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F reiheit und L iter atur 19

Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit 3.


und Sturm & Drang

Inhalt

3.1. Einführung 20
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3.2. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der


abenteuerliche Simplicissimus (1668) 28
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

3.3. Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (1772) 34


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3.4. Johann Wolfgang von Goethe: Götz von


Berlichingen mit der eisernen Hand (1773) 40

3.5. Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden


des jungen Werther (1774 / 87) 48

3.6. Gotthold Ephraim Lessing:


Nathan der Weise (1779) 55

3.7. Friedrich Schiller: Die Räuber (1781) 62

3.8. Friedrich Schiller: Der Verbrecher


aus verlorener Ehre (1786) 69

3.9. Friedrich Schiller: Don Carlos (1787) 74

Zusammenfassung

Die noch stark höfisch geprägte Dichtung des Barock wird in der Auf-
klärung durch eine Literatur abgelöst, die das bürgerliche Individuum
in Freiheit setzen will. Die Literatur der Frühaufklärung möchte zur Frei-
heit erziehen, sie hat einen pädagogischen Auftrag. Die Spätaufklärung
bringt Beispiele auf die Bühne, sieht aber die Verantwortung des Indi-
viduums für sich selbst. Lessings Dramen fordern die Zuschauer dazu
auf, sich mit den Figuren zu identifizieren und eigene Schlüsse aus
20 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

ihrem Verhalten zu ziehen. Mit der Genieästhetik im Sturm & Drang


entsteht ein Konzept von Autonomie für das Individuum und für die
Literatur. Individuelle Freiheit wird auf radikale Weise gedacht, der
Autor wird zum Schöpfer, der Text folgt seinen eigenen Regeln. Figuren
wie Götz von Berlichingen, Karl Moor oder Marquis Posa scheitern an
äußeren Zwängen, doch verkörpern sie bereits ein Potential an Selbst-
bestimmung, für das die Gesellschaft, in der sie leben (so wird es Mar-
quis Posa formulieren), noch nicht reif ist. Figuren wie Werther, Karl und
Franz Moor oder Don Carlos scheitern zudem an ihrer inneren Unfrei-
heit, also auch daran, dass sie mit den neuen Freiheiten nicht verant-
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wortlich umgehen können.

3.1. Einführung
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

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Epochenbegriffe sind Epochenbegriffe sind schwer zu definieren und wer mehrere Lite-
unscharf raturgeschichten nebeneinanderhält, wird unterschiedliche Ein-
teilungen finden, nicht bei allen Bezeichnungen, aber doch bei
vielen. Dabei stehen Kategorien nebeneinander, die ursprüng-
lich abwertend (Barock; Biedermeier), personenbezogen (Goethe-
zeit), zeitlich klar eingrenzbar (Weimarer Republik) oder zeitlich
variabel (Gegenwartsliteratur), die eher unterhalb des Epochen-
begriffs als Strömung (Magischer Realismus) oder über dem Epo-
chenbegriff als Klammer (literarische Moderne) angesiedelt sein
können. Jede Literaturgeschichte findet andere Antworten auf Fra-
gen wie: Ist die Empfindsamkeit nun eine Epoche oder eine Strö-
mung? Wann beginnt der Vormärz? Ist Biedermeier eine eigene
Epoche? Spricht man passender vom poetischen oder vom bür-
gerlichen Realismus? Wie geht man mit dem Begriff des Jungen
Deutschland um? Die hier vorgenommene Einteilung versucht so
allgemein wie möglich und so präzise wie nötig zu sein, aber sie
könnte, wie jede Kategorisierung, auch anders aussehen.
Eine Neuere deutschsprachige Literaturgeschichte beginnt
üblicherweise um 1600 mit der Literatur des Barock, einer Epo-
che, der gern das ganze 17. Jahrhundert zuerkannt wird, auch
wenn die genauen zeitlichen Einteilungen variieren. Zunächst
ist der mit ›unregelmäßig‹ aus dem Portugiesischen übersetz-
bare Begriff abwertend gemeint, er bezeichnet einen übertrieben
schwülstigen Stil, bürgert sich dann aber als Klammerbegriff für
alle Künste und Stile der Zeit vor der Aufklärung ein. Das Heilige
E inführung 21

Römische Reich deutscher Nation wird durch das seit dem Mit-
telalter geltende Feudalsystem geprägt, es wird von einem Kaiser
regiert und besteht aus einer großen Zahl kleiner Königreiche,
Fürsten- und Erzbistümer. Bis zum 30-jährigen Krieg (1618 – 48)
ist die Ordnung, auch wenn sie immer wieder durch Konflikte
erschüttert wird, klar: Der Glaube an den christlichen, das heißt
katholischen Gott ist das Fundament; der Papst, die Kaiser, Könige
und Erzbischöfe leiten die Legitimation ihrer Herrschaft von Gott
ab. Deshalb ist auch jedes Vergehen gegen sie oder gegen die – als
göttlich verstandene – weltliche Ordnung ein Verstoß gegen Gott
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und den Glauben. Der zahlenmäßig kleine Adel steht in der Hie-
rarchie der Stände oben, ebenso der Klerus. Darunter stehen Kauf-
leute, Handwerker und schließlich, am Fuß der Pyramide, die
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lange Zeit leibeigenen Bauern. Erst mit dem 30-jährigen Krieg,


der ein Glaubenskrieg um die Einführung der von Martin Luther
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(1483 – 1546) inspirierten Reformation ist, wird diese Ordnung so


nachhaltig erschüttert, dass es zur Kirchenspaltung und im fol-
genden Jahrhundert zu einer Ablösung des christlichen Weltbilds
durch das naturwissenschaftliche kommt.
Literatur gilt im Barock, wie die anderen Künste auch, als
erlernbares Handwerk. Da das Lesepublikum klein ist, ist die Zahl Literatur als Handwerk
der Autoren nicht groß. Schriftsteller gibt es, wegen der Abhän-
gigkeit vom Mäzenatentum des höheren Adels, vor allem in Resi-
denzstädten und an Fürstenhöfen. Freiheit wird in dieser Zeit
anders definiert, als Freiheit innerhalb der geltenden Ordnung.
Die für uns heute leitende Auffassung von Freiheit entwickelt
sich erst. Dennoch wäre es falsch anzunehmen, dass es im Mittel-
alter und in der Frühen Neuzeit (wie der Übergang vom Mittelal-
ter zur Moderne gern bezeichnet wird, also etwa vom 16. – 18. Jahr-
hundert) keine Menschen gegeben hat, die Gefühle und Wünsche
gehabt haben wie wir. Die Konventionen der Zeit geboten andere
Ausdrucksformen. Und doch gibt es beachtenswerte Ausnahmen,
etwa den wohl berühmtesten Roman der Epoche, Hans Jakob Chri-
stoffel von Grimmelshausens (1622 – 76) Der abenteuerliche Simplicis-
simus (1668), der ein Panorama des von Krieg und sozialen Verwer-
fungen geprägten Barockzeitalters entfaltet.
Bevor im 18. Jahrhundert der Roman immer mehr akzeptiert
und dann seit Goethes exemplarischem Bildungsroman Wilhelm
Meisters Lehrjahre zur gleichwertigen Gattung wird, besteht die Lite-
raturproduktion vor allem aus Gedichten und Dramen. Bei den
22 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

Gedichten ist, von den zahlreichen Gelegenheitsgedichten (zu


Taufen, Hochzeiten, Begräbnissen, Krönungen o. Ä.) abgesehen,
das Sonett besonders verbreitet. Eines der am häufigsten in Schule
und Universität behandelten Gedichte des Barock dürfte Andreas
Gryphius’ (1616 – 64) Sonett Es ist alles eitel (1637) sein. Gryphius ist
der wohl heute noch bekannteste Dichter des Barock, auch für
seine Dramen. Das Sonett eignet sich durch seine Struktur beson-
ders gut für die Darstellung des Gegensatzes von Diesseits und Jen-
Hoffnung auf das seits, dem Barocksonett ist in der Regel eine Hoffnung auf das Jen-
Jenseits seits eingeschrieben. So auch in Es ist alles eitel:
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Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.


Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein,
Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein,
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Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.


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Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden.


Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein;
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn.


Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
Ach, was ist alles dies, was wir vor köstlich achten,

Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind,


Als eine Wiesenblum, die man nicht wiederfind’t.
Noch will, was ewig ist, kein einig Mensch betrachten. (EM, 149)

In der Mitte jeder Verszeile befindet sich eine Zäsur, in vielen Zeilen
entspricht dem eine inhaltliche Trennung: Was dieser heute baut,
reißt jener morgen ein; auf Glück folgen Beschwerden. Der Gegen-
satz zwischen jetzt und später strukturiert das ganze Gedicht, er
verweist auf den Gegensatz zwischen dem mühe- und leidvollen
irdischen Dasein und der Belohnung für alle Mühen, für alles Leid
im Leben nach dem Tod. Die letzte Zeile ist eine Mahnung, an das
Jenseits zu denken und sich nicht im Diesseits an die »Eitelkeit auf
Erden« zu verlieren. Das Motiv der Vanitas, der Vergänglichkeit,
wird in immer neuen Bildern vor Augen geführt, die auch einen
Gegensatz zwischen vergänglicher Zivilisation (das von Menschen
Gemachte) und ewiger Natur (Gottes Werk) aufbauen. Insofern
wird auch ein zweites wichtiges Motiv des Barock aktualisiert –
E inführung 23

Memento mori, gedenke, dass du sterblich bist, und nutze diesen


Gedanken, um dich auf das bessere Leben zu konzentrieren. Denn
nur durch den richtigen – das heißt Gott und der Kirche gemä-
ßen – Lebenswandel lässt sich dieses bessere Leben im Jenseits auch
erreichen. Der religiöse Bezug klingt bereits im Titel des Gedichts
an, es handelt sich um ein Bibelzitat aus dem Buch Kohelet.
Das Kunstvolle des Gedichts ist eine relativ neue Errungen-
schaft, denn erst im 17. Jahrhundert wird die deutsche Spra-
che auch zu einer Literatursprache. Und erst seit 1692 sind die Deutsch als
Neuerscheinungen in deutscher Sprache in der Überzahl (Witt- Literatursprache
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mann 1999, 84). Vorher sind Texte vor allem auf Latein, Gebil-
dete können zudem Altgriechisch. Den Weg für die Karriere der
deutschsprachigen Literatur bereiten die Poetiken der Epoche,
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

die berühmteste ist Martin Opitz’ (1597 – 1639) Buch von der deut-
schen Poeterey (1624).
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Aufklärung ist ein eindeutig positiv besetzter Begriff: Der Das Zeitalter der
Mensch wird aufgeklärt, er wird erleuchtet, im Englischen heißt Aufklärung
die Epoche deshalb auch ›Enlightenment‹. Das christliche Welt-
bild wird abgelöst, es setzt ein Wandel in allen Lebensbereichen
ein. Ist der Mensch vorher ein Teil einer Masse, in der er seinen
›natürlichen‹ Platz hat, so wird dieser Platz nun variabel. Der
Zweifel an der göttlichen Allmacht wächst ebenso wie der Wohl-
stand. Damit einher geht die Vergrößerung der Schicht des Bür-
gertums, es entstehen die modernen Naturwissenschaften, die
Geisteswissenschaften entwickeln sich. Die beginnende Ausdiffe-
renzierung der Gesellschaft sorgt für Mobilität, und zwar geogra-
phisch, ökonomisch, auf das Leben der Individuen bezogen, die
immer mehr Zugang zu Bildung bekommen und deren Bedürf-
nisse wachsen, das eigene Schicksal nicht als vorherbestimmt zu
sehen, sondern als gestaltbar.
Die Frühaufklärung legt ein säkularisiertes Bildungspro-
gramm auf. Nicht zufällig ist es mit Johann Christoph Gottsched
(1700 – 1766) ein Professor der Universität Leipzig, der mit Versuch
einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) eine wegweisende
Poetik und zudem als beispielhaft gemeinte Dramen verfasst, letz-
tere gemeinsam mit seiner Frau Luise Adelgunde. Gottscheds Ster-
bender Cato (1732) oder Die Pietisterey im Fischbein-Rocke; Oder die Doc-
tormäßige Frau. In einem Lust-Spiele vorgestellet (1736) aus der Feder
seiner Frau, der Gottschedin, gehören auch heute noch zu den
bekanntesten Dramen der Zeit. Ebenfalls lehrhaft, aber spiele-
24 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

rischer sind Christian Fürchtegott Gellerts (1715 – 69) Fabeln und


Erzählungen (1746), einer der ersten Bestseller der deutschsprachi-
gen Literaturgeschichte.
Es entsteht ein moderner Begriff von Freiheit, der allerdings
noch stark an ständische und religiöse Kontexte gebunden wird,
wie etwa die Epoche oder Strö-
mung der Empfindsamkeit
Abb. 3.1
zeigt. Religiöse und private
Aufklärung. Kupfer-
stich von Daniel Cho- Gefühle gehen ineinander,
dowiecki (1726 – 1801) die zugrunde liegende Moral
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ist immer noch christlich


durchtränkt. Dennoch wird
das Individuum stark aufge-
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wertet. Es darf sich selbst füh-


len, in seinen Gefühlen für
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andere, es darf die anderen


als etwas Besonderes sehen
und sich selbst von anderen
so sehen lassen. Nicht zufäl-
lig spielen Briefe eine wich-


tige Rolle, als literarische Gat-


Strömung der tung wird der Briefroman etabliert. Das Vorbild für viele weitere
Empfindsamkeit Romane in der europäischen Literatur ist Pamela, or Virtue Rewarded
von Samuel Richardson (1689 – 1761), erschienen 1740. Nicht der
Briefform, aber der Verbindung aus den Anforderungen christli-
cher Moral und den individuellen Bedürfnissen ist beispielsweise
Christian Fürchtegott Gellerts für die deutschsprachige Literatur
der Zeit wegweisender Roman Leben der schwedischen Gräfin von G***
(1755) verpflichtet. Es entsteht ein Konzept bürgerlicher Tugend-
haftigkeit, das individuelle und gesellschaftliche Ansprüche mit-
einander zu vermitteln versucht. Im Gebrauch der Form des Brief-
romans verweist noch Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774)
auf Richardson, aber der Unterschied, auch zu Gellert, ist mehr
als deutlich: Die Ansprüche des Individuums und die Anforde-
rungen, mit denen es sich konfrontiert sieht, gehen nicht mehr
zusammen. Daher handelt es sich beim Werther bereits um ein
Werk des Sturm & Drang.
Spätaufklärung Der zentrale Autor der Spätaufklärung ist Gotthold Ephraim
Lessing (1729 – 81), aus heutiger Sicht schlägt sein Werk die Brücke
von der Frühaufklärung zum Sturm & Drang und den späteren
E inführung 25

Epochen. Lessing setzt auf gemischte Charaktere, auf Figuren, mit


denen man sich identifizieren kann. Das große Vorbild Aristoteles
interpretiert er anders. Bisher waren unter Berufung auf die aris-
totelische Poetik, aber vor allem geprägt durch die Ständegesell-
schaft des Mittelalters, die Figuren der Tragödie als heroisch, dem
Adel zugehörend konzipiert worden, um ihr vorbildhaftes Verhal-
ten deutlicher herausarbeiten zu können. Die Komödie als Ver-
lach-Komödie, in der einfaches Volk grobes Fehlverhalten zeigt, ist
bereits durch das Ehepaar Gottsched als problematischer Zeitver-
treib identifiziert und in den Dienst der Bildung gestellt worden.
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Die publikumswirksame Vertreibung des Harlekin von der Bühne


im Jahr 1737, die der Ächtung der beliebten Commedia dell’Arte-
Tradition gleichkommt, und die Verbreitung der Auffassung, dass
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die gezeigten Laster dazu dienen sollen, die Zuschauer auf ihre
eigenen Untugenden aufmerksam zu machen und moralisch zu
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bessern, ebnen den Weg für Lessings weitergehende Reform, an


die Goethe, Schiller und andere anknüpfen können. Die Figuren
werden immer individueller.
In seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767 / 69), einer Samm-
lung von Theaterkritiken, entwirft Lessing ein Konzept, das bis
zu Brechts Epischem Theater mit seinen Distanzierungs- und
Verfremdungseffekten gültig bleiben wird. Auch in seiner eige-
nen Dramenproduktion orientiert sich Lessing stärker an Shake- Shakespeare als neues
speare als, wie vorher üblich, an Aristoteles und ersetzt die Wahr- Vorbild
scheinlichkeit durch das Prinzip der »Nachahmung der Natur«.
Der Dichter orientiert sich an großen Vorbildern, aber der Text
folgt seinen eigenen Regeln (Lessing 1999, 354 f.). Die Tragödie
kann für Lessing nur »Mitleid und Furcht« (Lessing 1999, 379) erre-
gen, wenn es sich nicht um vorbildhafte, adelige Figuren handelt,
sondern um solche mit den Problemen, die auch das Bürgertum
beschäftigen. Lessing setzt sein Konzept um, indem er die Gattung
des bürgerlichen Trauerspiels begründet, Miß Sara Sampson (1755)
und Emilia Galotti (1772) zählen auch heute noch zu den bekann-
testen Beispielen. Emilia Galotti wird der sterbende Werther in Goe-
thes Briefroman von 1774 auf dem Pult liegen haben (GW, 124).
Lessing erneuert außerdem mit Minna von Barnhelm (1767) das Lust-
spiel, das nun ebenfalls gemischte Charaktere aufweist, mit denen
man sich identifizieren kann, und er plädiert mit dem ›dramati-
schen Gedicht‹ Nathan der Weise (1779) für religiöse Toleranz.
26 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

Der Sturm & Drang vollzieht nun den Wandel, der sich in der
Aufklärung bereits angekündigt hat. Die Epoche (ca. 1765 – 1785)
bekommt ihre Bezeichnung von dem gleichnamigen, 1777 ver-
öffentlichten Drama Friedrich Maximilian Klingers (1752 – 1831).
Kunst und Literatur treten das Erbe der Religion an, der Dichter
Im Sturm und Drang wird zum Schöpfer, zum Genie, das sich seine eigenen Regeln
wird der Dichter zum gibt. Der Dichter repräsentiert damit die Fähigkeiten des Indivi-
Schöpfer
duums, von dem aus nun Gemeinschaft und Gesellschaft gedacht
werden soll. Eine entsprechende Demokratisierung, wie sie 1789
mit der Revolution in Frankreich eruptiv stattfindet (wenn auch
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die Euphorie nur für kurze Zeit anhält), wird aber im Gebiet, das
bis 1806 Heiliges Römisches Reich deutscher Nation heißt, auf
sich warten lassen. Goethe feiert zwar in der Prometheus-Hymne
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die schöpferischen Fähigkeiten des Einzelnen, doch werden die


Begrenztheiten in zahlreichen anderen Texten deutlich, vom Götz
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(1773) über den Werther (1774) bis zu Schillers Die Räuber (1781),
Kabale und Liebe (1784) oder Don Carlos (1787).
Dabei wächst, beeinflusst von Johann Gottfried Herder
(1744 – 1803), etwa durch seine Schrift Von deutscher Art und Kunst.
Einige fliegende Blätter (1773), das Interesse an der sogenannten
Das Konzept der Volkspoesie. Herder ist gut mit Goethe befreundet, der beginnt,
Volkspoesie volkstümliche Gedichte zu verfassen. Das Volksliedhafte verkör-
pert aber vielleicht kein anderer Text mehr als die erste deutsche
Kunstballade, Gottfried August Bürgers (1747 – 94) Lenore (1773)
mit ihrem berühmt-berüchtigten Todesritt. Die Grenzgattung Bal-
lade, von Goethe auch später als ›Ur-Ei der Dichtung‹ bezeichnet,
vereint das Lyrische (in der Form), das Dramatische (in der Hand-
lung, auch in der wörtlichen Rede) mit dem Erzählerischen und
gilt auch deshalb als besonders ›volksnah‹.
Zu den berühmtesten Gedichten der Zeit gehört Goethes numi-
nose (naturmagische) Ballade Erlkönig (1782), die ebenfalls einen
Ritt gestaltet, aber nicht von Braut und (totem) Bräutigam wie
bei Bürger, sondern von Vater und (sterbendem) Sohn. Der Erlkö-
nig ist eigentlich ein Elfenkönig, es handelt sich um eine (Fehl-)
Übersetzung aus dem Dänischen. Der Text lässt offen, ob Vater
oder Sohn recht haben, ob es den Elfenkönig gibt oder nicht, ob
der Sohn krank ist oder von fremden Mächten, die nur er wahr-
nimmt, umgebracht wird:
E inführung 27

»Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?« –


»Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif?« –
»Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.« –

Der vierhebige Jambus mit freien Füllungen lässt an die drama-


tische Situation angepasste Betonungen zu. Rede und Gegenrede
wechseln sich ab, nicht nur bei Vater und Sohn, auch in dem vom
Vater ungehörten Gespräch des Sohnes mit dem Erlkönig:
»Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
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Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.« –


»Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan!« (EM, 228)
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Zu vermuten wäre, dass der Sohn sich, in einem Fiebertraum, das


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Gespräch nur einbildet, doch der Schluss der Ballade erschüttert


die Überzeugung des Vaters, wie seine Reaktion zeigt, und damit
des Lesers:
Dem Vater grauset’s; er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot. (EM, 229)

Die rationalistische, auf Vernunft setzende Aufklärung mit ihrem Grenzen der Aufklärung
Ansatz, naturwissenschaftliche Erklärungen für die den Men-
schen umgebenden und bestimmenden Phänomene zu finden,
wird mit solchen Texten verabschiedet. Frei nach Horatio in
Shakespeares Hamlet wird hier suggeriert, dass es mehr Dinge
zwischen Himmel und Erde gibt, als sich die aufklärerische Schul-
weisheit träumen lässt. Die Betonung der individuellen Perspek-
tive geht nun einher mit einer frühen Einsicht in die Begrenztheit
menschlicher Erkenntnis – und menschlicher Freiheit.

