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be st im mu ng als Qu al it it im Musizieren

Selbst
musikalisch er Miindigkeit
Klara Haywards Konzeption
NicoLE BESSE

nicht Unmiindigkeit sieht; ein Desiderat aber


Der Begriff »Miindigkeit« umfasst
demo- sei eine Formulierung, die Miindigkeit
nur Rechte und Pflichten als Basis definiert. Haywards
im positiven Sinne
kratischer Gesellschaftsformen, sondern
Konzeption einer musikalischen Miin-
impliziert auch Urteilsfihigkeit und
digkeit fokussiert den Aspekt der Selbst-
Selbstbestimmung: Als allgemeines Ziel
ist im offiziellen deutschen Bildungs- bestimmung. Sie definiert musikalische
tit
wesen verankert, dass Schiilerinnen und Miindigkeit als eine »bestimmte Quali
sich
Schiiler »verantwortungsvoll, selbst- im Erleben des eigenen Selbst«, die
ie-
kritisch und konstruktiv ihr berufliches einstellen konne, wenn sich Musiz
und privates Leben gestalten und am rende als kompetent erfahren in ihrem
politischen und gesellschaftlichen Leben Handeln, wenn sie ein Gefiihl der Urhe-
teilnehmen können«.' Was aber bedeutet berschaft entwickeln und Musizieren als
es, »musikalisch miindig« zu sein? personlich bedeutungsvoll empfinden
Klara Hayward? entwirft eine Konzep- (13). Hayward griindet ihre Uberlegungen
tion von Miindigkeit, die das individuelle einerseits auf die vorwiegend als Motiva-
Erleben in den Fokus riickt, indem sie tionstheorie rezipierte Self-Determination
die bildungsphilosophische Perspektive Theory von Deci & Ryan und bezieht sich
um psychologische Betrachtungsweisen andererseits auf die Theorien von Donald
erginzt. In dieser Hinsicht liefert ihr An- Winnicott (Vom Spiel zur Kreativitit) zur
satz einen zukunftsorientierten Beitrag Schaffung von » Ubergangsobjekten«. Die
zum musikalischen Bildungsdiskurs, mit Idee, dass Musik sich als »intermediare(r]
dem traditionell geprigte Unterrichtsfor- Bereich der Erfahrungen« (8s) gestalte in
men systematisch hinterfragt werden der Verbindung einer inneren Vorstellung
können. In bildungsphilosophischen wie an der Grenze zu einer äußeren Realitit,
auch musikbezogenen Kontexten, so Hay- wurde in musikpidagogischen Kontexten
wards Ausgangspunkt, werde der Begriff bereits diskutiert? und wird von Hayward
Miindigkeit als »Pathosformel« (11) viel- weiterentwickelt. In der Verkniipfung mit
fach iiberschwenglich und mit ethisch- einer Theorie der Selbstbestimmung, die
moralischem Anspruch verwendet. Er das unterschiedliche Erleben bei intrin-
griinde in der aufklirerischen Denkfigur sisch und extrinsisch motivierten Hand-
Immanuel Kants, der in der Nutzung lungen in den Blick nimmt, gelingt es
des eigenen Verstandes einen Ausweg Hayward, den Aspekt eines »psychischen
aus der vielzitierten selbstverschuldeten Wohlbefindens« in ihr Konzept einzubin-

1 ‘\_/erfiffemlichungen der Kultusministerkonferenz (2004), Bildungsstandards der Kultusministerkon-


erenz, h'ttps://www,kmk.grg/fi]eadmin/Daleien/veroeffentlichungembesc}duesse/zoo4/zoo4_u_x6-
Bildungsstandards-Konzeption-Entwicklung pdf., S. 6 f. (letzter Zugriff: 15.3.2023)
2 Klara Hayward, Musikalische Miindigkeit. Eine bestimmte Qualitat im Erleben des cfgcn;n Selbst beim Musizie-
ren, Miinster: Waxmann 2022.
3 Peter Robke/Herbert Figdor, Das Musizieren und die Gefuhle. Instrumentalpddagogik und Psychoanalyse im
Gespräch (Studienbuch Musik), Mainz 2008.

