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Historisches Apriori.

Sohn-Rethels und Foucaults Revisionen


der Kantischen Transzendentalphilosophie

Wissenschaftliche Hausarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
eines Magister Artium
der Universität Hamburg

vorgelegt von
Martin Jäkel
aus
Minden

Hamburg
2005

Inhalt

1. Einleitung. Eine ungewöhnliche Konstellation ...........................................................1


2. Annäherungen? ..........................................................................................................5
2.1. Alfred Sohn-Rethel: Die Abwesenheit der Revolution ......................................6
2.2. Michel Foucault: Französische Passagen ...........................................................9
3. Kant, oder Die Räuber am Weg .............................................................................12
3.1. Die Kritik der reinen Vernunft im Kontext von Erkenntnis- und
Wissenschaftstheorie .............................................................................................12
3.2. Sohn-Rethel, Kant und das Elend der Philosophie .........................................15
3.3. Foucault, Kant und die Konfiguration der Moderne ....................................17
4. Historisches Apriori. Sohn-Rethels und Foucaults Kant-Revisionen ....................20
4.1. Alfred Sohn-Rethel ........................................................................................21
a) Der Status der Naturwissenschaften..............................................................23
b) Von der Erkenntniskritik zur soziologischen Erkenntnistheorie ...............27
c) Geistige und körperliche Arbeit ...................................................................30
d) Synthesis ........................................................................................................35
e) Realabstraktion und Denkabstraktion .........................................................37
f) Das Problem der Vermittlung ...................................................................42
g) Folgen und Probleme ...................................................................................46
4.2. Michel Foucault .............................................................................................50
a) Von der Hermeneutik zur Diskursanalyse ...................................................52
b) Eine Archäologie der Humanwissenschaften ..............................................55
c) Diskurs ........................................................................................................60
d) Historisches Apriori ...................................................................................67
e) Eine soziologische Theorie der Erkenntnis? ..............................................69
f) Die Analytik der Endlichkeit ........................................................................73
g) Folgen und Probleme ...................................................................................75
5. Fazit und Ausblick ..................................................................................................82
Literatur- und Siglenverzeichnis ...................................................................................87




1. Einleitung. Eine ungewöhnliche Konstellation


Der Kern der Kantischen Transzendentalphilosophie liegt in der Vorstellung, dass
Erfahrung und sogar deren Gegenstände erst durch apriorische Prinzipien des
menschlichen Geistes ermöglicht werden. In den nachfolgenden zwei Jahrhunder-
ten waren es sowohl immanente Entwicklungen der Philosophie als auch Fort-
schritte auf dem Gebiet der Mathematik und Naturwissenschaften, die eine we-
sentliche Voraussetzung dieser Theorie, die ahistorische und unabänderliche Natur
dieser Prinzipien, in Zweifel zogen. Die zunächst paradox anmutende Begriffs-
schöpfung eines historischen Apriori lässt sich insofern als reflektierte Auseinan-
dersetzung mit der Erkenntnistheorie Kants interpretieren. Sie findet sich an pro-
minenter Stelle in der Diskurstheorie Michel Foucaults, hätte jedoch ebenfalls
dem Werk Alfred Sohn-Rethels entstammen können, der wiederholt von einem
empirischen oder gesellschaftlichen Apriori sprach.1 Als – zugegebenermaßen
ephemere – Spur soll der Titel so Vorbehalten begegnen, die sich ob des auf den
ersten Anschein doch recht merkwürdigen Versuchs einstellen mögen, zwei so
disparate Denker wie Foucault und Sohn-Rethel in eine gemeinsame Arbeit zu
zwängen. Ob er über die bloße semantische Äquivokation hinaus auf weiterge-
hende sachhaltige Konvergenzen verweist, wird sich im Lauf der Arbeit zeigen
müssen.

Es scheint zunächst wenig Verbindendes zwischen den beiden Theoretikern zu


geben. Auf der einen Seite der Solitär Alfred Sohn-Rethel, von der akademischen
Philosophie ignoriert und selbst im Umkreis der Kritischen Theorie zeitlebens
Außenseiter, dessen Denken trotz jahrzehntelangen Lebens in der Emigration ei-
ner klassisch deutschen Tradition – die in seinem Fall über Kant und Hegel zu
Marx führte – verhaftet blieb. Auf der anderen Seite der im akademischen wie
öffentlichen Bereich populäre Michel Foucault, eine entscheidende Generation
jünger als Sohn-Rethel, früh fasziniert von französischen Ausprägungen der Phä-
nomenologie und des Strukturalismus, der seine – gemeinhin und vielleicht in

1Vgl. Alfred Sohn-Rethel: Gesellschaftliches Apriori, in: Neues Forum, November/Dezember


1971, S. 32-36. Im Folgenden: GA.
1

verkürzender Weise als poststrukturalistisch bezeichnete – Theorie gerade in Ab-


grenzung zu den Traditionen moderner Philosophie entwickelte.
So unvermittelt, ja antagonistisch sich das Leben und Denken Foucaults und
Sohn-Rethels auch ausnehmen mag, so existieren doch untergründige Korrespon-
denzen in Form eines geteilten Problem- und Krisenbewusstseins. Die gemeinsa-
me Konstellation der zeitgeschichtlichen Situation, in die sich beide verwiesen
fanden, war geprägt durch die Erschütterung von Gewissheiten, welche mit dem
Denken der Moderne untrennbar verknüpft waren. Subjektphilosophische Strö-
mungen, die das Weltgeschehen in Begriffen von Fortschritt und Vernunft inter-
pretierten, hatten sich spätestens nach den zwei verheerenden Kriegen des Jahr-
hunderts und der Vernichtung der europäischen Juden diskreditiert. Foucault for-
muliert programmatisch: „In dieser Krise handelt es sich um jene transzendentale
Überlegung, mit der seit Kant sich die Philosophie identifiziert hatte, [...] handelt
es sich um ein anthropologisches Denken [...], handelt es sich um alle humanisti-
schen Ideologien und vor allem um den Status des Subjekts.“2 Zwar konnte be-
reits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Vernunftphilosophie längst als
entthront gelten: Für Sohn-Rethel wäre Marx, für Foucault wahrscheinlich Nietz-
sche als Verursacher der epochalen Zäsur geltend zu machen. Jedoch schienen
wesentliche Prinzipien dieser Philosophie das Werk der neuen Alleszermalmer
überlebt zu haben, um nun in camouflierter Gestalt und auf anderen Wirkungsfel-
dern ungebrochen ihre Herrschaft fortzusetzen – nicht länger als sich in der Ge-
schichte manifestierende Vernunft und daher auch die wohlfeile Dichotomie von
Vernunft und Irrationalität unterlaufend, sondern eher als Persistenz eines tran-
szendentalen Themas in den Wissenschaften und deren Historiographie. Versucht
man, in den durchaus unterschiedlichen Ausprägungen, die sich für Sohn-Rethel
und Foucault mit diesem Thema verbinden, ein gemeinsames Substrat freizule-

2 Archäologie
des Wissens, Frankfurt a.M. 1973 (L’Archéologie du savoir, Paris 1969), S. 291. Im
Folgenden: AW.
2

gen, so offenbart sich als Kern der Kritik die Kantische Vorstellung eines zeitlo-
sen, erfahrungskonstituierenden Apriori.3
Die Deutung als Konstellation entstammt also, auch dem astronomischen
Ursprung der Metapher gemäß, nicht der subjektiven Willkür. Zwar sind die Ster-
ne anders im Universum verteilt, als sie uns am Firmament erscheinen, und fügen
sich nur in der Perspektive des Betrachters zu einem Zusammenhang, in dem wei-
ter Entferntes gleichberechtigt zu Näherem tritt. Dieser beruht also auf einer Kon-
struktion – obwohl doch andererseits die Sterne an sich keine Emanationen sub-
jektiven Geists sind, sondern tatsächlich ihren Platz im Kosmos behaupten. Dies
mag den Kunstgriff rechtfertigen, eine Annäherung Foucaults und Sohn-Rethels
ausgerechnet über die in der Rezeption bislang unterbelichtete Station Kants zu
wagen. Es wird zu zeigen sein, dass dieser nicht nur ex negativo als Bezugspunkt
gemeinsamer Ablehnung fungiert, sondern dass – so die stärkere These, die der
Arbeit eine größere Beweislast auferlegt – fundamentale Elemente seiner Er-
kenntnistheorie in den Werken der beiden späteren Philosophen wiederzufinden
sind. Weniger als um Verwerfungen handelt es sich also vielmehr um Revisionen
der Kantischen Transzendentalphilosophie.

Das folgende zweite Kapitel möchte der Genese der Philosophien Sohn-Rethels
und Foucaults nachgehen. Ihre Stellung im theoriegeschichtlichen Kontext sowie
ihre Einflüsse sollen beleuchtet werden, um Differenzen herauszupräparieren, die
ernst zu nehmen eine Analyse zunächst verpflichtet ist. Der Relation zu Kant und
der Kantischen Erkenntniskritik wird sich das dritte Kapitel widmen. Nach einer
Exposition der Bedeutung Kants für Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie gilt es,
die Positionierung Sohn-Rethels und Foucaults in diesem Feld zu klären: Warum
wird überhaupt der Rückgriff auf Vorstellungen apriorischer Prinzipien und tran-

3 Da in der Arbeit vorrangig erkenntnistheoretische und nicht moralphilosophische und politische


Belange Thema sind, wird der Zugang zu Kant nicht – wie meistens – in Foucaults später Schrift
Was ist Aufklärung? über Kants gleichnamigen Aufsatz gesucht, in der Foucault das Kantische
Ethos der Aufklärung würdigt. Das Foucaultsche Projekt einer „historischen Ontologie unserer
selbst“ trifft sich allerdings durchaus mit der Kantischen Gegenwartsdiagnostik der Aufklärungs-
schrift – beide verbindet die kritizistische Methode. Vgl. Michel Foucault: Was ist Aufklärung?, in:
Eva Erdmann / Rainer Forst / Axel Honneth (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Auf-
klärung, Frankfurt a.M. 1990, S. 35-55. (Qu’est-ce que les lumières?, in: Magazine littéraire 207
(1984)), S. 49. Im Folgenden: AU.
3

szendentaler Konstitution unternommen? Und: Warum wird deren Dynamisierung


für notwendig gehalten? Die Beantwortung besitzt insofern propädeutischen Cha-
rakter, als sie jene Kernthemen vorbereitet, um die sich im vierten Kapitel eine
materiale Analyse der Werke Foucaults und Sohn-Rethels gruppieren soll. Nach
dem Warum geht es nun um das Wie des Rückgriffs auf Kant: Auf welche Weise
rekurrieren die beiden Denker auf die Kantische Erkenntnistheorie und welchen
Stellenwert besitzt sie in deren Werk? Die Arbeit setzt es sich zum Ziel, Differen-
zen weder um jeden Preis kurzzuschließen und wegzuräumen, noch sie als un-
vermittelte Widersprüche stehenzulassen. Vielmehr sollen durch Aufbau dialekti-
scher Spannungen die Antagonismen in Bewegung versetzt, ihre untergründige
Kommunikation ans Licht gebracht und sie auf diese Weise zumindest in vermit-
telte Unterschiede verwandelt werden. Eine gewisse Kreisbewegung ist daher
durchaus beabsichtigt; sie stellt keine unnötige Redundanz dar, sondern ist Aus-
druck eines sachhaltigen Moments in der Methode.

Zu dieser Architektonik scheinen einige methodologische Bemerkungen erforder-


lich. Um sich nicht durch die Oberfläche gemeinsamer Begriffsverwendungen
und thematischer Äquivalenzen von einem kritischen Blick auf die unterschiedli-
chen Zentren, aus denen die Theorien gespeist werden, ablenken zu lassen, ist es
unentbehrlich, die sozialen und politischen Hintergründe zu beleuchten, in denen
die Philosophien standen und deren Einfluss sie aufnahmen. Ähnliches hatte auch
Foucault im Sinn, als er in seiner Dissertation von der Erfordernis sprach, „struk-
turale und genetische Analyse miteinander zu verschränken.“4 Sohn-Rethel
schließlich charakterisierte sein Forschungsprogramm wiederholt als „genetische
Erklärung der Erkenntnisgeltung“.5
Zusätzlich zu der sich auf die primären Texte konzentrierenden Auslegungs-
arbeit soll also deren Wechselwirkung mit zeitgenössischen gesellschaftlichen
Diskursen einbezogen werden – nicht im Sinne von simplen Ableitungen, sondern

4 Didier Eribon: Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1991 (Michel Foucault
(1926-1984), Paris 1989), S. 176.
5 AlfredSohn-Rethel: Exposé zur Theorie der funktionalen Vergesellschaftung. Ein Brief an Theo-
dor W. Adorno (1936), in: Warenform und Denkform, Frankfurt a.M. 1978, S. 7-26, S. 9. Im Fol-
genden: EX.
4

als Komplement zu einer immanenten Hermeneutik. Wie Adorno bemerkte, ist


Kritik an Philosophie „immer nur möglich als eine an ihrer eigenen Wahrheit, und
der bloße Verweis darauf, daß sie mit irgendeinem gesellschaftlichen Zustand po-
sitiv oder negativ etwas zu tun habe, hat ihr gegenüber keine kritische Kraft.“6
Wie sehr die Arbeit einem Tasten auf vermintem Gelände ähnelt, zeigt sich bereits
an den nicht unproblematischen Begriffen von immanenter Kritik, Hermeneutik
und Wahrheit, die der an Marx geschulte Sohn-Rethel möglicherweise noch ak-
zeptieren würde, nicht jedoch Foucault, der gerade in seiner Ablehnung interpre-
tatorischer Hermeneutik keine Deutlichkeit hat vermissen lassen.7 Dem kann und
will sich die Arbeit nicht ohne weiteres beugen und beharrt so darauf, Foucault
mit einer gewissen Gewaltsamkeit durchaus auch entgegen seinen eigenen Ab-
sichten beim Wort zu nehmen und sein Werk als materiellen Text aus dessen Ver-
stehenshorizont zu dekontextualisieren; es nicht als bedeutsames Dokument sei-
nes Autors, sondern als Monument eines Diskurses zu behandeln und einer histo-
rischen Analyse zu unterziehen.

2. Annäherungen?
Versuche, einzelne Ausprägungen einer an den Theorien der Frankfurter Schule
orientierten Gesellschaftskritik und neuerer neostrukturalistischer Strömungen auf
gemeinsame Intentionen, Methoden der Kritik oder Grundprinzipien abzuklopfen,
gab es in jüngster Zeit zahlreiche. Die Herausgeber eines Sammelbandes zum
Thema sind sich der Fruchtbarkeit eines Vergleichs gewiss: „Die Kritische Theo-
rie und der Poststrukturalismus haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt: Die
Kritik der Philosophie der Aufklärung und die Kritik am traditionellen Marxis-
mus.“8 Abgesehen von der Vereinseitigung, die es bedeutet, ein Umfeld divergen-
ter Autoren und Autorinnen auf die Zugehörigkeit einer homogenen Denkschule
mit vermeintlich festem Programmkatalog verpflichten zu wollen, melden sich

6 Theodor W. Adorno: Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt a.M. 1996, S. 225.


7Vgl. Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und
Hermeneutik, 2. Auflage, Weinheim 1994, S. 19f.
8 jour-fixe-initiative berlin (Hg.): Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Theoretische Locke-
rungsübungen, Hamburg 1999, S. 5.
5

auch konkrete inhaltliche Bedenken gegen eine solch vorschnelle Synthese. Bei
der Suche eines gemeinsamen Nenners fällt dieser kleinstmöglich aus; so auch im
Fall Axel Honneths, der in „Foucault und Adorno“ zwei „Formen einer Kritik der
Moderne“9 erkennt. Bekannt ist Adornos generelle Aversion gegen die Tendenz,
in Buch- und Aufsatztiteln Phänomene durch die Konjunktion „und“ parataktisch
zusammenzuführen. In diesem Fall hätte er darauf hinweisen können, dass das
undifferenzierte Rubrum der Aufklärungs- und Vernunftkritik einen allzu weiten
Mantel bereitstellt, unter den beide bequem zu passen scheinen. Die methodische
Problematik wird von Honneth zwar wahrgenommen, deren Ursprünge jedoch an
falscher Stelle verortet: Der Vorwurf an Foucault und Adorno, ein „reduziertes
Bild der Moderne“ gezeichnet, eine „problematische Verkürzung“ vorgenommen
und eine Vielzahl von Erscheinungen „auf den einen Nenner der Moderne ge-
bracht“10 zu haben, fällt auf den Urheber zurück und erweist sich als Projektion
des eigenen reduktionistischen Ansatzes.
Dass das Verfahren nicht nur in apologetischer Absicht angestrengt wird,
führt Jürgen Habermas vor. Von der älteren Kritischen Theorie distanziert er sich,
indem er sie in den Kontext einer Theorieentwicklung einordnet, der von Nietz-
sche über Heidegger schließlich zu postmodernen Denkern wie Foucault führt.
Der vermeintlich gemeinsame Pol nietzscheanischer Erkenntnis- und Moralkritik
bietet Habermas eine willkommene Gelegenheit, Adorno und Foucault gleicher-
maßen als überkommene Formen irrationaler und totalisierender Kritik zu verab-
schieden.11
Der größere Grad an Allgemeinheit und der weite Bogen, den ein Vergleich
zu schlagen vermag, gehen notwendig einher mit einer wachsenden Abstraktheit.
Von individuellen Facettierungen, die gerade das Prägende des jeweiligen Den-
kens ausmachen, wird abgesehen. Dass die quantitative Verkürzung in eine quali-
tative umzuschlagen droht, die Darstellung mithin zur Karikatur gerät, beweist
der bereits erwähnte Sammelband: „Ideologiekritisch re- oder dekonstruieren bei-

9 Axel Honneth: Foucault und Adorno. Zwei Formen einer Kritik der Moderne, in: Peter Kemper
(Hg.): ‚Postmoderne’ oder Der Kampf um die Zukunft, Frankfurt a.M. 1988, S. 127-145.
10 Ebd., S. 137.
11 Vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985.
6

de Theorien den sich als zweite Natur gerierenden Sinn.“12 Die mögliche Unver-
einbarkeit der Begriffe von Ideologiekritik und Dekonstruktion wird nicht reflek-
tiert; ihre Aneinanderreihung wird durch den hohen Preis erkauft, dass sie gänz-
lich sinnentleert werden.

Die Arbeit möchte sich angesichts dieser Fallstricke zunächst in vorsichtiger Zu-
rückhaltung üben. An erster Stelle steht daher anstelle der Synthese eine Individu-
ierung, die die Entstehungsgründe der Theorien Foucaults und Sohn-Rethels er-
hellt.

2.1. Alfred Sohn-Rethel: Die Abwesenheit der Revolution


In den kursorischen biographischen Bemerkungen, die seinem Hauptwerk Geisti-
ge und körperliche Arbeit vorangestellt sind, beschreibt Alfred Sohn-Rethel jene
bereits in Jugendjahren prägende Erfahrung, die für den Rest seines Lebens das
Denken und theoretische Wirken bestimmen sollte:
„Ich klemmte mich hinter Marx und fing nun an, das Kapital zu lesen [...] mit einem
Ingrimm, der entschlossen war, nicht locker zu lassen. Es müssen an die zwei Jahre
gewesen sein, wo ich im Hintergrund meines Universitätsstudiums Berge von Papier
damit beschrieb, daß ich jeden einzelnen wesentlichen Ausdruck auf den ersten sech-
zig Seiten des Kapital vornahm, ihn auf seine Definitionsmerkmale und vor allem
auf seine metaphorischen Bedeutungen hin untersuchte, auseinandernahm und wie-
der zusammensetzte.“13
Obwohl ihm nach eigener Aussage „nichts anderes im Sinn [lag], als Marx zu
studieren“14, hatte er doch Zweifel an der Stimmigkeit, besser gesagt Vollständig-
keit der Marxschen Warenanalyse. Wenige Jahre nach Publizierung des Kapital
war eine ökonomische Theorie in die Öffentlichkeit getreten, welche nicht weni-
ger als eine Widerlegung der Marxschen Werttheorie geleistet zu haben bean-
spruchte: die mit den Namen Menger und Walras verbundene subjektive Grenz-
nutzenlehre. Die Dominanz der Grenznutzenlehre in der Nationalökonomie war

12 jour-fixe-initiative berlin (Hg.): a.a.O., S. 5.


13 Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthe-
sis, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 1973 (1. Auflage 1970), S. 11. Im Folgenden: GK.
14Mathias Greffrath: Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissen-
schaftlern, Frankfurt a.M. 1989, S. 216.
7

für viele materialistisch orientierte Forscher Sohn-Rethels Generation eine Her-


ausforderung, der Marxschen Warenanalyse qua Erweiterung ein sicheres Funda-
ment zu verschaffen.15 Während dieser theoretischen Auseinandersetzung mit
Marx stieß Sohn-Rethel auf seinen Hauptgedanken, den Ursprung reinen Denkens
in der Warenform dingfest zu machen: „Und schließlich, mit einem irrsinnigen
Konzentrationsaufwand, ging es mir auf, daß im Innersten der Formstruktur der
Ware – das Transzendentalsubjekt zu finden sei.“16 Bestätigung fand er in der Er-
fahrung der Inflation, die das Nachkriegsdeutschland der frühen zwanziger Jahre
heimsuchte. Die Überzeugung, dass der Wert – materialisiert durch das Geld –
nicht nur metaphorisch, sondern sehr real den gesellschaftlichen Nexus installiert,
wurde durch den aus der Entwertung des Geldes resultierenden vollständigen Zu-
sammenbruch eben jenes gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs eindrucks-
voll verifiziert.
Die Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit, das Gefühl des unmittelbaren
Bevorstehens der Revolution, schließlich ihr Ausbleiben sind ein weiteres wesent-
liches Movens. Das Fehlschlagen der Revolution stellt insofern den Ausgang für
viele theoretische Bemühungen der Zeit dar, als sie die Gründe für das Scheitern
aufzuarbeiten suchen und einen naiven marxistischen Geschichtsautomatismus
zugunsten einer subtileren Gesellschaftsanalyse aufgeben. Das Scheitern der Pra-
xis wird zu einer Möglichkeitsbedingung für Theorie, nicht unähnlich Adornos
berühmtem einleitenden Diktum aus der Negativen Dialektik: „Philosophie, die
einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirk-
lichung versäumt ward.“17 Wie andere Denker aus diesem theoretischen Feld
macht Sohn-Rethel also gerade die Umkehrung der berühmten elften Feuerbach-
these zu seinem Ausgang: Anders als von Marx erhofft, verändern Kapitalismus
und Sowjetkommunismus die Welt bereits auf fatale Weise; daher ist zunächst die

15„Ich wollte unbedingt theoretisch klären, wie das, was an der Grenznutzentheorie des Tausches
und des Wertes richtig ist, zusammengeht mit der marxistischen Arbeitswertlehre.“, ebd., S. 218.
16 GK, S. 11f.
17Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften 6, Frankfurt a.M. 1997, S.
15.
8

Interpretation, der „Griff [...] nach der Notbremse“18 geboten, um die Lokomotive
der Geschichte auf ihrer blinden und katastrophischen Fahrt zu stoppen.
Dennoch ist es ein praktisches Interesse, das für den wissenschaftstheoreti-
schen Schwerpunkt im späten Werk Sohn-Rethels erkenntnisleitend ist. Während
sich die einstigen Bekannten vom Institut für Sozialforschung längst von unmit-
telbaren revolutionären Hoffnungen verabschiedet hatten, bleibt der Übergang
vom Kapitalismus zum Kommunismus Fixpunkt seines Denkens, den er aller-
dings durch die dominante Rolle der Technologie in der heutigen Gesellschaft be-
droht sieht. So konstatiert er die Gefahr, dass „die heutige Menschheit nicht dem
Sozialismus, sondern der Technokratie entgegen“19 geht. Gründe für die aktuelle
Entwicklung der Technologie sieht Sohn-Rethel in einer Verselbständigung der
Naturerkenntnis, die sich mit Eintritt in die Moderne zunehmend den Schein einer
autonomen, der Gesellschaft enthobenen Sphäre gegeben hat. Diesen Schleier zu
zerreißen, „der zeitlosen Wahrheitstheorie der herrschenden naturwissenschaftli-
chen Erkenntnislehren den Boden zu entziehen“20 und die naturwissenschaftli-
chen Denkformen mitsamt der sie affirmierend begleitenden Erkenntnistheorie in
der Genese ihrer Geltung auf historisch-soziale Grundlagen zurückzuführen, ist
letztlich das Ziel von Geistige und Körperliche Arbeit. Sohn-Rethel liefert selbst
eine bündige Zusammenfassung dieser Intention: „Gewisse fundamentale Form-
probleme des Bewußtseins sollen zu Hebelpunkten der gesellschaftlichen Seins-
veränderung mobilisiert werden.“21 „Die Frage der menschlichen Praxis kann nur
beantwortet werden durch die Lösung des Problems der menschlichen Theorie“,
des „Problem[s] der Erkenntnis“.22

18 „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem
gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug sitzenden Men-
schengeschlechts nach der Notbremse.“ Walter Benjamin: Gesammelte Schriften I.3, Frankfurt
a.M. 1974, S. 1232. Und, wie Benjamin an anderer Stelle mit der ihm eigentümlichen Melancholie
formulierte: „Die Erfahrung unserer Generation: daß der Kapitalismus keines natürlichen Todes
sterben wird.“ Walter Benjamin: Passagenwerk, in: Gesammelte Schriften V.2, Frankfurt a.M.
1982, S. 819.
19 GK, S. 17.
20 Ebd.
21 GK, S. 27.
22 Alfred
Sohn-Rethel: Soziologische Theorie der Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1985, S. 166. Im
Folgenden: ST.
9

2.2. Michel Foucault: Französische Passagen


Foucaults Biograph Didier Eribon schreibt einleitend, er wolle „die intellektuelle
Landschaft, in der sich Foucault entwickelte“, rekonstruieren. Denn offenbar gebe
„es keine Philosophie, die im vollen Waffenschmuck ihrer Begriffe und Erfindun-
gen einem einzelgängerischem, der Übung seines Denkens anheimgegebenen
Geist“23 entspringe.
Ein bedeutender Orientierungspunkt in dieser intellektuellen Landschaft
war für den jungen Foucault die sich mit den Namen Gaston Bachelards und Ge-
orge Canguilhems verbindende Epistemologie. Im Französischen wird die philo-
sophische Disziplin der Erkenntnistheorie von der so genannten Epistemologie
unterschieden; letztere beschäftigt sich speziell mit wissenschaftstheoretischen
Fragen. Bereits in den dreißiger Jahren gelangten in Frankreich Wissenschaftshis-
toriker zu Ergebnissen ähnlich denen Thomas Kuhns, die in den sechziger Jahren
ausgehend von den USA für einen regelrechten Schock der Wissenschaftstheorie
sorgten.24 Wolfgang Detel sieht die französische Epistemologie wie auch Foucault
in der Kontinuität einer kritischen Geschichtsforschung, deren Ursprünge er bis
auf Marx datiert.25 Dessen historischer Materialismus postuliert die soziale Be-
stimmtheit der vermeintlich autonomen, geistigen Sphäre von Philosophie und
Recht. Ungeachtet der Tatsache, dass bei Marx die Wissenschaften eine durchaus
ambivalente Rolle besitzen, er sie nicht der von der ökonomischen Basis determi-
nierten Schicht von Ideologie und Überbau zurechnet, entwickelte sich im An-
schluss an sein Werk eine Wissenssoziologie, die auch wissenschaftliche Theorien
in ihrem historischen und sozialen Kontext analysierte. Als geistiger Erbe dieser
Tradition bestreitet Bachelard – wie auch später Kuhn – den Wissenschaften, pri-
vilegierter Ort der Manifestierung einer transhistorischen und universellen Ratio-
nalität zu sein. Damit verändern sich auch Inhalt und Methode der Historiogra-

23 Eribon: a.a.O., S. 16.


24Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1967 (The
Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962).
25Vgl. Wolfgang Detel: Einleitung: Ordnungen des Wissens, in: Axel Honneth und Martin Saar
(Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt a.M. 2003, S. 181-192.
10

phie, denn nicht länger kann es für den Epistemologen Aufgabe sein, die Wissen-
schaftsgeschichte als evolutionären Prozess kontinuierlichen Fortschritts zu re-
konstruieren. Das Interesse verlagert sich von der Registrierung sich stetig akku-
mulierender Theorien und Daten auf die sie erst ermöglichenden Begriffssysteme,
die ihrerseits einem diskontinuierlichen und bruchhaften Wechsel unterworfen
sind. In Foucaults wissenschaftstheoretischen Büchern finden sich keine Spuren
Kuhns, der seine Theorie wissenschaftlicher Revolutionen etwa zeitgleich entwi-
ckelte; sie sind jedoch deutlich beeinflusst von Bachelard und Canguilhem, deren
Namen Foucault in der Einleitung seiner Archäologie des Wissens erwähnt.26
Über die Verwandtschaft seines wissenschaftstheoretischen Projekts zu den
Kuhnschen Bemühungen bemerkt Foucault rückblickend: „Ich halte Kuhns Arbeit
in der Tat für bewundernswert und endgültig [...] als ich Kuhns Buch im Winter
1963-1964 las (ich glaube, ein Jahr nach seiner Veröffentlichung), hatte ich gera-
de Les Mots et les Choses [dt. Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971]
abgeschlossen. Daher habe ich dort nicht auf Kuhn hingewiesen, sondern auf den
Wissenschaftshistoriker, der Kuhns Denken geprägt und inspiriert hat: G. Can-
guilhem.“27 Von Bachelard übernimmt er den Relativismus, die Betonung von
Brüchen, Schwellen und Diskontinuitäten; von Canguilhem die inhaltliche Verla-
gerung des Erkenntnisinteresses auf „unreife“28 Wissenschaften: Beschäftigte sich
Bachelard vorrangig mit der Physik, so Canguilhem wie auch später Foucault mit
Biologie- und Medizingeschichte. Für Canguilhem sind diese den gleichen Me-
chanismen unterworfen wie die „harten“ Naturwissenschaften, die Zeitgebunden-
heit ihrer Aussagen mithin noch unproblematischer zu zeigen, da sie einen enge-
ren Bezug zu dem Menschen und seiner sozialen Welt besitzen.
In der epistemologischen Methodik, der bewussten Reduktion von Sinn und
einer Konzentration auf die Begriffsgeschichte, finden sich bereits Berührungs-
punkte zum Strukturalismus. Ähnlich argumentiert auch Eribon; für ihn ist Can-
guilhem „eine Art Vorläufer des Strukturalismus oder genauer: er hat zahlreiche

26 AW, S. 11.
27Michel Foucault: Foucault antwortet, in: Schriften in vier Bänden. Band II, Frankfurt a.M. 2002
(Dits et écrits 2, Paris 1994), S. 292-294, S. 293. Im Folgenden: FA.
28 Der Begriff verdankt sich Ian Hacking, der von „immature science“ spricht. Ian Hacking: Histo-
rical Ontology, Cambridge 2002, S. 87.
11

junge Forscher in das eingeführt, was später zum Strukturalismus werden sollte,
indem er ihnen darstellte, was man eine strukturale Geschichte der Wissenschaf-
ten nennen könnte.“29 Insofern verdankt auch Foucaults wissenschaftstheoretische
Periode viel der strukturalistischen Methode und dem linguistic turn, der sprach-
theoretischen Wende in der Philosophie – allen nachfolgenden Bemühungen Fou-
caults zum Trotz, eine Distanz zum Strukturalismus zu gewinnen. Foucaults Ar-
chäologie wäre nicht denkbar ohne die Saussuresche Theorie der Linguistik und
der Übertragung der strukturalen Analyse auf soziale Phänomene durch Claude
Lévi-Strauss. Der größte direkte Einfluss geschah wohl durch die Person von
Foucaults Lehrer Louis Althusser und seiner auf einer Relektüre des Marxschen
Werks basierten strukturalistischen Gesellschaftsanalyse.30 Im Gegensatz zum
klassischen Strukturalismus nimmt Foucault allerdings einige grundlegende Ver-
schiebungen vor: Strukturen werden nicht länger als transkulturelle, ahistorische
Regelsysteme begriffen, sondern sind selbst historischen Veränderungen unter-
worfen. Der starre Dualismus, der in der Konzentration auf Codes und Regeln, die
einen bloßen formalen Rahmen für mögliche Permutationen der Elemente bilden,
zum Ausdruck kommt, wird – wie im dritten Kapitel ausführlich erläutert wird –
zugunsten eines holistischen Ansatzes verworfen.
Was die Geschichtswissenschaft angeht, ist sich Foucault mit den Intentio-
nen der sozialhistorisch orientierten Annalesschule einig, die er ebenfalls in der
Einleitung der Archäologie des Wissens würdigt. Ihr verdanke sich ein nicht-in-
terpretierender, nicht-hermeneutischer Umgang mit Dokumenten, der diese nicht
als zu entschlüsselndes Sekundärphänomen eines primären Ereignisses behandelt,
sondern als Diskursmonumente einer immanenten, „oberflächlichen“ historischen
Analyse unterzieht.31 Mit solch programmatischen Aussagen wendet sich Fou-
cault nicht zuletzt explizit gegen die zu seiner Zeit in Frankreich populären philo-
sophischen Schulen von Phänomenologie, Existenzialismus und Hermeneutik.
Sein erstes Buch aus der archäologischen Periode, die Ordnung der Dinge, liest

29 Eribon: a.a.O., S. 167f.


30 Vgl. Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt a.M. 1984, S. 218.
31 Vgl. AW, S. 13-15.
12

sich in dieser Perspektive über weite Strecken als polemische Kampfschrift gegen
die genannten Strömungen.