Lektürehinweise

Alt, Peter-André: Aufklärung. 3., aktualisierte München: dtv 1991 (Deutsche Literatur-
Aufl. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2007 geschichte 2).
(Lehrbuch Germanistik). Karthaus, Ulrich (Hg.): Sturm und Drang und
Borries, Erika und Ernst von: Aufklärung Empfindsamkeit. Stuttgart: Reclam 2002
und Empfindsamkeit, Sturm und Drang.
28 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

(Die deutsche Literatur in Text und Dar- rung in die Literatur des 17. Jahrhunderts.
stellung 6 / RUB 9621). Stuttgart: Reclam 2015 (RUB 17 687).
Meid, Volker: Barock-Themen. Eine Einfüh-

3.2. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der aben-


teuerliche Simplicissimus
Abb. 3.2
(1668)
Hans Jakob Christoffel Ungefähr die Hälfte des
von Grimmels­hausen Lebens von Hans Jakob Chri-
(1641)
stoffel von Grimmelshau-
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sen (1622 – 76) fällt in die Zeit


des Dreißigjährigen Krieges
(1618 – 48), in dem Grimmels-
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hausen auch Soldat war. Inso-


fern verwundert es nicht, dass
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der Krieg den Hintergrund für


seinen großen Roman bildet,
einen der bedeutendsten frü-
hen Romane in der Geschichte


der Weltliteratur. Bereits zu


seiner Zeit war der Roman ein Bestseller: »Sein Erfolg läßt sich
nur mit dem Luthers und Goethes vergleichen […]« (Hohoff 1987,
7). Der Text ist ein Beispiel dafür, dass die gängigen Lehrsätze über
den Barock vielleicht nicht falsch, aber sehr pauschal und ergän-
zungsbedürftig sind. Zwar gab es Regelpoetiken und konkrete Auf-
fassungen darüber, wie Literatur herzustellen ist. Zugleich hielten
sich viele Autoren ganz selbstverständlich nicht daran. Die äußere
Ordnung war zwar eine angeblich von Gott gegebene und für alle
verbindliche, aber sie wurde gerade in diesem Jahrhundert, mit
dem genannten großen Krieg, fundamental erschüttert.
Eine Zeit der Umbrüche Das 17. Jahrhundert ist für Europa eine Zeit voller Umbrü-
che. Die Kirchenspaltung verändert nicht nur die Religion, auch
die Landkarten werden neu gestaltet. Um ein wichtiges Beispiel
zu nennen: Der sogenannte Große Kurfürst Friedrich Wilhelm
(1620 – 88) machte Brandenburg-Preußen durch zahlreiche Refor-
men zu dem nach Österreich zweitmächtigsten Staat im Heiligen
Römischen Reich deutscher Nation. Damit bereitete er den Boden
für die Errichtung des Königreichs Preußen (ab 1701). 1685 lud
er mit dem Edikt von Potsdam die aus Frankreich vertriebenen
Hugenotten ein, sich auf seinen Territorien anzusiedeln. Diese
G rimmelshausen : D er abenteuerliche S implicissimus (1668) 29

lange nachwirkende liberale Haltung ›Fremden‹ gegenüber war


zugleich ökonomisch ausgesprochen klug, denn die fleißigen
Hugenotten brachten das Land weiter voran. Einer ihrer Nachfah-
ren, der auf diese Herkunft immer sehr stolz war, heißt Theodor
Fontane (1819 – 98).
Auch wenn sich die heutige Auffassung von Freiheit noch entwi-
ckelt, so wird man den Menschen der Barockzeit im Allgemeinen
und den Schriftstellern im Besonderen nicht absprechen wollen
oder können, dass sie um ihre Freiheit kämpfen, zunächst natür-
lich um die Freiheit, sich die Auffassung der ›richtigen‹ christlichen
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Religion nicht vorschreiben zu lassen. Mit Martin Luther hatte die


Reformation begonnen und damit war nicht nur die Frage nach
dem richtigen Glauben gestellt, sondern auch die Frage nach der
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

richtigen Ordnung – eine Frage, die sich schließlich genauso für


die Organisation des weltlichen Staates und der Gesellschaft stellt.
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Der umfangreiche Roman besteht aus sechs Büchern mit


jeweils 24 bis 34 Kapiteln. Es darf überraschen, dass der Text ein
metafiktionales Spiel mit seinem Leser treibt, eine solche Selbst-
thematisierung ist in der Literatur erst für das 20. und 21. Jahr-
hundert einschlägig. Im »Beschluss« heißt es: »Hochgeehrter,
großgünstigster lieber Leser, etc. Dieser ›Simplicissimus‹ ist das
Werk von Samuel Greiffenson von Hirschfeld, maßen ich nicht
allein dieses nach seinem Absterben unter seinen hinterlasse-
nen Schriften gefunden […].« Es wird eine Ausgabe von Gedichten
dieses Autors angekündigt und der ›Herausgeber‹ unterzeichnet
mit »H. J. C. V. G., P. zu Cernheim« (AS, 726). Der fiktive Verfasser-
name ist erkennbar ein Anagramm für Grimmelshausen. Dazu Ein Spiel mit
kommen, lange vor E. T. A. Hoffmanns Werken, ironische Leseran- Anagrammen
reden, die den Text als Text thematisieren (AS, 23). So stellt der
Ich-Erzähler Simplicius fest, was er gerade über eine Geisterer-
scheinung erzählt habe, sei wahr, allerdings sei »[…] Aufschneiden
keine Kunst, sondern jetziger Zeit fast das gemeinste Handwerk«,
insofern könne er »nicht leugnen, daß ichs nicht auch könnte«
(AS, 188). Später, in Paris, wird der Protagonist sogar Schauspie-
ler in einer Komödie (AS, 383). Am Ende des fünften Buches wird
Simplicius wieder zu einem Einsiedler und erhofft für sich und
seine Leser »ein seliges / Ende« (AS, 590), nur um am Anfang des
sechsten Buches, dem allerdings wie dem ersten Buch ein Motto
30 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

vorangestellt ist, gleich weiter zu erzählen.1 Der Roman mündet


in eine Robinsonade und er entpuppt sich als Lebensbeichte des
gestrandeten Protagonisten (AS, 706). Das letzte Kapitel ist ein
Brief eines »holländischen Schiffscapitäns« an seinen guten Freund,
»German Schleiffheim von Sulsfort« (AS, 707) – wieder ein Anagramm.
Die Erzählsituation Ebenfalls unzeitgemäß modern klingt der Anfang des Romans:
»Es eröffnet sich zu dieser unsrer Zeit, von welcher man glaubt,
daß es die letzte sei, unter geringeren Leuten eine Sucht […]«,
mehr zu scheinen als zu sein, in dem Fall: sich als »rittermäßige
Herrn und adlige Personen von uraltem Geschlecht« auszugeben,
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aber doch eigentlich nur Kinder von Schornsteinfegern, Tagelöh-


nern und anderen einfachen Leuten oder gar von »Huren« oder
»Hexen« zu sein. »Solchen närrischen Leuten mag ich mich nicht
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

gleichstellen […]« (AS, 9), meint der Ich-Erzähler. Er gibt sich als
Sohn armer Leute aus dem Spessart aus, wobei er die Armut iro-
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nisch als Reichtum zeichnet, etwa in der Beschreibung der heimi-


schen Hütte: »Sein Zimmer, Säl und Gemächer hatte er inwendig
vom Rauch ganz erschwärzen lassen, nur darum, dieweil dies die
beständigste Farbe von der Welt ist und dergleichen Gemäld bis zu
seiner Perfection mehr Zeit braucht, als ein künstlerischer Maler
zu seinen trefflichsten Kunststücken erheischt« (AS, 10). Gleich
am Anfang des Romans wird also ein standes- und ökonomiekri-
tischer Diskurs eröffnet.
Der Ich-Erzähler befindet sich als Junge noch ganz im Zustand
der Unschuld: »Ja, ich war so perfect und vollkommen in der
Unwissenheit, daß mir unmüglich war zu wissen, daß ich so gar
nichts wußte« (AS, 15). Die Austreibung aus dem Paradies der
Kindheit kommt mit der Arbeit als Schafhirte. Auch hier wird der
Roman auf der konzeptionellen Ebene wieder unerhört modern,
denn er etabliert einen Kontrast nicht nur zwischen der die Spra-
che der Bildung imitierenden Sprache des Ich-Erzählers und des-
sen Herkunft, Wissen oder Tätigkeiten, sondern auch zwischen
der Hochsprache und dem Dialekt, wie ihn der Vater des Jun-
gen spricht: »Bub biß flissig, loß di Schof nit ze wit vunanan-
ger lafen […]« (AS, 17). Auch formal werden Kontraste und Brüche

1 Allerdings handelt es sich dabei um eine Erweiterung der ursprünglichen Fas-


sung, denn »Grimmelshausen hat den Erfolg ausgenützt, die fünf Bücher des
Romans um ein sechstes vermehrt« (Hohoff 1987, 7).
G rimmelshausen : D er abenteuerliche S implicissimus (1668) 31

erzeugt, neben Liedtexten (AS, 30 ff.) finden sich beispielsweise


Dialoge wie in einem Drama (AS, 33 ff.).
Die Idylle wird durch den Gesang eines Liedes vervollständigt
und sogleich unterbrochen, denn ein Trupp Kürassiere überfällt
ihn, seine Eltern und seine Schwester können zunächst flüchten
(AS, 20). Der Trupp verwüstet das Holzhaus der Familie (AS, 24),
fängt die Flüchtenden wieder ein und dazu weitere Bauersleute,
die allesamt gefoltert werden (AS, 25), die Frauen werden vermut-
lich vergewaltigt (AS, 26). Auf den Jungen wird geschossen, er
erschreckt sich so, dass er ohnmächtig und für tot gehalten wird
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(AS, 27). Als er wieder aufwacht, flüchtet er und nun beginnt eine
Reise mit zahlreichen Stationen, die es dem Roman ermöglicht,
ein Panorama der Zeit und Gesellschaft zu entfalten. Charakte-
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

ristisch hierfür ist der Kontrast zwischen der harten innerfiktio-


nalen Realität und der mal ironischen, mal komischen Sprache,
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die teilweise Witzcharakter erlangt: »›[…] aber sage mir doch, was
seind Leute, Menschen und Dorf?‹ ›Behüte Gott!‹ antwortete der
Einsiedel, ›bist du närrisch oder gescheit?‹ ›Nein,‹ sagte ich, ›mei-
ner Meuder und meines Knäns Bub bin ich und nicht der Närrisch
oder der Gescheit‹« (AS, 33). Die Dummheit des Jungen sorgt für
Kontraste, die das Verhalten der Menschen entlarven, etwa wenn
er ein Tanzvergnügen stört, das wenig von dem kulturellen Ereig-
nis hat, als das es ausgegeben wird (AS, 117 ff.).
Die ausgeübte Gewalt ist wechselseitig. Die Bauern sind kei- Ein Panorama von Krieg
neswegs nur die Opfer, sondern auch Täter, die nicht weniger und Gewalt
grausam vorgehen, etwa indem sie einem Soldaten »Nasen und
Ohren abgeschnitten« und ihn gezwungen haben, dass er sei-
nen toten Kameraden »den Hintern lecken müssen« (AS, 54). Der
Junge schließt aus seinen bisherigen Erfahrungen, »[…] es müßten
ohnfehlbar zweierlei Menschen in der Welt sein, so nicht einer-
lei Geschlechts von Adam her, sondern wilde und zahme wären
wie andere unvernünftige Tiere, weil sie einander so grausam
verfolgten« (AS, 58). Von hier aus lässt sich leicht ein Bogen zum
Krieg schlagen, dessen grausames Schlachten in »ganz Europam«
der Junge zunächst träumt (AS, 66), bevor er selbst hineingezo-
gen wird. Als vorausdeutende moralische Botschaft kann eine im
Traum vorkommende Inschrift verstanden werden: »Durch inner-
liche Krieg und brüderlichen Streit / Wird alles umgekehrt und
folget lauter Leid« (AS, 67). Dies wird der Roman, mit der für ihn
32 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

eigenen Lakonie und Ironie, in allen nur denkbaren Facetten vor-


führen.
Bildung im Roman Zwar zeigt sich der Simplicissimus als ein früher Bildungsoman.
Der Einsiedler unterrichtet den Jungen, vor allem natürlich in der
Kenntnis der Bibel (AS, 37 ff.), ebenso im Lesen und Schreiben (AS,
41). Doch auch hier finden sich die für den Roman typischen ironi-
schen Kontraste. Der Einsiedler meint, kurz bevor er stirbt, zu dem
Jungen: »Vermeinst du, mich zu nötigen, länger in diesem Jammer-
tal zu leben? Ach nein, mein Sohn, laß mich fahren […]«, zumal er
durch »Gottes ausdrücklichen Willen« abberufen werde (AS, 47). Die
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dem Jungen mit auf den Weg gegebenen Ratschläge, »sich selbst
erkennen, böse Gesellschaft meiden und beständig verbleiben« (AS,
48), wird dieser aber, wenn er am Leben bleiben und weiterkom-
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

men will, nicht befolgen können, eher im Gegenteil. Der üblicher-


weise für den Barock als verbindlich konstatierte christlich-philoso-
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phische Kontext wird auf diese Weise ironisch unterlaufen.


Der vom Einsiedler wegen seiner Einfältigkeit Simplici getaufte
Junge hat zunächst Glück im Unglück, denn der Einsiedler war
»nicht allein des hiesigen Gouverneurs Schwager, sondern auch
im Krieg sein Beförderer und wertester Freund« (AS, 81). Dies gibt
dem Jungen gute Startchancen und dem Roman die Möglichkeit,
die Lasterhaftigkeit des Adels, des Klerus und des gehobenen Bür-
gertums zu schildern (AS, 87 ff.). Dass sich Günter Grass’ Roman
Die Blechtrommel auf den Simplicissimus bezieht, zeigt sich mögli-
cherweise nicht nur in dem Schelmencharakter der Figur und in
der Parallele des Krieges, sondern auch darin, dass Grimmelshau-
sens Protagonist bei der ersten Musterung »mit einer entlehnten
Trommel« ›ausstaffiert‹ wird (AS, 133).
Um dem Dienst in der Armee zu entgehen, folgt er dem Rat
des Pfarrers und stellt sich noch dümmer, als er ist, damit er für
Die Figur des Narren einen Narren gehalten wird (AS, 134 ff.). Er ist allerdings ein dop-
pelter Narr, wie sein Herr erkennt, der meint, der Junge sei unter
der »Kalbshaut«, die er als äußeres Zeichen trägt, auch »mit einer
Schalkshaut überzogen« (AS, 165). Und sein Herr stellt fest: »›Ich
halte ihn vor einen Narrn, weil er jedem die Wahrheit so unge-
scheut sagt […]« (AS, 168). Das gute Narrenleben endet, als der Pro-
tagonist zunächst von kroatischen Soldaten entführt wird (AS,
175). Er dient verschiedenen Offizieren, nimmt an der Belagerung
der Stadt Magdeburg teil (AS, 203) und hat viele weitere Erlebnisse
im Krieg. Dabei ist er selbst oft und in jeder Hinsicht mitten im
G rimmelshausen : D er abenteuerliche S implicissimus (1668) 33

Getümmel: »Ich lebte eben dahin wie ein Blinder in aller Sicher-
heit und ward je länger je hoffärtiger […]« (AS, 305), auch darin,
dass es ihm später »nur darum zu tun war, wie ich den Ehestand
ledigerweise treiben möchte« (AS, 351). Simplicius selbst fasst
seine Erlebnisse mit folgendem Paradoxon zusammen: »Also ward
ich beizeiten gewahr, daß nichts Beständigers in der Welt ist als
die Unbeständigkeit selbsten« (AS, 289).
Zwar stirbt seine Frau, aber er hat einen Sohn (AS, 501), wobei
sich dieser als vermeintlicher Sohn und ein anderer als der rich-
tige entpuppt (AS, 523). Auch sein vermeintlicher Vater begegnet
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ihm wieder (AS, 514), der allerdings enthüllt, dass Simplicius nur
ein Pflegekind war, »Melchior Sternfels von Fuchsheim« heißt und
»meines Einsiedlers und des Gubernator Ramsey Schwester leib-
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

licher Sohn gewesen« (AS, 520). Es handelt sich um ein weiteres


Anagramm des Namens von Grimmelshausen, erneut wird mit
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dem Verhältnis von Fakten und Fiktionen gespielt.


Der Begriff der Freiheit bedeutet im Roman einmal als »Schutz,
Schirm und alle Freiheit« die Sicherheit vor Angriffen innerhalb
einer »Festung« (AS, 329), hier ist Freiheit in einem geordneten
und gesicherten Raum einer (feudalen) Ordnung möglich. Als Freiheit und feudale
Simplicius geheiratet hat, stellt er fest, »daß ich meine edle Frei- Ordnung
heit verloren hatte und unter einer Botmäßigkeit leben sollte«
(AS, 359). Wieder bedeutet Freiheit, wenn auch bereits ironisch
gebrochen, die Abwesenheit von Zwang und äußerer Gewalt. Die
Frage von Freiheit und Religion wird diskutiert, wenn Simplicius
mit einem »Wassermännlein« (AS, 534), dem »Fürst über die Mum-
melsee« (AS, 535) über Gott spricht. Simplicius wundert sich, dass
auch die Wasserleute Gott als Herrn akzeptieren und sich trotz-
dem »der Freiheit rühmen könnten, wann sie einem König unter-
worfen«. Der Wassermann erwidert:
»Gegen die Freiheit, deren er sich gerühmt, sei die Freiheit des aller-
größten Monarchen unter uns irdischen Menschen gar nichts, ja nicht
soviel als ein Schatten zu rechnen; denn sie könnten weder von uns
noch andern Kreaturen getötet noch zu etwas Unbeliebigem genötigt,
vielweniger befängnißt werden, weil sie Feuer, Wasser, Luft und Erde
ohn einzige Mühe und Müdigkeit, von deren sie gar nichts wüßten,
durchgehen könnten.«

Auf die Frage, ob Gott sie dadurch mehr geadelt habe, stellt er fest:
»›Was kann die Güte Gottes davor, wann euer einer sein selbst ver-
34 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

gißt, sich der Kreaturen der Welt und deren schändlichen Wollüs-
ten ergibt […]‹« (AS, 541). Hier sind wir mitten im Theodizee-Dis-
kurs, der immerhin den Figuren einen freien Willen zum Bösen
oder Guten zugesteht. Allerdings ist das Groteske der Szene nicht
zu verkennen und es ist doch sehr zu fragen, ob die Verkündung
der theologischen Botschaft durch einen Wassermann nicht eine
weitere Ironisierung bedeutet, die den hier aufgerufenen Diskurs
gleich wieder unterläuft; wie auch die spielerisch-metafiktionale
Rahmung des Romans das zweimalige Herbeiwünschen der Erlö-
sung »durch ein seliges / Ende« (AS, 706).
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3.3. Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (1772)


Abb. 3.3
Als der wichtigste deutsch-
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

Gotthold Ephraim Les-


sprachige Autor des 18. Jahr-
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sing, Gemälde von hunderts gilt Gotthold


Anton Graff, 1771 Ephraim Lessing (1729 – 81).
Bereits während seines Stu-
diums in Leipzig wurde 1747
sein erstes Stück aufgeführt.
Lessing kommt vor allem für
seine Dramen eine in der
Literaturgeschichte heraus-
ragende Bedeutung zu, er
hat aber auch Fabeln und
Gedichte geschrieben, dazu
theologische, philosophi-
sche, kunsttheoretische oder
literatur- und theaterkritische


Arbeiten. Mit der »Theatersen-


sation« (Sternburg 2010, 7) Miß Sara Sampson (1755) begründet Les-
sing, unter dem Einfluss von Vorbildern aus England und Frank-
reich, die folgenreiche Gattung des bürgerlichen Trauerspiels, in
Gemischte Charaktere dem nicht mehr typenhafte Figuren, sondern gemischte Charak-
tere auftreten, mit denen sich die (bürgerlichen) Zuschauer iden-
tifizieren können. Die Figuren haben nun individuelle Züge und
reagieren mit nachvollziehbaren Emotionen auf das Geschehen.
Lessings Minna von Barnhelm (1767) ist das erste moderne Lust-
spiel, dessen Figuren nicht aus den niederen Ständen kommen
und auch nicht dem Verlachen ausgesetzt werden. Das Lustspiel
G otthold E phr aim L essing : E milia G alotti (1772) 35

entwickelt eine dramatische Handlung und setzt nicht auf pla-


kative Wirkung durch Wortwitz und Situationskomik, insofern
kann man in ihm einen Vertreter der ›ernsten Komödie‹ (Arnt-
zen 1968) und einen Vorläufer der Tragikomödien des 20. Jahr-
hunderts sehen.
Kurz gesagt: »Lessing ist der Anfang« (Sternburg 2010, 8).
Anders gesagt: Lessing steht am Anfang der Entwicklung einer
modernen Literatur, die Autoren wie Goethe und Schiller fort-
führen werden. Er befreit das Drama und dessen Figuren, indem Lessing befreit das
er die bisherige Auffassung von Literatur verabschiedet. Lessings Drama von den alten
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Regeln
Figurenrede ist so realistisch wie möglich, das Verhalten der Figu-
ren ist für ein bürgerliches und adeliges Publikum gleichermaßen
nachvollziehbar. Man kann sich identifizieren, man kann sich ein-
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

fühlen und man kann mitfühlen.


