Sie sind auf Seite 1von 184

Bauwelt Fundamente 41

Herausgegeben von
Peter Neitzke
Beirat:
Gerd Albers
Hildegard Barz-Malfatti
Elisabeth Blum
Eduard Führ
Thomas Sieverts
Jörn Walter

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Titelei_20150807.indd 1 10.08.15 09:47


0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Titelei_20150807.indd 2 10.08.15 09:47
Aldo Rossi

Die Architektur
der Stadt

Skizze zu einer
grundlegenden Theorie
des Urbanen

Bauverlag Birkhäuser
Gütersloh · Berlin Basel

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Titelei_20150807.indd 3 10.08.15 09:47


Originaltitel L’Architettura della Città, erschienen als Band 8 der Reihe „Biblioteca di Architettura
e Urbanistica“ (Marsilio Editori, Padova)
Aus dem Italienischen von Arianna Giachi

Die Reihe Bauwelt Fundamente wurde von Ulrich Conrads 1963 gegründet und bis 2013 heraus-
gegeben (einschließlich Band 149), seit Anfang der 1980er Jahre gemeinsam mit Peter Neitzke.

Library of Congress Cataloging-in-Publication data


A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-
grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der
Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der
Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Spei-
cherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbe-
halten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall
nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils gel-
tenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterlie-
gen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

Dieses Buch ist auch als E-Book (ISBN 978-3-0356-0166-4) erschienen.

Der Vertrieb über den Buchhandel erfolgt ausschließlich über den Birkhäuser Verlag.
© 2015 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel, Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz, ein Unternehmen von
Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston;
und Bauverlag BV GmbH, Gütersloh, Berlin

Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞
Printed in Germany

ISBN 978-3-0356-0044-5

987654321

www.birkhauser.com

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Titelei_20150807.indd 4 10.08.15 09:47


Inhalt

Vorwort zur zweiten (italienischen) Ausgabe 7


Einleitung 12

Erstes Kapitel
Städtebauliche Strukturen 19
1. Individualität städtebaulicher Strukturen 19
2. Die Stadt als Kunstwerk 21
3. Tyologische Probleme 26
4. Kritik am naiven Funktionalismus 29
5. Fragen der Systematisierung 32
6. Der komplexe Charakter städtebaulicher Sachverhalte 39
7. Die Theorie der Permanenz und die Baudenkmäler 42

Zweites Kapitel
Primäre Elemente und Stadtareal 47
1. Der Untersuchungsbereich 47
2. Areal und Stadtviertel 50
3. Wohnviertel 56
4. Typologie der Berliner Wohnbauten 60
5. Garden city und ville radieuse 69
6. Die primären Elemente 72
7. Baudenkmal und Stadtentwicklung 74
8. Fortleben antiker Städte 78
9. Wandlungsprozesse 80
10. Geographie und Geschichte 83

Drittes Kapitel
Individualität städtebaulicher Phänomene 91
1. Der Standort 91
2. Architektur als Wissenschaft 95
3. Stadtökologie und Psychologie 97
4. Architektur als städtebauliches Phänomen 100
5. Das Forum Romanum 104

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Titelei_20150807.indd 5 10.08.15 09:47


6. Baudenkmäler und Milieu 112
7. Stadt als Geschichte 114
8. Das Kollektivgedächtnis 118
9. Athen 118

Viertes Kapitel
Stadtentwicklung 123
1. Veränderung der Eigentumsstruktur 123
2. Maurice Halbwachs und seine These 124
3. Historische Beispiele 128
4. Das Grundeigentum 134
5. Das Wohnungsproblem 138
6. Der neue Maßstab 140
7. Die politische Entscheidung 143

Bildteil 147

Nachwort zur deutschen Ausgabe 173

Typologische Probleme
(Nachwort zur dt. Übersetzung von L’architettura della città) 175

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Titelei_20150807.indd 6 10.08.15 09:47


Vorwort zur zweiten (italienischen) Auflage

In den Jahren seit dem ersten Erscheinen dieses Buches hat die Art
seiner Darstellung durch neuere Forschungsergebnisse ihre Bestäti-
gung gefunden. Insbesondere aber beherrschte seine enge Verbindung
von Stadtanalyse und Architektur die Fachdiskussion. Das hat mich
veranlaßt, einer Neuauflage des inzwischen vergriffenen Buches zuzu-
stimmen. Dabei habe ich von einer Überarbeitung und Erweiterung,
um dem neuesten Stand der Forschung gerecht zu werden, abgesehen,
da sie mir - zumindest für meine Hauptthesen - nicht notwendig
erschien.
Bezeichnend für den Erfolg meines Buches sind dessen häufige Zitie-
rung und die Übernahme seiner Begriffe. Vor allem das Wort Stadt-
architektur wird häufig - und nicht immer richtig - verwendet.
Dieser Begriff soll deshalb hier noch einmal so knapp wie möglich
erläutert werden: Die Stadt als Architektur betrachten heißt die Tat-
sache anerkennen, daß Architektur nicht etwa als abstrakter Begriff,
sondern als konkreter Bauvorgang etwas Eigenständiges ist, daß sie das
wichtigste städtebauliche Phänomen entstehen läßt und daß sie durch
alle die hier analysierten Prozesse Vergangenheit mit Zukunft ver-
bindet. Stadtarchitektur verflüchtigt sich deshalb bei mir nicht zu
einem vagen städtebaulichen Begriff, bei dem angeblich der neue
Maßstab auch zu neuen Bedeutungen führt. Vielmehr kommt es mir
darauf an, die Bedeutung des einzelnen Projekts und die Art, wie es zu
einem städtebaulichen Phänomen wird, zu analysieren.
Einen wichtigen Platz nimmt in meiner Untersuchung uer Architek-
tur, die die gesamte architektonische Vergangenheit in ihre Sicht ein-
bezieht, die Auseinandersetzung mit den Theorien ues Neuen Banens
ein, dessen bedeutendstes Erbe hier seine Würdigung erfährt. Wie
notwendig diese ist, beweisen die zahlreichen Veröffentlichungen,
Übersetzungen und Stellungnahmen, die in den vier Jahren seit dem
ersten Erscheinen dieses Buches zu diesem Thema herausgekommen
sind. Dabei bedeutet eine Würdigung dieses Erbes auf jeden Fall, daß
das verfügbare Material einer Kritik unterzogen wird. Der Standpunkt.
das Neue Bauen unterscheide sich in seiner Qualität grundsätzlich von
aller vorangegangenen Architektur und stelle eine politisch-moralische
Bewegung dar, wird ja ohnehin heute nur noch von verbohrten Nach-
züglern vertreten, die außerdem nichts Neues zu dem von ihnen ver-
teidigten Erbe beigetragen haben. Mein Bnch dagegen untersucht
zum ersten 1\-Tal, inwieweit dieses Erbe heute noch zu akzl'ptieren ist.

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 7 10.08.2015 09:40:38


Beim Wiederlesen meines Buches erweist sich die Frage nach tler
Beziehung zwischen Stadtanalyse und Planung als sein Hauptgegen-
stand. Die Dürftigkeit eines Teiles der heutigen Architekturforschung
geht aus kaum etwas deutlicher hervor als aus ihrem Anspruch auf
\'Vissenschaftlichkeit, mit dem sich ausdrücklich - oder, schlimmer
noch, unausgesprochenermaßen - der auf Neutralität verbindet. In-
dessen ist der Begriff der Neutralität nur im Rahmen eines bestehen-
den Begriffs- oder Regelsystems verwendbar. Denn sobald man dieses
System selbst in Frage stellt, hat er keinerlei Sinn mehr. Deshalb
können Architektur und Architekturtheorie wie alles andere zwar nur
durch genau determinierte Begriffe beschrieben werden. Diese Be-
griffe aber haben weder eine absolute Gültigkeit, noch sind sie neutral.
Keine Idee kann das sein. Vielmehr verändert sie, je bedeutender sie
ist, desto stärker die menschliche Sichtweise.
In der Architektur sind Erkenntnisfragen immer mit Fragen der
Tendenz und der Entscheidung gekoppelt. Denn für eine tendenzlose
Architektur gibt es keinen Anwendungsbereich und keine Anwen-
dungsmöglichkeit. Ebenso ist für eine Architekturtheorie ihr Bezug
zur Geschichte eine Frage der Wahl. Das gilt auch für meine Ein-
führung in das Werk von Etienne-Louis Boullee, das ich nach dem
Erscheinen dieses Buches übersetzt habe. In ihr konfrontiere ich
einen Rationalismus, der komplexer ist als dessen schematischer Begriff
in der Geschichtsschreibung des Neuen Bauens bis vor wenigen Jahren
mit einer eigenen Tradition, um zu einer angemessenen Beziehung
zur Gegenwart zu kommen. Dagegen erweist die Tendenzlosigkeit
vieler heutiger Forschungen deren Überflüssigkeit und improvisato-
rischen Charakter.
Auch die Frage nach der Beziehung zwischen Stadtanalyse und Pla-
nung kann nämlich nur aufgrund einer bestimmten Tendenz und
innerhalb eines bestimmten Systems und nicht von einer neutralen
Position aus gelöst werden. Beispielhaft in dieser Hinsicht sind die
Untersuchungen von Ludwig Hilberseimer, in denen Stadtanalyse
und Bauen, eng aufeinander bezogen, zwei Aspekte der Gesamt-
theorie einer rationalen Architektur darstellen. Seine beiden Begriffe
Analyse und Projekt, auf die ich in den letzten Jahren mehrfach
zurückgekommen bin und die das Thema einer Gemeinschaftsarbeit
waren, bilden, so meine ich, nunmehr die Grundlage jeder Forschung,
bei der Architektur z.um eigentlichen Gegenstand der Untersuchung
städtebaulicher Phänomene und ihrer Gestalt winl. Der rationale
Charakter der Architektur beruht nämlich darauf, daß ihre Tat-
bestände in Beziehung zur Zeit entstehen, wobei früher Entstandenes
zum integrierenden Bestandteil ihrer Bauten werden kann. Ebenso
werden auch für den Archäologen und den Künstler die Ruinen einer
Stadt erst in dem Augenblick zum Gegenstand ihrer Erfindung, in

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 8 10.08.2015 09:40:40


dem sie sich in em bestimmtes System einordnen lassen, das auf
klaren und allmählich sich erhärtenden Hypothesen beruht. Erst so
entsteht Wirklichkeit. Der Bau von Wirklichkeit vollzieht sich deshalb
dadurch, daß Architektur sich in Beziehung zu den vorhandenen
Dingen und zur Stadt, zu den Ideen und zur Geschichte setzt.
Aufgrund dieser Überlegungen habe ich anderweitig die These von der
»analogen Stadt« aufgestellt, bei der es mir um die theoretischen
Grundlagen des architektonischen Entwurfs ging. Damit meine ich
den kompositorischen Vorgang, der sich auf einige Grundphänomene
der städtebaulichen Realität stützt und ihnen im Rahmen eines ana-
logen Systems neue Fakten hinzufügt. Exemplifiziert habe ich den
Begriff der analogen Stadt an Canalettos Ansicht von Venedig im
Museum von Parma. Auf diesem Bild sind der Ponte di Rialto, wie
ihn Palladio entworfen hat, die Kirche Il Redentore und der Palazzo
Chiericati einander angenähert und so dargestellt, als handele es sich
um eine von dem Maler beobachtete Stadtsituation. So bilden die drei
Werke Palladios, von denen eines nur ein Entwurf gehlieben ist, ein
analoges Venedig, das aus bestimmten für die Geschichte der Archi-
tektur und der Stadt wichtigen Bauwerken komponiert wird. Durch
die topographische Annäherung der beiden vollendeten Bauten an die
nur entworfene Brücke entsteht eine Stadt, die wir kennen, obgleich
sie nur ein imaginärer Ort für eine bedeutende Architektur ist. An
diesem Beispiel wollte ich zeigen, wie Planung aufgrund einer formal-
logischen Operation entstehen kann. Daraus ergab sich eine Theorie
der architektonischen Planung, deren Elemente im voraus genau
bestimmt und formal definiert sind, deren Bedeutung und eigentlicher
Sinn sich aber erst nach Ausführung der Planung als etwas Unvorher-
gesehenes und Originales ergibt.
Ich bin der Ansicht, daß einige Teile meines Buches Fragen berühren,
die, wenn sie noch genauer untersucht würden, für die gesamet
Architekturforschung von großer Bedeutung sein könnten. Dabei
denke ich an die Theorie der Permanenz und der Bedeutung der Bau-
denkmäler, an den Begriff des Standorts, die Entwicklung der Stadt
und ihrer Teile und die konkrete Bedeutung, die die Architektur als
physische Struktur seiner Institutionen einem Ort verleiht. Zu anderen
Themen wie der Typologie der Bauten, der Morphologie der Stadt
oder dem Problem der Systematisierung, die für die Architektur in
diesem Buch zum ersten Mal versucht worden ist, sind inzwischen wich-
tige Beiträge geliefert worden, die man bei der Lektüre dieses Buches
heranziehen sollte.
Meine Forderung in der Einleitung des Buches, daß wir mehr analy-
tisches Material über einzelne Städte brauchen, das aufgrund der
authentischen Kenntnis unterschiedlichster städtebaulicher Situa-
tionen den Rahmen fiir die Besonderheiten einer bestimmten Stadt-

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 9 10.08.2015 09:40:40


architektur darstellen könnte, hat inzwischen nichts von ihrer Gültig-
keit verloren. Das verfügbare Material ist immer noch zu fragmenta-
risch, um daraus hieb- und stichfeste Folgerungen ziehen zu können.
Gerade die Einzelergebnisse einer solchen Analyse aber könnten da-
durch, daß sie unsere Hypothesen aufgrund neuer Fakten Stück für
Stück korrigieren würden, zu einer Revision unserer Theorie führen.
Derartige Monographien wären aber vor allem deshalb notwendig,
weil nur sie die vollständige Analyse einer Stadt ermöglichen. Denn
die Gestaltung einer Stadt ist ein System, vermittels dessen die Fragen
der Topographie und des Grundeigentums, die Bauverordnungen, der
Klassenkampf und die Idee der Architektur sich nach und nach in
konkrete Bauten umsetzen. Mit dieser konkreten Architektur und
ihren einzelnen Phänomenen muß jede allgemeine Theorie immer
wieder konfrontiert werden. In den letzten Jahren sind auf diesem
Gebiet Forschungen betrieben worden, deren Veröffentlichung nütz-
liche Anhaltspunkte liefern könnte.
Auch das Problem des Funktionalismus ist in den letzten Jahren aus
einer neuen Sicht behandelt worden, die interessantes Material zur
Stützung meiner These geliefert hat. Meine Kritik bezieht sich dabei
auf den naiven Funktionalismus, der sowohl als Kompositionsprinzip
bei der Architektenausbildung als bei seiner Anwendung als norma-
tivem Prinzip für die Zonierung die Wirklichkeit unzulässig verein-
facht und Phantasie und Freiheit der Architekten zu sehr beschneidet.
In den letzten Jahren habe ich diese Kritik in meiner Einleitung zu
Boullees Werken, in welcher ich dem Rationalismus der Funktiona-
listen einen anderen Begriff des Rationalismus gegenüberzustellen
versuchte, und in anderen Arbeiten weiter vertieft. Diese Kritik am
Funktionalismus muß als eine neue Theorie der architektonischen
Komposition verstanden werden, die die Grundlage für jede Stadt-
analyse bildet. Meine Polemik gegen den naiven Funktionalismus
bedeutet aber nicht, daß ich den Begriff der Funktion in seinem eigent-
lichen algebraischen Sinn ablehne. Denn in dieser algebraischen Be-
deutung impliziert der Begriff, daß Werte als Funktionen anderer
Werte verstanden werden und daß zwischen Funktion und Form kom-
plexere Beziehungen als die lineare Beziehung von Ursache und Wir-
kung bestehen, die der Wirklichkeit widerspricht.
Schließlich habe ich allen zu danken, die dieses Buch rezensiert, dis-
kutiert und studiert haben und sich dabei auf seine unterschiedlichen
Aspekte bezogen. Interessant waren für mich vor allem die Bespre-
chungen von Carlo Aymonino, Giorgio Grassi und Vittorio Gregotti,
weil diese Autoren sich von verschiedenen Standpunkten aus mit den
Beziehungen dieses Buches zur Architektur und insbesondere zu den
theoretischen Grundlagen meiner eigenen Planungsarbeit und meiner
Lehrtätigkeit beschäftigen. Diese Aufsätze könnten aufgrund ihrer

10

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 10 10.08.2015 09:40:41


Kompetenz und ihrer ganz neuen Überlegungen ein Teil dieser Arbeit
sein. Besonderen Dank schulde ich auch Manfredo Tafuri, der bei
seiner Darstellung der modernen Architekturtheorien die Thematik
dieses Buches in einen architektonischen Gesamtzusammenhang ge-
bracht und meine Schriften und Entwürfe im Rahmen einer weit
ausgreifenden Architekturforschung behandelt hat. Die Zustimmung
dieser Autoren war für mich auch deshalb von großer Bedeutung,
weil ihre Anerkennung mit der schwierigsten Phase meiner gesamten
Architekturforschung zusammenfiel. Mein aufrichtiger Dank gilt
schließlich Salvador Tarrago Cid für seine Übersetzung des Buches ins
Spanische und für seinen großen einleitenden Essay zu dessen spa-
nischer Ausgabe.
Dezember 1969 Aldo Rossi