3. Kant, oder Die Räuber am Weg


„Zitate in meiner Arbeit sind wie Räuber am Weg, die
bewaffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die
Überzeugung abnehmen.“32 (Walter Benjamin)

3.1. Die Kritik der reinen Vernunft im Kontext von Erkenntnis-


und Wissenschaftstheorie
Wenn auch der Titel Foucault und Sohn-Rethel als Revisonen der Kantischen
Transzendentalphilosophie bewirbt, so betreffen diese nur einen Teilbereich sei-
nes Werks, die in der Kritik der reinen Vernunft dargelegte Erkenntnistheorie, dar-
in wiederum speziell die Rolle des Apriori.33 Die philosophische Disziplin der
Erkenntnistheorie macht es sich zur Aufgabe, vor die inhaltliche Spekulation eine
methodische Reflexion über die Möglichkeit und die Reichweite der Erkenntnis
zu schalten. In einer doppelten Frontstellung gegen dogmatische und empiristi-
sche Traditionen seiner Zeit behauptet Kant, gültige Erkenntnis müsse zwar auf
Erfahrungen eingeschränkt sein, jedoch sei nicht jegliche Erkenntnis erfahrungs-
bedingt. Vielmehr seien gerade die Grundlagen notwendiger und allgemeingülti-
ger Erkenntnis zwangsläufig erfahrungsfrei. Sogar empirische Erfahrungser-
kenntnis ist zusammengesetzt und besteht nicht lediglich aus empfangenen Ein-
drücken der Sinnenwelt, sondern ebenso aus den Vorstrukturierungen des Er-
kenntnisvermögens. Auch der Erkenntnisgegenstand verliert so seine Rolle als

32Walter Benjamin: Einbahnstraße, in: Gesammelte Schriften IV.1, Frankfurt a.M. 1972, S.
83-149, S. 138.
33 Die Darstellung Kants stützt sich neben den Originaltexten im Wesentlichen auf folgende Litera-
tur: Otfried Höffe: Immanuel Kant, München 2000; Hans Michael Baumgartner: Kants Kritik der
reinen Vernunft. Eine Anleitung zur Lektüre, Freiburg 1996 sowie Peter Baumans: Kants Philoso-
phie der Erkenntnis, Würzburg 1998.
13

subjektunabhängiges Ansich und wird erst durch die apriorischen Bedingungen


des erkennenden Subjekts als Erscheinung konstituiert. In dieser „Revolution der
Denkart“34 besteht die kopernikanische Wende zum transzendentalen Subjekt: Die
Erkenntnis soll sich nicht länger nach dem Gegenstand, sondern der Gegenstand
nach der Erkenntnis, „nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens“35
richten. Allerdings handelt es sich bei dem transzendentalen Subjekt um ein Kon-
strukt; Kant meint nicht etwa eine Abhängigkeit von Beschaffenheiten des einzel-
nen empirischen Subjekts oder auch gesellschaftlichen Erfahrungen. Die struktu-
rierenden Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis liegen in der vorempirischen
Verfassung des Subjekts. Die Theorie dieser vorempirisch gültigen Tiefenstruktur
von Bedingungen heißt in der Kritik der reinen Vernunft transzendental: „Ich
nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen,
sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori
möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.“36 Um die Konsistenz seiner Theorie –
insbesondere die Eigenschaften von Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit – zu
bewahren, ist es für Kant notwendig, das Konstrukt des transzendentalen Subjekts
von jeglichen empirischen Kontaminationen fernzuhalten. Zwangsläufig muss das
Apriori von ahistorischem, unveränderlichen und universell gültigem Charakter
sein.
Herausragendes Vorbild und Indiz für die tatsächliche Existenz von apriori-
schen Erkenntnissen sind für Kant die modernen Naturwissenschaften. Insbeson-
dere in der Einleitung der Kritik der reinen Vernunft nimmt er explizit Bezug auf
Mathematik – mit der er stets die Euklidische Geometrie meint – und Newtonsche
Physik. Auch den Nachweis der transzendentalen Anschauungsformen von Raum
und Zeit in der transzendentalen Ästhetik führt er auf Grundlage Newtonscher
Annahmen: setzt er doch als gegeben voraus, dass absoluter Raum und absolute
Zeit unabänderlich und fundamental in den menschlichen kognitiven Apparat, in

34Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage 1787, in: Kants Werke. Akademie Aus-
gabe Band III, Berlin 1968 sowie Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. 1. Auflage 1781, in:
Kants Werke. Akademie Ausgabe Band IV, Berlin 1968, S. 1-252. Im folgenden: KrV. Es wird
nach den Seitenzahlen der ersten (A) und der zweiten (B) Auflage zitiert. Krv, B XI.
35 KrV, B XVII.
36 KrV, B 25.
14

das menschliche Erkenntnisvermögen eingeschrieben sind. Die in der transzen-


dentalen Ästhetik und Analytik enthaltene philosophische Theorie der Mathema-
tik und der mathematischen Naturwissenschaft ist für Kant die Basis, um in der
transzendentalen Dialektik zum eigentlichen Ausgangsproblem, der Metaphysik,
fortzuschreiten.

In der Philosophie blieb das Kantische System nicht lange von Kritik verschont.
Hegel beispielsweise bemängelt bereits kurze Zeit später in der Phänomenologie
des Geistes den strengen Dualismus von aposteriorisch und apriorisch, empirisch
und transzendental, Erscheinung und Ding an sich. Vor allem die sich in der Theo-
rie zusammengesetzer Erfahrung manifestierende Trennung von Form und Inhalt
wird als supponierte und nicht begründete Unterscheidung angegriffen37: Die Po-
sition der Erkenntniskritik „setzt nämlich Vorstellungen von dem Erkennen als
einem Werkzeug und Medium, auch einen Unterschied unserer selbst von diesem
Erkennen voraus; vorzüglich aber dies, daß das Absolute auf einer Seite stehe und
das Erkennen auf der andern Seite“38. Demgegenüber argumentiert Hegel, „daß
wir, indem wir den Block, die Grenze begrifflich fassen, die der Subjektivität ge-
setzt ist; indem wir diese als ‚bloße’ Subjektivität durchschauen, bereits über die
Grenze hinaus seien.“39 Die Hegelsche Geschichte des erscheinenden Wissens
setzt es sich zum Ziel, jeden Block, jedes Ansich aufzulösen und leistet so einer
historischen Verflüssigung des Erkenntnisproblems, schließlich der Überführung
von Erkenntnis- in Gesellschaftstheorie Vorschub.40
Auch ein weiterer Bestandteil ist von Kant als gegeben vorausgesetzt wor-
den: der apriorische Charakter von Euklidischer Geometrie und Newtonscher
Physik. Insofern ist es die folgerichtige Konsequenz, dass Entwicklungen auf dem
Gebiet der Mathematik und der Naturwissenschaften im neunzehnten und zwan-

37 Vgl. Ludwig Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a.M. 2000, S. 74f.
38Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: Werke 3, Frankfurt a.M. 1970,
S. 70.
39Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, in: Gesammelte Schriften 5, Frankfurt a.M. 1997,
S. 255.

Vgl. dazu besonders das Kapitel Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins:
40
Herrschaft und Knechtschaft in: Hegel: a.a.O.
15

zigsten Jahrhundert diese Grundprinzipien der Vernunftkritik nicht unbeschädigt


ließen. Mit der Entdeckung nicht-euklidischer Geometrien in der Mathematik und
des Prinzips der Relativität in der Physik muss die zentrale Annahme eines ahisto-
rischen und unveränderlichen Apriori als widerlegt gelten: Die Naturwissenschaf-
ten besitzen in der Kritik der reinen Vernunft nicht lediglich den Status von Bei-
spielen und Indizien. Ihr Schicksal ist über die gemeinsame Verwendung der Ka-
tegorien und Anschauungsformen mit dem der allgemeinen Erkennntis verbun-
den, so dass Revolutionen auf wissenschaftlichem Gebiet durchaus auf die tiefere
Ebene genuin philosophischer Aussagen durchschlagen.

3.2. Sohn-Rethel, Kant und das Elend der Philosophie


Es ist kaum bekannt, dass Sohn-Rethel sich während seines Studiums systema-
tisch mit Kant auseinandersetzte, und dass diese Prägung erheblichen formalen
Niederschlag in die ersten Veröffentlichungen gefunden hat. Sohn-Rethel bemerkt
dazu:
„Durch mein Kant-Studium bei Ernst Cassirer 1921/22 in Berlin war mir so großer
Respekt vor dem Begriffsapparat der herrschenden theoretischen Philosophie einge-
prägt worden, daß dies sich bei der Abfassung meiner Arbeit und vor allem in der
Ausdrucksweise als ein spürbarer Hemmschuh ausgewirkt hatte.“41
Die enge Anlehnung an Marx würde zunächst eine Prädisposition gegen erkennt-
nistheoretische Fragen vermuten lassen. Für Marx stellt sich kein Erkenntnispro-
blem; der „Verächter der Erkenntnistheorie“42 ist im Gegenteil davon überzeugt,
dass die „verhimmelten Formen“43 von Religion und Philosophie im gesellschaft-
lichen Sein der Menschen ihren Ursprung besitzen. Bemüht sich Kant um den

41 AlfredSohn-Rethel/Stefan Breuer/Bodo von Greiff: Differenzen im Paradigmakern der Kriti-


schen Theorie, Teil II, in: Leviathan 14 (1986), S.308-320, S. 313f. Im Folgenden: Diff. Bei der
erwähnten Arbeit handelt es sich um das 1936 entstandene so genannte Luzerner Exposé, mit dem
Sohn-Rethel versuchte, an das Institut für Sozialforschung Anschluss zu finden – nach eigener
Aussage war es jedoch „viel zu weitläufig, kompliziert und unverständlich“ gehalten. (So Sohn-
Rethel 1977 in einem Interview, das anlässlich seines 100. Geburtstags 1999 von Radio Bremen
ausgestrahlt wurde.)
42 Adorno: GS 6, S. 179.
43 Karl Marx: Das Kapital. Erster Band, in: Marx Engels Werke (MEW) 23, Berlin 1962, S. 393.
16

Aufweis zeitloser, universell und ewig gültiger Prinzipien, so betreibt Marx deren
rücksichtslose Historisierung. Erkenntnistheorie erweist sich als Ideologie: fal-
sches Bewusstsein, eine Verzauberung, die allerdings den objektiven Notwendig-
keiten des gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs folgt. Die Gering-
schätzung erkenntnistheoretischer Belange geht auf das Erbe Hegels zurück, des-
sen Einfluss vor allem in der Methode des Marxschen ökonomischen Spätwerks
omnipräsent ist.
Sohn-Rethels Marx-Revision hebt mit einer Wendung gegen Hegel an, den
er verdächtigt, das Problem durch einen Gewaltakt weniger gelöst denn verdrängt
zu haben: Die als Versöhnung gedachte, in concretu eher erzwungene Einheit von
Verstand und Sinnlichkeit, Subjekt und Objekt sei eine konsequente Ausschaltung
der Erkenntnistheorie. Mit seinem Rückgriff auf Kant verfolgt Sohn-Rethel das
Ziel, Marx und Hegel auseinanderbringen.44 Der die Kritik der reinen Vernunft
durchziehende dualistische Aufbau leide zwar an Widersprüchen, stelle aber den-
noch eine auf partikulare Weise wahre Einsicht dar – nicht in das Wesen der Ver-
nunft, sondern in den antagonistischen Charakter der frühkapitalistischen Gesell-
schaft. Eignet der Hegelschen Stipulierung der im Geist geleisteten Versöhnung
ein resignativer Zug, so hält die Kantische Darstellung des zerrissenen und unver-
söhnten Zustands, welche ihren sinnfälligsten Ausdruck in der Antinomienlehre
der transzendentalen Dialektik findet, die Aufforderung wach, sie praktisch zu
leisten: „Die philosophische Antezipation der Versöhnung frevelt an der realen.“45
Die Kantische Theorie der zwei Erkenntnisvermögen verweist für Sohn-Rethel
tatsächlich auf ein Reales: die in der Moderne stattfindende Verselbständigung
theoretischer Erkenntnis und die Autonomisierung der Naturwissenschaften. Im
Unterschied zu Kant ist für ihn mit der Registrierung des Hiats allerdings noch
nicht das letzte Wort gesprochen. Die Trennung ist kein Gegebenes, sondern soll
in ihrer Genese erklärt werden. Der kritische Punkt, wo sich Kants Schwierigkei-
ten innerhalb der Kritik der reinen Vernunft am nachdrücklichsten Geltung ver-

44Vgl. auch: Oskar Negt: Laudatio für Alfred Sohn-Rethel, in: Leviathan 16 (1988), S. 140-155, S.
145.
45 Adorno: GS 5, S. 273.
17

schaffen46 – der Versuch des Schematismuskapitels, die Vermittlung von Apriori


und Erfahrung zu leisten –, ist für Sohn-Rethel gerade analytischer Ausgangs-
punkt von Forschung und Revision.
Bei aller Präferenz Kants gegenüber Hegel teilt Sohn-Rethel Marxens Kritik
an dem ahistorischen Charakter der Erkenntnistheorie. Als unakzeptabler Idealis-
mus gilt ihm vor allem die Ableitung der Kategorien und Anschauungsformen aus
Geistigem – dem Subjekt im weitesten Sinne. Primäres Interesse Sohn-Rethels ist
schließlich die Widerlegung der idealistisch geprägten zeitgenössischen Soziolo-
gie wie auch des Vulgärmaterialismus, für den naturwissenschaftliche Erkenntnis
zeitlose Gültigkeit besitzt, der also unbewussten Apriorismus betreibt. Kant er-
scheint als würdiger, weil starker Gegner, seine Theorie als „philosophisch reflek-
tierteste[] Erscheinungsform ‚traditioneller Theorie’“47. Einig weiß sich Sohn-Re-
thel hingegen mit Kant in der Frontstellung gegen den Empirismus der positivisti-
schen Soziologie. Der Idealismus soll nicht durch die abstrakte Antithese der Pra-
xis oder des Positivismus, sondern durch seine immanente Überführung in den
Materialismus widerlegt werden.
Das Programm der „kritischen Liquidierung des Apriorismus“48 knüpft bewusst
an Kant an – nicht lediglich in Bezug auf den zu widerlegenden Apriorismus,
sondern gerade, was die kritische Methode betrifft. Der Begriff der Kritik meint
schließlich bei Kant nicht etwa eine bloße Ablehnung oder Verurteilung, sondern
eine „Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Gränzen“49; in
diesem Fall also die Revision des Apriorismus, seine Neubestimmung und Reini-
gung von als unhaltbar erwiesenen Sedimenten.

3.3. Foucault, Kant und die Konfiguration der Moderne


Im Falle Foucaults ist der Bezug auf Kant wesentlich problematischer nachzuwei-
sen, enthalten doch die in dieser Arbeit hauptsächlich besprochenen Werke Die

46 Vgl. Fußnote 152.


47 Diff, S. 315.
48 So der Titel, den Sohn-Rethels Luzerner Exposé nach seiner Überarbeitung erhalten hat.
49 KrV, S. A XII.
18

Ordnung der Dinge50 und Archäologie des Wissens51 über weite Strecken eine
vernichtende Kritik Kantischer Philosopheme. Dennoch gibt es auch bei Foucault
eine – weitgehend unbemerkt und unkommentiert gebliebene – frühe und intensi-
ve Beschäftigung mit Kant. Seine thèse de doctorat d’État – die in etwa der deut-
schen Habilitation entspricht – enthält zwei Arbeiten; neben seinem Werk Wahn-
sinn und Gesellschaft ist dies eine Übersetzung von Kants Anthropologie in
pragmatischer Hinsicht abgefaßt.52 Der Übersetzung ist eine ausführliche Einlei-
tung Foucaults vorangestellt, aus der später Die Ordnung der Dinge hervorgehen
sollte.
Kant wird darin als Figur an der Schwelle zur Moderne interpretiert. Zusätz-
lich zu den drei traditionellen Fragen der Metaphysik, Ethik und Erkenntnistheo-
rie findet sich in der Anthropologie eine vierte Frage: Was ist der Mensch? Mit
dieser neuartigen Fragestellung ist der Grundstein zu einer neuen Wissenschaft,
der Anthropologie, gelegt. Gleichzeitig kündigt sie das Scheitern der Kantschen
Systematik an, denn sie subvertiert unbarmherzig die zuvor mit großem Aufwand
gezogene Trennung von transzendentalen Bedingungen und empirischem Inhalt –
es ist gerade das Merkmal des Menschen, gleichzeitig empirisches und transzen-
dentales Wesen zu sein.53 Kant wird so zum eigentlichen Begründer jener Hu-
manwissenschaften, deren Konstitutionsbedingungen Foucault in seiner Archäo-
logie erforschen möchte.
Eine wesentliche Revision der Kantischen Frage nach Möglichkeitsbedin-
gungen ist an dieser Stelle bereits vollzogen, denn es handelt sich nicht um uni-
versal gültige, unveränderliche Grundlagen für Erkenntnis, sondern um historisch
entstandene und geschichtlich wirksame Voraussetzungen. Der universalistischen
Subjektphilosophie gilt gerade die Kritik Foucaults, sie entpuppt sich als Kehrsei-

50Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1971 (Les mots et les choses, Paris
1966). Im Folgenden: OD.
51 Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973 (L’Archéologie du savoir, Paris 1969). Im Fol-
genden: AW.
52Introduction à l’ „Anthropologie“ de Kant, unpubliziertes Manuskript, Paris 1961. Im Folgen-
den: IA.
53 Vgl. OD, S. 384ff.
19

te der objektivistischen Humanwissenschaften.54 Weniger an den Wissenschaften


selbst, ist Foucault vielmehr an den Effekten wissenschaftlichen Denkens in unse-
rer Kultur interessiert, an deren Denkschema, das sich über den eigentlichen Gel-
tungsbereich ausdehnen und zum Signum einer ganzen Epoche werden sollte.
Dieses zeitdiagnostische Interesse – mal als „Ethnologie der Kultur, der wir selbst
angehören“55, mal als „historische Ontologie unserer selbst“56 bezeichnet – bildet
das eigentliche Movens für Foucaults archäologische Forschung.
Revision und Kritik scheinen in diesem Fall so stark den affirmativen Re-
kurs auf Kant zu überwiegen, dass sich die Frage stellt, inwieweit überhaupt die
Kantische Transzendentalphilosophie zu einem Verständnis der Archäologie bei-
tragen kann. Ähnlich wie bei Sohn-Rethel enthüllt sich jedoch eine Affinität zu
Kant, die mit der gleichzeitigen Geringschätzung Hegels einhergeht. Die Anstren-
gungen der Kantischen Architektonik, seine kaum verhüllten Brüche und Wider-
sprüchlichkeiten57 weisen bereits auf jene Probleme, die die Periode der Moderne
– sie reicht bei Focault etwa vom beginnenden neunzehnten Jahrhundert bis 1950
– heimsuchen werden. Sie treten bei Kant offen zutage, während Hegel sie einer
Scheinlösung zuführt. Sein Gewaltstreich gegen die Erkenntnistheorie ist insofern
vorkritisch, als er Widersprüche nicht zuspitzt, sondern verdeckt.58
Werkgeschichtlich fällt der offene Rekurs auf Kant mit der Wendung zur
archäologischen Periode zusammen: Nach dem Frühwerk, das sich einer konkre-
ten Beschreibung gesellschaftlicher Praktiken widmete, entsteht das Bedürfnis
nach methodischer Klärung der eigenen Vorgehensweise. Die Bedingungen der
untersuchten Phänomene sollen in einer allgemeinen Theorie formuliert werden –
hier bedient sich Foucault einer Vielzahl von bei Kant entliehener Begrifflichkei-

54Vgl. Hans-Herbert Kögler: Michel Foucault. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart
2004, S. 7.
55Michel Foucault: Wer sind Sie, Professor Foucault? Gespräch mit P. Caruso, in: Schriften in vier
Bänden. Band 1, Frankfurt a.M. 2001 (Dits et écrits 1, Paris 1994), S. 770-793, S. 776. Im Folgen-
den: PC.
56 AU, S. 49.
57So etwa in der Frage der empirisch-transzendentalen Problematik: „[Die Frage Kants] nimmt
unter der Hand und im voraus die Vermengung des Empirischen und Transzendentalen vor, deren
Teilung Kant indessen gezeigt hatte.“ OD, S. 410.
58 Vgl. OD, S. 411.
20

ten. Ian Hacking erkennt in der Ordnung der Dinge sogar eine Erkenntnistheorie:
„It is also philosophical because it exemplifies a theory of knowledge, in both
theoretical and practical terms.“59
Die Analyse von Bedingungen, die dem Wissen einer Epoche zugrundelie-
gen, trifft sich mit dem strukturalistischen Interesse an den unbewussten Codes
und Regelsystemen des gesellschaftlichen Lebens. Paul Ricoeur nennt den Struk-
turalismus einen „Kantianismus ohne transzendentales Subjekt“60; Ian Hacking
meint sogar, Die Ordnung der Dinge sei auf den ersten Blick ein idealistisches
Buch,61 und legte damit den Finger auf eine untergründige Verwandtschaft von
Idealismus und Strukturalismus. Die Vorwürfe können Foucault nur peripher tref-
fen, der sich nicht als genuinen Strukturalisten verstanden wissen möchte und le-
diglich „bestimmte Ähnlichkeiten zwischen den Werken der Strukturalisten“62
und den seinen zuzugestehen bereit ist. Die kritische Absetzbewegung vom klas-
sischen Strukturalismus, der Postrukturalismus, entspricht insofern der Wendung
von der Transzendentalphilosophie zum dynamisch revidierten Apriorismus.63
Es offenbart sich also doch ein mehr als untergründiger Einfluss: Von den
Foucault-Exegeten Dreyfus und Rabinow nicht ohne Hintergedanken
„Analytik“64 getauft, ist die Archäologie Kritik im Sinne Kants: Eine Untersu-
chung und Infragestellung der Bedingungen der – wohlgemerkt historischen –
Rationalität.

59 Hacking: Historical Ontology, a.a.O., S. 88.


60 zitiert nach: Frank: Was ist Neostrukturalismus, a.a.O., S. 143.
61Ian Hacking: The Archaeology of Foucault, in: David Couzens Hoy (Hg.): Foucault. A Critical
Reader, Oxford 1986, S. 27-41, S. 32f.
62 OD, S. 16.
63Beiden Revisionen ist nicht nur die Historisierung gemeinsam, sondern auch die Dezentrierung,
die im Falle Sohn-Rethels eine Wendung vom transzendentalen Subjekt zur Gesellschaft ist.
64 Dreyfus und Rabinow: a.a.O., S. 133.
21

4. Historisches Apriori. Sohn-Rethels und Foucaults


Kant-Revisionen
Der Begriff des historischen Apriori ist im Bereich der traditionellen Erkenntnis-
theorie ein offenkundiges Paradox. Kant nennt solche Erkenntnisse a priori, wel-
che „von allen Eindrücken der Sinne“65, „schlechterdings von aller Erfahrung“
unabhängig stattfinden. Zwar betont er, dass „alle unsere Erkenntnis mit der Er-
fahrung anfange“66, aber dieser zeitliche Anfang wird scharf von dem sachlichen
Ursprung der Erkenntnis geschieden, welcher gerade nicht in der empirischen
Welt der Erfahrung liege. Im Zentrum der Kantischen Vorstellung des Apriori ste-
hen reine, also erfahrungsfreie Erkenntnisbedingungen, die das durch die Sinn-
lichkeit gegebene Material vorstrukturieren.
Wenn nun also die zweite Komponente in einem der empirischen Welt ent-
lehnten Attribut besteht – sei es historisch oder auch konkret, gesellschaftlich,
empirisch – so konterkariert diese inhaltliche Ergänzung gerade den ersten Teil
des Begriffs, mithin die Kantische Absicht, das Apriori von jeglichen empirischen
Bestandteilen freizuhalten.67 Da die paradoxe Kreation kaum auf einen durch
mangelnde Kenntnis der Kantischen Theorie begangenen groben Irrtum zurückzu-
führen ist, stellt sich berechtigterweise die Frage nach der Intention. Soll der Be-
griff durch den Widerspruch kritisiert und unschädlich gemacht werden; handelt
es sich also lediglich um die publikumswirksam inszenierte Verabschiedung phi-
losophischen Ballasts einer überkommenen Tradition? Oder verbirgt sich dahinter
vielmehr eine strategische Intervention, deren vordergründiger Ikonoklasmus die
kathartische Funktion besitzt, Altes einer Neuinterpretation und Revision zu öff-
nen? Die Arbeit möchte letztere These vertreten und macht sich anheischig, im
Hintergrund des blendenden Unworts historisches Apriori nach Spuren einer sol-
chen Revision zu suchen. Ist es möglich, die Kernfunktion des Apriori, seine er-

65 KrV, B2.
66 KrV, B1.
67 Eine ähnlich gelagerte Revision nahmen bereits die gegen Kants abstrakten Formalismus rebel-
lierenden Frühromantiker vor. Die abstrakte Transzendentalität wurde als Zumutung empfunden,
aber der bereits bei Schlegel auftauchende Begriff des „historisch Transcendentalen“ ist weniger
Ausdruck einer fundierten Dynamisierung des Kantischen Apriori, sondern romantischen Synthe-
sebemühungen von Idealismus und Naturalismus geschuldet. Vgl. Frank: Was ist Neostrukturalis-
mus, a.a.O., S. 199.
22

fahrungs- und gegenstandsstrukturierende Tätigkeit, zu bewahren, ohne gleichzei-


tig die stärkere These zu vertreten, diese gründe sich auf ewige Prinzipien des
Subjekts? Mit Aufgabe des Reinheitspostulats wird der Fokus der Ursprungssuche
von dem monadischen Einschluss des transzendentalen Subjekts in die raumzeit-
liche und geschichtliche Welt gewendet.
Der Weg der Analyse ist damit wie folgt vorgezeichnet: Da durch den Be-
griff des Apriori eine Bindung an Kant signalisiert wird, gilt es zunächst zu unter-
suchen, welche Bestandteile seiner Theorie übernommen werden. Begleitend dazu
wird in einem zweiten Schritt dessen Revision zum Thema. Handelt es sich um
eine Erweiterung oder um eine Rücknahme? Geschieht eine legitime Verbindung
zweier unterschiedlicher Theorietraditionen zu einer Synthese, die die Probleme
beider vermeiden kann? Oder wird durch die Zusammenführung die Idee des
Apriori im Kern beschädigt; bleiben die disparaten Elemente also unverbunden
und lähmen einander gegenseitig?

4.1. Alfred Sohn-Rethel


„Alle Verdinglichung ist ein Vergessen.“68
(Theodor W. Adorno)

„Historischer Materialismus ist Anamnesis der Genese.“69


(Alfred Sohn-Rethel)

Einleitend erscheinen einige methodische und werkhistorische Erläuterungen an-


gebracht. Da die Analyse ihre Ergebnisse unter zentrale Themen subsumiert und
diese im gesamten Werk Sohn-Rethels wiederfindet, unterstellt sie zumindest im-
plizit eine Kontinuität seines Denkens. Andererseits soll jedoch nicht eine Eigen-
ständigkeit des nur unausgearbeitet vorliegenden Frühwerks behauptet werden,
die ihm nicht zukommt. Dass sich dennoch weite Teile des reifen Werks wie Aus-
arbeitungen bereits Jahrzehnte vorher entstandener Entwürfe lesen, ist nicht zu-

68 Adorno: GS 3, a.a.O., S. 263.


69 AlfredSohn-Rethel: Warenform und Denkform. Versuch über den gesellschaftlichen Ursprung
des „reinen Verstandes“, in: Warenform und Denkform, Frankfurt a.M. 1978, S. 103-141, S. 139.
Im Folgenden: WD.
23

letzt Sohn-Rethels verschlungenem Lebensweg geschuldet.70 Bereits in den frü-


hen zwanziger Jahren stößt er auf seine Hauptidee, deren Ausarbeitung aber fort-
an stets unterbrochen wird. Eine akademische Karriere kommt angesichts der Wi-
derstände, die von Seiten der philosophischen und ökonomischen Ordinarien sei-
ner „idée fixe“71 entgegengebracht werden, kaum in Frage. Nach der Machtergrei-
fung durch die Nationalsozialisten emigriert Sohn-Rethel 1936, um sich der dro-
henden Verhaftung durch die Gestapo zu entziehen. Anfänglicher vorsichtiger
Kontakt zu Adorno und Benjamin, bei denen Sohn-Rethel für seine unorthodoxen
Gedanken Gehör finden kann, verstetigt sich und findet in einigen Exposés Nie-
derschlag, mit denen er sich Anschluss an das Institut für Sozialforschung erhofft.
Adorno kann jedoch selbst durch seine enthusiastische Fürsprache den bereits im
amerikanischen Exil tätigen Horkheimer nur schwer von der Bedeutung und
Durchführbarkeit des Sohn-Rethelschen Forschungsprojekts überzeugen. Die im
Entstehen begriffenen Verbindungen werden schließlich durch den Ausbruch des
Zweiten Weltkriegs endgültig gekappt. Während Adorno und Horkheimer in den
USA ihre akademische Beschäftigung fortsetzen können, muss sich Sohn-Rethel
in England als Gelegenheitsarbeiter verdingen, um seinen Lebensunterhalt zu
verdienen. Die für lange Zeit unterbrochene theoretische Arbeit findet auch dort
keine Publikationsmöglichkeit, da sie den einheimischen marxistischen Verlagen
als zu unorthodox gilt. Erst mit Anbruch der siebziger Jahre beginnt, angestoßen
durch einen glücklichen Zufall, Sohn-Rethels schriftstellerische Spätlese in
Deutschland: Die Ausarbeitung seiner Theorie wird 1970 in Form des Haupt-
werks Geistige und körperliche Arbeit publiziert.
Da in der Folge nach und nach die frühen Aufzeichnungen ebenfalls zur
Veröffentlichung gelangen, entsteht die außergewöhnliche – wenn auch der
Werksgeschichte adäquate - Situation, dass nun der überwiegende Teil des Sohn-
Rethelschen Denkens in Form von Exposés und Entwürfen vorliegt.72 Obwohl
diese vor allem in methodischer Hinsicht signifikante Unterschiede aufweisen,

70Die folgenden biographischen Anmerkungen stützen sich hauptsächlich auf Theodor W. Adorno
und Alfred Sohn-Rethel: Briefwechsel 1936-1969, München 1991 sowie Greffrath (Hg.): a.a.O.
71 GK, S. 12.
72 „Mein ganzer Weg ist mit solchen Ausarbeitungen gepflastert, die unter dem Namen ‚Exposés’
liefen und in der Mehrzahl noch in meinen Schubladen vermodern.“ EX, S. 20.
24

kommt dennoch ein durchgängiger Kern zur Geltung, dem sich Sohn-Rethel le-
diglich aus verschiedenen Perspektiven nähert und den er mit verschiedenen theo-
retischen Modellen zu erschließen sucht. Allerdings herrscht bei seinen Interpre-
ten angesichts der unübersichtlichen Veröffentlichungslage mitunter Verwirrung,
worum genau es ihm geht: Jost Halfmann und Tillmann Rexroth beispielsweise
konstatieren ein „theoretisches Ensemble, dessen Einheit schwer abzusehen ist“
und sprechen von „Sohn-Rethels Theorien“73 im Plural.
Für eine tentative Differenzierung ließe sich vertreten, dass in den frühen Aufsät-
zen die Bemühung um eine geschichtsmaterialistische Erkenntnistheorie im Zen-
trum steht. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen von Wissenschaft und Tech-
nologie und mit dem Bewusstsein der von ihnen induzierten gesellschaftlichen
Veränderungen verschiebt sich zum Spätwerk der Akzent in Richtung einer Denk-
formanalyse, die sich um die historische und logische Ableitung der naturwissen-
schaftlichen Kategorien bemüht. Mit der Theorie geistiger und körperlicher Arbeit
und der um das Prinzip der Realabstraktion erweiterten Tauschanalyse liegt nun
auch das methodische Rüstzeug vor, um die Ableitung leisten zu können. Aller-
dings bildet, aller mangelnden theoretischen Erschließung zum Trotz, bereits im
Frühwerk die Frage nach dem Status der Wissenschaften den analytischen Aus-
gang der Forschung. Da der Fortgang zur Kritik der Erkenntnistheorie sich als
immanente Notwendigkeit erweist, folgt die Darstellung nicht der historischen
Entwicklung der Theorie, sondern der analytischen Bewegung.