Martin Opitz hatte in seinem wichtigen Buch von der Deutschen
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Poeterey (1624) noch bündig formuliert: »Die Tragedie ist an der


maiestet dem Heroischen getichte gemeße / ohne das sie selten
leidet / das man geringen standes personen vnd schlechte sachen
einführe […]« (Opitz 1995, 27). Opitz beruft sich, wie alle anderen
Verfasser von Poetiken auch, auf Aristoteles, den Lessing nun voll-
kommen anders interpretiert: »Die Tragödie, so nimmt er [Aristo-
teles] an, soll Mitleid und Schrecken erregen; und daraus folgert
er, daß der Held derselben weder ein ganz tugendhafter Mann
noch ein völliger Bösewicht sein müsse« (Lessing 1999, 378). Das
absolutistische Zeitalter ist vorbei, zumindest in der Literatur. Das
Vorbildhafte des Adels ist für Lessing unglaubwürdig. Nicht die
dem Weltbild des Mittelalters angepassten Merkmale des Standes,
sondern die individuellen Züge der Figuren entscheiden über die
Qualität und Bedeutung eines Stücks.
Emilia Galotti »gehört zum Kanon der klassischen deutschen
Dramenliteratur« (Sternburg 2010, 117), das (bürgerliche) Trauer-
spiel hat zum Schauplatz einen »[…] mittelalterlichen italienischen
Kleinstaat. Der Prinz Hettore Gonzaga hat sich in die bildschöne,
tugendhafte Emilia Galotti verliebt und versucht vergeblich, sie
für sich zu gewinnen« (Sternburg 2010, 119). Als er erfährt, dass
Emilia den Grafen Appiani heiraten soll, lässt sein Kammerherr
Marinelli die Braut entführen, dabei wird der Graf ermordet. Der
Prinz hält Emilia fest und sie sieht zum Schluss keinen anderen
Ausweg, ihre Tugend zu retten, als ihren Vater Odoardo zu bitten,
sie zu erstechen. Mit ihrem Tod scheitert die Intrige.
36 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

Die Vorlage Lessings Vorlage ist die legendenhafte Geschichte des Mäd-
chens Verginia, verfasst vom römischen Geschichtsschreiber
Livius (59 v. Chr. – 17 n. Chr.). Auch hier wird das Mädchen vom
mächtigsten Mann im Staat begehrt, der versucht, sich ihrer
durch eine Intrige zu bemächtigen. Auch hier ersticht der Vater
seine Tochter, um ihre Tugend und Ehre zu retten. Die Handlung
endet jedoch, anders als bei Lessing, mit einem Aufstand und der
Wiederherstellung der römischen Republik. Lessing musste bei
seinem Arbeitgeber, dem Herzog von Wolfenbüttel, eine Drucker-
laubnis einholen und ein revolutionärer Schluss hätte wohl ein
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großes Problem dargestellt.


Von der Forschung sind bereits viele Anspielungen auf die Zeit-
geschichte identifiziert worden (Fick 2010, 378 ff.). Die neuere For-
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

schung sieht in diesem Drama vor allem die Frage nach der »Auto-
nomie« der Figuren im Mittelpunkt (Fick 2010, 387). Damit steht
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die individuelle Freiheit in einem gegebenen – und zur Kritik


freigegebenen – Ordnungsrahmen zur Disposition, aber auch im
Rahmen der individuellen Bedingtheiten. In diesem Fall wird von
der Interpretation besonders Emilias Konflikt betont, mit ihrem
auf die Werbung des Prinzen reagierenden »sexuellen Begehren«
umzugehen (Fick 2010, 389).
Tatsächlich scheinen alle Figuren des Stücks von Anfang an
Alle Figuren sind unfrei unfrei zu sein, schließlich beginnt es mit den Worten des Prinzen:
»Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften! –
Die traurigen Geschäfte; und man beneidet uns noch!« (EG, 517).
Er steht kurz vor seiner Hochzeit mit der »Prinzessin von Massa«,
Kritik am Absolutismus die er nicht liebt: »Mein Herz wird das Opfer eines elenden Staats-
interesse« (EG, 524). Selbst der Prinz ist demnach unfrei, sogar, wie
sich unmittelbar darauf zeigen wird, in einem weiteren Sinn, als
Sklave seiner Triebe, seiner unbändigen Liebe zu Emilia Galotti.
Der Prinz ist sogar bereit, ein Todesurteil zu unterschreiben, ohne
zu wissen warum, nur um schnell fortzukommen und bei Mari-
nellis Plan zu helfen (EG, 531).
Denn sein Kammerherr hat ihm von der für denselben Tag
geplanten Hochzeit des Grafen Appiani mit Emilia berichtet. Er
sei »ein sehr würdiger junger Mann, ein schöner Mann, ein rei-
cher Mann, ein Mann voller Ehre«, meint der Prinz noch, bevor
er die Nachricht erfährt. Für Marinelli handelt es sich, wegen des
geringen Standes der Verlobten Appianis, um ein »Mißbündnis«
(EG, 526). Der Prinz fragt ungläubig nach, zum ersten Mal wird
G otthold E phr aim L essing : E milia G alotti (1772) 37

hier angedeutet, dass es eine Gewalttat geben wird, auch die Waffe
wird benannt, nur das Opfer wird ein anderes sein: »Sprich dein
verdammtes ›Eben die‹ noch einmal, und stoß mir den Dolch ins
Herz!« (EG, 527). Marinelli wiederholt die Worte ohne zu zögern,
denn er weiß, dass es der Prinz nicht so ernst meint, wie es klingt.
Marinelli fordert vom Prinzen »freie Hand«, um die Hochzeit zu
verhindern, und bekommt dies gewährt (EG, 529).
Odoardo, der Vater Emilias, wird zunächst als Bewacher von
Emilias Tugend vorgestellt, für ihn ist schon der kurze Weg vom
Haus in die Kirche »genug zu einem Fehltritt« (EG, 533). Odoardo
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sieht in der »Nähe des Hofes« eine Gefahr für die Tugend der
Tochter (EG, 536). Allerdings scheint das Misstrauen seiner »rau-
hen Tugend«, wie seine Frau Claudia tadelnd feststellt, mehr
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

als gerechtfertigt zu sein. Anders als seine Frau ahnt er in der


Begegnung des Prinzen mit Emilia die Wurzel möglichen Übels:
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»Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt« (EG, 537). Und seine


Befürchtung wird bestätigt, denn der Prinz hat Emilia in der Kir-
che seine Liebe gestanden (EG, 539). Sie kehrt »in einer ängstlichen
Verwirrung« nach Hause zurück, weil sie Angst davor hat, durch
»fremdes Laster« zur »Mitschuldigen« zu werden (EG, 538). Sie
war in der Situation nicht mehr Herrin über ihre Affekte: »Meine
Sinne hatten mich verlassen« (EG, 540). Die Tochter will dem Bräu-
tigam alles beichten, doch die Mutter rät ihr davon ab (EG, 540 f.).
Dagegen ist die Beziehung Emilias zu Appiani – und umge-
kehrt – von der Freiheit der Wahl geprägt. Emilia erinnert sich, Die Freiheit der Wahl
wie sie ihrem Bräutigam, »als ich Ihnen zuerst gefiel«, »fliegend hat keinen Bestand
und frei« entgegen ging (EG, 543). Diese Freiheit hat keinen
Bestand. Marinelli inszeniert einen Überfall, bei dem Appiani
getötet wird (EG, 551 u. 560). Emilia flüchtet, auch das ist insze-
niert, in das Lustschloss des Prinzen (EG, 554 f.). Der führt sie fort
und ihre Mutter sucht nach ihr. Die Bedienten des Prinzen füh-
ren zweideutige Reden, Marinelli spricht von dem »Wolf bei dem
Schäfchen« (EG, 558). Battista meint zu Claudia: »O, Ihre Gnaden,
sie könnte in dem Schoße der Seligkeit nicht aufgehobner sein«
(EG, 559), und Marinelli ergänzt: »Mit der zärtlichsten Sorgfalt ist
der Prinz selbst um sie beschäftiget – «, wobei der Bindestrich eine
bewusst gesetzte Leerstelle für die erotische Phantasie der Leser
markiert (EG, 560). Claudia zieht die entsprechenden Schlüsse, sie
durchschaut die Absicht der Intrige und nennt Marinelli einen
»Mörder« (EG, 561). Der Prinz wäscht seine Hände in Unschuld,
38 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

er bezeichnet sich selbst Marinelli gegenüber, dem er freie Hand


gegeben hat, als »unschuldig an diesem Blute« (EG, 562). Und
auch Marinelli vertuscht seine Absicht: »Als ob sein Tod in mei-
nem Plane gewesen wäre!« Die beiden überzeugen sich gegensei-
tig, obwohl der Zuschauer es besser weiß.
Dass der Prinz Emilia, wovon Marinelli nichts wusste, bereits
in der Kirche seine Liebe gestanden hat und dass nun die Mätresse
des Prinzen, die Gräfin Orsina auftaucht, verkompliziert die Lage
(EG, 565 f.), zumal die Gräfin von dem Gespräch in der Kirche weiß
und ahnt, welche Bewandtnis es mit den Vorgängen hat (EG, 573).
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Orsina klärt Odoardo über den Tod des Bräutigams auf und prog-
nostiziert der Braut ein Schicksal »schlimmer als tot«, ein Leben
als Mätresse des Prinzen: »Ein Leben voll Wonne! Das schönste,
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

lustigste Schlaraffenleben, – so lang’ es dauert« (EG, 576). Sie gibt


Odoardo einen Dolch in der Hoffnung, dass er damit ihre Rache
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am Prinzen ausführt und durch seinen Tod zugleich verhindert,


dass noch viele andere das gleiche Schicksal ereilt (EG, 577). Clau-
dia tritt auf und versucht Odoardo zu beruhigen. Emilia sei »die
Furchtsamste und Entschlossenste unseres Geschlechts« und halte
»den Prinzen in einer Entfernung« (EG, 579).
Intrige folgt auf Intrige Der Prinz und Marinelli spinnen eine weitere Intrige, als
Odoardo die Herausgabe seiner Tochter verlangt. Sie geben sich
als »Rächer« des Grafen aus und erfinden eine Geschichte von
einem »Nebenbuhler«, der ihn ermordet haben soll (EG, 585). Des-
halb soll Emilia nicht mit dem Vater auf dessen Landsitz reisen,
sondern mit dem Prinzen in die Residenzstadt, sie werde »in eine
besondere Verwahrung« im Haus seines Kanzlers genommen.
Odoardo durchschaut den Trick (EG, 586) und reagiert mit Iro-
nie: »Das Haus eines Kanzlers ist natürlicher Weise eine Freistatt
der Tugend.« Zugleich verlangt er, Emilia nur kurz zu sprechen
(EG, 588). Emilia will fliehen, doch Odoardo sieht keine Möglich-
keit: »Du bist, du bleibst in den Händen deines Räubers« (EG, 589).
Emilia will sich selbst töten, ihr Vater will sie abhalten: »Auch Du
hast nur Ein Leben zu verlieren«, worauf Emilia erwidert: »Und
nur Eine Unschuld!« Ihr Vater meint, ihre Unschuld sei ja »über
alle Gewalt erhaben«, und Emilia entgegnet: »Aber nicht über alle
Verführung.« Und es folgt die viel diskutierte Stelle: »Was Gewalt
heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut,
mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine
Sinne, sind Sinne. Ich stehe für nichts« (EG, 590). Weil ihr Vater
G otthold E phr aim L essing : E milia G alotti (1772) 39

nicht will, dass sie sich selbst tötet, bittet sie ihn darum und er
tut es im Affekt, wofür seine Tochter ihm dankt: »Eine Rose gebro-
chen, ehe der Sturm sie entblättert« (EG, 591).
Hier ist ein zentraler Aspekt der Konzeption zu betrachten. Das
Stück wird zum Schluss genauso metafiktional wie am Anfang,
als ein Diskurs über die Bedeutung von Kunst geführt wurde.
Der Maler Conti, der ein Porträt Orsinas bringt, ist der Meinung:
»Die Kunst muß malen, wie sich die plastische Natur, – wenn es
eine gibt – das Bild dachte: ohne den Abfall, welchen der wider-
strebende Stoff unvermeidlich macht; ohne das Verderb, mit wel-
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chem die Zeit dagegen an kämpfet« (EG, 519 f.). Darauf erwidert
der Prinz, der Orsina nicht mehr liebt: »Der denkende Künstler
ist noch eins so viel wert« (EG, 520). Der Maler wird durch seine
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

Reden der Lächerlichkeit preisgegeben. Dass er außerdem ein


hervorragendes Porträt von Emilia Galotti gemalt hat, scheint
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eher an der Inspiration durch die Schönheit des Vorbilds gelegen


zu haben (EG, 521 f.). Doch auch die Literatur selbst verfällt der
Ironie, wenn Marinelli über die vom Verhalten des Prinzen ent-
täuschte Orsina berichtet: »Sie hat zu den Büchern ihre Zuflucht
genommen; und ich fürchte, die werden ihr den Rest geben.«
Und der Prinz ergänzt, nicht weniger ironisch: »So wie sie ihrem
armen Verstande auch den ersten Stoß gegeben« (EG, 525). Den
gänzlich unironischen Stoß gibt Odoardo seiner Tochter. Als der
Prinz ihn zur Rede stellt, wirft er ihm den Dolch vor die Füße: »Sie
erwarten vielleicht, daß ich den Stahl wider mich selbst kehren
werde, um meine Tat wie eine schale Tragödie zu beschließen?«
Und weiter: »Ich gehe und liefere mich selbst in das Gefängnis. Ich
gehe, und erwarte Sie, als Richter. – Und dann dort – erwarte ich
Sie vor dem Richter unser aller!« (EG, 592).
Der Richter aller Figuren und des Stücks, dessen Konstrukti-
onscharakter durch solche metafiktionalen Stellen durchsich-
tig gemacht wird, ist der Leser oder Zuschauer. Der versierte Die Rolle des Lesers
Theaterkritiker Lessing weiß das und er führt es hier in einer
Analogie von Richter, Gott und Leser vor, die alle die Funktion
haben, über die Tugend zu beschließen, genauer über verschie-
dene Tugenden. Mit dem Begriff des Richters wird die Unfreiheit
angesprochen, die in Guastalla herrscht, in einem exemplari-
schen feudalen Kleinstaat, der für alle Staaten steht, die der zeit-
genössische Leser kennt. Der Leser muss aber nicht nur, wie es
der offene Schluss will, über die Tugend des Vaters und die Untu-
40 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

gend des Prinzen zu Gericht sitzen, sondern auch über die Qua-
lität des Stücks, die Motivierung der Figuren und der Handlung
und natürlich die Aufführung selbst, für die das Drama geschrie-
ben ist.
Die Unfreiheit der Figuren korrespondiert mit der Freiheit des
Lesers, der zwar durch die Strategien des Stücks Vorgaben erhält,
über die – sonst wäre die Freiheit nicht vollständig – aber eben-
falls zu befinden ist. Mit dieser Konzeption steht Lessings Drama-
turgie am Anfang einer bis heute andauernden Entwicklung, die
Eigengesetzlichkeit der Dichtung wie die Individualität der Figu-
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ren zu betonen und dabei den Leser in die Freiheit zu setzen, sich
seine eigene Meinung zu bilden – in der Hoffnung, dass er die lite-
rarischen Zeichen in ihrer flexibel gewordenen Kombination von
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

Geschlossenheit und Offenheit versteht.


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3.4. Johann Wolfgang von Goethe: Götz von Berlichingen (1773)


Goethes (1749 – 1832) erstes
Abb. 3.4
umfangreicheres Werk ist
Johann Wolfgang von
Goethe im 80. Lebens- nicht nur für ihn selbst, für
jahr, Gemälde von sein weiteres Leben und für
Joseph Karl Stieler, die Epoche des Sturm & Drang
1828 programmatisch, es hat auch
eine darüber hinaus weisende
Bedeutung für die neue Stel-
lung, die das Individuum in
der Gesellschaft einzuneh-
men beginnt. 1749 geboren,
begann der junge Jurist schon
in frühen Jahren Lieder, Auf-
sätze, Übersetzungen und


eben Dramen zu veröffentli-


chen, wobei die Produktionen ineinander griffen. So spielt der
von Goethe übersetzte Ossian, den der Schotte James Macpherson
ab 1762 als mittelalterliche Dichtung herausgegeben, tatsächlich
aber selbst verfasst hatte (eine der berühmtesten Fälschungen der
Weltliteratur), im Werther eine bedeutende Rolle. Auch zwischen
dem 1773 veröffentlichten »Schauspiel« Götz von Berlichingen mit der
eisernen Hand und dem 1774 zunächst unter dem Titel Die Leiden des
jungen Werther publizierten Briefroman gibt es Gemeinsamkeiten –
J ohann W olfgang von G oethe : G ötz von B erlichingen (1773) 41

beide Hauptfiguren scheitern an der Gegensätzlichkeit zwischen


den eigenen Ansprüchen und jenen, die ihre Umwelt an sie stellt
(Boerner 1995, 45).
Selbst wenn man den Beginn der Epoche des Sturm & Drang
bereits auf die 1760er Jahre datieren kann: Aus heutiger Sicht mar-
kiert Goethes Götz nicht nur einen fulminanten Auftakt für das „Götz“ als fulminanter
Werk des Autors selbst, sondern auch für die moderne deutsch- Auftakt
sprachige Literatur, und er ist ein Symptom für die sich radikal
verändernde gesellschaftliche Entwicklung, zu der er selbst bei-
trägt.
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Mit der langsamen Ablösung des christlichen Zeitalters durch


das naturwissenschaftliche wird der einzelne Mensch aus dem
Gefüge der als gottgewollt gesehenen Ordnung ›freigesetzt‹, eine
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

Ordnung, in der Kaiser, Könige und Fürsten, der Papst und der
Klerus als Stellvertreter Gottes auf Erden agierten und über Bau-
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ern und Handwerker regierten. Der Mensch wird aus seinem bis-
herigen Ordnungs- und Bezugssystem herausgelöst und muss
beginnen, selber zu denken: »Sapere aude! Habe Mut, dich dei- „Sapere aude!“
nes eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der
Aufklärung« (Kant 2002, 9), wird es Kant in seinem Essay Beant-
wortung der Frage: Was ist Aufklärung? im Jahr 1783 formulieren
und in dem Begriff der Aufklärung die Entwicklung des ganzen
18. Jahrhunderts zusammenfassen. Das moderne Subjekt muss
nun, anders als früher, eigene Entscheidungen treffen, ob es das
will oder nicht. Die Ende des 20. Jahrhunderts von Ulrich Beck
hervorgehobenen Chancen der Freiheit (Beck 2003, 370) oder, je
nach Perspektive, der von Zygmunt Bauman konstatierte Zwang
zur Freiheit (Bauman 2003, 12 f.) – beides beginnt bereits hier, im
18. Jahrhundert, und zwar mit dem Götz. Das »Schauspiel« verab- Bruch mit den Regeln
schiedet alle noch geltenden, überlieferten Regeln – literarische,
gesetzliche, soziale – in einer Tour de force, zumindest im Mikro-
kosmos eines Theaterstücks: »Der Bruch mit dem klassizistischen
Drama war mit diesem Stück, das neunundfünfzig Szenenwech-
sel hat und weder eine Einheit der Zeit noch des Orts kennt, end-
gültig vollzogen« (Boerner 1995, 39).
Die scheinbare Regellosigkeit, die sich in häufigen Orts- und
Figurenwechseln, in Handlungs- und Zeitsprüngen ausdrückt und
die signalisiert, dass sich Literatur nicht mehr an der aristoteli-
schen Dramenpoetik (wie sie im deutschsprachigen Raum lange
Zeit rezipiert wurde) orientiert, sondern sich eigene Regeln gibt,
42 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

hat dennoch klare Vorbilder, die sich in Goethes Werk erkennen


lassen: William Shakespeare einerseits, die antiken Mythen ande-
rerseits, wie sie bereits Shakespeare, in freier Form, produktiv
rezipiert hat. Ein anderer Text Goethes soll kurz mit in Rechnung
gestellt werden, der das neue (und doch nicht so neue) Bezugssys-
tem aufzeigen hilft: die Rede Zum Schäkespears Tag, im Elternhaus
am 14. Oktober 1771 anlässlich des Frankfurter Shakespeare-Tages
vorgetragen. Nicht zufällig entstand im selben Jahr auch die erste
Fassung des Götz (Neuhaus V. 2009, 68; Dahnke 1998, 982 – 987).
Das Vorbild Das Werk William Shakespeares (1564 – 1616) ist deshalb so
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Shakespeare bedeutsam, weil für den englischen Renaissance-Dichter die kon-


tinentalen Bezugs- und Regelsysteme, von denen sich Goethe und
seine Zeitgenossen verabschieden möchten, nicht verbindlich
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

waren. Bereits Shakespeare stellt gemischte Charaktere auf die


Bühne, die ein bürgerliches Bewusstsein haben, auch wenn sie
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dem Adelsstand angehören. Es finden sich, anders als in der durch


Martin Opitz (Opitz 1995) oder Johann Christoph Gottsched (Gott-
sched 1998) tradierten Regelpoetik, häufige Ortswechsel, zahl-
reiche Schauplätze und Personen, psychologisierte Figuren, die
weder nur gut oder böse sind und die komische Züge haben kön-
nen, auch wenn sie dem höheren Stand angehören, oder tragi-
sche, selbst wenn sie aus den unteren Ständen kommen. Shake-
speare setzt den jungen Dichter in Freiheit, seine eigenen Ideen
zu verwirklichen, in den Worten von Goethes Rede über ihn:
Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu ent-
sagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich,
die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbil-
dungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, dass ich Hände
und Füße hatte. Und jetzo, da ich sahe, wie viel Unrecht mir die Herrn
der Regeln in ihrem Loch angetan haben, wie viel freie Seelen noch
drinnen sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten, wenn ich
ihnen nicht Fehde angekündigt hätte und nicht täglich suchte, ihre
Türne zusammenzuschlagen. (Goethe 2014, 137)

Schon hier spielt die Vokabel ›frei‹ eine zentrale Rolle. Es geht
darum, sich von überkommenen Regeln zu befreien, die dem Indi-
viduum Fesseln anlegen und ihm ein »Unrecht« antun. Schuld
sind »die Herrn der Regeln«, also Autoritäten, die nicht näher
benannt werden. Shakespeare ist das Werkzeug, mit dem die Fes-
seln gesprengt werden können, denn seine
J ohann W olfgang von G oethe : G ötz von B erlichingen (1773) 43

[…] Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt […], in dem das
Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unseres Wol-
lens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt. Unser
verdorbener Geschmack aber umnebelt dergestalt unsere Augen, dass
wir fast eine neue Schöpfung nötig haben, uns aus dieser Finsternis
zu entwickeln. (Goethe 2014, 138)

Goethe zieht für die Arbeit an seiner Dichtung entsprechende


Konsequenzen. Er schreibt nicht ein historisches Drama, sondern
ein Drama, das sich frei bei der Geschichte bedient. Das reale Vor- Wichtige
Veränderungen des
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bild des Götz lebte von ca. 1480 bis 1562, also deutlich länger
Stoffes
als im Stück (Neuhaus V. 2009, 8 ff., 64 ff.). Götz und die anderen
Figuren suchen Orientierung in einer Welt, die sich im Umbruch
befindet.
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

Mit dem Götz beginnt ein neues Zeitalter des Problem- und
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Verantwortungsbewusstseins (in) der Literatur. Wenn sich Auto-


ren eigene Regeln geben, wenn Texte nach eigenen Regeln funk-
tionieren, dann kann der Leser nicht bevormundet werden. Der
Text kann ein Werkzeug sein, mit dem sein Leser sich ebenfalls
eigene Regeln gibt, vor allem für seine Vorstellungen von Realität,
für seine Identität, für sein soziales Leben. Anders als in der Früh-
aufklärung wird der Leser nicht mehr belehrt, er soll selber den-
ken und sich seinen eigenen Reim auf die Themen machen, mit
denen er konfrontiert wird. Konsequent ist daher der Verzicht auf
den Reim und die Verwendung von Dia- und Soziolekten im Götz,
die zu den radikalen Veränderungen in der Literatur beitragen.
Der Götz beginnt in einer Herberge in Franken und mit dem
Satz: »Sievers. Hänsel, noch ein Glas Branntewein, und meß christ-
lich« (GB, 74). Wenn man den religiösen Bezug ernstnimmt, ist die
Bemerkung nichts weniger als blasphemisch. Wenig später wird
Sievers noch auf Metzlers Frage: »Seit wann hat denn der Götz wie-
der Händel mit dem Bischof von Bamberg?«, erwidern: »Ja, vertrag
du mit den Pfaffen« (ebd.). Derbe Figuren und eine derbe Spra-
che – das Stück hält sich nicht mit einer langen Exposition auf.
Und nicht nur die geistliche, auch die weltliche Obrigkeit wird Kritik an der Obrigkeit
geschmäht: »Sievers. Dürften wir nur so einmal an die Fürsten, die
uns die Haut über die Ohren ziehen.« Die zweite Szene stellt Götz
vor: »Wo meine Knechte bleiben! Auf und ab muß ich gehen, sonst
übermannt mich der Schlaf. Fünf Tag und Nächte schon auf der
Lauer. Es wird einem sauer gemacht, das bißchen Leben und Frei-
44 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

heit« (GB, 76). Doch ist es, wie sich im Laufe des Stücks herausstel-
len wird, eben diese Freiheit, auf die Götz auf keinen Fall verzich-
ten möchte. Götz wartet auf seinen ehemaligen Jugendfreund
Weislingen, der jetzt mit dem Bischof von Bamberg paktiert und
den er auf seine Burg entführen möchte, was auch gelingt.
Götz und Weislingen sind die zentralen Figuren des Stücks.
Götz setzt sein Leben für andere ein, er nimmt seinen ›Beruf‹ als
Ritter ernst, übernimmt Verantwortung und will eine Auffassung
von Gerechtigkeit durchsetzen, die unabhängig von Gerichten
ist. Der Glaube an das Recht auf Selbstbestimmung eint ihn und
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seine Frau Elisabeth, die später die Ehe von Maria mit Sickingen
mit den Worten segnet, ihre Kinder sollten vor allem ›rechtschaf-
fen‹ sein: »Und dann laßt sie werden, was sie wollen« (GB, 136) –
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

ein im 18. Jahrhundert bildungspolitisch revolutionärer Gedanke.