11

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 11 10.08.2015 09:40:41


Einleitung

Stadt wird in diesem Buch, dessen Gegenstand sie ist, als Architektur
verstanden. Damit ist nicht nur das sichtbare Stadtbild mit der
Gesamtheit seiner Bauten gemeint, sondern mehr noch Architektur
als Bauvorgang, das Werden einer Stadt im Lauf der Zeit. Auch
abgesehen davon, was ich persönlich zu einer solchen Sicht der Stadt
beizutragen habe, scheint sie mir der geeignetste Ausgangspunkt für
eine möglichst umfassende Stadtanalyse zu sein, die sich mit dem
eigentlichen und endgültigen Inhalt des Gemeinschaftslebens be-
schäftigt: der Herstellung einer es begünstigenden Umwelt. Denn ich
halte Architektur, weil sie ihrer Natur nach ein kollektives Phänomen
ist, für etwas vom kulturellen Leben und von der Gesellschaft
Untrennbares.
Als die frühen Menschen ihre ersten Behausungen bauten, wollten sie
sich durch deren künstliches Klima nicht nur ihr Leben erleichtern,
sie verfolgten dabei auch ästhetische Ziele. Schon die früheste
Architektur enthält deshalb erste Ansätze zum Städtebau. Von Anfang
an ist sie ein notwendiger Bestandteil der Kultur und gibt der mensch-
lichen Gesellschaft ihre konkrete Gestalt. Aufgrund dieser Tatsache
und dadurch, daß die Stadt in engem Zusammenhang mit der Natur
steht, unterscheidet sich die Architektur grundsätzlich von allen
anderen Künsten und Wissenschaften.
Von diesen Voraussetzungen muß jede Erfolg versprechende Unter-
suchung der Stadt ausgehen. Sie gelten schon für die frühesten Sied-
lungen, und während die Stadt mit der Zeit wächst, sich ihrer selbst
bewußt und Gegenstand ihrer eigenen Erinnerung wird, behält sie
die ursprünglichen Motive für ihr Entstehen bei, präzisiert sie aber
zugleich im Lauf ihrer Entwicklung und wandelt sie ab. Florenz ist
eine in ihrer konkreten Gestalt unverwechselbare Stadt. In ihr
Gedächtnis und ihr Bild fließen aber auch Erfahrungen ein, die sich
nicht ausschließlich auf sie selbst beziehen. Diese allgemeingültigen
Erfahrungen können uns indessen niemals Auskunft über das spezi-
fische Gebilde geben, das Florenz darstellt.
Dem Gegensatz zwischen Eigentümlichem und Allgemeinem, zwi-
schen Individuellem und Kollektivem, der jeder Stadt innewohnt und
sich aus ihrem architektonischen Werden ergibt, gilt ein Hauptinter-
esse dieses Buches. Er zeigt sich unter verschiedenen Aspekten in den
Beziehungen zwischen öffentlicher und privater Sphäre, zwischen
rationaler Planung der Stadtarchitektur und der Bedeutung ihres

12

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 12 10.08.2015 09:40:43


Standortes, zwischen öffentlichen und privaten Bauten. Daneben gilt
meine besondere Aufmerksamkeit den Fragen der Quantität und
ihren Beziehungen zu denen der Qualität. Bei meinen Untersuchun-
gen einzelner Städte hat es mir stets Schwierigkeiten bereitet, all-
gemeingültige Schlüsse aus dem von mir analysierten Material zu
ziehen und dessen quantitative Auswertung vorzunehmen. Denn
jedes Baugelände ist etwas Einmaliges, während jede Bebauungs-
maßnahme von allgemeingültigen Kriterien ausgehen muß. Da ich
aber der Auffassung bin, daß die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten
eine Bebauung lediglich nach rationalen Prinzipien unmöglich ma-
chen und daß vielmehr die einzigartige örtliche Situation einer
Bebauung ihr eigentümliches Gepräge gibt, kann man meines Erach-
tens den Wert von Stadtmonographien und die Kenntnis der einzelnen
Faktoren einer Stadtarchitektur- auch und gerade unter ihren indivi-
duellsten, eigentümlichsten und außergewöhnlichsten Aspekten - gar
nicht hoch genug veranschlagen, wenn man nicht ebenso gekünstelte
wie nutzlose Theorien aufstellen will.
Von diesen Überlegungen ausgehend habe ich eine analytische Me-
thode zu erarbeiten versucht, die zugleich eine quantitative Auswer-
tung des Untersuchungsmaterials und seine Erfassung nach einem
einheitlichen Kriterium erlaubt. Diese Methode beruht einerseits auf
dem Verständnis der Stadt als eines kontinuierlichen Bauvorganges
und damit als eines menschlichen Artefakts und andererseits auf der
Unterscheidung zwischen primären Elementen und Wohngebieten.
Dabei bin ich der Überzeugung, daß eine vergleichende Untersuchung
der einzelnen Faktoren einer Stadtarchitektur und ihre hier versuchte
Systematisierung zu neuen Ergebnissen führen kann. Denn wenn die
Unterteilung der Stadt in öffentliche und private Sphäre, in primäre
Elemente und Wahngebiete auch schon oft zur Diskussion gestellt
worden ist, so ist sie doch nie so stark in den Vordergrund gerückt
worden, wie sie es eigentlich verdient. In ihrer Gegensätzlichkeit sind
diese Elemente nämlich integrierende Bestandteile der Stadtarchitek-
tur als der beständigen Bühne des menschlichen Lebens, auf der sich
öffentliche Ereignisse und private Tragödien abspielen und die von
den Gefühlen ganzer Generationen durchtränkt ist. Individuum und
Gemeinschaft begegnen und durchdringen sich in der Stadt. Sie be-
steht aus zahllosen Einzelwesen, die sich ihre eigene kleine Welt
schaffen wollen, um damit ihren eigenen Wünschen zu entsprechen
und sich zugleich der allgemeineren Umwelt anzupassen. Die Wohn-
bauten und die Grundstücke, auf denen sie stehen, sind in ihrer
dauernden Veränderung Zeichen dieses Alltagslebens. Zerstörung und
Abriß, Enteignung und plötzlicher Wechsel in der Nutzung von
Grund und Boden werden ebenso wie Spekulation und V erslumung
vor allem als Ausdruck städtebaulicher Dynamik betrachtet und sollen

13

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 13 10.08.2015 09:40:43


unter diesem Aspekt hier auch gründlich untersucht werden. Aber
unabhängig von ihrer Wertung stellen diese Vorgänge auch Eingriffe
in das Leben des einzelnen dar und sprechen von seiner oft schwie-
rigen und schmerzlichen Partizipation am KollektivschicksaL Die
Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit aber findet ihren dauerhafteren
Ausdruck in den Baudenkmälern einer Stadt. Als primäre Elemente
der Stadtarchitektur sind sie Zeichen des Kollektivwillens und stellen
als solche Fixpunkte in der städtebaulichen Dynamik dar.
Diese Problematik und ihre Implikationen verweisen die Wissenschaft
vom Städtebau in den Umkreis der Humanwissenschaften. Innerhalb
dieses Rahmens kommt ihr indessen eine Autonomie zu, nach deren
Merkmalen und Grenzen in diesem Buch immer wieder gefragt
werden soll. Man kann die Stadt von verschiedenen Gesichtspunkten
aus analysieren, doch immer wird sich die Architektur dabei als ihr
letztes, nicht weiter reduzierbares Element erweisen. Für dessen Ana-
lyse aber sind weder die Architekturgeschichte noch die Soziologie
oder eine andere Wissenschaft zuständig. Das bestätigt die Eigen-
ständigkeit der Wissenschaft vom Städtebau, die sogar beanspruchen
darf, eines der wichtigsten Kapitel der Kulturgeschichte zu sein.
Zu den verschiedenen Methoden zur Untersuchung der Stadt, von
denen hier die Rede sein soll, gehört auch die vergleichende Methode,
da sie uns auf eine immer stärkere Differenzierung der städtebau-
lichen Tatbestände im Lauf der Geschichte hinweist. Gleichwohl
dürfen wir uns bei der Untersuchung der Stadt nicht nur auf sie be-
schränken. Denn sie könnte uns dazu verführen, nur das Unveränder-
liche in der Geschichte einer Stadt wahrzunehmen, das unter Um-
ständen auch ein Krankheitssymptom sein kann. Jedenfalls ist die
Rolle, die solche unverändert fortbestehenden Elemente für die Unter-
suchung einer Stadt spielen, mit der analoger sprachlicher Erschei-
nungen für die Linguistik zu vergleichen. Deshalb könnte man auch
Saussures Programm für die Linguistik auf die Urbanistik übertragen,
die sich demzufolge vor allem mit der Beschreibung und Geschichte
bestehender Städte einerseits und andererseits mit der Untersuchung
der Kräfte beschäftigen müßte, die sich überall und zu allen Zeiten bei
der Entstehung von Stadtarchitektur auswirken.
Unter Zurückstellung der systematischen Entwicklung eines der-
artigen Programms gehe ich in diesem Buch insbesondere auf die
historischen Probleme und die Beschreibung der einzelnen Faktoren
der Stadtarchitektur ein, untersuche die Beziehungen zwischen lokalen
Gegebenheiten und städtebaulichem Geschehen und bemühe mich zu
klären, welche die wichtigsten Faktoren sind, die sich stets und überall
auf die Entwicklung einer Stadt auswirken. Im letzten Teil behandele
ich dann den Städtebau als Sache der politischen Entscheidung, mit
deren Hilfe die Stadt ihre eigene Stadtidee realisiert.

14

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 14 10.08.2015 09:40:44


Nach meiner Überzeugung sollten sich unsere Untersuchungen viel
stärker als hisher mit der Geschichte der Stadtidee beschäftigen, das
heißt mit der Geschichte der Idealstadt und der Stadtutopien. Denn
die tatsächliche Stadtentwicklung und die Idealentwürfe widerspre-
chen einander zwar, beeinflussen sich aber auch fortwährend gegen-
seitig. Die Geschichte der Architektur und der städtehauliehen \Virk-
liehkeit ist stets die Architekturgeschichte der herrschenden Klassen.
Man müßte deshalb untersuchen, inwieweit und mit welchem Erfolg
Revolutionszeiten dieser Architektur andere konkrete Organisations-
formen der Stadt gegenübergestellt haben.
Eine Untersuchung der Stadt sieht sich deshalb zwei verschiedenen
Positionen gegenüber, die man bis zur griechischen Stadt und dem
Gegensatz zwischen Platos >>Staat« und der Analyse der konkreten
Stadt durch Aristoteles zurückverfolgen kann. Dabei hat Aristoteles
meiner Auffassung nach den entscheidenden Schritt nicht nur zur
Untersuchung der konkreten Stadt, sondern auch zur Stadtgeographie
und zur Stadtarchitektur getan. Gleichwohl müssen wir heide Posi-
tionen im Auge behalten. Denn auch die reinen Ideen haben auf
vielerlei direkte und indirekte Arten Einfluß auf die Stadtentwicklung
ausgeübt.
Die Erarbeitung einer städtebaulichen Theorie kann auf zahlreiche
Studien zurückgreifen, die insgesamt aber zwei großen Systemen
angehören. Das eine betrachtet die Stadt als das architektonische Pro-
dukt von Funktionen, das andere sieht in ihr eine räumliche Struktur.
Das funktionalistische System geht von der Analyse politischer, sozialer
und ökonomischer Tatbestände aus und behandelt die Stadt aus der
Sicht dieser Disziplinen. Das andere System ist eher architektonischen
und geographischen Charakters.
Obgleich ich bei meinen Darlegungen von letzterem ausgehe, beziehe
ich doch die politischen, sozialen und ökonomischen Aspekte in sie ein,
weil sich aus ihrer Sicht wichtige Fragen ergeben. Deshalb verweise
ich auf Autoren verschiedener Herkunft und untersuche einige
Thesen, die ich - unabhängig von ihrer Wertung - für grundlegend
halte. Besonders nachdrücklich stelle ich aber diejenigen Autoren her-
aus, deren Beitrag zu einer autonomen städtebaulichen Theorie mir
so entscheidend erscheinen, daß ich mir ihre Thesen zu eigen gemacht
habe.
Zu ihnen gehört insbesondere Fustel de Coulanges aufgrund der
Wichtigkeit, die er den Institutionen als einem wirklich konstanten
Element des historischen Lebens und den Beziehungen zwischen
Mythos und Institution heimißt. Nach seiner Auffassung kommen und
gehen die Mythen von einem Ort zum anderen. Jede Generation er-
zählt sie auf andere Art und fügt dem überkommenen Erbe Neues
hinzu. Aber hinter dieser Realität, die sich von einer Epoche zur ande-

15

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 15 10.08.2015 09:40:44


ren verändert, steht eine dauerhafte Realität, die sich in gewisser
Weise dem Einfluß der Zeit zu entziehen vermag. Sie müssen wir als
das eigentlich tragende Element der religiösen Tradition betrachten.
In der antiken Stadt sind die Beziehungen des Menschen zu den
Göttern, der Kult, den er ihnen weiht, und die Namen, mit denen er
sie anruft, insgesamt an unverletzliche Normen gebunden, auf die der
einzelne keinen Einfluß hat. Diese kollektive Natur des Ritus, durch
die er für den Mythos eine bewahrende Funktion erfüllt, stellt auch
den Schlüssel für das Verständnis dessen dar, was die Baudenkmäler,
die Gründung der Stadt und die Überlieferung davon für die Realität
einer Stadt bedeuten.
In meinem Entwurf einer städtebaulichen Theorie spielen deshalb die
Baudenkmäler eine wichtige Rolle, auch wenn ich ihre Bedeutung für
die Entwicklung einer Stadt nicht immer hinreichend erklären kann.
In dieser Hinsicht sind noch viele Fragen zu klären. Das gilt insbeson-
dere für die Beziehung zwischen Baudenkmal, Ritus und Mythos im
Sinne von Fustel de Coulanges. Denn nicht nur der Ritus ist etwas
Dauerhaftes und damit ein mythenerhaltendes Element, sondern auch
das Baudenkmal, das zugleich Zeugnis vom Mythos ablegt und
dessen Ritual ermöglicht.
Eine derartige Forschung müßte bei der griechischen Stadt ansetzen.
Sie würde uns neue Einsichten in die Stadtstruktur vermitteln, die in
ihren Anfängen unlöslich mit der Lebens- und Verhaltensweise der
Menschen gekoppelt ist. Die Erkenntnisse der modernen Anthropologie
über die Struktur primitiver Dörfer eröffnen für die Untersuchung
von Stadtplänen insofern neue Ausblicke, als sie zu einer Grundlagen-
forschung und zur Aneignung immer umfangreicherer Kenntnisse
von einzelnen Tatbeständen und deren Beziehung zu Ort und Zeit
führen und damit zu Einsichten über die in jeder Stadtentwicklung
wirksamen Kräfte.
Bisher wurde die Beziehung zwischen der wirklichen Stadt in ihren
Einzelheiten und den Stadtutopien stets nur innerhalb eines zu engen
Rahmens untersucht. Dagegen könnte zum Beispiel das Studium der
Streitigkeiten zwischen dem utopischen und dem wissenschaftlichen
Sozialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch einen
wichtigen Beitrag zur Geschichte des Städtebaus liefern, sofern man
sie nicht lediglich unter ihrem politischen Aspekt betrachtet, sondern
an der Wirklichkeit der Städte mißt und dadurch mit schlimmen Ver-
zerrungen ein Ende macht. Ähnliches gilt für die gesamte Geschichte
des Städtebaus.
Da diejenigen, die sich mit der Stadt beschäftigen, ihr Augen-
merk bisher fast ausschließlich auf einige soziologische Merk-
male der Industriestadt richteten, haben sie eine Reihe außeror-
dentlich wichtiger und nicht zu vernachlässigender anderer Sachver-

16

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 16 10.08.2015 09:40:45


halte übersehen. Ich denke dabei zum Beispiel an die Siedlungen
und Kolonialstädte der Europäer in Amerika, die noch kaum
erforscht sind. Immerhin hat Gilberto Freyre bei seiner Unter-
suchung bestimmter von den Portugiesen in Brasilien eingeführ-
ter Bau- und Stadttypen festgestellt, daß deren Struktur nach-
haltigen Einfluß auf die Gesellschaft ausgeübt hat, die sich in Brasilien
herausbildete. Andererseits haben die theokratischen Ideen der Jesui-
ten und das Verhalten spanischer und französischer Kolonisatoren zu-
sammen mit der Beziehung zwischen Landbevölkerung und Groß-
grundbesitzern portugiesischen Gepräges sich deutlich auf die Gestalt
der südamerikanischen Städte ausgewirkt. Weitere Untersuchungen
dieser Art könnten für die Erforschung der Beziehungen zwischen
politischen Utopien und Stadtgestalt von grundsätzlicher Bedeutung
sein. Denn aus dem Material, das uns bisher zur Verfügung steht,
lassen sich noch keine allgemeingültigen Schlüsse ziehen. Wieviel
Vorsicht dabei geboten ist, geht nämlich schon daraus hervor, daß der
Übergang von der kapitalistischen zu einer sozialistischen Gesellschaft in
den Städten der Länder, in denen sie stattgefunden hat, kaum Spuren
hinterließ und daß wir uns deshalb von dem möglichen Ausmaß und
den Grenzen solcher eventueller städtebaulicher Umstrukturierungen
vorläufig noch keine Vorstellung machen können.
Das vorliegende Buch besteht aus vier Kapiteln. Im ersten behandele
ich die Probleme der Beschreibung und Systematisierung, das heißt
also die Fragen der Typologie. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit
der Struktur der einzelnen Stadtteile. Im dritten Kapitel geht es um
die Stadtarchitektur und ihren Standort und damit auch um Stadt-
geschichte. Im vierten Kapitel schließlich setze ich mich mit den Grund-
fragen der Stadtentwicklung und dem Problem der politischen Ent-
scheidung auseinander. Dabei gehe ich immer vom Stadtbild und
seiner Architektur aus, da sie für alle vom Menschen bewohnten und
bebauten Gebiete der Erde von entscheidender Bedeutung sind.
»Wald und Heide, bebautes und unbebautes Land stellen in der
Erinnerung des Menschen eine unauflösliche Gesamtheit dar«, heißt
es bei Vidal de la Blache. Diese unauflösliche Gesamtheit ist die
zugleich natürliche und künstliche Heimat des Menschen. Wie wichtig
der Begriff der Natur dabei auch für die Architektur ist, geht aus einer
Formulierung von Milizia hervor: »Der Architektur fehlt freilich ein
Vorbild, das die Natur ihr liefert; dafür besitzt sie eines, das der
Mensch ihr liefert, insofern er schon beim Bau seiner ersten Behau-
sungen seinem natürlichen Tatendrang folgte.«
Abschließend möchte ich meiner festen Überzeugung Ausdruck geben,
daß die in diesem Buch vorgetragene städtebauliche Theorie eine
vielseitige Entwicklung nehmen wird und dabei unvorhergesehene
Richtungen einschlagen und überraschende Akzente setzen wird.

17

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 17 10.08.2015 09:40:45


Ebenso überzeugt bin ich allerdings davon, daß diese Entwicklung nur
dann Früchte tragen wird, wenn sie die Stadt nicht neuerlich auf
einige Aspekte einschränkt und damit ihre eigentliche Bedeutung aus
den Augen verliert. In Gang kann diese Fortentwicklung der städte-
baulichen Theorie allerdings nur kommen, wenn dieses Gebiet in
Forschung und Lehre seinen eigenständigen Platz erhält. Mein Bei-
trag ist dazu nur ein erster Ansatz, auch wenn er das Ergebnis intensi-
ver Forschungen ist. Wichtiger als die Diskussion seiner Ergebnisse
scheint mir dabei die kritische Stellungnahme zu seiner Methode zu
se1n.