a) Der Status der Naturwissenschaften


Sohn-Rethel beklagt in der Einleitung von Geistige und körperliche Arbeit, dass
Marx, dem er sich in Theorie und Praxis verpflichtet fühlt, die Naturwissenschaf-
ten vernachlässigt habe: „Die Frage der Naturwissenschaft und ihrer Erkenntnis-
formen ist von Marx aus dem geschichtsmaterialistischen Gesichtsfeld ausgelas-
sen worden.“74 In der Tat erfahren im Marxschen Werk die Wissenschaften nur
kursorische Behandlung; noch dazu sind die ihren Status betreffenden Aussagen

73Jost Halfmann und Tillman Rexroth: Marxismus als Erkennntniskritik. Sohn-Rethels Revision
der Werttheorie und die produktiven Folgen eines Mißverständnisses, München 1976, S. 10.
74 GK, S. 15.
25

durchaus uneinheitlich. In den frühen philosophischen Manuskripten ist die pro-


grammatische Forderung nach einer Einheit von Natur- und Gesellschaftswissen-
schaft bestimmend; so prophezeit Marx, dass im Kommunismus „die Naturwis-
senschaft ihre abstrakt materielle oder vielmehr idealistische Richtung
verlieren“75 werde. Trifft sich der anti-idealistische Impetus mit dem generell his-
torisierenden Zugriff des dialektischen Materialismus, so werden diese Absichten
konterkariert durch den das gesamte Werk durchziehenden unaufgeklärten Natur-
begriff, in dem sich neben der These gesellschaftlicher Formbestimmtheit ebenso
Residuen eines traditionellen Materialismus wiederfinden. Nur wenige Zeilen
später schreibt Marx: „nur wenn die Wissenschaft von der Natur ausgeht -, ist sie
wirkliche Wissenschaft.“76 Ohne die Frage nach dem Verhältnis der frühen philo-
sophischen Manuskripte zur reifen Kritik der politischen Ökonomie zu vertiefen,
kann zumindest für dieses Thema eine Kontinuität – der Ambivalenz – behauptet
werden. In einem Brief resümiert Marx seinen Standpunkt folgendermaßen: „Na-
turgesetze können überhaupt nicht aufgehoben werden. Was sich in historisch ver-
schiednen Zuständen ändern kann, ist nur die Form, worin jene Gesetze sich
durchsetzen.“77 Offensichtlich möchte er das Problem dadurch aus der Welt schaf-
fen, dass er seine Bestandteile trennt und einem ad hoc eingeführten Form-Inhalt-
Dualismus zuweist – eher eine Verdrängung als eine Lösung, denn das Verhältnis
der für sich defizitären und nur in der gegenseitigen Vermittlung sinnvollen Kom-
ponenten bleibt ungeklärt.78 Sohn-Rethel kann also mit einigem Recht behaupten:
„Diese geschichtsmaterialistische Auslassung der naturwissenschaftlichen Erkennt-
nisfrage hat zu einer höchst fragwürdigen Zweigleisigkeit des Denkens im marxisti-
schen Lager geführt. Auf der einen Seite wird nichts von dem, was die Bewußts-
einswelt an Phänomenen bietet, geboten hat oder noch bieten wird, anders denn in
seiner Geschichtlichkeit verstanden und dialektisch als zeitgebunden gewertet. Auf

75Karl Marx und Friedrich Engels: MEW Ergänzungsband, S. 543. Dort ebenso: „Die Naturwis-
senschaft wird später ebensowohl die Wissenschaft von dem Menschen, wie die Wissenschaft von
dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine Wissenschaft sein.“
76 Ebd.
77 MEW 32, S. 553.
78 Angesichts des angeführten Zitats wäre auch Alfred Schmidt zu widersprechen, welcher meint,
dass sich „für Marx, was die sinnliche Welt im allgemeinen betrifft, ursprünglich Gegebenes und
durch Praxis vermittelte ‚fremde Zutat’ nicht trennen“ lassen. Alfred Schmidt: Der Begriff der Na-
tur in der Lehre von Marx, Frankfurt a.M. 1963, S. 45.
26

der anderen Seite hingegen sind wir in den Fragen der Logik, der Mathematik und
der Objektwahrheit auf den Boden zeitloser Normen versetzt.“79
Das Desinteresse an erkenntnistheoretischen Belangen zeitigte die Konsequenz,
dass sich der Marxismus auf naturwissenschaftlichem Gebiet die Resultate von
den herrschenden ahistorischen Wahrheitstheorien hat vorgeben lassen. Insofern
besteht eine unterschwellige Verwandtschaft von Idealismus und Vulgärmarxis-
mus, dessen erster Vertreter bereits Engels war. Seine Schrift Dialektik der Natur,
die beansprucht, über die Marxsche Analyse der Naturgeschichte hinauszugehen,
ist in weiten Teilen ein Rückfall in die dogmatische Metaphysik einer Naturphilo-
sophie.80 Auch im Anti-Dühring argumentiert er für die Existenz von ewigen
Prinzipien des Seins: „Die logischen Schemata können sich nur auf Denkformen
beziehen, hier aber handelt es sich nur um die Formen des Seins, der Außenwelt,
[...] die Prinzipien sind nur insoweit richtig, als sie mit Natur und Geschichte
stimmen.“81 Während Marx darum bemüht ist, die Geschichtlichkeit der Natur zu
betonen, verfolgt Engels hier mit der gemeinsamen Nennung von Natur und Ge-
schichte das gegenteilige Ziel: auch die Geschichte soll sich als von Naturgeset-
zen beherrscht erweisen.
Sohn-Rethel hingegen möchte nicht nur die ideologischen Bewusstseins-
formen, sondern auch die naturwissenschaftlichen Erkenntniskategorien einer ge-
schichtsmaterialistischen Ursprungserklärung zuführen. Mit Marx kann er sich
insoweit einig wissen, als dieser die Maxime formuliert, dass das Sein, verstanden
als gesellschaftliches Sein, das Bewusstsein bestimme: „Das Bewußtsein ist also
von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange über-
haupt Menschen existieren.“82 Was genau der Begriff des Bewusstseins umfasst,
ist seit Marx und Engels allerdings unklar geblieben. Lange Zeit jedenfalls blie-
ben Stimmen wie die Sohn-Rethels, der auch die Naturwissenschaften in die Ana-
lyse der Bewusstseinsformen einbeziehen wollte, die Ausnahme. Lediglich aus
dem Kreise der Kritischen Theorie, in deren Denkzusammenhang Sohn-Rethel

79 GK, S. 15.
80 Vgl. MEW 20, S.307-573. Zur Kritik vgl. Schmidt: a.a.O.
81 MEW 20, S. 33, Hervorhebung im Original.
82 MEW 3, S. 30f.
27

sich selbst verortete, wurde dem Thema Interesse entgegengebracht; so erschien


etwa 1962 eine erste Untersuchung zum Marxschen Naturbegriff, in welcher Al-
fred Schmidt schreibt: „Ihrem Blickfeld, ihrer Methodik, ja, dem Inhalt dessen
nach, was jeweils Materie heißt, sind die Naturwissenschaften gesellschaftlich
determiniert.“83
Zunächst bleibt auch bei Sohn-Rethel durchaus unbestimmt, was genau
woraus abgeleitet wird, ferner, auf welche Weise ein Zusammenhang besteht.
Hinsichtlich der Frage nach dem Woraus gibt es je nach Werkperiode verschiede-
ne Antworten. Der im Luzerner Exposé verwendete Begriff des gesellschaftlichen
Seins wird später, wohl nicht zuletzt aufgrund der existenzialistischen Konnota-
tionen84, fallengelassen und durch den der gesellschaftlichen Synthesis ersetzt.
„Unter diesem Begriff [...] verstehen wir die Funktionen, die in verschiedenen
Geschichtsepochen den Daseinszusammenhang der Menschen zu einer lebensfä-
higen Gesellschaft vermitteln.“85 Das Was der Ableitung lässt sich konkretisieren
als die gesellschaftlichen Denkstrukturen einer Epoche. Unter diesen umfassen-
den Begriff werden sowohl philosophische Denkformen als auch die Erkenntnis-
prinzipien der Naturwissenschaften subsumiert. Sohn-Rethel hat allerdings bei
den Erkenntnisprinzipien, „die die begriffliche Grundlage der antiken Philosophie
sowohl wie der modernen Naturwissenschaften bilden“ speziell jene im Sinn, „die
wir der Einfachheit halber mit dem seit Kant geläufigen Namen der ‚Kategorien a
priori’ etikettieren können.“86 Das Wie der Ableitung ist wesentlich schwieriger
zu eruieren. Auch mit Sohn-Rethels Hinweis, „daß die gesellschaftlich notwendi-
gen Denkstrukturen einer Epoche im engsten formellen Zusammenhang stehen
mit den Formen der gesellschaftlichen Synthesis dieser Epoche“87, bleibt offen,

83 Schmidt: a.a.O., S. 24.


84Neben dem gehäuft auftauchenden Sein finden sich im Luzerner Exposé auch die Begriffe Da-
sein, Existenz, Essenz sowie eine lange Fußnote zu Heidegger. Um nach der Kritik Horkheimers
Anschlussfähigkeit an die Standards des Instituts für Sozialforschung zu gewinnen, war Sohn-Re-
thel darum bemüht, sich auch in Duktus und Stil der kritischen Sozialforschung anzugleichen.
85 GK, S. 19.
86 GK, S. 21.
87 GK, S. 20.
28

ob lediglich eine analogische Koinzidenz oder vielmehr eine kausale Verbindung


angenommen wird.
Modell und Vorbild für Sohn-Rethels Methodik ist die Marxsche Warenana-
lyse, allerdings in ergänzter Form, um die Aufgaben der Denkformanalyse bewäl-
tigen zu können: „Der Kritik der politischen Ökonomie muß sich eine Kritik der
Erkenntnistheorie beigesellen.“ Dass Ökonomie und Philosophie zwar strukturelle
Gemeinsamkeiten aufweisen, aber doch in relativer Autonomie koexistieren, ist
eine These, die Sohn-Rethel für die methodische Reduktion benötigt, sich ledig-
lich auf die philosophisch-kognitiven Konsequenzen der Marxschen Ökonomie-
kritik zu konzentrieren. Ähnlich wie diese ist auch die Kritik der Denkformen
keine transzendente, die an den kritisierten Gegenstand einen externen Maßstab
heranträgt. Solche fällt bekanntermaßen unter das Hegelsche Urteil, das über jene
ergeht, die nur darum über den Sachen sind, weil sie nicht in ihnen sind.88 Die
immanente Kritik bezieht ihren Maßstab aus der Sache selbst, die an ihrem eige-
nen Anspruch gemessen wird: „Eine solche materialistische Reduktion des For-
malismus hat es indessen mit diesem in seinem eigenen Medium aufzunehmen,
hat ihn durch seine innere Bildung durchzuverfolgen oder ihn nach seinen eigenen
Regeln aufzuspulen.“89
Von den zu untersuchenden naturwissenschaftlichen Kategorien besitzt
Sohn-Rethel eine sehr traditionelle Vorstellung. Auch hier orientiert er sich vor-
wiegend an Kant, dessen Kriterium der Wissenschaftlichkeit – die Verwendung
apriorischer Prinzipien – nur die zeitgenössische Mathematik und die Newtonsche
Mechanik erfüllen konnten: „Es muß gezeigt werden, daß diese Formen tatsäch-
lich übereinstimmen mit den letzthinnigen Organisationsprinzipien der quantifi-
zierenden Naturerkenntnis etwa in ihrer klassischen, Newtonischen Form.“90 Die
Kategorien, mit denen sich Sohn-Rethel hauptsächlich befasst, sind: Substanz/

88 Vgl. Adorno: GS 5, S. 247. In der Phänomenologie des Geistes schreibt Hegel: „Denn statt mit
der Sache sich zu befassen, ist solches Tun immer über sie hinaus; statt in ihr zu verweilen und
sich in ihr zu vergessen, greift solches Wissen immer nach einem Anderen und bleibt vielmehr bei
sich selbst, als daß es bei der Sache ist und sich ihr hingibt.“ Hegel: a.a.O., S. 13.
89 Alfred
Sohn-Rethel: Zur kritischen Liquidierung des Apriorismus. Eine materialistische Unter-
suchung (März/April 1937), in: Warenform und Denkform, Frankfurt a.M. 1978, S. 27-89, S. 28.
Im Folgenden: KL.
90 GK, S. 23.
29

Akzidenz, Quantität/Qualität, Identität, Dinglichkeit, Raum und Zeit sowie reine


Bewegung.91 Aufgrund der zahlreichen Überschneidungen zu den Kantischen Ka-
tegorien und Anschauungsformen ist die Brücke zur Erkennntnistheorie geschla-
gen: Jene bestimmen wie im speziellen die wissenschaftliche, so auch im allge-
meinen jegliche Form objektiver Erkenntnis. Anders als Kant vertritt Sohn-Rethel
keinen Vollständigkeitsanspruch und kompiliert die Kategorien eher rhapsodisch
und beispielhaft.92 Eine systematische Trennung von Kategorien und Anschau-
ungsformen wäre allerdings kaum mit dem Ansatz einer soziologischen Erkennt-
niskritik zu vereinbaren, die die scharfe Trennung von Sinnlichkeit und Verstand
gerade als von einem Dritten, beiden gemeinsamen Ursprung instituiert begreift.

b) Von der Erkenntniskritik zur soziologischen Erkenntnistheorie


In einem zentralen Punkt befindet sich Sohn-Rethel in Übereinstimmung mit
Kant: Für ihn gibt es Kategorien des reinen Verstands, die losgelöst von jeglicher
Praxis als verselbständigte Formen tatsächlich die wissenschaftliche Naturer-
kenntnis bestimmen. Die Parteinahme richtet sich nicht nur gegen empiristische
Traditionen, die mit der Erfahrungsfreiheit der Kategorien vor allem deren objek-
tive Gültigkeit bestreiten. Auch entgegen den im marxistischen Lager dominanten
Abbildtheorien beharrt er darauf, dass die Begriffe keinesfalls Eigenschaften der
Objekte seien, die von diesen abgelesen würden oder sich dem Verstand aufpräg-
ten – sie würden vielmehr in konstitutiver Funktion an das Objekt herangetragen:
„Man kann an der Art, wie der klassische Idealismus das Problem der Formkon-
stitution ausgearbeitet hat, sehr wohl festhalten; ja man muß in gewissem Sinn
daran festhalten.“93 An anderer Stelle bescheidet er apodiktisch: „Die Kantische
Fassung des Erkenntnisproblems [...] ist also nicht die Lösung des Erkenntnispro-

91Recht salopp bemerkt Sohn-Rethel, die Analyse befasse sich mit all dem, „worin der Idealismus
salbadert“. EX, S. 13.
92 Dass er, wie ihm von Kritikern oft vorgeworfen wurde, nicht zwischen Aristotelischen und Kan-
tischen Kategorien unterscheidet, begründet er damit, dass die „in der neueren Philosophie mit
dem ‚reinen Verstande’ assoziierten kategorialen Formen [...] in gleicher oder verwandter Gestalt
auch schon die kategorialen Formen des metaphysischen Denkens in der Antike gewesen sind.“
WD, S. 113.
93 EX, S. 23.
30

blems, aber sie ist die identische Fassung des Problems, so, wie es gelöst werden
muß.“94
Der Unterschied ums Ganze liegt in der Tatsache, dass Sohn-Rethel die Ur-
sprungsfrage nicht bei einer als voraussetzungslos und unhinterfragbar gegebenen
Bewusstseinseinheit abschneidet. Der reine Verstand, also die Zurückgeworfen-
heit auf das Subjekt, ist für ihn gerade eine Illusion und Verkehrung – welche
selbstverständlich durch diese Entdeckung kein Gran ihrer Wirkmächtigkeit ein-
büßt; also notwendig im Marxschen Sinne ist. Nur durch die Ausschaltung von
Gesellschaft und Geschichtlichkeit aus dem Denken kann sich das Erkenntnissub-
jekt der Möglichkeit objektiver Erkenntnis gewiss sein. Die eigene Herkunft
bleibt ihm verschlossen: „Der abstrakte Verstand konstituiert sich aus seiner ge-
sellschaftlichen Wurzel in solcher Weise, daß er durch seine Genesis von dieser
am Punkte seiner Konstituierung abgeschnitten ist.“95 Der ahistorische Charakter
der idealistischen Theorie verdankt sich einem Bruch mit der Praxis und der rigo-
rosen Selbstabschließung des Subjekts. Für Sohn-Rethel ist der reine Verstand
gerade ein vergesellschafteter Verstand – die Gesellschaft taucht jedoch in der
privativen Ichform nicht mehr auf. Lediglich in die Forderung nach Universalität
und Allgemeingültigkeit ist sie, allerdings als Hypostase, eingewandert.
Worin er den Ursprung der reinen Kategorien sieht, verdeutlicht Sohn-Re-
thel in Abgrenzung zu Kant:
„Kant wußte, daß sie vorgeformt sind, aber er verlegte den Vorformungsprozeß ins
Bewußtsein als eine sowohl zeitlich wie örtlich unlokalisierbare, phantasmagorische
‚transzendentale Synthesis’. In Wirklichkeit ist die vorformende Synthesis der abs-
trakten Kategorien ein geschichtlicher Prozeß und nur bestimmten, klar definierbaren
Gesellschaftsformationen eigen.“96
Anstelle des Denkens ist also nun das Sein der Ursprungsort der Synthesis: „In
der Tat vollzieht sich [...] im gesellschaftlichen Sein die Synthesis, die der Idea-
lismus in der Subjektivität postuliert und nie zur Lösung bringen kann.“97 In Ana-

94 ST, S. 254.
95 Alfred
Sohn-Rethel: Geld, die bare Münze des Apriori, in: Paul Mattick/Alfred Sohn-Rethel/
Helmut G. Haasis: Beiträge zur Kritik des Geldes, Frankfurt a.M. 1976, S. 35-117, S. 46. Im Fol-
genden: GE.
96 GK, S. 22.
97 EX, S. 23.
31

logie zu Kant bestimmen die Kategorien die Struktur des Objekts; sie sind sowohl
für Erfahrung als auch für die Gegenstände der Erfahrung konstitutiv:
„Die Formkonstitution der Objekterkenntnis entscheidet sich in der Tat in der funk-
tionalen Vergesellschaftung durch das Ausbeutungsverhältnis, weil sie die Struktur
des Objekts bestimmt, auf das sich das Denken der Menschen bezieht, sobald sie
‚Subjekte’ sind.“98
Sogar das Bewusstsein ist also nicht Ursrpung, sondern entpuppt sich als sekun-
därer Effekt einer noch ursprünglicheren Synthesis. Die Entzauberung der tran-
szendentalen Subjektivität dient Sohn-Rethel weniger dessen wohlfeiler Entsor-
gung als vielmehr ihrer Aufhebung zum materialistischen Vorrang des Objekts.
Von diesem, nicht von dem Subjekt ausgehend wird die Form der Erkenntnis be-
stimmt. Sowohl Objektivität als auch Subjektivität wiederum werden durch „den
Prozeß der funktionalen Vergesellschaftung“99 konstituiert. Der Begriff der funk-
tionalen Vergesellschaftung soll den der gesellschaftlichen Synthesis präzisieren.
Er bezeichnet den Zusammenschluss der Gesellschaft über das Funktionsprinzips
des Tauschs, welcher sowohl die Synthesis wie auch die Individuierung des Sub-
jekts instituiert. Dass die Form der gesellschaftlichen Synthesis eine funktionale
Vergesellschaftung ist, ist kein allgemeines Merkmal von Gesellschaft, sondern
speziellen historischen Epochen eigen.100
So zeitigt die Sohn-Rethelsche Erkenntniskritik ein doppeltes Resultat.
Nicht nur wird den reinen Verstandesformen ihr Schein zeitloser Gültigkeit ge-
nommen, sondern die Historizität dringt auch in die Objektseite ein. Kant begreift
die Gegebenheit der Sinnlichkeit, die bloße Faktizität der Empirie als tendenzielle
Bedrohung der Autonomie des Subjekts, der es sich durch Abstraktion und Ab-
dichtung entziehen muss. Der heteronome, weil nicht subjektgewirkte
„Block“ (Adorno) der Empirie erweist sich für Sohn-Rethel ebenfalls als ge-
schichtlich Gewordenes. Ihm geht es allerdings nicht um die Auflösung jeglicher
Nichtidentität in totale Subjektivität Hegelscher Prägung, sondern darum, die un-
wahre Partikularität beider Seiten des scheinbaren Subjekt-Objekt-Antagonismus
zu demonstrieren: „Dem apriorischen Schein der Erkenntnis entspricht stets ein

98 EX, S. 22.
99 Ebd.
100 Vgl. ST, S. 39ff.
32

Faktizitätsschein des verdinglichten Seins.“101 Letzteres wäre auch eine vulgärma-


terialistische Position, womit die eingangs unterstellte Geistesverwandtschaft zum
Idealismus um ein weiteres Beispiel bereichert wird. Ein unvermitteltes Naturver-
hältnis ist nicht, wie von materialistischen Abbildtheorien vertreten, via Wider-
spiegelung die Grundlage der Erkenntnis, sondern das Naturverhältnis entsteht
gerade erst durch den Umweg über die zwischenmenschliche Praxis.102

c) Geistige und körperliche Arbeit


Worin besteht nun der Bruch in der Praxis des gesellschaftlichen Seins, der für die
Entstehung der naturwissenschaftlichen Denkformen verantwortlich gemacht
wird? Wie andere Verdinglichungsphilosophien stützt sich auch Sohn-Rethels
Theorie auf das Narrativ eines Sündenfalls. Die Anfänge abstrakten Denkens
markieren eine Zäsur, die Spaltung des unmittelbaren Stoffwechselprozesses der
menschlichen Gesellschaft mit der Natur, den Beginn von Ausbeutung und Ent-
fremdung.103
Im kausalen Sinne zugrundeliegendes Prius ist die Ausbeutung. Als Klas-
senspaltung avant la lettre zerreisst sie den über gemeinschaftliche Arbeit gestifte-
ten gesellschaftlichen Nexus, teilt die Gesellschaft in einen konsumierenden und
einen produzierenden Teil und stellt die Einheit über eine menschgewirkte Ver-
mittlung wieder her. Das Naturverhältnis ist nun, wie der Produktionszusammen-
hang, eine vermittelte Unmittelbarkeit. Die Arbeit hat ihre vergesellschaftende
Funktion eingebüßt, und die funktionale Vergesellschaftung tritt an die Stelle des
naturwüchsigen Gemeinwesens.104 Zwar werden die Prozesse als Handlungspra-
xis unbewusst vollzogen, jedoch bringt die begriffliche Reflexion der abstrakten
Vermittlung die erkenntnistheoretischen Kategorien hervor: „Im Duktus dieser
mensch-gemachten funktionalen Vergesellschaftung [...] ist der Ursprung der

101 KL, S. 75.


102 Vgl. GE, S. 65f.
103Die Problematik einer solchen Konstruktion, die sich zumindest dem Verdacht einer Rückpro-
jektion aussetzt, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Der Stellenwert, den jener Topos in Sohn-
Rethels Theorie besitzt, ist jedenfalls gering, da er nicht als Transzendenzpunkt fungiert, aus dem
Implikationen für die aktuelle Situation abgeleitet werden.
104 Vgl. EX, S. 14.
33

Grundcharaktere der Warenform – Identität, Dasein und Dinglichkeit – zu


suchen.“105
Anders als Marx, der die Kritik der Ökonomie samt ihrer fetischistischen
Verkehrsformen auf die Epoche kapitalistischer Warenproduktion beschränkt, öff-
net Sohn-Rethel den zeitlichen Rahmen seiner Forschung, wenn er als Explanans
den sehr weitgefassten Begriff der Ausbeutung einführt. Prinzipiell müsste er ei-
nen Nachweis der Denkformen „durch die ganze sogenannte Kulturgeschichte
hindurch, also bis zur Antike und vielleicht noch weiter zurück“106 führen. Die
Probleme, die er sich mit einem derart unscharfen Analyseinstrument einhandelt,
dürften auch Sohn-Rethel nicht verborgen geblieben sein. An anderer Stelle lässt
er die Programmatik daher stillschweigend fallen und bemerkt hinsichtlich der
Denkformen: „Sie gehören auch nur den geschichtlichen Epochen an, in denen
Warenaustausch vorherrscht.“107
Mit dieser Modifikation sind es nun nicht mehr Klassenspaltung und Aus-
beutung, sondern der historisch wie methodisch schärfer einzugrenzende und zu
bestimmende Tausch, welcher den reinen Verstand generiert. Ausbeutung in Form
unmittelbarer Herrschafts- und Knechtschaftsverhältniss hingegen ist eine Weise
direkter Aneignung, die ohne abstrakte Vermittlungsformen auskommt. Als nicht
zu vernachlässigendes Residuum der ursprünglichen Forschungskategorien kann
die Unterscheidung von geistiger und körperlicher Arbeit interpretiert werden.
Sohn-Rethels Hauptwerk bemüht sich gerade um den geschichtlichen wie logi-
schen Nachweis der These, dass sie stets zusammen mit tauschförmiger Vergesell-
schaftung auftritt.

105 EX, S. 17.


106EX, S. 13. Damit ist nicht gesagt, dass ein solcher Nachweis undurchführbar ist. Alfred
Schmidt bemerkt en passant: „Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß die elementarsten Abstrak-
tionen der Menschen im Zusammenhang mit Arbeitsprozessen, namentlich mit der Herstellung
von Werkzeugen, entstanden sind.“ Schmidt: a.a.O., S. 86. Einige Theoretiker gehen sogar so weit,
die epochale Zäsur, die die Anfänge abstrakten Denkens und gesellschaftlicher Entfremdung mar-
kiert, im Bereich des Übergangs vom Jungpaläolithikum zum Neolithikum anzusetzen, als die
frühe Menschheit ihre nomadische Sammler/Jäger-Lebensweise zugunsten der Sesshaftigkeit des
Ackerbaus aufgab. Vgl. John Zerzan: Elements of Refusal, Seattle 1988.
107GE, S. 41. Obwohl er auch in Geistige und körperliche Arbeit die Abgrenzung von Produ ti-
ons- und Aneignungsgesellschaft beibehält, tritt ihre analytische Funktion in den Hintergrund und
ordnet sich der Unterscheidung von geistiger und körperlicher Arbeit unter.
34


Zwar ist so immer noch eine erhebliche Ausweitung der Marxschen Waren-
analyse impliziert.108 Allerdings gilt Sohn-Rethels Interesse haupsächlich zwei
historischen Schwellensituationen, in denen er einen Quantensprung im Verhältnis
von Warenform und Denkform beobachtet: Zum einen ist dies die griechische An-
tike, zum anderen die europäische Renaissance und der Übergang vom Mittelalter
zur Neuzeit.109 An ihnen demonstriert er exemplarisch, wie sich Umwälzungen im
gesellschaftlichen Sein in die Form des Denkens transformieren. Auf der Seite des
Bewusstseins behauptet sich der reine Verstand als Form philosophischer und
wissenschaftlicher Erkenntnis, im ersten Fall als antike Philosophie und Mathe-
matik, im zweiten als moderne mechanistische Wissenschaft und idealistische
Philosophie. Der zugrundeliegende Umbruch der gesellschaftlichen Synthesis ist
geprägt von der Scheidung geistiger und körperlicher Arbeit und der Durchset-
zung des Tauschs als allgemeiner Verkehrsform, der Entstehung der Münzprägung
in der Antike sowie den Anfängen kapitalistischer Warenproduktion in der euro-
päischen Neuzeit.
Für die Antike verdeutlicht die Entwicklung der Geometrie Sohn-Rethels
These von einem Konnex zwischen Waren- und Denkform. In Ägypten diente sie
vor allem als Hilfe für Bautätigkeiten. Ohne Zweifel erfüllte sie dort eine unent-
behrliche Funktion, sie war aber primär handwerkliche Praxis, die sich von ihrem
ursprünglichen Aufgabengebiet, der Feldvermessung mit Hilfe von Seilen, kaum
emanzipiert hatte. In der griechischen Mathematik änderte sich die Geometrie zur
abstrakten Darstellung quantitativer Formzusammenhänge, zur reinen Wissen-
schaft des Raumes, deren begrifflicher Gehalt sich von ihrem praktischen Zweck-
bezug verselbständigt hatte. Die mit Lineal und Zirkel konstruierten Linien hatten
mit den gespannten Seilen der ägyptischen Feldvermesser nichts mehr gemein.
Mit Euklid war die Mathematik zum System, zu einem autonomen deduktiven
Denkzusammenhang geworden. Dazu bedurfte es, so Sohn-Rethel, „des Eintritts
einer reinen Forma straktion und ihrer Erfassung in reflektiertem Denken, und
das erfolgte erst durch die Verallgemeinerung des Austauschs und der Warenform

108 Der Unterschiede zu Marx ist sich Sohn-Rethel bewusst, vgl. GK, S. 230.
109So bemerkt er, dass die Scheidung von geistiger und körperlicher Arbeit, mithin also die Vor-
aussetzung der untersuchten Phänomene „in voll ausgebildeter Weise zuerst in der klassischen
Antike und dann wiederum vor allem in der europäischen Neuzeit“ vorliege. GK, S. 36.
35


im innergesellschaftlichen Verkehr und seiner Beziehung auf einen durchgängigen
Münzfuß.“110 Hier machte sich also der Unterschied der Agrarökonomie Ägyp-
tens – mit einer relativen Einheit von Kopf- und Handarbeit, in der der Tausch
nicht intern allgemeine Verkehrsform war, sondern nur die geringe Überschuss-
produktion mit anderen Reichen gehandelt wurde – zu den neuen, tauschbasierten
Zirkulations- und Produktionsformen der griechischen Stadtstaaten geltend.111
Für die Renaissance wählt Sohn-Rethel überraschenderweise ein Beispiel
aus dem Bereich der Kunst, die Figur des Renaissancekünstlers, der allerdings die
wesentlichen Tendenzen der Epoche in sich vereint und zum Ausdruck bringt.
Leonardo da Vinci, Leon Batista Alberti, Albrecht Dürer und andere waren nicht
nur Künstler von Weltrang, sondern forschten gleichzeitig auf naturwissenschaft-
lichem Gebiet. Als Universalgelehrte verkörperten sie zwei Rollen, die historisch
bereits auseinanderstrebten: die des praktisch und handwerklich arbeitenden
Künstlers sowie die des experimentell und theoretisch forschenden Wissenschaft-
lers. Zwar diente auch die theoretische Forschung, insofern also mehr Ingenieurs-
kunst als Wissenschaft, zumeist einem praktischen Zweck, wie auch ihre Kunst
kaum frei von Wissenschaft war. In der Tendenz war jedoch bereits die Konstitu-
tion reiner wissenschaftlicher Verstandestätigkeit und ihre Trennung von prakti-
scher Handwerkskunst angelegt. Wenig später fand dies einen Ausdruck in der
Kooperation von Wissenschaftlern und Künstlern, die wie Filippo Brunelleschi
die Tätigkeit des Mathematikers Toscanelli für ihre architektonischen Aufgaben in
Anspruch nahmen. Am Ende des Prozesses standen schließlich Galileo und die
experimentell-mathematische Methode der exakten Naturwissenschaften. An der
Basis der Entwicklung entdeckt Sohn-Rethel die zeitgleiche Durchsetzung der
Warenzirkulation. Ausgehend von der individuellen Handwerksproduktion kommt
es über deren Integration in das Verlagssystem schließlich zu einer Umkehrung
der Besitzverhältnisse vom verschuldeten und abhängigen Kleinhandwerker zum
im Betrieb des Produktionskapitalisten angestellten Arbeiter. Formal entspricht
dem die Umkehrung der Verkehrsgleichung W-G-W, der einfachen Warenzirkula-

