnehmen, einnimmt. Es lässt sich nämlich ebenso zeigen, dass auch
die sozialen Strukturen zu Beginn der Neuzeit, die symbiotisch mit der Entwick-
lung des neuen Menschenbildes verbunden sind, starken Veränderungsprozessen
unterworfen werden. Die gesellschaftlichen Veränderungen haben dadurch selbst
wiederum einen äußerst wirkmächtigen Einfluss auf die Selbstverortung des
Menschen in der Welt zur Folge, wie sie auch das Verständnis der menschlichen
Würde modifizieren.

642
Ebd., S. 337f.
643
Buck, ‚Einleitung . Der Begriff der Menschenwürde im Denken der Renaissance, unter besonde-
rer Berücksichtigung von Giannozzo Manetti‘, S. VII.
644
Vgl. ebd., S. VIII.
645
Semiles VX, 11; in: Petrarca, Opera, S. 1046, zitiert nach ebd.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 269

So sind bereits in der Renaissance die ersten Vorboten davon zu erkennen, was
Charles Taylor prägnant als ‚säkulares Zeitalter‘ kennzeichnet; der Mensch
nimmt sich mit dem langsamen Anbruch der Neuzeit nicht mehr als von der um-
fassenden sozialen Einheit des geschöpften ordo oder den ethischen Imperativen
des bonum commune abhängig wahr, sondern sein ‚Selbst‘ puffert sich vom
‚Draußen‘ zunehmend ab und wird als existenzieller, identitätsfundierender Kern
der Person objektiviert. Mit dieser Abpufferung des ‚Selbst‘ kennzeichnet Taylor
einen Vorgang der zunehmenden Distanzierung des Individuums von seiner
Umwelt, was mit einer weitausgreifenden Erfahrung von Individualität und Ver-
antwortung für das Subjekt einhergeht. 646 Der Mensch versteht sich in schnell an-
steigendem Maße als der eigentliche Herr seines Geschicks; er erfährt sein Leben
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

als immer weniger dem Schicksal und dem Willen fremder Mächte unterworfen,
er will nun selbst über es und seine Pläne entscheiden: ‚zur Wohltat und zum
Nutzen des Lebens’, wie Francis Bacon in der Vorrede seines ‚Neuen Organon
schreibt‘. 647 In diesem Prozess – der freilich nicht so homogen abläuft, wie es hier
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

geschildert wird – wird der Mensch im zeitgenössischen Idealbild zum selbstver-


antwortlichen homo faber oder zum faber mundi, der sein dominium terrae nach
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

eigenem Ermessen ausgestaltet. 648


Gleichzeitig aber werden durch die ebenfalls ablaufenden allgemeinen Prozesse
sozialer Reformen, die diesen Veränderungen korrespondieren, die Menschen
schließlich in einem weit umfassenderen Sinn aus der Perspektive der gesellschaft-
lichen Erwartungen her für ihr Verhalten und ihre Handlungen verantwortlich
gemacht, als dies vorher der Fall gewesen ist. Es ist das Individuum selbst, das nun
für sein Wohlergehen verantwortlich zeichnen muss. 649 Durch die Übernahme von
Verantwortung für die eigene Lebensführung als Zeichen der eigenen selbstbe-
wussten Identität, so könnte man sagen, entsteht umgekehrt auch eine externe
Erwartungshaltung, sich dieser Verantwortung bewusst zu werden und sich ihr
gemäß zu verhalten. Die Selbstindividuation des Menschen erfolgt damit nicht
auf eigene Rechnung und nur zum eigenen Vorteil, sondern sie ist im Gegenzug
an beträchtliche gesamtgesellschaftliche Veränderungen geknüpft, die jene Selbst-
individuation unter neuen Vorzeichen – nämlich Gesellschaftsformen, die jener
Selbstindividuation entsprechen und auf diese antworten, auffangen und neu
konfigurieren.

646
Vgl. Taylor, Ein säkulares Zeitalter.
647
Zitiert nach Anzenbacher, Christliche Sozialethik, S. 51.
648
Arno Baruzzi drückt diesen Sachverhalt äußerst treffend wie folgt aus: „Seit den neuzeitlichen
Anfängen wissen wir, daß wir etwas machen, um zu verstehen, daß wir machen müssen, um ver-
stehen zu können. Ja, wir können weitergehen und sagen, daß wir etwas machen, damit über-
haupt etwas ist. So können wir die ganze neuzeitliche Lebenseinstellung sehen. Das menschliche
Leben hängt dabei überhaupt davon ab, daß etwas gemacht wird. Es scheint so, daß, wenn wir
nichts machen, unser Leben überhaupt unmöglich ist. […] [U]m den Kern zu treffen, kann man
sagen, daß alles, was das Leben erhält und steigert, erst hergestellt werden muß.“ Vgl. Baruzzi,
Freiheit, Recht und Gemeinwohl, S. 96f.
649
Vergleiche dazu auch die Veränderung im Umgang mit den Armen in jener Zeit, die im zweiten
Kapitel entfaltet wurde.
270 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

So fördert die durch den Prozess der personalen Individuation und der damit
verkoppelten Notwendigkeit der Verfolgung eigener Lebenspläne entstehende
Erkenntnis, dass Menschen ihr persönliches Leben tatsächlich zum Besseren hin
entwickeln können, wenn sie – nach Maßgabe ihr Vernunft – nur wollen, nach
Taylor mithin auch die Überzeugung, dass jeder Einzelne in seinen „menschli-
chen Ressourcen“ Fähigkeiten vorfinden kann, „die [ihn, M. H.] zu allgemeiner
Wohltätigkeit und Gerechtigkeit“ 650 veranlassen können. Umgekehrt sedimentie-
ren sich, so hält Karl Polanyi fest, besonders „[i]n den Ansichten über die Armen
[…] in zunehmendem Maße Ansichten über das Sein schlechthin“ 651, das durch
seine Unwägbarkeit nun zunehmend als potenziell jedem Menschen wiederfah-
rende Negativschablone des vom Menschen aus eigener Kraft erreichbaren Wohl-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ergehens gilt.
Konkretes Arm-sein und objektive Armut stellen in dieser Perspektive zwei eng
miteinander verbundene Problemfelder am Übergang zur Neuzeit dar: Armut
und Bettelei ist Fanal für eine technisch nicht im besten Sinne funktionierende
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Gesellschaft; auch das ein Grund, weshalb politisch einflussreiche Philosophen


versuchen, Gesellschaften und deren Steuerungssysteme in der eorie so (idealis-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tisch-utopisch) zu konstruieren, dass Armut durch den richtigen Aufbau der un-
terschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen und ein in jene eingepasstes, an-
gemessenes Verhalten der Bürger nicht mehr vorkommen muss. Allerdings gilt
dann bei den Zeitgenossen auch umgekehrt: sofern unterschiedliche Einrichtun-
gen der Armenhilfe bestehen, es scheinbar auch genügend Arbeit gibt, und trotz-
dem Menschen arm geblieben sind, dann ist Armut als ein Zeichen für moralische
Verkommenheit zu verstehen, als ein Zeichen für einen Mangel an Ehrgeiz und
den ‚richtigen’ materiellen und immateriellen Zielen im Leben – Ziele, deren
ernsthafteste und eifrigste Verfolgung ja überhaupt als innerer Kern das Menschs-
eins begriffen werden. Wer dieses Ziele aber nicht verfolgen kann oder will, der
wird dann von den Zeitgenossen als bestehender Problemfall der Gesellschaft ob-
jektiviert, welcher zugleich den allgemeinen Fortschritt behindert. Im Gegensatz
zur scholastischen Auffassung ist den Mitmenschen also primär nun nicht deshalb
zu helfen, weil damit den spirituellen Armutsidealen und den Anforderungen
christlicher Nächstenliebe vor dem weiten Anforderungshorizont göttlicher
Schöpfung Genüge getan wird, sondern weil nun andere Menschen instrumentell
als Kooperationspartner in den Blick kommen, und das Eigeninteresse eben nur
dann verfolgt werden kann, wenn eine möglichst große Anzahl an Mitmenschen
diese Partnerschaft eingehen kann.
Was aber wäre überhaupt jene Ressource, die den Menschen nicht nur auf die
Verbesserung der eigenen Stellung und die Verfolgung der eigenen Ziele orien-
tiert, sondern die dazu beiträgt, dass auch die Belange und Bedürfnisse der Mit-
menschen eine immer größere Rolle in der Bewertung des eigenen Handelns und
seiner Zielsetzungen spielen? Charles Taylor geht davon aus, dass es das Gefühl

650
Beide Zitate: Taylor, Ein säkulares Zeitalter, S. 424.
651
Polanyi, e Great Transformation, S. 149.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 271

des Stolzes über den menschlichen Stand, also den eigenen Status als vernünftiger
Mensch ist, der den Ursprung der Motivation, auch für sein soziales Umfeld in
den eigenen Handlungen etwas zu leisten, bildet. Erst mit dem Gefühl des Stolzes
als Mensch also „wird man durch das Gefühl der eigenen Würde dazu bewogen,
den Anforderungen seines Standes gerecht zu werden.“ 652 Es ist damit das Wissen
um die Fähigkeiten zur eigenverantwortlich Erlangung von Wohl, das als Kern
der selbstempfundenen menschlichen Würde des neue Selbstverständnis des
Menschen prägt, und das in der Folge in einer ganzen Reihe von Traktaten über
die dignitas hominis resultiert, welche in stilbildender Weise den geistig-
moralischen Grundton der Renaissance 653 und mit ihr den (letztlich zeitlich nicht
klar bestimmbaren) Beginn der Neuzeit festlegen.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

D.2 Von der dignitas hominis in der Renaissance


Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

In der Renaissance jedenfalls, konstatiert der Schweizer Kulturhistoriker Jacob


Burckhardt in seiner klassischen Abhandlung zum ema (und getränkt mit dem
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Pathos des 19. Jahrhunderts), bestimmt sich der moderne Mensch innerhalb des
geistesgeschichtlichen Programms der „Entdeckung der Welt und des Men-
schen“ 654 neu. Eingebettet in eine paneuropäische Wiederentdeckung antiker
Kulturleistungen in Philosophie, Architektur, bildender Kunst, Geistesleben, Li-
teratur und Rhetorik werden durch die Protagonisten der Renaissance, die Hu-

652
Taylor, Ein säkulares Zeitalter, S. 424.
653
Die Bezeichnung Renaissance wurde allerdings erst im 19. Jahrhundert als Sammelbegriff für die
vielgestaltigen Entwicklungen in Wissenschaft, Gesellschaft, Kunst, Literatur und Musik der
Epoche des 15. bis zum 16. Jahrhundert terminologisch eindeutig gebraucht. Als prägend für die
Renaissance wurde von den Historikern des 19. Jahrhunderts das Bewusstsein der unterschiedli-
chen Akteure angesehen, durch ihre Bemühungen in Politik, Wissenschaft und Kunst am Beginn
eines neuen Zeitalters zu stehen, das sich in allen Belangen vom Mittelalter abhob. Damit ist je-
doch „ein qualitativer Epochenbegriff geschaffen, der wie ‚Aufklärung‘ eine Tätigkeit bezeichnet,
notwendig partiell ist und problematisch und nicht unbestritten bleibt.“ Vgl. Günther, Art. ‚Re-
naissance‘, S. 784. Weiterhin ist aber anzumerken, dass nach heutigem Forschungsstand die Re-
naissance keinen absoluten Bruch mit der vorhergehenden Epoche des Spätmittelalters darstellte,
– jedenfalls war die Trennlinie viel unschärfer, als es die zeitgenössischen Gelehrten und Künstler
selbst empfanden –, und „selbst wenn sie sich bewußt als ‚nachmittelalterlich‘ verstanden, [waren
sie, M. H.] nicht ‚modern‘ in dem Sinne, daß sie ihren Nachfahren im 19. und 20. Jahrhundert
glichen.“ Vgl. Burke, Die europäische Renaissance, S. 14f.
654
So der in der gegenwärtigen Forschung vor allem kritisch gesehene Burckhardt, Die Kultur der
Renaissance in Italien, S. 1. Die zitierte Wendung geht allerdings auf Jules Michelet zurück. Nach
Burckhardt ist für die Ausgangslage der Renaissance konstitutiv der ‚italienische Geist‘, der in je-
ner Zeit „frei von zahllosen Schranken, die anderswo den Fortschritt hemmten“, gewesen sei
(ebd., S. 3). Dieser Aussage ist jedoch nur insoweit zuzustimmen, als Italien vor allem durch seine
politische Verfasstheit, nämlich eine Vielzahl konkurrierender Stadtstaaten, den Boden für ein
freieres Entwickeln neuer Ideen in den Wissenschaften bot, als die anderen europäischen Mächte.
Siehe dazu auch: Dülmen, Die Entdeckung des Individuums, S. 9f.
272 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

manista, die Samen eines neuen Menschenbilds gesät, 655 das durch Weltoffenheit
und Subjektzentrismus zu kennzeichnen ist. Durch die vielgestaltigen Entwick-
lungen der Renaissance erfährt sich der Mensch zunehmend als Bestandteil einer
dynamischen und offenen Welt, die sich mit diesen Eigenschaften in zentralen
Punkten von der statischen Ständegesellschaft des Mittelalters unterscheidet. 656
Diese Entwicklung durchzieht alle Bereiche menschlichen Handelns und lässt
sich beispielhaft am Wandel der wissenschaftlichen Methodik zeigen, denn durch
den von Galilei ausgelösten Paradigmenwechsel in der Wissenschaft hin zur Hy-
pothesensetzung a priori, das heißt, zur induktiven Methode, wird das harmoni-
sche aristotelische Weltbild, das einen inneren Ordnungszusammenhangs des
Kosmos vertrat, als wissenschaftliches Standardmodell abgelöst und schafft Raum
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

für eine durch Experimente und nicht durch philosophische Spekulation er-
forschte Bestimmung der menschlichen Umwelt, letztlich auch der menschlichen
Natur. Mit dieser und ähnlichen Entwicklungen, sowie einer zunehmenden
Ökonomisierung der europäischen Lebenswelt – Handel, Kaufmannstum und
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

die Stadt als Ort der neuen Entwicklungen blühen paneuropäisch auf – entstehen
die ersten Grundzüge eines mechanistisch-naturalistischen Weltbilds, das sich der
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

menschlichen Perspektive auf die Welt und den Ansichten über die Gestaltungs-
möglichkeiten der gesellschaftlichen Strukturen in Ökonomie und Politik tief
einprägt. 657
Zu bedenken bleibt allerdings ebenso, dass dieser Übergang nicht plötzlich
eintritt und von allen Zeitgenossen als gleichermaßen radikal empfunden wird;
wenn in der Forschung weit auseinanderliegende Daten für Beginn und Ende je-
ner Epoche des Übergangs zur Neuzeit angegeben werden, spricht das in der
Rückschau für eine lange Gleichzeitigkeit ‚alten’ und ‚neuen’ Gedankenguts und
dementsprechend langer Transformationsphasen in Menschenbild und Weltan-
schauung. Dementsprechend führt das Anführen geschichtlicher Umbrüche zu
Schwierigkeiten, wenn sie als singuläre Ursache für eine umfangreiche Resemanti-
sierung bereits vorher benutzter philosophischer Begrifflichkeiten artikuliert wer-
den soll. Würde, Freiheit und Autonomie, Selbstbewusstsein und Selbstreflexion
sind dagegen Begriffe, die bereits vor dem Anbruch der Neuzeit wichtige Impulse
zur Bestimmung des Menschenbilds gegeben haben. Ihre bis heute andauernde

655
Auf die vielfältigen Wege der Verbreitung renaissancetypischer Ideen und Ideale weist Peter Bur-
ke im Hinblick auf die mittel- und nordeuropäischen Länder hin. Burke, Die europäische Renais-
sance, S. 115-125.
656
Eine Aussage, die allerdings in jüngster Zeit stark umstritten ist, denn auch in der Renaissance ist
keine gleichmäßige ‚Wiedergeburt der Antike‘ festzustellen, sondern vielmehr eine „Amalgamie-
rung einzelner Motive und Ausdrucksformen in neue Zusammenhänge sowie ihre Objektivie-
rung und Erforschung aus der nun erst gewonnenen Distanz“, wobei konstant ältere Formen ne-
ben neueren bestehen bleiben. Vgl. Günther, Art. ‚Renaissance‘, S. 784. Aus dem Blick der poli-
tischen Philosophie stellt dies auch Pinzani fest, der schreibt, dass „sich die Perspektive mancher
Autoren stufenweise zu Positionen [verschob, M. H.], die wir zwar als ‚modern‘ bezeichnen, ohne
dass sie jedoch damit eine vollständige Loslösung von traditionellen, auch in der Antike vertrete-
nen Positionen vollzogen.“ Vgl. Pinzani, An den Wurzeln moderner Demokratie, S. 23.
657
Vgl. Otto, Renaissance und frühe Neuzeit, S. 11.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 273

Begriffsinhalte bilden sich nun deshalb nicht plötzlich als Übereinstimmung mit
einem gewandelten Verhältnis zur Welt heraus, sondern sie sind begrifflich, wie
Klaus Oehler betont 658, selbstverständlich auch schon vorher ausgebildet – wenn
auch, durch andere Schwerpunkte innerhalb des Weltbilds bedingt, grundsätzlich
in anderem Kontext stehend und mit anderen beschreibenden Narrativen ver-
knüpft. 659
Da die ‚Entdeckung des Menschen’ in der Renaissance zwar angestoßen, aber
keineswegs sogleich abgeschlossen war, mussten es die Philosophen und Gelehr-
ten als ihre Aufgabe ansehen, über ein Ergründen der conditio humana im „Fä-
cherkanon der studio humanitatis“ 660 dazu beizutragen, den neuen Menschen als
handelndes Subjekt, als moralisch letztverantwortliches Individuum innerhalb des
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

neuen Weltbilds zu entwerfen. Damit ist ein Prozess angesprochen, der in vielfa-
chen Überschneidungen mit gesellschaftlichen Entwicklungen auch für eine fort-
schreitende Dynamik der Entwicklung des Bildes vom Menschen sorgen musste;
wie der Zusammenbruch der großen Kosmologien und Synthesen aus Metaphy-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

sik und physischer Welt Dynamik und Offenheit in die menschliche Auseinan-
dersetzung mit dem Weltenlauf bringt, wird nun der Mensch unter der gleichen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Dynamik und Hermeneutik der Entwicklung betrachtet. Dieses Programm


bringt dementsprechend zweierlei Tendenzen mit sich: zum einen versuchen die
Philosophen jener Zeit, ohne das scholastische Denkkorsett zu ergründen, wie
Wesen und Natur des Menschen objektiv-wissenschaftlich zu bestimmen seien,
auf der anderen Seite orientiert sich das Forschungsinteresse an der Entwicklung
eines umfassenden Bildungsideals, das die menschlich Fähigkeiten in bester Wei-
se entwickeln soll. Wie Kristeller schreibt, sahen die Renaissance-Humanisten ih-
re Studien und die daraus entstehenden Lehrsätze als einen notwendigen Dienst
am Menschen an:
„[…] they [die Humanisten, M. H.] expressed the claim that these studies contrib-
ute to the education of a desirable human being, and hence are of vital concern for

658
Vgl. Oehler, ‚Subjektivität und Selbstbewußtsein in der Antike‘, S. 153ff.
659
Eben deshalb halten Leonhard Bauer und Herbert Matis in ihrer Studie zur ‚Geburt zur Neuzeit‘
fest, dass die Begriffe ‚traditionale‘ und ‚moderne‘ Gesellschaft nicht im Sinne einer Wertung ver-
standen werden dürfen, sondern dass jene „primär die Andersartigkeit einer gesellschaftlichen Or-
ganisation zum Ausdruck bringen“ sollen, die „sich in anderen Sinn- und Symbolwelten von In-
dividuen und Gesellschaft und anderen Figurationen darstellt, die wir heute kaum mehr nach-
vollziehen können.“ Bauer; Matis, Geburt der Neuzeit, S. 17.
660
Otto, Renaissance und frühe Neuzeit, S. 12. Der Fächerkanon bestand aus Grammatik, Poetik,
Rhetorik, Geschichte und Moralphilosophie, wobei diese Disziplinen im Kern jedoch „die
sprachliche und geschichtliche Verfaßtheit des Menschen als Grund seiner ‚Würde‘“ thematisie-
ren. Im Gegensatz zur heute gängigen Bezeichnung des „Humanisten“ für Menschen, die an
„menschlichen Werten [human values]“ und der „Wohlfahrt des Menschen [human welfare]“ in-
teressiert sind, war mit dem humanista jedoch in der Renaissance der professionelle Lehrer dieses
Fächerkanons gemeint. Vgl. Kristeller, ‚e Philosophy of Man in the Italian Renaissance’, S.
93f.
274 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

man as man. us they indicated a basic concern for man and his dignity, and this
aspiration became quite explicit in many of their writings.“ 661
Mit dem langsamen Wegbruch des alten, holistischen und strukturell verbindli-
chen Ordnungsrahmens des kohärenten christlichen Weltbildes war durch die
zeitgenössische Philosophen ein (zunächst freilich noch deutlich christlich gepräg-
ter) Humanismus als geradezu notwendiges Gegenstück zur Dynamik des neuen
Weltbildes angesehen worden, der den Menschen ‚als Wesen aus sich selbst her-
aus‘ als Dreh- und Angelpunkt einer neuen Ontologie und Epistemologie einset-
zen konnte, und mit dessen Hilfe der Mensch in der Folge als mit einer besonde-
ren Würde ausgestattet gekennzeichnet werden konnte. Auch in dieser Hinsicht
grenzt sich die Renaissance von der Philosophie und eologie der Scholastik des
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Hochmittelalters ab, denn diese hätte mit der ihr Verfügung stehenden wissen-
schaftlichen Methode und vor dem Hintergrund ihrer Erkenntnistheorie die Fra-
ge nach der Lokalisierung des Menschen in einer nun „nur sprachlich und ge-
schichtlich verfügbaren Welt“ 662 nicht oder nur äußerst eingeschränkt beantwor-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ten können, weswegen sie als Gesprächspartner für viele zeitgenössische Gelehrte
ausfällt und als veraltete Art und Weise, Wissenschaft zu betreiben, verächtlich
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gemacht wird.
Pico della Mirandolas ‚Über die Würde des Menschen‘ und Giannozzo Manet-
tis ‚Über die Würde und Erhabenheit des Menschen‘ können vor dem Hinter-
grund der Zeitenwende im Verhältnis des Menschen zu sich selbst sowie zur
Menschheit insgesamt als wichtige Beispiele für philosophische Traktate gelten,
in denen die Fähigkeit des Menschen zur Selbstverortung in einer dynamischen
Welt als Würde bewusst gemacht wird. Indem beide Werke den Menschen sui ge-
neris in den Mittelpunkt ihrer philosophischen Überlegungen stellen und damit
vom eozentrismus des Mittelalters zum Anthropozentrismus der Neuzeit über-
leiten, stehen sie paradigmatisch für das Zeitalter der Renaissance, das etymolo-
gisch eine Wiedergeburt, ein Wiedererstehen der griechisch-römischen Klassik
verheißt, die Topoi jener klassischen Philosophie aber in einer Synthese mit den
zeitgenössischen Problemstellungen zusammenführt.