18

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 18 10.08.2015 09:40:47


Erstes Kapitel

Städtebauliche Strukturen

1. Individualität städtebaulicher Strukturen

Wenn wir eine Stadt beschreiben, beschäftigen wir uns vorwiegend


mit ihrer Gestalt, das heißt mit etwas konkret Erfahrbarern: Athen,
Rom oder Paris. Diese Erfahrung bezieht sich auf die Stadtarchitektur,
die man auf zweierlei Art betrachten kann. Entweder man sieht in ihr
ein großes Gebilde, ähnlich einem mehr oder weniger großen, mehr
oder weniger komplexen Werk der Ingenieur- oder Baukunst, das mit
der Zeit an Umfang zunimmt, oder man konzentriert seine Betrach-
tung auf einzelne städtebauliche Phänomene, die durch ihre Archi-
tektur und das heißt durch ihre spezifische Gestalt charakterisiert
werden. In beiden Fällen müssen wir uns aber darüber klar sein, daß
die Architektur nur einen Teil einer komplexeren Realität von eigen-
tümlicher Struktur darstellt, daß sie jedoch als einzig überprüfbares
Faktum dieser Realität den konkretesten Ansatzpunkt für unsere
Untersuchung bietet. vVenn wir uns nämlich ein bestimmtes städte-
bauliches Phänomen vorstellen, sehen wir es deutlich vor uns. Aus
seiner Beobachtung ergibt sich sofort eine Reihe von Fragen, hinter
denen weitere, weniger klar umrissene wie die nach der Qualität und
der Einzigartigkeit jedes städtebaulichen Phänomens auftauchen.
In allen europäischen Städten gibt es große Bauwerke oder ganze Bau-
komplexe, die einen wesentlichen Bestandteil der Stadt ausmachen,
aber nur ausnahmsweise ihre ursprüngliche Funktion beibehalten
haben. Ich denke zum Beispiel an den Palazzo della Ragione in Padua.
Wenn man ein solches Baudenkmal besucht, ist man überrascht von
der Vielzahl seiner Funktionen, die anscheinend in keinerlei Zu-
sammenhang mit seiner Gestalt stehen. Gleichwohl ist es gerade diese
Gestalt, die uns beeindruckt, die wir erleben und durchwandern. Diese
Gestalt stellt zudem ein die Stadt strukturierendes Element dar, inso-
fern sie einem Bauwerk- mehr als das Material, aus dem es besteht-
seinen individuellen Charakter verleiht. Kennzeichnend für sie ist
außer ihrer komplexen räumlichen Organisation auch die zeitliche
Komponente. Sie wird deutlich, wenn wir uns vorstellen, der Palazzo
della Ragione sei erst vor kurzem erbaut worden. Auch dann könnten
wir seine Architektur als solche beurteilen, seinen Stil und damit seine
Gestalt bestimmen, aber es fehlte ihm eine Reihe von Elementen, die
seine städtebauliche Bedeutung ausmachen.
Ein Teil seiner ursprünglichen Qualitäten und Funktionen ist erhalten

19

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 19 10.08.2015 09:40:47


geblieben, ein anderer hat sich vollständig gewandelt. Einige seiner
Gestaltelemente sind stilistisch bestimmbar, andere scheinen fremder
Herkunft zu sein. Unser besonderes Interesse finden die seit der Bau-
zeit erhaltenen Qualitäten. Dabei stellen wir fest, daß es sich bei ihnen,
obgleich sie vermittels der Materie Gestalt gewinnen und dadurch zu
empirischen Daten werden, um geistige Werte handelt. Sie hängen
mitder Vorstellung zusammen, diewiruns von diesem Bauwerk machen,
mitseiner Bedeutungfürdas Kollektivgedächtnis und mitder Beziehung,
die es zwischen uns und der Gemeinschaft herstellt. Dabei darf man
allerdings nicht außer acht lassen, daß jeder Mensch heim Besuch eines
Gebäudes oder bei der Wanderung durch eine Stadt seine spezifischen
Erfahrungen macht und seine individuellen Eindrücke mitnimmt, die
sich von denen anderer Menschen unterscheiden. Manche Leute
hassen einen Ort, weil er sie an unglückliche Augenblicke ihres Lehens
erinnert, anderen erscheint derselbe Ort besonders liebenswert. Auch
derartige Erfahrungen im einzelnen und in ihrer Gesamtheit machen
eine Stadt aus. Deshalb müssen wir, obgleich das unserem modernen
Bewußtsein nicht leichtfällt, dem Raum als solchem eine besondere
Qualität zuerkennen, die man in der Antike durch die Weihe eines
Ortes zum Ausdruck brachte. Die Einbeziehung dieser Qualität in
unsere Untersuchung setzt eine Art der Analyse voraus, die sehr viel
tiefer geht als einige vereinfachende psychologische Tests, die sich nur
auf die Wahrnehmung von Formen beziehen.
Die Betrachtung eines einzigen städtebaulichen Phänomens hat ge-
nügt, um uns auf die für seine Charakterisierung wichtigen, hisher
aber meist vernachlässigten Merkmale der Individualität, des Stand-
ortes, des Entwurfs und des Gedächtnisses zu verweisen. Damit zeichnet
sich eine Möglichkeit der Erkenntnis städtehaulischer Phänomene ab,
die vollständiger als die übliche ist. Wir müssen nun untersuchen, ob
diese charakteristischen Begriffe eine konkrete Anwendung auf die
Stadtarchitektur finden können und das heißt auf ihre Gestalt, inso-
fern sie die Merkmale der einzelnen städtebaulichen Phänomene -
einschließlich ihres Ursprungs- in ihrer Gesamtheit in sich vereint.
Die Beschreibung dieser Gestalt, die sich auf unsere Beobachtung
stützt, enthält alle empirischen Daten unserer Untersuchung. Ihr
Instrument ist die Stadtmorphologie, die uns der Erkenntnis der
Stadtstruktur zwar näherhringt, aber sie noch nicht wirklich erfaßt.
Alle Wissenschaftler, die sich mit der Stadt beschäftigt haben, sind
nicht auf diese Struktur eingegangen, haben aber erklärt, daß es außer
den von ihnen aufgezählten Merkmalen städtebaulicher Sachverhalte
noch eine Seele der Stadt (>>l'äme de la cite«) gehe, in anderen Worten,
die eigentliche Qualität dieser städtebaulichen Tatbestände. So haben
die französischen Geographen zwar ein brauchbares deskriptives
System erarbeitet, haben aber naeh dem Hinweis darauf, daß die Stadt

20

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 20 10.08.2015 09:40:48


in ihrer Gesamtheit sich selbst erbaue und daß darauf ihre eigentliche
Existenzberechtigung beruhe, die letzte Hürde ihrer Untersuchungen
nicht genommen, sondern haben darauf verzichtet, die Bedeutung der
sich bereits abzeichnenden Struktur zu erforschen. Das lag nicht zu-
letzt an den Voraussetzungen, von denen sie ausgingen. Denn alle
diese Untersuchungen analysieren keine konkreten städtebaulichen
Fakten.

2. Die Stadt als Kunstwerk

Bevor ich gerrauer auf diese Untersuchungen eingehe, soll indessen


eine Grundsatzfrage behandelt werden. Schon bei unseren bisherigen
Überlegungen zur Individualität und Struktur einzelner städtebau-
licher Sachverhalte sind Kriterien aufgetaucht, die auch zur Analyse
eines Kunstwerks geeignet scheinen. In der Tat ist das Ziel unserer
Untersuchung zwar, die Natur städtebaulicher Sachverhalte zu klären,
aber wir müssen dabei sofort feststellen, daß sie eben dieser Natur nach
-nicht etwa nur im metaphorischen Sinn- Kunstwerken sehr ähnlich
sind. Sie sind aus Materie erbaut und sind doch mehr als diese Materie,
zugleich etwas Bedingtes und etwas Bedingendes1 . Dieser künstle-
rische Charakter städtebaulicher Phänomene hängt eng mit deren
Qualität und Einzigartigkeit zusammen und ist deshalb ein wichtiger

1 Lewis Mumford schreibt in >>The Culture of Cities<<, New York 1938: »Die
Stadt ist ein Naturgebilde wie eine Grotte, ein Nest oder ein Ameisenhaufen.
Aber sie ist zugleich ein seiner selbst bewußtes Kunstwerk, das in seiner
Kollektivstruktur viele einfachere und individuellere Kunstwerke enthält. Das
Denken nimmt in der Stadt Gestalt an, aber die Stadtgestalt ihrerseits be-
dingt das Denken. Denn ebenso wie der Raum wird auch die Zeit in der Stadt
durch die Umrißlinien ihrer Mauem, ihre Grundrisse und höchsten Bauten
auf ingeniöse \'V eise neuorganisiert. Bald wird dabei die Naturgestalt genutzt,
bald ein Kontrast zu ihr gesucht ... Die Stadt ist zugleich ein materielles
Instrument des Kollektivlebens und ein Symbol der Ziele und Vorstellungen
jener Gemeinschaft, die unter so günstigen Umständen leicht entsteht. Mit
einem Wort: Vielleicht ist die Stadt das größte Kunstwerk des Menschen.<<
Als Beispiel für die enge Verbindung zwischen Künstlern und einer als Kunst-
werk verstandenen Stadt verweise ich auf Thomas Mann: Lübeck als
geistige Lebensform. Rede, gehalten zur 700-Jahrfeier der Freien und Hanse-
stadt im Stadttheater zu Lübeck am 5. Juni 1926. Gesammelte Werke,
Band IX, FrankfurtfMain 1960, Seite 376ff.
Auf moderne Weise wurde die Stadtstruktur schon zweihundert Jahre vor der
Aufklärung von Michel de Montaigne in seinen Reisenotizen 1580/81 behan-
delt, die 1774 zum ersten Mal unter dem Titel »Journal de Voyage« erschie-
nen. Deutsch in: Michel de Montaignes Gesammelte Schriften, Hrsg. Otto
Flake und Wilhelm VVeigand, Band 7, Leipzig 1915.

21

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 21 10.08.2015 09:40:48


Gegenstand ihrer Analyse und Definition. Dabei handelt es sich, auch
wenn man von seinem psychologischen Aspekt absieht, um ein sehr
komplexes Problem. Denn nach meiner Auffassung sind städtebau-
liche Sachverhalte so komplizierte Phänomene, daß man sie zwar analy-
sieren, aber nur schwer definieren kann. Wenn man nämlich ein
beliebiges städtebauliches Phänomen, ein Bauwerk, eine Straße oder
ein Stadtviertel zu beschreiben versucht, stößt man sofort auf die glei-
chen Schwierigkeiten wie beim Palazzo della Ragione in Padua. Ein
Teil dieser Schwierigkeiten mag auf der Vieldeutigkeit unserer Sprache
beruhen und deshalb zu überwinden sein. Aber es bleiben immer
Erfahrungen übrig, die man nur machen kann, wenn man durch
dieses bestimmte Gebäude, diese bestimmte Straße, dieses bestimmte
Stadtviertel geht. Dabei wird jedermann seine besonderen, von denen
aller anseren unterschiedenen Eindrücke davontragen.
Anhand dieser Überlegungen können wir unsere Aufgabe so eingren-
zen, daß sie möglicherweise in der Hauptsache darin besteht, ein
städtebauliches Phänomen als Artefakt zu definieren. Das heißt, wir
müssen eine Straße, eine Stadt, eine Straße in einer Stadt, den Verlauf
dieser Straße, ihre Funktion, ihre Bauten und schließlich die Systeme
möglicher Straßen usw. definieren und klassifizieren. Dazu müssen
wir uns mit Stadtgeographie, Stadttopographie, Architektur und an-
deren Disziplinen beschäftigen. Das ist schwierig, aber nicht unmög-
lich und soll in den folgenden Abschnitten versucht werden. Verall-
gemeinernd kann sich daraus das System einer Stadtgeographie er-
geben, die sich in erster Linie mit Fragen der Begriffssprache, der
Beschreibung und der Klassifizierung zu beschäftigen hat.
Grundsätzliche Probleme wie die der Typologie sind bisher in der
Urbanistik noch nicht Gegenstand derartiger systematischer Be-
mühungen gewesen. Deshalb beruhen die gängigen Klassifizierungen
auf allzu vielen nicht überprüften Hypothesen und stellen darum
zwangsläufig sinnlose Verallgemeinerungen dar. Dagegen haben die
bereits erwähnten anderen Wissenschaften gründlichere, konkretere
und vollständigere Untersuchungen der Stadt als »des Menschlichen
schlechthin<< vorgenommen. Sie sind vielleicht auch für jene Erfah-
rungen von Wichtigkeit, die man nur durch das unmittelbare Erlebnis
eines städtebaulichen Phänomens machen kann.
Andeutungen, daß die Stadt oder ihre einzelnen Phänomene als
Kunstwerk zu verstehen seien, begegnet man vielerorts. Sie finden
sich sowohl in den Stadtbeschreibungen von Künstlern aller Zeiten als
in den institutionalisierten Äußerungen des sozialen und religiösen
Lebens. Dabei beziehen sie sich immer auf einen bestimmten Ort, ein
Ereignis oder ein Gestaltelement der Stadt. Ausdrücklich aber ist die
Frage, ob es sich bei der Stadt um ein Kunstwerk handele, erst von
der Wissenschaft im Zusammenhang mit ihren Überlegungen über

22

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 22 10.08.2015 09:40:50


die Natur von Kollektivphänomenen gestellt worden. Diesen Aspekt
sollte keine städtebauliche Forschung übersehen. Denn obgleich es sich
bei den großen Manifestationen des sozialen Lebens um koll('ktive
Erscheinungen, beim Kunstwerk hingegen um ein individuelles
Phänomen handelt, so ist ihnen doch beiden gemeinsam, daß sie dem
Bereich des unbewußten Lebens entstammen. Der Unterschied
zwischen ihnen bleibt sekundär, ja, er besteht sogar nur scheinbar, da die
sozialen Phänomene durch die Gesellschaft, die Kunstwerke für die
Gesellschaft geschaffen werden, die demnach ihren gemeinsamen Nen-
ner ausmacht und die Bedingungen festlegt, unter denen sie entstehen.
»Es ist daher nicht einfach im metaphorischen Sinne, in dem man-wie
dies so oft geschehen ist - eine Stadt rnit einer Symphonie oder einem
Gedicht vergleichen kann; letzten Endes handelt es sich um Dinge der
gleichen Beschaffenheit. Noch kostbarer vielleicht als das Kunstwerk
liegt die Stadt an der Grenze zwischen Natur und Kunst ... Die Stadt
ist Objekt der Natur und Subjekt der Kultur, Individuum und Gruppe,
Traum und Erlebnis. sie ist das Menschliche schlechthin.« 2 Verwandt
mit dieser Auffassung von Levi-Strauß ist auch die von Maurice
Halbwachs3, wenn er die Kollektivmagination und das Kollektiv-
gedächtnis für entscheidende Merkmale städtebaulicher Phänomene
hält. Ein freilich weniger bekannter Vorläufer dieses Verständnisses
der Stadt und ihrer komplexen Struktur ist schließlich Carlo Cattaneo.
Zwar hat er die Frage, ob die Stadt ein Kunstwerk sei, nie ausdrücklich
gestellt. Daß er Wissenschaften und Künste als zwei verwandte
Aspekte der geistigen Entwicklung des Menschen betrachtet, recht-
fertigt indessen diese Behauptung. Von seinen Überlegungen zur
Stadt als Idealprinzip der Geschichte, zu den Zusammenhängen zwi-
schen Stadt und Land und ähnlichen Fragen interessiert uns hier vor
allem seine Auffassung, alle bewohnten Gebiete seien Menschenwerk:
>>Derartige Regionen unterscheiden sich von der Wildnis dadurch, daß
sie eine riesige Ablagerung menschlichen Mühens darstellen ...
Dieser Boden ist deshalb nicht ein Werk der Natur, sondern das Werk
unserer Hände, er ist eine künstliche Heimat.« 4 Insofern diese künst-
liche Heimat gebaute Form ist, wohnen ihr aber auch Werte, ins-

2 Claude Levi-Strauß, Traurige Tropen, Köln 1955, S. 8Zf.


3Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967, S. 150ff.
4 Carlo Cattaneo, Agricoltura e morale, in: Notiziario su la Lombardia e
altri scritti su l'agricoltura, Mailand 1925. Cattaneo war einer der ersten
Historiker, der Sinn für die natürlichen und baulichen Gegebenheiten der
Stadt hatte. Aus dieser Sicht griff er auch in die Diskussion um den Bau der
Eisenbahnstrecke Mailand-Venedig ein. Sein Biograph Gabriele Rosa
schreibt dazu: »Die Mathematiker betrachteten die geographische Frage
unter Ausschluß aller jener Faktoren wie Bevölkerung, Geschichte, örtliche
vVirtschaft, die ein Abweichen von einer Geraden bedingt hätten. Es bedurfte

23

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 23 10.08.2015 09:40:50


besondere die Permanenz und das Gedächtnis, inne. Die Stadt lebt in
ihrer Geschichte.
Diese Beziehung zwischen Ort, .Menschen und Kunstwerk, die der
Entstehung einer Stadt und ihrer Entwicklung auf ein ästhetisches
Ziel hin zugrunde liegt, erfordert eine komplexe Untersuchungs-
methode. Dabei müssen wir unser Augenmerk auch darauf richten,
wie die Menschen sich in der Stadt orientieren, das heißt auf die Aus-
bildung und Entwicklung ihres Raumgefühls. In diesem Bereich sind
einige neuere amerikanische Arbeiten bahnbrechend gewesen, ins-
besondere die Untersuchungen von Kevin Lynch, dessen Raumbegriff
sich hauptsächlich auf anthropologische Forschungsergebnisse und
städtebauliche Merkmale stützt5 • Almliehe Überlegungen hatte bereits
Max Sorre 6 anhand von analogem lVIaterial angestellt, vor allem auf-
grund der Beobachtungen von Marcel Mauss über flie Entsprechung
von Gruppen- und Ortsnamen bei den Eskimos 7 • Alle diese Unter-
suchungen verhelfen uns dazu, die Stadt zugleich als Schauplatz und
Bestandteil des menschlichen Schicksals zu verstehen. Wenn ich ver-
suche, diesen Schauplatz vermittels seiner Architektur zu deuten, so
frage ich mich manchmal, wieso die Stadt erst jetzt als »das lVlensch-
liche schlechthin« verstanden wird und weshalb man nicht schon
früher darauf aufmerksam wurde, daß sie die vVirklichkeit durch die
Ausformung der Materie nach ästhetischen Gesetzen gestaltet. Das
findet seinen Ausdruck in den Baudenkmälern, den Stadtvierteln, den
Wohngebieten und in allen anderen städtebaulichen Phänomenen der
bewohnten Erde. Von ihnen ausgehend sind die Theoretiker in die
Stadtstruktur eingedrungen, blieben sich dabei aber immer bewußt,
daß diese Phänomene die Ansatzpunkte für eine rationale Erfassung
dieser Struktur bilden.
Die Hypothese, die Stadt sei ein Artefakt, ein Ingenieurhau oder eine
Architektur, die sich mit der Zeit weiterentwickelt, erweist sich als

Cattaneos scharfen und wendigen Geistes, um Licht in diese neue und


schwierige Frage zu bringen ... Er untersuchte, welche Streckenführung
den größten privaten Gewinn und öffentlichen Nutzen versprach. Er erklärte,
daß man den Baunicht den Schwierigkeiten des Terrains opfern dürfe, denn es
handele sich nicht darum, die höchste Geschwindigkeit zu erreichen, sondern
aus der Geschwindigkeit den größten Gewinn zu ziehen; daß der meiste
Verkehr auf kurzen Strecken stattfinde und daß man eine Verbindung zwi-
schen den alten Zentren herstellen müsse. Denn wer in Italien den Lokal-
patriotismus nicht berücksichtige, baue immer auf Sand.<<
5 Kevin Lynch, Das Bild der Stadt, Gütersloh, Berlin, München 1968.
6 Max Sorre, Geographie urbaine et Ecologie, in: Urbanisme et Architecture,
Paris 1954.
7 lVIarcellVIauss, Essai sur les Variations saisormieres des Societes Eskimos, in:
Annee sociologique IX, 1905-06, S. 51.