110 GE, S. 86.


111 Vgl. GE, S. 83ff.
36

tion, in die Gleichung des Kapitals G-W-G’, mit welcher der Tausch gesellschaft-
lich wirkmächtig geworden ist.112
Obwohl Sohn-Rethel betont, dass ihm „nichts weniger im Sinne [liege] als
eine ausführliche historische Darstellung“113, beansprucht er doch, einen gültigen
Zusammenhang entdeckt zu haben. Wie ist es also um die Verallgemeinerungsfä-
higkeit und Beweiskraft der beiden Beispiele bestellt? Die historische Gleichzei-
tigkeit der Phänomene erscheint kaum ausreichend für die weitreichenden Folge-
rungen Sohn-Rethels. Wenn er daher anstrebt, die „Beobachtung bloßer zeitlicher
Koinzidenz in einen echten geschichtlichen Zusammenhang zu verwandeln“114, so
ist er offenbar optimistisch, eine logische Notwendigkeit demonstrieren zu kön-
nen. Dies sei, so Sohn-Rethel, eine „gewagte Hypothese“, aber „wir glauben, daß
sie beweisbar ist.“115 Allerdings ist fraglich, wie ein Beweis für eine spekulative
philosophisch-soziologische Theorie überhaupt aussehen könnte – „bewiesen“ im
streng mathematischen Sinne hat Sohn-Rethel in seinen Werken sicherlich nichts.
An anderer Stelle räumt er daher auch ein: „Freilich kann keine solche Erklärung
[...] empirische Gewißheit erlangen, weil es für die Formierung von Bewußtsein
aus raumzeitlicher und gleichwohl nicht-empirischer Quelle naturgemäß kein di-
rektes Zeugnis geben kann. Ein anderer als hypothetischer Wert der Erklärung [...]
kommt nicht in Frage.“116 Die Unentschiedenheit hinsichtlich der eigenen Voraus-
setzungen und Ansprüche zeitigt die seltsame Konsequenz, dass Sohn-Rethel auf
der einen Seite Mechanizismus vorgeworfen wird, eine allzu naive Vorstellung
der kausalen Ableitung von Denkformen aus der Warenform.117 Auf der anderen
Seite wird der Theorie aufgrund mangelnder Formalisierung und Beweiskraft ihr

112 Vgl. GK, S. 158ff. sowie GE, S. 87ff.


113 GK, S. 146.
114 GE, S. 77.
115 KL, S 37.
116 GE, S. 47.
117 Dies meistens von an Hegel geschulten, dialektisch orientierten Marxisten, denen die tendenzi-
elle Bindung an Kant Bauchschmerzen bereitet. Vgl. beispielsweise Hans Jörg Sandkühler: Praxis
und Geschichtsbewußtsein, Frankfurt a.M. 1973; Joachim Bischoff: Materielle und geistige Pro-
duktion, in: Sozialistische Politik 12 (1971), S. 1-19; Helmut Reinicke: Ware und Dialektik, in:
Politikon 36 (1971), S. 22-32.
37

Status als Theorie bestritten.118 Einem Denkfehler unterliegen beide Seiten: So-
wohl die Kritiker, die die Systematik und Stringenz der Mathematik als Vorbild
für die Philosophie nehmen, wie auch Sohn-Rethel in seinem Bemühen, ihnen
entgegenzukommen und eine Kausalität zu beweisen, wo dies nicht möglich ist.
Dagegen wäre auf einem eigenständigen Bereich genuin philosophischer Erklä-
rungen zu bestehen, die nicht immun gegen eine Konfrontation mit der empiri-
schen Welt sind, deren Schlüssigkeit allerdings eher durch Plausibilisierungen als
durch die starren Schemata eines formallogischen Beweises zu rechtfertigen wäre.
Für die Denkformtheorie Sohn-Rethels wären solche Plausibilisierungen vorstell-
bar als Aufzeigen nicht nur historischer Koinzidenzen, sondern struktureller Par-
allelitäten der innersten Konstituentien der Tauschabstraktion und der philosophi-
schen und wissenschaftlichen Denkabstraktionen.119

d) Synthesis
Synthesis bezeichnet bei Kant die Leistung der Begriffe, die unstrukturierte Viel-
falt des Empfindungsmaterials zu bündeln und zu einer Einheit zusammenzufas-
sen. Erst durch die Subsumtion des Mannigfaltigen des Anschauungsmaterials
unter einen Begriff wird das Erkenntnisobjekt als Gegenstand unserer Erkenntnis,
als Erscheinung, erzeugt. Grundlage jeglicher begrifflichen Synthesis wiederum
ist bei Kant die ursprünglich-synthetische Einheit des Bewusstseins, das Ich den-
ke, das alle Vorstellungen begleiten können muss – also die Möglichkeit, dass ich
mir die Vorstellungen als meine bewusst machen kann. Zwar ist diese objektive
Bedingung aller Erkenntnis, die Grundhandlung des Verbindens, subjektiven Ur-
sprungs. Das Ich der ursprünglich-synthetischen Einheit ist allerdings nicht das
empirische Ich eines konkreten individuellen Subjekts. Zu der Annahme eines
nicht hinterfragbaren und keiner raum-zeitlichen Betrachtung zugänglichen tran-

118Vgl. Harald Wohlrapp: Materialistische Erkenntniskritik?, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.): Metho-
dologische Probleme einer normativ-kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1974, S. 160-
243.
119Es ist ein interessantes Detail, dass Foucault mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatte, was
die Beweiskraft seiner Theorie betrifft. Vor allem in der Frühphase, als sich Foucault um eine aka-
demische Laufbahn bemühte, musste er sich gegen manches Vorurteil von Seiten der etablierten
Wissenschaftsgemeinschaft wehren. So wurde ihm während der Disputation seiner Habilitation –
vom Vorsitzenden des Prüfungsausschusses, Henri Gouhier – vorgeworfen, er denke in Allegorien.
Vgl. Eribon: a.a.O., S. 180.
38

szendentalen Selbstbewusstseins, das Grundlage von Subjektivität und Objektivi-


tät überhaupt ist, ist Kant gezwungen, um einer Verstrickung in die Dilemmata
des Empirismus zu entgehen.120 Notwendige Konsequenz der anti-empiristischen
Volte ist die Abstraktheit des Transzendentalsubjekts: Allem Gesellschaftlichen
und Geschichtlichen enthoben schlägt es die Form unserer Erkenntnis mit jener
Ahistorizität, die die nachkantische Philosophie als Zumutung empfunden hat.121
Sohn-Rethel zeichnet sich durch eine differenzierte Stellung zu Kant aus.
Anstelle dessen Transzendentalphilosophie in toto zu verwerfen und das Erkennn-
tisproblem in Dialektik zu verflüssigen, hat er den Problembefund Kants inner-
viert. Die Existenz – historisch – apriorischer, gegenstandsstrukturierender Kate-
gorien steht für ihn außer Frage. Allerdings setzt er der Kantischen transzendenta-
len Ursprungserklärung eine historisch-genetische entgegen: „Es muß also eine
der ‚transzendentalen Deduktion’ bei Kant funktionsverwandte gesellschaftliche
Deduktion der Kategorien geleistet werden.“122 Kant hatte eine solche empirische
Deduktion aufgrund des nichtempirischen Charakters der Kategorien und An-
schauungsformen strikt ausgeschlossen: „Von ihnen eine empirische Deduktion
versuchen wollen, würde ganz vergebliche Arbeit sein, weil eben darin das Unter-
scheidende ihrer Natur liegt, daß sie sich auf ihre Gegenstände beziehen, ohne
etwas zu deren Vorstellung aus der Erfahrung entlehnt zu haben.“123 Gerade weil
Sohn-Rethel das apodiktische Urteil nicht akzeptieren mag, legt er eine unter-
gründige Dogmatik Kants bloß: den Abbruch der Begründung und den Rekurs auf
ein schlechthin Gegebenes. Sohn-Rethels Revision besteht also in einer Dedukti-
on zweiter Stufe, die auch vor dem letzthinnig nicht Begründbaren der Kantischen
Kritik, dem Transzendentalsubjekt, nicht haltmacht. Dass er auch das Transzen-
dentalsubjekt nicht als Voraussetzung, sondern als Effekt versteht, enthebt ihn von

120Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit – eines Urteils – etwa können für Kant niemals aus
der empirischen Erfahrung gewonnen werden, vgl. KrV, B 3ff.
121Für Kant wäre der Versuch einer historisch-genetischen Herleitung ein Unding. Für ihn ist es
gerade das Charakteristikum der Kategorien und Anschauungsformen, „daß sie sich auf ihre Ge-
genstände beziehen, ohne etwas zu deren Vorstellung aus der Erfahrung entlehnt zu haben. Wenn
also eine Deduktion derselben nötig ist, so wird sie jederzeit transzendental sein müssen.“ Krv, B
117.
122 GK, S. 23.
123 KrV, B 117.
39

dem klassischen Begründungsdilemma der Erkenntnistheorie, dem Zirkelschluss,


über den bereits Nietzsche spottete: „Wie sind synthetische Urteile a priori mög-
lich? Fragte sich Kant, - und was antwortete er eigentlich? Vermöge eines Vermö-
gens.“124
Wenn nicht länger das Subjekt, sondern die Gesellschaft als grundlegende
Instanz ins Interesse rückt, so ist der Ort der ursprünglichen Synthesis, wenn man
sich denn auf diese Begrifflichkeit einlassen möchte, auf der Gegenstandsseite zu
suchen: „Die konstitutive oder ‚ursprüngliche Synthesis’ der Erkenntnis ist eine
Synthesis des Objekts, und sie erfolgt einzig und allein im geschichtlich wirkli-
c h e n P r o z e ß d e r m e n s c h l i c h e n Ve r g e s e l l s c h a f t u n g d u r c h s
Ausbeutungsverhältnis.“125 In dem Satz, welcher sich im 1936 entstandenen Lu-
zerner Exposé findet, benennt Sohn-Rethel in klaren Worten die Analogie, die die
Denkformanalyse mit der Kantischen Transzendentalphilosophie verbindet. Diese
Positionierung hält er in allen anderen Texten aufrecht, auch wenn er gegenüber
dem eher unscharfen Begriff der Ausbeutung in der späteren Werksphase den der
Realabstraktion präferiert. Mit Hilfe der erweiterten Warenanalyse kann er sogar
das Transzendentalsubjekt identifizieren: Es verbirgt sich im geprägten Geld.126

e) Realabstraktion und Denkabstraktion


Die Resultate der Marxschen Warenanalyse berühren für Sohn-Rethel zweierlei
Terrain: sowohl ökonomisches wie auch begrifflich-kognitives. Marx, der zum
Ende seines Lebens mehr und mehr an der ökonomischen Seite interessiert gewe-
sen ist, hat die kognitive Dimension nur kursorisch angerissen, beispielsweise im
Abschnitt über den Warenfetisch im ersten Kapitel des Kapital. Von philosophisch

Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, in: Werke VI.2,
124
Berlin 1968, S. 18.
125 ST, S. 169.
126 Über das gesellschaftliche Transzendentalsubjekt scheint sich Sohn-Rethel zunächst nicht si-
cher zu sein; an einigen Stellen seines Werks finden sich unterschiedliche Kandidaten. So postu-
liert er im Luzerner Exposé noch: „das dechiffrierte Transzendentalsubjekt ist das Kapital.“ ST, S.
188. Dass „im Innersten der Formstruktur der Ware – das Transzendentalsubjekt zu finden sei“, ist
gerade jene Hauptidee, die ihn seit den zwanziger Jahren begleitet. Wenn er sich später zunehmend
auf das Geld konzentriert,dürfte das daran liegen, dass in der griechischen Antike, wo er die Ent-
stehung abstrakten Denkens verortet, zwar geldvermittelter Warentausch, allerdings keine Kapital-
form existent war.
40

orientierten Marxisten wurde der Fokus als Defizit empfunden, und es schickten
sich viele Interpretationen an, gerade in diesem Teilstück der Kritik der politi-
schen Ökonomie das heimliche Zentrum der Marxschen Theorie zu entdecken.127
Wohlgemerkt soll der „philosophische Marx“ in jener Lesart gerade nicht in den
Frühschriften, den Pariser Manuskripten, sondern in der reifen Spätphase zu fin-
den sein; die philosophische Theorie entspringt aus der ökonomischen. Von der
untrennbaren Verbindung ökonomischer und begrifflicher Implikationen ist auch
Sohn-Rethel überzeugt und steckt sich das Ziel, die Auslassung auf philosophi-
schem Gebiet zu korrigieren. So gelingt ihm gewissermaßen unter der Hand eine
adäquate Vermittlung von Früh- und Spätwerk, welche die philosophischen Fra-
gen des jungen Marx nicht direkt, sondern aus dem Durchgang durch die späte
Ökonomiekritik zurückkommend beantwortet.128 Durch die arbeitsteilige Be-
schränkung auf die kognitive Dimension ist es ihm möglich, in seiner Ergänzung
zur Warenformanalyse weitreichende Abweichungen von Marx vorzunehmen,
ohne sich in Widerspuch zu diesem fühlen zu müssen.129

Exkurs: Sohn-Rethel und Marx


An der Debatte, die sich nach der Veröffentlichung von Geistige und Körperliche
Arbeit entspinnt, fällt auf, dass vor allem ein Thema die Rezeption Sohn-Rethels
dominiert: sein Verhältnis zu Marx. Geradezu als Blasphemie wird empfunden,
dass Sohn-Rethel sich an ein Kernstück marxistischer Theorie, die Warenanalyse,

127Neben Sohn-Rethel suchten auch nahezu alle anderen Denker der Frankfurter Schule einen
philosophischen Zugang zu Marx und interessierten sich kaum für die ökonomischen Implik tio-
nen des Kapital. Ausnahme war der Ökonom Friedrich Pollock.
128Dies entspricht weniger der Heideggerschen Figur der eigentlichen Zeitlichkeit als Vorlaufen in
die Zukunft und zurückkommendes Wiederholen, als vielmehr der Lacanschen retroaktiven Be-
deutungskonstitution, die er dem simplen linearen Signifikant/Signifikat-Modell des Strukturalis-
mus entgegensetzt: „Lacan’s emphasis is precisely on this retroactive character of the effect of
signification with respect to the signifier, on this staying behind of the signified with respect re-
spect to the progression of the signifier’s chain: the effect of meaning is always produced back-
wards, après coup[...] some signifier fixes retroactively the meaning of the chain, sews the mea-
ning to the signifier, halts the sliding of the meaning.“ Slavoj Zizek: The Sublime Object of Ideo-
logy, London und New York 1989, S. 101f. Bei Marx ist es der Signifikant „Wert“, der als point de
capiton (Stepppunkt, Knotenpunkt) die Bewegung der Signifikantenkette des Frühwerks stillstellt
und ihm rückwirkend die Bedeutung verleiht, die es auf latente Weise immer schon besaß. Zu Hei-
deggers Begriff der eigentlichen Zeitlichkeit des menschlichen Daseins vgl. in diesem Zusammen-
hang besonders Martin Heidegger: Sein und Zeit, neunte unveränderte Auflage, Tübingen 1960
(1927), S. 336-350.
129„Deshalb muß also auch die Kritik der Erkenntnistheorie in vollständiger systematischer Unab-
hängigkeit von der Kritik der politischen Ökonomie vorgenommen werden.“ GK, S. 61.
41


heranwagt und diese sogar zu erweitern für nötig hält. Dies provoziert heftige
Abwehrreaktionen, die kaum die Theorie Sohn-Rethels tangieren, sondern eher
ein Licht auf den prekären Stand des Marx-Verständnisses der siebziger Jahre
werfen.130 Die Kritik entzündet sich an Sohn-Rethels vorrangiger Konzentration
auf den Tausch und seiner These, dass sowohl Vergesellschaftung als auch Denk-
formen durch diesen konstituiert sind. Stellt sich darin eine Vernachlässigung der
Produktion und der Rolle der Arbeit dar? Reißt Sohn-Rethel die vermittelte Tota-
lität von Produktion und Zirkulation auseinander und nimmt ein Partikulares fürs
Ganze? Dem ist entgegenzuhalten, dass der Wert tatsächlich zunächst ein reines
Zirkulationsphänomen ist. Er kommt dadurch zustande, daß eine Ware im Ge-
brauchswert einer anderen ihren Wert – also den spezifisch gesellschaftlichen
Charakter konkreter Arbeiten im Kapitalismus – ausdrückt, dieses Verhältnis
aber den Akteuren immer schon in fertiger Form empirisch gegenübertritt. Dies
alles geschieht nur in der Zirkulation, auch wenn es um das gesellschaftliche Ver-
hältnis der Arbeiten, oder besser: der Arbeitsprodukte geht. Da Sohn-Rethel nur
an den verkehrten Bewusstseinsformen interessiert ist, kann er durchaus die Fra-
ge ausblenden, wo der Wert konstituiert wird. Dies gereicht ihm sogar zum Vor-
teil, da er durch die methodische Beschränkung, die Trennung der Analyse von
Wertform und Wertsubstanz, nicht in die Versuchung gerät, die Bildung des Werts
aus einem unmittelbaren Stoffwechselprozess von Mensch und Natur zu konzipie-
ren. Eine solche Ontologisierung der Arbeit, welche Wertbildung und Vergesell-
schaftung nicht als Resultat einer Abstraktion begreift, sondern der Arbeit als Na-
tureigenschaft zuschreibt, machte den Traditionsmarxismus blind für die Gesell-
schaftlichkeit von Naturverhältnissen. Dagegen beharrt Sohn-Rethel darauf, dass
auch die Arbeit ihren Doppelcharakter als konkrete und abstrakte Arbeit erst im
Tausch erlangt: „Diese Bedeutung der Privatarbeit [...] entstammt also nicht der
Produktionssphäre, [...] sondern der Zirkulation.“131
Schwerer wiegt der Vorwurf, Sohn-Rethel missverstehe die analytische Be-
wegung des Kapital als historische. Weitet er in unzulässiger Weise die Warenana-

130 Vgl. Peter Paetzel: Zum allgemeinen Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Erkenntnistheo-
rie, Berlin 1975; Bischoff, Joachim: a.a.O.
131 GE, S. 44.
42

lyse geschichtlich aus, deren Gültigkeit Marx auf die kapitalistische Epoche be-
schränkt wissen wollte? Die Frage rührt an ein umstrittenes Grundproblem der
Ökonomiekritik: das häufig konfundierte Verhältnis von Darstellung und Logik im
Kapital, dessen Verständnis zusätzlich durch die Tatsache erschwert wird, dass
Marx nach eigener Aussage die Methode nicht offen dargelegt, sondern in der
Darstellung versteckt hat.132 Der analytische Anfang der Darstellung mit der
Ware entpuppt sich als Resultat einer Kette von methodischen Abstraktionen, die
ausgehend vom Ergebnis der entfalteten Kapitalzirkulation im vierten Kapitel
rückwirkend vorgenommen werden: Von der Kapitalzirkulation G-W-G’ gelangt
Marx durch Abstraktion von ihrem Resultat zur einfachen Zirkulation W-G-W.
Dennoch wird auch im früheren Kapitel das Kapitalverhältnis als historisch ge-
wordene Bedingung vorausgesetzt, unter der die Warenzirkulation als allgemeine
Verkehrsform herrscht. Von der einfachen Zirkulation erfolgt der Rückschritt zum
Verhältnis zweier Waren durch die vereinfachende Abstraktion von Preis, Geld,
Warenbesitzern und dem universellen Warenverhältnis. Die finale Reduktion vom
Verhältnis zweier Waren zur Ware als abstraktester Kern der kapitalistischen
Wirtschaft, mit deren Analyse das Kapital anhebt, setzt also dennoch sämtliche
Eigenschaften der Ware voraus, die sie nur im Austausch besitzt. Insofern ist der
Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten, der didaktische Gang der ersten vier
Kapitel, eine logische und keine historische Bewegung. Es soll nicht eine be-
stimmte historische Entwicklung, oder gar die Entwicklung zum Kapitalismus als
Notwendigkeit gezeigt werden, sondern „nur die innere Organisation der kapita-
listischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt.“133 Han-
delt es sich also bei der Sohn-Rethelschen Lesart um ein historisierendes Miss-
verständnis des Kapital? Obwohl die Übertragung der Warenanalyse auf alle wa-
renproduzierenden Gesellschaften das nahezulegen scheint, besteht hier eher eine

132Vgl. MEW 30, S. 207. Zu der folgenden Darstellung vgl. die so genannte „neue Marx-
Lektüre“ (Backhaus): Hans-Georg Backhaus: Dialektik der Wertform, Freiburg 1997; Dieter Wolf:
Kritische Theorie und Kritik der politischen Ökonomie. In: Berliner Verein zur Förderung der
MEGA-Edition (Hg.), Wissenschaftliche Mitteilungen, Heft 3: Zur Konfusion des Wertbegriffs,
Berlin 2004, S. 9-190; Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert. Erweiterte Neuauflage,
Münster 1999; Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg 2003.
133MEW 25, S. 839. Vgl. zu der Frage nach dem Verhältnis von Historischem und Logischem im
Kapital auch Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart 2004,
S. 27-30.
43

methodische Arbeitsteilung: Über die Frühphasen des Warentauschs werden kei-


ne ökonomischen Aussagen getroffen, sondern nur die Existenz verkehrter Ge-
dankenformen behauptet, so dass Sohn-Rethels ergänzende Abweichungen von
Marx tatsächlich kein Widerspruch zu dessen Theorie darstellen.134

Den Begriff der Abstraktion führt Sohn-Rethel in Anlehnung an die Kantische


Verwendung des Wortes ein. Dies meint zunächst ein Absehen von etwas, ein Bei-
seitesetzen und Isolieren. Sohn-Rethel versichert, dass der „Sinn des Wortes ‚abs-
trakt’ mit dem erkenntnistheoretischen Sprachgebrauch den formalen Kennzei-
chen nach eng zusammenstimmt. „Wir nennen abstrakt das, was nicht-empirisch
ist.“135 Die Betonung des nicht-empirischen Moments soll die Blickrichtung der
Analyse auf die strukturelle Parallelität von Tauschabstraktion und abstraktem,
also reinem Denken wenden. Worin besteht aber die Abstraktheit des Tauschs? Es
zeigt sich, dass „abstrakt“ durchaus ein schillernder Begriff ist, für den sich ver-
schiedene Facetten herausdestillieren lassen. Sohn-Rethel nennt sogar fünf Postu-
late, die für ihn die Bedingungen der Möglichkeit des Tauschs darstellen:136
„Es ist ein Postulat, daß der Gebrauch der Waren einzustellen und damit zu warten
ist, bis der Austausch stattgefunden hat; ein Postulat, daß in den zum Tausch stehen-
den Waren keine physischen Veränderungen vor sich gehen, das aufrechterhalten
werden muß, selbst wenn ihm die Tatsachen widersprechen; ein Postulat, daß die
Waren in der Tauschrelation einander gleich gelten ungeachtet ihrer faktischen Ver-
schiedenheit; ein Postulat, daß zwischen Privateigentümern die Veräußerung und
Erwerbung von Dingen an die Bedingung der Austauschbarkeit geknüpft ist; ein Pos-
tulat, daß die Waren im Wege bloßer Ortsveränderung in der Zeit die Hände wech-
seln, ohne daß sie davon materiell affiziert würden“137.
Es sei dahingestellt, ob es sich tatsächlich um fünf selbständige und unverzichtba-
re Regeln handelt, oder ob nicht vielmehr die Liste reduziert werden könnte, ohne

134 Allerdings gibt es Ausnahmen, vgl. Fußnote 161.


135GK, S. 49. Wenn Steffen Kratz moniert, dass Sohn-Rethels Theorie den Abstraktionsbegriff
sowohl im Sinne eines Absehens als auch im Sinne der Nichtempirizität verwendet, also „einen
ihrer zentralen Begriffe derart in der Schwebe“ lässt, so trifft der Vorwurf in gleichem Maße Kant,
bei dem sich ebenfalls beide Konnotationen finden. Steffen Kratz: Sohn-Rethel zur Einführung,
Hannover 1980, S. 43.
136Vgl. ausführlich GK, S. 57-92. Die Wahl des Begriffs der Möglichkeitsbedingung, die sich in
dieser Form bei Sohn-Rethel findet, ist insofern ungeschickt, als es sich nicht um abstrakte Regeln
handelt, die getrennt von ihrer Verwirklichung existieren könnten. Regel und Verwirklichung bil-
den eine Einheit.
137 GK, S. 103f.
44

an Erklärungskraft einzubüßen. Zum Teil handelt es sich lediglich um eine Um-


formulierung der Marxschen Warenanalyse. Harald Wohlrapp jedenfalls, der
sämtliche Postulate für unplausibel hält, kann dies nur, weil ihm jegliche gemein-
same Basis mit Sohn-Rethel fehlt: Er erklärt kurzerhand die Marxsche Werttheo-
rie für falsch.138 Deren Kern bildet das Äquivalenzpostulat, die Tatsache, dass im
Vollzug des Tauschakts von allen empirischen Eigenschaften und Verschiedenhei-
ten der Waren abstrahiert wird und diese über ihren Wert respektive Tauschwert
gleich gesetzt werden. Sohn-Rethel schlägt mit dem Aufweis der abstrakten Mög-
lichkeitsbedingungen des Tauschs die Brücke zu den Begriffen als Möglichkeits-
bedingungen der Erkenntnis:
„Keiner dieser Formbegriffe indiziert faktische Daten. Sie sind alle bloß Normen, die
das Geschehen des Warentauschs zu erfüllen hat, um möglich zu sein. Wenn aber das
Tauschgeschehen zur Tatsächlichkeit geworden ist, dann schließt diese Tatsächlich-
keit die Erfüllung jener Normen als gesetzliche Notwendigkeit in sich. Genau so
verhält sich in den Begriffen des ‚reinen Verstandes’ die abstrakte Natur zur phäno-
menalen: sie sind Erkenntnisbegriffe für die Notwendigkeit, die in der Tatsächlich-
keit jedes Naturgeschehens als Bedingung seiner Möglichkeit eingeschlossen ist.“139
Im Einzelnen deduziert Sohn-Rethel die Kategorien wie folgt: Der Tauschvorgang
ist das Modell reiner Bewegung, womit gleichzeitig die Anschauungsformen von
Raum und Zeit eingeführt sind, in denen diese Bewegung stattfindet.140 Die Kate-
gorie der Quantität ist Resultat der Wertabstraktion, welche die Waren durch
Gleichsetzung und Reduktion auf messbare Größen kommensurabel macht.141
Identität, Substanz und Dinglichkeit der Waren ergeben sich durch Abstraktion
von ihrer materiellen Veränderung während des Tauschs und der Abstraktion von
besonderen, akzidentellen Qualitäten.142 Die Bewusstseinsidentität ist die perso-
nale Identität als Warenbesitzer.143 Schließlich impliziert die erweiterte Warenana-

Vgl. Harald Wohlrapp: a.a.O., S. 179. Vor allem entgeht ihm völlig die vergesellschaftenden
138
Funktion des Tauschs bei Marx.
139 GK, S. 104.
140 Vgl.GK, S. 82ff. sowie GE, S. 54ff.
141Vgl. GK, S. 74ff. Die Richtung der Determination verläuft allerdings umgekehrt: Das Äquiva-
lenzpostulat, also die Gleichsetzung der Waren, erzwingt den Wertbegriff. An der Ableitung der
Quantitätseigenschaft ändert dies nichts.
142 Vgl. GK, S. 81ff.
143 Vgl. KL, S. 41ff.
45

lyse eine alternative Erklärung für die Entstehung des Erkenntnisproblems: Mit
dem Rückzug des Menschen aus der Warenbewegung ist die Subjekt-Objekt-Re-
lation gegründet, die das erkennende Subjekt einer abstrakten Objektwelt entge-
gensetzt, die als bloße Materialität jeglicher konkreter Qualitäten entbehrt.144 Tat-
sächlich, so resümiert Sohn-Rethel, findet sich also eine „überraschende Überein-
stimmung der Formbestimmheit des ‚Austauschaktes – einzeln genommen’ mit
den aus der akademischen Erkennntistheorie bekannten Grundelementen des In-
tellektes.“145
Die materialistische Wendung und der erkenntnistheoretische Skandal ver-
bergen sich im Präfix „real“, welches die Tauschabstraktion charakterisiert: „Das
Phänomen der Warenabstraktion ist nach traditionellen Begriffsmaßstäben ein
Unding, das es schlechterdings nicht geben kann.“146 Anders als die idealistische
Denkabstraktion ist die Realabstraktion147 des Tauschs keine des Bewusstseins,
sondern eine der Praxis, die ihre abstraktifizierende Wirkung allein über den
Handlungsvollzug des Warenaustauschs entfaltet. Sie ist keine Leistung des ver-
einzelten Erkenntnissubjekts, sondern ein rein gesellschaftlicher Vorgang. Für das
Funktionieren der gesellschaftlichen Synthesis qua Tausch ist es nicht einmal
notwendig, dass die sie begleitenden Abstraktionen von den Handelnden reflek-
tiert werden.148 Sohn-Rethel beruft sich in diesem Punkt auf Marx, der über das
hinter dem Rücken der Individuen sich durchsetzende Wertgesetz bemerkt: „Sie
wissen das nicht, aber sie tun es.“149

Vgl. GK, S. 88. Sohn-Rethel fügt der Analyse noch die Ableitung der Atomizität sowie der
144
Kausalität hinzu.
145 GE, S. 40.
146 WD, S. 114.
147Der Begriff taucht bei Marx noch nicht auf; allerdings spricht er von einer „reellen Abstra ti-
on“, vgl. MEW 13, S. 18.
148 „Nicht also das Bewußtsein der Tauschenden ist abstrakt. Nur ihre Handlung ist es.“ GK, S. 49.
149 MEW 23, S. 88.
46


f) Das Problem der Vermittlung
Eingangs war die These vertreten worden, dass das Kant vor beträchtliche
Schwierigkeiten stellende Problem der Vermittlung von Sinnlichkeit und Ver-
stand, welches er im Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft zu lösen
gedachte, gerade den Ausgang für Sohn-Rethels Analyse bildet. Deren Resultate
zeigten, dass die Notwendigkeit der nachträglichen Vermittlung von Ve standes-
begriffen und Erfahrung erst aus einer vorgängigen Spaltung resultiert; dass die
bei Kant antagonistischen Erkenntnisstämme in einem realhistorischen Prozess
auseinandergetreten sind, dessen Phänomenologie die Denkformanalyse be-
schreibt. Jedoch bleibt auch für Sohn-Rethel ein ähnlich gelagertes Problem be-
stehen: die Verbindung von Sein und Denken, in diesem Fall von Realabstraktion
und Denkabstraktion.
Ein dem Erkenntnisproblem vergleichbaren Hiat hat er selbst durch die
Theorie der Trennung von Geistes- und Handarbeit eingeführt, welche die Exis-
tenz eines reines Verstandes erklärt, der sich nicht auf die Handarbeit rückführen
lässt. Sohn-Rethel legt Wert auf die relative Autonomie der reinen Begriffe: Sie
seien keinesfalls direkt aus der Sinnlichkeit ableitbar, sondern ein „kompliziert
vermitteltes Produkt“150; vor nichts habe „man sich mehr zu hüten als vor einer
oberflächlichen, nach bloßer äußerer Ähnlichkeit urteilenden Gleichsetzung histo-
rischer Denkerscheinungen mit der Warenabstraktion.“151 Es verbleiben also die
Fragen: Auf welche Weise setzen sich die Tauschpostulate ins Denken um und
resultieren dort in abstrakten Begriffen? Warum geschah dies erst an der histori-
schen Schwelle des antiken Griechenlands, wenn doch bereits lange vorher rudi-
mentäre Tauschbeziehungen sowohl in als auch zwischen den frühgeschichtlichen
Reichen bestanden?
Sohn-Rethels Antwort ist ebenso verblüffend wie exzentrisch: Die Trans-
formation ist nicht etwa eine Leistung des menschlichen Verstandes, eine „ver-
borgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir
der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen

150 WD, S. 104.


151 WD, S. 114.
47


werden,“152 – sondern sie wird gewissermaßen stellvertretend durch das Geld
exekutiert. Die Tauschabstraktion muss, so Sohn-Rethel, in Erscheinung treten,
um sich dem Bewusstsein aufzudrängen, um zur begrifflichen Reflexion der prak-
tisch vollzogenen Abstraktionen zu nötigen. Das Geld ist augenfällige und allge-
genwärtige Erscheinungsform des Tauschs und seiner Abstraktionen153: „jeder-
mann, der Münzen in der Tasche trägt und ihren Gebrauch versteht, [muss] ganz
bestimmte begriffliche Abstraktionen im Kopf haben“154 Die Geldfunktion exis-
tiert losgelöst von materiellen Eigenschaften; der Gebrauchswert des Geldes be-
steht lediglich darin, Tauschwert zu sein. Ihre wesentliche abstrakte Eigenschaft,
das Postulat der materiellen Unveränderlichkeit, steht sogar in Gegensatz zur
konkreten Veränderung, dem der stoffliche Träger der Geldfunktion, die Münze,
durch Abnutzung zwangsläufig unterworfen ist. „Den Stoff, aus dem Geld also
[...] gemacht sein müßte, kann es in der ganzen Natur nicht geben [...] Deshalb
sollte man ihn als [...] reinen nicht-empirischen Begriff bezeichnen.“155 Geld ist
abstraktes, „sinnlich übersinnliches“156 Ding: einerseits materielles Objekt, ande-
rerseits abstrakter Wert, ist es somit jenes Dritte, das aufgrund seiner Adäquanz
sowohl mit den abstrakten Begriffen wie auch der konkreten Erscheinung die
Brücke zwischen beiden schlagen kann: „Diese vermittelnde Vorstellung muß rein