D.2.a Pico della Mirandola

Picos grundlegende Prämisse in seinem Traktat über die Würde des Menschen
ist, dass der Mensch durch sein Wesen zur höchsten Freiheit fähig ist und sich in
seiner Handlungsfähigkeit in freiem Willen die gottgleiche schöpferische Potenz
des Menschen zu erkennen gibt. Jene ist es, die es dem Menschen als einzigem
geschöpflichen Wesen erlaubt, gegen den in den Naturgesetzen determinierten
Ablauf aller Dinge in der Welt seinen Platz eigenmächtig und ohne höhere Be-
stimmung festzulegen. Mit dieser Fähigkeit, so Pico, die den Menschen über alle
661
Ebd., S. 96f.
662
Otto, Renaissance und frühe Neuzeit, S. 12.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 275

andere Wesen der Schöpfung fast auf eine Stufe mit Gott hebt, ist es nachvoll-
ziehbar, „warum der Mensch das am meisten gesegnete und daher ein jeder Be-
wunderung würdiges Lebewesen ist“. 663
In einer Nacherzählung der Schöpfung durch Gott begründet Pico jene Son-
derstellung des Menschen im Kosmos damit, dass der Mensch als Höhepunkt der
gesamten Schöpfung zuletzt geschaffen worden sei und in ihm Gottes Schöpfung
kulminiere. Denn weil bereits alles den „oberen mittleren und unteren Ordnun-
gen“ 664 zugeteilt ist, gibt Gott dem Menschen Anteil an allem, „was die einzelnen
jeweils für sich gehabt hatten“ 665 und stellt ihn also „in die Mitte der Welt“ 666. Pi-
co lässt Gott dem Menschen zurufen:
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

„Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns
vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst Dir deine ohne jede Einschränkung
und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen.
[…] Weder haben wir dich himmlisch, noch irdisch, weder sterblich noch unsterb-
lich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferi-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

scher Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst.“ 667
Im Menschen sind im Gegensatz zu den Tieren, die von Geburt an vollendet
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

sind, „vielerlei Samen und Keime für jede Lebensform angelegt“ 668, die bei richti-
ger Hege und der Entfaltung seiner absoluten Natur bis zur Vergottung des Men-
schen führen können. Pico bezeichnet deshalb den Menschen plastisch als „Cha-
mäleon“ 669, weil er durch die freie und der Willkür seines Willens unterworfene
Entwicklung seiner Fähigkeiten jede innere Gestalt anzunehmen imstande ist. Pi-
co lässt allerdings ebenso keinen Zweifel daran, worin der Mensch vor allem an-
deren seine Menschlichkeit erweisen kann, worin sich also seine Würde primär
zeigen wird: es ist seine Vernunft, die ihn bei richtigem Gebrauch zu einem
„himmlischen Wesen“ 670 macht. Der Mensch als kontemplierender Betrachter der
Weisheit und der Erkenntnis, „der von seinem Körper nichts weiß, ins Innere
seines Geistes zurückgezogen [lebt, M. H.], […] ist kein irdisches, kein himmli-
sches Lebewesen; er ist ein erhabeneres, mit menschlichem Fleisch umhülltes
göttliches Wesen.“ 671
Pico greift damit in seinem Traktat auf die zu seiner Zeit gängigen und be-
kannten Konstitutiva der menschlichen Würde zurück, verwurzelt jene Begrün-
dungsmomente nun aber begründungstheoretisch in der willkürlichen Freiheit
und damit zusammenhängend dem freien Willen jedes einzelnen Menschen. Der
Gestaltungsauftrag, den Gott in der Genesis dem Menschen zuteilt, wird von Pi-

663
Mirandola, Über die Würde des Menschen, S. 3.
664
Ebd., S. 6.
665
Ebd.
666
Ebd.
667
Ebd., S. 7.
668
Ebd.
669
Ebd.
670
Ebd.
671
Ebd., S. 9.
276 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

co als Auftrag zur Wahrnehmung ausnehmend positiv durchstimmter, letztlich


grenzenloser Freiheit gedeutet. Äußere und innere Hemmnisse dieser Freiheit,
beispielsweise die in der Scholastik zentrale stehende Sündhaftigkeit des Men-
schen als Kontingenzerfahrung des Daseins, spielen in dieser ethischen Perspekti-
ve keine Rolle mehr.
Die Heteronomität der äußeren Welt wird auf einen Menschen, der in Er-
kenntnisorientierung und Zähmung der körperlichen Instinkte das freiheitsorien-
tierte Programm Picos verfolgt, keinen Einfluss haben können; der freie Wille,
der die schöpferische Potenz des Menschen widerspiegelt, gestattet es jenem viel-
mehr, in einer „durch die Naturgesetze determinierten Welt nach Belieben zu
wandeln“ 672, worin für Pico das humanistische „Vertrauen in die Perfektibilität
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

der menschlichen Natur aus eigener Kraft“ 673 wurzelt. Die Würde des Menschen,
die sich im freien Verhalten gegenüber der dem Menschen grenzenlos gegebenen
Freiheit zeigt, wird von Pico damit als oppositorisch zur miseria hominis aufge-
baut, welche als der Würde entgegenlaufende Erfahrung der Schuldhaftigkeit und
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Erlösungsbedürftigkeit des Menschen die antike und christliche Philosophie


durchzieht. 674 Im Umkehrschluss kann hier Pico durchaus so verstanden werden,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dass materielle Armut auf eine nur mangelhafte Verwirklichung der eigenen Fä-
higkeiten schließen lässt, und dadurch auch die Würde des von Armut betroffe-
nen Menschen als nicht in voller Weise bestehend angesehen werden kann.
Mit der Pico‘schen Perspektive auf den Menschen ändert sich jedoch auch die
Darstellung des ontologischen Charakters der menschlichen Wesenswürde in fun-
damentaler Weise, wie August Buck verzeichnet; denn sie „blieb zwar eine von
Gott verliehene Gabe, wurde aber nunmehr als eine Potenz angesehen, die zu
verwirklichen, Aufgabe des Menschen ist, d. h. der Begriff erhält einen dynami-
schen Charakter.“ 675 Buck zufolge ist Pico also hier so verstehen, dass er demonst-
rativ an die stoische Philosophie anschließen will, die in ähnlicher Weise die
Würde als immer schon zu verwirklichende Aufgabe des Menschen ansieht.
Trotzdem ist der eigentliche Fokus bei Pico ein anderer, denn die Stoa kannte
noch nicht jene existentielle personale Dimension der menschlichen Freiheit als
Kennzeichnung der Würde, wie sie Pico vertritt. In der Stoa sind die Begriffe der
Freiheit und Würde noch in einem als verbindlich gesetzten axiologischen System
eingeordnet; sie sind soziale und erst daraus folgend auch metaphysische Ver-
dienste, die durch richtiges und tugendhaftes Handeln im Rahmen der Vorgaben
des bonum commune der Gesellschaft verdient werden können. Dagegen ist bei
Pico die Freiheit die im göttlichen wurzelnde Grundbestimmung menschlichen
Handelns und Daseins überhaupt – und die menschliche Würde ist ihr Spiegel-
bild. Diesem Standpunkt gemäß ist das Menschenbild Picos in höchstem Maße
positiv durchstimmt; obzwar der Mensch seine fast gottgleiche Sonderstellung in
672
Ebd., S. XIX.
673
Ebd., S. XX.
674
Vgl. Buck, ‚Einleitung . Der Begriff der Menschenwürde im Denken der Renaissance, unter be-
sonderer Berücksichtigung von Giannozzo Manetti‘, S. XIf.
675
Ebd., S. XIV.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 277

der Schöpfung und seine existenziell gegebene Freiheit nach der Maßgabe der ei-
genen Willkür missbrauchen kann wenn er will, wird er von Pico dennoch als so
vernünftig charakterisiert, dass er durch seine Fähigkeit zum Wissenserwerb und
seine Schöpfungskraft zur Entwicklung und weiteren Förderung des Menschen-
geschlechts beitragen wird.

D.2.b Giannozzo Manetti

In ähnlicher Weise sieht auch Giannozzo Manetti den Menschen durch dessen zu
Gott analoge Schöpfungstätigkeit als Mittelpunkt des Universums und dadurch
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

mit einer herausragenden Würde ausgestattet; denn durch seine freien Schöpfun-
gen ist es ihm als einzigem Wesen möglich, ein eigenes Reich auf der Erde zu er-
richten. 676 Im ersten Teil seines Traktats ‚Über die Würde und Erhabenheit des
Menschen’ geht Manetti auf die körperliche Gestalt des Menschen ein – oft bis
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ins kleinste anatomische Detail – und hebt in allem den wunderbar gefügten
Körper hervor, der in aufrechtem Gang und seinen Sinnen, besonders aber in den
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Händen als den praktischen Werkzeugen des homo faber, humanistisches Zeugnis
über des Menschen Sonderstellung in der Schöpfung ablegt. Schon in seiner kör-
perlichen Gestalt gilt der Mensch Manetti als Abbild göttlicher Schönheit.
Im zweiten Buch des Traktats behandelt Manetti anschließend Intelligenz,
Gedächtnis und freien Willen als die spezifisch menschlichen Fähigkeiten, welche
die eigentliche Schöpfungstätigkeit des Menschen erst erlauben. In den großen
Erfindungen der Menschheitsgeschichte, auch in den Werken der Dichter, Philo-
sophen und eologen sieht Manetti jene Schöpfungstätigkeit in herausragender
Weise am Werk, und er preist sie dementsprechend in hymnischem Ton. Erst
mit jenen Geistesgaben, das macht Manetti im dritten Buch deutlich, kann auch
die eigentliche Berufung des Menschen in der Welt gezeigt werden: das aber ist
die Schaffung einer Kultursphäre als gemeinschaftlicher menschlicher Aufgabe. Sie
ist der alleinige Verfügungsraum des Menschen und somit sein Reich, das er ver-
nünftig durchherrschen muss. Manetti hebt in der menschlichen Natur die be-
sonderen Fähigkeiten ‚Denken‘ und ‚Handeln‘ als die aufeinander wechselseitig
verwiesenen Seiten einer Medaille heraus, mit denen der Mensch sich zum Herr-
scher der Welt innerhalb seiner Kultursphäre aufschwingen kann; diesen Fähig-
keiten entsprechen die vita activa als der Bereich des praktisch Tätigen in der
Welt, oder der vita contemplativa als der Bereich der religiösen Spekulation. Ge-
mäß seinen humanistischen Idealen gibt Manetti jedoch der vita activa den kla-
ren Vorzug (wie in ähnlichem Kontext auch Cicero, siehe Abschnitt B.3.b in die-
sem Kapitel), weil sich vor allem in einem aktiven Leben die Schöpfungstätigkeit
in konkreten Ergebnissen erweisen kann, der Fortschritt des Menschenge-
schlechts vor allem dort in praxi ersichtlich wird. Eine gleichzeitige Abwertung
der vita contemplativa in den im Mittelalter so weit verbreiteten Orden jeglicher
676
Ebd.
278 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Couleur ist hier von Manetti mit Sicherheit intendiert und steht als Negativbei-
spiel für ein Leben, das nicht dem allgemeinen Fortschritt des Menschenge-
schlechts gewidmet ist.
Im vierten Buch schließlich skizziert Manetti die Arbeit als den Ort menschli-
cher Tätigkeit, an dem sich die menschliche Würde sui generis erweist. Wenn der
Mensch als schöpferisches Wesen vor Augen zu führen ist, dann muss sich gelin-
gende menschliche Existenz für Manetti als grundsätzliche Heiligung der Arbeit
zeigen und damit verbunden eine deutliche Bejahung des diesseitigen Wirkens
des Menschen verknüpft werden. Wenn auch vom Grundvermögen her der
Mensch seine Würde als rücksichtloser, asozialer Egoist verwirken kann, indem er
sich der Förderung des Gemeinwohls verschließt und damit das Zusammenleben
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

gefährdet, bleibt das Menschenbild Manettis – wie Pico della Mirandolas – in


äußerstem Maße positiv durchstimmt. Durch seine Fähigkeiten imaginiert dieser
wie jener den Menschen als gottgleiches Wesen. 677
Im Gegensatz jedoch zum zeitlich nach ihm wirkenden Pico, der die Perfekti-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

onierung der menschlichen Natur vor einem individualistisch verengten Horizont


als Aufgabe jedem Menschen zuteilt, sieht Manetti die Würde des einzelnen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Menschen aus der Zentralperspektive der gesamten Menschheit bestimmt. Denn


der Mensch ist deshalb Träger einer Würde, weil er einerseits mit seiner körperli-
chen Gestalt und der ihm daraus ersprießenden Möglichkeiten, und andererseits
durch seine geistigen Gaben zur Entwicklung seiner selbst und der Menschheit
insgesamt beizutragen in der Lage ist. Diesen Fokus auf den Menschen aus der
Perspektive der gesamten Menschheit hat Pico gerade nicht – während für ihn
der Nachweis der Würde des Menschen in der Welt allein durch eine je individu-
elle Orientierung an Wissen und Erkenntnis gelingen kann, wird durch Manetti
die menschliche Würde als Gegenbegriff zum mittelalterlichen Menschenbild,
welches den Menschen als heillose Kreatur und dadurch erlösungsbedürftiges
Wesen der Rettung durch Gott anheimstellt, das Menschenbild der Neuzeit kon-
stituierend gesetzt. Die Würde des Menschen wird in der Idee des homo faber in-
härent mit einer der Welt einwohnenden Fortschrittsnarration verknüpft, damit
„das Diesseits nicht mehr als Jammertal, sondern als schöne Welt Gottes“ be-
griffen werden kann. Als Resultat wird der Mensch innerhalb seiner Kultursphäre
als damit beauftragt bestimmt, „diese Welt nicht nur zu bewundern und zu erhal-
ten, sondern auch weiterzuentwickeln.“ 678

677
Vgl. ebd., S. XIXff.
678
Mit diesen beiden Zitaten fasst Gabriela Wolf die Gedankenwelt von Marsilio Ficino zusammen,
der sich auf Petrarca und Manetti bezieht. Vgl. Wolf, Humanistische Mystik, S. 65.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 279

D.3 Weitere Entwicklungen für das Selbstbild des Menschen: Utopie und
Macht als neue Reflexionsflächen menschlicher Würde gegen die
Kontingenz des Daseins

Jene renaissancetypische Perspektive auf die menschliche Kultursphäre, für deren


Kontinuität und Fortentwicklung, so die zeitgenössischen Autoren, die vernünf-
tige Schöpfungstätigkeit des Menschen als notwendig angesehen werden muss,
bricht sich in Staatsutopien und Gesellschaftsentwürfen ihre Bahn, in denen der
Aufbau der Gesellschaft als von Menschen künstlich und nicht von Gott natürlich
Gemachtes bestimmt und das Wohlergehen des Menschen als perfektionierbar
und sowohl gleichzeitig die menschlichen Übel als auch die Kontingenzerfahrun-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

gen des Daseins als vermeidbar imaginiert werden. 679 Die in der frühen Neuzeit
entstehende Utopienliteratur ist gemäß dieses neuen Bewusstseins Vermittlerin
von Vorstellungen alternativer, idealer Gesellschaftsordnungen, die als heteroto-
pe, kritische Kontrapunkte zu den Missständen der zunehmend komplexen und
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

sich fragmentierenden sozialen Realität in der frühen Neuzeit aufgefasst werden


müssen. 680
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

In ‚Utopia’ von omas Morus und dem ‚Sonnenstaat’ von Tommaso Cam-
panella wird der im höchsten Maß vernünftige institutionelle und soziale Aufbau
perfekter Gesellschaften beschrieben, die von freien Menschen so gestaltet wor-
den sind, dass ihre Bürger in vollendeter Harmonie und unter gegenseitiger Ach-
tung der Würde miteinander leben können. Keinem muss es an einem Leid ge-
brechen, wenn er sich in die vorgegebenen Verhältnisse einfügt. Durch die per-
fekte technische Konstruktion aller sozialer Institutionen wird die ganzheitliche
Entfaltung des menschlichen Lebens als potenziell realistische Möglichkeit dies-
seitiger Lebenswelten vorgestellt, werden den Lesern umgekehrt Armut und ma-
terieller Mangel als Resultat mangelhafter institutioneller Strukturen und sozialer
Arrangements anschaulich vorgeführt. Als Blaupause des gesellschaftlich Mögli-
chen halten diese Utopien den Zeitgenossen vor Augen, dass im Umkehrschluss
auch die sozialen Bedingungen der realen Welt nicht qua Natur ewig feststehen,
sondern gestaltet und durch die Möglichkeiten menschlicher Schaffenskraft zum

679
Vgl. „Die Übernahme des menschlichen Schicksals und insbesondere der Gesellschaftsordnung
aus den Händen Gottes in die des Menschen ist der eigentliche Säkularisierungsschub, der mit
Morus die neuzeitliche Utopie als Diskurs über die beste gesellschaftliche Ordnung in Gang setzt.
[…] Und dies umso dringlicher, je stärker die sozialen Disparitäten der entstehenden bürgerli-
chen Gesellschaft in den Blick geraten“. D’Idler, Die Modernisierung der Utopie, S. 73.
680
In einer Perspektive auf die Heterotopie von Utopien stellt Foucault fest, dass sie ihre primäre
kritische Funktion im sprachlichen Aufbrechen vormals gegeben erscheinender und dadurch hin-
genommener Ordnungen erfüllen: „Die Heterotopien beunruhigen, wahrscheinlich weil sie heim-
lich die Sprache unterminieren, weil sie verhindern, daß dies und das benannt wird, weil sie die
gemeinsamen Namen zerbrechen oder verzahnen, weil sie im voraus die ‚Syntax‘ [im Sinne der
gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen, M. H.] zerstören, und nicht nur die, die die Sätze kon-
struiert, sondern die weniger manifeste, die die Wörter und Sachen (die einen vor und neben den
anderen) ‚zusammenhalten‘ lässt. Deshalb gestatten die Utopien Fabeln und Diskurse.“ Vgl.
Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 20.
280 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Besseren geführt werden können, wenn nicht sogar müssen. 681 Entwicklungen
von neuen politischen Philosophien und von Gesellschaftsutopien zeigen den ge-
bildeten Zeitgenossen jedenfalls deutlich, dass der Aufbau und die Strukturen der
Gesellschaften nicht ‚auserzählt‘ sind, sondern ganz im Gegenteil die angebro-
chene Dynamisierung der Gesellschaft alle ihre Teile umfasst, und sowohl die
Stellung der Mächtigen und Reichen, als auch die Stellung der Armen und Un-
terdrückten aus der menschlichen Perspektive einer neuen – gerechten und dem
Menschen angemessenen – Legitimation bedarf.
Denn nicht allein in der literarischen Form der Utopie wird die tatsächliche
Veränderbarkeit sozialer Strukturen vor Augen geführt, sondern auch in politi-
schen und philosophischen Traktaten, die sich mit konkreten Fragen des Ver-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

hältnisses von legitimer Herrschaft und der entstehenden Bürgergesellschaft aus-


einandersetzen. Besonders in jenen wird das neue Selbstverhältnis des Menschen
zu sich greifbar, weil nun, mit der zunehmenden Auflösung der alten Erklä-
rungsmuster für die überkommenen gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen, zwar
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

die aus der christlichen Hermeneutik gewonnenen Standpunkte zur Freiheit des
Menschen und seiner Orientierung an der Vernunft als grundsätzlich moralische
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Person weiterhin in Geltung bleiben, freilich sogar Voraussetzung für die Ausei-
nandersetzung mit der Legitimität sozialer Strukturen sind, aber immer stärker
außerhalb eines traditionellen christlichen Weltdeutungsschemas entfaltet wer-
den.
Wie sich an den beiden folgenden Protagonisten zur Entwicklung des Wür-
degedankens im Rahmen sozialer Prozesse zeigen wird, verursachte die mit der
Neuzeit einhergehende Veränderung des Menschenbildes eine deutliche Pathos-
reduktion in der Rede über die Fähigkeiten des Menschen gegenüber den Renais-
sance-Humanisten Pico della Mirandola und Giannozzo Manetti. Das am natur-
wissenschaftlichen Blick geschärfte, an empirischer Ansicht in den neuzeitlichen
Kriegen sich informierende Bewusstsein um die zerstörerischen Fähigkeiten des
Menschen durch dessen egoistisch-instrumentelle Vernunft, welche ihn im All-
gemeinen eher den eigenen Vorteil denn das Gemeinwohl erstreben lässt, ver-
weist in den Werken von Niccolò Machiavelli und omas Hobbes in kühlem,
realistischem Grundton die in der willkürlichen Freiheit begründete Würde des
Menschen auf einen philosophischen Nebenschauplatz und versucht dazu im
Gegensatz, durch den klugen Einsatz absoluter Macht unter dem Deckmantel
von Recht und Gesetz die ‚Bestie Mensch‘ in seine Schranken weisen zu lassen.
Gesellschaften wären nun nicht deshalb technisch gut zu gestalten, um der Wür-
de des Menschen Platz zu ihrer Entfaltung zu geben, sondern um die freiheitliche

681
Dennoch besteht in der Forschung mittlerweile Konsens darüber, dass die klassischen Utopien,
besonders im Falle von omas Morus‘ Utopia, von ihren Autoren gemeinhin nicht als pro-
grammatische, politische Gegenmodelle verstanden werden, sondern dass die utopische Intention
einer perfekten Gesellschaftsordnung immer auch ironisch gebrochen wird, was die Utopie in ei-
nen klaren Gegensatz zur theoretischen Konstruktion einer gerechten Gesellschaft in der politi-
schen Ethik stellt. Vgl. Isekenmeier, ‚Das beste Gemeinwesen?‘, S. 37ff.; Richert, ‚Lachende Ver-
nunft‘, S. 3ff.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 281

Entfaltungsmöglichkeit des Menschen, die durch die übersteigerte Selbstsucht des


Menschen immer schon den Absturz in die Barbarei in sich trägt, zugunsten
friedlicher Prosperität und Sicherheit eintauschen zu können.

D.3.a Niccolò Machiavelli – Die Würde des Fürsten besteht in seiner


Macht

In ‚vom Fürsten’, der als politischer Traktat in der klassischen äußeren Form des
‚Fürstenspiegels‘ gehalten ist, widmet sich Niccolò Machiavelli 682 in exemplari-
scher Weise den Fragen von Macht und Machterhalt in den feudalen Gesellschaf-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ten seiner Zeit. Denn Machiavelli erkennt, dass Gesellschaften, die sich einerseits
als aus Individuen zusammengesetzt verstehen und die andererseits von einer
scharfen Konkurrenzsituation beherrscht werden, völlig neue Probleme für die
kontinuierliche Aufrechterhaltung von Macht und Herrschaft aufwerfen, zumal
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

sich die Gesellschaften immer schneller aus ihren traditionellen Ordnungszwän-


gen lösen. An den politischen Entwicklungen seiner Zeit kann Machiavelli nach-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

vollziehen, dass der Entstehung von Staaten und dem Erhalt der Macht eine
menschengemachte Eigenlogik innewohnt, die für Analyse und Kritik offen ist;
durch diese Offenheit für Analyse und Kritik kann Machiavelli folglich als empi-
risch 683 begründet ansehen, dass die Formen und Ausgestaltungsmöglichkeiten
der Macht durch Induktion auf Axiome, hier Anweisungen des jeweils situativ
richtigen Herrschens geschlossen werden müssen, die dann in allen vorstellbaren
politischen und sozialen Entscheidungen das zum Machterhalt des Fürsten an-
gemessene Verhalten empfehlen. Respektive muss die fürstliche Machtausübung
den die Geschichte reflektierenden Grundsätzen richtigen Herrschens gehorchen,
um die Herrschaft des Machthabers gegen die unterschiedlichsten Einflüsse von
außen oder von innen zu allen Zeiten verteidigen zu können. Weil Machiavelli
dabei den Machterhalt verabsolutiert, nämlich als höchstes Ziel des Machthabers,
dem alle anderen sozialen Werte nur als Mittel dienen und dadurch gänzlich dis-
ponibel werden, führte dies seit dem Erscheinen des ‚Fürst‘ dazu, dass jene ulti-
mative Orientierung an der Macht als realpolitisches und dadurch letztlich zyni-
sches Instrument der Unterwerfung der Untertanen um jeden Preis gesehen wor-
den ist.

682
Eine hervorragende Gesamtdarstellung des Oevres von Machiavelli und des gegenwärtigen For-
schungsstandes bietet Pinzani, An den Wurzeln moderner Demokratie, S. 33-142.
683
Wie Pinzani zeigt, arbeitet Machiavelli seine Standpunkte in der Auseinandersetzung mit histori-
schen Beispielen heraus, um dadurch induktiv auf ideale Verhaltensmodelle schließen zu können:
„Machiavelli zielt nicht darauf ab, die Regeln der Politik, sondern ihre Regelmäßigkeiten zu iden-
tifizieren“. In der gewählten Methode unterscheidet sich Machiavelli deutlich von den späteren
politischen Philosophen wie Hobbes, die mit Deduktion von abstrakten Begriffen und Axiomen
auf bestimmte Handlungsfolgen schließen werden. Vgl. Pinzani, An den Wurzeln moderner De-
mokratie, S. 35.
282 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Weil aber Erwerb und Erhalt der Macht einen dauernden „Prozeß der Um-
und Neubewertung von Mitteln und Zielen“ 684 verlangen, lassen sich im Herr-
schaftsentwurf Machiavellis jedoch auch ebenso Grundzüge eines pragmatischen
Politikvollzugs entdecken: gegen eine als ewiggültig imaginierte Ordnungsstruk-
tur der sozialen Beziehungen und einer statischen Weltanschauung kommt mit
Machiavellis Entwurf des ‚Fürst‘ eine dynamische Politikgestaltung durch jeder-
zeit reversible Entscheidungen in den Blick, die vom höchsten Ziel des Macht-
erhalts her die Steuerung einer sich ständig im Wandel befindenden Gesellschaft
ermöglichen soll.
Machiavellis‘ politische Anthropologie thematisiert damit „geschichtlich zum
ersten Mal den modernen, ungebundenen, ontologisch ortlosen, asozialen und al-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

lein auf sich gestellten selbstzentrierten Menschen, den unpolitischen, unersätt-


lich Güter, Macht und Einfluß maximierenden homo oeconomicus.“ 685 In gewisser
Weise nimmt Machiavelli damit Überlegungen zum totalen Charakter der Macht
auf, die in ihrer Schärfe analog in der nominalistischen eologie eines Duns
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Scotus oder William von Ockham entwickelt worden sind. „Gottes Allmacht, die
potentia absoluta, wird […] so radikal aus ihrer Bindung an Vernunft und Güte
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gelöst, daß sie nur noch an sich, als bloßer machthabender Wille und als aus dem
Nichts schöpfende Macht angesehen wird“ 686, führt Gerhardt aus. Gottes All-
macht ist wie die Allmacht des Fürsten völlig der Reflexion durch die menschli-
che Vernunft entzogen, wie dadurch auch Gott als relationales Gegenüber insge-
samt der menschlichen Erkenntnisfähigkeit entschwindet: „Der deus absolutus
wird zum deus absconditus und letztlich zum ‚überflüssigen Gott‘“ 687, was in der
englischen Aufklärung des 17. Jahrhunderts zu einem deistischen Weltbild füh-
ren wird, das noch von einer Schöpfung durch Gott ausgeht, ihm aber keine di-
rekte Einflussnahme mehr auf seine Schöpfung zuschreibt.
An den Anfängen dieser Weltanschauung, die den direkten Einfluss Gottes auf
den Weltenlauf als immer geringer einschätzt, steht bei Machiavelli jedenfalls die
Erkenntnis, dass die vormals in der Beziehung Gottes zur Welt als seiner Schöp-
fung begründeten und inhaltlich gefüllten Werte des ‚Guten‘ und des ‚Richtigen‘
der Staatsführung nun ohne Gott als absoluten Bezugspunkt normiert werden
müssen. Das hat notwendig zur Folge, dass die Grundfrage richtigen Herrschens
für Machiavelli nicht mehr lauten kann: ‚welche guten Zwecke sind innerhalb der
auf Gott bezogenen Schöpfungsordnung zu verfolgen?‘, sondern: ‚wie lässt sich
der absolute Machterhalt als das höchste menschliche Gut durchsetzen?‘
Die Orientierung der Herrschaft des Fürsten an einer vorgegebenen und ewi-
gen Ordnung richtiger Werte wird durch Machiavellis Absolutsetzung der Macht
durch den natürlichen Selbsterhaltungstrieb des Menschen ersetzt, wodurch die
positive Fürstenmacht jeder metaphysisch-normativen Verbindlichkeit entzogen