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 24 10.08.2015 09:40:51


einer der besten Ausgangspunkte für unsere Untersuchung 8 . Ange-
sichts einer weitverbreiteten Neigung zur Verunklärung der wahren
Sachverhalte behalten dabei Camillo Sittes Formulierungen ihre Gül-
tigkeit, durch die er bei seiner Suche nach den Gesetzen des Städtebaus
auf eine von technischen Notwendigkeiten unabhängige »Schönheit<<
hinweisen wollte. ,)\Vir Heutigen«, heißt es bei ihm, »besitzen drei
Hauptsysteme des Städtebaues und noch etliche Unterarten. Die
Hauptsysteme sind: das Rechtecksystem, das Radialsystem und das
Dreiecksystem. Die l::nterarten sind meist Bastarde dieser drei. Vom
künstlerischen Standpunkt geht uns die ganze Sippe gar nichts an, in
deren Adern nicht ein einziger Blutstropfen von Kunst mehr enthalten
ist. Das Ziel, welches bei allendreienausschließlich ins Auge gefaßtwird,
ist rlie Regulierung des Straßennetzes. Die Absicht ist daher von vorn-
herein eine rein technische. Ein Straßennetz dient immer nur der
Kommunikation, niPmals der Kunst, weil es niemals sinnlich aufgefaßt,
niemals überschaut werden kann, außer am Plan. Daher konnte in
allen bisherigen Erörterungen auch von Straßennetzen nicht die Rede
sein; weder von dem des alten Athen oder Rom, noch von dem Stra-
ßennetz Nürnbergs oder Venedigs. Das ist eben künstlerisch gleich-
gültig, weil unauffaßbar. Künstlerisch wichtig ist nur dasjenige, was
ii herschaut, was gesehen werden kann; also die einzelne Straße, der
einzelne Platz.<< 9
Sittes Darlegungen sind ihres Empirismus wegen wichtig, durch den
sie den heutigen amerikanischen Untersuchungen nahestehen. Sie
beziehen sich auf die Technik des Städtebaus und das heißt auf etwas
Konkretes, zum Beispiel den Entwurf eines Platzes, und das Prinzip
der logischen Übermittlung dieses Entwurfes, die Entwurfslehre.
Sittes Modelle sind deshalb meist eine bestimmte Straße, ein be-
stimmter Platz. Andererseits enthält Sittes Anschauung aber auch
etwas Mißverständliches, daß nämlich die Stadt als Kunstwerk sich aus
künstlerischen Einzelheiten und deren Deutung zusammensetze und
deshalb nicht auf konkrete Erfahrung zurückzuführen sei. Dagegen
bin ich der Auffassung, daß das Ganze wichtiger ist als seine Teile und
daß dieses Ganze aus allen städtebaulichen Phänomenen besteht, vom
Straßensystem und der Stadttopographie bis zu den Dingen, die man

8 Anthony N. B. Garvan, Proprietary Philadelphia as an Artifact, in: Oscar


Handlin and John Burchard, The Historian and the City, Cambridge/Mass.
1963, s. 177 ff.
9 Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Ein Beitrag
zur Lösung modernster Fragen der Architektur und monumentalen
Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien, von Architekt Camillo
Sitte, Regierungsrath und Director der k.u.k. Staats-Gewerbeschule in \Vien,
Wien 1889.

25

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 25 10.08.2015 09:40:51


erfährt, wenn man eine Straße auf- und abspaziert. Das schließt nicht
aus, daß man diese Gesamtarchitektur, wie es hier geschehen soll, nur
in ihren Einzelteilen untersuchen kann. Dabei will ich von einer Frage
ausgehen, die uns den Zugang zum Problem der Klassifizierung, näm-
lich dem der Bautypen und ihrer Beziehung zur Stadt, eröffnet. Daß
die Bauten als Teile der Gesamtstadt aufzufassen sind, sahen schon die
Architekturtheoretiker der Aufklärung. So schreibt Jean Nicolas Louis
Durandin seinem »Precis des Le9ons d'Architecture donnees a l'Ecole
Polytechnique<< (Paris 1802-1805): »Ebenso wie Mauern, Säulen
usw. Kompositionselemente der Bauten sind, sind die Bauten wieder-
um Kompositionselemente der Städte.<<

}. Typologische Probleme

Die Stadt als eine Schöpfung des Menschen besteht aus ihrer Archi-
tektur und aus allen jenen weiteren Elementen, durch die sie die
natürlichen Gegebenheiten verwandelt. Die Menschen der Bronzezeit
veränderten die Landschaft, entsprechend ihren sozialen Bedürfnissen,
durch die Errichtung von Ziegelbauten und die Anlage von Brunnen,
Abzugskanälen und Wasserleitungen. Die ersten Häuser schirmten
ihre Bewohner von der Außenwelt ab und schufen ein vom Menschen
kontrolliertes Klima. Durch die Entwicklung von Stadtkernen dehnt
sich diese Kontrolle auf deren Mikroklima ans. Schon die neolithischen
Dörfer stellen eine erste Anverwandlung der Natur an die Bedürfnisse
des Menschen dar. Die künstliche Heimat ist deshalb so alt wie der
Mensch selbst.
Im Zuge dieser Veränderungen entstehen die ersten Formen und die
ersten Haustypen. Hinzu kommen Tempel und komplexere Bauten.
Die Bautypen entwickeln sich also entsprechend den menschlichen
Bedürfnissen und dem Streben nach Schönheit. Als etwas Einheitliches
und in den unterschiedlichen Gesellschaften doch sehr Verschiedenes
sind sie durch ihre Gestalt und die menschliche Lehensweise definiert.
Daraus ergibt sich, daß der Begriff des Typus ein Grundbegriff der
Architektur ist, mit dem es Praxis und Theorie immer wieder zu tun
haben. Dabei braucht der Begriff als solcher nicht immer in Erschei-
nung zu treten. Unausgesprochen geht es aber um ihn, wenn zum
Beispiel Milizia schreibt: »Die Bequemlichkeit eines jeden Gebäudes
ist hauptsächlich von drei Dingen abhängig: von seiner Lage, seiner
Gestalt und der Anordnung seiner Teile.« 10
Die Wichtigkeit dieses Begriffes, aus dem die Gestalt sich erst ergibt,
hat Quatremere de Quincev. einer der bedeutendsten Architekturtheo-

10 Francesco Milizia, Prinzipj di architettura civile, Mailand 1832.

26

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 26 10.08.2015 09:40:52


retiker, vollauf verstanden und ihn und das, was ihn vom Begriff des
Modells unterscheidet, im »Dictionnaire historique de l'Architecture«
(Paris 1832) meisterlich definiert: »Das Wort Typus bezieht sich nicht
so sehr auf das Bild einer zu kopierenden oder vollständig nachzuah-
menden Sache als auf eine Idee, die dem Modell als Regel dient ...
Das künstlerische Modell dagegen ist ein Objekt, das so, wie es ist,
wiedergegeben werden muß. Im Gegensatz dazu ist der Typus etwas,
aufgrunddessen Werke konzipiert werden können, die einander über-
haupt nicht ähnlich sehen. Beim Modell ist alles präzis und vorgegeben,
beim Typus bleibt alles mehr oder minder unbestimmt. Daraus folgert,
daß die Nachahmung von Typen nichts enthält, was Gefühl und
Geist nicht wiedererkennen können ... In jedem Land geht die Bau-
kunst in aller Regel auf einen schon zuvor bestehenden Keim zu-
rück. Für alles gibt es etwas, was ihm vorangeht, denn nichts kann aus
dem Nichts entstehen. Das gilt für alle menschlichen Erfindungen.
Trotz späteren Veränderungen haben sie alle, für Gefühl und V er-
stand deutlich erkennbar, ihr Grundprinzip beibehalten. Es stellt
eine Art Kern dar, an den in der Folge alle Entwicklungen und
Formvariationen, deren das Objekt fähig ist, in einer bestimmten
Ordnung anknüpfen. Deshalb sind tausend Dinge aller Art auf uns
gekommen, und es ist eine der Hauptaufgaben von Wissenschaft und
Philosophie, deren Ursprung und letzte Ursache zu erforschen, um die
Gründe für ihr Entstehen zu begreifen. Das also ist es, was in der
Architekturwie in jedem anderen Zweig der menschlichen Erfindungen
und Institutionen als Typus zu bezeichnen ist ... Wir haben das so gründ-
lich diskutiert, um das Verständnis für die Bedeutung des Wortes Typus,
das in vielen Werken nur metaphorisch gebraucht wird, und für den
Irrtum derer zu wecken, die diese Bedeutung neben der des Modells
nicht kennen oder den Typus mit der Strenge eines Modells ver-
wechseln, das nach einer identischen Kopie verlangt.« 11
Im ersten Teil seiner Darlegungen schließt Quatremere de Quincey
aus, daß es beim Typus etwas gibt, was imitiert oder kopiert werden
könnte, weil dann nämlich, wie er im zweiten Teil erkennen läßt, eine
>>Modellschöpfung<< und damit Architektur gar nicht möglich wäre.
Dieser zweite Teil unterstellt auch, daß es in der Architektur (Modell
oder Gestalt) etwas gibt, das eine eigene Rolle spielt und dem sich das
architektonische Objekt nicht angeglichen hat, obgleich es im Modell
zugegen ist. Dieses Etwas is~ die Regel, aufgrund derer Architektur
entsteht. Diese Regel ist eine Konstante. Das setzt voraus, daß jedes
Werk der Architektur eine erkennbare Struktur hat. Damit erweist

11 Diese Definition ist neuerdings von Giulio Carlo Argan in dem Aufsatz
»Sul concetto di tipologia architettonica<<, in: Progretto e destino, Mailand
1965, wiederaufgenommen worden.

27

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 27 10.08.2015 09:40:52


sich diese Regel als ein Bestandteil der Kultur. Dadurch wird die Ty-
pologie zu einem entscheidenden Element der Architekturanalyse, das
indessen für die Analyse der städtebaulichen Einzelfakten eine noch
wichtigere Rolle spielt.
Die Typologie ist also - bei der Stadt wie bei einzelnen Bauten - die
Lehre von nicht weiter reduzierbaren elementaren Typen. Beispiele
dafür sind die monozentrischen Städte oder die Zentralbauten. Dabei
ist kein Typus mit einer Form identisch, auch wenn alle architekto-
nischen Formen auf Typen zurückzuführen sind. Diese Zurückfüh-
rung ist eine notwendige logische Operation. Ohne sie ist es nicht mög-
lich, von Form zu sprechen. In diesem Sinn handeln alle Architektur-
Schriften auch von der Typologie, die bei der Entwurfsarbeit freilich
nur schwer von der Form zu unterscheiden ist.
Der Typus ist also eine Konstante, mit der wir es bei allen architekto-
nischen Fakten zu tun haben. Trotz seiner Determiniertheit geht er
eine dialektische Beziehung zur Technik, den Funktionen, dem Stil,
dem Kollektivcharakter und dem individuellen Moment eines archi-
tektonischen Faktums ein. Bekanntlich ist der Zentralbau ein be-
stimmter, konstanter Typus des Sakralbaus. Dennoch muß man sich
überall, wo die Entscheidung für einen Zentralbau gefallen ist, mit der
Architektur dieser bestimmten Kirche, mit ihren Funktionen, mit der
Konstruktionstechnik und schließlich mit der Gemeinschaft ausein-
andersetzen, die arn Leben dieser Kirche teilnimmt.
Ich neige der Auffassung zu, daß die Typen des Wohnbaus sich seit der
Antike bis heute nicht verändert haben. Das heißt indessen nicht,
daß sich die konkrete Lebensweise in diesem Zeitraum nicht ver-
ändert hat und daß nicht noch zahlreiche andere Lebensweisen mög-
lich wären. So ist das Laubenganghaus ein antiker Typus, der bis heute
existiert. Sein Schema beruht darauf, daß sämtliche Räume eines
Geschosses von einem gemeinsamen Gang erschlossen werden. Bei der
Anwendung ;dieses Schemas ergeben sich aber im einzelnen erheb-
liche Unterschiede.
Obgleich der Typus also das wesentlichste Prinzip der Architektur dar-
stellt, ist die Typologie in neuerer Zeit nie systematisch und in aus-
reichendem Umfang behandelt worden. Erst heute wird man sich bei
der Ausbildung ihrer bewußt, und ich bin fest davon überzeugt, daß
die Architekten, wenn sie ihren Arbeitsbereich erweitern und ver-
tiefen wollen, sich zwangsläufig ihrer wieder erinnern müssen12 • Vor-
läufig aber haben sich die meisten Untersuchungen diesem Problern
nicht gestellt, sondern beschäftigen sich statt dessen mit Fragen der

12 Wichtig unter den neueren typologischen Untersuchungen von Architek-


ten ist vor allem Carlo Aymonino, La formazione del concetto di tipologia
edilizia, Istituto Universitario di Architettura di Venezia, Venedig 1965.

28

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 28 10.08.2015 09:40:54


Funktion. Aus diesem Grunde will ich versuchen darzustellen, wie es
in den städtebaulichen Untersuchungen zu Funktionsproblemen ge-
kommen ist und wie sie sich entwickelt haben. Dabei sei vorweg-
genommen, daß sie zugleich mit der Frage nach der Beschreibung und
der Systematisierung auftauchten und daß die gängigen Klassifika-
tionssysteme zum größten Teil auch nicht über das Funktionsproblem
hinausgegangen sind.

4. Kritik am naiven Funktionalismus

Bisher habe ich bei der Aufzählung der Probleme, die für die Unter-
suchung städtebaulicher Phänomene von grundsätzlicher Bedeutung
sind, das Funktionsproblern deshalb nicht erwähnt, weil ich der Auf-
fassung bin, daß die Entstehung und Gestaltung dieser Phänomene
nicht von ihren Funktionen abhängig sind. Denn bei vielen dieser
Phänomene hat sich die Funktion im Lauf der Zeit verändert, oder sie
haben niemals eine spezifische Funktion besessen. Ich möchte deshalb
behaupten, daß eine funktionale Deutung städtebaulicher Elemente
nicht nur zu keiner Klärung führt, sondern vielmehr von der Unter-
suchung der Formen abhält und die Erkenntnis der wirklichen archi-
tektonischen Gesetze verhindert.
Hier ist allerdings sofort zu betonen, daß diese Auffassung keine Ab-
lehnung des Begriffes Funktion in seiner eigentlichen algebraischen
Bedeutung beinhaltet, die davon ausgeht, daß ein Wert die Funktion
eines anderen darstellt und zwischen Funktionen und Form eine kom-
plexere Beziehung als die lineare von Ursache und Wirkung besteht,
die von der ~Wirklichkeit widerlegt wird. Was ich ablehne, ist lediglich
die naive Konzeption des Funktionalismus, derzufolge die Funktionen
die Form und damit eindeutig Städtebau und Architektur bestimmen.
Ein derartiger von der Physiologie übernommener Begriff der Funk-
tion versteht die Form als ein Organ, dessen Funktionen tatsächlich
seine Gestalt und Entwicklung bestimmen und dessen Funktions-
störungen deshalb auch zu einer Veränderung seiner Gestalt führen.
Funktionale und organische Architektur, die beiden Hauptrichtungen
des Neuen Bauens, gehen deshalb auf eine gemeinsame Wurzel
zurück, auf der auch ihre Schwäche und ihr fundamentales JVIißver-
ständnis beruhen. Denn die Form wird auf diese Art ihrer komplexen
Motivationen beraubt. Einerseits wird der Typus zum bloßen Schema
für die Anordnung der einzelnen Elemente, zu einem Diagramm der
Verkehrswege reduziert, andererseits kommt der Architektur keine
autonome Qualität mehr zu. Infolgedessen können die ästhetischen
Intentionen und die Bedürfnisse, die dem Städtebau vorausgehen und
dessenkomplexe Beziehungen herstellen, nicht weiter analysiert werden.