152So lautet Kants berühmte Charakterisierung des „Schematismus unseres Verstandes“, in wel-
cher sich seine Ratlosigkeit angesichts der offen zutage tretenden Widersprüche des eigenen Sy-
stems deutlich spiegelt. KrV, B 180f.
153Vgl. Andreas Platthaus: The General Theory of Money Circulation, Materialism and Greed, 2.
Teil, in: Der Donaldist 73 (1990), S. 13-23 sowie ergänzend Don Rosa: Onkel Dagobert. Sein Le-
ben, seine Milliarden, Köln 2004 (Life and Times of Scrooge McDuck, Prescott 1997).
154 WD, S. 126.
155 GE, S. 62.
156MEW 23, S. 85. Diese der traditionellen Widerspruchslogik spottende Eigenschaft der Ware
war weniger für den Dialektiker Marx, aber doch für den projizierten Leser des Kapital ein Skan-
dal, weswegen Marx ein ganzes Arsenal theologischer Metaphorik aufbot, um sie begreiflicher zu
machen.
48

(ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich


sein.“157
Den Beginn der Münzprägung im Griechenland des siebten vorchristlichen
Jahrhunderts zitiert Sohn-Rethel als „Gradmesser für die Intensivierung des Wa-
rentauschs.“158 Tauschbeziehungen existierten zwar bereits vorher, allerdings le-
diglich als vereinzelte Phänomene in dem Sinne, dass zwei konkrete Mengen
zweier konkreter Waren ausgetauscht wurden. Solange sich der Tausch also ledig-
lich gemäß der „einfache[n], einzelne[n] oder zufällige[n] Wertform“159 x Ware A
= y Ware B vollzog, konnte es noch die unterschiedlichsten quantitativen Tausch-
verhältnisse geben, da es sich um ein direktes Inbeziehungsetzen zweier – und nur
zweier – Waren handelte. Sobald allerdings viele verschiedene Waren auf ein all-
gemeines Äquivalent bezogen werden, geschieht eine praktische wie begriffliche
Umkehrung zur so genannten „allgemeine[n] Wertform.“160 Zur Realisierung der
Transitivitätseigenschaft ist auf gesellschaftlicher Ebene eine gewisse Regelmä-
ßigkeit des Tauschs vorausgesetzt. Am Ende des Prozesses steht die Aussonde-
rung eines allgemeinen Äquivalents als Geldware. Solange das Geld noch nicht in
Form geprägter Münzen zirkulierte, war die Wertform noch dominiert von der
Naturalform und das Postulat der Freiheit von materieller Veränderung noch nicht
erfüllt: Schließlich kam es auf den tatsächlichen Gehalt an Edelmetall an, und die
Münzen mussten im Zweifelsfall gewogen werden. Die geprägte Münze hingegen

157KrV, B 177. Die Interpretation des Geldes als Schematismus weicht insofern von Sohn-Rethels
Darstellung ab, als er das Geld hauptsächlich als Transzendentalsubjekt, als „bare Münze des
Apriori“ deutet. Allerdings ist er selbst nicht konsequent in der Verwendung Kantischer Analogien,
so bemerkt er an anderer Stelle, „daß die Warenabstraktion hiermit genau die Bedingung erfüllt,
welche in der Kantschen Konstruktion des Ursprungs der reinen Verstandeskategorien gestellt ist,
d.h. in der ‚transcendentalen Synthese a prior’, welche von Kant als ‚Funktion der Zeit’ dargestellt
wird (vgl. besonders im ‚transsc. Schematismus’).“ WD, S. 124.
158 WD, S. 111.
159 MEW 23, S. 63.
160 Ebd., S. 79.
49

ist sichtbar gewordene Wertform; von der münzprägenden Autorität ungeachtet


des tatsächlichen Zustands der Münze verbürgt.161
Ob diese kursorischen Bemerkungen Sohn-Rethels ausreichen, um ein so
zentrales Problem wie das der Vermittlung von Real- und Denkabstraktion zu
plausibilisieren, ist fraglich. Halfmann und Rexroth bemängeln zu Recht, dass er
je nach Werksphase den Mechanismus der Transformation unterschiedlich kon-
zeptualisiert. Tatsächlich findet sich sowohl die Vorstellung einer individuell-psy-
chologischen Identifikation162 als auch die einer eher gesellschaftlichen „Reflexi-
on der Tauschabstraktion“163. Sohn-Rethels Theorie an den Standards moderner
sozialwissenschaftlicher Theoriebildung messen zu wollen, wäre angesichts des
entwurfhaften Charakters, der noch seinem Hauptwerk Geistige und körperliche
Arbeit164 eignet, sicherlich zum Scheitern verurteilt. Es sei jedoch darauf verwie-
sen, dass sich im Anschluss an Sohn-Rethel die eigene Disziplin der Denkform-
analysen165 gebildet hat, die diese methodischen Lücken schließen möchten – ge-

161 Das Oszillieren des Tempus in diesem Absatz verweist auf ein objektives Problem. Während
das Präsens die Beschreibung einer logischen Regel nahelegt, supponiert das Präteritum die histo-
rische Aussage, es habe sich tatsächlich so zugetragen. Die Unentschiedenheit ist Sohn-Rethel
selbst anzulasten, der an dieser Stelle die Marxsche Warenanalyse historisch interpretiert und da-
mit einer seit Engels geläufigen Fehldeutung aufsitzt. Die Analyse einer „einfachen Warenproduk-
tion“ (Engels) respektive einer „einfachen Warenzirkulation“ (Sohn-Rethel) im ersten Kapitel des
Kapital ist keine historische Beschreibung, die den Prozess der Entwicklung zum entfalteten Kapi-
talismus als notwendige nachvollzieht, sondern eine logische Abfolge, s.o. Ein Argument, das die
historische Deutung entkräftet, ist die Tatsache, dass Marx vor der einfachen Wertform den Dop-
pelcharakter der Arbeit einführt. Abstrakte Arbeit aber setzt die Existenz der Kapitalform voraus,
welche in einer Gesellschaft mit einfacher Warenzirkulation kaum vorhanden wäre. Die Fehldeu-
tung hat hier die Ursache, dass Sohn-Rethel die Beschränkung auf die Denkformenanalyse nicht
durchhält und auch ökonomische Implikationen des Kapital auf frühere Epochen übertragen will.
162„Für den Menschen jedoch, der auf die Abstraktheiten dieses Funktionscharakters aufmerksam
wird und sie identifiziert, stellen sie sich dar als die Formeigentümlichkeiten, die den Erscheinun-
gen kraft des Objektcharakters der Verdinglichung anhaften.“ GE, S. 67.
163 WD, S. 124.
164Dass es sich hier um ein Denken in Bewegung handelt, wird allein daran deutlich, dass Sohn-
Rethel in der zweiten Auflage den gesamten dritten Teil, eine Formanalyse des Taylorismus, für
revisionsbedürftig erklärt.
165Historische Vorläufer finden sich bereits in Franz Borkenau: Der Übergang vom feudalen zum
bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, Paris 1934
sowie Henryk Grossman: Die gesellschaftlichen Grundlagen der mechanistischen Philosophie und
Manufaktur, in: Zeitschrift für Sozialforschung 4 (1935), S. 161-231. Von diesen älteren Vertretern
unterscheidet sich Sohn-Rethel jedoch darin, dass er keine direkten Ableitungen aus der gesell-
schaftlichen Basis vornimmt, sondern eine Trennung der geistigen und der manuellen Sphäre an-
nimmt.
50

nannt seien etwa die Werke von Christine Woesler166, Klaus-Dieter Oetzel167, Ru-
dolf Wolfgang Müller168 oder, erst kürzlich erschienen, Eske Bockelmann169.

g) Folgen und Probleme


Marx paraphrasierend pointiert Sohn-Rethel seine Stellung zu der Transzenden-
talphilosophie: „Wir haben damit sozusagen Kant vom Kopf auf die Füße gestellt
und zugleich seinen überzeitlichen Erkenntnisbegriff durch einen geschichtlichen
ersetzt.“170 Die materialistische Erdung des transzendentalen Erkenntnisbegriffs
ist bereits durch die genetische Erklärung der Geltung geleistet, denn der ahistori-
schen Wahrheitstheorie ist der Begriff der Genesis anathema. „Wenn die Bedin-
gungen der Erkenntnisgeltung als genetische statt als transzendentale erwiesen
wären, so würde damit die Wahrheit als geschichtlich bedingt oder zeitgebunden
statt als zeitlos absolute erwiesen.“171 Bemerkenswerterweise erweist sich so
Sohn-Rethels dialektischer Materialismus als eine radikalisierte Version der Ver-
nunftkritik, die beanspruchen kann, Kant zu sich selbst gebracht und insofern
überwunden zu haben, als die bei Kant abgebrochene Ursprungsfrage, die Unhin-
tergehbarkeit der ursprünglich-synthetischen Einheit, weiter verfolgt wird: „Das
materialistische Denken beginnt dort, wo der Idealismus mit dem Denken aufhört,
bei der Anwendung der ratio auf die Erforschung ihrer eigenen Bedingheit.“172
Der Verdacht, dass das Kantische Transzendentalsubjekt Resultat einer Subre tion
sei, legt den Finger in die Wunde der erkenntnistheoretischen Aporie. Konstrukti-
on und Deduktion von Möglichkeitsbedingungen sind notwendig mit dem Stigma
der Sinnlichkeit gezeichnet, denn obwohl sie mit dem Anspruch des Apriorischen

166Christine Woesler: Für eine be-greifende Praxis in der Natur. Geldförmige Naturerkenntnis und
kybernetische Natur, Giessen 1978.
167 Klaus-Dieter Oetzel: Wertabstraktion und Erfahrung. Über das Problem einer historisch-mate-
rialistischen Erenntniskritik, Frankfurt a.M. 1978.
168Rudolf Wolfgang Müller: Geist und Geld. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein
und Rationalität seit der Antike, Frankfurt a.M. 1977.
169 Eske Bockelmann: Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens, Springe 2004.
170 GE, S. 72.
171 KL, S. 28.
172 KL, S. 31.
51


auftreten, können sie nur im Hinblick auf ein a posteriori Gegebenes konstruiert
werden. Abgesehen von dem methodologischen Fehlschluss vom Aposteriori auf
das Apriori offenbaren sie damit auch eine sehr konkrete Schwäche: Sind sie doch
anfällig für Veränderungen auf jener Stufe des a posterio Gegebenen, dessen
Möglichkeit erwiesen werden sollte. Im Falle Kants wäre beispielsweise das Ver-
trauen auf die zeitgenössischen Naturwissenschaften zu nennen, die für ihn mehr
als ein bloßes Indiz für die Existenz synthetischer Urteile apriori waren. Anders
als etwa Otfried Höffe meint, schlagen daher die nachkantischen Revolutionen
der Physik und Mathematik sehr wohl auf die Begründungsebene durch.173 Diesen
heimlichen Zirkel deutlich gemacht zu haben, ist nicht das geringste Verdienst der
Denkformanalyse. Sie vermag ihn elegant zu umgehen, indem sie den logischen
Primat des praktischen Weltbezugs herausstellt, dem die transzendentale Ebene
erst durch eine Negation abgerungen wird. Der Nachweis der Gesellschaftlichkeit
des Apriori, der Unreinheit der reinen Kategorien, degradiert auf einen Schlag je-
nes Philosophenproblem zum Scheindilemma, das zum Zweck der nachträglichen
Vermittlung erst artifiziell trennt, was immer schon vermittelt ist.
Die für einen Marxisten unorthodoxe, weil den Umweg über Hegel abkür-
zende Bindung an Kant hat zur Folge, dass sich die Brüche und Probleme dessen
Philosophie auch bei Sohn-Rethel geltend machen. So ist die Denkformtheorie
etwa von einem frappanten Form-Inhalt-Dualismus durchzogen. Die Kategorien
würden, so Sohn-Rethel, nur der Form nach gesellschaftlich erzeugt, dem Inhalt
nach seien sie tatsächlich präsozial existent:
„Der Austausch abstraktifiziert diese Elemente zu reinen Formen, er schafft sie aber
nicht. [...] Noch ist der Stoff der Waren, den er der physischen Veränderung entzieht,
vom Tausch hervorgebracht. Auch die Einzigkeit des Daseins von allem, was in
Raum und Zeit existiert, seien es Dinge, Menschen oder Tiere, ist nicht erst vom
Austausch erzeugt; nur ihre Trennung als Austauschbarkeitsform von dem, was exis-

173Vgl. Otfried Höffe: Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philoso-
phie, München 2003, S. 103-106. Höffe vertritt die Auffassung, der transzendentale Raum sei eine
unbestimmte, allgemeine Räumlichkeit, die nicht mit konkreten Raumvorstellungen zu verwech-
seln sei. Die Differenzierung ist allerdings eine retrospektive Uminterpretation Kants, welche auf
die aktuelle Einsicht angewiesen ist, dass es verschiedene Raumvorstellungen gibt. Die Kritik der
reinen Vernunft operiert dagegen auch auf der transzendentalen Begründungsebene mit der Vor-
stellung des euklidischen, dreidimensionalen Raums und setzt so konkreten und abstrakten Raum
ineins: „Denn die geometrischen Sätze sind insgesamt apodiktisch, d.i. mit dem Bewußtsein ihrer
Notwendigkeit verbunden, z.B. der Raum hat nur drei Abmessungen“, KrV, B 41, Hervorhebungen
im Original.
52

tiert, ist seine Leistung. Diese Elemente sind Grundeigenschaften der Natur nicht nur
schon vor dem Austausch, sondern vor aller Geschichte.“174
Offenbar stellt sich Sohn-Rethel die stoffliche Seite des Dualismus als Ansamm-
lung ewiger Natureigenschaften vor, als Grundelemente des Seins. Nach dieser
Interpretation wären auch die Begriffe in letzter Instanz gar nicht gesellschaftlich
enstanden; die Gesellschaftlichkeit reduzierte sich auf die kulturelle Überformung
eines natürlichen amorphen Rohmaterials – ein Rückfall hinter die Ergebnisse der
eigenen Analyse, denn die Inhaltseite des Dualismus muss frei von Sinn und Be-
deutung sein, welche erst von der Gesellschaft verliehen werden. Damit besitzt
allerdings bereits die vorgeblich prädiskursive Natur genau jenen abstrakten, ent-
qualifizierten Charakter, der ihr nach Sohn-Rethels Analyse gerade erst als Resul-
tat ihrer modernen gesellschaftlichen Konstitution zukommt. Da dies gerade nicht
im Sinne Sohn-Rethels sein kann, müsste er also bereits die „Grundelemente“ der
Natur als bedeutungsvoll entwerfen. Dann bliebe allerdings nicht mehr viel Platz
für die gesellschaftliche Konstruktion der Begriffe; sie wären kaum mehr als eine
mimetische Interpretation des in der Natur bereits angelegten. Die Ambivalenz in
der Frage des erkenntnistheoretischen Status der Natur ist von Marx ererbt, für
den Natur nicht ausschließlich eine gesellschaftliche Kategorie ist: Sie lässt sich
„nach Form, Inhalt, Umfang und Gegenständlichkeit keineswegs ohne verblei-
benden Rest in die historischen Prozesse ihrer Aneignung auflösen.“175 Wie je-
doch das Verhältnis von Kultur und Natur zu denken ist, wie das nicht-gesell-
schaftliche Residuum nach Form und Inhalt zu konzeptualisieren sei, wurde von
beiden nicht weiter verfolgt.176
Weitere Konsequenz der Nähe zu Kant ist ein Ahistorismus zweiter Stufe.
Dessen Philosophie will Sohn-Rethel gerade nicht ideologiekritisch als Ausdruck
der Zeit und bürgerlicher Interessen demystifizieren und entsorgen, sondern ihren
Wahrheitsgehalt durch die Kritik hindurch retten. So ergibt sich eine Art materia-
listische Transzendentalphilosophie, die mit ihrem Vorbild den Glauben an fixe

174 GK, S. 100.


175 Schmidt: a.a.O., S. 57.
176 In Sohn-Rethels Fall ließe sich die Unentschiedenheit auch als Versuch interpretieren, das Kan-
tische Ding an sich gegen die Hegelsche Totalisierung der Subjektivität zu verteidigen und so ein
Nichtidentisches der Natur zu retten.
53

Strukturen der Erkenntnis teilt. Dass diese als Ergebnis der gellschaftlichen
Tauschpraxis gefasst werden, ändert wenig an der Tatsache, dass die Tauschp stu-
late und somit auch die Erkenntniskategorien ein festes und der Veränderung nicht
fähiges Set von Regeln sind – sie lassen sich nur in toto abschaffen. Jegliche his-
torische Bewegung verkommt in dieser Darstellung zu einem geradlinigen Pro-
zess der Durchsetzung und der graduellen Ausbreitung des Tauschs in der Gesell-
schaft und den Köpfen der Individuen.177 Vor allem die Naturwissenschaften gera-
ten bei Sohn-Rethel zur Karikatur.178 Ähnlich wie Kant möchte er eine allgemein-
gültige logische Basis für sie finden und bringt sich so um die Möglichkeit, die
Vielzahl der historischen Revolutionen und Transformationen angemessen erfas-
sen zu können.
Der Zugewinn an Allgemeinheit ermöglicht es Sohn-Rethel, große ge-
schichtliche Bögen zu schlagen und weit entfernt liegende Phänomene kurzzu-
schließen, da sie den gleichen Gesetzen unterliegen. Die mitunter überraschenden
Einsichten werden jedoch mit einem Verlust an Trennschärfe und historischer Dif-
ferenzierungsfähigkeit erkauft. Auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner ge-
bracht, bleibt von den Phänomenen lediglich „die abstakteste und ärmste“179 Seite
übrig. Sohn-Rethels Wissenschaftsgeschichte kann Tendenzen plausibel machen;
für die detaillierte Erklärung einzelner Entwicklungen oder sogar prospektive
Auskünfte ist sie kaum geeignet.180
Eine weitere Übereinstimmung findet sich in der ausschließlichen Beschäf-
tigung mit Mathematik und Physik. Dass auch Sohn-Rethel mit seiner kategoria-
len Analyse vor allem die Euklidische Mathematik und die Newtonsche Mechanik
im Auge hat, ist umso erstaunlicher, als er seine Theorie zu einem Zeitpunkt ent-
wirft, als diese längst als überholt gelten. So muss er selbstkritisch „die Geltungs-
dauer [...] auf den Zeitraum bis etwa 1880, nämlich vor Frege, Einstein und

177 Vgl. GK, S. 230.


178 Vgl. Kratz: a.a.O., S. 76-84.
179 Hegel: a.a.O., S. 82.
180Dies wird auch von Naturwissenschaftlern bemängelt, die dem Sohn-Rethelschen Projekt
wohlwollend g ge überstehen, vgl. Lutz Hieber: Sohn-Rethels Bedeutung für die Selbstreflexion
naturwissenschaftlicher Arbeit, in: ProKla 29 (1977), S. 77-99.
54




Planck“181 beschränken. Leider bleibt offen, was sich für die Denkformen durch
die Revolutionen der Mathematik und Physik geändert hat. Ebenso fraglich ist,
wie es um die Verallgemeinerungsfähigkeit der Denkformtheorie – zumindest in
der Sohn-Rethelschen Form – auf andere Epochen und Wissenschaften bestellt ist.

4.2 Michel Foucault


„Freud hat mich so etwas wie einen generalisierten Marxismus
gelehrt, der immer und überall gültig ist, nicht nur auf den
Gebieten, denen er seine Aufmerksamkeit geschenkt hat.“182
(Claude Lévi-Strauss)

Anders als Alfred Sohn-Rethel ist Michel Foucault von erzwungenen Unterbre-
chungen seiner theoretischen Arbeit verschont geblieben. Die Brüche finden sich
eher innerhalb seines Werks; auch hier ein diametraler Gegensatz zu Sohn-Rethel,
dessen Schriften sämtlich Entfaltungen eines einzigen Themas sind. Über die Me-
tamorphosen innerhalb seines Theoriekorpus, über „das Foucaultsche
Labyrinth“183 sind sich die Interpreten durchaus uneinig: Handelt es sich um Brü-
che und Neuanfänge, um das stillschweigende Fallenlassen eines Themas und das
erneute Ansetzen an anderer Stelle? Oder ist es vielmehr eine immanente Ent-
wicklung, die Foucault kontinuierlich und in stetigem Gang von einem Thema
über neu aufgeworfene Fragen und Widersprüche zum nächsten treibt; ist also
sein Werk von einer umfassenden Einheit gezeichnet?184 Foucault selbst beweist

181 GK, S. 167.


182Claude Lévi-Strauss, zitiert nach: Walter Seitter: Michel Foucault. Von der Subversion des Wis-
sens, in: Walter Seitter (Hg.): Von der Subversion des Wissens, München 1974, S. 141-171, S. 148.

So der Titel einer populärwissenschaftlichen Einführung. Marvin Chlada und Gerd Dembowski
183
(Hg.): Das Foucaultsche Labyrinth, Aschaffenburg 2002.
184 Vor allem Hans-Herbert Kögler liest in Foucault eine Dialektik hinein: „Dabei treibt die Idee
einer ursprünglich schaffenden Einbildungskraft gewissermaßen selbst über die Grenzen einer
philosophischen Anthropologie hinaus [...] Der [...] produktive und kreative Aspekt bleibt dabei in
allen diesen Analysedimensionen vermittelt erhalten.“ Kögler: a.a.O., S. 22f., Hervorhebungen
M.J.
55

ein Bedürfnis nach Kohärenz185, wenn er im Nachhinein frühere Perioden als An-
tizipationen seines aktuellen Fokus deutet. Dem vorbehaltlos zu folgen, würde der
Intention der Arbeit widersprechen, denn die gesuchte Verbindung zur Kantischen
Erkenntnistheorie macht es erforderlich, das Augenmerk weniger auf inhaltliche
Kontinuitäten denn auf methodische Skansionen zu legen. Da die Verbindung
nicht in jeder Werksphase gleichermaßen ausgeprägt ist, wird sich die Analyse
haupsächlich der später aufgrund ihres Formalismus von Foucault nicht mehr sehr
geliebten Frühphase widmen,186 in welcher ein Interesse an systematischen Fra-
gen im Vordergrund steht.
Nach einer populären Einteilung folgt auf Foucaults archäologische187 Peri-
ode, in welcher die Analyse des Diskurses im Zentrum steht, die genealogische188,
die sich um die Erforschung von Macht dreht. Abgelöst wird sie wiederum von
einer Art Ethik, die sich mit der Frage des Subjekts beschäftigt.189 Dieses steht
auch in der kurz vor dem Tod begonnenen und im Rahmen der politischen Philo-
sophie zu verortenden Theorie der Gouvernementalität im Vordergrund.190

185Zu dem Zweck nimmt er sogar nachträgliche Änderungen seiner frühen Werke vor: „Bei Wahn-
sinn und Gesellschaft schlägt Foucaults Selbstkritik einen anderen Weg ein: bei der zweiten Aufla-
ge, elf Jahre nach der Erstauslieferung des Buches, unterdrückt er das erste Vorwort, das allzu
nachdrücklich auf einer originären ‚Erfahrung des Wahns bestand.“ Eribon: a.a.O., S. 263. Ebenso
interpretiert er durch nachträgliche Änderungen den Strukturalismus von Die Geburt der Klinik
rückwirkend in eine Diskursanalyse um. Auch Thomas Flynn erkennt auf Foucaults Seite ein Be-
dürfnis nach Kohärenz, vgl. Thomas Flynn: Foucaults Mapping of History, in: Gary Gutting (ed.):
The Cambridge Companion to Foucault, Cambridge 1994, S. 28-47, S. 28.
186 Vgl. Eribon: a.a.O., S. 264.
187Von Foucaults Hauptwerken sind die Ordnung der Dinge sowie die Archäologie des Wissens zu
dieser Periode zu zählen.
188 Die Wendung zur Genealogie setzt mit der Einführung des Machtbegriffs an; nach den Aufsät-
zen Nietzsche, die Genealogie und die Historie aus dem Jahr 1971 sowie der 1970 gehaltenen Vor-
lesung Die Ordnung des Diskurses ist vor allem das 1975 in Frankreich erschienene Werk Über-
wachen und Strafen dem genealogischen Ansatz verpflichtet. Michel Foucault: Nietzsche, die Ge-
neaologie, die Historie, in: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt 1987, S. 69-90 (Nietzsche,
la généalogie, l’histoire, Paris 1971), im Folgenden: NI; ders.: Die Ordnung des Diskurses, Mün-
chen 1974 (L’Ordre du discours, Paris 1972), im folgenden: OdD; ders.: Überwachen und Strafen.
Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt 1976 (Surveillir et punir, Paris 1975), im Folgenden: ÜS.
Dreyfus und Rabinow sind in diesem Punkt anderer Meinung und merken kritisch an: „Es gibt bei
Foucault keine vor- oder nacharchäologische oder -genealogische Phase.“ Dreyfus und Rabinow:
a.a.O., S. 133. Für sie handelt es sich lediglich um unterschiedliche Gewichtungen, die sich im
Lauf der Entwicklung verschoben haben.
189Dazu zählen die drei Bände Sexualität und Wahrheit, zur Frage des Subjekts vor allem: Michel
Foucault: Sexualität und Wahrheit Band 1. Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1977 (Histoire
de la sexualité, 1. La volonté de savoir, Paris 1976). Im Folgenden: SW.

Vgl. Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität der


190
Gegenwart, Frankfurt 2000.
56

Die mit der Wendung zur Genealogie verbundene Verlagerung des Schwer-
punkts ist eher eine thematische denn systematische; so betont Foucault, dass die
Archäologie als Methode Bestandteil der Genealogie bleibt.191 Aufgegeben wird
der Anspruch einer reinen Diskursanalyse; mit Einbezug gesellschaftlicher Pro-
zesse bekommt die ehemalige Wissenschaftstheorieeinen sozialwissenschaftliche
Färbung. Vorbereitend zur Beschäftigung mit der Archäologie soll ein Schlaglicht
auf die ihr vorausgehende Entwicklung geworfen werden. Die zwei frühen
Hauptwerke Wahnsinn und Gesellschaft192 sowie Die Geburt der Klinik193 sind
insofern interessant, als in ihnen unterhalb der von sämtlichen Interpreten be-
schworenen Brüche und Peripetien durchaus eine Kontinuität in der Methodik
zum Ausdruck kommt, die sich schließlich in der Archäologie entfalten wird. Als
gemeinsamer Bezugspunkt wird sich die Kantische Erkenntnistheorie erweisen.

a) Von der Hermeneutik zur Diskursanalyse


Wahnsinn und Gesellschaft – eine Geschichte der Konstituierung des neuzeitli-
chen Vernunftsubjekts über die Ausgrenzung des Wahnsinns – zeichnet sich durch
einen hermeneutischen Zugang aus. Foucault verwendet einen transhistorischen
und a thropologisch fundierten Begriff des Wahnsinns und spricht von der „Er-
fahrung [...] des Wahnsinns selbst“194. Der Wahnsinn gilt ihm als Hort einer ur-
sprünglichen Wahrheit des Menschen,195 welche allerdings von den Verdingli-
chungen des Alltags zugedeckt wird: Nur durch Verneinung der sprachlosen Er-
fahrungsdimension des Wahnsinns kann sich das Vernunftsubjekt der Aufklärung

191Zunächst behauptet Foucault noch eine Komplementarität: Die neu eingeführte Genealogie soll
die Archäologie ergänzen. Vgl. OdD, S. 47f. Später kehrt sich dieses Verhältnis um und die Ar-
chäologie wird zu einem Bestandteil der Genealogie. Dreyfus und Rabinow bemerken: „Als Werk-
zeug [...] wird die Archäologie, die nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, der Genealogie unter-
geordnet.“ Dreyfus und Rabinow: a.a.O., S. 132.
192Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Ver-
nunft, Frankfurt a.M. 1973 (Folie et déraison. Historie de la folie à l’age classique, Paris 1961). Im
Folgenden: WuG.
193Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München
1972 (Naissance de la clinique. Une archéologie du régard médical, Paris 1963). Im Folgenden:
GdK.
194 WuG, S. 13.
195 Vgl. WuG, S. 544.
57


darstellen. Möglicherweise finden sich in derartigen Wendungen noch Residuen


der existenzialistischen Psychologie, der Foucault zur Zeit seines ersten Buchs
Psychologie und Geisteskrankheit196, in dem er Geisteskrankheit als besondere
Existenzform deutet, nahe steht. In diesem Zusammenhang wäre ebenfalls das
von Foucault verfasste Vorwort zu der französischen Übersetzung von Ludwig
Binswangers Traum und Existenz197 zu nennen. Dort interpretiert er den Traum als
privilegierten Ort der Erfahrung und die menschliche Einbildungskraft als Zen-
trum der Sinnkonstitution. Die Einflüsse von Husserl und Foucaults Lehrer, dem
Phänomenologen Merleau-Ponty, sind offensichtlich. Hier wird der Ort der Sinn-
stiftung, aller Heideggerschen Weltbezogenheit zum Trotz, noch im Subjekt ge-
sucht. Obwohl Wahnsinn und Gesellschaft ebenfalls hermeneutisch geprägt ist,
deutet sich bereits eine Wendung an. Die Wahrheit des Wahnsinns soll nicht über
eine direkte, unmittelbare Beschreibung zum Ausdruck gelangen, sondern nur ex
negativo über eine Analyse ihrer Verdeckungen; Foucault beabsichtigt, „eine
Strukturuntersuchung der historischen Gesamtheit – Vorstellungen, Institutionen,
juristische und polizeiliche Maßnahmen, wissenschaftliche Begriffe – zu leisten,
die einen Wahnsinn gefangenhält, dessen ungebändigter Zustand in sich selbst nie
wiederhergestellt werden kann.“198
Es ist Foucaults These, dass sich die Vernunft erst qua Ausgrenzung des
Wahnsinns als ihrem Anderen konstituiert. Obwohl es die Hypostasierung des
Wahnsinns gerechtfertigt erscheinen lässt, Wahnsinn und Gesellschaft als philoso-
phische Anthropologie zu lesen, ist Foucault differenzierter, was dessen Kehrseite
angeht, denn er hat nicht eine allgemein-menschliche Vernunft, sondern die Ent-
stehung der modernen abendländischen im Blick. Die Historisierung drückt sich
ebenfalls bereits in dem Epochenbegriff aus, der auch die folgenden Werke prä-
gen soll: Einschneidende Zäsur ist der mit der Aufklärung verbundene Struktur-
wandel, in dessen Gefolge sich die moderne Erfahrungsstruktur errichtet. Mit dem
Begriff der Erfahrungsstruktur möchte Foucault thematisieren, dass Denken und

196Michel Foucault: Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt a.M. 1968 (Maladie mentale et
psychologie, Paris 1954). Im Folgenden: PG.
197 Ludwig Binswanger: Le Rêve et l’Existence, Paris 1954.
198 WuG, S. 13.
58

Handeln der Individuen innerhalb einer Epoche bestimmten Codes folgen: „Diese
Struktur ist konstitutiv.“199
Mit dem folgenden Buch Die Geburt der Klinik inszeniert Foucault seine
Abwendung von der Hermeneutik in einer expliziten Selbstkritik. Schließlich ist
die im Bild einer tiefen Wahrheit des Wahnsinns latent enthaltene Vorstellung ei-
ner allgemeinen Menschennatur lediglich die Kehrseite der Idee einer allgemei-
nen Vernunft. Geschichte soll nun nicht mehr aus einem vermeintlichen Wesen
des Menschen verständlich gemacht, sondern umgekehrt die Erfahrung des Sub-
jekts gerade aus den gesellschaftlich vorherrschenden Wissensformationen und
Machtpraktiken erklärt werden. Die ausschließlich kulturell erzeugte Erfahrung
des Menschen wird durch epochal begrenzte Erfahrungsstrukturen bestimmt. Al-
len Gegensätzen zum Trotz ist die methodische Kontinuität hinsichtlich der Idee
der Konstruktion offensichtlich: Es geht um die „Möglichkeit“, „Bedingung“ so-
wie „Begründung und Konstituierung der Erfahrung“200, wie Foucault in Kanti-
schen Begriffen betont. Allerdings verlagert sich der Ort der Sinnstiftung vom
Innen, der im Subjekt verankerten Erfahrung der Geisteskrankheit, zum Außen
der sozialen Praxisformen. Die Gesellschaft, die noch im Titel des früheren Bu-
ches erschien, nimmt jedoch nun eine deutlich weniger exponierte Stellung ein,
denn die Praxisformen, denen Foucaults Aufmerksamkeit schenkt, sind vorrangig
sprachlich-wissenschaftliche Praktiken. Foucault Interesse gilt haupsächlich dem
an der Schwelle zur Moderne entstandenen Diskurs der Medizin, der für eine
„epistemologische Reorganisation“201, eine Neuordnung des Erfahrungsraums der
Epoche verantwortlich zeichnet. So ist die Struktur der anatomisch-klinischen
Medizin nicht nur Möglichkeitsbedingung einer Erkenntnisform – der klinischen
Erfahrung –, sondern erweist sich als prägend für ein bestimmtes philosophisches
Menschenbild. Foucault geht sogar so weit zu behaupten, dass „in dieser Kultur