Weislingen hingegen ist vor allem an sich selbst interessiert, er
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kann sich nicht zwischen dem Leben am Hof und dem Leben als
freier Ritter entscheiden.
Diesen Konflikt spiegelt nicht nur der häufige Szenenwechsel
zwischen Hof und Ritterburg, sondern auch Weislingens Braut-
wahl, denn er ist zwischen Maria, der Schwester von Götz, und der
sich am Bamberger Hof aufhaltenden Witwe Adelheid von Wall-
dorf hin- und hergerissen. Die Bewertung der Figuren durch das
Stück ist sehr klar: Adelheid ist nur an ihrer Karriere am Hof inte-
ressiert, ihr geht es nicht um Gerechtigkeit und gleiche Behand-
lung, sondern um Macht, etwa wenn sie Weislingen vorwirft, er
werde durch seinen Bund mit Götz »ein Sklave eines Edelmanns
werden, da du Herr von Fürsten sein könntest« (GB, 113). Hier wird
ein anderes, auf das Eigeninteresse gerichtetes Konzept von Frei-
heit entworfen (»Ich redete für Eure Freiheit«; ebd.). Die Rechnung
geht auf, Weislingen intrigiert beim Kaiser (gemeint ist Maximi-
lian I., der von 1459 – 1519 lebte) gegen Götz und dessen Freunde
(GB, 122 f.). Adelheid benutzt Weislingen allerdings ebenso wie sei-
nen Diener Franz, mit dem sie sogar ein Liebesverhältnis eingeht,
um Weislingen, der ihr zweiter Ehemann geworden ist, aus dem
Weg räumen zu können, als sich der künftige Kaiser für sie inte-
ressiert (GB, 169 ff.).
Sprechende Namen Die Namen sind sprechend, auch bei Götz’ Schwester Maria,
deren Tugendhaftigkeit der Mutter Gottes Ehre macht. Adel-
heid ist von Adel und zugleich von heidnischer Gesinnung. Aller-
dings wäre es ein Fehler, solche Hinweise oder die häufige Nen-
J ohann W olfgang von G oethe : G ötz von B erlichingen (1773) 45

nung von Gott und Himmel im Drama als Verankerung der vom
Stück ausgestellten, positiven Werte und Verhaltensweisen in der
Religion zu verstehen, das sollte bereits der Anfang des Stücks
gezeigt haben. Wie in vielen anderen Texten auch werden die
einst religiösen Zeichen ihrer transzendenten Bedeutung ent-
kleidet und dienen, innerhalb des autonomieästhetischen Pro-
gramms und innerfiktionalen Regelsystems, als starke, die Inten-
tion des Texts verstärkende Symbole für Rechtschaffenheit und
Gerechtigkeit.
Obwohl Götz eine ältere, überwundene Rechtsauffassung Konkurrierende
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repräsentiert, so ist er doch, im Vergleich mit dem Bischof von Ordnungen


Bamberg, die modernere Figur, denn er wählt sich seine Ziele
selbst und denkt über die Verantwortlichkeit der Mittel nach, die
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

er einsetzt. Dies wird etwa in dem Gespräch von Maria und Götz’
Sohn Carl gespiegelt, wenn Maria Carl erklärt, sein Vater habe
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einem Schneider geholfen, dem ein größerer Gewinn vorenthal-


ten wurde (GB, 84). Götz ist das deutsche Pendant zu Robin Hood
und als Retter der Unterprivilegierten keineswegs nur ein Vertre-
ter vergangener Zeiten. Während Götz für die als positiv verstan-
dene Freiheit steht, repräsentiert Weislingen das Krisenhafte des
modernen Subjekts, seine Orientierungslosigkeit und sein rück-
sichtsloses Verfolgen eigener Interessen auch auf Kosten von ande-
ren. Anders als Götz werden Weislingen und mit ihm sein Diener
Franz aber als unglückliche Figuren gezeigt. Beide sind orientie-
rungslos: »Franz. Mir ist als wenn ich aus der Welt sollte. / Weislin-
gen. Mir auch, und noch darzu, als wüßt ich nicht wohin« (GB,
111).
Noch am Anfang des Stücks kann Götz seinen alten Freund im
Streitgespräch davon überzeugen, das Lager zu wechseln, er hat
dafür schlagende Argumente: »Bist du nicht eben so frei, so edel
geboren als einer in Deutschland, unabhängig, nur dem Kaiser
untertan, und du schmiegst dich unter Vasallen?« (GB, 90). Götz
ist keineswegs gegen die neue Ordnung, er hält sie aber für pro-
blematisch, weil sie dem Machtmissbrauch Tür und Tor öffnet: Freiheit und
»Weislingen, wären die Fürsten, wie Ihr sie schildert, wir hät- Macht(-missbrauch)
ten alles, was wir begehren.« Für Götz ist Freiheit eine Frage der
Selbstverantwortlichkeit: »Wenn Euer Gewissen rein ist, so seid
Ihr frei« (GB, 91).
Politisch gesehen steht Aussage gegen Aussage. Der Bamberger
Bischof ist davon überzeugt, dass der notwendige Verteidigungs-
46 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

krieg gegen die Türken durch »Privathändel« im Reich gehindert


wird, denn »[…] das Reich ist, trotz ein vierzig Landfrieden, noch
immer eine Mördergrube. Franken, Schwaben, der Oberrhein und
die angrenzenden Länder werden von übermütigen und kühnen
Rittern verheeret. Sickingen, Selbitz mit Einem Fuß, Berlichingen
mit der eisernen Hand spotten in diesen Gegenden des Kaiserli-
chen Ansehens – « (GB, 96). Götz wird dies ganz anders sehen und
auf seine Treue gegenüber dem Kaiser, auf seine Rolle als Vertre-
ter der kaiserlichen Ordnung pochen. Auch der berühmteste Satz
des Dramas fällt im Kontext einer Rechtfertigung seines Verhal-
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tens: »Sag deinem Hauptmann: Vor Ihro Kaiserliche Majestät, hab


ich, wie immer schuldigen Respekt. Er aber, sag’s ihm, er kann
mich im Arsch lecken« (Goethe 2014, 77; die Beleidigung ist in vie-
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

len Ausgaben durch Gedankenstriche ersetzt, so auch in GB, 139).


Der Unterschied zwischen Ritter und Bischof zeigt sich im Ver-
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halten, etwa wenn Götz froh ist über Weislingens Liebe zu seiner
Schwester, weil seine Interessen und die Liebe der beiden ohne
sein Zutun übereinstimmen. Unfreiwillig zeigt Götz’ Wortwahl
Liebe und Freiheit gegenüber seiner Schwester aber auch, dass Liebe und Freiheit
nicht unbedingt zusammen gehen: »Du kannst mehr als Hanf
spinnen. Du hast einen Faden gedreht, diesen Paradiesvogel zu
fesseln« (GB, 99). Doch Weislingen bekundet: »Ich fühle mich so
frei wie in heiterer Luft. […] So gewiß ist der allein glücklich und
groß, der weder zu herrschen noch zu gehorchen braucht, um
etwas zu sein!« (GB, 101).
Auf der anderen Seite gibt der Bischof Adelheid den Auftrag,
Weislingen durch Verführung an den Hof zu binden: »Ich bitt
Euch, versagt mir nicht, was mir sonst niemand gewähren kann«
(GB, 106). Liebetraut, der Vertraute des Bischofs, besorgt den stär-
keren Hanf: »Wie er nun in sein Herz ging, und das zu entwickeln
suchte, und viel zu sehr mit sich beschäftigt war, um auf sich
achtzugeben, warf ich ihm ein Seil um den Hals, aus drei mäch-
tigen Stricken, Weiber-, Fürstengunst und Schmeichelei, gedreht,
und so hab ich ihn hergeschleppt« (GB, 109).
Selbst als Götz verfolgt wird, hält er dem Kaiser die Treue: »Es
lebe der Kaiser!« (GB, 141). Hier steht, wie beim englischen ›Long
live the king‹, der Kaiser als Symbol für eine Ordnung, die wie-
der mit dem zentralen Begriff nicht nur dieses Stücks bedacht
und dreifach bekräftigt wird, wenn Götz fragt: »[…] was soll unser
letztes Wort sein? Georg. Es lebe die Freiheit! Götz. Es lebe die Frei-
J ohann W olfgang von G oethe : G ötz von B erlichingen (1773) 47

heit! Alle. Es lebe die Freiheit! Götz. Und wenn die uns überlebt,
können wir ruhig sterben« (GB, 141). Die hier propagierte Frei-
heit ist nicht einfach nur die historische Freiheit des Raubritter-
tums, sondern auch eine verantwortliche und selbstverantwort-
liche mit zukunftsweisendem Charakter: »Das wäre ein Leben!
Georg! wenn man seine Haut für die allgemeine Glückseligkeit
dransetzte.« Doch wie Georg so richtig feststellt, wurden sie im
Namen des Kaisers eingesperrt, der für sie als Symbol und Garant
für Freiheit steht (GB, 143). Als selbst Götz verzweifelt, als seine
Vertrauten gegen alle Versicherungen gefangen genommen oder
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sogar getötet werden, beruhigt ihn seine Frau: »Sie haben ihren
Lohn, er ward mit ihnen geboren, ein freies, edles Herz. Laß sie
gefangen sein, sie sind frei!« (GB, 145).
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

Das endgültige Scheitern von Götz wird – hier weist das Stück
auf Schillers Die Räuber voraus – durch die falsche Annahme der
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Hauptfigur besiegelt, im Bauernaufstand mäßigend wirken und


für Gerechtigkeit sorgen zu können: »Warum seid ihr ausgezo-
gen? Eure Rechte und Freiheiten wiederzuerlangen! Was wütet
ihr und verderbt das Land! Wollt ihr abstehen von allen Übelta-
ten, und handeln als wackere Leute, und die wissen, was sie wol-
len, so will ich euch behülflich sein zu euren Forderungen, und
auf acht Tag euer Hauptmann sein« (GB, 160). Damit bricht Götz
aber nicht nur sein Versprechen dem Kaiser gegenüber, sich ruhig
zu verhalten, er vertraut auch den falschen Leuten, die sich als
gewissenlose »Mordbrenner« entpuppen, so dass er sich wieder
von ihnen lossagt: »So ist mein Tod der Welt das sicherste Zeichen,
daß ich nichts Gemeines mit den Hunden gehabt habe« (GB, 163).
Mit Götz’ Tod endet das Schauspiel, sein Tod ist zugleich eine Apo-
theose der Freiheit. Götz ist wieder eins mit sich: »Allmächtiger
Gott! Wie wohl ist’s einem unter deinem Himmel! Wie frei! – Die
Bäume treiben Knospen, und alle Welt hofft« (GB, 174). Elisabeth
bescheinigt ihm: »Er wehrte sich wie ein Löw um seine Freiheit.«
Die Gegenwart zeichnet sich dagegen durch Unfreiheit aus, so
stellt der sterbende Götz fest: »Es kommen die Zeiten des Betrugs,
es ist ihm Freiheit gegeben. Die Nichtswürdigen werden regieren
mit List, und der Edle wird in ihre Netze fallen.« Nicht zufällig
lauten seine letzten Worte: »Freiheit! Freiheit! (Er stirbt.)« Elisabeth „Freiheit! Freiheit!“
stimmt ihm zu, dass es Freiheit nur bei Gott gebe, denn: »Die Welt
ist ein Gefängnis.« Die Schlussworte des Stücks sind Nachrufe von
zwei äußerst positiven Figuren: »Maria. Edler Mann! Wehe dem
48 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

Jahrhundert, das dich von sich stieß! Lerse. Wehe der Nachkom-
menschaft, die dich verkennt!« (GB, 175).
Götz und seine Frau sind Vorboten einer neuen Ordnung, die
aus dem zu Goethes Zeit ›alt‹ gewordenen Feudalismus, wie ihn
der Hof des Bischofs von Bamberg verkörpert, ihre Lehren zie-
hen will. Allerdings ist es noch nicht so weit, denn die Figur Götz
(anders als der historische Götz) geht unter und die Frage, wie
diese neue Ordnung aussehen könnte, bleibt dem Leser überlas-
sen.
Die Rezeption Wie folgenreich Goethes frühes Drama war, ist kaum zu über-
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schätzen. So hat beispielsweise Sir Walter Scott (1771 – 1832) im


Jahr 1799 den Götz ins Englische übersetzt und sich von ihm für
seine eigene literarische Beschäftigung mit der schottischen und
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englischen Geschichte anregen lassen. Scott gilt nicht nur als der
Erfinder des modernen historischen Romans (dessen Konzept des
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›mittleren Helden‹ ebenfalls an den Götz erinnert), er hat auch


das Modell einer Auffassung vom Mittelalter geliefert, das für das
19. Jahrhundert – und darüber hinaus – stilbildend geworden ist.

3.5. Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Wer-
ther (1774 / 87)
Der Briefroman Goethes ist
Abb. 3.5
einer der erfolgreichsten
Einzig erhaltenes Blatt
der Handschrift Goe- Romane aller Zeiten und,
thes zu Werthers Lei- neben Gellerts Fabeln und
den in der ersten Fas- Erzählungen, vermutlich der
sung größte belletristische Buch-
erfolg deutscher Sprache
im 18. Jahrhundert. Darü-
ber hinaus machte er Goethe
auch international bekannt,
und zwar so sehr, dass Goethe
sich ärgerte, als er, als gestan-
dener Autor mit zahlreichen
Veröffentlichungen, noch auf


seiner Italienreise immer wie-


der darauf angesprochen wurde. Die erste Fassung von 1774 über-
arbeitete Goethe, seither ist die 2. Auflage von 1787 in der Regel
die Ausgabe, die wiedergedruckt und zitiert wird.
G oethe : D ie L eiden des jungen W erther (1774 / 87) 49

Der durchschlagende Erfolg (Boerner 1995, 43 ff.) zeigt, dass es Ein früher Bestseller
das richtige Buch zur richtigen Zeit ist. Es kommt zu einem regel-
rechten »Wertherfieber« (Jäger 1994, 224), über dessen Ausmaß
noch heute spekuliert wird. Die Kleidung der Figur, blauer Frack
und gelbe Weste (GW, 79), kommt in Mode und wird zum Zeichen.
Der Grund ist, dass mit Werther erstmals eine Figur radikal indi-
viduell denkt und handelt: »Ich kehre in mich selbst zurück, und
finde eine Welt!« (GW, 13), bis hin zum Selbstmord, der schon zu
Anfang als extreme Form der Selbstbestimmung gewertet wird:
»Und dann, so eingeschränkt er [der Mensch] ist, hält er doch
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immer im Herzen das süße Gefühl der Freiheit, und daß er diesen
Kerker verlassen kann, wann er will« (GW, 14). Zumal Selbstmord
aus der Sicht der Zeit eine Todsünde war, so dass, wie der Erzäh-
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ler zum Schluss betont, Werther auch ohne Beistand eines Geist-
lichen beigesetzt wird (GW, 124).
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Das Medium, das Werther wählt, um seine Individualität zu Das Problem radikaler
leben, ist die Liebe, sie ist die Probe für die Äußerung von Gefüh- Individualität
len als »Strom des Genies« (GW, 16). Im Roman steht das neue Kon-
zept der romantischen Liebe (Werther) gegen das traditionelle der
Konventions- und Versorgungsheirat (Lotte und Albert). Aber die
romantische Liebe bedeutet viel mehr – sie bedeutet Freiheit im
Sinn selbstbestimmten Handelns auch und gerade gegen Regeln
der Gesellschaft, und sie steht, als unverzichtbarer Bestandteil
eines solchen Konzepts von Freiheit, für die Behauptung des indi-
viduellen Gefühlslebens gerade gegen die Vernunft. Daher setzt
Werther Freiheit positiv ab von Notwendigkeit: »Es ist ein ein-
förmig Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbei-
ten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das
ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel
aufsuchen, um es los zu werden. O Bestimmung des Menschen!«
(GW, 11).
Der Roman ist in zwei Bücher eingeteilt, das erste Buch und
die erste Hälfte des zweiten bestehen aus Briefen, die Werther
vom 4. Mai 1771 bis zum 6. Dezember 1772 an seinen Freund Wil-
helm schreibt. Den Rest des zweiten Buchs macht der Bericht des
fiktiven Herausgebers über die weiteren Wochen bis zu Werthers
Selbstmord kurz vor Weihnachten aus. Nicht zufällig beginnt der
Roman im Frühling und endet im Winter, um die Zeit des kür-
zesten Tages im Jahr, die Jahreszeiten symbolisieren den Beginn
der Liebe und den Untergang des oder der Liebenden. Dass auch
50 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

Lotte, inzwischen verheiratet, in Werther verliebt war, macht der


Schluss sehr deutlich: »Man fürchtete für Lottens Leben« (GW,
124).
Der autobiographische Goethe hat mit der Figurenkonstellation eigene Erfahrungen
Hintergrund verarbeitet, die Freundschaft mit Charlotte Buff und ihrem Bräuti-
gam Johann Christian Kestner: »Trotz eines fast grenzenlosen Ver-
trauens, das sich alle Seiten entgegenbrachten, führte das Verhält-
nis jedoch zu schweren Spannungen. Goethes Empfindungen für
Lotte steigerten sich zur Leidenschaft« (Boerner 1995, 42). Goethe
verließ Wetzlar, um schließlich von einem anderen Fall zu hören,
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der ebenfalls in die Konzeption des Werther eingegangen ist, von


einem Freund, dem »Legationssekretär Karl Wilhelm Jerusalem,
[der sich] aus unglücklicher Liebe zu der Gattin eines Freundes
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

das Leben genommen« hatte (Boerner 1995, 42 f.).