104 Musik & Asthetik 27, 3/2023, 104-106 www.musikundaesthetik.de


Srlhslheslimmung als
Qualitat im Musizieren
Nicoce Besse
den: Durch »Internalisierungsprozesse« sich in Abhangigkeit vom musikalischen
könne gelingen, »externe Anforderungen
Geggnstand (Noten, Aufnahme o. 4.) und
in das eigene Selbst zu integrieren« (51)
der jeweiligen Umgangsform (Horen,
und dadurch die Grundbediirfnisse nach Improvisieren, Komponieren) immer
sozialer Eingebundenheit und individuel- unterschiedlich darstellt, sich aber in
Be-
ler Autonomie in Einklang zu bringen. In zug auf eine musikalische Miindigkeit
Momenten, in denen sich Musizierende als unverzichtbar erweist. So kann Hay-
selbstbestimmt, kompetent und schépfe- ward Voraussetzungen formulieren,
die
risch wahrnehmen, kénne sich in einem das Entstehen musikalischer Mündigkeit
Akt der »Verschmelzung« (13) durch
begünstigen; dazu gehört auch eine wert-
die Wahrnehmung der Musik auch ihre schätzend und ohne Leistungsdruck »in-
Selbstwahrnehmung verindern. In die- formierende Umgebung« (167), die mu-
sem Zusammenhang setzt Hayward ihre sikbezogene Wahrnehmungen fördert,
Konzeption von Miindigkeit auch ins Ver- beispielsweise durch Mitmusizierende
hiltnis zu der in musikbezogenen Kon- im Ensemble. Wie sich musikalische
texten vielfach rezipierten Flow-Theorie.+ Miindigkeit schlieRlich auf der Empfin-
Hayward betont die Verantwortung der dungsebene äußert, erläutert Hayward in
sozialen Umgebung, die eine »asthetisch Ansätzen: Musizierende empfänden den
offene«, wertschitzende Atmosphire Umgang mit Musik als lohnend, sie fühl-
schaffen soll (158), und appelliert damit ten sich vital, zuversichtlich und voller
gleichzeitig an die Mitmusizierenden Selbstvertrauen, gesehen und einander
und Lehrenden, ihre Verantwortung fiir verbunden, und erst in der Verknüpfung
das Entstehen eines gemeinsamen Uber- sämtlicher Aspekte ergebe sich »musika-
gangsobjekts Musik achtsam wahrzuneh- lische Mündigkeit«. Sie könne in unter-
men. Mit Nicholas Cook (Theorizing Mu- schiedlichen Intensitäten erlebt werden,
sical Meaning, 2001) argumentiert Hay- aber sie sei auch eine Schwellenkategorie:
ward, das musikalische Ubergangsobjekt Mündigkeit stelle sich ein oder eben nicht
sei, anders als das mit relativ eindeutiger (180).
Bedeutung besetzte Ubergangsobjekt Haywards Konzeption macht einmal
des Kindes (z. B. ein Teddybir), eher als mehr deutlich, dass eine interdisziplinäre
»Spur« (»musical trace«) zu verstehen. Betrachtungsweise in Bildungskontexten
Es werde immer wieder anders gehort, nicht nur förderlich, sondern dringend
in anderer Verfassung, mit anderer Wir- notwendig ist. In einem formalen De-
kung, so dass es nicht an Bedeutung tail äußert sich jedoch die Schwierigkeit
verliere, sondern in einer manchmal le- einer solchen Herangehensweise: Der
benslangen Auseinandersetzung immer begründete Verzicht auf eine ausführli-
reichhaltiger werde. Die Bedeutung wie- che Auseinandersetzung mit einschlägi-
derum sei einerseits durch eine soziokul- gen musikpädagogischen Diskursen (17)
turell beeinflusste, aber dennoch »indivi- führt zu teilweise sehr umfangreichen
duelle Auswahl an Objekteigenschaften Fußnoten, die den Fließtext entlasten
und durch deren Interpretation bestimmt mögen, deren Diskussion den Grundge-
[--.], aber auch durch die konkreten Eigen- danken aber hätte schärfen können. Stellt
schaften des Objekts« (105). Diese Sicht- Hayward im Rahmen ihrer Dissertation
weise erméglicht es Hayward, die Katego- heraus, dass sie ihre Arbeit im Bereich
rie »Spielraum« (154) zu etablieren, der psychologischer Diskurse verortet, lässt