199WuG, S. 12. Vor allem mit dem Gedanken der Konstitution, aber auch in der Verwendung von
Begrifflichkeiten wie „Notwendigkeit [des Wahnsinns]“ oder „Möglichkeit [der Vernunft]“ stellt
sich Foucault bewusst in die Kantische Tradition. Vgl. ebd.
200 GdK, S. 207.
201 GdK, S. 206.
59

der philosophische Status des Menschen wesentlich vom medizinischen Denken


bestimmt wird.“202
Bereits in der Einleitung finden sich programmatische Bemerkungen, mit
denen sich Foucault zu einer strukturalistischen Methode bekennt. Er zitiert eine
aus heutiger Sicht vollkommen sinnlos erscheinende medizinische Beschreibung
des achtzehnten Jahrhunderts und demonstriert in eindrucksvoller Weise, dass das
für uns Unverständliche dennoch einer systematischen Ordnung, einem regelrech-
ten „Wissenscode“203 folgt, der durch Analyse der Regelmäßigkeiten des Diskures
zum Vorschein gelangt. Jedoch scheint die von Dreyfus und Rabinow konstatierte
strukturalistische Überreaktion auf die hermeneutischen Tendenzen in Wahnsinn
und Gesellschaft204 als Erklärung zu kurz gegriffen, vermag sie doch die Konti-
nuitäten auf systematischer Ebene nicht einzufangen. Allerdings ist zutreffend,
dass sich Foucault in einer längeren Passage von der Hermeneutik abgrenzt. Er
problematisiert den Kommentar; dieser sei wesentlich eine Übersetzung, die In-
terpretation eines stets nicht vollständig einholbaren, verborgenen und jenseitigen
Elements, gewissermaßen – eine ebenso humoristische wie pejorative Formulie-
rung – ein Horchen „nach dem Wort Gottes“205. Anstelle einer hermeneutischen
Interpretation möchte er eine Diskursanalyse vornehmen, „die in dem, was gesagt
worden ist, keinen Rest und keinen Überschuß, sondern nur das Faktum seines
historischen Erscheinens voraussetzt“206 – ein emphatisches Bekenntnis zu einer
beschreibenden und sich der Interpretation enthaltenden Methode. Die Nähe zum
Strukturalismus macht er an anderen Stellen noch expliziter: Es sei ein „sich all-
mählich aufbauendes System“ zu analysieren, in dem Sinn zugewiesen wird
„durch die Differenz, die [eine Aussage] an andere wirkliche und mögliche“207
anfügt. Schließlich erwähnt er die „nichtsprachlichen Bedingungen“, die „ge-

202 GdK, S. 209.


203 GdK, S. 104.
204 Vgl. Dreyfus und Rabinow: a.a.O., S. 36.
205 GdK, S. 15.
206 Ebd.
207 Ebd.
60

meinsame Struktur, die gliedert und artikuliert, was gesehen und gesagt wird.“208
Dennoch ähnelt Foucaults Methodik sogar an diesem Punkt der stärksten Hin-
wendung zum Strukturalismus eher einem historisierten Kantianismus, denn es
sind keine ahistorischen Regelsysteme, sondern „historische [...] Bedingungen der
Möglichkeiten“209 Wenn er betont, man müsse „zweifellos etwas anderes befragen
als die thematischen Inhalte oder die logischen Modalitäten“210, dann postuliert er
einen an dieser Stelle noch nicht näher spezifizierten dritten Weg jenseits von
Strukturalismus und Hermeneutik: nicht die Voraussetzung eines an sich seienden
Referenten, aber auch nicht dessen totale Elimination und die Beschränkung auf
die Analyse der Kombinationen von bedeutungslosen Elementen, wie es der
Strukturalismus propagiert.211 Obwohl Foucault bereits in der Geburt der Klinik
ein Bedürfnis nach methodischer Klärung zeigt, soll sich dieses erst mit der nach-
folgenden Wendung zur Archäologie konkretisieren. Insofern besitzt es lediglich
antizipatorischen Charakter, dass er bemerkt: „Dieses Buch ist ein Versuch, in
dem so verworrenen, so wenig und so schlecht strukturierten Bereich der Ideen-
geschichte zu einer Methode zu gelangen.“212 Das schließlich in der archäologi-
schen Periode manifeste methodische Interesse lässt sich auch als weitere Annä-
herung an die Kantische Erkennntnistheorie deuten, denn nun erforscht Foucault
weniger den Inhalt als die Systematik, weniger das Was als vielmehr das Wie der
Erkenntnis.

b) Eine Archäologie der Humanwissenschaften


Zu Beginn der Ordnung der Dinge, in der Foucault das Wissen der drei Epochen
Renaissance, Klassik und Moderne analysiert, zitiert Foucault einen Text von
Borges, in welchem dieser eine chinesische Enzyklopädie anführt, die Tiere fol-
gendermaßen gruppiert:

208 GdK, S. 17.


209 Ebd.
210 GdK, S. 9.
211Dass in dieser Zuspitzung sowohl Strukturalismus als auch Hermeneutik zur Karikatur geraten,
dürfte auch Foucault klar sein.
212 GdK, S. 206.
61

„a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milch-
schweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung
gehörige, i) die sich wie Tolle gebärdende, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus
Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen ha-
ben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen“.213
Das Zitat soll nicht lediglich die Relativität der eigenen Denkschemata bewusst
machen. Zusätzlich steht die Krise, in die unser Denken bei dem Versuch gerät,
die ungewohnten Ordnungsprinzipien nachzuvollziehen, exemplarisch für eine
historische Schwellensituation, die einen Tiefenblick auf die Ordnungsraster er-
möglicht. Die Raster, durch deren Funktionieren gewöhnlich Wissen und Er-
kenntnis ermöglicht wird, fallen in einer solchen Umbruchsituation auseinander;
wir erlangen eine gewisse Distanz zu ihnen und bekommen so durch die einzel-
nen Wissensdisziplinen hindurch eine Sicht auf eine tiefere, den Disziplinen und
Ordnungsrastern zugrundeliegende Ordnung. In Borges’ Text geschieht dieser
Schritt durch die Metapher „China“: Die uns so fremd und unmöglich anmutende
Ordnung ist an einem anderen Ort durchaus möglich und intelligibel. Die Ord-
nungsraster der Wissenschaften sind also kulturell und historisch relativ und of-
fenbaren einem distanzierten Blick ihre Kontingenz. Es schält sich eine „Mittel-
Region“ heraus, die zwischen der befangenen und stets bereits kodierten Wahr-
nehmung einer Kultur und der reflektierenden Erkenntnis der Philosophie liegt.
Dort liegt eine Ordnung unterhalb der Ordnung, die sich unserer gewöhnlichen
Erfahrung präsentiert; ein Raster, das aller Erfahrung vorausgeht und diese er-
möglicht. Foucault nennt die gewöhnlichen Ordnungsraster einer Kultur „Diszi-
plinen“ und die zugrundeliegende fundamentale Ordnung – in einem recht idio-
synkratischen Gebrauch des Wortes – Positivität.214
Nicht nur Handeln, sondern auch Gedanken und Wahrnehmungen der Men-
schen geschehen für Foucault immer in instituierten Ordnungszusammenhängen,
die etwas zu Denken erst ermöglichen. Während in der Wissenschaftsgeschichte
traditionell Mathematik und Physik ein herausragender Platz gewährt wird, möch-
te Foucault gerade für andere Disziplinen, die eher empirisches Wissen produzie-
ren, zeigen, dass auch dieses empirische Wissen einem spezifischen Wissenscode

213 OD, S. 17.


214 Vgl. OD, S. 22-25.
62

gehorcht: „Was aber, wenn empirisches Wissen zu einer gegebenen Zeit und in-
nerhalb einer gegebenen Kultur wirklich eine wohldefinierte Regelmäßigkeit be-
säße?“215
Diejenigen erfahrungskonstitutiven Tiefenschichten, die die Disziplinen ei-
ner Epoche charakterisieren und ihre Diskurse strukturieren, nennt Foucault Epi-
steme:
„Unter Episteme versteht man [...] die Gesamtheit der Beziehungen, die in einer ge-
gebenen Zeit die diskursiven Praktiken vereinigen können, durch die die epistemolo-
gischen Figuren, Wissenschaften und vielleicht formalisierten Systeme ermöglicht
werden [...] es ist die Gesamtheit der Beziehungen, die man in einer gegebenen Zeit
innerhalb der Wissenschaften entdecken kann, wenn man sie auf der Ebene der dis-
kursiven Regelmäßigkeiten analysiert.“216
Sie verändern sich nicht quantitativ-stetig, sondern in Brüchen, die für die gesam-
te Kultur eine Umwälzung der Denkweise bedeuten. Da die Wissenschaften einer
jeweiligen Epoche auf die entsprechende Positivität der Episteme gegründet sind,
sind die Disziplinen innerhalb dieser Epoche von einer relativen Homogenität und
Kohärenz – schließlich ruhen sie auf einem gemeinsamen Fundament. So kommt
es, dass beispielsweise die Analyse der Reichtümer, der klassische Vorläufer der
Ökonomie, zur Naturgeschichte, dem klassischen Vorläufer der Biologie, in we-
sentlichen Punkten eine größere Nähe aufweist als zu ihrem direkten Nachfolger
in der Moderne, der Ökonomie. Um seine Theorie plausibel zu machen, müsste
Foucault also aus den Einzeldisziplinen die geteilte Struktur der Epochen destil-
lieren und zeigen, dass sich diese in der Tat auf eine gemeinsame Figur reduzieren
lässt. Mit der Repräsentation in der Klassik und dem Mensch in der Moderne er-
hebt er zumindest den Anspruch, das geleistet zu haben.
Foucaults Methode ist die Archäologie: „Eher als um eine Geschichte im
traditionellen Sinne des Wortes handelt es sich um eine ‚Archäologie’.“217 Eine
Geschichte, so Foucaults kritische Einschätzung, würde sich auf der Oberfläche
der Disziplinen bewegen und versuchen, deren Veränderungen als stetige Prozesse
innerhalb einer allgemeinen großen Erzählung zu analysieren, etwa im Sinne ei-

215 OD, S. 9.
216 AW, S. 272f.
217 OD, S. 25.
63

nes fortschreitenden Erkenntniszuwachses und einer Verfeinerung wissenschaftli-


cher Methoden. „Ich arbeite deshalb nicht auf der Ebene, die gewöhnlich die des
Wissenschaftshistorikers ist – [...] die Wissenschaftsgeschichte [...] beschreibt die
Prozesse und Ergebnisse des wissenschaftlichen Bewußtseins.“218 Eine Archäolo-
gie im Foucaultschen Sinne hingegen gräbt nicht nur entlang der historischen
Achse, sondern legt innerhalb einer dazu orthogonal verlaufenden zweiten Di-
mension unter den oberflächlichen Sedimenten der Disziplinen die grundlegende-
re Tektonik der Positivitäten frei. „Was ich jedoch erreichen wollte, war, ein posi-
tives Unbewußtes des Wissens zu enthüllen: eine Ebene, die dem Bewußtsein des
Wissenschaftlers entgleitet und dennoch Teil des wissenschaftlichen Diskurses
ist.“219 Allerdings sollten die geologischen und etymologischen Konnotationen –
das griechische 'αρχή (arche) bedeutet Anfang – nicht dazu verführen, sich eine
Suche nach Ursprüngen oder eine Ausgrabung verborgener Determinanten vorzu-
stellen.220 Auf scheinbar paradoxe Weise liegen die zunächst nicht sichtbaren Be-
stimmungsgründe durchaus auf der Oberfläche des Diskurses.221 Foucault selbst
begründet 1971 in einem Gespräch den Gebrauch des Begriffs Archäologie mit
dem Hinweis auf eine Notiz des späten Kant, in der dieser von dem Projekt einer
philosophischen Archäologie spricht.222
Wissenschaft ist in der archäologischen Perspektive kein kumulativer Wis-
senszuwachs, keine Perfektionierung auf einer Skala überzeitlicher Kriterien von
Rationalität, keine Annäherung an einen wahren Sachverhalt, der dabei stets als
Ansich vorausgesetzt wäre. Vielmehr begreift Foucault sie als System, als eine
besondere Form von Erkenntnis, die durch Organisation eines Erfahrungsraums
ermöglicht wird. Er ist davon überzeugt, „daß die Geschichte eines Begriffs nicht
alles in allem die seiner fortschreitenden Verfeinerung, seiner stetig wachsenden
Rationalität, seines Abstraktionsanstiegs ist, sondern die seiner verschiedenen

218 OD, S. 11.


219 OD, S. 11f.
220 Vgl. Thomas Flynn: Foucault’s mapping of history, a.a.O.
221„Tatsächlich stellt man die Frage auf der Ebene des Diskurses selbst“. AW, S. 91. „Das so be-
schriebene ‚Vorbegriffliche’ ist [...] auf der ‚oberflächlichsten’ Ebene (auf der Ebene der Diskurse)
die Menge der Regeln, die darin angewandt werden.“ AW, S. 92.
222 Vgl. FA, S. 292f.
64

Konstitutions- und Gültigkeitsfelder“.223 Die skeptische Dezentrierung der Ratio-


nalität, die den „Fortschritt des Bewußtseins, die Teleologie der Vernunft oder die
Evolution des menschlichen Denkens“224 als Leitvorstellungen der Wissen-
schaftshistoriographie überwinden möchte, misst stattdessen Brüchen und episte-
mologischen Schwellen eine besondere Rolle zu. Wie Foucault in der Einleitung
der Archäologie des Wissens mit Verweis auf die Bachelardsche Epistemologie225
schreibt, besitzt „das Denken der Diskontinuität [...] (Schwelle, Bruch, Einschnitt,
Wechsel, Transformation)“226 einen besonderen methodologischen Status. „Der
Begriff der Diskontinuität ist paradox: er ist zugleich Instrument und Gegenstand
der Untersuchung; er grenzt das Feld ab, dessen Wirkung er ist; er gestattet die
Vereinzelung der Gebiete, kann aber nur durch ihren Vergleich hergestellt
werden.“227 Als Zäsur, die in die leere Kontinuität der traditionellen Geschicht-
schreibung ereignishaft hereinbricht, hilft er, die verschiedenen epochal begrenz-
ten Konstitutionsfelder der Episteme zu differenzieren, mit deren Wechsel jeweils
eine epistemologische Revolution verbunden ist.
Die von Foucault analysierten Humanwissenschaften – mit denen er solche
Disziplinen wie Historie, Linguistik, Psychologie, Ethnologie und ähnliche meint
– nehmen innerhalb der Wissenschaften einen Sonderstatus ein. Da ihr Gegen-
stand der Mensch in seiner Endlichkeit ist, sie also stets mit einem brüchigen,
weil empirischen Fundament geschlagen sind, sind sie außerstande, jemals den
Rang an Formalisierung und Autonomisierung zu erlangen, den solche Naturwis-
senschaften wie die theoretische Physik erreicht haben. Sie sind eine spezielle
Konfiguration der Moderne: „Die abendländische Kultur hat unter dem Namen
des Menschen ein Wesen konstituiert, das durch ein und dasselbe Spiel von Grün-
den positives Gebiet des Wissens sein muß und nicht Gegenstand der Wissenschaft
sein kann.“228 Die Humanwissenschaften sind aus diesem Grund keine eigentli-

223 AW, S. 11.


224 AW, S. 17.
225 AW, S. 11.
226 AW, S. 13.
227 AW, S. 18.
228 OD, S. 439.
65

chen Wissenschaften, aber sie produzieren dennoch Wissen, welches Foucault als
Vorform und notwendige – nicht jedoch hinreichende – Bedingung begreift, auf
der sich eine Wissenschaft konstituieren kann.229 Ihre Stellung auf „der Achse
diskursive Praxis – Wissen – Wissenschaft“230 sowie ihre Wissensproduktion be-
dingen, „daß sie also nicht nur Illusionen und pseudowissenschaftliche Schimären
sind, die auf der Ebene der Meinungen, der Interessen, des Glaubens motiviert
sind, daß sie nicht das sind, was andere mit dem seltsamen Namen ‚Ideologie’ be-
legen. Das heißt aber nicht, daß sie Wissenschaften sind.“231 Obwohl sie „auf dem
gleichen archäologischen Fundament“ wie Naturwissenschaften ruhen, sind sie
dennoch „andere Konfigurationen des Wissens.“232 Dass ihr Gegenstand – der
Mensch – gleichzeitig Objekt und Subjekt der Erkenntnis, gleichzeitig empiri-
sches Resultat und transzendentale Bedingung der Forschung sein muss, zeitigt
das Paradox, dass es gerade ihre Verwurzelung in der modernen Episteme ist, die
sie als Wissen produzierende Diskurse ermöglicht und dennoch außerstande setzt,
Wissenschaften zu sein.
Obwohl Foucault mit seiner Polemik gegen das, „was andere mit dem selt-
samen Namen ‚Ideologie’ belegen“233, gängige Marxismen seiner Zeit angreift,
kommuniziert die Archäologie doch auf einer grundlegenden Weise mit dem Im-
petus der Marxschen Kritik. Ähnlich wie dessen Warenanalyse die starren sozia-
len Verhältnisse denaturalisiert, indem sie sie als menschengemacht denunziert,
demonstriert auch Foucault die Nicht-Notwendigkeit der geschichtlichen Ent-
wicklung und die Kontingenz der Gegenwart, wenn er erforscht, welchen Zufäl-
len und Brüchen sich die Konstellation der Moderne verdankt. Mit der Betonung
der Kontingenz ist keineswegs einer Zufälligkeit das Wort geredet, die immun
gegen Erklärung oder Veränderung wäre. Der Diskurs folgt schließlich Regelmä-
ßigkeiten, die zu analysieren gerade der Anspruch der Archäologie ist. Allerdings
sind es keine abstrakten und überzeitlichen Regeln, die sich dem konkreten Dis-

229 Vgl. AW, S. 258ff.


230 AW, S. 260.
231 OD, S. 437.
232 OD, S. 438.
233 OD, S. 437.
66

kurs aufprägen und ihn von außen determinieren, sondern sie sind genau so histo-
risch wie die Menschen, die zwar ihre Geschichte selbst machen, denen sie aber
in entfremdeter Gestalt als undurchschaubare und ewige Gewalt der Verhältnisse
gegenübertritt. Foucaults Kritik an Anthropologismen besitzt also durchaus mate-
rialistische Implikationen: Anstelle einer Erklärung der Geschichte durch den
Menschen oder sein – „abstraktes, außer der Welt hockendes“234 – Wesen widmet
sich Foucault umgekehrt der konkreten Geschichte, Ökonomie, Gesellschaft und
Sprache als den Dingen, die die Menschen zu einer spezifischen Zeit prägen. Aus
diesem Blickwinkel ist es keine Überraschung, wenn er sich explizit in die mate-
rialistische Tradition stellt: „[Die erkenntnistheoretische Veränderung der Ge-
schichte] datiert aber nicht von gestern, da man wahrscheinlich ihren Ursprung
bis auf Marx zurückführen kann.“235

c) Diskurs
Im französischen Sprachraum bezeichnet das vom lateinischen discurrere – hier-
hin und dorthin laufen – abgeleitete discours eine Rede von unbestimmter Aus-
dehnung.236 Von ähnlich allgemeinem Charakter ist auch die deutsche Adaption
des Begriffs Diskurs, der im Grunde jede geordnete Rede, ungeachtet ihres Kon-
texts, bezeichnen kann.237 Der Foucaultsche Diskursbegriff ist wesentlich spezifi-
scher, denn er umfasst nicht jegliche individuelle Sprachverwendung oder unbe-
stimmte Äußerungen des Alltags, sondern nur in diskursiven Formationen institu-
tionalisierte seriöse Sprechakte, für die eine Anzahl von Voraussetzungen erfüllt
sein müssen. Die Sprechakte eines Diskurses bilden gerade einen vom Hinter-
grund des Alltags losgelösten, autonomen Bereich von Aussagen, in dem diese
nach bestimmten Formationsregeln auftreten und miteinander kommunizieren.
Eine diskursive Formation ist eine Art Verbreitungs- und Verteilungsprinzip für
Aussagen, „indem sie bestimmt, in welcher regelmäßigen Beziehung eine Menge

234 MEW 1, S. 378.


235 AW, S. 22.
236 Vgl. Manfred Frank: Das Sagbare und das Unsagbare, Frankfurt a.M. 1989, S. 408f.
237 Vgl. Hannelore Bublitz: Diskurs, Bielefeld 2003, S. 5.
67

von Aussagen stehen (sic), wann letztere in welcher Form in Erscheinung treten
können, und in welcher Position was gesagt werden kann.“238 Mit dem qualifizier-
ten Begriff der Aussage ausgerüstet kann Foucault Diskurs bündig als „Gesamt-
heit aller effektiven Aussagen“ definieren; sein Projekt ist mithin „das Vorhaben
einer reinen Beschreibung der diskursiven Ereignisse“.239
Es wäre allerdings verfehlt, in dem Verhältnis von Aussage und Diskurs ei-
nen Kantischen Dualismus zu sehen, in dem der Diskurs das transzendentale
Formgerüst von Regeln bereitstellt, das von dem empirischen Inhalt der Aussagen
gefüllt werden muss. Foucault zielt auf eine holistische Korrelation ab, in der sich
die Unterschiede der beiden oppositionellen Begriffe tendenziell verflüchtigen.
Die Aussage ist kein Atom des Diskurses, kein „letztes, unzerlegbares Element,
das in sich selbst isoliert werden kann und in ein Spiel von Beziehungen mit an-
deren ihm ähnlichen Elementen eintreten kann.“240 Als seltsam charakterloses,
residuales Element entzieht sie sich der Definition. Sogar ihre Isolierung bereitet
Schwierigkeiten241, denn wäre sie als Basiselement identifizierbar, so reduzierte
sich der Diskurs auf eine additive Ansammlung von Aussagen, die ihm in wie
auch immer gearteter Weise vorausgingen. Foucault postuliert jedoch gerade kein
logisches Prius der Aussage gegenüber dem Diskurs, sondern entwirft ein wech-
selseitiges Bedingungs- und Koexistenzverhältnis.242 Die Aussage ist weniger
Element als Funktion,243 deren Parameter durch ein Netz von Beziehungen defi-
niert werden: zu einem Objektfeld, zum Subjekt sowie zu anderen Aussagen. Eine
letzte Eigenschaft ist die der Materialität, denn ihr konkretes Erscheinen in Raum
und Zeit stattet die Aussage mit einem gewissen Minimum an physischer Existenz
aus. Dass Foucault eine eindeutig gerichtete Determination vermeiden möchte,
zeigt sich ebenfalls an der methodologischen Kreisbewegung, die die Archäologie

238Susanne Krasmann: Simultaneität von Körper und Sprache bei Michel Foucault, in: Leviathan
23 (1995), S. 240-262, S. 241.
239 AW, S. 41.
240 AW, S. 116.
241 Vgl. AW, S. 123.
242Susanne Krasmann bezeichnet diese Figur, die sie an zahlreichen weiteren Stellen des Fou-
caultschen Werks wiederentdeckt, als Simultaneität. Vgl. Krasmann: a.a.O.
243 Vgl. AW, S. 128-154.
68

von der Darstellung der diskursiven Formationen zur Aussagenanalyse und


schließlich zurück zum Diskurs führt. Sie beschreibt weniger ein Bedingungsver-
hältnis als vielmehr eine korrelative Strukturähnlichkeit: „Ich leite die Analyse
der diskursiven Formationen nicht von einer Definition der Aussagen ab, die als
Grundlage gelte. Ich leite die Natur der Aussagen auch nicht davon ab, was die
diskursiven Formationen sind.“244 Diese führen nicht als Regeln eine eigene Exis-
tenz in einem von der raumzeitlichen Welt der Aussagen getrennten abstrakten
Raum der Idealität, sondern sie sind ohne Überschuss die Gesamtheit der zu ihnen
gehörigen Aussagen: Die „Regelmäßigkeit der Aussagen [wird] durch die diskur-
sive Formation selbst definiert. Ihre Zugehörigkeit und ihr Gesetz bilden ein und
dieselbe Sache.“245 Es ist nur auf den ersten Blick paradox, wenn Foucault be-
merkt, die Aussage sei „gleichzeitig nicht sichtbar und nicht verborgen.“246 Sie ist
nicht sichtbar, da sie nicht als einzelnes Element isolierbar ist; nicht verborgen, da
sich in ihr kein heimlicher Sinn versteckt, der durch sie hindurch zum Vorschein
käme, sie mithin zum Epiphänomen eines tieferliegenden Ereignisses degradierte.
Es gibt nichts außer der Oberfläche ihres materiellen Erscheinens; sie muss also
„auf der Ebene ihrer Existenz analysiert“247 werden.
Genauer betrachtet ist allerdings die Parallelisierung mit methodischen
Mängeln behaftet und lässt sich nicht durchhalten, ohne eine gewisse Trennung
zwischen der Aussagenanalyse und der Analyse der diskursiven Formationen vor-
zunehmen. Durch die Zulassung der Unterscheidung droht Foucaults Projekt al-
lerdings erneut in die Falle des von ihm kritisierten transzendentalphilosophischen
Dualismus zu tappen: So interpretiert übernimmt innerhalb der Zweiteilung die
Aussagenanalyse die Rolle einer methodischen Vorbereitung und somit wiederum
eine konstruktive Funktion für die folgende Diskursanalyse. Ein recht offensicht-
licher Beleg ist die häufige Anführung von Beispielen in der Aussagenanalyse –
anscheinend können sie sehr wohl außerhalb ihres diskursiven Kontexts zitiert
werden, um als beliebige Illustrationen eines allgemeinen Gesetzes zu fungieren.

244 AW, S. 166.


245 AW, S. 170.
246 AW, S. 158.
247 AW, S. 159.
69

Nicht nur Aussagen, sondern auch Gegenstandsbereiche, ja sogar das Indi-


viduum und seine Erkenntnis stehen mit dem Diskurs in einer Wechselbeziehung
und werden eher durch ihn hervorgebracht, als dass sie sich in ihm ausdrücken.
Foucault betont die Produktivität des Diskurses, die Tatsache, dass er seine Ge-
ge stände selbst bildet, „die Möglichkeit [besitzt], seinen Bereich abzugrenzen,
das zu definieren, worüber er spricht, ihm den Objektstatus zu geben – es also er-
scheinen zu lassen, es nennbar und beschreibbar zu machen.“248 Gegenstände
existieren unter sie konstituierenden Bedingungen, werden ermöglicht, nicht ent-
deckt, sind kein Ansich jenseits des Diskurses.249 Resultat dieser starken These ist
die berühmte Definition, „Diskurse [...] als Praktiken zu behandeln, die systema-
tisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“250 Foucault hat sie in die-
ser Form nicht durchgehalten, sondern zu einer differenzierteren Figur der Simul-
taneität modifiziert. Obwohl sich gerade die Produktivität zu einem Schlagwort
der Foucault-Rezeption entwickelt hat, ist damit keine einseitige Ableitung ge-
meint. Der konstituierende Diskurs taucht gleichzeitig mit seinen Gegenständen
auf und ist weder eine bloße Widerspiegelung vorgängiger Objekte noch eine die-
sen pr existente Hülle, die auch ohne Inhalte besteht und auf ihre Verwirklichung
wartet.
Aussage und Diskurs, aber auch die beide bestimmenden Prinzipien und
Regeln befinden sich auf einer Ebene. Weil er sie in die Immanenz des Diskurses
bannt, kann Foucault den Problemen eines Kantischen Dualismus wie auch der
Gefahr des unendlichen Regresses elegant aus dem Weg gehen, welche stehts
droht, wenn zur Erklärung von Phänomenen eine Regel vorgebracht wird, deren
Existenz sich wiederum einer Metaregel verdanken muss – ein ins Leere laufen-
der Prozess. In der Archäologie gibt es hingegen keine eigenständige Regelebene,
sondern lediglich interne faktische Regelmäßigkeiten, die keine präskriptive Kraft
besitzen: „Die Formationsregeln sind Existenzbedingungen,“251 keine Möglich-
keitsbedingungen, die getrennt von ihrer Realisierung existieren könnten. Zumin-

248 AW, S. 63.


249 Vgl. AW, S. 68.
250 AW, S. 74.
251 AW, S. 58.
70

ä­

dest in diesem Punkt kann sich Foucault mit Recht „glücklicher Positivist“252
nennen, dem es nicht um Erklärungen, sondern um die „reine[] Beschreibung der
diskursiven Ereignisse“253 geht.
Weil die Regeln des Diskurses keine formalen Bedingungen sind, sondern
nur die Weisen, in denen Aussagen tatsächlich in Erscheinung treten, ist das Fou-
caultsche historische Apriori kein transzendentales. Prägnant benennt er den Ge-
gensatz zur strukturalen Linguistik: „Die von der Sprachanalyse hinsichtlich eines
beliebigen diskursiven Faktums gestellte Frage ist stets: gemäß welchen Regeln
ist eine bestimmte Aussage konstruiert worden und folglich gemäß welchen Re-
geln könnten andere ähnliche Aussagen konstruiert werden?“254 Ihr geht es also
um das Auffinden eines Regelsystems, einer Mustersammlung, die Bedingungen
für weitere Anwendungen festlegt. „Das Feld der diskursiven Ereignisse dagegen
ist die stets endliche und zur Zeit begrenzte Menge von allein den linguistischen
Sequenzen, die formuliert worden sind“.255 Nicht die möglichen, sondern die tat-
sächlichen Aussagen sind von Interesse, so dass der Diskurs ein Gebiet besetzt,
das zwischen Struktur und Ereignis angesiedelt ist. Er bildet eine eigenständige
soziale Realität, wird reguliert durch interne Formen der Verkettung und histori-
schen Abfolge, ist insofern autonom.
Was genau ist mit der Rede von der Autonomie des Diskurses gemeint?
Zwar räumt Foucault ein, „daß das historische Auftauchen einer jeden Humanwis-
senschaft sich anläßlich eines Problems, einer Forderung, eines Hindernisses
theoretischer oder praktischer Ordnung vollzogen hat.“ Allerdings waren diese
externen Faktoren eben nur begünstigender Anlass, nicht Bestimmungsgrund der
Entstehung der Humanwissenschaften – sie ist letztlich „ein Ereignis innerhalb

252 AW,S. 182. Foucault kokettiert mit diesem Etikett, um seine eigene Position durch zuspitzende
Übertreibung schärfer gegen verwandte kontrastieren zu können. Es dürfte ihm klar sein, dass sei-
ne Diskursanalyse mit dem logischen Positivismus wenig gemein hat.
253 AW, S. 41.
254 AW, S. 42.
255 Ebd., eigene Hervorhebung.

OD, S. 414.
71

der Ordnung des Wissens“256 Foucault vertritt die starke These, dass sich die
Umwälzung, die zur Herausbildung der modernen Wissenschaften führte, allein
als interner Prozess einer „allgemeinen Neuverteilung der Episteme“257 analysie-
ren lässt. Die Autonomie, die den Diskurs als eigenständiges System charakteri-
siert, welches immanenten Regeln folgt, findet sich jedoch nicht lediglich an hi-
storischen Schwellensituationen, sondern macht sich ebenso auf der synchronen
Ebene seines gewöhnlichen Wirkens geltend. Zwar stehen die Diskurse in einem
gesellschaftlichen Kontext, in welchem sie permanent von ökonomischen, techni-
schen und politischen Ereignissen Impulse aufnehmen und verarbeiten. Foucault
unterscheidet diese Ereignisse als so genannte nichtdiskursive Praktiken gerade
von den auf der Ebene des Diskurses wirkenden diskursiven Praktiken. Allerdings
sieht er auch die nichtdiskursiven Praktiken nicht als Außen des Diskurses, denn
sie unterhalten eine Beziehung zu ihm und sind so in ihn eingebunden: „Es sind
keine störenden Elemente, die, indem sie sich seiner reinen, neutralen, zeitlosen
und stummen Form überlagern, sie zurückdrängten und an seiner Stelle einen
verkleideten Diskurs sprechen ließen, sondern es sind durchaus bildende Elemen-
te.“258 Sie werden vom Diskurs aufgenommen und zu seinen inneren Elementen
transformiert, so dass Foucault behaupten kann, dass „dieses Prädiskursive noch
zum Diskursiven gehört [...] Man bleibt in der Dimension des Diskurses.“259 Die
hermetische Abschottung des Diskurses dient vorrangig einem epistemologischen
Motiv. Foucault begreift die Wissenschaften als regelgeleitetes System, das weder
einer Teleologie der Vernunft noch dem äußeren Einfluss eines stiftenden Sub-
jekts unterworfen ist, sondern aus sich heraus Sinn und Bedeutung generiert. So
verlegt er selbst die erfahrungskonstitutive Funktion, die in früheren Werken noch
einem Komplex unterschiedlichster – auch gesellschaftlicher – Momente zukam,
in den Diskurs.