Goethe hat, entgegen der Rezeption, seine Titelfigur nicht als
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Identifikationsfigur angelegt, schließlich hat er sich auch nicht


selbst umgebracht. Goethe ging sogar so weit, einer späteren Aus-
gabe zwei Leitsprüche beizugeben, von denen der zweite lautete:
Du beweinst, du liebst ihn, liebe Seele,
Rettest sein Gedächtnis von der Schmach;
Sieh, dir winkt sein Geist aus seiner Höhle:
Sei ein Mann, und folge mir nicht nach. (Goethe 1998 1, 92)

Werther als Werther ist ein Schwärmer, dessen Gefühle und Phantasie sich
problematische Figur durch äußere Umstände leicht entzünden lassen (GW, 9). Dabei
unterliegt die Figur großen Stimmungsschwankungen (GW, 10).
Werther ist stark auf sich selbst bezogen, nimmt seine Umwelt
nur in der Wirkung auf sich wahr und ist psychisch instabil. Mit
einem neueren Begriff könnte man von Werther auch als dem ers-
ten bedeutenden Narzissten in der deutschsprachigen Literatur
sprechen. Er weist, mit der Erzählung dieses Ereignisses beginnt
der Roman, eine in ihn verliebte junge Dame zurück, so wie er
selbst – zunächst – von Lotte zurückgewiesen werden wird: »Wie
froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des
Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzer-
trennlich war, und froh zu sein! Ich weiß, du verzeihst mir’s.
Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht ausgesucht vom
Schicksal, um ein Herz wie das meine zu ängstigen? Die arme Leo-
nore!« (GW, 7).
Werther verliebt sich auch nicht nur in Lotte. Bevor er sie ken-
G oethe : D ie L eiden des jungen W erther (1774 / 87) 51

nenlernt, denkt er an »die Freundin meiner Jugend« zurück, die


er schmerzlich vermisst: »Aber ich habe sie gehabt, ich habe das
Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien
mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte«
(GW, 12). Auf einem Pfarrhof geht Werther mit der Pfarrerstoch-
ter Friederike, ihrem Verlobten und Lotte spazieren, Friederike
ist »eine rasche, wohlgewachsene Brünette«, mit der sich Werther
lebhaft unterhält, bis Lotte ihm ein Zeichen gibt, »daß ich mit
Friederiken zu artig getan« (GW, 32). Als Werther Lotte und Albert
verlässt und einen Posten bei einem Gesandten annimmt, verliebt
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er sich erneut, diesmal in »ein Fräulein von B.« (GW, 63). Werther
meint, dass sie Lotte gleicht (GW, 65). Als Werther bei einer Gesell-
schaft bleibt, obwohl er vom Stand her nicht dazu gehört, weil er
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

»noch ein gut Wort von ihr hoffte« und »nur auf meine B.. acht«
gibt (GW, 68), kommt es zum Eklat. Das Fräulein erzählt ihm spä-
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ter, dass sie »gelitten habe um Ihretwillen«, so dass Werther über-


wältigt wird von dem Eindruck des ›süßen Geschöpfs‹, dem »Trä-
nen in den Augen« stehen: »Ich war nicht mehr Herr von mir
selbst, war im Begriffe, mich ihr zu Füßen zu werfen. – ›Erklären
Sie sich!‹ rief ich. – Die Tränen liefern ihr die Wangen herunter«
(GW, 70). Doch will Werther nicht nur die »Teilnehmung«, die sie
ihm bietet, er denkt vielmehr an Liebe, deshalb reagiert er auch
negativ: »ich war zerstört und bin noch wütend in mir« (GW, 70).
Die erneut enttäuschten Liebeshoffnungen lassen ihn kündi- Enttäuschte
gen (GW, 71). Wochenlang weiß er nicht, was er mit sich anfangen Liebeshoffnungen
soll, er überlegt, »in den Krieg« zu gehen (GW, 74) und entschließt
sich dann, an den Ort seines größten Glücks zurückzukehren:
»ich will nur Lotten wieder näher, das ist alles«. Doch sofort mel-
det sich die Eifersucht: »Es geht mir ein Schauder durch den gan-
zen Körper, Wilhelm, wenn Albert sie um den schlanken Leib faßt.
Und, darf ich es sagen? Warum nicht, Wilhelm? Sie wäre mit mir
glücklicher geworden als mit ihm!« (GW, 75). Bald steigert sich
Werther so weit in seine Gefühle hinein, dass er an nichts anderes
mehr denken kann: »Ich habe so viel, und die Empfindung an ihr
verschlingt alles; ich habe so viel, und ohne sie wird mir alles zu
Nichts« (GW, 84). Werther ist also auf der Suche nach einer Projek-
tionsfigur für seine Gefühle. Wenn er nicht zu sehr in die Ausbrü-
che seiner »Leidenschaft« (GW, 54) verstrickt ist, ist er durchaus in
der Lage, dies selbst zu reflektieren: »Und, mein Lieber! ist nicht
vielleicht das Sehnen in mir nach Veränderung des Zustands eine
52 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

innere, unbehagliche Ungeduld, die mich überallhin verfolgen


wird?« (GW, 54).
Um die Zeit, als Werther Lotte kennenlernt, trifft er auch einen
Bauernburschen, dessen Geschichte die Werther-Lotte-Handlung
spiegelt. Der junge Mann hat sich in seine Arbeitgeberin, eine
Witwe, verliebt und Werther sieht in seinen Erzählungen einen
rührenden Ausdruck von »Treue und Zärtlichkeit« (GW, 19). Doch
später muss Werther erfahren, dass der Bursche sich in seiner
»Leidenschaft« zu einer Tat hinreißen ließ, wegen der er sich
nun vor Gericht verantworten muss: »da sie seinen Bitten kein
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Gehör gegeben, hab’ er sich ihrer mit Gewalt bemächtigen wol-


len; er wisse nicht, wie ihm geschehen sei« (GW, 77). Der Bruder
der Angebeteten, der ihn nicht gemocht habe, sei dazwischen
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

gekommen. Der Bursche kündigt an, Selbstmord begehen zu wol-


len und Werther stellt fest: »Diese Liebe, diese Treue, diese Leiden-
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schaft ist also keine dichterische Erfindung« (GW, 78). Angesichts


der geschilderten Tat ein mehr als problematischer Satz. Erst spä-
ter erfährt Werther die mit dieser Geschichte verknüpfte Vorge-
schichte, die für den Leser die Verirrung Werthers umso deutli-
cher macht: »Wilhelm! Der Mensch, von dem ich dir schrieb, der
glückliche Unglückliche, war Schreiber bei Lottens Vater, und
eine Leidenschaft zu ihr […] hat ihn rasend gemacht« (GW, 91).
Damit ist die Nebenhandlung aber noch nicht zu Ende, der
Bursche tötet später seinen Nebenbuhler, den neuen Knecht (GW,
95). Bezeichnenderweise identifiziert sich Werther mit dem Täter:
»›Du bist nicht zu retten, Unglücklicher! Ich sehe wohl, daß wir
nicht zu retten sind‹« (GW, 97). Entsprechend fällt auch die Dia­
gnose des Herausgebers der Briefe aus, als dieser sich zu Wort mel-
det: »Die Harmonie seines Geistes war völlig zerstört« (GW, 93).
»Charlotten S.« ist, wie Werthers Begleiterin ihm beim ersten
Treffen erzählt, »›schon vergeben‹«, und zwar »›an einen sehr bra-
ven Mann, der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu brin-
gen, weil sein Vater gestorben ist, und sich um eine ansehnli-
che Versorgung zu bewerben.‹ – Die Nachricht war mir ziemlich
gleichgültig« (GW, 20). Und doch wird es gerade dieser Umstand
sein, der für Werther tödliche Konsequenzen haben wird. Sehr
schnell kommen Werther und Lotte sich näher. Tanzen steht
Erotische Spannungen kulturhistorisch für eine erotische Verbindung von Mann und
Frau, deshalb waren auch manche Tänze zu früheren Zeiten und
in bestimmten Kulturen nicht erlaubt. Die nun immer engere
G oethe : D ie L eiden des jungen W erther (1774 / 87) 53

Verbindung der beiden wird auch in der Wortwahl deutlich:


»Nun ging’s an, und wir ergetzten uns eine Weile an mannig-
faltigen Schlingungen der Arme. […] Ich war kein Mensch mehr.
Das liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben und mit
ihr herumzufliegen wie Wetter, daß alles rings umher verging,
und – […]« (GW, 25). Der Bindestrich ist ein Platzhalter für eroti-
sche Phantasien, die im Kontext der Zeit nicht geäußert werden
durften (Kittler 1994, 303). Eine Frau erkennt das erotische Spiel,
sie zeigt Lotte »einen drohenden Finger« und ruft ihr den Namen
Albert zu. Hier ist bezeichnend, wie Lotte selbst von ihrem künfti-
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gen Gatten spricht: »›Albert ist ein braver Mensch, dem ich so gut
als verlobt bin‹« (GW, 25). Und doch lassen sich die beiden Tanzen-
den nicht beirren, die Szene endet mit einer symbolischen Verei- Eine symbolische
Vereinigung der
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

nigung der Liebenden:


Liebenden
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Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche


Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg
in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellen-
bogen gestützt, ihr Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel
und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf
die meinige und sagte: »Klopstock!« – Ich erinnerte mich sogleich der
herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome
von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß. Ich
ertrug’s nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den
wonnevollsten Tränen. (GW, 27)

Die beiden stehen, mit dem Blick aus dem Fenster, an der Schwelle
von der Zivilisation zur Natur. Die Ode (ein feierliches Gedicht) des
seinerzeit berühmten Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 – 1803)
bildet ein Bindeglied zwischen Kunst und Natur, Literatur und
Liebe. Die Symbolik des Wetters (der Sturm ist draußen in der Symbolik des Wetters
Natur und in ihren Gefühlen), die Flüssigkeiten und Flüssigkeits-
Metaphern (»Strome von Empfindungen«), vor allem die vereinig-
ten Hände und die Tränen sprechen, im Kontext der Literatur der
Zeit, eine deutliche Sprache: Lotte und Werther werden in dieser
Szene ein Paar. Deshalb kann Werther wenig später auch an Wil-
helm schreiben: »Ich lebte so glückliche Tage, wie sie Gott seinen
Heiligen aufspart; und mit mir mag werden was will, so darf ich
nicht sagen, daß ich die Freuden, die reinsten Freuden des Lebens
nicht genossen habe« (GW, 28).
Als Albert eintrifft, freundet sich Werther mit ihm an (GW, 42).
54 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

Er weiß, dass er Lotte nicht lieben darf – »wenn ich nur wüßte
wohin, ich ginge wohl« (GW, 44). In den Gesprächen mit Albert
argumentiert dieser stets vernünftig, Werther setzt seine Gefühle
dagegen, in einem Dialog der beiden fällt auch die berühmt
gewordene Formulierung der »Krankheit zum Tode« (GW, 48). Als
sich später die Situation zuspitzt und als Albert Werther freund-
schaftlich bittet, Lotte seltener zu besuchen: »›Die Leute werden
aufmerksam, und ich weiß, daß man hier und da drüber gespro-
chen hat‹« (GW, 97), als schließlich auch Lotte Werther ins Gewis-
sen redet, nicht falsche Hoffnungen in sie als »das Eigentum eines
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andern« zu setzen (GW, 102), sieht Werther keinen Ausweg mehr


als den Selbstmord. Allerdings kommt es beim Abschied zur zwei-
ten, für Werther entscheidenden Liebesszene. Auch Lotte ist »in
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

einen sonderbaren Zustand geraten«: »Alles, was sie Interessan-


tes fühlte und dachte, war sie gewohnt mit ihm zu teilen, und
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seine Entfernung drohete in ihr ganzes Wesen eine Lücke zu rei-


ßen, die nicht wieder ausgefüllt werden konnte. O, hätte sie ihn
in dem Augenblick zum Bruder umwandeln können, wie glück-
lich wäre sie gewesen« (GW, 106). Dennoch ist ihr Gefühl ambi-
valent: Es gibt auch keine Freundin, »der sie ihn gegönnt hätte«
(GW, 107).
In dieser Stimmung lesen die beiden Ossian (1760 – 63) (GW,
107 ff.), eine gälische Dichtung, die in der Zeit (so wie die Ode
Klopstocks) als Ausdruck besonders intensiven Gefühlslebens gilt
und die vielleicht wirkungsmächtigste Fälschung der Literatur-
geschichte ist. (Das Epos in »Gesängen« stammt aus der Feder des
Schotten James Macpherson), der es als Edition einer von ihm
gefundenen, authentischen Handschrift eines altgälischen Bar-
den ausgab.) Es kommt zu einer symbolischen Vereinigung von
Körperflüssigkeiten: »[…] ihre Tränen vereinigten sich. Die Lippen
und Augen Werthers glühten an Lottens Arme; ein Schauer über-
fiel sie […]« (GW, 114). Und weiter: »Ihre Sinne verwirrten sich […].
Die Welt verging ihnen. Er schlang seine Arme um sie her, preßte
sie an seine Brust und deckte ihre zitternden, stammelnden Lip-
pen mit wütenden Küssen« (GW, 115).
Lotte: Affekt und Auch wenn jetzt Lottes Affektkontrolle einsetzt und sie Werther
Kontrolle zurückweist, schenkt sie ihm doch den »vollsten Blick der Liebe«
(GW, 115). Für Werther steht fest, dass sie nun, wenigstens kurz,
ein Liebespaar waren: »Sünde? Gut, und ich strafe mich dafür;
ich habe sie in ihrer ganzen Himmelswonne geschmeckt […]. Du
G otthold E phr aim L essing : N athan der W eise (1779) 55

bist von diesem Augenblicke mein! mein, o Lotte! Ich gehe voran!«
(GW, 117). Werther sieht die Erfüllung der Liebe im Tod. Aller-
dings wird diese hochfliegende Hoffnung im Roman durch die
brutale Realität konterkariert, Werther stirbt keinen schönen
Tod: »Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn
an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug, die Glieder waren alle
gelähmt. Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf
geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm zum
Überfluß eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer
Atem« (GW, 124).
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Der Roman entwirft ein ambivalentes Bild individueller Frei-


heit in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft. Werther stirbt
an seiner fehlenden Bereitschaft, einen Ausgleich zwischen seiner
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

individuellen Freiheit und der Freiheit der anderen zu suchen.


Das neue Modell der romantischen Liebe wird zweifellos favori-
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siert, allerdings nicht um jeden Preis.

Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise (1779) 3.6.


Das »dramatische Gedicht in

Abb. 3.6
fünf Aufzügen« zählt zu den
Denkmal von Nathan
bedeutendsten Werken der dem Weisen in Wol-
deutschsprachigen Literatur, fenbüttel
dafür gibt es nicht zuletzt wir-
kungsästhetische Gründe:
Lessing konfrontiert und
rührt sie [die Menschen] auf
eine in der Welt bis heute
nicht häufig zu hörende
Weise mit Fragen der religiö-
sen Toleranz und des Huma-
nismus. Weil die Titelfigur
ein Jude ist und Lessing sie
nicht nur mit Weisheit aus-
stattet, sondern Nathan auch
als sozial denkenden, seinen
Reichtum für die Gemeinschaft einsetzenden Mann darstellt, erhält
das Stück mit Blick auf den jahrtausendealten Judenhass und den
modernen Antisemitismus sein zusätzliches Gewicht. Im Land von
Lessings Sprache, in dem Nathans Brüder und Schwestern 160 Jahre
56 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

nach dem Tod des Dramatikers millionenfach verfolgt und ermordet


wurden, besitzt das Stück nach 1945 einen ganz besonderen Stellen-
wert. (Sternburg 2010, 130)

Doch auch formal ist das Stück außerordentlich innovativ: »Mit


Der Blankvers dem in Blankversen geschriebenen Nathan der Weise sollte er die-
ser Versform auf den deutschen Bühnen zum Durchbruch ver-
helfen« (Sternburg 2010, 131). Dabei stammt die Geschichte der
berühmten Ringparabel, mit der die Gleichwertigkeit der Reli-
gionen in ein Bild gefasst wird, im Kern aus Giovanni Boccaccios
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(1313 – 75) Decamerone, entstanden um 1350, zuerst gedruckt 1470;


dazu kommt noch der Einfluss anderer Quellen (Fick 2010, 490 f.).
Der zeitgeschichtliche Hintergrund für die Entstehung des Nathan
ist der Streit mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze, ein verba-
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

ler Schlagabtausch, der sich an den von Lessing herausgegebe-


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nen theologischen Schriften von Reimarus entzündet (Sternburg


2010, 126 ff.).
Lessings Stück überwindet die Glaubensgegensätze in einer
Utopie, der »geschwisterliche[n] Vereinigung der Menschen«,
zumindest gilt dies als frühe Übereinkunft zur Deutung des
Stücks (Fick 2010, 493). Mit der erfolgreichen Inszenierung durch
Schiller 1801 in Weimar und dem Lob Goethes setzt sich die
bis heute gängige Auffassung durch, dass die religiöse Toleranz
im Zentrum steht (Fick 2010, 514). Toleranz und Freiheit sind
Die Freiheit des Geschwister. Das Stück verhandelt die Frage der Freiheit des Glau-
Glaubens bens und des Lebens in einer Gemeinschaft. Es spielt zur Zeit von
Glaubenskriegen zwischen Christen und Muslimen in Jerusalem,
also in der Stadt, die wie keine andere grundlegende Bedeutung
für die weltweit verbreiteten großen Religionen hat.
Saladin heißt der regierende muslimische Sultan, Nathan ist
ein reicher jüdischer Bürger und Recha seine »angenommene
Tochter« (NW, 595). Daja, Christin und Gesellschafterin von Recha,
erzählt Nathan am Anfang des Stücks vom Brand in seinem Haus
und dass Recha dabei beinahe umgekommen wäre (NW, 595),
wenn sie nicht ein »junger Tempelherr« gerettet hätte, den der Sul-
tan »begnadigt hatte«. Der aber ist zunächst verschwunden (NW,
598) und weigert sich dann, Recha noch einmal zu sehen, damit
sie ihm ihren Dank abstatten kann (NW, 599). Die Rettung Rechas
ist bereits »kein kleines Wunder«, wie Nathan feststellt:
G otthold E phr aim L essing : N athan der W eise (1779) 57

Denn wer hat schon gehört, daß Saladin


Je eines Tempelherrn verschont? daß je
Ein Tempelherr von ihm verschont zu werden
Verlangt? Gehofft? ihm je für seine Freiheit
Mehr als den ledern Gurt geboten, der
Sein Eisen schleppt; und höchstens seinen Dolch? (NW, 602)

Recha hat gehört, dass Saladin den Tempelherrn begnadigt haben


soll, weil er einem toten Bruder ähnlich sehe (NW, 603).
Der Patriarch des Klosters lässt den Tempelherrn durch einen
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Bruder ausforschen (NW, 614), um ihn als »Spion« für König Phi-
lipp und gegen den Sultan zu gebrauchen, doch weigert sich die-
ser (NW, 617). Als der Klosterbruder ihn sogar, im Auftrag des
Patriarchen, als Attentäter auf das Leben des Sultans gewinnen
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

will, obwohl der ihm gerade sein Leben geschenkt hat, befindet
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der Tempelherr, das sei ein »Bubenstück vor Gott« (NW, 618). Den-
noch lehnt er es weiterhin ab, Recha oder Nathan zu treffen: »Jud’
ist Jude. / Ich bin ein plumper Schwab« (NW, 621).
Die Vorurteile sind zunächst wechselseitig, so stehen die Chris- Vorurteile der Figuren
ten beim Sultan und seiner Schwester nicht hoch im Kurs. Sala-
dins Schwester Sittah fasst zusammen: »Ihr Stolz ist: Christen sein;
nicht Menschen« (NW, 616). Als Saladin Nathan kommen lässt, um
von ihm Geld zu borgen, stellt er ihm die Frage nach der »Wahr-
heit« und Nathan erzählt die Ringparabel (NW, 662). Nathan ist es
schließlich, der Saladin darum bittet, ihm zu günstigsten Kondi-
tionen Geld leihen zu dürfen (NW, 669), denn er möchte sich für
die Rettung Rechas erkenntlich zeigen, die ohne die Begnadigung
des Tempelherrn nicht möglich gewesen wäre; außerdem ahnt er
geheime familiäre Zusammenhänge.
Im Tempelherrn geht im Verlauf des Stücks ein Wandel vor,
denn nicht nur Recha hat sich in ihn, auch er hat sich in Recha
verliebt. Dass der »Christ das Judenmädchen« liebt, erscheint
ihm in Jerusalem, der Stadt der Religionen, plötzlich möglich,
zumal das von Saladin geschenkte Leben einen Neuanfang bedeu-
tet (NW, 671), wie Saladin ihm gegenüber noch einmal bestätigt:
»Wem ich das Leben schenke, werd’ ich dem / Nicht auch die Frei-
heit schenken?« (NW, 691). Aus dieser Freiheit heraus schließt
sich der Tempelherr dem Sultan an, dem die unterschiedliche
Religion gleichgültig ist: »Ich habe nie verlangt, / Daß allen Bäu-
men eine Rinde wachse« (NW, 692).
58 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

Glaubensgegensätze Als das Familiengeheimnis gelüftet wird, können alle Beteilig-


werden überwunden ten als Verwandte eine große Familie bilden, aber bis dahin ist es
ein Weg voller Missverständnisse und Geheimnisse. Bereits als der
Tempelherr den Namen »Curd von Stauffen« nennt, stutzt Nathan,
denn der Name kommt ihm bekannt vor (NW, 644). Daja eröffnet
dem Tempelherrn, dass Recha gar keine Jüdin ist, sondern die
christlich getaufte Pflegetochter Nathans, und dass Recha davon
selbst gar nichts weiß (NW, 679). Die dramatische Handlung wird
durch Nathans scheinbar abweisendes Verhalten dem Tempel-
herrn gegenüber vorangetrieben, doch Saladin vermag den jun-
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gen Mann, der an Nathans Ehrlichkeit zweifelt, zu beruhigen:


»Indes, er ist mein Freund, und meiner Freunde / Muß keiner mit
dem andern hadern« (NW, 695). Und er fordert den Tempelherrn
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

auf, nicht in alte Muster zurückzufallen: »Sei keinem Juden, kei-


nem Muselmanne / Zum Trotz ein Christ!« (NW, 696). Auch weil
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das Vertrauen siegt und der Tempelherr Nathan offen schildert,


welche Gründe er für seinen Besuch beim Patriarchen hatte (NW,
717 ff.), wird der Weg für eine glückliche Auflösung frei.
Die komplexe Handlung Das durch Vertrauen gebesserte Misstrauen hat sein Gutes. Dass
der Tempelherr beim Patriarchen war, trägt erheblich zur Lösung
bei, denn der hat nun den Klosterbruder Bonafides mit Nachfor-
schungen beauftragt, und es ist der Klosterbruder, der vor 18 Jah-
ren Recha als Baby Nathan übergab (NW, 702). Als Bonafides Nathan
davon unterrichtet, gesteht der ihm, dass er das Kind zu einem Zeit-
punkt erhielt, als gerade »in Gath die Christen alle Juden / Mit Weib
und Kind ermordet hatten«, darunter auch seine Frau und seine
sieben Söhne (NW, 704). Das Kind hat ihm die Hoffnung wieder-
gegeben. Die Mutter des Kindes war die Schwester des Conrad von
Stauffen (NW, 706). Nathan kann mit der Hilfe eines Notizbuches,
das Bonafides dem toten Vater Wolf von Filneck abgenommen hat
(NW, 702 u. 706), die Verwandtschaftsverhältnisse aufklären. Der
Name des Tempelherrn ist Leu von Filneck (NW, 731), Rechas Name
Blanda von Filneck, die beiden sind Geschwister (NW, 733). Wolf
von Filneck schließlich ist kein anderer als Saladins verstorbener
Bruder Assad (NW, 734), so dass Saladin und seine Schwester Sittah
sich als Onkel und Tante von Recha und vom Tempelherrn entpup-
pen. Nathan, der trotz des Mordes an seiner Familie zum Pflegeva-
ter wurde, ist der Stifter einer großen Familie, die letzten Worte des
Stücks sind eine Regieanweisung: »(Unter stummer Wiederholung aller-
seitiger Umarmungen fällt der Vorhang) (NW, 735).
G otthold E phr aim L essing : N athan der W eise (1779) 59