4 Mihaly Csikszentmihalyi, Flow. Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart 2014.

105
mie, Digitalisierung etc. Lisst sich d,q
sie bedauerlicherweise auRer Acht, dass
gerade iiber den Aspekt von »Bedeutung« Spezifische musikalischer Phinompn;-
in musikpadagogischer Literatur vielfach meines Erachtens ausschlieRlich in inter.
disziplinarer
diskutiert wurde.s Auch ein Seitenblick Betrachtung fassen, bietet
Hayward mit einem Fokus auf das »psy-
auf musikphilosophische Denkmodelle,
chische Wohlergehen« aller Lernenden
beispielsweise von Ferdinand Zehentrei-
ters oder Christian Griiny?, hatte Hay- und Lehrenden und einer Aufwenung
der Empfindung gegeniiber einer den
wards Anliegen, den »Wesenskern des
Bildungsdiskurs dominierenden Sach.
Musizierens zu fassen« (16), weiter kon-
kretisieren konnen, vor allem in Hinblick ebene zahlreiche Ankniipfungspunkte,
auf die Konstituierung eines musikali- den Umgang miteinander zu reflektieren
und tradierte Rollenverstindnisse zu ver-
schen Gegenstands durch Differenzie-
rung und Reflexion. Gleiches gilt auch indern. Wenn Hayward Doernes »Musi.
fiir Einsichten spezifisch musiktherapeu- zierlernhaus« (194'°) als praktischen Ver-
tischer Literatur, in der seit Jahrzehnten such deutet, einer notwendigen »Freiwil-
eine intensive Auseinandersetzung mit ligkeit« im Lernen® auf dem Weg in die
Winnicotts Theorien zur Selbstreflexion Miindigkeit zu begegnen, so äußert sich
und deren Bedeutung fiir die musikali- die Relevanz der Thematik mittlerweile
sche Entwicklung stattfindet.® auch in einem Umdenken an allgemein-
Die Recherche ergibt, dass in Bildungs- bildenden Schulen.”* Haywards Beitrag
kontexten nicht nur von »musikalischer« macht, wie das Phinomen des Miindig-
Miindigkeit gesprochen wird, sondern werdens selbst, Mut an der Schwelle zwi-
auch von »mathematischer« Miindigkeit® schen Abschied von vertrauten Gewohn-
oder einem miindigen Umgang mit Che- heiten und dem Aufbruch ins Ungewisse.

Vgl. u.a. Peter W. Schatt, Einflikrung in die Musikpddagogik. Darmstadt 2007/2021; Heinz Geuen/Stefan
Orgass, Partizipation-Relevanz-Kontinuitdt. Musikalische Bildung und Kompetenzentwicklung in musikpdd-
agogischer Perspektive, Aachen 2007. Martina Krause-Benz, Bedeutung und Bedeutsamkeit. Interpretation
von Musik in musikpddagogischer Dimension, Hildesheim 2008.
Ferdinand Zehentreiter, Musikdsthetik. Ein Konstruktionsprozess, Hofheim 2017.
Christian Griiny, Kunst des Ubergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik, Weilerswist 2014.
Vgl. u.a. Rosemarie Tupker, Selbstpsychologie und Musiktherapie, in: Bernd Oberhoff (Hg.), Die Musik
als Gelichte. Zur Selbstobjekifunktion der Musik, GieRen 2003, S. 99-138. Dazu auch Sebastian Leikert, Den
Spiegel durchqueren. Die kinetische Semantik in Musik und Psychoanalyse, GieRen 2008.
Gregor Nickel/Markus Helmerich/Ralf Krémer/Katja Lengnink/Martin Rathgeb (Hg.), Mathematik und
Gesellschafl. Historische, philosophische und didaktische Perspektiven, Springer 2018.
Andreas Doerne, Musikschule neu erfinden. Ideen flir ein Musizierlernhaus der Zukunft, Mainz 2019
Vgl. dazu auch Wolfgang Lessing, Von Kernen und Randern. Überlegungen zum Ort der Instrumentalpdd-
agogik, in: Wolfgang Rudiger (Hg.), Instrumentalpadagogik — wie und wozu?, Mainz 2018, S. 19-50-
Vgl u.a. fixe »Bildungsschule Harzberg« unter Leitung von Falko Peschel oder die mit dem Deutschen
Schulpreis ausgezeichnete »Alemannenschule« in Wutöschingen.

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