256Ebd. Foucault nennt die neuen Normen der Industriegesellschaft sowie die im Gefolge der
französischen Revolution enstandenen sozialen Verwerfungen als Beispiele solcher externer Fak-
toren.
257 Ebd.
258 AW, S. 100.
259 AW, S. 112.
72

Die Hypothese einer diskursiven Autonomie lässt sich als Extrempol inner-
halb der Foucaultschen Werkentwicklung interpretieren260: Während sich Wahn-
sinn und Gesellschaft noch um gesellschaftliche Praktiken dreht, verlagert sich in
der archäologischen Periode der Schwerpunkt auf sprachliche Praktiken, um in
der letztlich schwer zu plausibilisierenden Vermutung zu münden, dass der Dis-
kurs auch die ihn umgebenden gesellschaftlichen Praktiken und Institutionen or-
ganisiert, dass also das Aussagensystem selbst seinen relevanten Hintergrund de-
finiert.261 Die These, dass der Diskurs zwar abhängig sei, aber noch die Bedin-
gungen seiner Abhängigkeit diktiere, bezeichnen Dreyfus und Rabinow als „Illu-
sion des autonomen Diskurses“262. Foucault rückt von der starken Autonomiebe-
hauptung auch bald darauf ab und unterstreicht im Gegenteil, dass diskursive
Praktiken in gesellschaftliche Praktiken eingebettet sind und von diesen beein-
flusst werden. In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France, Die Ordnung des
Diskurses aus dem Jahre 1970, welche die genealogische Phase einläutet, werden
Diskurse bereits durch Ausschlussmechanismen der Gesellschaft kontrolliert, ein-
geschränkt und gebändigt. In der Archäologie steht demgegenüber die Produktivi-
tät im Vordergrund: Falls eine Knappheit oder Lückenhaftigkeit des Diskurses
vorliegt, wird sie nicht auf Ausschluss oder Repression, sondern auf eine interne
Regulierung zurückgeführt.263 Mit der Wendung zur Genealogie kann die theore-
tische Unzulänglichkeit einer rigiden Diskursautonomie zurückgelassen und das
kontrollierende Prinzip konkret benannt werden: Es ist die Macht.264 In Macht-
Wissen-Komplexen, so genannten Dispositiven, die im Grunde erweiterte Epis-

260Der reaktive Charakter der Ordnung der Dinge und der Archäologie des Wissens sollte nicht
außer Acht gelassen werden. Angesichts der weitschweifigen Polemiken gegen hermeneutische,
phänomenologische und subjektphilosophische Ansätze stellt sich bisweilen der Verdacht ein,
Foucault sei sich über das Abzulehnende mehr im klaren als über den positiven Gehalt der eigenen
Theorie und werde zu manchen extremen Konsequenzen aus negatorischem Übereifer verleitet.
Deutlich wird das an der geradezu trotzigen Selbstdarstellung als Positivist, an dem Beharren dar-
auf, den Diskurs als Erscheinungsebene und Oberfläche zu analysieren, hinter der sich nichts zu
Enträtselndes verbirgt – oder eben auch an der Behauptung der diskursiven Autonomie.
261 Vgl. AW, S. 80.
262 Dreyfus, Hubert und Rabinow, Paul: a.a.O., S. 25-127.
263 Vgl. AW, S. 174.

Vgl. OdD, S. 15. Entfaltet wird der Machtbegriff allerdings erst in dem Aufsatz Nietzsche, die
264
Genealogie, die Historie (NI) sowie in den Werken Überwachen und Strafen (ÜS) und Der Wille
zum Wissen (SW).
73

teme sind, sind diskursive und nicht-diskursive Praktiken miteinander verklam-


mert. Ein Dispositiv ist, so Foucault,
„ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale
Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnah-
men, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philantropische
Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt [...] Das Dispositiv
selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“265
Genealogie und Machtbegriff sollen hier nicht weiter thematisiert werden, aller-
dings bleibt festzustellen, dass ein Teil der erfahrungs- und gegenstandskonstituti-
ven Kraft von der diskursiven wieder an die gesellschaftliche Ebene abgetreten
wird.

d) Historisches Apriori
Die Vorstellung eines historisierten Apriori ist bereits in Foucaults frühen Werken
präsent. Jürgen Habermas weist darauf hin, dass in der Geburt der Klinik dem
Blick des Anatomen die Rolle eines konkreten Apriori für die Humanwissenschaf-
ten innewohnt.266 Unklar scheint allerdings der methodische Stellenwert der wäh-
rend der Archäologie an prominenter Stelle auftauchenden Begriffsschöpfung.
Während Ian Hacking in dem Begriff einen ironischen Umgang mit dem Kanti-
schen Erbe vermutet,267 interpretiert Gérard Lebrun ihn als Residuum des Einflus-
ses, den die Husserlsche transzendentale Phänomenologie auf den jungen Fou-
cault besaß.268 Thomas Flynn konstatiert ein „paradoxes Oszillieren zwischen Re-
lativismus und Objektivität“269, und für Ulrich Thomas Schneider besitzt er gar
eine „prinzipielle Unschärfe“, kommt also einer „methodologische[n] Auskunfts-
verweigerung“270 Foucaults gleich.

265 Michel Foucault: Dispositive der Macht, Berlin 1978 (1976-1977), S. 119f. Im Folgenden: DM.
266 Vgl. Habermas: a.a.O., S. 289.
267 Vgl. Hacking: The Archaeology of Foucault, a.a.O., S. 32f.

Vgl. Gérard Lebrun: Zur Phänomenologie in der Ordnung der Dinge, in: Francois Ewald und
268
Bernhard Waldenfels: Spiele der Wahrheit, Frankfurt a.M. 1991, S. 15-38, S. 33.
269 Thomas Flynn: a.a.O., S. 29.
270Ulrich Johannes Schneider: Wissensgeschichte, nicht Wissenschaftsgeschichte, in: Axel Hon-
neth und Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt a.M.
2003, S. 220-229, S. 224.
74

Die heftige Reaktion der Kommentatoren zeigt, dass selbst nach zweihun-
dert Jahren nachkantischer Philosophie die Historisierung des Transzendentalen
immer noch einen Skandal darstellt. Foucault ist sich des nahezu surrealistischen
Schocks, den die direkte Berührung der Gegensätze auslöst, durchaus bewusst
und konzediert einen provokativen Umgang: „Diese beiden Worte nebeneinander
rufen eine etwas schrille Wirkung hervor; ich will damit ein Apriori bezeichnen,
das nicht Gültigkeitsbedingung für Urteile, sondern Realitätsbedingung für Aus-
sagen ist.“271 Obwohl er sich in einer bewussten Wahl für den Begriff des Apriori
entscheidet, macht er gleichzeitig seine Distanz zu Kant deutlich, indem er eben
nicht „Gültigkeitsbedingungen für Urteile“ analysieren will. Bei den Realitätsbe-
dingungen der Archäologie handelt es sich eher um faktische Regelmäßigkeiten
als um präskriptive Regeln. Dem eigenen Anspruch, eine bloße Beschreibung zu
liefern, wird Foucault jedoch nur wenige Zeilen später untreu, wenn er wiederholt
betont, dass das Apriori „die Tatsache erklären können [muss], daß ein bestimm-
ter Diskurs zu einem gegebenen Zeitpunkt diese oder jene formale Struktur auf-
nehmen und anwenden oder im Gegenteil ausschließen, vergessen oder verkennen
kann.“272 An Stellen wie dieser verschafft sich exemplarisch die Schwerkraft des
Begriffs Geltung: Ein Apriori, das nichts erklären könnte und keine Vorschriften
lieferte, könnte kaum ein solches genannt werden. So widerlegt das Apriori, gänz-
lich immun gegen möglicherweise beabsichtigte Ironie273, zumindest in Teilen
den vorher vertretenen bescheidenen Anspruch einer rein positivistischen Be-
schreibung.
Die Historisierung, die für die zitierten Kritiker Foucaults die eigentliche
Provokation darstellt, deutet sich bereits bei der Beschreibung der diskursiven
Formationen an: „Eine diskursive Formation spielt also nicht die Rolle einer Fi-
gur, die die Zeit anhält und für Jahrzehnte oder Jahrhunderte einfriert [...] Sie ist
nicht zeitlose Form“.274 Zwar erscheint es nicht unmittelbar einsichtig, warum die

271 AW, S. 184.


272 AW, S. 185, Hervorhebung M.J.
273Es ist ohnehin anzuzweifeln, dass Foucault eine derart zentrale Kategorie seiner Archäologie
lediglich in ironischer Absicht aufruft.
274 AW, S. 109.
75

diskursive Formation, also das Verteilungsprinzip für Aussagen, von der gleichen
Historizität gezeichnet sein soll wie die Aussagen selbst. Trägt man allerdings
dem holistischen Diskursbegriff Foucaults Rechnung, nach dem die diskursive
Formation keinen Überschuss gegenüber der geordneten Gesamtheit der zu ihr
gehörigen Aussagen besitzt, so wird klar, warum die Geschichtlichkeit auch auf
die Formationsebene durchschlägt. Anders ist es im Falle des Apriori, das zumin-
dest dem ursprünglichen Sinn des Begriffs nach eine kategoriale Differenz zum
sinnlichen Sein aufweist und ein tieferliegenderes Strukturprinzip bezeichnet, das
insbesondere vor der historischen Faktizität der Aussagenmengen, für Kant sogar
vor jeglicher Erfahrung wirkt. Dieses Erbes ist sich Foucault bewusst; schließlich
integriert er den Begriff nicht lediglich als ironischen Lückenbüßer in seine Theo-
rie, sondern weil er sich mit Kant einig weiß, was die erfahrungs- und gegen-
standskonstitutive Funktion des Apriori angeht. Abgelehnt wird allerdings die
transzendentale Überforderung: Foucault geht es nicht um die Bedingungen jeder
möglichen Erfahrung, sondern einer bestimmten, historisch gegebenen Erfahrung.
So ist es gerade die besondere Pointe der Archäologie, auch auf der konstitutiven
Ebene eine Geschichtlichkeit zu entdecken:
„Darüber hinaus entgeht dieses Apriori nicht der Historizität: es konstituiert nicht
über den Ereignissen und in einem Himmel, der unbeweglich bliebe, ein zeitlose
Struktur; es definiert sich als die Gesamtheit der Regeln, die eine diskursive Praxis
charakterisieren: nun erlegen sich diese Regeln den Elementen, die sie in Beziehung
setzen, nicht von außen auf; sie sind genau in das einbezogen, was sie verbinden [...]
Das Apriori der Positivitäten ist nicht nur das System einer zeitlichen Streuung; es ist
selbst ein transformierbares Ganzes.“275
Der Holismus umfasst also sogar die fundamentalste Ebene der Diskurstheorie,
auf der das Historische als internes Verhältnis in Erscheinung tritt. Weder ist das
Apriori eine ahistorische Anschauungsform, die lediglich die konkrete Zeit kon-
stituiert. Ebensowenig ist die Zeitlichkeit ein kontingentes Attribut, das der idea-
len Form anhaftet; das historische Apriori ist kein „formales Apriori [...], das dar-
überhinaus mit einer Geschichte versehen wäre“276, sondern die Zeitlichkeit ist
dem Apriori immanent. Es ist eine rein empirische Figur. Da die Diskursregeln

275 AW, S. 185.


276 AW, S. 186.
76

sich nicht von außen den Ereignissen auferlegen, sondern sie von innen heraus
bilden, kann das Foucaultsche Apriori keine Struktur bezeichnen, die unterhalb
und getrennt von den Aussagen wirkt. Die Historisierung ist umfassend und tan-
giert gerade auch die Methode, wie Foucault in einer auf Kant Bezug nehmenden
Passage resümiert:
„Das hat offensichtlich zur Konsequenz, daß Kritik nicht länger als Suche nach for-
malen Strukturen mit universaler Geltung geübt wird, sondern eher als historische
Untersuchung der Ereignisse, die uns dazu geführt haben, uns als Subjekte dessen,
was wir tun, denken und sagen zu konstituieren und anzuerkennen. In diesem Sinne
ist die Kritik nicht transzendental, und ihr Ziel ist nicht die Ermöglichung einer Me-
taphysik: sie ist in ihrer Absicht genealogisch und in ihrer Methode
archäologisch.“277

e) Eine soziologische Theorie der Erkennntnis?


Eine wesentliche Differenz zu Kant liegt neben der Historisierung in den gänzlich
verschiedenen Forschungsinhalten und -zielen Foucaults, welche kaum etwas mit
dem erkenntnistheoretischen Programm einer Begründung von Objektivität durch
Rekurs auf Subjektivität gemein haben. Die Foucaultschen Erkenntnisbedingun-
gen sind daher von vornherein gar nicht in der Sphäre des Subjekts angesiedelt,
sondern beziehen ihre überindividuelle, dem Einzelnen vorgeordnete und damit
quasi-objektive Qualität daraus, dass sie – wie Sohn-Rethel es nennen würde –
objektive gesellschaftliche Bedingungen sind. Enthält damit aber die Archäologie
nicht dennoch implizit eine revidierte Epistemologie, eine soziologische Theorie
der Erkenntnis? Während viele Kommentatoren in den Kantischen Begrifflichkei-
ten nur eine Polemik gegen traditionelle subjektphilosophische Vorstellungen er-
kennen, ist Ian Hacking durchaus der Meinung, dass sie sich zu einer eigenständi-
gen Theorie zusammenfügen.278 Verortet man Foucault in der geistigen Situation
der Zeit, so erkennt man in der Konjunktur von Phänomenologie und Struktura-
lismus während der frühen sechziger Jahre zwei philosophische Strömungen, die
um die Überwindung der Subjekt-Objekt-Trennung und des Rekurses auf ein be-

277 AU, S. 49.


278Vgl. Hacking: Historical Ontology, a.a.O., S. 88. Richard Rorty hingegen erkennt in der Ar-
chäologie lediglich eine Anti-Epistemologie, vgl. Richard Rorty: Foucault and Epistemology, in:
David Couzens Hoy (Hg.): Foucault. A Critical Reader, Oxford 1986 , S. 41-51.
77

deutungsstiftendes Subjekt bemüht sind. Foucault teilt zwar diese Intentionen,


steht jedoch grundlegenden Prämissen beider Philosophien ablehnend gegenüber,
so dass sich die Diskursanalyse in dieser Perspektive als neues Theorieangebot im
Spannungsfeld von Phänomenologie und Strukturalismus liest, das deren Schwä-
chen zu vermeiden beansprucht.279
Zahlreiche Interpreten Foucaults haben auf die konstruktivistische Methode
der Archäologie hingewiesen280, geht sie doch davon aus, dass die soziale Realität
nicht unabhängig von den sie konstituierenden Mechanismen beschreibbar ist und
die Wahrnehmung stets in Abhängigkeit von B griffssystemen und Konventionen
geschieht. Auf epistemologischem Gebiet ist damit die zusätzliche Forderung
verbunden, das Denken nicht als realistische Erfassung oder gar Widerspiegelung
eines ansichseienden Objekts, sondern als Setzung zu begreifen. Bereits in der
Ordnung der Dinge legt die Prävalenz des Ordnungsbegriff diese Interpretation
nahe. Dort betont Foucault, dass es eine Ordnung gibt, „die die Dinge dem Wis-
sen anbietet“281 Jürgen Habermas tituliert die Diskurstheorie aufgrund der Analo-
gie zur Kantischen Gegenstandskonstitution als „transzendentale[n]
Historismus“282, denn sie postuliert, „daß seinerseits jeder dieser Diskurse seinen
Gege stand konstituiert“ und „systematisch die Gegenstände bildet, von denen er
redet.“283
Ähnlich wie auch Sohn-Rethel entwirft Foucault eine reziproke Genese von Sub-
jekt und Objekt durch die beide umfassende konstitutive Situation der Erfah-
rungsstruktur: In beiden Theorien ist nicht das Subjekt konstitutiv, sondern selbst

279Die Phänomenologie verbleibt für Foucault immer noch im transzendental/empirischen Doppel


der Moderne gefangen, s.u. Obwohl der Strukturalismus der eigenen Diskursanalyse relativ nahe
kommt, gibt es für Foucaults Archäologie keine atomistischen Grundelemente, die sich nach abs-
trakten und ahistorischen Regeln zu sinnvollen Einheiten fügen.
280Etwa Thomas Schäfer: Reflektierte Vernunft, Frankfurt a.M. 1995, S. 89, oder auch Krasmann:
a.a.O.
281 OD, S. 25.
282 Habermas: a.a.O., S. 296.
283 AW, S. 50; AW, S. 74. Dabei lässt Foucault im Unklaren, um welche Art von Gegenstand es
sich handelt. Dass die Aussage für das direkte Themenfeld der Archäologie, die auf komplexe
Weise vermittelten theoretischen Gegenstände wissenschaftlicher Diskurse, Gültigkeit besitzt,
dürfte einleuchten. Für eine Erkenntnistheorie interessanter wäre die Frage, ob die Konstitutions-
these auch auf die unmittelbaren Gegenstände der alltäglichen Lebenswelt ausgeweitet werden
kann. Allerdings sollte sie nicht als ontologische Aussage mißverstanden werden, denn was sozial
produziert wird, ist nicht die Materialität, sondern die Intelligibilität der Gegenstände.
78



konstituiert. Als Äußerungsmodalität des Diskurses erscheint die Subjektposition
zusammen mit dem Gegenstand; die Frage „Wer spricht?“ wäre sinnlos ohne ein
Thematisiertes, über das gesprochen wird. Subjektivität ist eine Funktion inner-
halb des Diskurses, nicht eine diesem vorgängige stiftende Synthesis. „Man wird
also darauf verzichten, im Diskurs ein Phänomen des Ausdrucks zu sehen – die
wörtliche Übersetzung einer woanders vorgenommenen Synthese; man wird darin
eher ein Feld von Regelmäßigkeit für verschiedene Positionen der Subjektivität
sehen.“284 Am Beispiel der wissenschaftlichen Erkenntnisbildung ist das offen-
sichtlich, denn der Diskurs schafft nicht nur den Gegenstand, sondern ebenso den
dazugehörigen Sozialtypus des Wissenschaftlers – also das Erkenntnissubjekt –,
indem er etwa die Zugangsbedingungen für seriöses Sprechen festlegt.
Mit der Historisierung von Bedeutung und Wahrheit droht zwangsläufig die
Gefahr des Relativismus. Allerdings laufen die Vorwürfe von Kritikern, die Fou-
cault mit dem Standardargument gegen relativistische Philosophien, er entziehe
sich selbst das Fundament, von dem aus er seine Kritik vorbringe, eines Wider-
spruch überführen wollen, ins Leere. Dass Foucault seinen eigenen Standpunkt
bewusst in der Schwebe lässt, sich gewissermaßen auf der Grenze des Diskurses
aufhält, zeigt, dass er die Vorstellung eines festen Fundaments ablehnt, von dem
aus sich streng deduktiv eine Theorie aufbauen ließe.285 Die Gefahr des Wider-
spruchs müsste ihn nur beunruhigen, wenn er selbst einen uneingestandenen ahi-
storischen Bezugspunkt für seine Kritik hätte, den er an die Phänomene legt. Da
er an einer logischen Theorie der Wahrheit überhaupt nicht interessiert ist, son-
dern die empirische und soziale Herstellung von Bedeutung erforscht, folgt aus
der Ablehnung eines ahistorischen Wahrheitsbegriffs auch nicht im Umkehr-
schluss, dass Wahrheit pauschal als Illusion oder Betrug enthüllt ist. Diskurse ent-
halten durchaus ihre eigenen Kriterien von Wahrheit, welche allerdings lokal gül-
tig und auf die jeweilige Episteme beschränkt sind. Wie in Sohn-Rethels Theorie
geschieht eine Verkehrung: Die Geltungskriterien geben sich den Schein der Ur-

284 AW, S. 82.


285„Denn im Augenblick und ohne daß ich ein Ende absehen könnte, meidet mein Diskurs – weit
davon entfernt, den Ort zu bestimmen, von dem aus er spricht – den Boden, auf den er sich stützen
könnte.“ AW, S. 293.
79

sprungslosigkeit und streifen alles Genetische von sich ab; insbesondere ihre Her-
kunft aus diskurskonstitutiven Regeln.
Die Analogie zu dem Sohn-Rethelschen Ideologiebegriff drängt sich hier
förmlich auf. Zwar würde Foucault sich gegen diese Zuschreibung wehren, was
aber zu einem nicht unbeträchtlichen Teil daran liegt, dass er eine verkürzte Vor-
stellung von Ideologie als „Meinungen, [...] Schimären“286 besitzt. Die Themen
Foucaults wie etwa Wahnsinn, Sexualität oder auch Wahrheit sind keine bloßen
Vorurteile, die sich nach ihrer Decouvrierung verflüchtigen und den Weg zu ei-
nem richtigen Bewusstsein freigeben. Die gesellschaftliche Notwendigkeit des
falschen Bewusstseins bedingt die Tatsache, dass es auch für den Theoretiker, der
ebenfalls in die gesellschaftlichen Diskurse und Machtkomplexe eingebunden
ist287, keinen Zugang zu einem richtigen Bewusstsein gibt. Kantisch formuliert
gibt es für Foucault keine Trennung eines Dings an sich vom Diskurs, weder als
Denknotwendigkeit, noch als regulative Idee, noch als ephemeres Residuum eines
Nichtidentischen. Aus der begründeten Furcht vor der Postulierung eines univer-
sellen externen Standpunkts, von dem aus etwa die kommunistischen Strömungen
seiner Zeit gleichermaßen souverän und prätentiös die Gesellschaft denunzierten,
eliminiert Foucault en passant alles Nichtidentische, das als utopische Spur über
die Hermetik des Status Quo, wie er sich im Diskurs manifestiert, hinausweisen
könnte.
Andererseits kann Foucault gegenüber Kant ein höheres Maß an Konse-
quenz attestiert werden, löst er doch das mit dessen Dualismus verbundene Pro-
blem, dass das Ansich zwar außerhalb eines theoretischen Zugriffs gesetzt wird,
aber dennoch mit den Erscheinungen verbunden ist und ihnen letzen Endes zu-
grunde liegt.288 Diese Inkonsequenz wurde bereits von Hegel kritisiert und hand-

286 OD, S. 437.


287 Dies trifft zumindest für den Foucault der Genealogie zu. In der Archäologie versucht er noch,
durch die Reduktion von Wahrheit und Bedeutung eine Außenperspektive zu gewinnen, von der
aus er die Diskurse in den Blick nehmen kann. Diese Strategie ist jedoch ambivalent, denn er muss
gleichzeitig den Sinn einklammern, den er andererseits auch verstehen möchte. Vgl. auch Michel
Foucault: Das Denken des Außen, in: Schriften in vier Bänden. Band 1, Frankfurt a.M. 2001 (Dits
et écrits 1, Paris 1994), S. 670-697. Im Folgenden: DA.
288So spricht Kant von „dem Dinge an sich selbst, das diesen Erscheinungen zum Grunde liegen
mag“ und nennt an anderer Stelle das Ding an sich „wahres Korrelatum“ der Erscheinungen. KrV,
B 66 sowie B 45.
80

streichartig beseitigt.289 So findet sich hier der Punkt der weitesten Entfernung
von Kant und seiner Intention einer Rettung der Metaphysik, welche ihm nur um
den Preis einer Bescheidung der menschlichen Erkenntnisbestrebungen möglich
schien. Während Sohn-Rethel die Intention als utopisches Bedürfnis innerviert
und daher um eine dialektische Austragung der Kantischen Aporien bemüht ist,
gerät Foucaults Überreaktion zum Sprung aus dem Erkenntnisproblem und so in
die Nähe eines Diskursidealismus.290 Allerdings sei einschränkend bemerkt, dass
die Archäologie in dieser Hinsicht eine extreme Position innerhalb der Foucault-
schen Entwicklung darstellt und selbst zu dieser Zeit kein Monismus des Diskur-
ses vertreten wird. Der Diskurs besitzt für Foucault lediglich eine spezifische
Qualität und ist isoliert analysierbar, obwohl er von nichtdiskursiven Praktiken
umgeben und abhängig ist. Während später ein explizit weiter gefasster Diskurs-
begriff zur Anwendung kommt, weisen bereits in der Archäologie die Materialität
der Aussage und der Begriff der diskursiven Praktiken darauf hin, dass der Dis-
kurs nicht rein sprachlich ist, sondern als Ereignis ebenfalls eine materielle Quali-
tät besitzt.

f) Die Analytik der Endlichkeit


Mit Kant setzt für Foucault der Beginn der Moderne und ihrer Probleme ein. Die
Metaphysik stellt nun nicht länger Korrespondenz zwischen Sprache und Welt
her, stattdessen wird die Endlichkeit des Menschen in eine Positivität verwandelt,
die als Grundlage des faktischen Wissens fungiert. Seit der Aufklärung beginnt
der Mensch, sich als empirisches Subjekt wahrzunehmen, das einerseits souverän
und autonom eine Erkenntnis der Welt leistet und gleichzeitig diese Erkenntnis
auch auf sich selbst, den Menschen bezieht, der so zum Objekt der Erkenntnis
wird. Die Selbstreflexion, die notwendigerweise auch eine Reflexion der eigenen

289„Statt mit dergleichen unnützen Vorstellungen und Redensarten von dem Erkennen als einem
Werkzeuge, des Absoluten habhaft zu werden, [...] sich herumzuplacken, könnten sie als zufällige
und willkürliche Vorstellungen geradezu verworfen und der damit verbundene Gebrauch von Wor-
ten wie dem Absoluten, dem Erkennen, auch dem Objektiven und Subjektiven und unzähligen
anderen [...] sogar als Betrug angesehen werden.“ Hegel: a.a.O., S. 70f.
290So bemerkt Foucault sogar über die nichtdiskursiven Beziehungen: „Sie sind nicht von Natur
aus dem Diskurs fremd. Man kann sie als ‚prädiskursive’ qualifizieren, unter der Bedingung je-
doch, daß man zugibt, daß dieses Prädiskursive noch zum Diskursiven gehört.“ AW, S. 112.
81

Endlichkeit ist, wird zum Fundament aller Gewissheiten. Bei Kant gibt es inso-
fern eine Analytik der Grenze, als gerade die Beschränkung einer ins Unendliche
fortschreitenden Erkenntnis deren Objektivität ermöglicht.
Diese Konfiguration der Moderne ist allerdings mit Problemen behaftet. Kants
Analytik basierte noch auf einem Dualismus von Form und Inhalt, der in der
Nachfolge aufgeweicht wurde. Auch die Form sollte empirischen Einflüssen un-
terliegen, und das Transzendentale wurde auf die Natur des Menschen oder die
Historie gegründet. Foucault kritisiert gerade die Überwindung der Spaltung, die
sich für ihn bereits in der Kantischen Anthropologie in der Frage „Was ist der
Mensch?“ andeutet. Sie „nimmt unter der Hand und im Voraus die Vermengung
des Empirischen und Transzendentalen vor, deren Teilung Kant indessen gezeigt
hatte.“291 Die Wissenschaft der Anthropologie ist fortan von der Suche nach ei-
nem konkreten Apriori beherrscht, das aber aufgrund der internen Spannung not-
wendig instabil und oszillierend ist.292 So benennt Das Empirische und das Tran-
szendentale jenes Oszillieren zwischen der faktischen und der Begründungsebene,
zu dem der Mensch aufgrund der Analytik der Endlichkeit gezwungen ist. Hier
geht es um die Begründung der Möglichkeit von Erkenntnis und das Paradox,
dass sich gerade die empirische Natur des Menschen zur begründenden Transzen-
dentalität aufschwingen muss. Es handelt es sich also darum, „die Bedingungen
der Erkenntnis ausgehend von den empirischen, in ihr gegebenen Inhalten an den
Tag zu bringen.“293 In zirkulärer Weise ist die gründende Macht des Menschen
zugleich Resultat und Prämisse. Was oben als erkenntnistheoretische Aporie be-
zeichnet wurde, stellt für Foucault ein generelles Signum der Moderne dar, das er
in das Bild der „empirisch-transzendentalen Dublette“294, des Menschen, fasst.
Obwohl er dieses Ergebnis aus einer Analyse der Humanwissenschaften gewinnt,
ist auch sämtliche moderne philosophische Thematisierung des Menschen davon
betroffen. Hier bedient sich Foucault eines nahezu Sohn-Rethelschen Arguments:
Die Denkform der Subjektphilosophie entspringt gewissermaßen einer Reala s-

291 OD, S. 410.


292 OD, S. 405.
293 OD, S. 385.
294 OD, S. 384.
82


traktion, nämlich der Praxis der Humanwissenschaften. Foucaults Anspruch, mit
seiner eigenen Methodik dem Problem der empirisch-transzendentalen Oszillation
entgehen zu können, ist insofern im Kontext seiner Hoffnung zu sehen, den Men-
schen – also das anthropologische Denken – hinter sich zu lassen.295

g) Folgen und Probleme


Die Betonung der Synchronie gegenüber der Diachronie hat die Diskursanalyse
von der Statik des Strukturalismus geerbt: „Als Synchronie der Positivitäten, Au-
genblicklichkeit der Substitutionen, wird die Zeit umgangen, und mit ihr ver-
schwindet die Möglichkeit einer historischen Beschreibung“296 – ein Vorwurf, der
Foucault von Sartre gemacht wurde.297 Obwohl Foucault dagegen einwendet, die
von der Archäologie thematisierten Transformationen entgingen der Dichotomie
von Gleichzeitigkeit und linearer Abfolge, hat er sich in dieser Werkperiode hin-
sichtlich der Frage historischer Transformationen in ein Dilemma manövriert. In-
sofern ist Manfred Franks Kritik zutreffend, welche die Archäologie mit einem
Theaterstück vergleicht, in dem zwischen zwei Epochen der historische Vorhang
niedergeht und der nächste Akt als Tabula rasa beginnt.298 Aufgrund der fehlenden
Erklärung des Übergangs scheint es, als folgten zwei Episteme jäh und unvermit-
telt aufeinander und seien ohne jegliche Gemeinsamkeit. Die Diskontinuität wird
von Foucault in besonderer Weise betont, weil er auf totalisierende Allgemeinbe-
griffe verzichten möchte:
„Die kontinuierliche Geschichte ist das unerläßliche Korrelat für die Stifterfunktion
des Subjekts [...] Aus der historischen Analyse den Diskurs des Kontinuierlichen
machen und aus dem menschlichen Bewußtsein das ursprüngliche Subjekt allen
Werdens und jeder Anwendung machen, das sind die beiden Gesichter ein und des-
selben Denksystems. Die Zeit wird darin in Termini der Totalisierung begriffen, und
die Revolutionen sind darin stets nur Bewußtwerdungen.“299

295In sehr drastischen Worten zu Ende der Ordnung der Dinge begrüßt es Foucault als „Verhei-
ßung“, „daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ OD, S. 462.
296 AW, S. 237.