Der Diskurs über Religion und Toleranz durchzieht alle Dia-


loge. So enwirft sogar die betont christliche Daja, nachdem sie
Nathan von der Rettung Rechas durch den Tempelherrn erzählt
hat, aus Solidarität mit Recha eine Vision religiöser Toleranz:
»Laßt lächelnd wenigstens ihr einen Wahn, / In dem sich Jud’ und
Christ und Muselmann / Vereinigen; – so einen süßen Wahn!«
(NW, 600). Für Nathan gilt, was Derwisch Al-Hafi so formuliert:
»Jud’ und Christ / Und Muselmann und Parsi, alles ist / Ihm eins«
(NW, 633). Dem Tempelherrn bietet Nathan seine Freundschaft
an mit den Worten: »Verachtet / Mein Volk so sehr Ihr wollt. Wir
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haben beide / Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind / Wir unser
Volk? Was heißt denn Volk? / Sind Christ und Jude eher Christ und
Jude, / Als Mensch?« (NW, 641). Und der Tempelherr stellt gegen-
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

über dem Klosterbruder fest: »Religion ist auch Partei« (NW, 683).
Der Klosterbruder schließlich befindet, es habe ihn »[…] Tränen
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gnug gekostet, / Wenn Christen gar so sehr vergessen konnten, /


Daß unser Herr ja selbst ein Jude war« (NW, 703).
Den Kern der Konzeption bildet bekanntlich die Ringparabel. Die Ringparabel
Saladin lässt Nathan zu sich kommen, um seine Weisheit auf die
Probe zu stellen. Von den »drei / Religionen« Christentum, Islam
und Judentum könne »doch eine nur / Die wahre sein«, weshalb
er, Nathan, denn beim Judentum bleibe? Nathan ist überrascht:
»Ich bin / Auf Geld gefaßt; und er will – Wahrheit« (NW, 662). Nun
fällt Nathan eine Geschichte ein, deren Bedeutung er scheinbar
herunterspielt: »Nicht die Kinder bloß, speist man / Mit Märchen
ab« (NW, 663). Doch ist der Begriff hier nicht negativ gemeint,
er bezeichnet das utopische Potential, an das die Figuren glau-
ben wollen, so wie für den Tempelherrn auch die Liebe zur Jüdin
Recha ein »Märchen« ist und Jerusalem der Ort, an dem solche
Märchen ›glaublich‹ erscheinen (NW, 671), denn es ist, wie Daja
feststellt, »das Land / Der Wunder!« Der Tempelherr sieht den
Grund in der Vielfalt Jerusalems: »Die ganze Welt / Drängt sich ja
hier zusammen« (NW, 677). Mit anderen Worten: Jerusalem ist ein
Mikrokosmos, Stadt und Region stehen, so wie das Stück, exem-
plarisch für die Entwicklung der Welt, mit ihren realen Konflik-
ten und ihrem utopischen Potential.
Das »Geschichtchen«, das Nathan Saladin erzählt, beginnt so:
»Vor grauen Jahren lebt’ ein Mann in Osten, / Der einen Ring
von unschätzbarem Wert’ / Aus lieber Hand besaß. Der Stein war
ein / Opal, der hundert schöne Farben spielte, / Und hatte die
60 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

geheime Kraft, vor Gott / Und Menschen angenehm zu machen,


wer / In dieser Zuversicht ihn trug« (NW, 664). Entscheidend ist
hier die »Zuversicht«, also der Glaube an die Wirkung des Rings.
Über Generationen wird der Ring an den Sohn vererbt, der dem
Vater der liebste ist, bis ein Vater an die Reihe kommt, der drei
Söhne hat, die er gleich liebt, so dass er jedem von ihnen den
Ring verspricht. Vor seinem Tod lässt er den Ring von einem
»Künstler« kopieren, dem es gelingt, die Ringe einander so ›voll-
kommen gleich‹ zu machen, dass »selbst der Vater seinen Mus-
terring / Nicht unterscheiden« kann. Daraufhin kommt es aber
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zum Streit, wer den ›rechten Ring‹ hat, um Fürst des Hauses zu
werden, doch findet man diesen rechten Ring nicht heraus (NW,
665). Nathan erläutert die Analogie zur Religion. Zwar sieht jede
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

der Religionen anders aus, doch ist sie für ihre Gläubigen jeweils
die »auf Geschichte«, auf Überlieferungen gegründete richtige
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Religion, darin unterscheiden sie sich nicht (NW, 666). Doch das
»Märchen« (NW, 665) geht noch weiter. Die drei Brüder gehen vor
den Richter, der feststellt: »Ich höre ja, der rechte Ring / Besitzt
die Wunderkraft beliebt zu machen; / Vor Gott und Menschen
angenehm. Das muß / Entscheiden! Denn die falschen Ringe wer-
den / Doch das nicht können!« Da sich die drei Brüder aber auch
darin nicht unterscheiden, stellt der Richter fest: »O so seid ihr
alle drei / Betrogene Betrieger! Eure Ringe / Sind alle drei nicht
echt. Der echte Ring / Vermutlich ging verloren. Den Verlust / Zu
bergen, zu ersetzen, ließ der Vater / Die drei für einen machen«
(NW, 667). Jeder soll an die Echtheit seines Rings glauben, denn:
»Möglich; daß der Vater nun / Die Tyrannei des Einen Rings nicht
länger / In seinem Hause dulden wollen!« Die Lehre daraus lau-
tet: »Wohlan! / Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurtei-
len freien Liebe nach!« Nathan appelliert an den Herrscher Sala-
din: »Wenn du dich fühltest, dieser weisere / Versprochne Mann
zu sein: …« (NW, 668).
Blickt man auf das Verhalten Dajas, über die Recha meint, weil
sie Christin sei, müsse sie »aus Liebe quälen« (NW, 725), und auf
die Darstellung der katholischen Kirche in der satirisch gezeich-
neten Figur des Patriarchen, der dem christlich-feudalen Weltbild
des Mittelalters anhängt (NW, 685), und stellt man außerdem die
kritische Haltung des Klosterbruders diesem wichtigen Vertreter
seiner eigenen Kirche gegenüber in Rechnung, dann schneidet die
christliche Religion in Lessings Drama am schlechtesten ab. Der
G otthold E phr aim L essing : N athan der W eise (1779) 61

Muslim Saladin wird hingegen zu einem aufgeklärten Herrscher Das Vorbild des
und in seiner Familie vereinigen sich die Religionen, so dass Jeru- aufgeklärten Herrschers
salem von der Stadt und vom Land der Wunder zu einer Hetero-
topie (Foucault), zu einer konkreten Utopie wird (Foucault 2006).
Doch gibt es eine Figur, die Freiheit in einem den Diskurs über
Religionen und staatliche Ordnung sprengenden Sinn verkörpert
und die mit dem Stück auch den Diskurs am Ende des zweiten
Aufzugs verlässt – Al-Hafi, der Derwisch, der befindet: »Am Gan-
ges nur gibt’s Menschen«, und der in Jerusalem einzig Nathan als
»würdig« ansieht, ebenfalls dort zu leben (NW, 648). Nathan aber
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will ihn nicht begleiten, ohne darüber erst nachgedacht zu haben.


Der Derwisch sieht sich zu folgender Rede veranlasst, bevor er ver-
schwindet:
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

Wer überlegt, der sucht


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Bewegungsgründe, nicht zu dürfen. Wer


Sich Knall und Fall, ihm selbst zu leben, nicht
Entschließen kann, der lebet andrer Sklav
Auf immer.

Nathan stellt am Ende des zweiten Aufzugs fest: »Wie nenn ich
ihn? – Der wahre Bettler ist / Doch einzig und allein der wahre
König!« (NW, 649). Al-Hafi wollte nicht für Saladin Geld borgen
und die Einschätzung Nathans zeigt, dass es weder Geld noch
Stand sind, über die sich Freiheit definieren lässt.
Diese eine Figur hat die Freiheit, das Stück zu verlassen, aber
der Leser hat die Freiheit, die Figuren aus der Distanz zu betrach- Die Freiheit von Figur
ten, weil er um deren Fiktionalität weiß. Darauf deutet nicht nur und Leser
der häufige Verweis auf »Märchen«, sondern auch die satirisch zu
lesende Weigerung des Patriarchen, dem Tempelherrn einen Rat
zu geben in der Frage der möglichen Erziehung einer Christin
durch einen Juden. Der Patriarch sieht in dem Fall, sofern er rein
hypothetisch ist, nur: »Ein Spiel des Witzes: so verlohnt es sich /
Der Mühe nicht, im Ernst ihn durchzudenken. / Ich will den Herrn
damit auf das Theater / Verwiesen haben, wo dergleichen pro / Et
contra sich mit vielem Beifall könnte / Behandeln lassen.« Wäre
es aber »ein Faktum, dann müsste der Jude für seine Tat auf den
»Scheiterhaufen« (NW, 686). Die Motive spielen keine Rolle: »Tut
nichts! der Jude wird verbrannt«. Schließlich ist für den Patriar-
chen die christliche Religion »das Original« (NW, 687). In dieser
Figur zeigt das Stück, wohin Fanatismus führen kann. Der höchste
62 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

Vertreter des Christentums ist der Antagonist des Vertreters der


Toleranz, den er am liebsten auf dem Scheiterhaufen brennen
sehen würde.

3.7. Friedrich Schiller: Die Räuber (1781)


Acht Jahre nach Goethes Götz
Abb. 3.7
erschien das zweite beson-
Friedrich Schiller,
Gemälde von Anton ders bekannte und einfluss-
Graff, zwischen 1786 reiche Drama des Sturm &
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und 1791, Städtische Drang, Friedrich Schillers


Galerie Dresden (1759 – 1805) Die Räuber, eben-
falls ausgewiesen als Ein
Schauspiel: »Das Stück galt
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

und gilt bis heute als eines


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der genialsten Erstlingswerke


der deutschen Dramenlitera-
tur […]« (Oellers 2005, 126).
Wie sowohl die unterdrückte
als auch die veröffentlichte


Vorrede zeigen, steht wieder


Shakespeare, der inspiriert gewesen sei vom »echte[n] Genius des
Dramas« (SR, 482), Pate bei dem Versuch, sich von den überliefer-
ten Regeln des Dramenschreibens zu emanzipieren. Schiller sieht
dies als notwendig an, um »die Seele gleichsam bei ihren verstoh-
lensten Operationen zu ertappen«. Sei es doch die Leistung der
Bühne, »die Leidenschaften und die geheimsten Bewegungen des
Herzens in eigenen Äußerungen der Personen« zu schildern (SR, 481).
Schillers erstes Drama Schiller weiß, dass er mit seinen Figuren gegen die Vorstellun-
bricht Regeln und Tabus gen von Tugend und Moral in Frühaufklärung und Empfindsam-
keit verstößt. Er rechtfertigt dies mit der notwendigen »Freiheit«
des Dramatikers, wenn dieser »der getreue Kopist der wirklichen
Welt« sein wolle. Zur wirklichen Welt gehören eben auch »Böse-
wichter« (SR, 482), die allerdings als gemischte Charaktere konzi-
piert sind. Wieder wird, mit der Figur des Gegenspielers in Othello,
Shakespeare als Bürge genannt: »Mit einem Wort, man wird sich
auch für meine Jagos interessieren, man wird meinen Mordbren-
ner bewundern, ja fast sogar lieben. Niemand wird ihn verab-
scheuen, jeder darf ihn bedauren« (SR, 483). Auch auf »Shake-
speares Richard« (gemeint ist das Stück Richard III. von 1597) wird
F riedrich S chiller : D ie R äuber (1781) 63

verwiesen mit der Forderung, »ganze Menschen« auf die Bühne


zu bringen (SR, 487). Außerdem nimmt Schiller Anleihen bei der
(auch für den Verbrecher aus verlorener Ehre wichtigen) Erzählung
Zur Geschichte des menschlichen Herzens (1775) von Christian Fried-
rich Daniel Schubart (1739 – 91) und bei der Lebensgeschichte des
bekannten Räuberhauptmanns Nikol List (1654 – 99).
Schon die äußere Ordnung sprengt die »allzu enge[n] Palisa-
den des Aristoteles« (SR, 485). Die fünf Akte haben, von den ers-
ten beiden abgesehen, unterschiedlich viele Szenen, es gibt zahl-
reiche Ortswechsel und Figuren. Der wichtigste Handlungsort
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ist in »Franken«, das Schloss der Familie Moor. Schiller aktuali-


siert, unter Rückgriff auf Schubarts Abhandlung Zur Geschichte
des menschlichen Herzens, das Motiv der feindlichen Brüder. Darü-
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

ber hinaus geht es aber vor allem um die Frage der gesellschaft-
lichen Ordnung, die zu dieser Zeit noch nicht zu trennen ist von
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der Frage der göttlichen Ordnung.


Franz Moor ist neidisch auf seinen älteren Bruder Karl Moor, Das Motiv der
der nicht nur der Erstgeborene und damit der Erbe der gräflichen verfeindeten Brüder
Besitzungen, sondern ausgesprochen gutaussehend und in die
schöne Amalia von Edelreich verliebt ist, die Franz selbst gern zur
Braut hätte. Dem gebrechlichen Vater Maximilian, der Karl ver-
göttert und Franz schon immer wenig geschätzt hat, macht Franz
zunächst vor, der als Student in Leipzig weilende Karl sei zum
Schuldner, Räuber und Mörder geworden, schließlich sogar, dass
Karl umgekommen sei. Franz möchte, dass sein Vater durch den
Schrecken stirbt und kurze Zeit sieht es so aus, als würde sein Plan
aufgehen. Doch Maximilian erwacht im Sarg. Franz sperrt ihn in
ein Turmverließ, damit er verhungert und verdurstet, erklärt sei-
nen Vater für tot und sich zum Erben. Weil der intrigante Franz
ihm vorgemacht hat, dass sein Vater ihn verstoßen hat, wird Karl
tatsächlich zum Räuber und sogar zum Anführer einer Bande,
mit der Absicht eines neuen Robin Hood, jenen das Geld zu neh-
men, die es nicht verdienen oder im Überfluss haben, und es den
Armen zu geben, außerdem, um die zu bestrafen, die außerhalb
der Gerichtsbarkeit stehen, weil sie zu einflussreich sind (vgl. SR,
540 f.; 553 f. u. 565, wo von der »Geschichte des Robins« die Rede
ist). Die meisten seiner Räuber, vor allem der intrigante Spiegel-
berg, sind aber vor allem daran interessiert, sich selbst zu berei-
chern und ihre niederen Instinkte auszuleben. Spiegelberg ähnelt
Franz darin, dass Freiheit lediglich die eigene Freiheit bedeutet, Freiheit ohne Rücksicht
64 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

zu tun und zu lassen, was er allein möchte: »Ich weiß nicht, was
du oder ich für Begriffe von Freiheit haben, daß wir an einem
Karrn ziehn wie Stiere, und dabei wunderviel von Independenz
deklamieren – Es gefällt mir nicht« (SR, 586). Spiegelberg wird,
wie Franz, sein radikales Negieren jeder sozialen Ordnung, gip-
felnd in versuchtem Mord an Vater oder Anführer, mit dem Leben
bezahlen.
Die unterschiedlichen Motive der Räuber werden deutlich,
wenn der später von Karl befreite und anschließend im Kampf
gegen Vertreter der Ordnung getötete Roller gegen Spiegelberg
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als Anführer votiert, und zwar mit folgenden Worten: »Auch die
Freiheit muß ihren Herrn haben. Ohne Oberhaupt gingen Rom
und Sparta zugrunde« (SR, 513). Unter dem Stichwort der »Frei-
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

heit« hatte bereits Karl gegenüber Spiegelberg festgestellt, ohne


dass Roller dabei war: »Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und
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aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und
Sparta Nonnenklöster sein sollen« (SR, 504). Spiegelberg sieht
sich selbst als »erleuchteter politischer Kopf« (SR, 513), doch Rol-
ler hält von Karl mehr: »Ohne den Moor sind wir Leib ohne Seele«
(SR, 514).
Als Karl verkleidet das Schloss seines Vaters besucht, entdeckt
er die Intrige seines Bruders und er findet Amalia, die Franz wider-
standen hat und Karl immer noch liebt. Doch es ist zu spät – Karl
hat seinen Räubern geschworen, für immer bei ihnen zu bleiben.
Als er seinen greisen Vater, den ein mitleidiger Diener am Leben
erhalten hat, aus dem Turmverließ befreit, wird er zugleich zur
Ursache seines Todes, als er ihm entdeckt, was aus ihm gewor-
den ist. Als Karl eine Abordnung seiner Räuber zu Franz schickt,
um ihn holen zu lassen, begeht dieser Selbstmord. Als die Räu-
ber Karl an seinen Schwur erinnern und von ihm verlangen, dass
er bei ihnen bleibt, statt mit Amalia fortzugehen, sieht das Paar
keinen Ausweg mehr. Amalia bittet die Räuber darum, sie zu
töten. Karl, seinen Schwur erfüllend, bringt sie selbst um und lie-
fert sich anschließend der Justiz aus. Allerdings nicht, ohne sich
selbst treu zu bleiben. Auf seinen Kopf ist ein Lösegeld ausgesetzt,
das soll nun ein armer Mann und Vater vieler Kinder bekommen.
Das Drama schließt mit dem zur Redewendung gewordenen Satz:
»dem Mann kann geholfen werden« (SR, 618).
Das Drama nimmt, wie fast alle bedeutenden Texte, Anleihen
bei Werken der Weltliteratur (Oellers 2005, 112 f.). Vor allem ver-
F riedrich S chiller : D ie R äuber (1781) 65

handelt es zentrale Aspekte der Freiheit. Bereits bei dem Vater- Vater-Sohn-Konflikt
Sohn-Konflikt geht es um die Freiheit von Autoritäten. Der Vater
steht für die ehemals göttliche Ordnung, er ist in einer Linie zu
sehen mit der Kette Gott – Kaiser / König – Landesfürst. Dass die
alte, christliche Ordnung erodiert ist, wird in der Schwäche der
Figur vorgeführt. Franz möchte ihn beerben, aber dies kann er
nur tun, weil er Gott und damit die alte Ordnung leugnet. Auch
Karl hat sich vom Vater emanzipiert, zunächst durch sein wildes
Leben in der Stadt, dann durch das – freilich der Intrige von Franz
geschuldete – Räuberdasein. Hätte Franz nicht intrigiert, wäre
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Karl als reumütiger Sohn und Erbe nach Hause zurückgekehrt,


er hätte Amalia geheiratet und die alte Ordnung erneuert, wenn
auch auf zeitgemäße Weise, schließlich ist er den Armen und den
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

Untergebenen zugetan. Wenn wir annehmen, dass Karl nach sei-


ner Verhaftung hingerichtet wird, dann sind zum Schluss alle
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Familienmitglieder tot. Von der alten Ordnung bleibt im Drama


nichts weiter übrig als ein Antagonismus von Bürgern, die auf
der Einhaltung ihrer Gesetze notfalls mit Waffengewalt beharren,
und Räubern, die außerhalb der bürgerlichen Ordnung stehen,
aber eine ebenfalls streng hierarchische Ordnung etablieren, mit
dem Unterschied, dass die Führungspersonen nicht nach Genea-
logie, sondern nach Leistung ausgewählt werden.
Franz ist keineswegs nur eine ›böse‹ Figur, wenn man die Franz als moderne Figur
Gründe für seine Entwicklung in Rechnung stellt. Offenbar hat
sein Vater Karl immer »Größe und Schönheit« und »alle diese
schöne, glänzende Tugenden« zuerkannt (SR, 495), während der
jüngere Bruder der »trockne Alltagsmensch, der kalte, hölzerne
Franz« gewesen ist (SR, 496). Außerdem sieht sich Franz ungerecht
von der Natur behandelt, die ihm, im Gegensatz zu seinem älte-
ren Bruder, eine »Bürde von Häßlichkeit« aufgeladen habe. Aus
dieser doppelten Benachteiligung leitet er die Berechtigung sei-
nes Handelns ab: »[…] wozu ich mich machen will, das ist nun
meine Sache. Jeder hat gleiches Recht zum Größten und Kleins-
ten […] und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze« (SR,
500).
In Franz wird die Frage nach der Individualität und damit
nach der Freiheit des Individuums auf besonders radikale Weise
gestellt. Wenn Franz die Motive seines Vaters hinterfragt, so hin-
terfragt er zugleich auch die seines Schöpfergottes. Er beginnt pro-
grammatisch mit »Ich« und stellt dieses Ich zugleich in den Mit-
66 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

telpunkt: »Ich möchte doch fragen, warum hat er mich gemacht?


doch wohl nicht gar aus Liebe zu mir, der erst ein Ich werden
sollte? […] Wo stickt dann nun das Heilige? Etwa im Aktus selber,
dem ich entstund? – Als wenn dieser etwas mehr wäre als viehi-
scher Prozeß zur Stillung viehischer Begierden!« (SR, 501 f.). Die
Frage der Theodizee klingt an und wird ganz anders beantwortet
als gewohnt – weder der Vater noch der Schöpfergott konnten wis-
sen, was sie tun. Gott kann es daher für Franz nicht geben: »[…]
der Mensch entstehet aus Morast, und watet eine Weile im Morast,
und macht Morast, und gärt wieder zusammen in Morast, bis er
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zuletzt an den Schuhsohlen seines Urenkels unflätig anklebt. Das


ist das Ende vom Lied – der morastige Zirkel der menschlichen
Bestimmung […]« (SR, 577).
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