29

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 29 10.08.2015 09:40:54


Obgleich der Funktionalismus älteren Ursprungs ist, wurde sein Be-
griff doch von Bronislaw Malinowski, rler sich ausdrücklich auf das
Artefakt, das Objekt, das Haus bezieht, besonders klar definiert und
angewendet: »Betrachten wir etwa die menschliche Behausung ...
\Viederum müssen wir stets die Gesamtfunktion des Objekts im Auge
behalten, wenn wir die einzelnen Phasen der technischen Konstruk-
tion oder die Teile, aus denen es sich zusammensetzt, untersuchen
wollen.« 13 Von solchen Voraussetzungen ausgehend, kommt man
rasch zur bloßen Betrachtung der Bedürfnisse, denen ein Artefakt, ein
Objekt, ein Haus dienen. Diese dienende Funktion wird dann zur
Rechtfertigung seiner Existenz und blockiert die Analyse der tatsäch-
lichen Sachverhalte.
Dieses Verständnis von Funktion beherrschte das gesamte architek-
tonische und städtebauliche Denken, vor allem von seiten der Geo-
graphen, und charakterisiert in Gestalt der funktionalistischen und
organischen Architektur einen großen Teil des Neuen Bauens. Für die
Klassifizierung der Stadt spielt es eine größere Rolle als Stadtlandschaft
und Gestalt, und obgleich viele Autoren ihren Zweifeln an der Gültig-
keit und Exaktheit einer Klassifizierung nach Funktionen Ausdruck
geben, betonen sie doch, daß es keine konkrete Alternative dazu gebe.
So behauptet Georges Chabot14, es sei unmöglich, die Stadt zu definie-
ren, weil immer etwas zurückbleibe, das sich dieser Definition ent-
ziehe. Gleichwohl nimmt er dann anhand von Funktionen eine Defi-
nition vor, die er im selben Atemzug als unzureichend bezeichnet. Da-
bei erklärt er die Entstehung einer Stadt aus den Funktionen, die dort
ausgeübt werden sollen. Diese Funktionen werden deshalb zur eigent-
lichen Rechtfertigung der Stadt. Damit tritt an die Stelle der Morpho-
logie vielfach eine bloße Untersuchung von Funktionen, die dann eine
Einteilung in Handels-, Kultur-, Industrie-, Garnisonstädte usw. er-
möglicht.
Auch wenn meine Kritik an diesem Funktionsbegriff weiter reicht,
soll hier doch darauf hingewiesen werden, daß sich bereits innerhalb
dieses Systems eine Schwierigkeit ergibt, wenn man die Rolle der
kommerziellen Funktion bestimmen soll. Denn die Klassifizierung
nach Funktionen unterstellt zwangsläufig, daß allen Funktionen die
gleiche Bedeutung zukommt. In Wirklichkeit aber ist der Handel von
hervorragender Bedeutung. Er ermöglicht deshalb eine rein »ökono-
mische« Erklärung der Stadt, die ihre klassische Formulierung durch
Max Weher gefunden hat. Sofern man eine Klassifizierung der Stach

13 Die Funktionaltheorie (1939), iu: Bronislaw Malinowski, Eine wissenschaft-


liche Theorie der Kultur und andere Aufsätze, Zürich 1949, S. 28.
14 Georges Chabot, Les Villes, Aper\;'US de Geographie humaine, Paris 1948,
s. 95f.
30

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 30 10.08.2015 09:40:55


nach Funktionen überhaupt akzeptiert, bietet die kommerzielle Funk-
tion nämlich die einleuchtendste Erklärung für Entstehung und Dauer
städtebaulicher Phänomene und läßt sich leicht mit weiteren ökono-
mischen Theorien über die Stadt in Zusammenhang bringen.
Mißt man den einzelnen Funktionen einer Stadt einen unterschied-
lichen Wert zu, so erkennt man deshalb den Irrtum des naiven Funk-
tionalismus, der durch seine eigene Ausgangshypothese wiederlegt
wird. Im übrigen wären die formalen Werte der Stadtstruktur nur
von kurzem Bestand, wenn die einzelnen städtebaulichen Phänomene
aufgrund eines Funktionswechsels jedes Mal neu entstünden. Damit
verlöre das Überdauern von Gebäuden und ihrer Gestalt seinen Sinn, und
sogardie Überlieferung einer bestimmten Kultur, der die Stadt angehört,
hätte keine Bedeutung mehr. Die Wirklichkeit aber sieht anders aus.
Gleichwohl bietet sich die Klassifizierung nach Funktionen wie keine
andere als ein leicht zu handhabendes Ordnungssystem an. Es emp-
fiehlt sich deshalb, sie als Instrument für diese Zwecke beizubehalten,
ohne dabei den Anspruch zu erheben, daß sich aus diesem Ordnungs-
system hinreichende Erklärungen für komplexere Sachverhalte ab-
leiten lassen. Dagegen kann man, ausgehend von dem Begriff des
Typus, den wir im Zusammenhang mit Überlegungen der Aufklärung
entV".ickelt haben, eine korrekte Klassifizierung städtebaulicher Tat-
bestände und schließlich sogar eine Klassifizierung nach Funktionen
vornehmen, soweit diese in der Definition des Typus enthalten sind.
Gehen wir dagegen von einer Klassifizierung nach Funktionen aus,
müssen wir unter Typus etwas ganz anderes, nämlich das Organisa-
tionsmodell für diese Funktion verstehen. Gerade dieses Verständnis
des Typus und infolgedessen auch der städtebaulichen Tatbestände
und der Architektur als Organisationsform einer bestimmten Funk-
tion führt uns immer weiter von einer Erkenntnis der konkreten
Wirklichkeit fort. Denn wenn man die Klassifizierung von Bauten und
Städten nach Funktionen im Sinne einer Verallgemeinerung einiger
offen zutage liegender Kriterien allenfalls noch hinnehmen kann, so ist
es unvorstellbar, die Struktur städtebaulicher Tatbestände auf die
Frage zu reduzieren, wie einige mehr oder minder wichtige Funktio-
nen zu organisieren seien. Aber genau diese mißliche Verzerrung
blockierte und blockiert einen wirklichen Fortschritt bei der Unter-
suchung der Stadt. Denn wenn städtebauliche Faktoren ein bloßes
Organisationsproblem darstellen, dann muß es ihnen zwangsläufig an
Kontinuität und Individualität fehlen. Baudenkmäler und Architektur
haben keine Existenzberechtigung mehr, weil sie »uns nichts zu sagen
haben«. Derartige Thesen nehmen einen deutlich ideologischen Cha-
rakter an, wenn sie den Anspruch erheben, städtebauliche Sachverhalte
zu objektivieren und zu quantifizieren, und sie aus dieser Sicht zu
Konsumartikeln machen.

31

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 31 10.08.2015 09:40:55


Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, daß funktionale
Klassifikationskriterien für den praktischen Gebrauch akzeptiert
und auf dieselbe Stufe gestellt werden können wie Kriterien, die
auf Assoziationen, auf der Konstruktion oder auf der Boden-
nutzung beruhen. Obgleich solche Klassifikationen ihren Nutzen
haben, sagen sie zweifellos mehr über den Standpunkt aus, von dem
aus sie (zum Beispiel nach Konstruktionssystemen) vorgenommen
werden als über die klassifizierten Dinge selbst. Gerade das aber
macht sie annehmbar.

5. Fragen der Systematisierung

Bei der Darlegung der funktionalistischen Theorie habe ich jene


Aspekte betont, die diese Interpretation als besonders wichtig und
risikolos erscheinen lassen. Das geschah wegen der Bedeutung, die der
Funktionalismus in den letzten fünfzig Jahren für die Architektur
gehabt hat und die es allen, die in seinem Geist ausgebildet worden
sind, schwermacht, sich von ihm zu lösen. Es wäre deshalb nützlich
zu erforschen, inwieweit die moderne Architektur tatsächlich von
ihm geprägt worden ist. Doch das ist nicht die Aufgabe, die ich mir
gestellt habe. Vielmehr möchte ich mich nun anderen Inter-
pretationen von Architektur und Stadt zuwenden, auf denen meine
eigene These beruht. Es handelt sich dabei um die Theorien, die
auf die Sozialgeographie von Jean Tricart1 5 , auf Marcel Poetes These
von der Permanenz16 und auf aufklärerisches Gedankengut, ins-
besondere das von Milizia zurückgehen.
Für Tricart ist das wichtigste Element zum Verständnis einer Stadt
ihre soziale Struktur, deren Untersuchung deshalb der Beschreibung
der geographischen Faktoren der Stadtlandschaft vorauszugehen hat.
Seiner Auffassung nach ist es Aufgabe der IIumangeographie, die
Stadtstrukturen im Zusammenhang mit der Gestalt ihres Standortes
zu untersuchen. Es handelt sich bei ihm also um eine soziologische
Analyse mit Hilfe topographischer Begriffe. Für sie bieten sich Unter-
suchungshereiche in drei Größenordnungen an:
ein Stück Straße mit den angrenzenden Bauten und unbebauten
Grundstücken;

15 Jean Tricart, Cours de Geographie humaine, Bd. II, L'Habitat urbain,


Paris 1963.
16 Marcel Poete, Introduction it l'Urbanisme, L'Evolution des Villes - La
Le~;on de l' Antiquite, Paris 1967, s. a. Poetes weitere Schriften: Une Vie de
Cite, Paris de sa Naissance a nos Jours, Paris 1924-31, Comment s'est forme
Paris, Paris 1925.

3.2

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 32 10.08.2015 09:40:57


ein Stadtviertel, das aus einem Komplex von lcliiuserblöcken 1nit den-
selben Merkmalen besteht;
die Stadt als Gesamtheit ihrer Stadtviertel 17 .
Den gemeinsamen Nenner für diese drei Gröl:lenorclnungen, tler es
erlaubt, sie nach derselben Methode zu untersuchen, stellt ihre soziale
Struktur dar.
Ehe ich aufgrund von Tricarts Überlegungen eine Stadtanalyse mit
topographischer Ausrichtung vorzunehmen versuche, muß ich aller-
dings einen grundsätzlichen Einwand gegen die drei verschierlenen
Größenordnungen von Tricarts Untersuchungsbereichen maclwn. clie
mir allenfalls aus didaktischen oder praktischen (;ründen annehmbar
erscheinen. Denn diese Unterteilung der Stadt könnte zn dem Trug-
schluß führen, daß die Größenordnung auf die Qualität städtebau-
licher Phänomene einen Einfluß hat. Gegen diese weitYerhreitete
These hat sich Ratcliff mit Recht gewandt: »Die Problerne einer fal-
schen Standortwahl ausschließlich für ein großstädtisches Phänomen
zu halten, leistet der weitverbreiteten, aber unrichtigen Ansicht Vor-
schub, daß es sich dabei um Fragen der Größenordnung handele. In-
dessen begegnet man denselben Problemen, wenn auch in einem ande-
ren Maßstab, in Dörfern, Klein-, Mittel- und Großstädten. Denn die
Dynamik der Stadtentwicklung ist überall gleich stark, wo Menschen
dichtgedrängt beieinander wohnen, und der Organismus aller Städte
wird, unabhängig von ihrer Größe, von denselben natürlichen und
gesellschaftlichen Gesetzen bestimmt. Die Probleme der Stadt auf ein
Problem der Größenordnung reduzieren heißt annehmen, es führe zu
ihrer Lösung, wenn man dezentralisiert. Das bedeutet aber. einen
Widerspruch zwischen dem Ausgangspunkt und der LösUng des
Problems.« 18
Von fundamentaler Wichtigkeit für die Stadtlandschaft in der Größen-
ordnung der Straße sind die \Vohnzwecken dienenden Immobilien
und die Struktur des Grundeigentums in einer Stadt. Ich spreche hier
mit Absicht von Wohnzwecken dienenden Immobilien und nicht von
Häusern, weil diese Definition in den verschiedenen europäischen
Sprachen viel gerrauer ist. Immobilien sind nämlich vom Katasteramt
aufgenommene Parzellen, deren Boden zum großen Teil überbaut ist.
Die Unterscheidung zwischen Immobilien, die lediglich Wohnzwecken
dienen, und solchen von gemischter ~utzung ist zwar wichtig, kann
aber nicht entscheidend betrachtet werden. Tricart unterscheidet die
\Vohnzwecken dienenden Immobilien nach Merkmalen ihrer Grund-
rißgestaltung:
17 Tricart, a. a. 0., S. 5.
18 Richard U. Ratcliff, The Dynamicy of Efficiency in the locational Distri-
bution of urban Activities, in: Readings in urban Geography, Chicago 1959,
s. 299.
33

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 33 10.08.2015 09:40:57


freistehende Bauten;
Reihenhäuser mit dahinterliegenden Höfen oder Gärten, deren
Fassaden parallel zur Straße verlaufen;
Häuserblöcke, bei denen die Grundstücke in ihrer ganzen Tiefe
fast vollständig überbaut sind;
Häuserblöcke mit Innenhöfen, in denen oft kleinere Nebenbauten
entstehen 19 .
Eine Analyse dieser Art kann, wie gesagt, als geometrische oder topo-
graphische Beschreibung ihre Berechtigung haben. Wenn wir diese
Art der Systematisierung fortsetzen, erhalten wir weitere interessante
Daten bezüglich der technischen Ausrüstung, der stilistischen Eigen-
tümlichkeiten und des Verhältnisses von überbauter zu nicht über-
bauter Fläche. Die Fragen, die sich aus einer derartigen Beschreibung
ergeben, beziehen sich in der Hauptsache auf
technische Daten,
- Einflüsse der Struktur des Grundeigentums und ökonomische Daten,
- historische und soziale Einflüsse.
Von besonderer Wichtigkeit sind dabei die Struktur des Grundeigen-
tums und die ökonomischen Probleme, die ihrerseits wieder von den
sozia-historischen Einflüssen abhängen.
Die Gestalt der Grundstücke in einer Stadt, ihre Entstehung und Ent-
wicklung sind ein Abbild der langen Geschichte des Grundeigentums
in einer Stadt. Tricart hat mit großer Hellsicht angemerkt, daß dies
alles ein Ausdruck des Klassenkampfes ist. Die Veränderung des
Grundeigentums in einer Stadt, die wir anband der historischen
Katasterpläne genau verfolgen können, läßt den Aufstieg des städti-
schen Bürgertums und die zunehmende Konzentration des Kapitals
erkennen 20 . Wenden wir derartige Kriterien auf eine Stadt von außer-
ordentlich langer Lebensdauer wie Rom an, so kommen wir zu Ergeb-
nissen von paradigmatischer Bedeutung. Aus seinen ackerbäuerlichen
Anfängen entwickelt Rom sich zur Stadt der Kaiserzeit mit ihren
großen öffentlichen Plätzen. An die Stelle des Patio-Hauses der repu-
blikanischen Zeit treten nun die plebejischen insulae. Die riesigen
Grundstücke, auf denen diese Häuserblöcke stehen, nehmen zusammen
mit der Konzeption des Hauses, das einen ganzen Stadtteil für sich
bildet, Ideen der kapitalistischen Stadt und ihrer Raumaufteilung
voraus. Dabei zeigen sich auch bereits deren Funktionsmängel und
Schwierigkeiten. Damit ergibt sich im Licht unserer bisherigen topo-
graphischen Analyse der Wohnzwecken dienenden Immobilien eine
andere sozio-ökonornische Klassifizierungsmögliehkeit. Dabei können
wir unterscheiden zwischen

19 Tricart, Introduction, S. 50f.


2o Ebd., S. 128ff.

34

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 34 10.08.2015 09:40:58


vorkapitalistischem Haus, das der Eigentümer mit seiner Familie
bewohnt und nicht zu Renditezwecken erbaut hat;
kapitalistischem Mietshaus, bei dem alles den Renditezwecken unter-
geordnet wird. Ein solches Haus kann für reiche oder für arme Leute
bestimmt sein. Im ersten Fall vPrliert es aber durch wachsende
Ansprüche rasch an Wert, und seine Bewohnerschaft ändert sich.
Durch den sozialen Abstieg innerhalb des einzelnen Hauses ent-
stehen die Slums, die zu den bezeichnendsten Merkmalen der mo-
dernen kapitalistischen Stadt gehören. Sie sind vor allem in den
Vereinigten Staaten untersucht worden, wo sie häufiger anzutreffen
sind als bei uns;
parakapitalistischem Zweifamilienhaus, in dem ein Geschoß von der
Familie des Eigentümers bewohnt wird;
sozialistischem Haus von einem neuen Bautypus, den man in den
sozialistischen Ländern ohne privates Grundeigentum oder in Län-
dern mit weit vorangeschrittener Demokratie antrifft. Zu den ersten
Beispielen dieser Art gehören die Siedlungsbauten der Stadt Wien
nach dem Ersten Weltkrieg, zum Beispiel der Karl-Marx-Hof nach
dem Entwurf von K. Ehn21.
Wird die Analyse der gesellschaftlichen Struktur einer Stadt mit
besonderer Sorgfalt auf die Stadttopographie angewenrlet, so kann sie
also gründlichere Kenntnisse über diese Stadt vermitteln. Dabei muß
die Analyse der einzelnen Elemente so weit vorangetrieben werden,
daß eine ihnen zugrundeliegende Gesetzlichkeit erkennbar wird.
Auch die Gestalt der städtebaulichen Phänomene wird durch die
gesellschaftlichen Aspekte überzeugend rlefiniert, da sie einen starken
Einfluß auf die Stadtstruktur haben. '
Marcel Poete, dessen Werk noch heute zu den wissenschaftlich am
weitesten fortgeschrittenen städtebaulichen Untersuchungen gehört,
beschäftigt sich mit Einzelphänomenen der Stadt, insofern sie be-
bezeichnend für den städtischen Gesamtorganismus sind. Sie stellen
konkrete, überprüfbare Elemente einer vorhandenen Stadt dar, ihre
eigentliche Existenzberechtigung beruht fiir Poete aber auf ihrer
Kontinuität. Zwar muß das historische Wissen durch geographische,
wirtschaftliche und statistische Daten ergänzt werden, doch nur die
Kenntnis der Vergangenheit erlaubt einen Vergleich mit der Gegen-
wart und ergibt einen lVIaßstab fiir die Zukunft.
Diese Kenntnisse lassen sich durch das Studium von Stadtplänen er-
werben, von denen jeder seine präzisen Gestaltmerkmale besitzt. Ihre
Straßen können schnurgerade, geschlängelt oder kurvig verlaufen.
Aber aur:h je<le Stadt insgesamt hat ihre besondere Bedeutung. Dabei
führen gleiche Bedürfnisse natürlich dazu, daß die Bauten, die diese

21 Ebd., S. 51 ff.

35

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 35 10.08.2015 09:40:58


Bedürfnisse befriecligen, sich bis auf geringfügige Unterschiede ähneln.
Deshalb zeichnet sich bei den Formen einer Stadtarchitektur durch
die Jahrhunderte eine gewisse Gemeinsamkeit ab, die mehr oder
minder deutlich ins Auge fällt. Daraus ergeben sich, trotz allen zeit-
lichen und kulturellen Unterschieden, konstante JY1otive, die dem Bild
einer Stadt eine verhältnismäßig große Einheitlichkeit geben. Dabei
entstehen zwischen der Stach und ihrem Umland Beziehungen, deren
Instrument vor allem die Straßen sind. Poete mißt deshalb der Straße
in seiner Analyse eine große Bedeutung zu. Denn die Stadt entsteht
zwar an einem bestimmten Ort, aber die Straße erhält sie am Leben.
Das Schicksal einer Stadt im Zusammenhang mit ihren Verbin-
dungswegen zu sehen, ist deshalb eine Grundregel dieser Methode,
die Poete zu interessanten Ergebnissen führt. Jede Stach hat nämlich
ihr Straßensystem, das in das Umland führt. Dabei werden die Straßen
durch die Art des - zum Beispiel kulturellen oder kommerziellen -
Austauschs, der sich auf ihnen vollzieht, charakterisiert. Poete knüpft
damit an eine Beobachtung von Strabo an, der von den umbrischen
Städten an der Via Flaminia sagt, ihre Entwicklung »beruht mehr auf
ihrer Lage an dieser Straße als auf ihrer eigenen Bedeutung.« 22
Auf die Analyse der Straße folgt bei Poete die des Geländes, auf dem
eine Stadt angesiedelt ist. Dieses Gelände ist einerseits eine natürliche
Gegebenheit, hat aber andererseits durch seinen Zusammenhang mit
der Gestalt der Stadt auch einen kulturellen Aspekt 23 . Diese Stadt-
gestalt muß möglichst genau dem Lehen ihres Kollektivorganismus
entsprechen, was sich in der Beibehaltung ihres Planes, in dessen
Permanenz ausdrückt.
An Poetes Grundbegriff der Permanenz orientieren ·sich auch die
Arbeiten Pierre Lavedans 24 , die durch ihre Verbindung von geogra-
phischen und architekturhistorischen Kriterien zu den wichtigsten
Analysen gehören, die wir besitzen. Bei Lavedan wird die Permanenz
zum ausschlaggehenden Prinzip des Stadtplans. Sie ist deshalb der
Hauptgegenstand seiner städtebaulichen Forschung, die diesen Begriff
auch auf Häuser, Straßen und Baudenkmäler einer Stadt anwendet
und so zum Verständnis ihrer räumlichen Gestalt kommt.
Eine besondere Untersuchung würde der Beitrag aufklärerischer Ideen
zu einer fundierten Theorie der städtebaulichen Phiinomene ver-
dienen. Die Architekturschriftsteller des 18. Jahrhunderts suchen
nämlich nach Prinzipien, die sich - unabhängig vom Entwurf- eines
aus dern anderen entwickeln lassen. Jedes einzelne Element verstehen

22 Zitiert nach Poete, a. a. 0., S. 34.


23 Ebd., S. 78ff.
24 Pierre Lavedan, Geographie des Villes, Paris 1936 (2. Aufl. 1959), s. a.
Lavedans Beiträge in der von ihm heransgegebenen Pariser Zeitschrift >>La
Vie urbaine«.