Vgl. das fiktive Gespräch gegen Ende der Archäologie des Wissens, das sich erkennbar auf die
297
Vorwürfe Sartres bezieht: AW, S. 283-301.
298 Vgl. Frank: Was ist Neostrukturalismus?, a.a.O., S. 215.
299 AW, S. 23.
83

Gerade die in Foucaults Werk so dominierenden Umbrüche zwischen Epochen,


die Wechsel von Erkenntnisrastern würden jedoch eine weitergehende Erkenntnis
der Regeln ihrer Veränderungen verlangen. Die Behauptung einer Autonomie des
Diskurses stellt in diesem Sinne einen Erkenntnisverzicht dar. Das Beharren auf
der Autonomie ist verständlich als Überreaktion gegen Erklärungen, die eine ein-
seitige Determinierung der Diskurse durch Interventionen von außen annehmen,
jedoch erlangen die in der Archäologie des Wissens beschriebenen Regeln auf-
grund ihrer herausragenden Rolle so einen quasi-strukturellen Charakter. Das Di-
lemma besteht darin, dass Foucault entweder ahistorische Regeln annehmen
muss, die zwischen Diskursen verschiedener Epochen vermitteln und Metaprinzi-
pien für einen Wandel bereitstellen, oder aber gezwungen ist, die Diskursentwick-
lung im unverstandenen Dunkel zu belassen. Dieser Interpretation leistet Foucault
selbst Vorschub, wenn er den neuen Diskurs als Hereinbruch von außen, als „ra-
dikales Ereignis“ beschreibt.300 Da die Konstitution von Ordnung auf nicht-sub-
jektive Weise erfolgt, ist die Abfolge von Epistemen keine intentional sinnvolle
Transformation. Auch der in der Historisierung angelegte Wahrheitsrelativismus
bringt es mit sich, dass Foucault keine übergreifenden Kriterien von Rationalität
zur Verfügung stehen. Denoch sollte es zumindest retrospektiv möglich sein, er-
klärende Bestimmungsgründe der Transformationen zu finden – ein Ansatz, dem
Foucault aber bewusst nicht nachgeht. Dass sich Episteme bruchhaft ablösen,
verbindet Foucaults Archäologie mit der Kuhnschen Wissenschaftstheorie, in

300 OD, S. 269.


84

welcher ein Paradigmenwechsel durch Revolutionen vollzogen wird.301 Mit der


Wendung zur Genealogie verschwindet der besondere methodologische Status des
Bruchs, und auch graduelle Veränderungen lassen sich unter Einbezug gesell-
schaftlicher Determinanten nun erklären.302 Es könnte allerdings argumentiert
werden, dass dies um den Preis erkauft ist, dass mit der Macht ein ahistorisches
Prinzip eingeführt wird, welches im Prinzip den Intentionen der Archäologie zu-
widerläuft.
Ein weiteres Problem, das die Nähe zur strukturalistischen Methode be-
dingt, ist die Unentschiedenheit zwischen deskriptivem und präskriptivem Cha-
rakter der Archäologie. Handelt es sich bei den Diskursregeln um Vorschriften
oder lediglich um Regelmäßigkeiten? Praktiziert Foucault einen ahistorischen
Strukturalismus oder eine positivistische Beschreibung, die nichts zu erklären
vermag? Der Aporie ist er sich wohl bewusst, denn die Archäologie ist von einem
merkwürdigen Oszillieren geprägt, das ihn von „Realitätsbedingungen“ sprechen
lässt, die dennoch etwas „erklären können“303 müssen. Mit der These der diskur-
siven Autonomie wird eine Einwirkung von außen ausgeschlossen, also muss es
sich um interne Regelmäßigkeiten handeln, die sich selbst regeln – für Jürgen Ha-
bermas ein offenkundiges Paradox.304

301Ein entscheidender Unterschied ist darin zu sehen, dass für Kuhn die Entwicklung nach einem
wohldefinierten Schema verläuft: Die normale Wissenschaft produziert Irregularitäten und Pro-
bleme, die sich zu Krisen auswachsen, welche schließlich die Phase revolutionärer Wissenschaft
auslösen, aus der sich das neue Paradigma entwickelt. Foucault hingegen betont die Kontingenz
und Ereignishaftigkeit der Transformationen; Kuhns Ansatz würde er als zu teleologisch kritisie-
ren. Ansonsten überwiegen die Gemeinsamkeiten: Auch für Foucault ergibt sich eine Art Inkom-
mensurabilität der Episteme, die lokale Konstitutionsfelder von Wahrheit und Intelligibilität bil-
den. Die Kuhnschen Paradigmen wiederum sind auch für das Lenken und Beschränken von Dis-
kursen verantwortlich; ebenfalls nicht als transzendentale Regeln, sondern eher als gemeinsame
Praktiken einer Wissenschaftsgemeinschaft nach akzeptierten Beispielen. Foucault und Sohn-Re-
thel sind allerdings keine genuinen Wissenschaftshistoriographien; sie sind – anders als Kuhn –
eher an den gesellschaftlichen Effekten des wissenschaftlichen Denkens und einer Diagnose der
Gegenwart interessiert, als an der tatsächlichen Geschichte der Wissenschaften. Sohn-Rethel etwa
führt auffällig wenige empirische Belege an: Er konzentriert sich weniger auf den Gegenstand als
auf die Form der Naturerkenntnis. Da es für ihn nur eine einheitliche Warenform gibt, aus der die
Kategorien abgeleitet werden, stehen bei ihm im Gegensatz zu Foucault und Kuhn die Gemein-
samkeiten der Wissenschaften stärker im Vordergrund; eine geschichtliche Entwicklung wird so
zumindest tendenziell negiert.

Vgl. David Couzens Hoy: Introduction, in: ders. (Hg.): Foucault. A Critical Reader, Oxford
302
1986, S. 1-27, S. 7.
303 AW, S. 184f.
304Vgl. Habermas: a.a.O., S. 315.
85

Angesichts der extensiven Kantkritik, die die Archäologie enthält, stellt sich
die Frage nach dem Stellenwert der herausgearbeiteten Übereinstimmungen. Sind
die Kantbezüge gewissermaßen unbewusst, entgegen Foucaults erklärten Absich-
ten, und entlarven ihn als heimlichen Modernisten? Jedenfalls deuten die Termini
– wie etwa Analytik oder historisches Apriori – auf eine Nichtüberwindung der
Probleme jener modernen Epoche, die Foucault mit seiner Diskursanalyse gerade
hinter sich lassen wollte. Mit der Gleichsetzung von Positivem und Fundamenta-
lem, Empirischem und Transzendentalem erbt die Archäologie die Makel der
Humanwissenschaften. Sie weist auf methodologischer Ebene eine prekäre Ähn-
lichkeit zur Transzendentalphilosophie und jenem Münchhausentrick der Selbst-
begründung auf, den Foucault an dieser gerade bemängelt hatte: Das Vorliegen
von diskursiven Formationen liefert das empirische Faktum, die Deskriptionsebe-
ne, während die Aussagenanalyse die Konstruktion und Deduktion ihrer Möglich-
keitsbedingungen leisten soll. Die Doppelrolle der Archäologie als empirische
Beschreibung und transzendentale Analytik ist Foucault nicht entgangen. In ei-
nem fiktiven Gespräch zu Ende der Archäologie des Wissens gesteht er mit ent-
waffnender Ehrlichkeit: „Mehr als Ihre Entgegnungen von vorhin bringt mich,
wie ich gern zugebe, diese Frage in Schwierigkeiten.“305 Dennoch erhebt er zu-
mindest den Anspruch, die problematische Dichotomie zu unterlaufen: „Welche
Kohärenz ist das, von der man sofort sieht, daß sie weder durch eine Verkettung a
priori und notwendig determiniert ist, noch durch unmittelbar spürbare Inhalte
auferlegt wird?“306 Jürgen Habermas erkennt schließlich in der Genealogie die
Macht als transzendentales Prinzip, das Foucault endgültig in die Nähe der Sub-
jektphilosophie rückt. Dass die Macht als subjektloses Spiel von Kräften konzep-
tualisiert ist, sei in dieser Hinsicht ohne Relevanz.307 Manfred Frank behauptet für
das historische Apriori das Gegenteil und kritisiert, es sei lediglich der ins Tran-
szendentale projizierte Rechtfertigungsgrund des Faktischen.308 Beide verfehlen

305 AW, S. 292. Bei dem erdachten Kontrahenten Foucaults dürfte es sich wohl um Sartre handeln,
der bereits die Ordnung der Dinge vehement kritisiert hatte.
306 OD, S. 22.
307 Vgl. Habermas: a.a.O., S. 298.
308 Frank: Was ist Neostrukturalismus, a.a.O., S. 148.
86

die Tatsache, dass sich in der Macht wie auch im historischen Apriori letztlich
ebenfalls genau die von Foucault analysierte Problematik der Moderne äußert: Sie
sind weder rein empirische, noch transzendentale, sondern empirisch-transzen-
dentale Prinzipien.
Dass Prinzipien modernen Philosophierens sich nicht lediglich auf ver-
schwiegene Weise in Foucaults Werk manifestieren, expliziert er in einer Würdi-
gung von Kants Schrift Was ist Aufklärung?, in der er grundsätzliche Parallelen
zum eigenen Projekt wiedererkennt. Gerade die Selbstreflexion und der kritische
Bezug auf die eigene Gegenwart seien Ausdruck einer Moderne, der sich auch
Foucault zurechnen kann. „Auf Kants Text zurückblickend frage ich mich, ob wir
die Moderne nicht eher als Haltung denn als Abschnitt der Geschichte ansehen
sollten [...] Wohl ein bißchen wie das, was die Griechen ethos nannten.“309 Dass
der affirmative Rekurs auf die Moderne überrascht, liegt an einem verzerrten Bild
Foucaults, dem er sicher selbst durch einen Hang zu provokativen und ikonoklas-
tischen Thesen Vorschub geleistet hat. Andererseits waren es vor allem in
Deutschland die Mandarine der traditionellen Philosophie, die als selbsternannte
Gralshüter der Moderne für eine aufgeregte und unter ethischen Vorzeichen ge-
führte Rezeption der so genannten Postmoderne sorgten. Deren Vertreter wurden
als französische Vorhut einer gegenaufklärerischen Bewegung verstanden, die der
„Zerstörung der Vernunft“310 ideologischen Geleitschutz gaben. Gerade gegen
Foucault war aufgrund seines erklärten Anti-Humanismus – ein zugespitzter Be-
griff, der hauptsächlich die Überwindung der anthropologischen Konfiguration
meint – der Vorwurf des Irrationalismus schnell bei der Hand.311 Die aufgezwun-
gene Alternative, entweder sich der Rationalität zu verschreiben oder ihrem Ge-
genteil, dem Irrationalismus, zuzuarbeiten, bezeichnet Foucault als Erpressung
der Aufklärung, gegen die es sich zugunsten einer differenzierteren Haltung zu
wehren gelte. Zwar schränkt er ein: „Und wir brechen aus dieser Erpressung nicht

309 AU, S. 42.


310 So der Titel eines Werks von George Lukács, das auf eine geradezu exemplarische Weise die
Einseitigkeit eines undialektischen Denkens vorführt. Lukács begreift sämtliche Philosophie ledig-
lich in der Dichotomie von Vernunft oder Irrationalismus und ist insofern ein Beispiel für die von
Foucault kritisierte Erpressung der Aufklärung, s.u. Vgl. Lukács: Die Zerstörung der Vernunft, in:
Werke 9, Neuwied 1962.
311 Vgl. Habermas: a.a.O.
87

aus, indem wir ‚dialektische’ Nuancen einführen, während wir zu bestimmen su-
chen, was an der Aufklärung gut oder schlecht ist.“312 Dass sein durchaus positi-
ver Bezug auf die Aufklärung ein dialektischer ist, kann von Foucault allerdings
nur aufgrund eines verkürzten Begriffs von Dialektik verneint werden, welche bei
ihm zu einer Art Bilanzierung, eines Abwägens von Argumenten verkommt. Der
Dialektiker Sohn-Rethel würde der Kritik an der Erpressung der Aufklärung zu-
stimmen und in anderen, dem Sinn nach äquivalenten Begrifflichkeiten sagen:
Der Widerspruch ist notwendig. „Er ist die Antwort auf den objektiven der Ge-
sellschaft.“313

Exkurs: Naturbild und Naturwissenschaften


Eine Implikation der Archäologie, die vor allem im Vergleich zu Kuhns Wissen-
schaftstheorie auffällt, ist die scharfe Trennung von Human- und Naturwissen-
schaften und die ausschließliche Beschäftigung mit den Humanwissenschaften.
Foucault argumentiert, beide seien aus gesellschaftlichen Machtbeziehungen ent-
sprungen. Während sich allerdings die Naturwissenschaften durch die Formali-
sierung ihrer Methoden und das erfolgreiche Bemühen um Selbstbegründung eine
qualitative Autonomie erkämpfen konnten, war es den Humanwissenschaften
nicht möglich, sich aus diesen Ursprüngen zu befreien. Die Differenz liegt für
Foucault nicht in einer kontingenten historischen Entwicklung begründet, son-
dern ist gewissermaßen im ontologischen Fundament der Wissenschaften festge-
schrieben. Da sich die Naturwissenschaften lediglich mit der technischen, gegen-
über gesellschaftlichen Verhältnissen neutralen Verfügung über Dinge beschäfti-
gen, seien sie leichter aus dem Machtkontext zu lösen als die durch ihren Gegen-
stand Mensch notwendig mit sozialen Einflüssen kontaminierten Humanwissen-
schaften.
Anscheinend besitzt Foucault ein sehr traditionelles Bild der „harten“ Wis-
senschaften, das die Mathematik als Idealtyp aller Wissenschaft setzt und damit
ungebrochen die Kantische Vorstellung aus der Kritik der reinen Vernunft über-

312 AU, a.a.O., S. 46., Hervorhebung im Original.


313 Adorno: GS 3, S. 273.
88

nimmt.314 Er beweist damit eine bemerkenswerte Blindheit gegenüber dem gesell-


schaftlichen Status der Naturwissenschaften, die in der Archäologie ausschließ-
lich auf eine instrumentell-technologische Rationalität reduziert werden. Dass
auch deren Gegenstand, die Natur, ein Konstrukt sein könnte, das den Machtme-
chanismen gesellschaftlicher Diskurse unterworfen ist; dass schließlich die Na-
turwissenschaften ebenfalls eine Form kognitiver Macht darstellen, kommt ihm
nicht in den Sinn. Mit der Festlegung von Wesensdifferenzen und der Definition
des Gegenstandes der Naturwissenschaften als Ansich, das von der sozialen Kon-
struktion ausgenommen ist, fällt Foucault hinter eigene Maßstäbe zurück.
In diesem Punkt besteht eine bemerkenswerte Kontinuität über alle Werkpe-
rioden: Auch in der Genealogie ist mit der Macht eine zentrale Kategorie einge-
führt, deren Umfang a priori nur auf interhumane Relationen beschränkt ist.
Nicht-menschliche Lebewesen und Objekte fallen aus der Analyse heraus. Da der
Ansatz erzwingt, das Verhältnis zur Natur als neutrale Verfügung zu konzipieren,
ist eine Naturbeherrschung theoretisch nicht fassbar. Angesichts dieses Defizits
empfiehlt sich der Rückgriff auf Sohn-Rethels Denkformanalyse, die nicht zuletzt
beansprucht, eine Ursprungserklärung der technologischen Naturbeherrschung
zu liefern. Im Unterschied zu den verwandten Ansätzen der Kritischen Theorie
leitet Sohn-Rethel die verdinglichten Formen nicht aus einem direkten Naturver-
hältnis ab, sondern entwirft das moderne Naturverhältnis gerade als Rückschlag
eines verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnisses. So kann er erfolgreich den
Rekurs auf eine tendenziell ahistorische instrumentelle Vernunft vermeiden und
Veränderungen auf der Ebene gesellschaftlichen Bewusstseins an konkrete histo-
rische Prozesse binden.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob Sohn-Rethels Theorie die wissen-
schaftlichen Umwälzungen des zwanzigsten Jahrhunderts adäquat erfassen kann.
Die Erosion klassischer Kategorien aufgrund von Relativitätstheorie und Quan-
tenmechanik versucht Sohn-Rethel mit einer „neuen Logik“315 nachzuvollziehen,
zu der er jedoch nur kursorische und ungenügende Bemerkungen trifft, die wie
nachträgliche Ad hoc-Modifikationen der ansonsten auf Kontinuität zielenden

314 Vgl. AW, S. 269.


315 GK, S. 207.
89

Theorie erscheinen. Sie postuliert einen geradezu statischen Begriff der Natur-
wissenschaft, welche für Sohn-Rethel seit dem Zeitpunkt ihres Entstehens auf ei-
nem fixen System von Kategorien basiert. Anders als Foucault oder Kuhn denkt er
die wissenschaftliche Entwicklung als linearen und einheitlichen Prozess, der die
ökonomische Ausbreitung der Warenform parallelisiert. Kritiker weisen dagegen
zu Recht auf eine qualitative Differenz bereits zwischen antiker Naturphilosophie
und moderner experimenteller Naturwissenschaft, die bei Sohn-Rethel unter den
Tisch fällt.316
Verfällt also die Denkformtheorie ähnlich wie die Kantische Erkenntnis-
theorie aufgrund der sie überholenden Wissenschaften dem Verdikt der Obsolet-
heit? Das ist nicht unbedingt der Fall, denn trotz der offensichtlichen Schwächen
enthält gerade die Sohn-Rethelsche Statik eine wahre Einsicht, die von Theorien,
welche die Bruchhaftigkeit der Entwicklung betonen, verfehlt wird. Anders als
manche poststrukturalistische Ansätze317 glauben machen möchten, zeugt auch
das zeitgenössische informationstechnologische Naturbild eher von einer Konti-
nuität der Naturbeherrschung als von einer Neuordnung des Verhältnisses. Zwar
verschwindet scheinbar die direkte und rohe Beherrschung zugunsten einer Neu-
kreation von Natur. Die Grenzen von Mensch und Maschine, Natur und Artefakt
werden durchlässig, und die die Moderne prägenden Dichotomien verschwinden.
Hinter den Oberflächenphänomenen offenbart sich allerdings die Persistenz des
Herrschaftsparadigmas, welches sich in einer Entwertung der Materie, des Nich-
tidentischen äußert. Die Biowissenschaften betreiben ungebrochen die Entqualifi-
zierung der Natur zum bloßen abstrakten Material. Sohn-Rethels Idealismuskritik
trifft insofern gleichermaßen moderne wie postmoderne Formen der Naturdistan-
zierung. Die Durchsetzung der Bio- und Lebenswissenschaften markiert einen
Prozess ähnlich des Übergangs von Kant zu Hegel: Mit der Einverleibung des

316Vgl. Breuer: Maschinerie und Materialismus, in: Leviathan 7 (1979), S. 450-458; Dudek: Na-
turwissenschaftliche Denkformen und ökonomische Struktur, in: ProKla 34 (1979), S 127-157.
Das Defizit rührt daher, dass Sohn-Rethel auch auf der bedingenden Ebene keine qualitative Diffe-
renz zwischen früher Geldwirtschaft und entfaltetem Kapitalismus erkennen kann.
317Vgl. Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt
a.M. 1995.
90

einschränkenden naturhaften, materiellen Moments verselbständigt sich die ihre


Ursprünge verleugnende theoretische Vernunft und wird totalitär.318

5. Fazit und Ausblick


Das Ziel der Arbeit war es zu zeigen, dass Foucault und Sohn-Rethel eine revi-
dierte Form der Kantischen Transzendentalphilosophie vertreten. Die Reichweite
der Analogie ist allerdings begrenzt. Zwar werden Grundprinzipien der transzen-
dentalen Methode übernommen, aber mit Kants ursprünglichen inhaltlichen Inten-
tionen haben die modernen Varianten wenig gemein. Dass fast zweihundert Jahre
nach Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft die Wissenschaftstheorie nicht
länger um eine Rettung der Metaphysik besorgt ist, dürfte einsichtig sein. Die
Abweichungen sind jedoch umfassender. Weder nehmen Foucault und Sohn-Re-
thel eine allgemeine Bestimmung der Grenzen und des Umfangs der Vernunft vor,
noch versuchen sie eine Begründung objektiver Erkenntnis. Da die Revision
hauptsächlich in einer Historisierung besteht, erweisen sich derartige Fragen als
obsolet. Nun steht eher ein genetisches Interesse im Vordergrund, das die Entste-
hung von Erfahrungsrastern und die Möglichkeitsbedingungen lokal begrenzter
Erkenntnis erforscht.
Andererseits wäre es undialektisch zu behaupten, dass Kants sachhaltige
Motivationen nicht doch auf subtile Weise in die Revisionen eingewandert sind.
Entspricht dem Vernunftbegrenzer Kant nicht im zwanzigsten Jahrhundert der
Vernunftkritiker Foucault, dem es ebenso wie seinem Vorgänger nicht um eine ab-
strakte Kritik und Verwerfung, sondern um das Aufzeigen von Grenzen geht? So-
gar der Impuls einer Verteidigung der Metaphysik zeigt sich bei Sohn-Rethel als
Respekt vor dem Nichtidentischen. Zwar möchte er nicht – wie noch Kant – die
Vernunft begrenzen, um Platz für den Glauben zu machen; jedoch enthüllt er die
Beschränktheit und Überwindbarkeit der herrschenden Vernunft, um die Mög-
lichkeit der Utopie zu retten. Auf diese Weise bewahrt seine Philosophie einen

Vgl. Carmen Gransee: Grenz-Bestimmungen. Zum Problem identitätslogischer Konstruktionen


318
von „Natur“ und „Geschlecht“, Tübingen 1999.
91

Gedanken auf, der dem berühmten Schlusssatz aus Adornos Negativer Dialektik
die Treue hält: „Solches Denken ist solidarisch mit Metaphysik im Augenblick
ihres Sturzes.“319
Wie ist es andererseits um die behaupteten formalen und methodischen
Analogien bestellt? In Sohn-Rethels Fall ist die Überprüfung wesentlich einfacher
zu leisten, legt er doch detailliert Rechenschaft darüber ab, was seine Philosophie
der Kritik der reinen Vernunft verdankt. Der Einfluss spiegelt sich sowohl in den
verwandten Begrifflichkeiten als auch in Sohn-Rethels Methode, die ähnlich der
Kantischen transzendentalen nach Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis fragt
und die Existenz von Kategorien und Anschauungsformen postuliert, welche für
die Strukturierung des Sinnenmaterials verantwortlich sind. Die als Idealismuskri-
tik verstandene Historisierung der Transzendentalphilosophie ist eine Kritik der
Kantischen Erkenntnistheorie320 im dialektisch-immanenten Sinn – keine Verwer-
fung, sondern eine Revision, die dem Kantischen Kritikbegriff nicht unverwandt
ist. Vor allem gegen Hegel richtet sich Sohn-Rethels Überzeugung, dass Kants
immanente Widersprüche und Dunkelheiten über die idealistische Form hinaus-
treiben und gewissermaßen auf direktem Weg eine Überführung in den Materia-
lismus ermöglichen. Zwar verweisen die Statik und der untergründige Ahistoris-
mus der Denkformanalyse auf die Probleme, die diese Abkürzung in sich birgt.
Gleichzeitig ist es aber gerade der kritische, dennoch solidarische Rekurs auf
Kant, der ihn aus der Menge der Marx-Exegeten und Gesellschaftskritiker her-
aushebt und seiner Theorie auch für zeitgenössische Diskussionen der Wissen-
schafts- und Gesellschaftstheorie Aktualität verleiht.
Im Falle Foucaults ist die Beziehung zu Kant wesentlich weniger eindeutig.
Auffällig ist zwar zunächst seine Verwendung Kantisch geprägter Begriffe wie
etwa Möglichkeitsbedingung oder Apriori. Darüber hinaus existiert auf einer fun-
damentaleren Ebene eine Parallelität zu Kants Begründungsfigur, die empirische
Subjektivität und ihren Erfahrungshorizont in den Leistungen einer transzendenta-
len Subjektivität zu verankern. Dreyfus und Rabinow gehen sogar so weit, Fou-

319 Adorno: GS 6, S. 400.


320 So der Titel eines Aufsatzes: Alfred Sohn-Rethel: Eine Kritik (der Kantschen Erkenntnistheo-
rie), in: Neues Lotes Folum. Zeitschrift für die Poesie und die Revolution 27/1 (1975), S. 217-246.
Im Folgenden: KK.
92

caults Projekt als Analytik zu bezeichnen, da in ähnlicher Weise die Quellen und
der rechtmäßige Gebrauch der Begriffe analysiert werden.321 Einer weiteren Klä-
rung bedürfte die Frage, ob für Foucault die originäre Kantische Gestalt der Tran-
szendentalphilosophie die kritisierte oder affirmierte Position abgibt, oder ob er
jene Transformationen im Blick hat, die diese Gestalt im Denken namentlich Hus-
serls, Heideggers und nicht zuletzt Merleau-Pontys erfahren hat und die den Dis-
kussionsrahmen gerade der frühen Schriften Foucaults mitbestimmen. Entschei-
dend ist – in Bezug auf Kant – wiederum der veränderte Status des Apriori selbst:
Hat die Kantische transzendentale Subjektivität und haben ihre apriorischen Leis-
tungen den Status einer theoretischen Konstruktion, die mit Blick auf einen pro-
blematisierten Phänomenbestand entworfen wird, so verschiebt sich schon bei
Husserl, und im Anschluß daran bei Heidegger und Merleau-Ponty, die transzen-
dentale Subjektivität immer mehr in Richtung auf eine umwelthaft-leibliche Sub-
jektivität, die selber zum Phänomenbestand gehört. Es sind diese Diskussionen,
die in Foucaults Einleitung zur Übersetzung von Binswangers Traum und Exis-
tenz hineinspielen und von denen er sich dann, nicht zuletzt durch eine gewisse
Affinität zum Strukturalismus, zu lösen sucht. Durch all die Konjunkturen hin-
durch besteht – so das Ergebnis der Arbeit – eine Kontinuität der transzendentalen
Begründungsfigur, die allerdings spätestens mit der Archäologie, in der aufgrund
des methodischen Schwerpunkts der Kant-Bezug am offensichtlichsten zutage
tritt, ins Historisch-Empirische gewendet wird.

Ein weiteres Ziel bestand darin, Sohn-Rethel und Foucault als Vertreter zweier
Philosophieströmungen zu porträtieren, und so über ihre Personen und die vermit-
telnde Instanz Kants eine Annäherung von Kritischer Theorie und Poststruktura-
lismus zu versuchen, die nicht über die Station der Aufklärungs- und Rationali-
tätskritik führt. Allerdings unterhalten Sohn-Rethel wie Foucault eine charakteris-
tische Beziehung von Nähe und gleichzeitiger Distanz zu den Denkschulen, mit
denen sie gemeinhin assoziiert werden. Die prägenden Einflüsse der jeweiligen

321 Vgl. Dreyfus und Rabinow: a.a.O., S. 23.


93

Theoriehintergründe verarbeiten sie auf eine sehr individuelle Weise und sperren
sich so gegen die ihnen vorschnell zugewiesenen Schubladen.
Angesichts der deutschen Rezeption Foucaults fühlt man sich geradezu, um
mit Jürgen Ritsert zu sprechen, in einen „Universalienstreit der Sozialwissen-
schaften“322 versetzt, der die mittelalterliche Debatte um Nominalismus und Rea-
lismus reproduziert. Auf den ersten Blick scheint er tatsächlich jene nominalisti-
sche Position zu vertreten, die Kritiker ihm in stereotyper Weise unterstellen: Die
Sache geht restlos in ihrer Konstruktion auf, und es gibt kein Außen des Diskur-
ses. Dabei handelt es sich jedoch um eine verkürzte Lesart der Archäologie, wel-
che die Rolle der Materialität – von Aussagen, diskursiven und nichtdiskursiven
Praktiken – ausblendet. Der Diskurs erweist sich als historisches Gebilde, das
nicht bloße Konstruktion, Fiktion oder Name ist. Diese materialistische Seite
Foucaults stark zu machen und ihn so gegen das Vorurteil des Nominalisten zu
verteidigen, der sämtliche Realitäten in Sprache auflöst, war ein Anliegen der Ar-
beit. Sie versteht sich insofern als vorsichtige Untermauerung des Ausspruchs
Foucaults, eine frühere Beschäftigung mit der Frankfurter Schule hätte ihm man-
chen Umweg erspart.323
Sohn-Rethel wiederum ist sicherlich von den zu der Kritischen Theorie zu
rechnenden Denkern derjenige, der dem Strukturalismus am aufgeschlossensten
gegenübersteht.324 Politische Gegner werfen ihm gar vor, die Denkformanalyse
verleihe der Wertform „strukturalistische Omnipotenz“325. Sohn-Rethels Marx-
Relektüre schließlich ist der strukturalistischen Marx-Interpretation Althussers326

322Jürgen Ritsert: Realabstraktion, in: Christoph Görg und Roland Roth (Hg.): Kein Staat zu ma-
chen. Zur Kritik der Sozialwissenschaften, Münster 1998, S. 324-348.
323Zitiert nach Axel Honneth: Foucault und die Humanwissenschaften. Zwischenbilanz einer Re-
zeption, in: Axel Honneth und Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezepti-
on, Frankfurt a.M. 2003, S. 15-27, S. 19.

Wie allerdings Vorlesungsaufzeichnungen belegen, hatte Adorno noch für das Jahr 1969 eine
324
Vorlesung zum Thema des französischen Strukturalismus geplant – ein Projekt, das durch seinen
Tod verhindert wurde. Vgl. Theodor W. Adorno: Einleitung in die Soziologie, Frankfurt a.M.
2003, S. 175.
325 Reinicke: a.a.O., S. 26.
326 Louis Althusser: Lire le capital , Paris 1965.
94

nicht unähnlich, den er in Geistige und Körperliche Arbeit en passant erwähnt.327


Des Idealismus werden Foucault und Sohn-Rethel aufgrund der Nähe zu Kant
gleichermaßen bezichtigt.328 Die Kritiker übersehen allerdings Umfang und Fol-
gen ihrer Revision: Der gegen die Apotheose des Transzendentalsubjekts geltend
gemachte Vorrang des Objekts wie auch die Betonung der Praxis lassen es ge-
rechtfertigt erscheinen, stattdessen von einem historisch transzendentalen Mate-
rialismus zu sprechen.

Freud sprach einmal von den drei Kränkungen, die der Mensch in der jüngeren
Geschichte erlitten habe.329 Kopernikus habe ihm den Platz im Mittelpunkt des
Universums streitig gemacht, Darwin habe ihn vom Thron der Schöpfung gesto-
ßen, und die Psychoanalyse habe schließlich gezeigt, dass der Mensch nicht ein-
mal Herr im eigenen Hause ist, vielmehr in seinen Gedanken und Gefühlen von
unbewussten Regungen bestimmt ist. Dem von Foucault an zahlreichen Stellen
zitierten Beispiel330 wäre eine weitere Kränkung hinzuzufügen: die Marxsche
Einsicht, dass der Mensch nicht über seine Geschichte verfügt, sondern von einer
verselbständigten und verdinglichten Form der eigenen gesellschaftlichen Praxis
beherrscht wird. Diese „erkennntnistheorische Veränderung der Geschichte“331
durch Marx – von Foucault in der Einleitung der Archäologie des Wissens er-
wähnt – ist der Foucaultschen Revolution der Denkart verwandt, welche das Sub-
jekt nicht als souveränen Urheber und Herrscher des Diskurses, sondern umge-

327In affirmativer Weise: GK, S. 11. An anderer Stelle kritisiert Sohn-Rethel allerdings, dass Alt-
husser den Marxschen Abstraktionsbegriff nicht verstanden habe: Für Althusser gebe es im Kapital
nur Denkabstraktionen, damit entgehe ihm die entscheidende Wende, die Marx im Gegensatz zur
idealistischen Philosophie vollziehe; vgl. GK, S. 43. Auch die Marx-Deutungen Derridas werden
bereits durch Sohn-Rethels Analyse der Metaphorik des Kapital antizipiert, vgl. Jacques Derrida:
Marx’ Gespenster, Frankfurt a.M. 1995.
328Peter Paetzel etwa spricht im Falle Sohn-Rethels von einem „sich marxistisch gerierende[n]
subjektive[n] Idealismus“. Paetzel: a.a.O., S. 126. Foucault gilt als Strukturalist und insofern als
Sprachidealist.
329Vgl. Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1917), in: Studienaus-
gabe Band 1, Frankfurt a.M. 1969, S. 283f.
330Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Band 1, Frankfurt a.M. 2001 (Dits et écrits 1, Paris
1994), S. 238f.; S. 730; S. 840f. Im Folgenden: SI.
331 AW, S. 22.
95

kehrt als von diesem ermöglichte Funktion begreift.332 Obwohl Foucault die Psy-
choanalyse ablehnt333 und Sohn-Rethel sie kaum je erwähnt, enthalten auf diese
Weise beide Theorien einen Begriff des gesellschaftlich Unbewussten. Das Fou-
caultsche „positive Unbewusste“334 ist ähnlich der Sohn-Rethelschen Realabstrak-
tion ein Unbewusstes des Transzendentalsubjekts, das dieses an der historisch-so-
zialen Welt materialistisch erdet. Die Vernähung von Transzendentalem und Em-
pirischem, die gesellschaftliche Dimension der transzendentalen Konstitution,
liegt im blinden Fleck der traditionellen Philosophie. Was ihr als reine Vernunft
erscheint, ist nichts anderes als die notwendige Wiederkehr des Verdrängten in
Form seines Gegenteils: als Verkennung.335

332 Was Marx selbstverständlich von Foucault unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Ökonomie-
kritik mit dem Konzept des Warenfetischs einen universalen Erklärungsansatz bereithält. Ebenso
ist Foucault die moralische Skandalisierung der realen Entmächtigung des Menschen fremd.
333Er erkennt in ihr eine Hermeneutik des Verdachts und den Versuch einer totalen Beschreibung,
die sämtliche Phänomene um einen universalen Referenten zentriert. Für einen differenzierteren
Blick auf das Verhältnis Foucaults zur Psychoanalyse vgl. Jacques-Alain Miller: Michel Foucault
und die Psychoanalyse, in: Francois Ewald und Bernhard Waldenfels (Hg.): Spiele der Wahrheit.
Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 1991, S. 66-74. Hannelore Bublitz spricht von einem
„kulturellen Unbewußten“, das Foucault in seinen Werken analysiert habe, vgl. Hannelore Bublitz:
Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewußten. Zum Wissensarchiv und Wissensbegehren
moderner Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1999.
334 OD, S. 11.
335 Vgl. Zizek: a.a.O., S. 16-21.
96

Literatur- und Siglenverzeichnis

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