684
Vgl. Gerhardt, Vom Willen zur Macht, S. 69.
685
Kersting, Hobbes zur Einführung, S. 25.
686
Vgl. Gerhardt, Vom Willen zur Macht, S. 69f.
687
Ebd., S. 70.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 283

und nun vollständig als der freien menschlichen Gestaltungsmacht unterliegend


aufgefasst wird. 688 Der Schwund des äußeren, göttlichen Ordnungsgefüges ergibt
sich letztlich auch aus der Verabsolutierung einer Machtposition, die Machiavelli
eben nicht mehr einem unerreichbaren Gott zuschreibt, sondern die er so ver-
steht, als dass sie natürlich und unvermeidlich von den Menschen selbst okku-
piert werden muss. Dieses Verständnis muss in letzter Instanz außerdem dazu
führen, dass mit der ‚Umwertung der Werte‘ durch Machiavelli angenommen
werden kann, dass jeder Mensch – sofern er die Macht gewinnen und erhalten
kann – als Fürst regieren können wird. Den Bedingungen der natürlichen Fähig-
keit zur Aufrechterhaltung der absoluten Macht wie Vernunft und politische List
sind die vordem zentralen Voraussetzungen der Eignung zur Herrschaft, wie fa-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

miliäre Abstammung aus einer Linie der Besten (Aristokratie) oder verdienstliche
Leistungen (Meritokratie), klar untergeordnet.
Der Verlust eines verbindlichen äußeren Wertekanons und damit verbunden
des sozialen Normmodells menschlichen Zusammenlebens im bonum commune
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

wird bei Machiavelli aber vor allem durch seine Hypothese eines zyklischen Sys-
tems von sich bildenden moralischen Überzeugungen und Gesellschaftsrevolutio-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

nen greifbar, die gewissermaßen die „dauernde Wiederkehr derselben menschli-


chen Fehler und Irrtümer“ 689 wiederspiegeln. 690 Während spätere politische Philo-
sophen der Aufklärung vom menschheitlichen Fortschritt, also einer schrittweise
oder dialektisch erfolgenden geschichtlichen Verbesserung und Entwicklung des
Wesens des Menschen und der sozialen Strukturen, in die er eingebettet ist, aus-
gehen (Rousseau bringt dies mit seiner romantischen Idee einer Annäherung an
die natürliche Unschuld, Kant mit seiner Idee einer menschlichen Entwicklung
bis zum Weltbürgertum, und natürlich Hegel mit seiner idealistischen Ge-
schichtsphilosophie, die in der Lehre vom sittlichen Staat ihren Höhepunkt fin-
det, zum Ausdruck), ist diese lineare und unidirektionale Entwicklung zum Bes-
seren, Machiavelli zufolge, durch die menschliche Natur verschlossen. Sie ist des-
halb für den Menschen nicht anzielbar, weil er durch Undankbarkeit, Neid und
brennenden Ehrgeiz ständig und immer wieder erneut die sozialen Grundlagen
seiner bestehenden Gesellschaftsform durch Habsucht und Eigennutzstreben un-
tergräbt. Der politische Verfall ist auf der Grundlage dieses pessimistischen Men-
schenbildes jeder sozialen Struktur immanent eingeschrieben und kann auch
durch beste machtpolitische Vorkehrungen nicht gänzlich vermieden werden;
dem Verfall kann nur Widerstand geleistet werden durch einen Fürsten, der die
688
omas Schölderle konstatiert dementsprechend für Machiavellis ‚Fürst‘ eine „zunächst unge-
heuerlich anmutende Trennung von Macht und Ethik“, die genau in dieser Auftrennung den
Boden für eine „völlig neue eorie politischer Ordnung“ freilegt. Schölderle, Das Prinzip der
Macht, S. 121.
689
Pinzani, An den Wurzeln moderner Demokratie, S. 65.
690
Siehe dazu auch Bauer; Matis, Geburt der Neuzeit, S. 23f., wo die Autoren Machiavelli auf der
Grundlage interpretieren, dass dessen gesamtgesellschaftliches Kreislaufmodell von Gut und Böse
eine philosophische Antwort auf das sich zeitgenössisch herausbildende, moderne Zeitempfinden
ist, das in den bürgerlichen Tugenden – Regelmäßigkeit, Fleiß, Pünktlichkeit – sein Vorbild fin-
det.
284 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

zyklischen Entwicklungslinie der menschlichen Geschichte: Aufstieg – Verfall –


Aufstieg, kennt und sein politisches Verhalten entsprechend dem jeweiligen
Stand des Zyklus anpasst – aber wirklich aufhalten kann er ihn auch durch klügs-
te und gerissenste Anpassung seiner Herrschaft nicht. 691
In Machiavellis Werk findet damit eine menschenbildliche und weltanschauli-
che Entwicklungslinie auf dem Weg zur Neuzeit ihren ersten Kulminations-
punkt, die sich nach omas Schölderle vor allem durch drei Neugewichtungen
der besonderen Fähigkeiten des Menschen auszeichnet: der Mensch emanzipiert
sich zum einen von Vorstellungen göttlicher Vorsehung, schicksalhafter Existenz
und göttlicher Offenbarung hinsichtlich der Strukturen der Welt. Diese über-
kommenen Vorstellungen werden hingegen ersetzt durch eine Hinwendung zum
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

menschlichen Subjekt als Individuum, dem eine besondere Wertschätzung aus-


schließlich aufgrund seiner Gestaltungs- und Schöpfungsmacht zugerechnet wird.
Aufgrund auch dieser Wertschätzung der Gestaltungsmacht des Menschen ge-
winnt zum zweiten das Interesse des individuellen Menschen an Selbsterhaltung
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

und Sicherheit immer mehr normativen Einfluss auf die philosophischen Überle-
gungen zur Ausgestaltung und Konstruktion der sozialen Welt. Wenn das
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Schicksal als Erklärung für lebensbedrohliche Unglücksfälle ausscheidet, und zu-


gleich immer deutlicher andere Menschen als Verursacher dieses Unglücks ge-
kennzeichnet werden müssen, dann korrespondiert dem Interesse nach Selbster-
haltung und Sicherheit ein Verlangen danach, andere Menschen für ihr Verhalten
zur Verantwortung ziehen zu können. Deshalb zeigte sich zum dritten auf dem
Weg zur Neuzeit ebenso ein immer deutlicher werdendes Machtbewusstsein und
der Gestaltungswille von natürlichen und gesellschaftlichen Prozessen als Aufgabe
des Menschen rückt als vorrangig in den Fokus der politischen Philosophie. 692
Dass in diesen Neugewichtungen genealogisch sich auch ein neues gesellschaft-
liches Verhältnis zu den Ursachen der Armut anzeigt, wurde bereits eingangs die-
ses Abschnitts dargestellt, es ist aber bereits für Machiavelli relevant. Er will näm-
lich zeigen, dass die Stellung des nur vor sich selbst verantwortlichen Individu-
ums in der Welt, das sich Geschichte, Gegenwart und Zukunft seiner sozialen
Welt aktiv schafft, tendenziell gefährdet ist, dass seine Selbsterhaltung nur durch
den kontinuierlich Schaffenden selbst, in einer fortwährenden Konkurrenzsitua-
tion gegen andere, gewährleistet werden kann. Zu dieser stets zu erbringenden
Leistung sind aber Arme gerade nicht fähig, weshalb sie sogar zu einer Bedrohung
für den Fürsten und ihre Gesellschaft werden, indem sie beispielsweise durch so-
ziale Unruhen die Macht des Fürsten untergraben können oder durch ihre Masse
das Gemeinwohl bedrohen. Ein Fürst, der auch langfristig seine Macht sichern
will, ist aus Sicht Machiavellis schon aus politischem Kalkül stets dazu angehal-
ten, die Armen im Auge zu behalten, sie entweder durch materielle Unterstüt-
zung ruhig zu stellen – oder, was wahrscheinlicher ist – durch die Androhung von
Gewalt zu pazifieren. Das bei Machiavelli im Hintergrund stehende Menschen-

691
Vgl. Pinzani, An den Wurzeln moderner Demokratie, S. 73.
692
Vgl. Schölderle, Das Prinzip der Macht, S. 122.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 285

bild sieht den Wert des Menschen in diesem Verhältnis zu den Armen nachvoll-
ziehbarer Weise nicht in einer metaphysisch fundierten Dignität begründet, son-
dern darin, dass der Mensch seine instrumentelle Vernunft in Konkurrenzsituatio-
nen richtig gegenüber anderen einzusetzen weiß und – im Fall des Fürsten – seine
Macht gegen alle äußeren Probleme erhalten kann.
Durch den Wegbruch des metaphysischen Ordnungsrahmens muss, wie Ma-
chiavelli anschaulich macht, die menschliche Willkür als absolutes positives Ge-
setz gelten, das durch nichts anderes als durch die dahinter stehende Herr-
schaftsmacht seine Rechtfertigung erhält. Die instrumentelle Vernunft des Fürs-
ten bestimmt somit die Art und Weise, mit der seine Untertanen zu Zwecken
herangezogen werden, die vielleicht mit deren Zielen konvergieren können, aber
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

niemals müssen. Andererseits ist auch der Fürst ein Getriebener, denn seine Herr-
schaft ist ständig bedroht: durch konkurrierende Mächte, durch ein aufgewiegel-
tes Volk, durch seinen eigenen Hofstaat. Alle Menschen, das ist Machiavellis Ein-
sicht, unterliegen letztlich dem gegenseitigen, maßlosen Machtstreben gegen- und
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

übereinander, weswegen Fortschritt und Entwicklung immer gegen andere Men-


schen durchgesetzt werden müssen. Menschlicher Neid und Habsucht sind die
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

anthropologischen Grundkonstanten, die das Wohlergehen des Menschen in sei-


nen Gesellschaften stets bedrohen, und die nur durch unbarmherzigen Einsatz
der fürstlichen Macht in Zaum gehalten werden können.
Diese Erkenntnisse verarbeitet Machiavelli aber eben nicht in abstrahierend-
systematischer Begrifflichkeit, sondern er summiert seine Beobachtungen ledig-
lich zu Ratschlägen angemessenen Verhaltens für die Träger der Herrschaft, Rat-
schläge, die vor allem auch die politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen
seiner Zeit wiederspiegeln. Seine Schlussfolgerungen für den Machterhalt des
Fürsten sind deshalb noch „keine Folgen eines dezidiert antiaristotelischen, inno-
vativen eorieprogramms, sie sind Reflexe“ 693, aber noch keine systematische
Darstellung einer Ethik sozialer Beziehungen. Mit ähnlichen anthropologischen
Annahmen wie Machiavelli wird erst omas Hobbes das Naturrechtsdenken an
den Rand des metaphysischen Abgrunds treiben und die „Entzauberung der
Welt“ 694 auf philosophische Grundlage stellen, dabei durch seinen Versuch, die
Verbindung von Menschen im Staatswesen auf naturwissenschaftlichem Funda-
ment zu fassen, die systematische Grundlage für die politische Philosophie der

693
Kersting, Hobbes zur Einführung, S. 27.
694
Dieser Begriff von Max Weber umfasst die Idee, dass „[d]ie zunehmende Intellektualisierung und
Rationalisierung […] also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen
[bedeutet, M. H.]], unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen da-
von oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß
es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß
man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet:
die Entzauberung der Welt.“ Vgl. Weber, Wissenschaft als Beruf. Den Weber’schen Begriff nimmt
Charles Taylor auf und deutet jene Entzauberung der Welt als fundamentalen Wendepunkt auf
dem Weg zur Neuzeit, weil sie die Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft deutlich macht,
die den okzidentalen Rationalismus seit Beginn der Neuzeit grundlegend prägt. Vgl. Taylor, Das
Unbehagen an der Moderne, S. 11.
286 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Neuzeit überhaupt legen. Freilich wird mit dieser Herangehensweise auch Hob-
bes das Problem, wie dem Menschen nach einem Verlust der von Gott geordne-
ten Weltanschauung überhaupt noch irgendein Wert, geschweige denn eine be-
sondere Würde, beizumessen wäre, nicht lösen können, sondern wie Machiavelli
eher noch verschärfen. Das wird besonders durch eine Anthropologie ersichtlich,
die den Menschen aus jeder metaphysischen Bindung herauslöst und seinen indi-
viduellen Wert nur in instrumentell-rationalen, ökonomischen Kategorien be-
stimmt. 695

D.3.b omas Hobbes: Würde durch Selbstaufgabe der bürgerlichen


wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Moralfähigkeit

Die drei Tendenzen Individualität – Selbsterhaltung – Gestaltungswille, welche


die grundsätzliche Perspektive des Machiavelli’schen Denkens bilden, stellen auch
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

den ideengeschichtlichen Hintergrund bei omas Hobbes dar, der in seinem


philosophischen Hauptwerk ‚Leviathan‘ 696 mit (natur-)wissenschaftlicher Metho-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dik der Frage nachgeht, wie sich vor dem Horizont der materialistischen Anthro-
pologie der anbrechenden Neuzeit Gesellschaftsstruktur, positives Recht, exekuti-
ve Ordnung und Herrschaft so begründen lassen, dass dabei auf eine vorgängige
Idee des Staates verzichtet werden kann, welche individuelle Verpflichtungen ge-
genüber Gott inhäriert oder von einer metaphysischen Begründung der Stellung
des Einzelnen in der Gesellschaft ausgeht.
In starkem Gegensatz zur inhaltlich substantiellen und am Guten orientierten
Vorstellung der menschlichen Wesensnatur im politischen Aristotelismus redu-
ziert Hobbes, einer „der größten Selbstdenker aller Zeiten“ 697, den Menschen
anthropologisch auf eine radikal individualisierte Triebnatur: es ist das grundle-
gende Wesen des Menschen, alle potenziellen Lebensziele unter der Maßgabe des
hedonistisch orientierten Eigeninteresse zu bewerten. Weil der Mensch durch
seine Natur ganz eigenbezogener, individueller Trieb ist, befindet er sich ohne
ordnende Macht im Naturzustand 698, den Hobbes als abstraktes Gedankenexpe-
riment einführt. Die Menschen streben der Hobbes’schen Anthropologie zufolge
im Naturzustand, welcher zur Voraussetzung natürlich hat, dass es noch keinen
Souverän und auch nicht Recht noch institutionelle Ordnung gibt, nach zwei
Dingen: zum einen wollen sie den eigenen Tod vermeiden, und sie wollen ihre
Lust auf Genuss befriedigen. Durch das ständige Streben der Menschen nach Er-

695
Vgl. für eine Zusammenfassung dieses neuzeitlichen Menschenbilds, das Hobbes für seine Ver-
tragstheorie nutzbar macht, das Kapitel ‚Die soziale Disziplinierung: Das Mensch als ‚Objekt‘‘,
aus: Bauer; Matis, Geburt der Neuzeit, S. 315-345, dort besonders S. 321.
696
Die Kapitelangaben der folgenden Stellen aus dem ‚Leviathan‘ beziehen sich auf: Shapiro, Ian
(Hg.) (2010), Leviathan . Or the Matter, Forme, & Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and
Civill, New Haven: Yale UP. Im Folgenden: Hobbes, Leviathan.
697
Klenner, ‚Einführung‘, S. XIII.
698
Vgl. Hobbes, Leviathan, Kapitel 13.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 287

füllung ihrer Genusslust sind aber auch die vorhandenen Güter stets knapp,
wodurch ein kämpferischer Wettbewerb um alle Güter entbrennt. Weil anderer-
seits alle Menschen von Natur aus gleich sind, das heißt durch ihre Verstandesleis-
tung ihre körperlichen Unterschiede ausgleichen können, kann letztlich keiner
die Oberhand über den nächsten gewinnen: in der biologischen Natur des Men-
schen sieht Hobbes (wie bereits geschildert: auch Machiavelli) damit begründet,
dass es keinen natürlichen Herrscher geben kann. Doch auch wenn im Naturzu-
stand nach Maßgabe der Hobbes’schen Anthropologie eine grundsätzliche
Gleichheit aller Menschen gilt, so ist es doch eine Gleichheit, die vor allem nega-
tiv durchstimmt ist: jeder Mensch ist durch seine hedonistische Triebnatur
gleichermaßen ein Überlebensrisiko für seinesgleichen. Da nun jeder Mensch
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

prospektiv damit rechnen muss, dass seine Güter durch andere gewaltsam geraubt
werden, herrscht ein ständiges Misstrauen zwischen allen Menschen, und als vor-
beugende Maßnahme müssen die Güterbesitzenden stets versuchen, Konkurren-
ten zuerst anzugreifen, um den strategischen Vorteil auf ihrer Seite zu halten.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Gleichzeitig streben die Menschen aber auch nach Ruhm, was sie dazu nötigt, an-
deren Menschen höchste Wertschätzung abzunötigen, oder aber den Ruhm ande-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

rer Konkurrenten zu schädigen.


Es ist damit gleichsam die Natur des Menschen, die durch Hobbes‘ Nachweis
des menschlichen Materialismus und Hedonismus als kontinuierlicher Konflikt-
herd die Ursache des berühmten ewigen ‚Krieges aller gegen alle‘ ist. Durch stän-
dige Gefahr und Konkurrenzdruck bedroht wird kein Mensch weitergehende
Ziele verfolgen können, als sein nacktes Überleben zu sichern; durch die mensch-
liche Natur werden alle „weitergehenden Aspirationen“ 699 bezüglich allgemeiner
Entwicklung der Lebensumstände und des kulturellen Fortschritts zunichte ge-
macht. Denn obwohl der Mensch im theoretischen Abstraktum des Naturzu-
stands absolut frei ist, so ist er dort doch auch durch Wettbewerb mit anderen,
durch Ruhmsucht und durch Misstrauen, absolut unsicher, sein Leben mit der im-
merwährenden Gefährdung durch Gewaltakte anderer „solitary, poor, nasty, bru-
tish, and short“ 700, wie Hobbes in seiner berühmten Formel schreibt. Es ist daher
vor allem die Todesfurcht, die den Menschen dazu bewegt, den Naturzustand
verlassen zu wollen. Weil in der andauernden Gefährdungssituation des Naturzu-
stands durch den einzelnen Menschen überhaupt nichts erreicht werden kann,
was das Leben verbessert, entspringt die Motivation zum Beenden des Naturzu-
stands endlich auch der Lust auf Dinge, die das Leben angenehmer machen, so-
wie die Hoffnung darauf, jene durch Fleiß erlangen zu können. 701 Der Natur-
zustand ist somit für Hobbes die schärfste Kontrastfolie menschlicher Kultur-
leistung; es gibt dort „no place for industry, because the fruit thereof is uncertain;
and consequently no culture of the earth; no navigation, nor use of the commodi-
ties that may be imported by Sea; no commodious Building; no Instruments of

699
Nida-Rümelin, ‚Bellum omnium contra omnes‘, S. 109ff.
700
Hobbes, Leviathan, Kapitel 13, §9.
701
Pinzani, An den Wurzeln moderner Demokratie, S. 106f.
288 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

moving and removing such things as require much force; no Knowledge of the
face of the Earth; no account of Time; no Arts; no Letters.” 702
Der Entschluss, diesen Naturzustand zu verlassen, entspringt dem Willen der
Menschen zum Frieden, mithin dem Ausgang aus einer immerwährenden Unsi-
cherheit und als Schutz vor einem gewaltsamen Tod, der aus der Rechtlosigkeit
und Amoralität des Naturzustands resultiert. Ein Willen, der den Staat in einem
gleichzeitig wechselseitig geschlossenen Vertrag als Kunstprodukt, als menschliches
Artefakt und als altera natura in Geltung setzt. Erst in der symmetrischen Selbst-
entmachtung aller beteiligten Menschen – man kann sagen: in der vollständigen
Aufgabe ihrer eigentlichen Natur zugunsten ihrer dadurch entstehenden zweiten,
dann triebkontrollierten – wird die absolute Gleichheit des Naturzustands zur po-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

litischen Gleichheit der Bürger im Staatswesen. Und ebenso wird in diesem Ver-
tragsschluss die absolute, gleichzeitig sinnlose Freiheit gegen eine beschränkte,
aber nun instrumentell nutzbare Freiheit eingetauscht; durch die strategischen
Überlegungen im Gebrauch der instrumentellen Vernunft wissen alle Menschen,
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

dass sie ihre absolute, dadurch gleichwohl nutzlose Macht gleichzeitig und sym-
metrisch aufgeben müssen, um dann ohne die durch Machtbesitz einiger gefähr-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dete Kooperationsbereitschaft untereinander zum Selbsterhalt und daraus resul-


tierend schließlich auch zu gesellschaftlicher Entwicklung und Wohlstand nutzen
zu können.
Als Ergebnis des Kontrakts sieht Hobbes die Legitimation des Staates in einem
selbst außerhalb des Vertrags stehenden absolutistischen Monarchen, der den Levi-
athan als Staatswesen verkörpert, gewährleistet, weil auf ihn alle Macht der Ver-
tragspartner übertragen wird. Dieser darf und muss letzthin alle verfügbaren Mit-
tel einsetzen, um den mit dem Verlassen des Naturzustands erreichten status quo
des bürgerlichen Friedens dauerhaft zu sichern. Er setzt deshalb sowohl das posi-
tive Gesetz in Geltung, wie er auch den Umgang der Menschen untereinander
und deren Verhältnis zum Staat immer unter der Ägide des Erhalts des Friedens
normiert und verzweckt. 703 Obgleich seine Macht Ergebnis der Selbstentmach-
tung aller Bürger ist, ist er doch in keiner Weise rechtlich selbst an diese zurück-
gebunden; gleichsam als Symbol der Macht steht er mit positivem Absolutheits-
anspruch für alle Mittel, die er für die Fortdauer des Staatswesens als notwendig
erachtet. Deshalb kann er keinem anderem Ziel verpflichtet sein als der Aufrecht-
erhaltung der eigenen Macht: durch den Vertragsschluss steht er in Doppelfunk-
tion für das erhaltene Machtquantum jedes einzelnen Bürgers als auch für den
Staat insgesamt. Eine Aufgabe jener Machtposition würde dementsprechend die
Bürger in den Naturzustand entlassen, was diese aber unter keinen Umständen
dulden können, weil sie sonst in den Naturzustand zurückfallen würden.
Obgleich Hobbes für die Darstellung des Naturzustands und alle daraus fol-
genden begründungstheoretischen Schritte von einer deutlich negativ zu verste-
henden, weil nur lustgesteuerten und strategisch denkenden Natur des Menschen

702
Hobbes, Leviathan, Kapitel 13.
703
Ebd., Kapitel 18.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 289

ausgeht 704, ist dennoch das Ziel der Staatsgründung durch einen gemeinsamen
Vertrag als positiv-rationaler Akt zu werten. Auch wenn der Mensch des Natur-
zustands ein Wolf unter Wölfen ist, ist er sich seiner Möglichkeiten zur Kultur-
schaffung (hier weitestmöglich verstanden) mindestens bewusst und drängt unter
Einsatz seiner instrumentellen Vernunft darauf – also unter Erwägungen des Ei-
gennutzes - langfristige Sicherheit und Prosperität seiner Güter zu sichern. Mit
der freistehenden Begründung und Legitimation des Staatswesens aus dem Ei-
gennutzstreben ökonomisch kalkulierender Individuen schließt Hobbes anderer-
seits im Staate zu verwirklichende allgemeine Zielsetzungen des Guten generell
aus. Schon das dem Kaufmannswesen entlehnte Verfahren des Vertragsschlusses
deutet auf einen offensiven Verzicht metaphysischer Hintergrundannahmen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

durch Hobbes hin und ein letztlich ergebnisoffenes Wesen der im Vertrag be-
schlossenen allgemeinen Ziele des Staatswesens.
Der Staat steht bei Hobbes nicht, wie innerhalb der klassischen scholastisch-
aristotelischen eoriebildung üblich, in seiner idealen Finalität zu Beginn des
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Werkes, von dessen Definition ausgehend dann die Menschen und die unter-
schiedlichen Institutionen in die unterschiedlichen Kategorien seines idealen We-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

sen eingepasst werden. Der Staat ist vielmehr offen konzipiert, in welchem sich
dann die Individuen frei flottierend – freilich natürlich unterhalb des absoluten
Souveräns – ihren Platz erarbeiten dürfen. Durch das Verfahren des eigennutzori-
entierten Vertragsschlusses werden generell kollektive sittliche Ideale oder sub-
stantielle eorien des Guten theorieimmanent von vornherein als sinnlose idea-
lisierte Überformungen des Staatswesens entlarvt; mit der in der Hobbes’schen
Anthropologie angelegten Orientierung am hedonistischen Eigeninteresse und
der daraus folgenden nur eigennutzorientierten Motivation zum Vertragsschluss
müssen die Individuen fremdbestimmten eorien des Guten als übergrifflichen
Oktroyationen gegen ihre eigenen Autonomie entgegenstehen, welche sie gerade
durch die Aufgabe der eigenen Macht im Rahmen instrumentell nutzbarer Frei-
heit zu erhalten trachteten. Der Hobbes’sche Staat kann dadurch nicht anders als
Minimalstaat gedacht werden, der allein der Friedenssicherung dient und den
Rahmen der bürgerlichen Freiheitsgestaltung in engen Grenzen hält.
Gerade weil der Staat bei Hobbes allein in der materialistischen Natur des
Menschen seine primäre Begründung und Legitimation findet, kann er auch
nicht mehr sein und wollen – z. B. eben gerade nicht das Wohlergehen der Bür-
ger aus einer gemeinsamen Idee des Guten heraus fördern – als bereits im Natur-
zustand in den einzelnen Bürgern angelegt ist. Indem Hobbes zuerst die Gesetze,
Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Verhaltens systematisiert, kann er
die Grundlagen eines funktionierenden politischen Systems nur innerhalb eines
Rahmens begründen, der jenen Grundgesetzen menschlichen Verhaltens Rech-
nung trägt. Der Staat, der am Ende dieser Hobbes’schen Begründungsleistung