36

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 36 10.08.2015 09:40:59


sie dabei als Bestamiteil des gesamtstädtischen Systems, aus dem sich
für die einzelnen Bauten die notwendigen und realistischen Kriterien
ergeben. Schließlich unterscheiden sie zwischen Gestalt als Ausdruck
der Struktur und deren analytischer Bedeutung. Daraus ergibt sich
für die Gestalt (der klassischen Antike) eine Kontinuität, die nicht
etwas bloß Logisches ist. Über die Beziehung zwischen der Stadt als
Gesamtsystem und ihren Teilen ließe sich lange diskutieren. Denn
obgleich die Autoren sich dabei auf bestehende Städte beziehen, for-
dern sie doch eine neue Stadt, bei der das Entstehen einer Einzelheit
nicht von deren Umgebung zu trennen ist. Schon Voltaire hat in
»Le Siede de Louis XIV« (1751) darauf hingewiesen, daß die groß-
artigen Bauten dieser Zeit keinen Bezug zu ihrer städtischen Umgebung
haben, während doch gerade die Herstellung einer solchen Beziehung
die eigentliche Aufgabe jedes Baus sei 25 . Erfüllt wurden diese Forde-
rungen erst durch die Pläne und Projekte der napoleonischen Zeit,
die deshalb zu den ausgewogensten Lösungen der Architektur-
geschichte gehören.
Auch Francesco Milizia behandelt in seinen »Principj di architettura«
zugleich die Stadt als Ganzes und einzelne Bauten, wobei er z·wischen
privaten und öffentlichen Gebäuden unterscheidet. In jeder der beiden
Gruppen nimmt er dann noch weitere Unterscheidungen vor und
bezieht die einzelnen Bautypen auf eine allgemeine Funktion oder,
richtiger gesagt, auf eine allgemeine Idee der Stadt. So rechnet er zu
der ersten Gruppe Palais und Wohnhäuser, zu der zweiten Bauten
für die öffentliche Sicherheit, von öffentlichem Nutzen usw. Zu den
Bauten von öffentlichem Nutzen gehören die Universitäten, Biblio-
theken usw. Als weitere Kriterien seiner Klassifikation komm~n dann
noch die Gestalt, die räumliche Anordnung und die Lokalisierung eines
Gebäudes hinzu. So heißt es zum Beispiel: >>Aus Gründen größtmög-
licher Bequemlichkeit sollten diese Gebäude (von öffentlichem Nutzen)
nicht weit entfernt vom Stadtzentrum an einem großzügig angeleg-
ten öffentlichen Platz stehen.<<26
Milizias Bezugssystem ist also die Stadt, und zwar eine hypothetische
Stadt, die zugleich mit ihren einzelnen Bauwerken gebaut wird. »Auch
ohne Luxusbauten können Städte schön und anmutig wirken. Aber
von einer schönen Stadt sprechen, heißt von guter Architektur reden. « 27
Diese Identität von schöner Stadt und guter Architektur setzen schon
die Schriftsteller der Aufklärung voraus, auch wenn sie das vermutlich
nirgends ausgesprochen haben, weil es ihnen ganz selbstverständlich

25 Voltaire, CEuvres completes, Bd. IV, Paris 1827, S. 244 f., s. a. Jean
Mariette, L' Architecture Frau!;aise, Vorwort von Louis Hautecceur, Paris,
Brüssel 1927; A. Blunt, Mansart, London 1942.
26 Francesco Mili~ia. a. a. 0.
27 Ebd., S. 6G3.

'57

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 37 10.08.2015 09:40:59


erschien. Tatsächlich aber beruht zum Beispiel ihre Verständnis··
losigkeit für die gotische Stadt darauf, daß es ihnen unmöglich war,
eine Stadtlandschaft zu schätzen, ohne deren Einzelelemente als gül-
tige architektonische Lösung anzuerkennen und ohne deren System
zu begreifen. Aber wenn es auch ein Fehler war, daß sie die Bedeutung
und infolgedessen die Schönheit der gotischen Stadt nicht erkannten,
so ist deshalb das System der Aufklärer als solches doch nicht falsch.
Denn wir erkennen die Schönheit der gotischen Stadt, gerade insofern
sie einen bemerkenswerten städtebaulichen Tatbestand darstellt, bei
dem die Individualität jedes Baus deutlich aus allen seinen Kompo-
nenten hervorgeht. Auch die gotische Stadt ist nämlich ein System,
und nichts organisch Gewachsenes oder spontan Entstandenes.
Aber noch in anderer Hinsicht erweisen sich Milizias Gedanken als
außerordentlich modern. Wie bereits erwähnt, beziehen sich seine
Bautypen auf eine allgemeine Idee und werden durch eine Funktion
charakterisiert. Diese Funktion wird, unabhängig von allgemeinen
Überlegungen zur Form, eher als der Zweck eines Gebäudes denn als
Funktion im eigentlichen Sinn verstanden. So werden dem Gesund-
heitswesen oder der öffentlichen Sicherheit dienende Gebäude zu der-
selben Gruppe wie Bauten gerechnet, die um ihrer Großartigkeit oder
Vornehmheitwillen errichtet wurden.
Zumindest drei Argumente sprechen für dieses Vorgehen: allen voran
die Erkenntnis, daß die Stadt eine komplexe Struktur darstellt, von der
einzelne Teile als Kunstwerke verstanden werden können, dann die
allgemeine Typologie der städtebaulichen Faktoren, aufgrund deren
man ein technisches Urteil auch über jene Aspekte einer Stadt ab-
geben kann, die ihrer Natur nach ein komplexeres Urteil erforderten,
und schließlich die Rolle, die die typologische Konstante bei der Er-
stellung eines Modells spielt. So beschränkt Milizia die Analyse von
Monumentalbauten auf drei Faktoren: »Sie sollen . . . dem öffent-
lichen Wohl dienen, an einer geeigneten Stelle stehen und zweck-
mäßig gebaut sein. Über diese Zweckmäßigkeit läßt sich hier nur ganz
allgemein sagen, daß diese Bauten charakteristisch und ausdrucksvoll
sein, eine einfache Struktur und klare und kurze Inschriften haben sol-
len, damit sie auch beim flüchtigsten Hinsehen die Wirkung haben, um
derentwillen sie erbaut wurden.« 2 8 Diese Definition eines Monumen-
talbaus erweist sich zwar als eine Tautologie, aber es lassen sich zu-
sätzliche Bedingungen nennen, die sich zwar nicht auf die Natur des
Monumentalbaus beziehen, aber seine typologischen und komposito-
rischen Merkmale unterstreichen. Diese Merkmale sind zum großen
Teil wiederum städtebaulicher Natur, gleichzeitig aber stellen sie
architektonische, das heißt kompositorische Bedingungen dar.

28 Ebd., S. 420.

38

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 38 10.08.2015 09:41:01


Daß die Klassifizierungen und Prinzipien der aufklärerischen Konzep-
tion nur ein allgemeiner Aspekt der Architektur sind, deren Ent-
stehung und Beurteilung stets ein bestimmtes Bauwerk und einen
bestimmten Künstler betreffen, braucht hier nicht eigens betont zu
werden. Denn Milizia selbst hat die Erfinder architektonisch unter-
mauerter Sozialordnungen und Lieferanten objektiver Organisa-
tionsmodelle und architektonischer Exposes, wie sie seit der Romantik
auftreten sollten, durch die Erklärung lächerlich gemacht: »Die An-
ordnung architektonischer Räume von Bienenzellen ableiten, heißt auf
Insektenjagd gehen.<< 29 Damit wandte er sich sowohl gegen die ab-
strakten Organisationsprinzipien als auch gegen den Bezug auf die
Natur, die beide auf dieselben romantischen Vorstellungen zurück-
gehen und in der Folgezeit das gesamte Denken der funktionalisti-
schen und der organischen Architektur beherrschen sollten. Denn,
so meinte Milizia, »in ihrer wunderbaren Vielfalt kann die Anordnung
der Räume nicht immer nach festen und unverrückbaren Vorschriften
getroffen werden und bereitet infolgedessengroße Schwierigkeiten. Des-
halb haben die meisten hochberühmten Architekten, wenn sie sich über
diese Anordnung äußern wollten, eher auf Darstellungen und Beschrei-
bungen ihrer Bauten zurückgegriffen als auf lehrbare Regeln.<<30 Das
beweist unmißverständlich, daß Milizia Funktion als eine Beziehung
und nicht als ein Organisationsschema auffaßte.

6. Der komplexe Charakter städtebaulicher Sachverhalte

Im folgenden sollen nun die Punkte der bisher erörterten T.heorien


hervorgehoben werden, die sich als die für meine Studie ergiebigsten
erweisen. Für eines der wichtigsten Ergebnisse halte ich dabei Chabots
Deutung der Stadt als eines Ganzen, das sich selbst erbaut und in dem
sämtliche Teile zur Entstehung der Seele dieser Stadt beitragen31, Die
Antwort auf die Frage, wie sich diese Auffassung von Chabot mit
seiner Verwendung des Funktionsbegriffes verträgt, hat Max Sorre in
einer Rezension von Chabots Buch gegeben, wenn er schreibt, letzten
Endes sei Chabot der Auffassung: »Allein das Leben erklärt das
Leben.« Wenn dementsprechend die Stadt sich durch sich selbst
erklärt, tragen die Funktionen, nach denen sie klassifiziert wird,
nichts zu ihrer Deutung bei, sondern sind lediglich Bestandteile eines
deskriptiven Systems. Dieses System hat wie die gesamte Stadtmor-
phologie schon deshalb nur instrumentellen Charakter, weil es -

29 Ebd., S. 235.
30 Ebd., S. 236.
31 Ebd., S. 172.

39

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 39 10.08.2015 09:41:01


anders als cl ie na1Yen Funktionalisten behaupten - keine kontinuier-
liche Beziehung zwischen der Struktur einer Stadt und der Lebens-
weise ihrer Bewohner herstellt.
Von Tricarts Analyse ist arn wichtigsten der Wert, den er auf die
gesellschaftliche Struktur einer Stadt als Ausgangspunkt für ihre
Untersuchung legt, weil dadurch Licht auf die Bedeutung einer kon-
kreten Stadtentwicklung fällt. Danehen stellen seine Überlegungen
über das Grundeigenturn in einer Stadt einen Beitrag zu den ökono-
mischen Stadttheorien dar.
Bei LaYedans Untersuchungen könnte man die Frage stellen, inwie-
fern sein Begriff einer Struktur, die aus Straßen, Baudenkmälern usw.
besteht und deshalb materiellen Charakter hat, für dieses Buch von
Interesse ist. Aber Lavedans Auffassung von Struktur hat insofern
etwas mit unserem Begriff der Stadtstruktur zu tun, als sie Poetes
Begriff der Permanenz als eines für den Stadtplan ausschlaggebenden
Elements übernimmt. Diese Permanenz ist etwas Materielles und, in-
sofern sie eine Gestalt ist, die überdauert, zugleich etwas Geistiges.
Und gerade diese Permanenz der Gestalt stellt inmitten ständiger
Veränderungen ein wichtiges städtebauliches Phänomen dar. Von den
n!;!gativen Aspekten einer Klassifizierung nach Funktionen habe ich
bereits gesprochen und ebenso von den Grenzen, innerhalb deren sie
mir annehmbar erscheint. Ihre Schwäche besteht vor allem darin, daß
sie davon ausgeht, städtebauliche Sachverhalte beruhten auf bestimm-
ten Funktionen und ihre Struktur sei deshalb von ihrer Funktion in
einem bestimmten Augenblick abhängig. In Wirklichkeit aber bleibt
eine Stadt auch bestehen, wenn ihre Funktionen sich wandeln, die
deshalb nicht als Ursache bestimmter Wirkungen, sondern als kom-
plexere Beziehungen innerhalb eines vVertsystems zu verstehen sind.
Derartige Beziehungen haben nichts mit »Gebrauch« oder »Organisa-
tion<< im Sinn des naiven Funktionalismus zu tun, dessen Voka-
bular auch sonst mancherlei Verwirrung gestiftet hat.
Ich denke clabei zum Beispiel an »organische<< und »funktionale«
Architektur. Denn diese Begriffe haben zwar ihre Gültigkeit, insofern
sie bestimmte architektonische Stile bezeichnen, tragen aber nichts
zur Klärung städtebaulicher Tatbestände bei. Diese Begriffe wurden
von RatzeJ3 2 aus der Biologie übernommen und führten zu weiteren

32 Friedrich Ratze!, Anthropogeographie, Stuttgart 1891-99, s. a. Alexander


von Humboldt, Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, Darmstadt 1963;
August Grisebach, Die Vegetation der Erde nach ihrer klimatischen Anord-
nung, Leipzig 1884/85, Engen Warming, Ecology of Plants, Oxford 1909,
Jean Brunhes, La Geographie humaine, Paris 19+2. Alle diese Werke haben
die Lrbanistik stark beeint1ußt. Der Begriff der Ökologie stammt dabei von
R. E. Park (1921), s. a. M. Hawley, Human Ecology - A Theory of
Community Strneture, 1950.

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 40 10.08.2015 09:41:02


auf die Stadt bezüglichen Begriffsbildungen wie >>Organismus<<, »orga-
nisches \V achstum«, >>Stadttextur« usw. Diese Parallelen zwischen
Stadt, biologischem Organismus und Prozessen, die sich in ihm ab-
spielen, wurde schließlich auch theoretisch untermauert, von ernst zu
nehmenden Ökologen aber schon bald wieder verworfen. Unter Tech-
nikern ist diese Terminologie aber so weit verbreitet, daß sie auf den
ersten Blick den Sachverhalten gerrau zu entsprechen scheint. So fiele
es manchen Leuten schwer, anstatt des Ausdrucks >>architektonischer
Organismus<< das besser zutreffende Wort >>Bauwerk« zu gebrauchen.
Ähnliches gilt von einer Reihe anderer Formulierungen in wissen-
schaftlichen Arbeiten 33 , die alsbald von den Praktikern und den Jour-
nalisten übernommen wurden.
Sinnvoller ist es dagegen, von »rationaler« Stadtplanung zu sprechen,
auch wenn es sich dabei um eine Tautologie handelt. Wenn man Stadt-
planung als »rational« bezeichnet, verweist man zumindest darauf,
daß es sich aufgrund dieses rationalen Charakters um eine eigene
Disziplin handelt. Denn wer behauptet, die mittelalterliche Stadt sei
>>organisch«, gibt damit seine vollstiindige Unkenntnis der politischen,
religiösen, wirtschaftlichen nnd räumlichen Struktur der mittelalter-
lichen Stadt zu erkennen, wiihrend die Charakterisierung des Stadt-
plans von Milet als rational zwar richtig, aber so allgemein gehal-
ten ist, daß sie kein konkretes Wissen über diesen Stadtplan vermittelt
und außerdem zu demMißverständnis führen kann, daß nur bestimmte
einfache geometrische Schemata rational seien. Trotz dem unbestreit-
baren poetischen Gehalt all dieser Bezeichnungen sagen sie im
Grunde nichts aus. Es empfiehlt sich deshalb, auf sie in Zukunft zu
verzichten.
Die Behauptung, die städtebaulichen Tatbestände seien komplexer
Natur, beinhaltet, daß sie aus mehreren Komponenten voll unter-
schiedlichem YVert bestehen. Obgleich das schon aus den Theorien von
Poete und Chabot hervorging, hat man sich zunächst über die Art
dieser Qualitäten nicht viel Gedanken gemacht. Erst die Feststellung,
daß stiidtebauliche Tatbestände ihrer Natur nach Ähnlichkeit mit
Kunstwerken haben, und vor allem der Hinweis auf ihren kollektiven
Charakter brachte uns ihrem Verständnis näher. vYir können deshalb
heute eine Deutung der Stadtstruktur wagen. Diese Deutung ist
Sache der Urbanistik als einer autonomen Wissenschaft. vYenn der-
artige Untersuchungen heute dennoch oft als interdisziplinär bezeich-
net werden, so handelt es sich dabei nur um die in allen Wissenschaf-
ten übliche Heranziehung von Fachleuten anderer Disziplinen zur
Lösung von Spezialproblemen.

33Etienne Souriau, Gontribution a Ia Physiologie des Cites, in: Urbanisme et


Architecture, Paris 1954.