Erst spät wird Franz schwankend in seinem Nicht-Glauben, als


Pastor Moser, ohne die tatsächlichen Zusammenhänge zu kennen,
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ihm verkündet, Vatermord und Brudermord seien die schlimms-


ten Sünden (SR, 606). Aus Todesangst betet Franz zu Gott und bet-
telt um sein Leben (SR, 607), schließlich erdrosselt er sich selbst
(SR, 608). Sein Selbstmord wird allerdings, im Kontext des Glau-
bens der Zeit, die einzige Todsünde sein, die er begangen hat.
Brüche und Zweifel Die Brüche in und Zweifel an seiner Existenz machen Franz
zur modernsten Figur des Stücks. Franz erkennt nur die selbst
gesteckten Grenzen seiner eigenen Freiheit an und er lehnt alle
von außen an ihn herangetragenen moralischen Forderungen ab:
»Wir wollen uns ein Gewissen nach der neuesten Façon anmessen
lassen, um es hübsch weiter aufzuschnallen, wie wir zulegen« (SR,
501). Das Gewissen kann so gedehnt werden, wie der Körper bei
größerer Nahrungsaufnahme zunehmen kann.
Auch Karl ist eine moderne Figur, allerdings ist er nicht inner-
lich gebrochen oder mit Vater und Schöpfer zerfallen. Der Zwie-
spalt besteht zwischen seinen individuellen Maßstäben und der
politischen Ordnung. Berühmt sind die ersten Worte, die Karl im
Stück spricht: »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum,
wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen« (SR,
502). Der Verweis auf den griechischen Schriftsteller verabschie-
det die christlichen Werte und Moralvorstellungen. Auch Karl
erkennt lediglich die eigenen, individuellen Maßstäbe an: »Außen-
dinge sind nur der Anstrich des Manns – Ich bin mein und Him-
mel und meine Hölle« (SR, 591).
Franz und Karl sind daher nicht nur Antagonisten, sie sind
F riedrich S chiller : D ie R äuber (1781) 67

auch komplementäre Figuren. Beide begehren als Individuum


gegen die sie umgebende Ordnung auf, aus unterschiedlichen, Aufbegehren gegen die
aber sich ergänzenden Gründen. Vater und Gott sind Repräsen- Ordnung
tanten der Ordnung, gegen die Karl gewaltsam aufbegehrt. Franz’
Protest bleibt im engeren Rahmen der Familie, Karls richtet sich
gegen die gesellschaftliche Ordnung (SR, 504). Unter dem falschen
Eindruck, er sei von seinem Vater verstoßen, interpretiert Karl
den Begriff der Freiheit so weit wie möglich: »Mein Geist dürs-
tet nach Taten, mein Atem nach Freiheit, – Mörder, Räuber! – mit
diesem Wort war das Gesetz unter meine Füße gerollt […]« (SR,
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515). Die falsche Annahme, verstoßen worden zu sein, führt zur


Gemeinschaft der Räuber und zu dem Schwur der Treue »bis in
den Tod!« (SR, 516), der am Ende des Dramas schreckliche Folgen
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

haben wird. Freiheit gegenüber der gesellschaftlichen Ordnung


ist nicht ohne den Preis der Unfreiheit innerhalb der Gruppe zu
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haben, die sich gegen diese Ordnung stellt und die, unter dem
Druck des äußeren Zwangs, ihrerseits totalitär wird.
»Freiheit! Freiheit!« meint hier für Karl die Befreiung Rol-
lers und damit, ebenso wie für seine Räuber, die den Begriff in
ähnlicher Weise verwenden, die Freiheit von äußeren Zwängen
(SR, 543 ff.). Der Begriff wird zum Schlachtruf: »Tod oder Frei-
heit! Wenigstens sollen sie keinen lebendig haben!« (SR, 555). Die
Kehrseite der Freiheit ist die Grausamkeit und Ungerechtigkeit Freiheit und Gewalt
der Taten, die aus dieser einseitig verstandenen Freiheit heraus
geschehen können, wie etwa der Bericht der Figur mit dem spre-
chenden Namen Schufterle zeigt. Auch wenn Schufterle, der schil-
dert, wie er ein Kleinkind ins Feuer geworfen hat, von Karl aus
dem Kreis der Räuber verbannt wird (SR, 547), so kann er damit
doch nicht die negativen Folgen einer lediglich gegen die etab-
lierte Ordnung gerichteten Freiheit bannen. Karls Gewalttaten als
moderner Robin Hood sind ambivalent, sie werden weder gerecht-
fertigt noch verurteilt. Doch wenn Amalia sich mit einem Degen
gegen den zudringlichen Franz wehrt, der seine Macht ungerecht-
fertigt erlangt hat und für seine egoistischen Zwecke missbraucht,
dann ist damit auch eine moralische Wertung verbunden: »Ah!
wie mir wohl ist – Itzt kann ich frei atmen – ich fühle mich stark
wie das funkensprühende Roß, grimmig wie die Tigerin dem sieg-
brüllenden Räuber ihrer Jungen nach […]« (SR, 558 f.). Amalias Tat
ist legitimiert, und das, obwohl sie innerhalb einer männlichen
Ordnung als Frau gegen einen Mann aufbegehrt.
68 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

Karl sieht ein, dass er die Grenzen der Freiheit zu weit ausge-
Missbrauch der Freiheit legt hat. Den Missbrauch der Freiheit erkennt er als menschliche
Hybris, als Selbstüberschätzung: »Warum soll dem Menschen das
gelingen, was er von der Ameise hat, wenn ihm das fehlschlägt,
was ihn den Göttern gleich macht?« (SR, 560). In diesem Moment
des Zweifels taucht Kosinsky auf, eine Figur, die sich spiegelbild-
lich zu Karl verhält. Ein Fürst und dessen Minister haben ihm
erst seine Braut Amalia und dann sein Vermögen genommen (SR,
567 f.). Kosinsky möchte deshalb einer von jenen werden, die »die
Freiheit höher schätzen als Ehre und Leben« (SR, 563). Die so ver-
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standene Freiheit heißt aber auch, wie Karl ihm erklärt, »aus dem
Kreise der Menschheit« auszutreten (SR, 566).
Persönliche und politische Erfahrung – verstanden als »das
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

Joch des Despotismus« (SR, 568) – lassen Karl keine Alternative als
weiterzumachen und sie bewegen ihn, in das heimische Schloss
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zurückzukehren, um nach seiner Amalia zu sehen. Hier ist es der


private und, als neuer Graf, zugleich politische Despotismus von
Franz, der Karl zur Rache anstachelt und beide Ordnungen, die
private und die politische (sichtbar etwa in dem Brand des von
den Räubern angezündeten Schlosses), implodieren lassen wird.
Das Drama stellt die Frage der Freiheit auf so radikale Weise, dass
es die bestehenden Ordnungen buchstäblich auslöscht.
Schiller selbst hat Karl mit den Worten verteidigt: »Die gräß-
lichsten seiner Verbrechen sind weniger die Wirkung bösartiger
Leidenschaften als des zerrütteten Systems der guten« (Schiller
Kritik am Absolutismus 1981f 1, 624). Die revolutionäre Kritik an der bestehenden Ord-
nung lässt sich kaum besser zusammenfassen. Und wenn Amalia
gegenüber dem verkleideten Karl feststellt: »Lieber Herr Graf, es
reift keine Seligkeit unter dem Monde« (SR, 571), oder auch: »Alles
lebt, um traurig wieder zu sterben. Wir interessieren uns nur
darum, wir gewinnen nur darum, daß wir wieder mit Schmerz
verlieren« (SR, 571), dann weist dies etwa auf Georg Büchners
Drama Woyzeck voraus.
Eine ungeheure Die Wirkung des Stücks ist legendär. Die Uraufführung in
Wirkung einer sogar weitgehend entschärften Fassung am 13. Januar 1782
in Mannheim hatte ungeheure Folgen:
Ein anonymer Augenzeuge berichtet von der tumultuarischen Reak-
tion des Publikums: »Das Theater glich einem Irrenhause, rollende
Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im
F riedrich S chiller : D er V erbrecher aus verlorener E hre (1786) 69

Zuschauerraume! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in


die Arme. Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war
eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue
Schöpfung bricht«. (Alt 2009 1, 282)

Berühmt geworden ist auch die nicht minder revolutionäre Abbil-


dung auf dem Cover der zweiten Ausgabe: »Die Titelvignette zeigt
einen zum Sprung ansetzenden Löwen und trägt die Inschrift ›in
Tirannos‹, doch sind weder Bild noch Inschrift von Schiller ver-
anlaßt« (Schiller 1981f 1, 913). Kein Wunder, dass Schiller »zum
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französischen Bürger (›Citoyen François‹) durch die französische


Nationalversammlung im August 1792« (Oellers 2005, 85) ernannt
wurde – eine Ehre, die er, angesichts der Folgen, als zweifelhaft
empfand und die ihn mit dazu bewogen haben dürfte, den Begriff
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

der Freiheit neu zu denken und mit Wilhelm Tell den alternativen
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Entwurf einer Staatsordnung vorzulegen.

Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) 3.8.


Diesen Titel mit dem Zusatz »Eine wahre Geschichte« gab Schil-
ler seiner Erzählung in der Druckfassung von 1792, der Erstdruck
hat den Titel Verbrecher aus Infamie. Eine wahre Geschichte (Koopmann
1998, 702). Die Änderung macht Sinn, da sie den Akzent ver-
schiebt und so das Anliegen der Erzählung deutlicher macht. In
ihr geht es nicht um die Genese des Verbrechens aus der Schande
der Hauptfigur, sondern um die Motivierung der Schuld der Figur Die Motivierung von
durch äußere Umstände. Schiller bearbeitet einen Stoff, von dem Schuld
ihm zunächst sein Lehrer Abel aus erster Hand erzählte. Abels
Vater hatte den »Sonnenwirt« verhaftet, der eigentlich Friedrich
Schwan hieß und von 1729 – 60 lebte (Schiller 1981f 5, 1060). Bei
allen Analogien zu der ›wahren Geschichte‹ bleibt aber auch
hier – wie bei den Geschichtsdramen – festzuhalten, dass es sich
um einen literarischen Text handelt und es die Literarisierung
ist, die vor allem interessiert, nicht das ihr zugrunde liegende,
wie auch immer rekonstruierbare tatsächliche Geschehen. Den
Untertitel sollte man also nicht im heutigen Sinn als Dokumen-
tation oder als, mit einem neueren Wort, Dokufiction verstehen.
Gemeint ist vor allem, dass die Geschichte in dem Sinn wahr ist,
dass sie sich so zugetragen haben könnte oder auch, in der hier
als defizitär bewerteten Ordnung der Zeit, jederzeit so zutragen
70 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

kann. Der Begriff der Wahrheit wird in einem allgemeinen Sinn


verstanden und nicht als Schilderung empirischer Realität.
Wie jeder literarische Text ist auch dieser eine Versuchsanord-
nung, und zwar eine, die außerordentlich folgenreich war. Schil-
ler begründet mit seiner kurzen Erzählung die deutschsprachige
Kriminalliteratur. Er weist, und das ist unerhört modern für seine
Die sozialen Ursachen Zeit, auf die sozialen Ursachen von Verbrechen hin. Der Medizi-
des Verbrechens ner und Schriftsteller Schiller stellt sich gegen die gängige Pra-
xis der Rechtsprechung. Kriminelle Handlungen begründen dem-
nach keine objektive Schuld mehr, vielmehr richtet sich die Frage
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der Schuld nach den Gründen, die zu der kriminellen Handlung


geführt haben. Auch hierbei spielt die Freiheit eine entscheidende
Rolle, gleich in mehrfacher Weise: als Freiheit oder Unfreiheit
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

der Hauptfigur, in einer bestimmten Art und Weise zu handeln;


als Freiheit oder Unfreiheit der anderen Figuren, auf die Gründe
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der Hauptfigur für ihr Handeln Rücksicht zu nehmen; als Frei-


heit oder Unfreiheit der Vertreter der öffentlichen Ordnung, die
Motive der Hauptfigur für ihr Handeln bei der Frage nach ihrer
Schuld mit in Rechnung zu stellen; als Freiheit der Leser, sich
eine eigene Meinung zu bilden. Auf die zuletzt genannte Freiheit
weist der Erzähler ganz am Anfang hin – der Autor müsse bei der
Wahl seiner Erzählweise Rücksicht nehmen auf »die republikani-
sche Freiheit des lesenden Publikums, dem es zukommt, selbst zu
Gericht zu sitzen« (SV, 14).
Die innere Zerrissenheit der Hauptfigur wird bereits durch
ihren Namen symbolisiert – Christian Wolf (SV, 15), der christli-
che Wolf. Hier klingt die berühmte Redewendung ›Der Mensch ist
dem Menschen ein Wolf‹ an, ursprünglich aus der Komödie Asina-
ria des römischen Dichters Titus Maccius Plautus (255 – 185 v. Chr.),
popularisiert durch Thomas Hobbes in der Widmung seines Wer-
kes Über den Bürger von 1642. Christian Wolf, der »Sohn eines
Gastwirts« (SV, 15) ist durch seine Herkunft sozial benachteiligt.
Sein Vater ist früh gestorben, seine Mutter vernachlässigt offen-
bar das Geschäft (»Die Wirtschaft war schlecht«) und »Wolf hatte
müßige Stunden«, so dass er sich verleiten lässt, Unfug zu trei-
ben. Dazu kommt: »Die Natur hatte seinen Körper verabsäumt«
(SV, 16). Wegen seiner Hässlichkeit kann er die von ihm umwor-
bene Johanne nur mit solchen Geschenken für sich interessieren,
die seine rechtmäßig erworbenen Mittel weit übersteigen. So ent-
schließt er sich, »seiner angebeteten Freiheit zu entsagen« und »zu
F riedrich S chiller : D er V erbrecher aus verlorener E hre (1786) 71

stehlen«, »er wird Wilddieb«. Doch wirbt auch Robert, der Jäger-
bursche des Försters, um Johanne und er sucht, »von Eifersucht
und Neide« getrieben, nach dem Grund für den plötzlichen Wohl-
stand des »Nebenbuhlers« (SV, 16). Christian wird auf frischer Tat
ertappt, beim ersten Mal kommt er noch mit einer Geldstrafe
davon. Doch machte er weiter, um Johannes Gunst nicht zu verlie-
ren. Beim zweiten Mal wird er mit einem Jahr Zuchthaus bestraft
(SV, 17), beim dritten Mal wird er verurteilt, »drei Jahre auf der Fes-
tung zu arbeiten« (SV, 18). Wie der Erzähler betont, wird Christian
in der Zeit der Festungshaft, beeinflusst durch die mitgefangenen
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Schwerverbrecher, erst eigentlich zum Verbrecher. Nun wechselt


die Fokalisierung, der heterodiegetische Ich-Erzähler tritt hinter
die Optik der Figur zurück und Christian wird selbst zum Ich-
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

Erzähler, ein Kunstgriff, um den Leser zu stärkerer Anteilnahme


zu bewegen. Christian hat sich unter den Bedingungen der Haft
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verändert: »Von jetzt an lechzte ich nach dem Tag meiner Freiheit,
wie ich nach Rache lechzte. Alle Menschen hatten mich belei-
digt, denn alle waren besser und glücklicher als ich. Ich betrach-
tete mich als den Märtyrer des natürlichen Rechts und als ein
Schlachtopfer der Gesetze« (SV, 18). Die Härte des Gesetzes
Die von ihm ersehnte Freiheit ist allerdings, wie er nach
der Haft feststellen muss, mit dem Verlust der Teilhabe an der
Gemeinschaft verbunden. Seinen Besitz hat er verloren, seine
Mutter ist gestorben, Johanne ist zu einer Prostituierten gewor-
den und durch Geschlechtskrankheiten schwer gezeichnet: »Ich
hatte niemanden und nichts mehr« (SV, 20). Christian Wolf ist ein
Ausgestoßener, dessen nun ernsthafte Versuche, sich zu resozia-
lisieren, zurückgewiesen werden. Es sind die äußeren Umstände,
die Christian zu der falschen Entscheidung bewegen: »Ich wollte
Böses tun, soviel erinnerte ich mich noch dunkel. Ich wollte mein
Schicksal verdienen. Die Gesetze, meinte ich, wären Wohltaten
für die Welt, also faßte ich den Vorsatz, sie zu verletzen; ehemals
hatte ich aus Notwendigkeit und Leichtsinn gesündigt, jetzt tat
ichs aus freier Wahl zu meinem Vergnügen« (SV, 21).
Aus freier Wahl – und doch zeigt Schiller, wie unfrei diese
Wahl ist. Ganz anders als bei Kant, der Freiheit als regulative Idee
mit dem selbstbestimmten Handeln beginnen lässt und für den
der Wille somit grundsätzlich frei ist, wird bereits in dieser frü-
hen Erzählung auf das verwiesen, was die spätere Philosophie und
die Literatur von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart
72 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

zur Grundlage einer post-aufklärerischen Auffassung von Freiheit


machen werden. Der Mensch ist abhängig von sozialen Bedingun-
gen wie seiner Herkunft, er ist abhängig von Gefühlen und Sin-
neswahrnehmungen, die mit Operationen des Verstandes keines-
wegs konform gehen müssen, und er ist eingebunden in ein Netz
aus sozialen Beziehungen. Das Ich kann nicht ohne den anderen,
ego kann nicht ohne alter sein, Individuum und Gruppe sind nur
gemeinsam zu denken, wenn es darum geht, die Möglichkeiten
zu erkennen, für sich selbst und für andere in einem verantwort-
lichen Sinn frei zu sein.
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Eine soziale Die Versuchsanordnung bei Schiller sieht vor, dass Christian
Abstiegsgeschichte zufällig beim Wildern auf Robert trifft, seinen ehemaligen Neben-
buhler, der ihn aus Selbstsucht verfolgt und verraten hat: »Rache
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

und Gewissen rangen hartnäckig und zweifelhaft, aber die Rache


gewanns, und der Jäger lag tot am Boden« (SV, 22). Kaum hat
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Christian die Tat begangen, bereut er sie zutiefst, aber nun ist es
zu spät. Dennoch reagiert er nicht berechnend, er beraubt den
Toten nicht. Erstens will er sich nicht an ihm bereichern, zwei-
tens möchte er »für einen persönlichen Feind des Erschossenen,
aber nicht für seinen Räuber gehalten sein« (SV, 23). Noch auf dem
höchsten Punkt seiner Untaten versucht Christian sich einen Rest
Ehrlichkeit zu bewahren. Auf seiner Flucht trifft er auf eine Räu-
berbande, deren Anführer er wird. Die zufällige Begegnung mit
dem bisherigen Anführer wird inszeniert wie ein Teufelspakt,
der unbekannte Mann benimmt sich wie der Versucher: »›Das ist
brav, daß ich dich endlich habe, Sonnenwirt. Jahr und Tag schon
sinn ich darauf, dich zu kriegen. Ich kenne dich recht gut. Ich
weiß um alles. Ich habe lange auf dich gerechnet‹« (SV, 25). Wenig
überraschend hausen die Räuber in einem »Abgrund der Hölle«
(SV, 27). Nun wechselt die Fokalisierung wieder und der Rahmen-
erzähler ergreift das Wort: »Ein Unglücklicher, der bis zu dieser
Tiefe heruntersank, mußte sich endlich alles erlauben, was die
Menschheit empört – aber einen zweiten Mord beging er nicht
mehr, wie er selbst auf der Folter bezeugte« (SV, 29). Der Ausgang
wird hier vorweggenommen, der Räuber wird gefasst, gefoltert
und, so steht anzunehmen, anschließend hingerichtet. Auch dies
ist ein Kunstgriff, um den Leser nicht in höchster Spannung auf
den Ausgang warten zu lassen, sondern seine Aufmerksamkeit
auf die Einzelheiten der weiteren Erzählung zu lenken. Der Räu-
ber ist nun in einem Sinn frei, wie wir es bereits in Schillers ers-
F riedrich S chiller : D er V erbrecher aus verlorener E hre (1786) 73

tem Drama gesehen haben, und Christian ist zunächst »so glück-
lich, jeden Anschlag auf seine Freiheit zu vereiteln« (SV, 29). Doch
plagen ihn zunehmend Gewissensbisse: »Ein Jahr schon hatte er
das traurige Handwerk getrieben, als es anfing, ihm unerträglich
zu werden.« Er ist eben doch noch anders als die anderen Mit-
glieder »dieser verworfenen Bande« (SV, 29). Hier wird deutlich,
dass die übrigen Bandenmitglieder als Kontrastfiguren dienen,
um die Entscheidung Christians zu motivieren, einen Versuch zu
wagen, über tätige Buße und Reue noch einmal in die Gemein-
schaft zurückzukehren.
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Im Siebenjährigen Krieg versucht Christian sich als Soldat


zu melden, »um einen Teil des Vergangenen gutzumachen; ich
möchte leben, um den Staat zu versöhnen, den ich beleidigt habe«
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

(SV, 30). An seinen Landesherr richtet er den Appell: »Lassen Sie


Gnade vor Recht ergehen, mein Fürst. Wenn es in Ihrer fürstlichen
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Macht steht, das Gesetz für mich zu erbitten, so schenken Sie mir
das Leben. Es soll Ihrem Dienste von nun an gewidmet sein« (SV,
31). Doch bekommt Christian auf seine Bittschriften keine Ant-
worten. Schließlich wird er, weil er sich auffällig verhält, in einer
kleinen Stadt zunächst verhaftet und soll, da er nicht erkannt
wird und nichts gegen ihn ermittelt werden kann, wieder freige-
lassen werden. Der für die Untersuchung zuständige »Oberamt-
mann des Orts« war »ein starker Anbeter der Neuigkeit und liebte
besonders, bei seiner Bouteille über die Zeitung zu plaudern« (SV,
32), außerdem beginnt er seine Befragung »mit ziemlich brutalem
Ton« (SV, 33). In seiner Not vertraut sich Christian ausgerechnet
ihm an: »›Ich glaube, daß Sie ein edler Mann sind‹« (SV, 34). Eine
folgenreiche Fehleinschätzung, die zeigt, wie groß Christians Not
geworden ist und wie gnadenlos die Ordnung ist, die ihm auch Eine gnadenlose
dieses Mal, und nun endgültig, keine Möglichkeit zur Rückkehr in Ordnung
die Gemeinschaft geben wird. Die letzten Worte sind auch für die
Literaturgeschichte folgenreich, so zitiert sie beispielsweise spä-
ter Wilhelm Hauff (1802 – 27) mit dem Schluss der Rahmenerzäh-
lung seines Märchenzyklus’ Die Karawane von 1825. Sie lassen sich
als Anklage gegen die herrschende Ordnung verstehen:
»Ahnden Sie noch nicht – Schreiben Sie es Ihrem Fürsten, wie Sie mich
fanden und daß ich selbst aus freier Wahl mein Verräter war – daß
ihm Gott einmal gnädig sein werde, wie er jetzt mir es sein wird – bit-
74 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

ten Sie für mich, alter Mann, und lassen Sie dann auf Ihren Bericht
eine Träne fallen: Ich bin der Sonnenwirt.« (SV, 35)