704
Wobei Hobbes im Leviathan außerhalb des Gedankenexperiments des Naturzustands eine reich-
haltigere Anthropologie annimmt. Siehe hierzu: Pinzani, An den Wurzeln moderner Demokratie,
S. 102f.
290 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

den Menschen gegenübersteht, kann dementsprechend nicht als das zu verwirkli-


chende Ideal auf das projiziert werden, was der Mensch zur Maximierung eines
Allgemeinwohls wollen soll, sondern er tritt den Menschen als letzte Einhegung
ihrer gegeneinander gefährlichen Interessen entgegen, als Moderator ihres allein
hedonistischen Willens. In dieser Lösung liegt die Kühnheit der Hobbes’schen
Philosophie begründet, wie Julien Freund anmerkt, denn mit der Grundlegung
des Staats in der biologischen Verfasstheit und nicht in der eologie oder in den
nur metaphysisch fassbaren Wurzelgründen einer menschlichen Strebensnatur
wird der Staat zum ersten Mal als ausschließlich künstliche Maschine gefasst, der
neben seiner „koexistenzverbürgenden Funktion keinerlei Sittlichkeitsdimensi-
on“ 705 hinsichtlich eines anzustrebenden bonum commune aufweisen muss. 706
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Hobbes richtet sich also mit seiner politischen Philosophie in dreierlei Hin-
sicht gegen frühere, im Zeichen der aristotelischen Gesellschaftstheorie stehende
Begründungsversuche des Staatswesens: Weder kann mit der Entstehung des
Staates aus einem Naturzustand durch Vertrag die Gesellschaft als von Gottes
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Gnaden gewollt und geordnet angesehen werden, noch ist Hobbes‘ Vertragstheo-
rie mit der aristotelischen Ansicht kompatibel zu machen, dass der Mensch von
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Natur aus ein gesellschaftliches Wesen ist. Weiter muss Hobbes angesichts seiner
anthropologischen Konzeption auch die Idee ablehnen, dass der Mensch von Na-
tur aus einen Trieb zur Gesellschaft verspüre. 707 Indem der Entschluss zum Ver-
trag einer vernünftigen Entscheidung, Interessenabwägung und -verfolgung unter
dem Motiv des individuellen Selbsterhalts gehorcht, müssen von Hobbes letzt-
endlich alle eorien verworfen werden, die das Streben nach einem Staatswesen
in der Natur des Menschen selbst angelegt sehen wollen. Der Mensch als freie
Person, als nur sich selbst und seinen Interessen verpflichtetes Individuum, muss
mit Hobbes als Urheber jeder staatlichen Setzung angesehen werden.
Mit dieser Grundlegung leistet Hobbes auch noch etwas anderes, das für die
Stellung des Menschen in der Welt der Neuzeit von besonderer Wichtigkeit sein
wird: indem er die seit Aristoteles vertretene natürliche Anlage zum Staat als We-
senskern aus der Natur des Menschen herauslöst, wird das Individuum als eigen-
ständige Person, die allein aus ihrem Wesen heraus anthropologisch gedeutet
werden kann, überhaupt erst als Einzelnes innerhalb der politischen Philosophie
greifbar. Denn, wie Julien Freund weiter festhält:
„[w]äre der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen und nicht ein autonomes, in
seiner Wahl freies Individuum, so wäre die Anthropologie zugleich Politik. Das
würde bedeuten, daß man den Menschen als ein Element eines ihm präexistieren-
den Ganzen verstehen müßte. Allein die Analyse der präexistenten Gesellschaft

705
Kersting, Hobbes zur Einführung, S. 29.
706
Vgl. Freund, ‚Anthropologische Voraussetzungen zur eorie des Politischen bei omas Hob-
bes‘, S. 107f. So auch schon Carl Schmitt, der festhält, dass Hobbes „gegen die politische eo-
logie in jeder Form seinen großen zeitgeschichtlichen Kampf“ geführt habe. Vgl. Schmitt, Der
Leviathan in der Staatslehre des omas Hobbes, S. 22.
707
Vgl. Freund, ‚Anthropologische Voraussetzungen zur eorie des Politischen bei omas Hob-
bes‘, S. 108.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 291

würde es erlauben, den Menschen zu erklären. […] Das will heißen, daß die Oppo-
sition zwischen Mensch und Gesellschaft nur dann einen Sinn hat, wenn vorausge-
setzt wird, daß der Mensch ein isoliertes Individuum und nicht ein unmittelbar so-
ziales Wesen ist.“ 708
Hobbes setzt, wie beschrieben, als Zentrum seiner Anthropologie das völlig indi-
viduelle und von anderen Menschen unabhängige Subjekt, das in existentieller
Weise und ohne metaphysische Bindung sein eigenes Leben gestalten muss, und
der unabhängig von den Prinzipien der Gesellschaft existieren kann, weil er nur
so den Staat als vertraglich gewolltes Artefakt und damit als Produkt des Men-
schen ausweisen kann. Erst in dieser Hobbes’schen Volte wird letztlich der Staat
als völlig dem menschlichen Willen unterworfen bewusst und als vom Menschen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

gemachte Maschine objektivierbar gemacht. Auf der anderen Seite transzendiert


der Staat das Wollen des menschlichen Willens aber auch ab dem Zeitpunkt sei-
nes Entstehens in entscheidender Weise, indem er nämlich vermittelt zwischen
der Anarchie des Urzustands und der dort zwar gegebenen, jedoch unwirksamen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

absoluten Freiheit und andererseits, indem er die Bürger nicht in einem Staats-
ganzen kollektivistisch aufgehen lässt, sondern auch während seines Bestehens
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

immer auf die individuellen Menschen als Ursprung seiner Macht verweist.
Indem Hobbes sein Vertragsmodell in Genese und Ergebnis völlig an den Sei-
len der kontingenten Wirklichkeit aufhängt, wird auch die moralische Bewertung
von Bürger und Machthaber ihren metaphysischen Bezugspunkt enthoben und
nur innerhalb jener Kontingenz des objektivierten Leviathans ausdeutbar. Musste
der Machthaber des Mittelalters seine besondere Dignität als Mittler zwischen
Absolutem und kontingenter Welt dadurch erweisen, dass er dem sittlichen Auf-
trag seiner von Gott geschenkten Herrschaft Folge leistete, und also sein Lebens-
ideal an der Maximierung des Gemeinwohls orientierte, so konnte auch der Bür-
ger seine soziale Dignität dadurch gewährleisten und aufrecht erhalten, indem er
den ihm zugewiesenen Platz in der Gesellschaft unter der Maßgabe des Gemein-
wohls als den seinen annahm. Die Orientierung an den Idealen des Staates ver-
zweckt moralisch jedes Mitglied in wechselseitiger Relation. Durch den Wegfall
des Absoluten in der Hobbes’schen eorie ist der Herrschende nun jedoch allein
den Bürgern und ihren Interessen verpflichtet, die er kühl moderieren und nach
außen mit aller Härte vertreten muss.
Nun wäre anzunehmen, dass er den Bestand seiner Macht nicht legitimato-
risch durch richtiges Verhalten dem Absoluten gegenüber sichert, sondern indem
er den dauerhaften Willen der Bürger zur Perpetuierung seiner Stellung als
Rechtsgarant erheischen muss. Damit ginge einher, dass man dem Herrscher zwar
nicht aus sittlichen Gründen die Legitimation entziehen kann, wohl aber aus
rechtlichen Gründen – nämlich dann, wenn der Herrschende die Rechte und
Pflichten der Vertragsgrundlage verletzt, er seiner eigentlichen Zwecksetzung

708
Ebd., S. 119.
292 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

nicht nachkommt. 709 Diesen Punkt sieht Hobbes gleichwohl noch nicht, weil der
Herrscher als letztlich außerrechtliches Wesen das Recht in seiner Person erst
setzt, er als Souverän mit Vertragsschluss ex nihilo entsteht. Weil es überhaupt
kein Recht im Naturzustand gibt, kann der Souverän dementsprechend durch
keine vorgängige rechtliche Vereinbarung im Vertrag in seiner Herrschaftsbefug-
nis gebunden werden. Die Unterordnung der Bürger unter den Souverän ist bei
Hobbes damit noch absolut. 710
Für die Existenz einer normativen Moral bedeutet das Hobbes’sche Vertrags-
modell, dass frühestens mit dem Verlassen des Naturzustands und erst dann im
Verhalten des Bürgers gegenüber dem durch den Souverän gesatzten positiven
Gesetz, die Einsicht in (intersubjektiv geteilte) Beschreibungen von Gut und Böse
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

realistisch wird. Das positive Gesetz bildet den alleinigen normativen Maßstab,
an dem sich eine Wertung über Gut und Böse treffen lässt. Davor können die
Menschen zwar bereits gegen ein bei Hobbes inhaltlich ganz unsubstantiell ver-
fasstes Naturgesetz 711 verstoßen, aber es fehlen den Menschen die Begriffe, jenen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Verstoß in anderen Begriffen als den der Sünde, der eben gerade nicht intersub-
jektiv zu klären ist, zu fassen. 712 Ebenso ist das Verbrechen als Verstoß gegen das
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Recht erst im Staatswesen möglich, weil frühestens dort in der Person des Souve-
räns die Institution existiert, die das Recht als objektive Norm entstehen und den
Bürgern als Institution entgegentreten lässt. In letzter Instanz ist das Naturrecht
bei Hobbes dadurch also weitgehend substanzlos und für die Hobbes’sche Be-
gründungsleistung irrelevant, weil es, sobald der Vertrag geschlossen wurde, hin-
ter die positiven Gesetzesnormen zurücktreten muss, die allein als Richtschnur
und Bewertung des Handelns unter der Ägide des Souverän dienen können. Mit
der Selbstentmachtung der Individuen im Vertragsschluss geht deshalb eine
Selbstentrechtlichung und Selbstentmoralisierung der menschlichen Natur ein-

709
Diese Lesart der Hobbes’schen Philosophie stellt Ludwig Siep neben das ‚Entäußerungsmodell‘,
das die völlige Aufgabe der Rechte durch die Vertragspartner zum Verlassen des Naturzustands
bedeutet, sowie eine vollständige Irreversibilität des Vertrages voraussetzt. Vgl. Siep, ‚Vertrags-
theorie – Ermächtigung und Kritik von Herrschaft?‘, S. 132f sowie 134ff.
710
Absolut in dem Sinne, dass dem Souverän rechtlich nicht beizukommen ist. Im Falle einer Ge-
fahr für Leib und Leben konzediert Hobbes allerdings eine Unterordnung der Vertragspflicht un-
ter das Naturrecht. Es besteht dementsprechend ein Recht auf Gegenwehr bei Todesstrafe und
durch auf der Flucht eingezogene Söldner, die keinen Sold erhielten. Vgl. Hobbes, Leviathan,
Kapitel 14, §29.
711
Das Naturgesetz wird von Hobbes als „eine von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allge-
meine Regel, nach der es einem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein Leben vernichten
oder ihn der Mittel zu einer Erhaltung berauben kann, und das zu unterlassen, wodurch es seiner
Meinung nach am besten erhalten werden kann (Hobbes, Leviathan, Kapitel 14)“ gefasst. Dieser
imperativische Satz wird allerdings in Kapitel 15 unterlaufen, wo Hobbes schreibt: „Diese Wei-
sungen der Vernunft werden von den Menschen gewöhnlich als Gesetze bezeichnet, aber unge-
nau. Sie sind nämlich nur Schlüsse oder Lehrsätze, die das betreffen, was zur Erhaltung und Ver-
teidigung der Menschen dient.“ Hobbes Lesart des Naturgesetzes ist mithin also nicht im Sinne
des klassischen Naturrechts zu verstehen, sondern im Sinne einer prudentiellen Ethik, die das
Verhalten an wünschbaren Ziele orientiert. Auch im Naturzustand existiert kein objektiver Mo-
ralmaßstab, sondern es existieren allein die subjektiven Meinungen der Verhandlungspartner.
712
Vgl. Hobbes, Leviathan, Kapitel 27.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 293

her, die jedes Individuum dem Leviathan unterwirft, dessen Bestandteil er zu-
gleich ist. 713 Eine moralische Selbstbeurteilung ihrer Handlungen nach gut und
schlecht kann für die Bürger laut Hobbes überhaupt nicht gelingen, weil sie jenes
Urteil ‚nach ihren Leidenschaften‘ fällen würden, was in letzter Instanz, durch
den dadurch aufbrandenden ‚Krieg der Meinungen‘ gefährlich für den Fortbe-
stand des ganzen Staatswesens wird.
Von diesem Standpunkt aus ist klar, dass Hobbes eorie einen zentralen
Wendepunkt in der politischen Philosophie einnimmt, weil mit ihr die Relevanz
des Individuums erstmalig auch aus der Perspektive der Sozialität her als bestim-
mend gefasst wird. Es ist Hobbes zu konzedieren, dass er mit der Postulierung des
‚Leviathan‘ die Tür zur modernen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit al-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

len Phänomenen des Sozialen aufgestoßen hat. Andererseits geht auf der Grund-
lage seiner mechanistischen Anthropologie ein Gutteil vorher entwickelter, sub-
stantieller anthropologischer Konzeptionen verloren, ein Verlust, der kongruent
zu den weitreichenden Konsequenzen steht, die Hobbes dann für die Stellung des
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Souverän und seiner Absolutsetzung an den Fäden der Macht erschließen muss:
weil der Mensch durch seine Natur ein für sich gefährliches und andere gefähr-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

dendes Wesen ist, müssen zum Ziele einer friedlichen Koexistenz der Menschen
feste äußere Grenzen um das Handeln des Menschen und seinen Umgang mit
anderen im Symbol der absoluten Macht des Souveräns gezogen werden. Sozialer
Friede ist durch die Natur des Menschen die Maximalforderung an die Gesell-
schaft und die sozialen Kohäsionskräfte, alle darüber hinaus verweisenden Ideen
des Guten und Forderungen an staatlich zu garantierendem Wohlergehen werden
als Ideale zurückgewiesen werden müssen, weil sie im naturalistischen Weltbild
Hobbes keinen Platz finden. So ist erst durch die Existenz des Souveräns das
Handeln des Menschen durch die von ihm positiv gesetzten Normen bewertbar,
werden ethische Wertungen überhaupt erst möglich gemacht. Das Gute ‚an sich‘
das den vormaligen politischen Aristotelismus als strukturelles Merkmal durch-
zog, wird durch Hobbes vollständig aufgegeben.
Als Antwort auf die Auflösung des verbindlichen äußeren metaphysischen Ord-
nungsrahmens steht Hobbes Ansatz der politischen Philosophie für eine mögliche
Konsequenz, die sich aus jener Auflösung ergibt; nämlich im Vertragsrecht zwi-
schen Menschen eine weltimmanente Lösung für die Entstehung sozialer Verbin-
dungen und moralisch verbindlicher Normsysteme zu finden. Auch wenn Hob-
bes dem Menschen an sich keine dezidierte Rechtsfähigkeit zuweist (das ist ja
auch – wie Hobbes konzediert – im Naturzustand gerade nicht möglich, weil je-
ner ohne den Souverän ein in jeder Hinsicht rechtfreier Raum ist), wird nun aber
doch der Weg schemenhaft erkennbar, der zum Menschenrechtssystem der Neu-
zeit, endlich auch zum modernen Begriff der Menschenwürde führen wird: es ist
die Möglichkeit, Menschen als wechselseitig vertragsmäßig gebundene Rechtssub-
jekte anzusehen, die sich gegenseitig ihre Rechte und ihre Moralfähigkeit anerken-
nen. Die Achtung, unter der Menschen sich begegnen, werden dann nicht durch
713
Siehe dazu auch Horster, Rechtsphilosophie, S. 32f.
294 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

die Inhalte eines metaphysischen Ordnungsrahmens (etwa in den klassischen


Formen des scholastischen Naturrechts) garantiert, sondern durch den Menschen
selbst, der vernünftigerweise anerkennt, dass, sobald er Achtung und Respekt
durch seine Mitmenschen einfordern möchte, er selbst auch anderen Achtung
entgegenbringen muss. Das Recht hätte dann die Aufgabe, die Einhaltung dieses
Vertrags zu überwachen, und nicht die Sollgeltung der gegenseitigen Achtung ei-
nes wie auch immer gestalteten metaphysischen Ordnungsrahmens. Auf dieser
gedanklichen Grundlage unterstreicht Charles Taylor, dass das spezifisch Neue
des „neuzeitlichen Abendlandes [ist, M. H.], daß es diesen Grundsatz der Ach-
tung nunmehr am liebsten in der Terminologie der Rechte formuliert.“ 714
Die pessimistische Anthropologie von Hobbes unterwirft den Menschen aber
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

noch dem Rechts- und Moralsystem einer absoluten Herrschergewalt, weil Hob-
bes nur in der Fokussierung der Macht aller Individuen in einer einzigen Person
den Frieden unter den Menschen zu wahren können glaubt. Durch die weitrei-
chenden Befugnisse des Souveräns, die in letzter Instanz in den innersten Da-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

seinsbereich des Menschen hineinreichen können, ist zwar nicht die Daseinsbe-
rechtigung des Individuums bedroht, wohl aber seine Fähigkeit, seine Lebensplä-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ne dem eigenen Maße nach umzusetzen. Stets droht Gefahr, dass seine Ziele
durch den außerhalb des Rechts stehenden Souverän als dem staatlichen Frie-
densgebot unterläufig aufgefasst und deshalb vereitelt werden. Obwohl also die
Individuen ihre Macht aufgegeben haben, um als Einzelne in Frieden leben zu
können, ist es doch der Staat, der das höhere Existenzrecht besitzt. Mit dem
höchsten Ziel des Frieden ist das bestehende Existenzrecht des Einzelnen jenem
stets untergeordnet, mit der Logik, dass alle Maßnahmen durch den Souverän
immer dann rechtfertigbar sind, solange kein Rückfall in den Naturzustand
droht. Das Individuum hat damit solange einen Eigenwert, wie es zur Perpetuie-
rung des Friedens seinen Anteil leistet – ein Wert, der durch Opposition gegen-
über dem Staat notwendig erlöschen muss.
Der grundlegende Spannungsbogen, der die Neuzeit durchzieht und bei Hob-
bes zu einer echten Problemanzeige wird, ist damit wiederum von der Anthropo-
logie durchstimmt. Sie ist zwar im Übergang zur Neuzeit von ihren umfassenden
metaphysischen Ordnungszusammenhängen gereinigt worden, schlägt nun bei
Hobbes aber in ihr gegensätzliches Extrem um: das Bewusstsein um die Würde
des Menschen in seiner Gottesebenbildlichkeit vor dem Horizont einer göttlich
durchwirkten Weltordnung ist zur instrumentellen Würde geworden, die in der
Vernunft der Staatsbildung besteht, mit der sich die eigeninteressegeleiteten
menschlichen Wölfe gemeinsam vor der Schlauheit ihresgleichen schützen wol-
len. Dieser Vernunft ist bei Hobbes jedes institutionelle Unterstützungs- oder
Hilfsethos untergeordnet, sofern dadurch die Kernaufgabe der Friedenswahrung
durch den Souverän mangelhaft ausgeführt zu werden droht. Der Mensch wird

714
Taylor, Quellen des Selbst, S. 29.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 295

insgesamt zu einem zwar naturwissenschaftlich gefassten, dadurch jedoch auch


entmündigtem Objekt von Selbsterhaltungsinteressen. 715

D.4 Immanuel Kant: Der Neuansatz der philosophischen Begründung


von der Würde des Menschen

Mit dem naturalistischen Empirismus, mit dem Hobbes das Wesen des Men-
schen betrachtet, wird der Mensch als ausschließlich instrumentellen Überlegun-
gen gehorchend imaginiert. Hobbes sieht die Entfaltung der persönlichen Le-
benspläne allein dann als möglich an, wenn alle Menschen ihre eigentliche Natur
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

als Ursache latent vorhandener Gewaltpotenziale gemeinsam aufgeben, und die


rechtliche und exekutive Steuerung des Zusammenlebens einem außerhalb ihres
Einflusses stehenden, absoluten Machthaber abtreten. Vor diesem Horizont
zeichnet den Menschen nichts mehr als ‚besonderes Wesen mit besonderen Fä-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

higkeiten‘ aus, er ist vielmehr als ein durch den Staat rechtlich und mit Gewalt-
mitteln zu bändigendes Wesen zu verstehen, das mit dem äußeren Zwang, der
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

ihm durch diesen aufgenötigt wird, überhaupt erst in die Lage versetzt wird, zu
überleben. Es ist in der Zeit der Spätaufklärung schließlich Immanuel Kant, der
der Hobbes’schen Weltanschauung ein moralphilosophisches Modell entgegen-
setzt, das den Menschen nicht als triebgesteuerte Maschine vorstellt, sondern wel-
ches das herausragende Wesensmerkmal des Menschen in seiner Fähigkeit zum
autonomen, vernünftigen Handeln nach der Maßgabe des allgemeinen Sittenge-
setzes erblickt. 716 Der Mensch besitzt mit Kant eine Würde nicht mehr, weil er
abstrakt über bestimmte natürliche Eigenschaften, wie z. B. die Gottesebenbild-
lichkeit, Vernunft oder Freiheit verfügt, sondern weil er selbst sich durch seinen
freien Willen aktiv als moralisches Wesen in einer Welt gemeinsam mit anderen
moralischen Wesen Pflichten und Rechten unterstellen kann, die er auch vor sich
selbst und anderen nach formalen Kriterien als ‚gut‘ und ‚richtig‘ rechtfertigen
kann.
Diese zwischen Empirismus und Rationalismus gelegene Perspektive auf die
Fähigkeit des Menschen, sich als moralisches Subjekt zu verstehen, erklärt sich
aus dem extensiven philosophischen Projekt Kants, nämlich eine Neudefinition
dessen vorzulegen, was der Mensch kraft seiner Vernunft tatsächlich erkennen
kann (epistemische Perspektive), und wie sich das Dasein im Verhältnis zur epis-
temischen Perspektive darstellt (ontologische Perspektive). 717 Mit der ‚kopernika-
nischen Wende‘, die Kant für die Philosophie durch die ‚Kritik der reinen Ver-

715
Vgl. dazu Kreuzbauer, ‚Argumentationsanalytische Betrachtungen zum Begriff der Menschen-
würde‘, S. 45f.
716
‚Entgegensetzt‘ ist hier ganz wörtlich zu verstehen, wie Wolfgang Kersting in einem Aufsatz zum
kritischen Verhältnis Kants gegenüber Hobbes nachweist. Vgl. Kersting, ‚Das „Ideal des hobbes“,
der Kampf und die Anerkennung‘, S. 11-27.
717
Zur begriffsgeschichtlichen Einordnung vgl. Pätzold, ‚Entwicklungen im Verhältnis von Ontolo-
gie und Epistemologie‘.
296 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

nunft‘ vollbracht hatte, wird der Mensch als erkennendes Subjekt im Zentrum
der erkennbaren Welt verortet. Dadurch kann Kant zeigen, dass es philosophisch-
wissenschaftlich unredlich, ja sogar überhaupt unmöglich ist, über transzendente
Vorstellungsobjekte wie z. B. Gott oder dessen Weltgesetz objektiv gesicherte
Aussagen treffen zu wollen, weil jene Vorstellungsobjekte an sich als gänzlich au-
ßerhalb des menschlichen Erfahrungsraums existierend anzusehen sind.
Auch für den Begriff der menschlichen Würde hat diese Neubestimmung der
menschlichen Stellung in der Welt sehr weitreichende Folgen, insofern dadurch
nämlich alle vorher metaphysisch hergeleiteten philosophisch-theologischen Be-
gründungen, oder besser und der Sachlage hier angemessener, im philosophisch-
theologischen Rahmen traditionelle Verwendungsweisen der Menschenwürde
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

weitgehend obsolet werden: während die sozialen Praxen von Würdezuschrei-


bungen an bestimmte Menschen oder Ämter von der Kant’schen kopernikani-
schen Wende in nachvollziehbarer Weise unbeeinflusst bleibt, stellen die vormals
postulierten metaphysischen Vorannahmen zum Erweis einer spezifisch mensch-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

lichen Würde einen letztlich unzulässigen Begründungsversuch dar. Indem Kant


nachweisen kann, dass die ontologische Beweisführung der Scholastik, wie sie
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

insbesondere Anselm von Canterbury entwickelte, deswegen scheitern muss, weil


der Mensch durch seine erkenntnis- und erfahrungsdeterminierende Stellung in
der Welt nicht über das Wissen um die mundane Physik hinaus in die transzen-
dente Welt vordringen kann, um ein dort bestehendes ewiges Gesetz oder seine
Stellung in der Welt von dort her zu bestimmen, ist es mit dieser Einsicht für
Kant letztlich unmöglich geworden, durch logische Schlüsse aus Prädikaten Got-
tes dem Menschen in zu diesen Prädikaten in relativer Abstufung stehende Be-
griffe zuzuweisen. Es ist damit nach Kant erkenntnistheoretisch nicht mehr zuläs-
sig, aus der höchsten Würde Gottes, deren rational-logische Beweisbarkeit in der
Scholastik noch angenommen wurde, deduktiv auf die Würde des Menschen zu
schließen. Aber ebenso kann der Mensch nicht mehr deshalb Person sein, weil
Gott Person ist, er kann nicht deshalb als frei bestimmt werden, weil Gott frei ist,
usw.
In Kants philosophischem System ist gegen die scholastische Methode der ab-
hängigen, relational sich definierenden Seinsbestimmung von Gott her die reine
Vernunft a priori der epistemologische Urpunkt aller ontologischen Verhältnisbe-
stimmungen in der Welt, indem der Mensch der Welt durch seine Erkenntnistä-
tigkeit nun sein Gesetz aufprägt. Mit dieser neuen Ontologie betreibt Kant letzt-
lich die genaue Umkehrung der in der Scholastik vorherrschenden Methode: weil
er als bewiesen ansieht, dass mit ontologischen Argumentationen die Metaphysik
nicht aufgeschlüsselt werden kann, ist es nun der (erkennbar) einzige übriggeblie-
bene Träger des Vermögens der Vernunft, der Mensch, dem durch diese Fähigkeit
und durch seine moralpraktische Teilhabe am Reich der Zwecke der höchste
Wert, nämlich die unbedingte Würde, zukommt. Der Mensch wird von Kant aus
jeder umfassenderen metaphysischen Umklammerung gelöst, seine Vernunft als
frei innerhalb ihrer erkenntnistheoretischen Grenzen ausgewiesen, Grenzen, die
durch die Endlichkeit menschlicher Erfahrung und ihrer Determinierung und
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 297