41

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 41 10.08.2015 09:41:02


Halten wir die Analyse der Stadtstruktur aber grundsätzlich für eine
Sache der Urbanistik, so müssen wir davon ausgehen, daß die Stadt
als Ganzes sich selbst erbaut und daß alle ihre Komponenten an der
Entstehung ihrer Tatbestände beteiligt sind. In anderen- allgemeiner
gehaltenen - Worten heißt das, daß die Stadt den Fortschritt der
menschlichen Vernunft darstellt. Diese Behauptung aber hat nur dann
einen Sinn, wenn wir uns klarmachen, daß die Stadt und alle ihre
Tatbestände kollektiver Natur sind. Ich habe mich oft gefragt, wes-
halb nur die Historiker ein vollständiges Bild der Stadt entwerfen. Der
Grund dafür ist vermutlich, daß sie sich mit der Stadt in ihrer Ge-
samtheit beschäftigen. Jede Stadtgeschichte, die von einem einiger-
maßen gebildeten und bei seiner Materialsammlung sorgfältig vor-
gehenden Menschen geschrieben wird, unterrichtet uns auf befrie-
digende Weise über städtebauliche Einzelheiten. Ich erfahre dann
etwa, daß die Stadt London nach einem bestimmten Brand diese oder
jene Bauwerke plante, wie es zu diesen Überlegungen kam und wes
halb ein Teil dieser Pläne realisiert, ein anderer jedoch nicht verwirk-
licht wurde.

7. Die Theorie der Permanenz und die Baudenkmäler

Gleichwohl wäre es verfehlt, die Urbanistik als eine historische Wissen-


schaft zu verstehen. Denn unter diesen Umständen dürfte sie sich
ausschließlich mit der Geschichte des Städtebaus beschäftigen. Was
wir meinen, ist lediglich, daß die historische Methode auch bezüglich
der Stadtstruktur zu befriedigeren Ergebnissen führt als alle anderen
Forschungsmethoden. Auf dieses Problem im Ganzen werde ich später
noch einmal zurückkommen. Einstweilen will ich lediglich die bereits
erwähnte Theorie der Permanenz von Poete und Lavedan unter
diesem Aspekt betrachten. Dabei müssen wir uns vor Augen halten,
daß vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus Vergangenheit - im
Gegensatz zur Zukunft - zum Teil in der Gegenwart zu erfahren ist.
Permanenz im Städtebau kann deshalb in diesem Sinn als Vergangen-
heit, die wir heute erfahren, gedeutet werden, auch wenn das von
Poete nicht ausdrücklich gesagt wird.
Obgleich die Theorie von der Permanenz auf vielen, unter anderem
auf ökonomischen Hypothesen beruht, die sich auf die Stadtentwick-
lung beziehen, ist sie im wesentlichen eine historische Theorie. Fest-
stellen läßt sich diese Permanenz an Baudenkmälern, den sichtbaren
Zeichen der Vergangenheit, aber auch an Straßentrassen und am
Stadtplan. Daß Städte sich beständig denselben Achsen entlang ent-
wickeln, ihre Straßenzüge beibehalten und daß der Sinn und die
Richtung ihres Wachstums nicht von heutigen, sondern früheren, oft

42

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 42 10.08.2015 09:41:04


lange zurückliegenden Voraussetzungen bestimmt werden, ist Poetes
wichtigste Entdeckung. Manchmal sind diese Voraussetzungen selbst
ebenso langlebig, manchmal entfallen sie, und nur die Form, die
sichtbaren Zeichen, der Standort überdauern. Wichtig für die städte-
bauliche Permanenz sind deshalb vor allem die Straßenzüge und der
Stadtplan. Denn der Stadtplan bleibt unter wechselnder Überbauung
bestehen. Er differenziert sich zwar durch neue Aufgaben, die er zu
erfüllen hat, und wird dadurch häufig deformiert, behält aber seinen
ursprünglichen Standort bei.
Auf den ersten Blick scheint die Permanenz deshalb mit der Kontinui-
tät einer Stadt identisch zu sein. Das trifft indessen nicht zu. Denn
nicht alles in einer Stadt überdauert oder es überdauert in so gewan-
delter Form, daß die Permanenz als solche nicht mehr erkennbar ist.
Unter solchen Umständen kann die Theorie der Permanenz ein städte-
bauliches Einzelphänomen nur deuten, wenn sie es aus seinen gegen-
wärtigen Zusammenhängen herauslöst, die es modifizieren, und damit
isoliert. Dann aber kann die historische Methode die Permanenz nicht
definieren, sondern beruht selbst ausschließlich auf der Permanenz,
denn nur anhand der überdauernden Elemente kann sie nachweisen,
was die Stadt gewesen ist und inwiefern sie sich von der gegenwärtigen
Stadt unterschied. Unter diesem Aspekt können die überdauernden
Elemente im Hinblick auf den gegenwärtigen Zustand der Stadt etwas
Isoliertes und Deplaciertes sein, denn sie charakterisieren die Stadt
nur in Gestalt einer heute noch erfahrbaren Vergangenheit. Die Theo-
rie von der Permanenz kann uns deshalb ebensowohl dazu verhelfen,
die Stadt in ihrer Gesamtheit zu verstehen, als uns an eine Reihe von
Einzelphänomenen fesseln, die wir nicht zu einem städtebaulichen
System zusammenfügen können. Entscheidend dafür ist jeweils, ob
es sich bei den überdauernden Elementen um etwas Lebendiges oder
um etwas Krankhaftes handelt.
Schon am Anfang dieses Buches habe ich mich mit dem Palazzo della
Ragione beschäftigt und auf seinen Charakter als überdauerndes
städtebauliches Element hingewiesen. Permanenz bedeutete dabei
nicht nur, daß dieser Monumentalbau eine Form der Vergangenheit
darstellt. Vielmehr hat hier eine sichtbare Gestalt der Vergangenheit,
an deren Charakter als Kunstwerk nicht zu zweifeln ist, durch die
Einrichtung einer Art Kleinmarkthalle im Erdgeschoß des Palazzo
neue Funktionen übernommen und ist dadurch lebendig geblieben.
So übt der Palazzo della Ragione durch seine neue Funktion einen
Einfluß auf das Leben in seiner Umgebung aus und stellt zugleich
einen wichtigen städtebaulichen Akzent dar. Ganz anders liegen die
Dinge bei der Albambra in Granada, die heute weder maurische noch
kastilische Könige beherbergt. Wenn wir funktionalistische Kategorien
gelten ließen, müßten wir gleichwohl anerkennen, daß sie die wich-

43

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 43 10.08.2015 09:41:04


tigste städtebauliche Funktion in Granada ausübt. V\'ährend der
Palazzo della Ragione, trotz seiner städtebaulichen Bedeutung, eine
neue Funktion übernommen und sich dadurch verändert hat und auch
in Zukunft weiter verändern könnte, hat die Alhambra keinen Bezug
zum heutigen Leben Granadas, ist aber für das Stadtbild von Granada
von so entscheidender Bedeutung, daß nichts an ihr verändert, nichts
hinzugefügt werden kann. (Man vergleiche damit das völlig verfehlte
Schloß Kar! V., das man bedenkenlos abreißen könnte.) Trotz ihrer
Verschiedenheit stellen aber sowohl die Albambra als der Palazzo della
Ragione einen unverzichtbaren Bestandteil der Stadt dar, zu deren
konstituierenden Faktoren sie gehören. Ähnliches wie für diese beiden
Bauten gilt auch für den Dogenpalast in Venedig, das Amphitheater in
Nimes oder die Mezquita in Cordoba. Ich neige deshalb der Auffassung
zu, daß- bis auf wenige Ausnahmefälle -die Permanenz ein Merkmal
der auch faktisch überlebenden Baudenkmäler ist, die auf ihrer städte-
baulichen und kunsthistorischen Bedeutung und ihrem Erinnerungs-
wert beruht.
Von diesem positiven Begriff des Überdauerns einer Form der Ver-
gangenheit, die uns eben diese Vergangenheit noch heute erfahrbar
macht, unterscheidet sich die Permanenz von krankhaftem Charakter,
die als etwas Isoliertes und Deplaciertes in Erscheinung tritt. Das ist
vor allem bei einem Milieu der Fall, das für die Permanenz einer in-
zwischen technisch und sozial überlebten Funktion konzipiert wurde.
Nicht zufällig verbindet man mit dem Begriff des Milieus die Y or-
stellung von einem Wohngebiet. Seine Konservierung widerspricht
dem dynamischen Entwicklungsprozeß einer Stadt und verhält sich zu
deren heutigen Werten wie der einbalsamierte Leichnam eines Heili-
gen zum Bild seiner historischen Persönlichkeit.
Die Erhaltung solcher Milieus stellt eine Art von städtebaulichem
Naturalismus dar, wobei nicht zu bestreiten ist, daß durch derartige
Konservierungen eindrucksvolle Städtebilder entstehen können und -
soweit etwas Derartiges überhaupt möglich ist der Besuch einer
toten Stadt ein einzigartiges Erlebnis darstellen kann, das allerdings
nichts mehr mit einer noch heute erfahrbaren Vergangenheit zu tun
hat. Gewiß stellt es zwar eine Vereinfachung dar, nur den Baudenk-
mälern eine ästhetische Bedeutung zuzugestehen, die sie z.u Fixpunk-
ten der Stadtstruktur werden läßt. Denn wenn man von der Hypothese
ausgeht, daß die Stadt als Ganzes etwas Gestaltetes oder ein Kunstwerk
ist, so ist es legitim, auch einem vVohnhausodereinem anderen kleineren
Bauwerk ästhetischen vVert zuzuerkennen. Aber auf diese Problerne
soll hier nicht eingegangen werden; es soll lediglich festgestellt wer-
den, daß die Dynamik einer Stadt eher zur Weiterentwicklung als zur
Erhaltung tendiert, daß die Baudenkmäler aber im Zuge dieser Ent-
wicklung- wie jedermann nachprüfen kann - erhalten bleiben und

44

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 44 10.08.2015 09:41:06


sich sogar stimulierend auf die Entwicklung auswirken. Dabei beziehe
ich mich natiirlich auf normale Stiidte mit einem ununterbrochenen
Entwicklungsgang. Denn die Probleme der toten Städte berühren die
Urbanistik nur am Rande und gehen eher Historiker und Archäologen
an.
Daß die Kontinuität von städtebaulichen Phänomenen nicht durch
deren Funktion zu erklären ist und daß insbesondere die Hypothese,
Funktionen seien die Ursachen für die Gründung einer Stadt, nichts
zu einer solchen Erklärung beiträgt, habe ich schon nachzuweisen ver-
sucht. Eine Funktion ergibt sich immer aus zeitgebundenen gesell-
schaftlichen Bedingungen und kann deshalb nicht mit der Stadtent-
wicklung in Zusammenhang gebracht werden. Ein durch eine be-
stimmte Funktion determiniertes städtebauliches Phänomen erschöpft
sich in der Ausübung dieser Funktion. In \Virklichkeit aber bleiben
auch städtebauliche Phänomene für uns von Bedeutung, deren Funk-
tion längst erloschen ist. Diese Bedeutung beruht ausschließlich auf
ihrer Gestalt, die ein konstanter Bestandteil der gesamten Stadtgestalt
ist. Häufig stellen derartige Phänomene konstituierende Elemente
einer Stadt dar, hängen eng mit deren Gründung zusammen und sind
Monumentalbauten. Daraus ergibt sich die \Vichtigkeit des Zeitfak-
tors für die Untersuchung städtebaulicher Phänomene. Denn die
Gestalt einer Stadt ist immer die Gestalt zu einem bestimmten Zeit-
punkt, auch wenn in dieser Gestalt viele Zeiten zugegen sind. Selbst
während der Lehensdauer eines :Menschen verändert sich eine Stadt
deshalb. So schrieb schon der achtunddreißigjährige Baudelaire:
>>Paris, das alte, ist nicht mehr, Bild und Vermächtnis der Stätlte wan-
deln eh'r als die Herzen.«34
Aufgrund all dieser Überlegungen können wir die Stadt als eine
Architektur deuten, die aus verschiedenen Komponenten, insbeson-
dere den Wohngebieten und den primären Elementen, besteht. Dabei
müssen wir davon ausgehen, daß die \Vohngebiete den größten Teil
der Stadtf1äche bedecken. Da ihre je,veilige Bebauung von relativ
kurzer Lehensdauer ist, soll in die Untersuchung der \Vohnviertel
auch die ihrer Grundstücke einbezogen werden. Im Gegensatz zu
ihnen sind die primären Elemente für die Gestaltung und Konstitu-
tion einer Stadt von entscheidender Bedeutung, die häufig mit ihrer
Permanenz zusammenhängt. Eine besondere Rolle spielen dabei die
Baudenkmäler. Im folgenden soll nun untersucht werden, welchen
Anteil an der Stadtstruktur die primären Elemente tatsächlich haben
und inwiefern städtebauliche Phänomene oder zumindest die Gesamt-
struktur einer Stadt als Kunstwerk zu betrachten sind. Unsere bis-

34 Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, deutsch von Karl Schmid,
Tübingen 1947.

45

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 45 10.08.2015 09:41:06


herigen Analysen haben uns diese allgemeine Konstitution der Stadt
und die Motive für ihre Architektur bereits erkennen lassen.
Das alles ist nichts Neues, denn ich habe mich bei diesem Versuch, eine
der vVirklichkeit entsprechende Theorie der städtebaulichen Phäno-
mene zu erarbeiten, auf zahlreiche Autoren und deren Arbeiten ge-
stützt. Einige der bisher behandelten Themen wir Funktion, Perma-
nenz, Klassifizierung und Typologie halte ich indessen für außer-
ordentlich wichtig. Viele von ihnen würden deshalb eine gründlichere
Darstellung verdienen. Noch dringlicher aber erscheint es mir, vor
allem ein Schema der Stadtarchitektur zu skizzieren und auf einige
Probleme ihrer Gesamtkonstitution einzugehen.

46

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 46 10.08.2015 09:41:08


Zweites Kapitel

Primäre Elemente und Stadtareal

1. Der Untersuchungsbereich

Bei der Darstellung der Stadt als Artefakt oder Gesamtarchitektur


sind wir davon ausgegangen, daß für die Entwicklung der Stadt der
Zeitfaktor eine Rolle spielt, daß es in ihr deshalb ein Vorher und ein
Nachher gibt. Von dieser Voraussetzung haben wir die Theorie der
Permanenz bestimmter Elemente abgeleitet. Zu dieser zeitlichen
Kontinuität einer Stadt tritt ihre räumliche Kontinuität hinzu. Hierbei
handelt es sich insofern um eine stark umstrittene These, als sie aus-
schließt, daß es zwischen den früheren Städten und den Städten, wie
sie sich nach der industriellen Revolution entwickelt haben, einen
qualitativen Unterschied gibt oder daß offene und ummauerte Städte
verschiedener Natur sind. Schließlich haben wir angenommen, daß
eine Stadtstruktur besondere Elemente enthält, die ihren Entwick-
lungsprozeß hemmen oder beschleunigen können.
Nun werde ich genauer auf das Stadtgebiet eingehen, das als Grund
und Boden eine natürliche Gegebenheit, zugleich aber auch ein Kul-
turerzeugnisist und einen integrierenden Bestandteil der Stadtarchitek-
tur darstellt. Dieses Areal einer Stadt stellt die Projektion ihrer Gestalt
auf eine horizontale Fläche dar, die von den Geographen als Lage rler
Stadt bezeichnet wird. Sie ist für die geographische und topographische
Beschreibung einer Stadt von Bedeutung und ermöglicht die Klassi-
fizierung von Städten nach Kriterien des Grundrisses.
Da wir davon ausgegangen sind, daß zwischen jedem Einzelelement
einer Stadt und den komplexeren städtebaulichen Phänomenen, ein-
schließlich der Gesamtstadt, wechselseitige Beziehungen bestehen, ist
es notwendig zu klären, mit welchem Bereich wir es jeweils zu tun
haben. Dabei möchte ich die kleinste Einheit mit dem in Hinblick
auf die Stadtwirklichkeit abstrakten Begriff des Untersuchungs-
bereiches bezeichnen. Gemeint ist damit ein Ausschnitt aus dem
Stadtareal, das als Funktion anderer Stadtelemente-zumBeispiel des
Straßensystems - definiert und beschrieben werden kann. Denn zum
V erstiindnis der Merkmale einer bestimmten Parzelle und ihres Ein-
flusses auf einen bestimmten Wohnungstyp erweist es sich als nützlich,
auch die angrenzenden Parzellen, die einen solchen Untersuchungs-
bereich bilden, in die Analyse einzubeziehen, um festzustellen, ob wir
es mit etwas Abnormem zu tun haben oder mit etwas, das von all-
gemeineren Bedingungen in dieser Stadt abhängig ist.