Genau das Gegenteil wird geschehen, weder der »Oberamtmann«


noch der Fürst noch Gott werden Gnade walten lassen.
Im Namen und Werdegang Christians klingt auch eine Paral-
lele zur Jesusgeschichte an. Anders als Jesus wird Christian zum
Mörder, doch wird ihm nicht die Vergebung zuteil, die das Chris-
tentum, gerade unter Verweis auf die Gnade des Gottessohns, reui-
gen Sündern verspricht. Die göttliche und die weltliche Ordnung
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erschaffen erst das Problem, das sie dann mit extremer Gewalt
und Gnadenlosigkeit wieder lösen, um den Fortbestand einer
alten Ordnung zu sichern, in der jeder des anderen Wolf ist und
niemand wirklich sicher oder frei sein kann.
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

3.9. Friedrich Schiller: Don Carlos. Infant von Spanien (1787)


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Abb. 3.8
Titelblatt und Fronti-
spiz (anonymes Por-
trät) des Erstdruckes
von Don Carlos, 1787


Schon der Untertitel »Ein dramatisches Gedicht« zeigt, dass sich


Schiller auch mit diesem Drama außerhalb der tradierten Regel-
poetik positionieren wollte, zumal es für ein Theaterstück außer-
ordentlich lang ausgefallen ist. Noch deutlicher als in den bishe-
F riedrich S chiller : D on C arlos . I nfant von S panien (1787) 75

rigen Stücken übt Schiller Kritik am Absolutismus und erschafft


so ein »illusionsloses Lehrstück über die Ordnungen der Macht« Ein „illusionsloses
(Alt 2009 1, 433). Zwar geht es wieder um eine desaströse Fami- Lehrstück“
liengeschichte und einen Vater-Sohn-Konflikt, doch steht hier
nun tatsächlich ein Landesherr, ein König, im Mittelpunkt, er
führt die Liste der Dramatis personae an: Philipp der Zweite, König
von Spanien. Schiller, der wenig später, ab 1789, an der Univer-
sität Jena als Historiker lehrte, wählt einen historischen Stoff,
der ihm zunächst in romanhafter Bearbeitung aus der Feder des
Abbé de Saint-Réal (1639 – 92) zugänglich gemacht wurde (Oel-
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lers 2005, 172) und den er in einer geschichtswissenschaftlichen


Abhandlung selbst bearbeitete (1788 unter dem Titel Geschichte des
Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung). Schil-
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

ler arbeitete etwa fünf Jahre an dem Stück, bereits 1783 schrieb
er in einem Brief: »Carlos hat, wenn ich mich des Maßes bedie-
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nen darf, von Shakespeares Hamlet die Seele, Blut und Nerven von
Leisewitz’ Julius [›Julius von Tarent‹, ein Lieblingsstück Schillers],
und den Puls von mir« (Schiller 1981f 2, 1093). Der Anschluss an
Shakespeare wird auch in der Form deutlich, denn Schiller wählt
den Blankvers (engl. blank verse), einen fünfhebigen und meist
ungereimten (deshalb: blank) Jambus, ein sehr flexibles Versmaß,
das mit freien Füllungen versehen werden kann und Enjambe-
ments ermöglicht.
Philipp II. lebte von 1527 bis 1598, sein Sohn Carlos, der in einer Der historische Stoff
wegen Hochverrats angeordneten Haft starb, von 1545 – 1568. Don und seine Bearbeitung
Carlos war zunächst mit der gleichaltrigen Elisabeth von Valois
(1545 – 68) verlobt, ehe Philipp II. sie heiratete. Schiller setzt hier
an, er zeigt einen weiterhin in seine Stiefmutter verliebten und
darunter leidenden Carlos. Katalysator und Motor der weiteren
Handlung wird sein Jugendfreund, der Malteserritter Marquis
von Posa, der möchte, dass Carlos politische Verantwortung über-
nimmt, sich von seinem Vater in die Niederlande schicken lässt
und die Aufstände in den flandrischen Provinzen nicht mit Waf-
fengewalt unterdrückt, sondern eine diplomatische und friedli-
che, den Provinzen größere Freiheiten gewährende Lösung her-
beiführt.
Philipp findet Gefallen an Posa, der ihm offen entgegentritt
und seine Meinung sagt, das ist der König nicht gewohnt. Seine
Berater reden ihm entweder nach dem Mund oder sie versuchen
ihn zu ihren Zwecken zu instrumentalisieren. Als eine rache-
76 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

geleitete Intrige der Prinzessin von Eboli, die sich in Carlos ver-
liebt hat und von ihm abgewiesen wird, darauf zielt, dem König
ein heimliches Liebesverhältnis von Carlos und Elisabeth zu ent-
decken, glaubt Posa, mit einer Gegenintrige seinen Freund und
Flandern zugleich retten zu können. Posa nimmt die angebliche
Schuld auf sich und opfert sich für seinen Freund Carlos, doch der
möchte dieses Opfer nicht. Der König sieht sich doppelt betrogen,
von Posa, dem er vertraut hat, und von seinem Sohn, der Flan-
dern vor ihm retten wollte. Philipp lässt Posa töten, als er diesen
noch für einen Verräter hält, und übergibt schließlich, nachdem
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Carlos ihm alles erzählt hat, um seinen Freund zu rechtfertigen


und den König zu beschämen, seinen eigenen Sohn der Inquisi-
tion. Philipp wird von Schiller aber nicht als Monster, sondern
3. Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang, 9783825248215, 2020

als Mensch gezeichnet, der mit einer Machtfülle ausgestattet ist,


die jedes menschliche Maß übersteigt und keine objektiven und
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somit gerechten Entscheidungen zulässt. Absolutismus und Frei-


heit schließen sich gegenseitig aus, selbst der König ist nicht frei,
denn er muss, um das System, für das er steht, zu bestätigen, sei-
nen eigenen Sohn zum Opfer bringen.
Dass es sich um eine Tragödie handelt, signalisieren bereits die
ersten, berühmten Worte des Stücks, gesprochen von Domingo,
dem Beichtvater des Königs: »Die schönen Tage in Aranjuez / Sind
nun zu Ende« (SD, 9). Carlos ist ein Zögerer wie Hamlet, aus einem
anderen und doch ähnlichen Grund. Hamlet ahnt und weiß spä-
Der Vater-Sohn-Konflikt ter auch, dass sein Stiefvater seinen Vater getötet hat, um die
Thronfolge anzutreten und seine Mutter heiraten zu können. Car-
los weiß, dass sein Vater seine Verlobte geheiratet hat und ahnt,
dass Elisabeth ihn immer noch liebt. In beiden Fällen steht der
Thronfolger gegen den regierenden Monarchen. In beiden Fällen
kann der Stiefsohn oder Sohn nichts tun, wenn er sich nicht selbst
in Gefahr bringen möchte. Carlos sieht bereits in der ersten Szene
des ersten Aktes die Gefahr – eine Vorausdeutung auf das Kom-
mende: »Zu gut weiß ich, daß ich an diesem Hof / Verraten bin –
ich weiß, daß hundert Augen / Gedungen sind, mich zu bewa-
chen, weiß, / Daß König Philipp seinen Sohn / An seiner Knechte
schlechtesten verkaufte, / Und jede von mir aufgefangne Silbe /
Dem Hinterbringer fürstlicher bezahlt, / Als er noch keine gute
Tat bezahlte« (SD, 12). Und zum Schluss der Szene heißt es: »Bewei-
nenswerter Philipp, wie Dein Sohn / Beweinenswert! – Schon seh
ich deine Seele / Vom giftgen Schlangenbiß des Argwohns bluten, /
F riedrich S chiller : D on C arlos . I nfant von S panien (1787) 77

Dein unglückselger Vorwitz übereilt / Die fürchterlichste der Ent-


deckungen, / Und rasen wirst du, wenn du sie gemacht« (SD, 13).
Posa ist die Gegenfigur zu Philipp, auch wenn er später den
Fehler begeht, selbst eine Intrige zu spinnen und sich, um eine
alte Schuld Carlos gegenüber zu tilgen (vgl. SD, 17), selbst opfert
(SD, 144; 171), obwohl er vielleicht noch in der Lage gewesen wäre,
die Niederlande vor dem spanischen Rachefeldzug zu bewahren.
Posa stellt sich dem Jugendfreund gegenüber bezeichnenderweise
vor als: »Ein Abgeordneter der ganzen Menschheit« (SD, 14), um
Carlos zu bewegen, sich an die Spitze der Retter zu stellen und es
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nicht zuzulassen, dass der König Herzog Alba (»Des Fanatismus


rauher Henkersknecht«; SD, 14) entsendet. Allerdings zeigt das
Stück den Herzog auch von einer etwas anderen Seite – als treuen,
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wenngleich dem System blind ergebenen Diener seines Herrn:


»Solang ein Herz an diesen Panzer schlägt, / Mag sich Don Philipp
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ruhig schlafen legen. / Wie Gottes Cherub vor dem Paradies / Steht
Herzog Alba vor dem Thron« (SD, 39).
Carlos sieht sich aber nicht in der Lage, Posa zu helfen, zu Die Freunde Carlos und
sehr leidet er unter seiner persönlichen Situation: »Du sprichst Posa
von Zeiten, die vergangen sind. / Auch mir hat einst von einem
Karl geträumt, / Dems feurig durch die Wangen lief, wenn man /
von Freiheit sprach – doch der ist lang begraben« (SD, 14). Sein
Plan, Spanien zu erneuern, war für ihn untrennbar mit der Vor-
stellung verbunden, mit Elisabeth eine Familie zu gründen – die
Heirat Philipps mit Elisabeth und die Geburt einer Erbin hat für
ihn diesen Traum beendet und die fortdauernde Liebe sieht er als
inzestuöse, unheilbringende Schuld: »Ich liebe meine Mutter […]
Die Ordnung der Natur und Roms Gesetze / Verdammen diese Lei-
denschaft. Mein Anspruch / Stößt fürchterlich auf meines Vaters
Rechte. / Ich fühls, und dennoch lieb ich. Dieser Weg / Führt nur
zum Wahnsinn oder Blutgerüste« (SD, 17 f.).
Carlos hat etwas von der Schwärmerei Ferdinands aus Kabale
und Liebe, wenn er Elisabeth gegenüber feststellt: »Man reiße mich
von hier aufs Blutgerüste! / Ein Augenblick, gelebt im Paradiese, /
Wird nicht zu teuer mit dem Tod gebüßt« (SD, 31). Doch als Elisa-
beth an die Folgen für sie selbst erinnert, sieht Carlos, und darin
ist er anders als Ferdinand, den Egoismus seiner Gefühle ein. Die
Königin stellt die »Pflicht« als notwendige Einschränkung ihrer
individuellen Freiheit heraus, während Carlos auf seine Freiheit
pocht: »So viel, / Daß Carlos nicht gesonnen ist, zu müssen, / Wo
78 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

er zu wollen hat« (SD, 33). Seinem angekündigten Sturm auf die


»Gesetze« begegnet Elisabeth, so die Regieanweisung, »mit Würde
und Ernst« (SD, 34). Sie appelliert an ihn, die persönliche Liebe mit
der Liebe zu den Menschen, denen er als Königssohn und Thron-
folger helfen könnte, zu vertauschen: »Die Liebe ist ihr großes
Amt. Bis jetzt / Verirrte sie zur Mutter« (SD, 35). Carlos wird auf sie
hören. Doch sind es die dem unfreien System geschuldeten Heim-
lichkeiten um die Liebe zur Mutter, die den Stein ins Rollen brin-
gen. Der Brief, den Carlos als Einladung seiner Mutter zu einem
heimlichen Treffen missversteht, stammt von der Prinzessin von
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Eboli, die sich von Carlos getäuscht glaubt (SD, 72 ff.) und sich aus
»Rache« dem König als Mätresse anbietet (SD, 79), um Carlos’ Liebe
zu Elisabeth zu verraten.
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Posa ist zwar die Symbolfigur der Freiheit, in einer unfreien


Zeit und Gesellschaft wäre aber eine Figur unglaubwürdig, die
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sich nicht auch durch Schwächen und Irrtümer auszeichnete.


Elisabeth begrüßt ihn mit den Worten: »[…] ein Freier! / Ein Phi-
losoph!« (SD, 26), die im Sinne Kants zeigen, dass Freiheit und
Reflexion untrennbar zusammengehören. Es spricht für Philipp,
dass er Posa zunächst als jemand anerkennt, der außerhalb sei-
nes Einflusses steht. So kann Posa im Gespräch mit Philipp seine
antagonistische Position erklären: »Ich bin – ich muß / Gestehen,
Sire – sogleich nicht vorbereitet, / Was ich als Bürger dieser Welt
gedacht, / In Worte Ihres Untertans zu kleiden« (SD, 119). Er könne
»nicht Fürstendiener sein«: »Ich liebe / Die Menschheit, und in
Monarchien darf / Ich niemand lieben als mich selbst« (SD, 120).
Dem König hält er den Spiegel vor: »Wie niedrig Sie von Men-
schenwürde denken, / Selbst in des freien Mannes Sprache nur /
Den Kunstgriff eines Schmeichlers sehen« (SD, 122). Der König
sei auf Kosten der »Freiheit« und des »Glück[s] von Millionen« ein
»Gott«, aber er selbst müsse dafür den Preis bezahlen, als Gott
einsam zu sein: »Wer teilt mit Ihnen Harmonie?« Der König ist
zutiefst betroffen: »(Bei Gott, / Er greift in meine Seele!)« (SD, 123)
Die berühmtesten Worte dieses Dialogs und auch des Stücks rich-
„Geben Sie / tet Posa als Forderung an den König: »Geben Sie / Gedankenfrei-
Gedankenfreiheit“ heit.« Posa verweist auf die Natur und damit auf eine natürliche
Ordnung, die durch die künstliche des Absolutismus missachtet
wird: »Sehen Sie sich um / In seiner herrlichen Natur! Auf Freiheit /
Ist sie gegründet – und wie reich ist sie / durch Freiheit!« (SD, 126).
Carlos wird aus keinem anderen Grund für das System so
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gefährlich, dass er sterben muss. Domingo fasst zusammen: »Er


denkt! / Sein Kopf entbrennt von einer seltsamen / Chimäre – er ver-
ehrt den Menschen.« Und weiter: »Er ist stolz auf seine Freiheit, /
Des Zwanges ungewohnt, womit man Zwang / Zu kaufen sich Zwang statt Freiheit
bequemen muß« (SD, 81). Allerdings gibt es eine Differenz zwi-
schen Carlos und Posa, die zutage tritt, als Carlos Elisabeth einen
Brief des Königs als Beweis von dessen Untreue vorlegen will. Posa
hält ihn auf und zerreißt den Brief (SD, 95). Posa möchte nicht,
dass Carlos seinem »Eigennutz« frönt (SD, 96), sondern dass er Ver-
antwortung für andere übernimmt. Carlos soll sich an die Spitze
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des Aufstandes der Niederlande stellen: »Die gute Sache / wird


stark durch einen Königssohn. Er mache / Den span’schen Thron
durch seine Waffen zittern. / Was in Madrid der Vater ihm verwei-
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gert, / Wird er in Brüssel ihm bewilligen« (SD, 136). Damit wäre


Carlos der designierte Nachfolger des Königs und könnte auch die
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Verhältnisse in Spanien verändern.


Zu spät sieht Posa seinen Fehler ein, von Carlos das Unmögli-
che zu verlangen: »Nein! Das, / Das hab ich nicht vorhergesehen –
nicht / Vorhergesehen, daß eines Freundes Großmut / Erfinderi-
scher sein könnte als meine / Weltkluge Sorgfalt. Mein Gebäude
stürzt / Zusammen – ich vergaß dein Herz« (SD, 184). Doch ist Posa
nicht in der Lage, die Tragweite seines Irrtums zu erkennen, denn
er versucht noch, Carlos durch das Beispiel des eigenen Todes
zur gewünschten Mission zu verleiten: »Rette dich für Flandern!«
(SD, 192). Carlos kann nicht gleich so handeln, wie sein Freund
es möchte, er ist zu erschüttert durch den Tod des Freundes und
erklärt seinem Vater, welchen selbstlosen Menschen dieser hat
ermorden lassen (SD, 195 ff.). Zwar besinnt sich Carlos noch und
versucht, darin bestärkt durch Elisabeth, Posas Erbe anzutreten:
»Ich eile, mein bedrängtes Volk / Zu retten von Tyrannenhand«
(SD, 218). Doch ist es zu spät: Um der drohenden Rebellion zu ent-
gehen (SD, 198), liefert der König seinen eigenen Sohn der Inqui-
sition und damit der Folter und dem sicheren Tod aus.
Auch wenn Philipp als Mensch gezeichnet wird, weil er sich
durch das Beispiel Posas beeindrucken lässt bis zu dem Punkt,
dass er über den (scheinbaren) Betrug des neu gewonnenen Freun-
des trauert (»Der König hat / Geweint«; SD, 181), so ist er doch
durch seine Machtfülle durch und durch korrumpiert. Entspre- Korumpierende
chend wird seine Rolle von Posa gezeichnet. Ein König werde wie Machtfülle
ein Gott verehrt, er habe offiziell »keine Schwächen mehr«, so dass
80 B arock , A ufkl ärung , E mpfindsamkeit und S turm & D r ang

seine »Laster« keine Folgen haben (SD, 42). Carlos klagt über »eine
knechtische / Erziehung« (SD, 19) und Philipp muss, weil er nur
Untergebene hat, die etwas durch ihn erreichen wollen, Carlos’
Liebesbezeugungen als »Gaukelspiel« wahrnehmen (SD, 46), auch
wenn er von den Appellen seines Sohnes durchaus nicht unbeein-
druckt ist und ihm mehr vertraut als zuvor, bis die Intrigen ein-
setzen und er sich, als Marionette seiner Berater, darin bestätigt
sieht, dass solches Vertrauen nur auf einen Irrweg führen kann.
Der König bestätigt Posas Einschätzung absolutistischer Macht
durch sein Verhalten. Er sieht kein Problem darin, das zu tun,
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was er seiner Frau und Carlos verweigert – er hat eine Affäre mit
der Prinzessin von Eboli, eine Verbindung, die von Domingo und
Alba gefördert wird, um Philipp zu manipulieren (SD, 82). So wie
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Posa die abwesende, aber erstrebte Freiheit verkörpert, so ver-


körpert Philipp die herrschende Ordnung, denn er exekutiert,
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was das Konzept absolutistischer Herrschaft verlangt: »Der Auf-


ruhr wächst in meinen Niederlanden. / Es ist die höchste Zeit. Ein
schauerndes / Exempel soll die Irrenden bekehren« (SD, 40). In
einem falschen System ist es richtig, das Falsche zu tun: »Erbar-
mung hieße Wahnsinn« (SD, 50). Daher ist es konsequent, wenn
der König am Schluss, wider besseren Wissens (»Er [Posa] dachte
klein von mir und starb. Ich muß / Ihn wiederhaben«; SD, 205), das
alte System und auch seine eigene Lebenslüge wieder ins Recht
setzt: »Er sei gestorben als ein Tor. Sein Sturz / Erdrücke seinen
Freund und sein Jahrhundert!« (SD, 207) Der Großinquisitor bestä-
tigt die Einschätzung des Königs und fordert, er solle seinen einzi-
gen Sohn der »Verwesung lieber als / Der Freiheit« geben (SD, 215).
Goethes Götz von Berlichingen ähnlich, setzt das in der Vergan-
genheit spielende und auf die zeitgenössische Gegenwart anspie-
lende Stück seine Hoffnung auf kommende Zeiten. Carlos sieht
die Freundschaft mit Posa als Zeichen dafür, dass soziale Bindun-
Gleichheit als gen »Gleichheit« (SD, 44) herstellen und soziale Differenzierun-
Vorbedingung der gen obsolet werden lassen: »Sind wir / Nicht Brüder? – Dieses Pos-
Freiheit
senspiel des Ranges / Sei künftighin aus unserm Bund verwiesen! /
Berede dich, wir beide hätten uns / Auf einem Ball mit Masken
eingefunden, / In Sklavenkleider du, und ich aus Laune / In einen
Purpur eingemummt« (SD, 41). Und weiter: »Ich fürchte nichts
mehr – Arm in Arm mit dir, / So fordr ich mein Jahrhundert in die
Schranken« (SD, 44). Doch ist, wie Posa später feststellen muss, die
Zeit noch nicht gekommen für – mit den Leitbegriffen der Franzö-
F riedrich S chiller : D on C arlos . I nfant von S panien (1787) 81

sischen Revolution – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Posa


hält fest: »Das Jahrhundert / Ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe /
Ein Bürger derer, welche kommen werden« (SD, 121).
In diesem Drama Schillers geht es noch stärker als in den frü-
heren um politische Freiheit und um die Frage, welche Grenzen
individuelle Freiheit notwendigerweise hat, wenn es auch andere
Individuen gibt, die frei sein wollen. Der Absolutismus führt zu
prinzipieller Unfreiheit, da er Menschen nicht als gleichberech- Ein System der
tigt ansieht. Bereits durch die Höherstellung einer Person, des Unfreiheit
Fürsten, wird ein System der Ungleichheit etabliert, das unkon-
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trollierbar ist und eine Gefahr für alle bedeutet, getrieben vom
Egoismus, ihre Stellung und ihre Macht innerhalb des Systems
zu halten und nach Möglichkeit zu verbessern oder der Angst,
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der Ordnung zum Opfer zu fallen. »Gedankenfreiheit« wäre die


Voraussetzung für die Herstellung von Öffentlichkeit und Gerech-
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tigkeit. 20 Jahre später wird Schiller in Wilhelm Tell einen litera-


rischen Entwurf vorlegen, wie eine Ordnung herzustellen wäre,
in der die größtmögliche Freiheit aller Individuen sichergestellt
werden könnte.
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