Kontingenz bestehen. Kant benötigt entsprechend Gott und dessen Prädikate


nicht mehr als das a priori seines Systems, sondern Gott ist nun allein ein durch
die Vernunft des Menschen erkennbares Ideenobjekt, welches die Vernunfttätig-
keit und das moralische Handeln des Menschen a posteriori kohärent macht. Das
Verhältnis von Gott und Mensch dreht sich durch diese Neubestimmung im Be-
griff der Würde geradewegs um: „e idea of God is dependent on human digni-
ty as its source and norm, not human dignity on God.” 718
Dennoch vermeidet es Kant, seinen philosophischen Entwurf vom materialis-
tischen Empirismus her, der Hobbes‘ Leviathan weithin kennzeichnete, zu entwi-
ckeln; der Mensch ist bei Kant nicht blind seinen Neigungen unterworfen, son-
dern er hat eine personale Identität – er muss sich bewusst und vernünftig zu sich
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

selbst verhalten, und er muss sein Handeln gegenüber sich selbst und anderen
Menschen verantwortbaren Maximen unterwerfen können, die er vor seinem in-
neren Gerichtshof zu rechtfertigen hat. 719 Wie sich an der folgenden Interpretati-
on der Herleitung der Würde des Menschen durch den Königsberger zeigen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

wird, prägt Kant die moderne Auffassung der Würde dabei in dreifacher Hin-
sicht: (1) Kant bezieht die menschliche Würde vor allem auf die in sittlichem
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Verhalten entstehende Freiheit, die sie gleichzeitig erst ermöglicht. (2) Die
menschliche Würde ist ein fundamentaler normativer Anker in seiner Moraltheo-
rie. Daraus folgt für seine Rechtsphilosophie (3), dass die menschliche Würde die
Achtung bestimmter Rechte voraussetzt, und vor allem auch der bestimmende
Pol menschlicher Moral- und Tugendpflichten zu sein hat. 720 Besonders dieser
letzte Punkt ist natürlich für die vorliegende Arbeit relevant, insofern damit in
den Blick kommen wird, wie sich angesichts der Perspektive der Neuzeit auf die
Ontologie Hilfe gegenüber bedürftigen oder benachteiligten Mitmenschen recht-
fertigen lassen könnte. Wie sich in dem diesem Kapitel folgenden weiteren Gang
der Argumentation außerdem zeigen wird, ist es die Menschenwürde im Rahmen
der Kant’schen Moralphilosophie, die einen großen Beitrag zum Verständnis der
modernen Menschenrechtsethik leistet, mit der eine sozialethische Einordnung
des Verhältnisses von einer Verletzung der Menschenwürde durch Armut erfol-
gen kann.

D.4.a Der Gang der Argumentation in der ‚Grundlegung zur Metaphysik


der Sitten‘

In der ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten’ untersucht Kant, warum sowohl
die absolute Verbindlichkeit als auch die Prinzipien des Sittengesetzes nicht an-
ders als mit Begriffen, die a priori aus der reinen Vernunft zu gewinnen sind, be-
gründet werden können. Kant verleugnet die Notwendigkeit der instrumentellen

718
Soulen; Woodhead, ‚Contextualizing Human Dignity’, S. 11.
719
Vgl. Fischer; Strub, Grundkurs Ethik, S. 434.
720
Vgl. Soulen; Woodhead, ‚Contextualizing Human Dignity’, S. 11f.
298 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

Vernunft pace Hobbes nicht; im Gegensatz zu jenem tritt nun jedoch der Mensch
als autonom Handelnder in den Mittelpunkt, der durch seine ihm im Vermögen
der Vernunft gegebene Fähigkeit, nach dem allgemeinen Sittengesetz zu handeln,
ja sogar jenes in der Gemeinschaft der vernünftigen Wesen autoritativ zu gestal-
ten, in verantwortlicher Weise mit seinen Mitmenschen umgehen muss. Denn
Kant will durch die „Anerkennung [der autonomen Moral, M. H.] dem neuzeit-
lichen Menschen eine ihm angemessene Handlungswelt verschaffen. […] Dabei
ist ein Begriff von Moral maßgebend, in welcher es um die Anerkennung solcher
Pflichten geht, die dem absoluten Wert des Menschen gerecht werden.“ 721 Der
Königsberger sucht dergestalt nach der Lösung, wie allein durch die Maßgabe der
Vernunft, das heißt letztlich auch: durch den Menschen als dem ontologischen
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

und epistemologischen Mittelpunkt der Welt, eine reine Moralphilosophie zu


entwickeln möglich ist, die weder metaphysisch noch empirisch zu begründen
wäre, die also ihre Begriffe weder aus einem äußeren Ordnungsrahmen noch aus
der Anschauung der menschlichen Natur selbst gewinnt, sondern die aus Überle-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

gungen a priori zur Bestimmung ihrer Begriffe gelangt. 722


Am Ziel steht demnach eine ‚reine’ Konzeption von Moralität, deren Nachver-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

folgung und Rechtfertigung im Rahmen des Sittengesetzes die Menschen nicht


bloß aus instrumentellen Gründen erwägen sollen, sondern um der allgemeinen
Teilhaberschaft an Moralität willen: moralisches Handeln dann verstanden als
innerer Ausdruck des freien Willens zur Selbstgesetzgebung im Rahmen der
menschlichen Vernünftigkeit und Reflexivität. 723 Wie nun argumentiert werden
soll, gelangt Kant auf dem Weg seiner Argumentation zum Ergebnis, dass der
Mensch eine Würde unbedingt haben muss, weil es ohne diese Eigenschaft sonst
keine normative Grundlage für Moralität überhaupt geben könne; ohne diese
normative Grundlage, die schließlich auch die letztverpflichtende Ursache für das
Handeln nach den moralischen Normen bildet, würde die Moralität vollständig
in gegenüber der Pflicht viel schwächeren Klugheitsüberlegungen aufgehen. 724 Es

721
Kaulbach, Immanuel Kants ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘, S. 195f.
722
Vgl. Kant, GMS, AA 04: 388f. Für eine kurze ideengeschichtliche Einordnung des Kant’schen
Programms siehe: Schnädelbach, Kant, S. 11-17.
723
Vgl. „Denn bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetz
gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen [im Original gesperrt, M. H.] geschehen“
Kant, GMS, AA 04: 390. 04-06.
724
In der folgenden Darstellung, die die Menschenwürde als eine zentrale eoriekonzeption inner-
halb der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ausweist, sind große Parallelen zu Steigleders
Vorhaben erkennbar, „die Idee des unbedingt notwendigen Zwecks zum Dreh- und Angelpunkt
(des Prinzips) der Moralphilosophie zu machen“, eine Idee, die eine „beträchtliche Verschiebung
der Gewichte“ gegenüber der ursprünglichen Intention Kants bedeutet, gleichwohl für Steigleder
mit dem Grundtenor der GMS vereinbar scheint. Vgl. Steigleder, Kants Moralphilosophie, S. 66
und Fußnote 12. Auch andere Interpreten gehen davon aus, dass die Idee der Menschenwürde
einen zentralen Stellenwert in der Kant’schen Moralphilosophie einnimmt, so etwa: Santeler, Die
Grundlegung der Menschenwürde bei Immanuel Kant; Hill, Dignity and Practical Reason in Kant’s
Moral eory; Löhrer, Menschliche Würde. Dietmar von der Pfordten stellt allerdings fest, dass die
von Kant verwendeten Begriffszusammenstellungen – jener verwendet ‚Würde der Menschheit‘,
‚Würde eines vernünftigen Wesens‘, auch ‚Menschenwürde‘ – in den unterschiedlichen Kontex-
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 299

ist klar, dass mit diesem Programm und diesem Ergebnis die Überlegungen Kants
zur moralischen Natur und auch zur Sozialnatur des Menschen einen anderen
Fokus haben als seine Vorgänger (und natürlich auch viele seiner Nachfolger),
weil der Stellenwert des Menschen durch seine Autorität über die Existenz von
Moralität absolut und unantastbar wird. 725
Problematisch ist für Kants Unterfangen zunächst der epistemologische Aus-
gangspunkt, nämlich die Prämisse der Neuzeit, dass es durch den Wegfall meta-
physischer Ontologien offensichtlich kein objektiv zu erkennendes Gutes, keine
objektiv in der Natur bestehende normativ wirksame Moral mehr geben kann,
von denen aus sich der Mensch zum guten und richtigen Handeln hin affizieren
lassen kann. Auf diese Problemstellung antwortete Hobbes, wie im vorangegan-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

genen Abschnitt gezeigt wurde, mit einer faktisch ‚Naturwissenschaft‘ geworde-


nen Ontologie und Epistemologie, die alle Phänomene des Sozialen von einem
objektiven Standpunkt aus formalisierend als kausalen Wirkmechanismen unter-
liegend begreift. Kant dagegen will zeigen, dass die Prinzipien des Sittengesetzes
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

im Verbund mit dem menschlichen Willen so wirken, dass jeder Mensch einer-
seits als Autor des Sittengesetzes gelten muss, und der Mensch andererseits aus
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Pflicht und freier Achtung nach dem Sittengesetz zu handeln in der Lage ist. Es
ist diese Doppelfunktion des guten menschlichen Willens (im Sinne von einer-
seits konstitutiver Teilhaberschaft am Sittengesetz und andererseits der freiheitli-
chen Orientierung am Sittengesetz), die den Willen als das einzige Gute an sich
auszeichnet. Deswegen beginnt Kant den Begründungshauptteil der GMS nun
mit folgender Prämisse:
„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken
möglich, was ohne Einschränkung für gut gehalten werden kann, als allein ein guter
Wille.“ 726
Das ist eine zunächst erstaunliche Aussage, weil sie den Begriff der Gutheit auf
eine singuläre Erscheinung reduziert, nämlich den Willen, den der Mensch als
Handelnder bilden muss. 727 Kant konzediert, dass zwar auch die anderen Fähig-

ten relativ unsystematisch, en passant und dadurch auf seltsame Weise inkohärent erfolgen. Von
der Pfordten konzediert dem Begriff der Menschenwürde zwar eine wichtige begründungstheore-
tische Rolle innerhalb der Grundlegung der Metaphysik der Sitten, hält dann aber, angesichts
dieser Inkohärenz, die gerade bei den systematisch ausgefeilten Texten Kants umso deutlicher
auffallen muss, schließlich fest, dass es nicht einer „gewissen historischen Ironie“ entbehre, dass
der Begriff letztendlich gerade in Kants Hauptwerk zur Rechtsphilosophie fehle, obgleich der Be-
griff doch im 20. Jahrhundert gerade dort seine große Karriere gemacht habe. Vgl. Pfordten,
Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, S. 9f.
725
Hierzu gibt auch die vorliegende Arbeit beredt Auskunft (siehe dazu den Unterpunkt C.2 des
dritten Kapitels), in dem die kantianischen Bestimmungen des Wohlergehens des Menschen in
seinen sozialen Bezügen erörtert wurden. Auch die Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘, AA08, die dem
Spätwerk Kants zuzurechnen ist, gibt Hinweise darauf, zu welchen weitreichenden kosmopoliti-
schen Ideengebäuden der Kant‘sche Moralbegriff mit Notwendigkeit führen muss.
726
Kant, GMS, AA 04: 393. 05-07.
727
Friedrich Kaulbach bezeichnet deshalb die Rede vom ‚guten Willen‘ als zweite kopernikanische
Wende Kants neben der in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ ersichtlichen, weil sie die transzen-
300 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

keiten des Geistes, wie „Verstand, Witz, Urteilskraft“ 728, sowie die Eigenschaften
des Temperaments, „Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze“ 729 gene-
rell wünschenswert sein können, aber ohne die Lenkung durch den guten Willen
letztlich durch die menschlichen Neigungen der Gefahr ausgesetzt sind, ins Nega-
tive umzuschlagen. Es ist der gute Wille als das Wollen an sich, der „nicht durch
das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung
irgend eines vorgesetzten Zwecks“ 730 als absoluter Wert besteht. Doch woher be-
zieht der Wille die Fähigkeit, gut zu sein? Woher weiß der Handelnde, dass sein
Willen an sich gut ist?
Die Argumentation, die Kant für diese Überlegung der Vorrangstellung der
Deontologie über den Konsequentialismus im guten Willen anführt, ist komplex,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

und geht von der Prämisse aus, dass keine Fähigkeit eines Lebewesens ohne
Grund besteht. Für ein Wesen, das Vernunft und einen Willen als primäre Fä-
higkeiten hat, zeigt sich allerdings, dass jene Fähigkeiten das Streben nach Glück-
seligkeit und Wohlergehen eher behindern als befördern, weil die menschliche Ra-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

tionalität beim Abwägen von Zielen und den Mitteln dazu – im Gegensatz zum
Naturinstinkt – durch Neigungen oft genug auf Abwege gerät und sich der
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Mensch durch die Erkenntnis, dass er das Gute zwar anzielen, aber nur selten ge-
nug erreichen kann, ständig weiter von echter Zufriedenheit entfernen muss.
Weil also „die Vernunft dazu nicht tauglich genug ist, um den Willen in Anse-
hung der Gegenstände desselben […] sicher zu leiten, als zu welchem Zwecke ein
eingepflanzter Naturinstinkt viel gewisser geführt haben würde, […] so muß also
die wahre Bestimmung derselben sein, einen, nicht etwa in anderer Absicht als
Mittel, sondern an sich selbst guten Willen hervorzubringen.“ 731
Mit der Eingrenzung des richtigen Handelns auf diejenigen Handlungen, die
aus innerer, vernünftiger Überzeugung der Richtigkeit den guten Willen affizieren
und ausgeführt werden, gelangt Kant anschließend zu seinem Pflichtbegriff: jene
Handlungen, welche die Vernunft als aus sich selbst heraus als gut auszeichnet,
werden von Kant als Pflicht gekennzeichnet, und das können ausschließlich jene
Handlungen sein, die um ihrer selbst willen, und nicht wegen einer natürlichen
Neigung oder einer beigeordneten Verzweckung vollbracht werden. Der sittliche
Wert der Handlung findet sich im Prinzip des Willens begründet, sofern jenes
Prinzip aus Achtung vor dem Sittengesetz zur Anwendung kommt. Kant fasst
diese Überlegung in der Synthese zusammen, dass eine „Pflicht […] die Notwen-
digkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz [ist].“ 732 Damit ist aber natürlich

dentale Perspektivität deutlich macht, mit der dem moralischen Subjekt „das Suchen und Finden
der ‚guten‘ Handlungsmaximen möglich wird.“ Vgl. Kaulbach, Immanuel Kants ‚Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten‘, S. VIIf.
728
Kant, GMS, AA 04: 393. 07.
729
Kant, GMS, AA 04: 393. 08-09.
730
Kant, GMS, AA 04: 394. 13-15.
731
Kant, GMS, AA 04: 396. 14-22.
732
Kant, GMS, AA 04: 400. 18-19.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 301

das Gesetz, das dem Willen als orientierendes Prinzip dienen soll, noch nicht in-
haltlich gefasst.
Zur näheren Eingrenzung der Inhalte des Sittengesetztes stellt sich Kant zu-
nächst die Frage, wie dieses nur metaphysische und allein der Vernunft a priori
zugängliche Sittengesetz überhaupt dem Menschen erkennbar sein soll, bzw.,
woher es überhaupt seine autoritative Macht über die Vernunft erhält. Kant geht
grundsätzlich davon aus, dass allein vernünftige Wesen das Vermögen besitzen,
„nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln, oder einen
Willen.“ 733 Da Ableitungen von willentlichen Handlungen aus a priori zu erken-
nenden Gesetzen Vernunft erfordern, ist letztlich der Wille des Menschen selbst
als Ausdruck praktischer Vernunft anzusehen. Wenn aber der Wille fortdauernd
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

durch die praktische Vernunft bestimmt wird, so werden durch den Menschen
die durch das Gesetz als objektiv notwendig erkannten Handlungen auch als sub-
jektiv notwendig erkannt werden müssen, d. h. „der Wille ist ein Vermögen, nur
dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

notwendig, d. i. als gut erkennt.“ 734


Ist damit aber nicht der freie Wille außer Kraft gesetzt, weil der Mensch gar
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

nicht anders wollen kann, als gemäß seiner Vernunft dem Sittengesetz zu folgen?
Anders gefragt: inwiefern kann der Mensch überhaupt moralisch handeln, im
Sinn einer wohlüberlegten Entscheidung, wenn doch sein Wille mit der prakti-
schen Vernunft identifiziert werden muss?
Da der Mensch seine Vernunft oft nicht im reinen Sinne walten lässt, bzw. er
seinen Neigungen zu viel Spielraum bei den Handlungen einräumt, entstehen die
resultierenden Handlungen meist nur ‚zufällig‘, stellt Kant fest, und sie divergie-
ren meist deutlich in Intention und Wirkung von dem im Sittengesetz objektiv
bestehenden Gehalt. Aus der Spannung zwischen dem objektiv bestehenden, aber
durch den Menschen nur unvollständig in Handlungen umgesetzten Gesetz, ent-
steht dadurch eine Nötigung des Willens, nämlich als Imperativ, sich an der ob-
jektiven Vorgabe des Gesetzes zu orientieren. Damit bleibt dem Menschen der
freie Wille erhalten, trotz praktischer Vernunft und objektiv bestehendem, ver-
nünftigem Sittengesetz gegen ebendieses verstoßen zu können. Das objektive Ge-
setz, das die praktische Vernunft zu erkennen in der Lage ist, bildet dadurch aber
gleichsam das Gute als dasjenige, das „aus Gründen, die für jedes vernünftige
Wesen, als ein solches, gültig sind, den Willen bestimmt.“ 735 Weil Menschen aber
in ihrem praktischen Handeln diesen höchsten Pol des Guten nie aus ihrem Wil-
len heraus verwirklichen können, existieren moralische Imperative als Formeln,
die „das Verhältnis objektiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven
Unvollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z. B. des

733
Kant, GMS, AA 04: 412. 27-28.
734
Kant, GMS, AA 04: 412. 32-34.
735
Kant, GMS, AA 04: 413. 19-21.
302 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

menschlichen Willens“ 736 ausdrücken; Imperative welche auf diese Weise als for-
male Motivation zur Handlung nach dem Sittengesetz einzusetzen sind.
In der auf diese Begründung der Motivation zum Handeln nach dem Sittenge-
setz folgenden Argumentation trennt Kant nun die möglichen Imperative in zwei
Klassen auf, nämlich kategorische und hypothetische Imperative. Letzterer be-
stimmt die Handlungen, die als Mittel einen anderen Zweck anzielen, während
der kategorische Imperativ eine Handlung aus sich selbst heraus, als objektiv
notwendig und absichtslos auszeichnet: „[e]r betrifft nicht die Materie der Hand-
lung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern die Form und das Prinzip, wo-
raus sie selbst folgt, und das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesin-
nung, der Erfolg mag sein, welcher er wolle.“ 737 Damit sind die Aufgaben der
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Imperative durch Kant bestimmt: dient der hypothetische dazu, die Mittel zur
Erzielung der Glückseligkeit unter der Ägide von Klugheitsaspekten abzuwä-
gen 738, ist der kategorische Imperativ als der der Sittlichkeit definiert; seine Auf-
gabe ist die nötigende Anreichung des objektiven sittlichen Guten an den Willen.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Als dadurch objektiv notwendiges Prinzip des Willens ist der formal bestimmte
kategorische Imperativ aber, das gibt Kant zu, empirisch überhaupt nicht zu be-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

gründen, weil man in der Realität nicht eindeutig wird bestimmen können, ob
eine willentliche Handlung tatsächlich dem absoluten Anspruch des kategori-
schen Imperativ genügt, oder nicht doch latent hypothetisch ist und damit dem
Eigeninteresse des Handelnden dient, aber eben nicht im Letzten der absoluten
Achtung vor dem Sittengesetz.
Kant folgert angesichts dieses Problems, dass der kategorische Imperativ als
formales Konstrukt ausschließlich a priori bestimmt werden kann, weil nur so
seine unbedingte Allgemeinheit gewährleistet werden kann. Erst mit der Voraus-
setzung der unbedingten Allgemeinheit enthält er nämlich keine Bedingungen,
die seinen Geltungs- oder Entfaltungsbereich wie im Rahmen der hypothetischen
Imperative auf irgendeine Art und Weise einschränken können: er ist dann der
universale Grundsatz des richtigen Handelns und wird bekanntermaßen durch
Kant wie folgt gefasst: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zu-
gleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ 739 Mit diesem allge-

736
Kant, GMS, AA 04: 414. 08-11.
737
Kant, GMS, AA 04: 416. 10-13. Steigleder verweist allerdings auf das Missverständnis, das dem
heute verbreiteten Gebrauch des Urteils einer ‚Gesinnungsethik‘ zugrundeliegt: es werde dabei
nämlich übersehen, „dass der Rekurs auf die ‚Motive‘ zuallererst die Aufgabe hat, eine von dem
‚natürlichen Zweck‘ der eigenen Glückseligkeit unabhängige Ebene der Richtigkeit von Handlun-
gen aufzuweisen“. Kant behaupte nämlich gerade nicht, dass die „sittliche Qualität der handeln-
den Personen von der Richtigkeit ihres Handelns einfach abgekoppelt werden könnte“; „wenn
das moralisch gute Handeln darin besteht, das moralisch Richtige deshalb zu tun, weil es das mo-
ralisch Richtige ist, dann setzt es die Kenntnis des moralisch Richtigen voraus.“ Vgl. Steigleder,
Kants Moralphilosophie, S. 60.
738
Kant stellt nämlich fest, dass die Aspekte der Klugheit nicht als Gebote verstanden werden dür-
fen, sondern als Anratungen, die abgewogen werden müssen. Vgl. Kant, GMS, AA 04: 418.
739
Kant, GMS, AA 04: 421. 06-08. Vgl. dazu auch Höffe, ‚Kants universaler Kosmopolitismus‘, S.
184.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 303

meinen Handlungsimperativ ist aber noch nicht abschließend geklärt, ob denn


dieses Gesetz tatsächlich für alle vernünftigen Wesen gelten könne, d. h. natürlich
der Argumentation entsprechend, ob es denn tatsächlich mit dem Willen aller
Wesen grundsätzlich und unwiderlegbar verknüpft ist, nach dem kategorischen
Imperativ handeln zu wollen. Diese Frage kann Kant zufolge nur innerhalb der
Metaphysik geklärt werden – hier eben in der Metaphysik der Sitten, die den
transzendentalen Rahmen des objektiv-praktischen Gesetzes bildet. 740
Mit dieser Problemstellung gelangt Kant endlich zum Postulat der menschli-
chen Würde in einem mittlerweile zum locus classicus gewordenen Abschnitt.
Kant betont zu Beginn erneut das Vermögen vernünftiger Wesen, den Willen
sich gemäß der „Vorstellung gewisser Gesetze“ 741 zum Handeln für Zwecke be-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

stimmen zu können. Der Mensch als aktiv Handelnder vermag es, sein Handeln
auf Zwecke hin zu orientieren, denen er dadurch, dass er sie verfolgen möchte,
einen intrinsischen und für sich besonderen Wert zuweist. Dieser Wert kann des-
halb aber nur relativ sein, weil der Wert jedes Zwecks ausschließlich im Verhält-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

nis zum handelnden Subjekt als solcher bestimmbar bleibt; durch diese Relation
von handelndem Subjekt, individuell wertbesetztem Zweck und den Mitteln, die
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

zur Erreichung dieses Zwecks notwendig sind, „sind alle diese relative Zwecke
nur der Grund von hypothetischen Imperativen“ 742, welche deshalb nicht verall-
gemeinert werden können.
Der kategorische Imperativ a priori kann deshalb, fährt Kant fort, notwendig
nur in der Existenz eines Daseins erkennbar werden, das einen absoluten Wert
und Zweck an sich darstellt. Durch sein Vernunftvermögen zur Selbstgesetzge-
bung ist es aber niemand anderes als der Mensch als Person, der dieser objektive
Zweck an sich ist, und der deshalb im Umkehrschluss auch andere Menschen
niemals als Mittel zur Erzielung seiner Zwecke gebrauchen darf. 743 Alles, was ein
Zweck an sich und absoluter Wert ist, muss die Willkür einschränken und Ach-
tung gebieten, da ansonsten jeder Wert „bedingt, mithin zufällig wäre […] [und,
M. H.] für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Prinzip angetroffen
werden“ 744 könnte. Dieser Argumentationsgang erschließt sich für Kant also dar-
aus, dass nicht nur ein vernünftiges Wesen als Vereinzeltes sich selbst als Zweck
an sich erkennt (denn dann wäre der höchste Zweck, meint Kant, nur subjektiv
gesetztes Prinzip), sondern dass schlechthin alle vernünftigen Wesen ihr Dasein
und das Dasein der Mitmenschen als Zweck an sich begreifen und es dadurch als
objektives Prinzip in Geltung setzen müssen. Mit dieser Voraussetzung ist dann
der kategorische Imperativ wie folgt zu modifizieren: „Handle so, daß du die
Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jeder-
zeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchtest.“ 745
740
Vgl. Kant, GMS, AA 04: 427.
741
Kant, GMS, AA 04: 427. 19-20.
742
Kant, GMS, AA 04: 428. 1-2.
743
Vgl. Kant, GMS, AA 04: 428.
744
Kant, GMS, AA 04: 428. 31-33.
745
Kant, GMS, AA 04: 429. 10-12.
304 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

So wie Kant vorher in seinen synthetischen Schlüssen dazu kommen musste,


den universalen Charakter des kategorischen Imperativs nicht als Ergebnis empi-
rischer Prozesse ausweisen zu können, stellt er nun fest, dass auch der absolute
Wert des Daseins des Menschen als Zweck an sich grundsätzlich nicht in den Be-
griffen der erfahrbaren Welt fundiert werden kann. Dies folgert für ihn daraus,
(1) dass vom Besonderen, Einzelnen, Subjektiven der Erfahrungswelt und ihrem
dadurch nur relativen Werte nicht auf das Allgemeine geschlossen werden kann
und darf, und (2) weil der Begriff des Zwecks an sich nicht anders als ein Begriff
der reinen Vernunft gedacht werden kann. Aus dem im objektiven Gesetz zur
Darstellung gelangenden Prinzip des Allgemeinen und des Faktums des Indivi-
duums als Zweck an sich schließt Kant, dass jeder Mensch das Vermögen besitzt,
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

nicht allein nach dem Gesetz zu handeln, sondern, indem der Mensch als Zweck
an sich besteht, in seinem Willen selbstgesetzgebend, autonom, zu handeln. Dies
gelingt dem Menschen, weil er durch seine Vernunft auf das Allgemeine und die
anderen Zwecke an sich – seine Mitmenschen – so verwiesen ist, dass er die
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Reichweite seines gestaltenden Willen einerseits aus der Achtung vor der Allge-
meinheit einhegt, in dieser gestaltenden Autonomie sich den anderen Menschen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

aber ebenso als zu achtendes Mitglied der Moralgemeinschaft zu erkennen gibt.


Mit dieser Herleitung sieht Kant bestätigt, warum alle früheren Versuche, das
Prinzip der Sittlichkeit ausfindig zu machen, letztlich scheitern mussten: weil sie
den Menschen nur als Objekt bestehender Gesetze auffassten, die jener anzu-
nehmen hatte; weil in der Philosophie nicht erkannt wurde, dass Heteronomität
das Handeln aus innerer Überzeugung und Pflicht von vornherein vereitelt. 746
Erst durch die im Menschen bestehende innere Spannung, der einerseits auto-
nom handeln kann, andererseits durch sich selbst aber immer auch dem allgemei-
nen Gesetz der Sittlichkeit unterworfen ist 747, zeigt sich der Mensch als dem be-
rühmten idealen Reich der Zwecke unterstellt. Der Mensch ist diesem Reich ange-
hörig, weil er durch sein vernünftiges Wesen dem gemeinschaftlichen objektiven
Gesetz unterstellt ist, zu dem er sich autonom im Wissen verhalten muss, dass
auch alle anderen Menschen diesem Reich der Zwecke zur Grundlegung der ge-
meinsamen Moralität angehören. Autonome, selbstbewusste Moralität entsteht
letztendlich erst in diesem Bewusstsein der gemeinsam geteilten Achtung vor dem
Sittengesetz. 748
Damit wird durch Kant deutlich gemacht, dass der Mensch nicht schlechter-
dings alles wollen kann, sondern dass, begründet in seiner Vernunft, der Wille
sich auf einen allgemeinen, vernünftigen Grundsatz der Moralität beziehen lassen
muss, und dies „nicht um irgend eines andern praktischen Beweggrundes oder

746
Dietmar von der Pfordten sieht in dieser ‚starken Verinnerlichung‘ den großen Erfolg der
Kant’schen Moralphilosophie begründet, denn der „einzelne Mensch wird durch sie in viel höhe-
rem Maße zum moralischen Subjekt, als wenn man ihn einer externen und damit notwendig he-
teronomen Quelle der Moral unterworfen ansähe.“ Vgl. Pfordten, Menschenwürde, Recht und
Staat bei Kant, S. 28.
747
Vgl. Kant, GMS, AA 04: 433. 12-16.
748
Siehe dazu auch: Kos, ‚Identität und Autonomie‘, vor allem Seite 104f.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 305

künftigen Vorurteils willen, sondern aus der Idee der Würde eines vernünftigen
Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt.“ 749 In
einem Rekurs auf seine bereits vorher entwickelte Werttheorie folgert Kant nun
also, dass im Reich der Zwecke alles „entweder einen Preis, oder eine Würde“ 750
hat. 751 Während die subjektiven Zwecke, also diejenigen, die zur Befriedigung
von Neigungen oder Bedürfnissen dienen, einem Marktpreis unterliegen, weil
ihnen die Menschen unterschiedliche, relative Werte zusprechen, hat der Mensch
als Zweck an sich einen „innern Wert, d. i. Würde“ 752, weil er zur Selbstgesetzge-
bung fähig ist und gleichermaßen durch sein Vermögen der Vernunfterkenntnis
des sittlich Gesollten am Urpunkt jeder normativ wirksamen Moralität steht. 753
Diese Würde hat der Mensch allerdings gerade nicht grundlos inne, sondern sie
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

wächst ihm durch seine natürliche Teilhabe am Reich der Zwecke zu. Durch sein
Vermögen zur Autonomie ist dem Menschen durch seine Natur zugleich Anteil
an der allgemeinen Gesetzgebung im Reich der Zwecke verschafft. In seinem
Vermögen zur Autonomie ist der Mensch frei, weil er nur denjenigen Gesetzen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

gehorchen muss, die er „selbst gibt und nach welchen seine Maximen zu einer
allgemeinen Gesetzgebung (der er sich zugleich selbst unterwirft) gehören kön-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

nen.“ 754 Begründungstheoretisch konkretisiert sich damit in diesem Abschnitt ei-


ne vierteilige Argumentationsfolge, die von der Pfordten wie folgt darstellt: „Frei-
heit des Willens  Selbstgesetzgebung (Autonomie)  Mitglied im Reich der
Zwecke und insofern Würde  Selbstzweckhaftigkeit des Menschen“ 755 Zu be-
achten ist bei dieser Folge allerdings, dass sie nicht strikt sequentiell-linear aufge-
fasst werden darf, sondern sich diese Folgenordnung im Menschen gewisserma-

749
Kant, GMS, AA 04: 434. 27-30.
750
Kant, GMS, AA 04: 434. 31-32. In dieser Argumentation Kants lässt sich, sozusagen fokussiert in
einem Brennpunkt, noch einmal das gesamte Programm der Aufklärung nachvollziehen, das auf
Egalität (alle Menschen sind gleich) und Homogenisierung (alle Menschen vermögen das Gleiche)
abzielt. Adorno bemerkt dagegen kritisch, dass das Aufklärungsdenken „quantifizierend und
gleichmacherisch“ sei und es glaube, dass „der Wert der Dinge […] ihr Tauschwert sei“. Vgl.
Horkheimer; Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 23f.
751
Hans Joas merkt hierzu an, dass die Würde vor dem gedanklichen Horizont einer Wertphiloso-
phie erst später als für diesen Rahmen nützlich identifiziert worden ist. Den ‚absoluten Wert‘ des
vernünftigen Wesens auf der Grundlage seiner Selbstzweckhaftigkeit setzt Kant, Joas zufolge, ge-
gen die Ideen des Utilitarismus, „aber der wertphilosophische Sprachgebrauch ist nicht aus Kants
Redeweise hervorgegangen; man hat diesen eher im Rückblick wiederentdeckt, nachdem sich die
neue Verwendung herausgebildet hatte.“ Eine Wertphilosophie bildet sich aber nur dort heraus,
„wo das Vertrauen in die historisierenden Varianten eines Denkens, das die Identität des Wahren
und Guten behauptet, zergeht.“ Wie im historischen Prozess gezeigt wurde, trifft diese Analyse
hervorragend auf den hermeneutischen Zugriff zur Würde des Menschen, der sich immer unab-
hängiger von metaphysischen Normierungszusammenhängen zeigt. Vgl. für beide Zitate: Joas,
Die Entstehung der Werte, 38f.
752
Kant, GMS, AA 04: 435. 4.
753
Zugegebenermaßen beschränkt Kant die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung aber nicht allein auf
den Menschen, sondern auf alle vernünftigen Wesen. Die Würde des Menschen ist damit nur ei-
ne Unterklasse der allgemeinen Würde vernünftiger Wesen.
754
Kant, GMS, AA 04: 436f., 36-1.
755
Pfordten, Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, S. 20.
306 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

ßen als gleichzeitig gegeben darstellt; dem Vermögen des Menschen zur Selbstge-
setzgebung gehört absolute Achtung, weil nur durch sie aller (moralischer) Wert
bestimmbar wird. 756 Kant schließt mit folgendem Diktum: „Autonomie ist also
der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“ 757 Die-
sem Diktum korrespondiert die dritte Formel des kategorischen Imperativs, die
dazu auffordert, „die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allge-
mein gesetzgebenden Willens“ 758 zu wahren.
Mit dieser Argumentation entfaltet Kant eine ganze Reihe von Verhältnisbe-
stimmungen des Menschen zu sich, deren wichtigste aber lautet: der Mensch hat
eine Würde vor allen anderen ihm zugestandenen Attributen, weil er Ursprung,
Subjekt und Objekt aller Moralität ist. Die höchste Achtung, welche ihm laut
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Kant als Zweck an sich zukommen muss, liegt nicht allein darin begründet, dass
er als vernünftiges Wesen nach dem Sittengesetz handeln kann, sondern dass er in
gleicher Weise selbstgesetzgebender Ausgangspunkt zum allgemeinen Sittengesetz
ist. 759 Der daraus folgende epistemische Status des Sittengesetzes ist damit allein
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

756
Vgl.: „Le fondement de la dignité humaine n’est donc aux yeux de Kant ni anthropologique ni
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

théologique; elle ne s’adosse ni au bonheur, ni aux sentiments, ni aux besoins, ni d’une manière
générale à la matière du voloir; […] C’est donc la moralité et elle seule qui fait le prix sans prix de
la personne, autrement dit sa dignité.“ Simon, ‚Le concept de dignité de l’homme en éthique’, S.
269f.
757
Kant, GMS, AA 04: 436, 6-7. Für eine Verteidigung dieses Standpunktes siehe Steigleder, Kants
Moralphilosophie, S. 63f und besonders Seite 65, wo er zustimmend festhält: „Wenn ein hand-
lungsfähiges Wesen davon auszugehen hat, dass es aufgrund des Vermögens reiner praktischer
Vernunft für sich selbst als unbedingt notwendiger Zweck existiert, dann muss es ebenfalls davon
ausgehen, dass auch jedes andere Wesen, welches das Vermögen reiner praktischer Vernunft be-
sitzt, für es als unbedingt notwendiger Zweck existiert. Dies ist deshalb der Fall, weil das Vermö-
gen reiner praktischen Vernunft als zureichender Grund dafür anzusehen ist, dass etwas bzw. je-
mand als ein unbedingt notwendiger Zweck existiert. […] Die solchermaßen Handlungsfähigen
sind daher als darin geeint zu denken, das sie jeweils für sich selbst und füreinander als unbedingt
notwendiger Zweck existieren.“
758
Kant, GMS, AA 04: 436. 6-7. Dietmar von der Pfordten kritisiert an dieser Stelle, dass die meis-
ten Interpreten unangemessener Weise die Würde des Menschen auf die Selbstzweckformel, also
die zweite Form des kategorischen Imperativs, beziehen, obwohl Kant die Würde des Menschen
argumentativ allein im Kontext der dritten Formel (s. o.) erörtert. Vgl. Pfordten, Menschenwürde,
Recht und Staat bei Kant, S. 12f. An späterer Stelle (S. 15f) gibt von der Pfordten allerdings zu,
dass in den Formeln nicht auf divergierende moralische Grundsätze Bezug genommen werde,
sondern – das will seiner Interpretation nach auch Kant so verstanden wissen – das eine Prinzip
des Sittengesetzes von Kant in seinen unterschiedlichen Dimensionen ausgeleuchtet werde.
759
Vor diesem Hintergrund ist Günther Kreuzbauers Vorwurf, dass Kant mit dem kategorischen
Imperativ einen naturalistischen Fehlschluss beginge, indem er vom Sein der Natur auf ein Sollen
schlössen, dadurch zu entkräften, dass in der GMS nicht ein Sollen aus dem Sein folgt, sondern
dass in der Vernunft des Menschen Sein und Sollen faktisch zusammenfallen; anders wäre die
Gleichzeitigkeit von objektivem Gesetz und autonomem Individuum, die Kant im Blick hat, gar
nicht nicht zu gewährleisten. Vgl. Kreuzbauer, ‚Argumentationsanalytische Betrachtungen zum
Begriff der Menschenwürde‘, S. 47. Auch Schnädelbach stellt heraus, dass Kant seine Bedeutung
gerade darin erlange, wo er das klassische Naturrechtsdenken destruiere, indem er es in „zwei
prinzipiell verschiedene und nicht aufeinander reduzierbare Gesetzesarten“ auftrenne: den „Ge-
setzen des Seins und den Gesetzen des Sollens und Gesollten“. Der sachliche Grund für diese Auf-
trennung liegt in der Erkenntnis Kants, dass die Sollensgesetze der Ethik eben nicht in der Erfah-
rung begründet werden können, sondern allein „im Anschluss an die faktische ‚gemeine sittliche
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 307

als ein „Faktum der Vernunft“ aufzufassen, „weil man es nicht aus vorhergehen-
den Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit […] herausvernünf-
teln kann“ 760. Kant will damit deutlich machen, dass sich das Sittengesetz nicht
noch einmal aus einem höheren Prinzip ableiten lassen wird, sondern es selbst das
höchste Prinzip ist. Das Sittengesetz ist deswegen Vernunftprodukt der prakti-
schen Vernunft, und als solches allein durch den Menschen (bzw. vernünftige
Wesen) in Geltung setzbar. 761
Nun lässt sich aber natürlich fragen, wie sich denn der Übersprung von der
Grundlegung der Moralphilosophie Kants in die komplexe Wirklichkeit bewerk-
stelligen lässt, bzw., welche Folgerungen aus dem Diktum der Würde des Men-
schen in Kant’scher Perspektive folgen müssten. Schopenhauers klassischer Ein-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

wand 762 gegen die Kant‘sche Zweckformel aus Gründen einer vermuteten Unter-
bestimmtheit zum Handeln in der Realität lässt sich damit auflösen, dass sich der
kategorische Imperativ als grundlegendes Prinzip der Autonomie bezeichnen
lässt, indem er sich als Gebot „an den Handlungsfähigen in seiner Handlungsfä-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

higkeit richtet und ihn verpflichtet, sein Vermögen reiner praktischen Vernunft
zum Zuge kommen zu lassen.“ 763 In dieser Hinsicht ist der kategorische Imperativ
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

der Zweckformel aber eben gerade nicht uneindeutig, wie Schopenhauer unter-
stellt, weil es überhaupt nicht notwendig ist, ihn in seiner Funktion als Prinzip
der Moralität „unmittelbar auf konkrete Handlungen oder Zielsetzungen zu be-
ziehen“ 764. Er dient in Kants GMS auch schon vielmehr dazu, als normatives
Prinzip der Moralität sui generis bestimmt zu werden, von dessen Fundament
ausgehend dann weitere handlungspraktische Kriterien und Normen formuliert
werden können. Der kategorische Imperativ der Zweckformel enthält sozusagen
die vernunftprägende Prämisse dessen, wie moralische Normen deontologisch
einzig richtig bestimmt werden können, ohne sich nur in diesem Prinzip bereits
erschöpfen zu können. 765

Vernunfterkenntnis‘“ zur Anschauung gelangen können, als ‚Gesetze der Freiheit‘. Vgl. Schnä-
delbach, Kant, S. 77f.
760
Kant, KPV, AA 05: 31. 25-26.
761
Vgl. Bojanowski, Kants eorie der Freiheit, S. 61.
762
Sie lautet wie folgt: „Dieser von allen Kantianern so unermüdlich nachgesprochene Satz, ‚man
dürfe den Menschen immer nur als Zweck, nie aber als Mittel behandeln‘, ist zwar ein bedeutend
klingender und daher für alle die, welche gern eine Formel haben mögen, die sie alles ferneren
Denkens überhebt, überaus geeigneter Satz; aber beim Lichte betrachtet ist er ein höchst vager,
unbestimmter, seine Absicht ganz indirekt erreichender Ausspruch, der für jeden Fall seiner An-
wendung erst besonderer Erklärung, Bestimmung und Modifikation bedarf, so allgemein ge-
nommen aber ungenügend, wenigsagend und dazu problematisch ist“ Vgl. Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, S. 412.
763
Steigleder, Kants Moralphilosophie, S. 113.
764
Ebd., S. 116.
765
Für die dritte Formel des kategorischen Imperativs trifft von der Pfordten ein ähnliches Urteil:
der Einzelne „kann die Erwägung der allumfassenden Selbstgesetzgebung und des totalen Reichs
der Zwecke nicht […] als reale Möglichkeit zur praktischen Anwendung fruchtbar machen, weil
die Totalität der zwecksetzenden Wesen und die Existenz Gottes sowohl in theoretischer als auch
in praktischer Hinsicht bloße Ideen sind.“ Pfordten, Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, S.
17.
308 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

So kann dergestalt erst in einer von den Imperativen ausgehenden, subsidiär


entfalteten Rechts- und Tugendlehre greifbar gemacht werden, wie der kategorische
Imperativ der Zweckformel so in konkrete Normen abzuleiten wäre, dass er in
der Wirklichkeit menschlicher Sozialität seine handlungsanleitende Sinnspitze er-
hält. Entsprechendes gilt für die Würde des Menschen: als Prämisse von einem
Moralsystem, das sich in der absoluten Wahrung der Würde erst als normativ zu
verstehen gibt, gilt sie als das Kriterium, an dem die Verallgemeinerbarkeit von
Normen getestet werden kann. Insofern ist die Achtung der Würde des Men-
schen in der Kant’schen Konzeption nicht direkt als handlungsanleitende Norm
zu verstehen, sondern als das Prinzip von Moralität überhaupt, das Normen und
Rechte determiniert. 766
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

D.4.b Zur Kritik an der starken Stellung der Vernunft


Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Im Zusammenspiel der Würde des Menschen, die in seiner Autonomie wurzelt,


und dem ‚Ist‘ der Vernunft als epistemologischen Ausgangspunkt der Kant’schen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Moralphilosophie bleibt aber schließlich zu fragen, ob Kant den Menschen nicht


allein auf seine Vernunft reduziere und durch die Verortung seiner Würde in sei-
ner Existenz als moralischem Wesen nicht all jene Fähigkeiten ausblende, die ge-
meinhin als zentral zum Mensch gehörig verstanden werden müssen, bzw. der
Mensch in der Anschauung des Sittengesetzes und dem Handeln nach jenem zu
extensiver kognitiver Fähigkeiten bedürfe, der universalistische Formalismus der
Kant’schen Moraltheorie schließlich gar zu einer Überforderung menschlicher
Moralität führen müsste, oder dadurch den Menschen abstrakten, gefühlsfeindli-
chen und damit letztlich wiederum unmenschlichen Gesetzen unterwerfe. 767 Die-
se Kritik lässt sich bis zu den Zeitgenossen Kants zurückverfolgen, und sie ver-
meint heute insbesondere in Grenzfällen des menschlichen Lebens, in denen ein
aktiver Vernunftgebrauch nur eingeschränkt nachweisbar oder zuschreibbar ist,
eine Lücke im Bestehen menschlicher Würde zu erblicken. 768

766
Zur Problematik von inhaltlichen Konkretionen, die mit der weitreichenden Interpretationsbe-
dürftigkeit der Kant’schen Zweckformel einhergehen, siehe: Hill, Dignity and Practical Reason in
Kant’s Moral eory, S. 38.
767
Siehe zu dieser Kritik insbesondere Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, S. 97f.
768
Schon Schiller stellte dem Pflichtenrigorismus Kants den Entwurf einer ‚schönen Seele‘ entgegen,
in der Pflicht und Neigung harmonisiert werden, sich sittliche Anmut und sittliche Würde zur
Bildung eines Charakters gegenseitig ergänzen sollen: „Bei der Würde also führt sich der Geist in
dem Körper als Herrscher auf, [...] Bei der Anmut hingegen regiert er mit Liberalität, weil er es
hier ist, der die Natur in Handlung setzt und keinen Widerstand zu besiegen findet. Nachsicht
verdient aber nur der Gehorsam, und Strenge kann nur die Widersetzung rechtfertigen. Anmut
liegt also in der Freiheit der willkürlichen Bewegungen; Würde in der Beherrschung der unwill-
kürlichen.“ Vgl Schiller, Kallias oder über die Schönheit. Exemplarisch zum Problem der Grenzfäl-
le äußert sich insbesondere auch die Kritik der Care Ethik am Formalismus Kants, mit dessen aus
dem Universalisierungsgrundsatz resultierender Pflichtenethik nicht anschaulich gemacht werden
könne, warum auch Fürsorglichkeit, Anteilnahme und Mitgefühl moralisch verdienstvoll wären.
Vgl. Pauer-Studer, ‚Kant – Vorläufer einer Care-Ethik?‘, S. 83ff. Dagegen: Nagl-Docekal, Jenseits
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 309

Andererseits, so lässt sich gegen diese Einwände vorbringen, will Kant analysie-
ren, was den Menschen grundsätzlich überhaupt nötigen kann, (moralisch auto-
nom) als ein sich selbst verantwortliches Individuum in einer Welt zu handeln,
die von kausal herrschenden Naturgesetzen bestimmt ist, und dadurch an sich
keinen äußeren Freiheitsraum für den Menschen bietet. Der Preis der Freiheit
durch moralische Orientierung an der Allgemeinheit der Zwecke an sich ist nicht
anders zu bekommen, weist Kant in der Kritik der praktischen Vernunft nach, als
durch die Nötigung der praktischen Vernunft durch das Sittengesetz. Den Zu-
mutungen, welche die Kant‘sche Moraltheorie und ihr Formalismus mit sich
bringen, müssen sich Vernunftwesen zum Erhalt ihrer Fähigkeit zur Selbstbe-
stimmung letztlich in positiver Weise immer wieder neu stellen – das ist die Auf-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

gabe, die dem Menschen von seiner Vernunftnatur her gegeben ist, und die auch
durch eine tiefschürfende Vernunftkritik nicht aufgegeben werden darf. 769 Alle
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

der Geschlechtermoral, S. 23-28. Für eine Übersicht der Positionen siehe: Schnabl, Gerecht sorgen,
v. a. Kapitel 4.
769
Zu einer umfassenden Darstellung der Vernunftkritik von Platon bis in die Postmoderne vgl.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Welsch, Vernunft, v. a. S. 32-48. Welsch geht davon aus, dass zeitgenössische Vernunftkritik ih-
rer ganzen Motivation nach „zivilisationskritisch und voller Realitätswahrnehmung“ ist. Sie ge-
winnt ihr Hauptargument deshalb „aus dem Blick auf Schreckensbestände heutiger Wirklichkeit
und sie thematisiert Vernunft als das für diese Wirklichkeit und ihre desaströsen Züge verant-
wortliche Prinzip.“ Diesem Argument der Vernunftkritik, so Welsch, liegen zwei esen zugrun-
de, nämlich zum einen, dass die „heutige Wirklichkeit im wesentlichen durch rationale Prozesse
bestimmt, daß sie Resultat einer Durchsetzung von Vernunft sei“, und zum anderen, „daß der
Zustand dieser Wirklichkeit daher einen Rückschluß auf den Charakter der für sie verantwortli-
chen Vernunft erlaube.“ (Alle Zitate S. 39). Ähnlich argumentiert Hans Jörg Sandkühler in:
ders., ‚Die Wirklichkeit des Wissens‘. Er diagnostiziert für die Gegenwart, dass das Vermögen des
Menschen zur Vernunft (bei ihm gefasst als Vermittlung des Vermögens zur Erkenntnis hinsicht-
lich Geschichtsbewusstsein, Wissen über die Gegenwart und Antizipation dessen, was im Ideal
sein soll) nicht zu einer positiven Neuvermessung des global Möglichen gereicht, sondern im Ge-
genteil die Zielsetzungen des richtigen Handelns verkehrt: „Nicht-Wissen der wesentlichen Ursa-
chen von Hunger, Krieg und menschenrechtsverletzender sozialer, ökonomischer und politischer
Praxis lähmt die mögliche Selbstbestimmung, die das Wissen ihrer Gründe voraussetzt; so daß
schließlich an die Stelle furchtloser Antizipation einer freien, gleichen und solidarischen Mensch-
heit der Zukunft die Verkehrung in Angst und in die entmutigende Furcht vor der Ungewißheit
des nächsten Tages tritt.“(S. 14) Als Ursache dieser Verkehrung des Handelns im Rahmen einer
umfassenden Vernunftangst identifiziert Sandkühler ebenso wie Welsch die wissenschaftlich-
technische Revolution, die zwar objektiv eine epistemische Wissensrevolution ist, welche aber
gleichfalls durch die unübersehbare Komplexität des zu Wissenden zu nur noch fragmenta-
risch/nicht-verdichtetem Wissen des individuellen Subjekts führt, während die Gesamtheit des
rational Gewussten nur noch durch die Gattung vorgehalten werden kann. Individuen können
aber nur dann in Freiheit in der Welt und für die Welt vernünftig handeln, so Sandkühler, wenn
sie ihr Handeln auf der Grundlage von Welt- und Selbstwissen begründen können, sich als Iden-
titäten der Welt gegenübersetzen können. Durch die neue Komplexität des Wissens im Rahmen
der wissenschaftliche-technische Revolution ersticken jedoch „rationale Weltbilder, in denen sich
Wissen zur Einheit totalisiert, in einem chaotischen Prozeß der zunehmenden Fragmentierung
im kognititven System.“ (S. 16) Diese Krise des Wissens droht, „das Universum der Bedeutungen
zu zerstören, die Weltbildsemantik, über die wir verfügen müssen, um uns selbst als Konstrukteure
der möglichen vernunftgemäßen Welt begreifen zu können.“(S. 16). Eine zukünftig angemessene
Existenz des Menschen in der Welt kann dementsprechend nur dann gewährleistet werden, wenn
die Vernunft und mit ihr die Erkenntnisfähigkeit wieder außerhalb wissenschaftlich-technischer
310 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

inhaltlich substantiellen Maximen des Individuums sind partikular, und deshalb


muss es ein die Moralität rechtfertigendes Verfahren geben, zu dem eine univer-
selle Zustimmung potenziell – wohlgemerkt nicht faktisch – möglich ist.
Für die Konzeption der Würde im Rahmen des moralphilosophischen Ent-
wurfs ist bei Kant zusammenfassend festzustellen, dass sie tatsächlich nicht aus
vernünftigem Verhalten ex posteriori entlang der Vorgaben des Sittengesetz er-
folgt, sondern aus der Fähigkeit des Menschen resultiert, autonom handeln zu
können. Darin gehört er dem Reich der Zwecke an und besitzt eine unbedingte
Würde. Die Würde des autonom handelnden Menschen geht dementsprechend
allen rechtsethischen und moraltheoretischen Normen, die aus dem Prinzip des
Sittengesetzes generiert werden können, voraus, insofern sie als prädikative condi-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

tio sine qua non der Moralität und moralischen Handelns zu gelten hat. Der
Mensch gilt als Person, weil er aus diesem Begründungszusammenhang heraus
frei und moralisch vernünftig handeln kann.
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

D.4.c Vom moralischen Handlungsprinzip zum positiven Recht


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Kant konstatiert, das wurde versucht zu zeigen, in der Grundlegung der Meta-
physik der Sitten die Würde des Menschen als begründendes Element der Mög-
lichkeit einer Moralphilosophie überhaupt, weil der Mensch durch sein Vermö-
gen zur Selbstgesetzgebung unter Achtung der Allgemeinheit, d. i. unter Achtung
der Selbstgesetzgebung aller anderen Menschen handelt. Die Würde des Men-
schen ist zentrales Prinzip des Sittengesetzes und dient zur kritischen Rechtferti-
gung daraus entspringender moralischer Normen, indem sie die Notwendigkeit
der Achtung anderer Personen und deren Moralität einfordert. Doch erst in der
Rechtslehre untersucht Kant, wie die zuvor nach den Prinzipien des Moralgeset-
zes rechtfertigbaren Handlungsoptionen zu von externer Seite einsehbaren, nor-
mativen Ordnungsprinzipien unterworfenen äußere Handlungen 770 umgesetzt
werden können 771, und weshalb der Mensch überhaupt Träger von Rechten sein
kann. Aus dieser Perspektive ist schlüssig zu sehen, dass Kant das öffentliche

Rationalismen als humaner Umgang mit der Außenwelt verstanden wird. Vgl. zur Stellung der
Vernunft bei Kant außerdem auch: Lyotard, Der Widerstreit, S. 203f.
770
Wie Dietmar von der Pfordten aufzeigt, ist dieser von Kant verwendete Begriff nicht unproble-
matisch, weil er nicht genauer spezifiziert, wo denn genau die Linie zwischen inneren und äuße-
ren Handlungen verlaufe. Diese Grenze genau zu bestimmen wäre allerdings notwendig, weil nur
dann eindeutig werden könne, wo die Sphäre der Moralphilosophie in die Sphäre des Rechts
übergehe. Er entwickelt im folgenden Abschnitt vier Möglichkeitsformen äußerer Handlungen
und entscheidet sich schließlich für die zweite, nämlich die „im Rahmen von Alltagsbeobachtung
empirisch wahrnehmbare äußere [aktive, M. H.] Zustandsveränderung des Akteurs […], aber –
jedenfalls im Normalfall der Alltagsbeobachtung – nicht mehr die auslösenden Nervenreize.“ Vgl.
Pfordten, Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, S. 29f.
771
Vgl. Steigleder, Kants Moralphilosophie, S. 132.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 311

Recht aus dem Privatrecht entwickelt, weil er nur dadurch garantiert sehen kann,
dass Recht und Moral im Menschen ihre eigentliche Fundierung behalten. 772
Als allgemeines Rechtsgesetz formuliert, lautet sein normatives Ordnungsprinzip
folgendermaßen: „handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit
der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen
könne […].“ 773 Das positive Recht kann diesem kategorischen Imperativ des
Rechts zufolge nichts anderes bedeuten, als dass die äußere Handlungsfreiheit ei-
nes Menschen notwendigerweise an der Handlungsfreiheit eines anderen Men-
schen ihre Grenzen finden muss. Nun könnte man versucht sein, den kategori-
schen Imperativ des Sittengesetzes mit dem des Rechtsgesetzes gleichzusetzen,
weil bei beiden die vorgestellte Allgemeinheit die eigene Willensbildung bzw.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Willkür einschränken muss. Doch ist einschränkend festzuhalten, dass sich das
positive Recht in seiner äußeren Gestalt deutlich vom Moralprinzip des Sittenge-
setzes unterscheidet, indem es nämlich Sanktionen für den Fall bereithält, dass
sich eine Person nicht entsprechend der, der Allgemeinheit geschuldeten, Be-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

schränkung seiner Willkür verhält. Der moralische Verpflichtungsgrad ist hin-


sichtlich der Unterstellung unter das Prinzip des Rechtsgesetzes ein anderer, da
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Personen dem Recht nicht notwendig aus innerer Einsicht folgen werden, son-
dern unter der Berücksichtigung der Folgen, die eine Rechtsübertretung nach
sich ziehen würde. Dadurch entsteht letztlich eine die „Klugheit ansprechende
Motivation, nicht in die Freiheit anderer einzugreifen“ 774, die aber durch den äu-
ßeren Zwangscharakter des positiven Rechts moraltheoretisch weniger bedeutend
ist als die autonome Verantwortlichkeit zur Gestaltung und Einsicht in das Sit-
tengesetz.
Aus dem bisher entwickelten Aufbau der Kant’schen Argumentation zur
Grundlage der Moralphilosophie wird damit zunächst ersichtlich, dass der Über-
sprung vom kategorischen Imperativ als ethischem Prinzip zum positiven Recht
als Ordnungsprinzip einer eigenen Argumentationsleistung bedarf, weil in der Sat-
zung der Rechtsnormen zwar das Universalisierungsgebot und Allgemeinheitsge-
bot eingelöst werden kann, andererseits aber durch die in den Rechtsnormen sich
als objektiv zeigende äußere Form und Geschlossenheit des Inhalts die sittliche
Qualität des Handelnden nicht von Belang ist. Der Mensch hat den Geboten des
Rechts zu folgen, sofern jenes dem Grundsatz der Allgemeinheit genügt, es (das
Recht) wird oder muss deshalb aber nicht noch einmal Gegenstand einer eigen-
ständigen moralphilosophischen Rekonstruktion sein. Das positive Recht selbst

772
Vgl. Horster, Rechtsphilosophie, S. 31.
773
Kant, KPV, AA 06: 231. 10-12.
774
Vgl. Steigleder, Kants Moralphilosophie, S. 133. Diese Klugheit zu ermöglichen, d. h. die Voraus-
setzungen zur Orientierung der Handlungen am positiven Recht aus moralischer Einsicht zu
schaffen, ist allerdings nach Habermas wiederum als Aufgabe des Staates zu sehen, der nämlich
jederzeit gewährleisten muss, dass „einerseits die Legalität des Verhaltens im Sinne einer durch-
schnittlichen, erforderlichenfalls durch Sanktionen erzwungenen Normbefolgung – und anderer-
seits eine Legitimität der Regeln, die jederzeit die Befolgung einer Norm aus Achtung vor dem
Gesetz möglich macht.“ Habermas, ‚Zur Legitimation durch Menschenrechte‘, S. 172f.
312 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

ist dadurch in der Kant’schen Konzeption eine Abstraktion vom Sittengesetz und
in einem Abhängigkeitsverhältnis zu diesem, weil es vom moralischen Vermögen
der Urheber des Sittengesetzes, den vernünftigen Wesen, abstrahiert, und von der
höheren Stufe der Allgemeinheit aus das zu Sollende in eine Zwangsform ver-
weist.
Doch für diese Funktion des positiven Rechts ist es als notwendig zu erweisen,
dass zwischen dem kategorischen Imperativ, dem sich das moralische Subjekt in
seinem Willen unterwirft und dem äußeren Recht eine Verbindung besteht, die
schließlich dazu führt, dass das Recht überhaupt als abstraktes Phänomen der
Moralität ausgezeichnet werden kann und damit also immer noch die Urheber
des Sittengesetzes voraussetzt. 775 Eine in dieser Hinsicht feste innere Verbindung
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

von sittlichem Moralprinzip und äußerem Recht ist schließlich deshalb interes-
sant, weil auf diesem Weg deutlicher nachzuvollziehen sein wird, inwiefern die
Würde des Menschen als Vermögen zur Selbstgesetzgebung und damit als recht-
fertigendes Prinzip des Sittengesetzes an der Satzung und Ausgestaltung des posi-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

tiven Rechts normativ beteiligt ist oder sein muss. 776


Wie Steigleder ausführt, ist jene feste Verbindung von Sittengesetz und positi-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

vem Recht nun darin zu suchen, dass jeder Mensch durch sein Vermögen prakti-
scher Vernunft absoluter Zweck an sich ist und deshalb mit allen anderen Men-
schen im Reich der Zwecke existiert. Der kategorische Imperativ nötig jeden
Menschen, diesem Umstand – d. i. im engeren Sinn die Menschenwürde aller
anderen, und dies bedeutet selbstverständlich auch der extrem Armen und Be-
dürftigen – in seinem Handeln Rechnung zu tragen, ihren, modern gesprochen,
moralischen Status jederzeit und in jeder Situation zu achten. Weil der Mensch
Zweck an sich ist und dadurch eine Würde besitzt, ist sein moralischer Status für
alle anderen pflichtbegründend, ja, er begründet sogar eine vollkommene Pflicht,
sie zu achten und unter allen Umständen ihre Existenz nicht zu gefährden; er be-
grenzt dadurch die Handlungsfähigkeit der anderen Menschen durch seine schie-
re Existenz als Zweck an sich.
Umgekehrt folgt daraus angemessener Weise, so Steigleder, dass „die Pflichten
anderer Personen gegenüber diesen Personen aufgrund ihres Status als unbedingt
notwendiger Zweck ‚geschuldet‘ sind. Dies meint dann, dass der Status der Per-
sonen bestimmte Handlungen und Einstellungen notwendig macht und einfor-
dert. Zugleich ‚schuldet‘ der Handelnde die unbedingte Achtung des moralischen
Status der anderen Person auch sich selbst, denn sie ist ein Gesetz und Gebot sei-
775
Dieses gegenseitig bedingte Verweisungsverhältnis von Moralität als Handeln aus Pflicht und
dem Recht lässt sich auch daraus absehen, dass jener Teil sittlicher Pflichten, der rechtlicher Sat-
zung nicht zugänglich ist, von Kant der Tugendlehre zugesprochen wird und damit „das System
der allgemeinen Pflichtenlehre in das der Rechtslehre (ius), welche äußerer Gesetze fähig ist, und
der Tugendlehre (ethica) eingeteilt wird, die deren nicht fähig ist“. Vgl. Kant, KPV, AA 06: 379.
776
Wolfgang Kersting entwickelt entlang dieses Argumentationsstrangs einen Begründungsversuch
der Menschenrechte; denn „wenn es das Recht eines jeden ist, in seiner Freiheit nur durch allge-
meine Regeln eingeschränkt zu werden, dann impliziert dieses Recht […] ein Recht auf die Ver-
wirklichungsbedingungen von rechtlicher Freiheit.“ Kersting, Die politische Philosophie des Gesell-
schaftsvertrages, S. 194.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 313

ner Vernunft.“ 777 Von diesem Anspruch auf Achtung persönlicher Ansprüche ist
allerdings nur dann angemessener Weise zu sprechen, wenn ebenfalls das Recht
besteht, die Wahrung der ihm geschuldeten Pflicht nötigenfalls zu erzwingen.
Dieses Recht auf Wahrung des persönlichen Anspruchs sieht Steigleder letztend-
lich in der im Verhältnis zum Sittengesetz sich darstellenden „strikte[n] normati-
ve[n] Gleichheit der Menschen in ihrer äußeren Handlungsfreiheit“ 778 begründet.
Der kategorische Imperativ sorgt dafür, dass sich die Menschen als streng sym-
metrisch Gleiche (in ihrer Funktion als autonome Subjekte) verstehen und dieses
Verständnis auf ihre äußere Handlungsfreiheit übertragen, wo sie alle ihre Hand-
lungsspielräume normativ vor den jeweils anderen Personen symmetrisch begren-
zen (müssen). Die Sphäre dieser Handlungsspielräume ist letzthin beides: Er-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

mächtigung zum Ausnutzen des Spielraums im Sinne eines Anspruchsrechts, und


gleichermaßen wohnt der Ausdehnung jeder Sphäre ein strafbewehrtes Verbot
inne, über die Grenze der eigenen Sphäre des Handlungsspielraums hinauszuwol-
len, weil dadurch die Freiheit von anderen Personen im Verfügen über ihre
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Handlungsspielräume gefährdet wird.


Für eine kohärente Verbindung des Rechts mit dem autonomen Moralprinzip
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

greift Kant explizit auf den Begriff der Menschenwürde zurück, der schon in der
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten einen großen Teil der argumentativen
Last zu tragen hatte, nun aber in einer inhaltlich leicht transponierten Bedeutung
erneut auftaucht; Kant schreibt:
„Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmen-
schen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden. […] Die
Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen
(weder von Anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel sondern muß jeder-
zeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die
Persönlichkeit), dadurch er sich über alle anderen Weltwesen, die nicht Menschen
sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt.“ 779
Der Bezug der Würde auf die Menschheit, den Kant hier vornimmt, wird so zu
verstehen sein müssen, dass andere Menschen nicht als Vereinzelte, sondern als
Verweis auf das Allgemeine der Menschheit insgesamt zu interpretieren sind.
Dies verdeutlicht dann erneut die universalistische Perspektive, die dem Sittenge-
setz innewohnt und welche die Würde des Menschen als immer unbedingt zu
achtendes, höchstes Gut ausweist, weil nur so das Recht als auf menschlicher Ur-
heberschaft beruhend begründet werden kann. 780

777
Steigleder, Kants Moralphilosophie, S. 139f.
778
Ebd., S. 140.
779
Kant, KPV, AA 06: 462. 18-26.
780
Mit diesem Umstand eines universalen Rechts und eines ebenso universalen Rechtsanspruchs
wird auch klar, warum Kant in seinem rechts- und politikphilosophischem Spätwerk auf ein
Weltbürgertum abhebt, das sich im Lichte gegenseitiger menschlicher Achtung in einem Frie-
densreich befindet. Vgl. Kant, Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht; sowie: Kant,
Zum ewigen Frieden, beide AA 08.
314 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

In der Voraussetzung der symmetrischen Gleichheit der Menschen unterei-


nander ist auch festgesetzt, warum jeder gegenüber seinen Mitmenschen einen
Rechtsanspruch auf einen maximal möglichen Handlungsspielraum hat: weil die
einzige begründbare Grenze der Handlungsspielraum der anderen ist, und gleich-
zeitig jeder nach dem Maximum strebt, ergibt sich für jeden Menschen logisch
der Anspruch auf einen größten gleichen Teil eines Handlungsspielraums. Mit
der normativ gezogenen Linie, welche die maximalen Handlungsspielräume der
Menschen eingrenzt und sowohl den Rechtsanspruch als auch das Übertretungs-
verbot kennzeichnet, wird es Kant möglich, selbstevidente negative Freiheitsrechte
zu postulieren, denen negative Pflichten des Schutzes, der Achtung und vor allem
auch der Freiheit von Zwang korrespondieren.
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

Auch diese Pflichten werden von der normativen Grenze der Handlungsspiel-
räume her bestimmt und haben dadurch wieder eine doppelte Funktion inne: sie
begründen einerseits den Anspruch jedes Menschen auf die Wahrung seiner
Handlungsspielräume und sie sanktionieren andererseits Grenzüberschreitungen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

der Spielräume. Die Begründung der negativen Freiheitsrechte ergibt sich für
Kant dabei aus einem einfachen Gedankenexperiment: kein Mensch wird akzep-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tieren können, dass sein Anspruchsrecht auf seinen Handlungsspielraum durch


andere verletzt wird, die Achtung, die er als Zweck an sich einfordern darf, vor-
sätzlich durch Instrumentalisierung verletzt wird. 781 Die existentielle Korrelation
von Freiheitsdimension und Handlungsfähigkeit ist im Menschen so tief, nimmt
jedenfalls Kant an, dass das Recht dementsprechend sensibel auf Verletzungen
der normativen Grenze der Freiheitsrechte reagieren muss und sich daraus not-
wendigerweise entsprechende negative Pflichten konstituieren. In Umkehrung zu
den Freiheitsrechten begründen sich deshalb die negativen Pflichten aller Men-
schen im Bewusstsein um den Menschen als Zweck an sich, weshalb ihnen (vor-
sätzliche) Tötungsdelikte, Verletzung und Folter, Raub, Drohungen und Vor-
spiegelungen falscher Tatsachen als Verletzungen absolut untersagt sind.

D.4.d Probleme der Kant’schen Moralphilosophie für eine globale Welt mit
Armut

Diese enge Verbindung von Moral und Recht ist allerdings dann in höchstem
Maße problematisch, wenn sie auf der Überzeugung beruht – und ihr neigte
höchstwahrscheinlich auch Kant zu –, dass die negativen Handlungsverbote im
Allgemeinen immer und unhinterfragt befolgt werden können, weil die Menschen

781
Pinzani weist bezüglich der engen Korrelation von Moral und Recht zu Recht darauf hin, dass
Kant als erster einen engen Zusammenhang beider Bereiche hergestellt hat. Er konstatiert: „Kants
rechtlich-politisches Denken stellt hingegen nicht nur ein zentrales Moment seiner gesamten Phi-
losophie dar, sondern auch ein ausgezeichnetes Mittel, um seine Ethik besser zu verstehen. Beide
– Ethik und rechtlich-politisches Denken – thematisieren nämlich den absoluten Wert des Indi-
viduums als autonomes Wesen.“ Vgl. Pinzani, An den Wurzeln moderner Demokratie, S. 230. Vgl.
dazu auch: Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, S. 74ff.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 315

im Normalrahmen ihrer alltäglichen Interaktionen ihren negativen Pflichten aus


Eigeninteresse relativ mühelos nachkommen werden und intentional normaler-
weise nicht in die Freiheitssphäre anderer eindringen. Aus der heutigen Perspek-
tive auf eine globale Welt, in der sich Handlungen und ihre Folgen vielfach über-
schneiden, berücksichtigt aber Kant nur unzureichend, dass sich aus eigentlich an
sich für Mitmenschen unproblematischen Handlungen kumulative Effekte erge-
ben können, die erst in ihrer Aufsummierung die Handlungsspielräume anderer
negativ beschneiden. Er hat in diesem Kontext ebenso wenig im Blick, dass
„Fernwirkungen von Handlungen […] sowie das Problem einer Uneindeutigkeit
von nur als Risiken erfassbaren Handlungsfolgen“ 782 nicht oder nicht umfassend
genug durch sein Modell negativer Pflichten in objektiv fassbares Recht trans-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

formierbar wird.
Gravierend wird dieses Problem durch die Gefährdung, die der Freiheitsdi-
mension anderer Menschen durch die kumulativen Effekte von Handlungen er-
wächst, insofern es dann nämlich schwierig ist, einzelne Personen aus der diffusen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

Masse der insgesamt Verantwortlichen für ihre Handlungen konkret verantwort-


lich zu machen. Im rechtsethischen Modell von Kant schulden sich die Men-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

schen gegenseitig Achtung aufgrund ihres Status als moralische Subjekte und ver-
pflichten sich dazu, diesen Status unter allen Umständen – auch im eigenen Inte-
resse – zu wahren. Kant muss durch sein moralisches Interaktionsmodell, das
weithin durch direkte Interaktion zu kennzeichnen ist, aber davon ausgehen, dass
bei der Verletzung der Handlungssphäre eines Menschen der oder die Verant-
wortliche für diese Verletzung leicht bestimmt werden kann. Damit hat er letzt-
lich ein Interaktionsmodell vor Augen, das nur den Nahbereich der moralischen
Subjekte umfasst, indem es allein für diesen Nahbereich das Verhältnis von direk-
tem Anspruch und direkter Verpflichtung zur Achtung bestimmt. Wie insbeson-
dere die Forschung innerhalb der globalen Ethik gezeigt hat, kann dieses Modell
allerdings nur noch unzureichend einer Welt genügen, die vor allem durch unge-
heure ökonomisch-strukturelle Differenzen und ein weitreichendes Machtgefälle
– also eben durch kumulative Effekte und nicht-intentionale Schädigungsmuster
durch anonyme Großgesellschaften – die Anspruchsrechte vieler Menschen auf
ihren freiheitlichen Handlungsspielraum ohne externe Zwänge grundlegend und
nachhaltig beeinträchtigt. 783
Haben Menschen aber nicht auch ein positives Recht auf Hilfe durch andere,
etwa wenn sie durch extreme Armut in Lebensgefahr sind? Tatsächlich stellt Kant
der negativen, vollkommenen Pflicht auch eine korrespondierende positive voll-
kommene Pflicht an die Seite, die aber von ihm in jeder Hinsicht als vergleichs-
weise schwach bestimmt wird. Diese Schwäche resultiert daraus, dass der positi-
ven Pflicht kein Anspruchsrecht derjenigen, denen die Pflicht geschuldet wird, ge-
genübersteht, durch das die positive Hilfsleistung, etwa materielle Hilfsleistungen

782
Steigleder, Kants Moralphilosophie, S. 143.
783
Vgl. zu diesem Kant’schen Reichweitenproblem von Verantwortung: O’Neill, Bounds of Justice,
besonders S. 186-202.
316 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

bei Hungersnöten oder medizinische Unterstützung bei Krankheiten einforderbar


wird. Durch Kants Argumentationsaufbau hat jeder Mensch in der Perspektive
des kategorischen Imperativs das Recht, von allen anderen Menschen als negative
Pflicht die Wahrung seiner Freiheitssphäre einzufordern, ein positives Recht auf
Hilfe besteht aber für ihn nur soweit, wie andere „relativ problemlos“ 784 dazu in
der Lage sind – ein dehnbarer Begriff, der insbesondere bei den Problemen von
globaler Reichweite leicht so verstanden werden kann, dass Hilfe gerade nicht
mehr problemlos zu leisten wäre, sondern an überbordenden Hilfsverpflichtun-
gen von vornherein scheitern muss.
Kant ist hier so zu verstehen, dass durchaus im Rahmen der geforderten Ach-
tung des kategorischen Imperativs und damit der Würde von Menschen erwartet
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

werden kann, dass man Menschen in akuten Notsituationen (analog der bibli-
schen Geschichte vom Samariter, bei einem Autounfall, bei einem in der philo-
sophischen Literatur oft zitiertem Sturz eines Kindes in einen Teich) helfen muss
– sofern die Hilfsmaßnahme das eigene Leben nicht beeinträchtigt oder grundle-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

gend bedroht. 785 Doch was gilt in Fällen, in denen sich die Gefahr für das eigene
Leben nicht plausibel abschätzen lassen wird, wenn also nicht der Griff oder
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Sprung in den Teich ausreichen, um das Opfer zu retten, sondern sogar mit
schweren eigenen Verletzungen zu rechnen ist? Außerdem: Welche Mittel sind
zur Rettung einzusetzen, und wie sind diese moralisch zu bewerten? Und sofern
mehrere potenziell Helfende anwesend sind: wer sollte in welchem Grad für Hilfe
verantwortlich sein? Es sind genau diese Grenzfälle und die Schwierigkeit, die
Grenzwerte angemessen und universal rekonstruierbar zu bestimmen, die Kant
dazu veranlassen, positive Pflichten nur als unvollkommene auszuweisen, und das
korrespondierende positive Anspruchsrecht (hier nicht im Sinne positiver
Rechtsnormen verstanden!) auf den engen Bereich der akuten Nothilfe zu be-
grenzen.

D.4.e Die Menschenwürde zwischen Rechtsanspruch und der Hilfe für


Andere als Tugendpflicht

Doch es gibt bei Kant noch eine andere Klasse von positiven Pflichten, nämlich
die sogenannten supererogatorischen Pflichten oder Tugendpflichten, die – ne-
ben den im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten Rechtspflichten – aus inne-
rer moralischer Verpflichtung – und nicht aufgrund rechtlicher Sanktionierung –
bestehen. Kant führt an, dass die Tugendpflichten „aber darum nur keiner äuße-
ren Gesetzgebung unterworfen werden, weil sie auf einen Zweck gehen, der (oder
welchen zu haben) zugleich Pflicht ist; sich aber einen Zweck vorzusetzen, das
kann durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirket werden (weil es ein innerer

784
Hier wird der Ausdruck von Klaus Steigleder übernommen; ders., Kants Moralphilosophie, S. 144.
785
Andernfalls spricht das Recht von ‚unterlassener Hilfeleistung’ und bestraft entsprechend das si-
tuative Verhalten, in dem Hilfe möglich gewesen wäre, aber nicht geleistet wurde.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 317

Akt des Gemüts ist); obgleich äußere Handlungen geboten werden mögen, die
dahin führen, ohne doch daß das Subjekt sie zum Zweck macht.“ 786 Auf welcher
Grundlage unterscheiden sich aber die Tugendpflichten nach dieser Definition
von den Rechtspflichten, wenn Kant außerdem folgendes anführt: „Alle Pflichten
sind entweder Rechtspflichten (officia iuris), d. i. solche, für welche eine äußere
Gesetzgebung möglich ist, oder Tugendpflichten (officia virtutis […]), für welche
eine solche nicht möglich ist.“ 787 Der grundsätzliche Unterschied bezieht sich hier
auf das Wort ‚möglich’, mit dem Rechtspflichten als durch äußere Sanktionie-
rung jederzeit durchsetzbar angesehen werden, und die jederzeit anderen – ohne
spezifische innere moralische Qualität – geschuldet werden. Von dieser Möglich-
keit äußerer Sanktionierung unterscheiden sich die Tugendpflichten schließlich
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

gerade dadurch, dass sie zweckbezogen sind und damit aus innerem moralischem
Antrieb erfolgen müssen; sie umfassen, wie Steigleder schreibt, die „vollkomme-
nen Pflichten des Menschen gegen sich selbst“ 788 Und da wir uns die Erfüllung
dieser Pflicht aus Achtung vor dem Sittengesetz selbst schulden, „korrespondiert
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

diesen Pflichten das ‚Recht der Menschheit in unserer eigenen Person‘“ 789.
Was bedeutet das? Inwiefern kann und muss das Recht der Menschheit in der
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Anschauung der eigenen Person als Zielvorgabe der zu verwirklichenden Hand-


lungen umgesetzt werden? Am bisher entwickelten Argumentationsgang Kants ist
gezeigt worden, dass jedem Menschen eine unhintergehbare Würde inhäriert,
weil er aufgrund seines Vermögens zur praktischen Vernunft für sich und für je-
den anderen Mensch als Zweck an sich existiert. Doch weil Kant schon in der
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten davon ausgehen muss, dass Menschen
zwar das Vermögen zur praktischen Vernunft haben, als endliche Wesen aber e-
her häufiger ihren (unvernünftigen) Neigungen folgen, ist die Achtung des Men-
schen als Zweck an sich nicht immer schon und jederzeit gewährleistet, sondern
sie ist dem „nicht selbstverständlich vernünftig handelnden Wesen normativ auf-
gegeben“ 790. Kant zufolge gebietet das Sittengesetz jedem Menschen deshalb die
Verwirklichung von den notwendigen Zwecken als tugendethische Aufgabe. Die
aus dieser Aufgabe resultierenden tugendethisch (und eben nicht rechtsethisch)
zu verfolgenden notwendigen Zwecke des Menschen sind zum einen die eigene
Vollkommenheit, als auch zum anderen die fremde Glückseligkeit.
Das Verfolgen der eigenen Vollkommenheit muss nach Kant als die jedem
Menschen gegebenen Aufgabe verstanden werden, sich selbst als handelnder und
dadurch zwecksetzender Mensch ethisch zu entfalten. Das Vermögen praktischer
Vernunft ist nämlich kein schon immer in seiner Reinform bestehender, vom in-
dividuellen Menschen abgetrennter und von Geburt an ausgebildeter Bereich,
sondern er ist in jeder Hinsicht ein mit dem Individuum verwachsenes Vermö-
gen, das jener mit seiner Identität und seiner sozialen Umwelt integrieren muss,
786
Kant, KPV, AA 06: 239. 7-12.
787
Kant, KPV, AA 06: 239. 4-7.
788
Steigleder, Kants Moralphilosophie, S. 149.
789
Ebd.
790
Ebd., S. 246.
318 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

um wahrhaft handlungsfähig, d. i. fähig zur freien Willkür zu werden. Darüber


hinaus geht es in der Erzielung eigener Vollkommenheit nicht allein um den Er-
werb kognitiver Fähigkeiten, um dann die praktische Vernunft richtig anwenden
zu können, sondern jeder Mensch muss auch in seiner Entwicklung und in der
Planung seiner Lebensumstände dafür Sorge tragen, dass sein Vermögen zur au-
tonomen Moralität, dem Sittengesetz gemäß, zur Anwendung gelangen kann.
Dies Ziel der Achtung der Menschheit in der eigenen Person kann erst dann er-
reicht sein, wenn man nicht allein aus Unterwerfung vor dem äußeren Gesetz
und aus Sorge vor dessen Sanktionen handelt, sondern wenn Handlungen aus
freier Achtung des Sittengesetzes, aus innerer Pflicht, angestrebt werden. 791
Im Rahmen der für diese Arbeit notwendigen Diskussion um die Achtung und
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

den Schutz der Menschenwürde anderer Personen wichtiger als die eigene morali-
sche Vollkommenheit ist jedoch der Zweck der fremden Glückseligkeit als tu-
gendethische Aufgabe des moralischen Subjekts, insofern dieser Zweck gewisser-
maßen das Problem, das sich beim positiven Recht mit der positiven Einforde-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

rung von Hilfspflichten auf rechtsethischer Ebene stellte, auf moralphilosophi-


scher Ebene zu lösen versucht. Verwirrend ist zunächst an der Kant’schen Formu-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

lierung der Begriff der Glückseligkeit, der, wie zu Beginn dieses Kapitels gezeigt
wurde, doch eigentlich als Konstituens des menschlichen Strebens insoweit aus-
fallen muss, als sich der Inhalt der Glückseligkeit nicht mehr letztverbindlich be-
stimmen lässt, sondern im Gottesbegriff nur mehr das Bild einer zu verfolgenden
Idee annimmt. Was kann also Kant dann damit meinen? Diese Frage lässt sich
am besten mit dem moralischen Status des Menschen und seiner Würde als
Zweck an sich beantworten, die sich in seiner Handlungsfähigkeit, und diese in
der Freiheitsdimension der Handlungsspielräume ausdrückt. Wenn sich Men-
schen in einer Notsituation befinden, sind eben diese Handlungsspielräume ein-
geschränkt oder sogar völlig zerstört. Die Notleidenden werden nun wollen, dass
ihnen andere zu Hilfe eilen, um ihre Handlungsfähigkeit wieder herzustellen, so-
fern jene dadurch ihr eigenes Wohlergehen nicht gefährden. Steigleder folgert da-
raus:
„Wenn ich aber in meiner Handlungsfähigkeit den zureichenden Grund dafür er-
blicken muss, dass ein anderer mir unter den genannten Voraussetzungen angesichts
meiner beschädigten Handlungsfähigkeit Hilfe zu leisten versuchen muss, dann
muss ich auch davon ausgehen, dass die Handlungsfähigkeit eines jeden anderen
ebenfalls einen zureichenden Grund dafür darstellt, dass ich Hilfe zu leisten versu-
chen muss, wenn seine Handlungsfähigkeit beschädigt ist, keine Pflicht entgegen-
steht und ich zu solcher Hilfe in der Lage bin, ohne mein eigenes Wohlbefinden
oder das Wohlergehen anderer zu gefährden.“ 792
Der Zweck der fremden Glückseligkeit lässt sich vor diesem Hintergrund als Tu-
gendpflicht des moralisch handelnden Menschen begründen, weil sich die fremde
Glückseligkeit als allgemeines Gesetz denken lässt, wie Steigleder präsupponiert, da

791
Siehe dazu auch, Stratton-Lake, ‚Being Virtuous and the Virtues’, S. 99.
792
Steigleder, Kants Moralphilosophie, S. 250f.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 319

kein moralisches Subjekt wollen kann, dass seine autonome Handlungsfähigkeit


fortdauernd eingeschränkt ist oder wird. 793
Im Hintergrund dieses Interesses an der fremden Glückseligkeit und der Be-
gründung der damit einhergehenden Tugendpflicht steht hier wiederum die Re-
ziprozität des Sittengesetzes, unter dessen Ägide der Mensch sich und andere stets
als Mitglied des Reichs der Zwecke achten muss. Jedoch muss auch hier – parallel
zum Problem bei den positiven Rechten – einschränkend festgestellt werden, dass
mit einer starken Tugendpflicht, Armen und Notleidenden zu helfen, weitgehend
unbestimmt bleibt, wie weit diese Hilfspflicht tatsächlich zu gehen hat. Auch
wenn die Menschenwürde anderer Menschen als Zwecke an sich einfordert, dass
in einer akuten oder chronischen Notsituation geholfen werden muss, bleibt un-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

klar, wie weit die tugendethische Verantwortlichkeit des Einzelnen 794 letztendlich
überhaupt reicht. Offensichtlich verlangt die Tugendpflicht mindestens ein Be-
mühen um Hilfe, generell ist sie aber von Kant als weit bestimmt: „sie hat einen
Spielraum, mehr oder weniger hierin zu tun, ohne daß sich die Grenzen davon
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

bestimmt angeben lassen.“ 795


Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

D.5 Zusammenfassung

In der (notwendigerweise stark gerafften) geistesgeschichtlichen Darstellung der


Entwicklung der Stellung des Mensch in der Welt während des Übergangs zur
Neuzeit und der damit einhergehenden Wandlung des Begriffs der Menschen-
würde konnte an den beiden Antipoden omas Hobbes (mit seinem Vorläufer
Machiavelli) und Immanuel Kant gezeigt werden, welche Schwierigkeiten die stu-

793
Dieser Interpretation, dass sich nämlich gerade aus Achtung vor dem Sittengesetz die Hilfspflich-
ten gegenüber anderen ergeben, steht Philip Stratton-Lake grundsätzlich entgegen; er schreibt:
„For in so far as he [Kant, M. H.] understands morally worthy acts as ones which are done solely
from duty, this interpretation will have the deeply implausible implication that a morally good
person cannot be motivated by the needs of others”. Vgl. Stratton-Lake, Kant, Duty and Moral
Worth, S. 45.
794
Mit Steigleder wird hier davon ausgegangen, dass Kant vor allem den Einzelnen im Blick hat, der
der Tugendpflicht Folge zu leisten hat; dass Kant einem tugendethisch verpflichteten Einzelnen
in seinen Beispielen viele chronisch Notleidende gegenüberstellt, verdeutlicht letztlich, warum es
unklar bleiben muss, wie weit seine Pflicht zu reichen hat.
795
Kant, KPV, AA 06: 393. 32-33. Besonders an diesen Stellen wird deutlich, in wie geringem Um-
fang Kant zwischenmenschlichen Dialog oder Empathie zur primären Beschreibung moralischer
Phänomene einsetzt. Was moralphilosophisch zählt, ist immer allein die Genese moralischer Ur-
teile durch die Vernunft des Subjekts, nicht aber die emotive Seite der handlungsanleitenden
Überlegungen. Dies wurde immer schon kritisiert, heute vor allem auch durch die Care Ethik
(darauf wurde bereits in Fußnote 768 eingegangen). Zur Verteidigung des Kant’schen Ansatzes
ist vorzubringen, dass Kant zuerst zeigen will, inwieweit moralisches Handeln dem Menschen in-
nerhalb der erkenntnistheoretischen Grenzen seines Vernunftvermögens möglich ist, ohne dabei
schon das Gesamt der Phänomene aufzuzeigen, die zu moralischem Handeln anleiten. Dadurch
ist der Kant’sche Ansatz als Modell der Rechtfertigung der unterschiedlichen Modi des morali-
schen Handelns anzusehen, und nicht als umfassende Beschreibung der phänomenalen Wege
zum moralischen Handeln schlechthin.
320 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

fenweise Auflösung des metaphysischen Ordnungsrahmens für die Bedingung der


Möglichkeit einer sich als normativ verstehenden Moralphilosophie und die poli-
tische Ethik mit sich brachte und – wie anzumerken ist – auch heute noch bringt.
Damit ist Kants Philosophie, so hält Hans Joas fest, „die vielleicht imponierends-
te Ausdrucksform eines kulturellen Wandels, […] der sich in ihr aber auch
durchaus problematisch niederschlägt.“ 796

D.5.a Die neue Stellung des Menschen in der Welt

Indem sich der Mensch als zunehmend freigestellt von einer metaphysischen äu-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ßeren Ordnungen wahrnimmt und nun umgekehrt die Überzeugung von der
Machbarkeit der Welt und der Überzeugung, dass der Mensch für sein eigenes
Wohlergehen und dasjenige anderer verantwortlich ist, eine weitreichende Ver-
pflichtung für ihn bedeutet, bedarf er gemäß jener Überzeugung von der Fähig-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

keit zur Gestaltungskraft seiner Umwelt und letztlich auch seines Selbst in seiner
personalen Identität ebenso neuer, weltimmanenter Begründungen für einen
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

richtigen und angemessenen Umgang mit seinesgleichen. Es kann, im Kontext


der parallel sich zeigenden Vernaturwissenschaftlichung des Wissens des Men-
schen um sich selbst, daher nicht erstaunen, dass die rationale, zu synthetischen
Schlüssen fähige Vernunft in der Neuzeit als der Wesenskern des Menschen ange-
sehen wird, der ihn dazu befähigt, seine Welt perfektionistisch und mit dem Ziel
einer allgemeinen und bestmöglichen Entwicklung zum Wohlergehen der
Menschheit planerisch und zukunftsorientiert zu ordnen und zu gestalten. 797 Dies
vermag zu erklären, warum alle großen europäischen Systemdenker des 18. und
19. Jahrhunderts sich mit der Menschheitsgeschichte befassten und versuchten,
die weitere Entwicklung der Menschheit als moralisch-ethische (Kant, Hegel oder
Marx) und/oder wissenschaftliche Aufklärung (Condorcet, Saint-Simon, Comte)
zu verstehen. 798
Wie überblickshaft gezeigt wurde, sind in diesem Prozess vor allem die Begriffe
der Vernunft und der Würde Wandlungs- bzw. Konkretisierungsphänomenen
unterworfen. Während Renaissance-Philosophen wie Pico della Mirandola und
Giannozzo Manetti noch pathetisch die Vernunft als dasjenige göttlich gestiftete
Vermögen des Menschen begreifen, welches ihn bei richtigem Gebrauch auf ein
Würdeniveau mit Gott selbst bringen kann, weil es ihn zu höchster Erkenntnis

796
Joas, Die Sakralität der Person, S. 26.
797
Die geistesgeschichtliche Strömung des Humanismus steht entsprechend für den Versuch, das
Verhalten des Menschen als unabhängig von externen Moralitätsgründen beeinflusst zu pazifizie-
ren und zu humanisieren. Ihr letzter Zweck ist die Entwicklung der Menschheit zu einer harmo-
nischen Einheit, die aus sich selbst heraus Glück und Eintracht unter allen Menschen generieren
kann. Die Menschenwürde ist dem Humanismus, wie Erich Fromm einmal bemerkt hat, das
fundamentale Credo, von dem aus allein sein Zweck bestimmbar bleibt. Vgl. Fromm, ‚Huma-
nismus und Psychoanalyse‘, S. 6f.
798
Vgl. Bright; Geyer, ‚Globalgeschichte und die Einheit der Welt‘, S. 55.
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 321

befähigt, kommt die Vernunft bei Hobbes aus wissenschaftlicher Distanz zur Un-
tersuchung und wird sowohl als primäre Fähigkeit des Menschen als auch als Ort
seiner Würde entpathetisiert.
Mit ihr kann der Mensch seine Optionen abwägen und strategische Entschei-
dungen treffen, wodurch sie aber gleichfalls den Glanz verliert, der ihr vorher qua
göttlicher Schenkung noch innewohnte. ‚Vernunft’ reduziert sich bei Hobbes auf
die instrumentelle Vernunft, die den Menschen befähigt, im Wettbewerb unter
seinesgleichen die richtigen Handlungen zur Beförderung des Eigeninteresses aus-
zuwählen. Wie an der politischen Philosophie des Hobbes stichpunkthaft gezeigt
werden konnte, entkernt dieses Verständnis von instrumenteller Vernunft gleich-
sam die Grundlagen der Moralität, die in seinem skizzierten Naturzustand nur
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

noch aus einigen basalen naturrechtlichen Minimalregeln besteht; denn erst im


Staatswesen des Leviathan wird Moralität als normative Grundlage des Handelns
– nun durch das positive Gesetz des Souveräns oktroyiert – erkennbar: nämlich
im absolutistischen Monarchen, von dem alle rechtliche und exekutive Gewalt
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

ausgeht. Er allein hat durch seine absolute Machtpotenz die Mittel inne, seine
Untertanen auf die Verfolgung des Rechts aus den gleichfalls durch ihn in Gel-
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

tung gesetzten Moralitätsgründen zu verpflichten. Durch die Oktroyation der


Normen des richtigen Verhaltens durch den Monarchen bleibt die Moralität al-
lerdings dem einzelnen Bürger heteronomisch, wesensfremd und nur äußerlich.
Er gehorcht dem Gesetz aus instrumenteller Vernunft und nicht aus innerer
Überzeugung, weil er aus Furcht vor Strafe und Zwang seinen strategischen Vor-
teil allein in Handlungen nach dem positiven Gesetzes verfolgen kann. Entspre-
chend der Hobbes’schen Anthropologie kann jedoch die Würde des Menschen
keine Hinsicht sein, unter welcher der Souverän sich zur Unterstützung armer
oder bedürftiger Bevölkerungsteile verpflichtet sehen müsste; seine einzige Aufga-
be ist die Wahrung der Sicherheit und die Verteidigung der Staatsinteressen
durch eine anteilnahmslose Machtpolitik – und das bedeutet vor allem eine
offensive Demonstration der verfügbaren Machtmittel – nach außen wie nach
innen.
Es ist schließlich Immanuel Kant, der mit seiner Philosophie den starren Rati-
onalismus und den ebenso starren Empirismus der Epoche zwischen früher Neu-
zeit und der Aufklärung überwindet und die Vernunft als das Zentrum der
menschlichen Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit ausweist. Im scharfen Gegen-
satz zu Hobbes ist bei ihm der Mensch nicht (allein) durch instrumentelle Ver-
nunft geleitet, welche dann durch ihre ständige Beeinflussung durch die mensch-
lichen Neigungen noch einer objektiven Vernunft in einem absolutistischen
Herrscher bedarf, sondern jeder Mensch ist gleichermaßen – egalitär – an der
Hervorbringung von Moralität und sittlicher Erkenntnis beteiligt. Hier schärft
sich nun der Blick auf die menschliche Würde als Funktionszusammenhang
menschlicher Autonomie und Achtung vor dem Nächsten, die Wohlergehensan-
322 DIE WÜRDE DES MENSCHEN IN IDEENGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

sprüche jeder Person im Rahmen eines auf die Förderung der Menschheit gerich-
teten Humanismus799 einschließt.
Mit dieser Neuverortung des Menschen in der Welt kann Kant erklären, wa-
rum und vor allem wie jeder Mensch durch sein Vermögen zur Vernunft in der
Lage ist, als autonom handelndes Wesen unter anderen autonom handelnden
Wesen gleichrangig zu leben, und wie Moralität unter den geänderten Vorzeichen
der Neuzeit, nämlich der stufenweisen Auflösung metaphysischer Gewissheiten,
als normative Maxime von Handlungen existieren kann. Doch wie Kant erkennt,
reicht in der Perspektive einer besonderen Stellung des Menschen in der Welt das
Vermögen der Vernunft zur Begründung der Sittlichkeit nicht aus, weil nur mit
dieser Fähigkeit allein nicht deutlich gemacht werden kann, welche äußere Gren-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

zen das moralische Handeln aufweisen sollte, die den autonom gestaltbaren Frei-
heitsbereich des moralischen Subjekts als solchen konstituieren. Kant geht, wie
gezeigt wurde, davon aus, dass allein im Gebrauch der Vernunft nicht die äuße-
ren Grenzen bestimmt werden können, die die Handlungsspielräume begrenzen
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

müssen. Der Mensch könnte zwar auch ohne äußere Grenze handeln, aber im
Kant’schen Sinne dann eben nicht moralisch, d. i. auf der normativen Grundlage
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

einer von allen vernünftigen Wesen geteilten Einhegung ihrer Handlungsfreiheit


zum Schutz und zur Achtung des Nächsten.
Innerhalb des alten metaphysischen Ordnungsrahmens und mit einem inhalt-
lich substantiellen Naturrecht war die Frage nach der Art und der Rigidität der
äußeren Grenzen durch die Möglichkeit eines naturrechtlichen Rückbezugs auf
Gott wenigstens auf der Grundlage zeitgenössischer Wissenschaftstheorie nach zu
lösen, doch gerade diese Möglichkeit ist durch Kants ‚kopernikanische Wende’ in
der Philosophie grundsätzlich verbaut. Es ist nun für Kant die Achtung der Men-
schenwürde als moralisch-vernünftige, selbstevidente äußere Grenze der Hand-
lungsspielräume, die sowohl die handelnde Person selbst für sich annehmen, in
einem Akt reziproker Zuschreibung aber auch für alle anderen Menschen als gel-
tend gesetzt werden.
Dadurch ist die Menschenwürde letztlich der eingrenzende, normative Pol der
Moralität, insofern durch ihre Funktion festgelegt wird, wie im Wissen darum,
dass auch andere Personen ihre Freiheitsspielräume nutzen wollen, die eigenen
Handlungsmöglichkeiten beschränkt werden müssen. Die Menschenwürde und
die Vernunft gehen in dieser Perspektive eine tiefreichende und fundamentalethi-
sche Verbindung ein, weil Kant zeigt, dass das eine ohne das andere nicht zu
denken sein kann, ohne die Möglichkeit moralischen Handelns aus gutem Willen
– und nicht wegen zufällig sich einstellender positiver Ergebnisse des Handelns –
grundsätzlich in Abrede zu stellen. Kants Moralphilosophie kann damit letztlich
so interpretiert werden, dass der Vernunftgebrauch des Menschen immer auch
eines starken Begriffs der Menschenwürde als eines Gegenpols bedarf, um verant-
wortliches Handeln vor den Mitmenschen als Zeichen der ihnen fundamental
entgegengebrachten Achtung überhaupt rechtfertigbar zu machen.
799
Zum Begriff des Humanismus außerdem kritisch: Baab, Was ist Humanismus?
IV.D DIE WENDE ZUM INDIVIDUUM UND SEINEM WOHL IN DER NEUZEIT 323

Insgesamt zeigte sich in der vorangegangenen Auseinandersetzung mit der geis-


tesgeschichtlichen Entwicklung des Begriffs der Menschenwürde generell dessen
fortwährende Attraktivität bei der Bestimmung von Wesensaspekten des Men-
schen, seien sie in sozialer oder metaphysischer Dimension bestimmt. Immer
wieder nimmt der Begriff eine explikative Stellung in den Erklärungsmodellen
der unterschiedlichen philosophischen Menschenbilder und Weltanschauungen
ein, ohne aber jedoch bis zum späten Mittelalter wirklich einmal als an sich in-
haltlich notwendig gewordener Begriff im Fokus der philosophischen Diskurse zu
stehen. 800 Erst mit dem Anbruch der Neuzeit ändert sich dieses Verhältnis der
Philosophie zur Würde, weil sich durch den Wegbruch der alten metaphysischen
Ordnung der Mensch zunehmend darüber klar werden muss, wie er vor sich sei-
wurde mit IP-Adresse 185.249.168.078 aus dem Netz der Dortmund TU 464 am September 13, 2023 um 21:54:15 (UTC) heruntergeladen.

ne Stellung im Universum begründen will, und auf welcher Grundlage seiner Fä-
higkeiten dies geschehen soll. Im kontextuellen Verbund mit einer in der Neuzeit
reifenden Idee vom Menschen als unverletzbarer Person mit inhärentem Unbe-
dingtheitsanspruch, die, wie gezeigt wurde, als Amalgam christlicher Weltan-
Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, 9783506777980, 2014

schauung und Fragmenten der griechisch-römischen Antike verstanden werden


können – eine Person, welche durch Vernunftgebrauch ihre Freiheitsspielräume
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

eröffnen und bewahren muss, stellt die Menschenwürde – vor allem nach Kant –
einen „neuen Erziehungsgedanken“ 801 dar, die des Menschen Achtungs- und
Schutzrechte vor seinesgleichen nicht auf der Grundlage einer besonderen gesell-
schaftlichen Stellung einfordert, sondern auf der moralphilosophischen Grundla-
ge des Wissens um die Freiheitssphäre der Mitmenschen. Das Wohlergehen des
Menschen kann nach der Wende zur Neuzeit nicht mehr dem Schicksal meta-
physischer Mächte überlassen werden, sondern der Mensch ermächtigt sich dazu,
selbst über sein Wohl als auch das Wohl anderer im Zeichen ihrer Würde als
Menschen zu wachen – so heißt das wichtige Fazit dieser Entwicklung.
Wie eingangs geschildert wurde, sind die beiden grundsätzlichen Verwen-
dungsweisen der Rede von der Würde des Menschen – einmal in moralphiloso-
phisch-anthropologischer Hinsicht und einmal in den gesellschaftlichen Zusam-
menhängen zur Bezeichnung einer spezifischen Amtswürde oder dergleichen –
grundsätzlich zu unterscheidenden, wenn sich allerdings auch oft, das zeigte sich

Das könnte Ihnen auch gefallen