47

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 47 10.08.2015 09:41:08


Aber ein Untersuchungsbereich kann auch durch historische :Vlerkmale
definiert werden und mit einem bestimmten städtebaulichen Phäno-
men identisch sein. Dann besitzt er bestimmte Merkmale, die ihn von
anderen städtebaulichen Phänomenen innerhalb derselben Stadt unter-
scheiden und bringt uns dadurch der Erkenntnis von deren Struktur
näher. Besondere Beachtung venlient <lie Beziehung 7>wischen dem
räumlichen Begriff des Untersuchungsbereiches und dem soziologi-
schen der >>natural area«, da sie für den Begriff des Stadtviertels von
Wichtigkeit ist. Jedenfalls aber müssen wir immer genau definieren,
was wir jeweils als Untersuchungsbereich verstehen wollen, um das
vVachstum einer Stadt und die Entstehung städtebaulicher Phänomene
nicht, wie das so häufig geschieht, als einen kontinuierlichen natür-
lichen Prozeß zu mißdeuten, der die tatsächlichen Unterschiede räum-
licher und zeitlicher Art zwischen den einzelnen Städten verschleiert.
Jede V erämlerung eines städtebaulichen Phänomens fiihrt dabei zu
einer grundsätzlichen Veränderung seiner Qualität.
Da ich mir darüber klar bin, daß die Argumente, die bisher für die
Natur der wechselseitigen Beziehung zwischen der Typologie der Bau-
ten und der Morphologie einer Stadt geltend gemacht wurden, nicht
zwingend sind, möchte ich vorerst bei den Unterscheidungen und
Definitionen der einzelnen städtebaulichen Phänomene verweilen,
selbst wenn ich mich dabei teilweise nur auf ihre Beschreibung
beschränke. Den Begriff des Untersuchungsbereiches halte ich dabei
deshalb fiir so wichtig, weil man sich meiner Auffassung nach
heute beim Städtebau stets mit einem bestimmten Teil der Stadt
beschäftigen sollte, ohne im Namen einer abstrakten Stadtplanung die
Möglichkeit eines anderen V orgehens auszuschließen.
>>Die heutige Großstadt«, schreibt Fritz Schumacher, >>ja die heutige
große Stadt, ist ihrem Wesen nach nicht mehr ein Gebilde, das sich
einem einzigen Grundgedanken fügen kann. Sie setzt sich zusammen
aus Distrikten, die in ihrem soziologischen Charakter ganz verschie-
den sind, ja man kann diese Differenzierung als einen Zug ihrer Eigen-
art bezeichnen. Der Distrikt der repräsentativen Stadt und der Ge-
schäftsstadt, der Industriestadt und der Wohnstadt, die sich in mannig-
fachen Typen stuft, alle diese Bezirke unterscheiden sich immer deutli-
cher voneinander, und es wäre d urehaus falsch, sie unter ein Gestaltungs-
gesetz zwingen zu wollen ... Die große Stadt ist heute also ein zusammen-
gesetztes Gebilde aus verschiedenen Gestaltungsaufgaben geworden,
und das ist gleichbedeutend damit, daß sie nicht in ein eindeutiges
Schema der Regelmäßigkeit gepreßt werden kann, sondern daß ihre re-
gelmäßig gestaltete Struktur sich in allen möglichen Formen- nicht etwa
der Unregelmäßigkeit, sondern derfrei bewegten Ordnung- auf!ösen.« 1

1 Fritz Schurnacher, Vom Städtebau zur Landesplanung, Tübingen 1951;

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 48 10.08.2015 09:41:10


Diese Behauptungen machen deutlich. daß der Untersuchung des -
als eines konstituierenden Bestandteils der Stadt in bezugauf die Gestalt-
analyse der Stadt verstandenen - Areals ein besonderes Interessen zu-
kommt, weil diese Gestalt oft in entscheidendem Ansmaß von der
Gestalt ihres Standortes abhängig ist. Dabei möchte ich unter Areal
sowohl die Gesamtheit der Stadt, die durch ihr Wachstum und ihre
Differenzierungsprozesse entstanden ist, als die einzelnen Stadtteile
verstehen, die ihre Eigentümlichkeiten entwickelt haben. Denn die
Stadt ist als ein großes Gebilde von räumlicher Gestalt anzusehen, clas
jedoch in seinen Einzelelementen am sichersten zu erfassen ist. Durch
ihre gemeinsame Geschichte und das Gedächtnis der Stadt werden
diese Teile, die sich durch eine unterschiedliche Entwicklung diffe-
renziert haben, zur Einheit. Definiert sind sie vor allem <Iurch ihre
Lage. Denn zusammen mit den sozialen üben die räumlichen Faktoren
einen determinierenden Einfluß auf die Bewohner eines kulturell und
geographisch hinreichend genau umschriebenen Bereichs aus. Yom
Standpunkt der Stadtmorphologie aus ist die Definition eines solchen
Bereiches noch einfacher, insofern es ein Gebiet von physisch und
sozial homogenem Charakter umfaßt. (Worin dieser homogene Cha-
rakter besteht, ist allerdings, vor allem hinsichtlich der Gestalt, nicht
leicht zu erklären. Am zweckmäßigsten wäre es vielleicht, von einer
typologischen Homogenität zu sprechen. Denn in den einzelnen
Stadtvierteln, Siedlungen usw. findet die Einheitlichkeit der I .ebens-
formen in Häusern von verwandtem Typus ihren Ausdruck.) Schließ-
lich gerät man aber bei der Beschreibung homogener Merkmale innner
in die Sozialmorphologie oder Sozialgeographie, die das Verhalten
bestimmter sozialer Gruppen auf örtliche Eigentümlichkeiten hin
untersuchen. Damit wird die Standortanalyse zu einem wichtigen
Bestandteil der Stadtuntersuchung. Die Gesamtheit der l'nter-
suchungen führt zu einer regelrechten Stadtökologie, die die \' orhe-
dingung für eine Stadtanalyse ist. Als Unterscheidungsmerkmale tre-
ten dabei Yrasse und Dichte der Bebauung in horizontaler wie verti-
kaler Hinsicht hervor. Ihr Verhältnis zu einer bestimmten Fläche
charakterisiert infolgedessen das Areal und stellt zugleich ein Span-
nungsmoment für das städtische Leben dar. Auch wenn diese Defini-
tion vom ökologischen Standpunkt aus als unzureichend erscheint,
erweist sie sich doch als recht geeignet, um die Probleme zu n'nleut-
lichen.

s. a. Fritz Schumacher, Zum Wiederaufbau Hamburgs, in: Strömungen


deutscher Baukunst seit 1800, Köln 1955, S. 193ff.; Gemeinsamer Landes-
planungsrat Hamburg, Schleswig-Holstein, Leitgedanken und Empfehlungen,
Hamburg, Kiel 1960, Aldo Rossi, Contributo al problema dei rapporli lra
tipologia edilizia e morfologia, Mailand 1964.

+9

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 49 10.08.2015 09:41:10


2. Areal und Stadh·icrtel

Der bisher entwickelte Begriff des Areals ist eng mit dem des Stadt-
viertels verbunden. Dabei beziehe ich mich auf Tricarts Nomenklatur.
Zweckmäßiger erscheint mir allerdings der Begriff des Distrikts zu
sein, der davon ausgeht, daß die Stadt ein räumliches System ist, das
aus mehreren Teilen von besonderer Eigenart besteht. Eine Theorie
dieser Art, die meines Erachtens recht realistisch ist, hat Sehnmacher
entwickelt. Dabei stellt sein Begriff des Distrikts allerdings nur eine
Ausweitung des Begriffes Untersuchungsfeld dar. Jedenfalls aber ist
der Distrikt oder das Stadtviertel ein Bestandteil der Stadtgestalt, der
mit ihrer Natur und ihrem Schicksal eng verbunden ist und teilweise
nach ihrem Bilrl erbaut wurde. Solche Stadtviertel sind Gegenstände
unserer konkreten Erfahrung. Für die Gesellschaftsmorphologie sind
sie strukturelle Einheiten, die durch eine bestimmte Stadtlandschaft,
eine sozial einheitliche Bewohnerschaft und eine bestimmte Funktion
zu charakterisieren sind. Die Grenze eines Stadtviertels verläuft des-
halb dort, wo diese Merkmale ihren Charakter verändern 2 • Die Ent-
stehung der Stadtviertel beruht auf der Klassen- oder Rassentrennung
und auf bestimmten schichtenspezifischen wirtschaftlichen Funktionen.
Sie gehört deshalb zu dem für die Großstädte aller Zeiten typischen
städtischen Differenzierungsprozeß. Dabei bin ich der Auffassung, daß
die Abhängigkeit der einzelnen Stadtviertel voneinander nicht sehr
groß ist, sondern daß sie relativ autonom sind und so etwas wie eine
eigene Stadt innerhalb der Gesamtstadt darstellen. Damit stelle ich
einen weiteren Aspekt der funktionalistischen Theorie in Frage, näm-
lich den der Zonierung. Ich meine damit nicht deren Praktizierung,
die immer akzeptabel ist, weil sie eine andere Bedeutung hat, sondern
die Theorie der Zonierung, wie sie Park und Burgess 3 am Beispiel
Chicagos entwickelt haben. Auf den ersten Blick scheint die Deutung
der Stadt anhand dieser Theorie trotzihrer Künstlichkeit überzeugend.
Sehr rasch aber zeigt sich, daß man hier in sich gültigen Forschungs-
ergebnissen eine zu große Bedeutung zugemessen hat.
Die wissenschaftliche Theorie des zoning erarbeitete Burgess 1923
aufgrund seiner Untersuchungen von Chicago. Dabei definierte er die
Zonierung als die Tendenz einer Stadt, rings um ein zentrales Ge-
schäfts- oder Verwaltungsviertel weitere Stadtviertel mit ganz be-
stimmten Funktionen entstehen zu lassen. Diese Funktionen he-
schrieb er am Deispiel Chicagos. Dort schließen an die Stadtmitte
ärmliche Stadtviertel an, in denen Neger oder Einwanderer wohnen

2Vgl. Tricart, a. a. 0., S. 147.


3Park, Burgess, McKenzie, The City, Chicago 1925; E. vV. Burgess, The
Determination of Gradients in the Growth of the City, Chicago 1927.

50

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 50 10.08.2015 09:41:11


z-
I

3
J:'o))j

~
r,. r-::-~~~
5 [ll]]]
el!!lJm
7~
al!!!!ll
9~
10~

Chicago: Schematische Darstellung derWohngebiete einzelner Volksgruppen.


1 Parks und Hauptverkehrsadern 6 Polen und Litauer
2 Industriegebiete und 7 Italiener
Eisenbahnlinien 8 Juden
5 Deutsche 9 Neger
4 Schweden 10 Gemischte Bevölkerung
5 Tschechoslowaken

51

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 51 10.08.2015 09:41:12


und in kleinen vr erkstätten arbeiten. Etwas weiter vom Stadtzentrum
entfernt liegen die Fabriken und in ihrer Nähe die Arbeiterwohnun-
gen. Dann folgt das reichste Wohnviertel mit Eigenheimen und
Etagenhäusern, nnd schließlich gibt es, bereits außerhalb der Stadt an
den Kreuzungen ihrer .\usfallstraßen Siedlungen, die von Pendlern
bewohnt werden.
Dieses Modell, das selbst für Chicago reichlich schematisch wirkt, ist
vielfach kritisiert worden. Am interessantesten ist dabei die These von
Hoyt4 , der - wenngleich nur andeutungsweise - davon spricht, daß
sich das Wachstum einer Stadt in aller Regel entlang den Verkehrs-
achsen vollzieht, also radial und nicht konzentrisch vonstatten geht.
Eine ähnliche Theorie entwickelte Schumacher5 vor allem für den
v'Viederaufbau von Hamburg. Letzten Endes geht sie auf die Unter-
suchungen Reinhard Baumeisters aus dem Jahre 1870 zurück, deren
Ergebnisse in die Berliner Bauordnung von 1925 eingingen 6 • Gleich-
wohl sah diese Bauordnung keine radiale Anordnung der vVohn-,
Geschäfts-, Industrie-, Misch- und Grünzonen vor. In ihrer freien
Anordnung um das Geschäftszentrum, das zugleich der historisch Stadt-
kern Berlins war, widersprechen sie vielmehr der Theorie von Burgess.
Andere meist komplexere Analysen des Wachstumsprinzips von
Städten wurden vor allem von Geographen vorgenommen. Zu ihnen
gehört Hugo Hassingers 7 BeschreibungWiensaus dem Jahr 1910. In
ihr bezeichnet Bassinger die vom Ring umgebene Altstadt und den arn
dichtesten bebauten Vorstadtgiirtel als Großstadtkern, an den sich das
»großstädtische Weichbild<< als Übergangszone zwischen Stadt und
Land anschließt.
Diese spezifische Wiener Situation wird durch die historische Entwick-
lung der Stadt verständlicher. Als Wien im siebzehnten Jahrhundert
zur Residenzstadt der Habsburger wurde, mußten die Bürgeraufgrund
der Hofquartierspflicht das Gefolge des Kaisers in ihren Häusern auf-

4 H. Hoyt, The Structure of Residential Neighborhoods in American Cities,


Washington 1939; für die Kritik an der amerikanischen Stadtsoziologie s. a.
Max Sorre, a. a. 0.
5 Strömungen deutscher Baukunst, S. 193ff.
6 Vgl. Werner Hegemann, Das steinerne Berlin, Berlin 1930, S. 352ff. und
s. 461 ff.
7 Außer Bassingers Darstellung der Wiener Verhältnisse 1910 s. a. Aldo
Rossi, Un piano per Vienna, Casabella-continuita, H. 278, Mailand 1963;
Roland Raincr, Planungskomzept ·wien, 'Wien 1963; Die Jahrgänge von
»Aufbau<<, insbesondere H. 4/5, 1961; Gemeinwirtschaft, Planen und Bauen,
H. 7 und 8, 1961; Georg Condit; Stadtplanung und Planungsgrundlagen,
H. 11 und 12, 1961; Sokratis Dimitriou, Die \'Viener Gürtelstraße; Karl
Feltinek, Kulturelle Mittelpunkte in den Wiener Außenbezirken; Robert E.
Dickinson, The West european City, London 1962.

52

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 52 10.08.2015 09:41:14


nehmen. Infolgedessen wurden die alten gotischen Häuser abgerissen
und an ihrer Stelle sechs- bis siehenstöckige Häuser mit zwei bis drei
Kellergeschossen erbaut. Das führte schon um 1700 zu so hohen
Grundstückspreiscn, daß die ärmere Bevölkerungsschicht und die
Handwerker in die Vorstädte übersiedelten, die seit 1683 entstanden.
Das gängige Interpretationsschema der Verstädterung ist deshalb auf
Wien nicht anzuwenden. Denn als nach 1850 das durch die Industriali-
sierung bedingte neue Wachstum der Stadt einsetzte, war ein Teil der
·vviener Altstadt längst zerstört.
Durch diesen knappen Überblick über die verschiedenen Theorien
zur Deutung der Lage der verschiedenen Stadtteile und ihrer Be-
ziehungen untereinander sollte darauf hingewiesen werden, daß die
Grundschwäche der Theorie von Burgess auf der Annahme beruht,
die einzelnen Stadtteile seien ausschließlich durch ihre Funktion
determiniert. Diese Konzeption beschränkt sich darauf, die Stadt als
ein Konglomerat unterschiedlicher Elemente anzusehen, die aufgrund
des städtebaulichen Prinzips der Differenzierung entstanden sind. Sie
verhindert dadurch eine vollständigere Analyse eines Stadtteils und
dessen Definition dun;h die Beziehungen, die sich in ihm ergeben.
Gerade diese Beziehungen aber siml entscheidend für die Stadtarchi-
tektur. Denn, wie schon ßaumeistpr und andere festgestellt haben,
gibt es zwar Stadtteile mit einer spPt"ifischen Funktion, die ihr eigen-
tümliches Gepräge und als autonome Gebilde ein eigenes Gesicht
haben. Ihre Lage innerhalb der Stadt hängt aber nicht- oder zumin-
dest nicht ausschließlich - davon ab, daß und wie die verschiedenen
für eine Stadt notwendigen Funktionen einander zugeordnet werden
müssen, sondern hauptsächlich von ihren gesamten geschichtlichen
Entwicklungsprozeß, der sie in ihrer besonderen Konstitution be-
stimmt. Bassinger hat dieses Prinzip am Beispiel Wiens nachgewiesen,
das an dessen Stadtbild bis heute abzulesen ist. Denn bei ihm handelt
es sich nicht um eine Gliederung der Stadt nach Funktionen, sondern
eher um eine Definition der einzelnen Stadtteile durch ihre Gestalt
und ihre iVIerkmale, die eine Synthese aus Funktion und Bedeutung
darstellen. V erallgerneinernd läßt sich deshalb lediglich sagen, daß
jede Stadt ein mehr oder minder komplexes Zentrum mit unterschied-
lichen Merkmalen hat und daß dieses Zentrum für das Leben Piner
Stadt eine besondere Rolle spielt. Ein Teil des tertiären Sektors ist in
diesem Zentrum angcsieclelt, ein anderer erheblicher Teil an clen
Ausfallstraßen der Stadt uncl innerhalb großer Wohngebiete. Diese
netzartige Struktur des tertiiiren Sektors mit seinen zahlreichen
Schwerpunkten ist fiir die Beziehungen der verschiedenen Stadtteile
untereinander von entscheidender Bedeutung. Sie stellt ein städtebau-
liches Phänomen von primärer Wichtigkeit dar, dessen Rolle sich aus
seiner Struktur und Lage ergibt.

53

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 53 10.08.2015 09:41:14


Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Nebenkarte: Schematische Darstellung der Entwicklung Wiens.
1 Wien 1683 3 Ring
2 Wohngebiete des 18. und begin- 4 Bebauung um 1860
nenden 19. Jahrhunderts inner- 5 Bebauung im ausgehenden 19. und
halb der Stadtmauer von 1703 beginnenden 20. Jahrhundert.

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 54 10.08.2015 09:41:16


Alle diese Überlegungen bestätigen die These, daß eine Stadt aus
unterschiedlichen Teilen besteht, die aus historischer und formaler
Sicht als komplexe städtebauliche Phänomene zu betrachten sind. In
manchen Stadtvierteln überwiegen dabei die W ohngebiete, deren
Aussehen sich im Lauf der Zeit stark verändert. Charakteristisch für
sie ist also mehr das bestimmte Areal als die darauf errichteten Bauten.
Ich möchte für sie deshalb den Begriff des ''V
ohrrareals gebrauchen,
wobei ich den Begriff des Areals der soziologischeri. Literatur entnehme.
Vom Standpunkt einer Theorie aus, die ihre Aufmerksamkeit stärker
der Struktur der Phänomene selbst zuwendet als ihrer Funktion,
unterscheiden sich die einzelnen Städte durch charakteristische Merk-
male. Daß dies schon für die Stadtteile der antiken Städte zutraf, die
sich durch ihre Zentren, ihre Baudenkmäler und ihre Lebensweise
unterschieden, ist allgemein bekannt. Aber auch die Viertel der
großen europäischen Städte unterscheiden sich durch derartige Merk-
male, mag es sich dabei um eine einheitliche Planung wie in Paris
handeln oder um eine Stadt von so eigentümlich lokal bedingter
Gestalt wie London. Am auffälligsten aber ist der Unterschied
zwischen den einzelnen Stadtteilen bei den amerikanischen Städten,
bei denen dieses Phänomen eines der schwierigsten städtebaulichen
Probleme darstellt. Selbst wenn man nicht auf die sozialen Aspekte
dieses Problems eingeht, erweist sich die amerikanische Stadt in ihrer
Entwicklung und Gestalt deshalb als ein typisches Beispiel fiir die Be-
deutung der Unterschiede zwischen den einzelnen Stadtteilen. Kevin
Lynch schreibt in der Analyse seines Forschungsmaterials: »Viele der
Befragten wiesen darauf hin, daß Boston, dessen Straßenmuster selbst
für die Einwohner, die sich gut in der Stadt auskennen, verwirrend ist,
diesen Fehler durch die Anzahl und die Anschaulichkeit seiner verschie-
denen Bereiche ausgleicht. Eine der befragten Personen drückte clas so
aus: ;Jeder Teil von Boston unterscheidet sich vom andern. JV1an kann
gerrau feststellen, in welcher Gegend man sich befindet.< ... Wenn
man die Leute fragte, welche Stadt sie für günstig angelegt hielten,
so nannten sie verschiedene - aber immer wurde New Y ork (gemeint
war Manhattan) angeführt. Diese Stadt galt ... als erwähnenswert, ...
weil sie eine Anzahl voneinancler verschiedener, charakteristischer
Bereiche hat, die in einem übersichtlichen Rahmen von Flüssen nnd
Straßen gefaßt sind.« 8 Im selben Zusammenhang schreibt Lynch von
Stadtgebieten, sie »sind in erster Linie Orientierungspunkte mit gerin-
gem Inhalt für die Vorstellung; nichtsdestoweniger sind sie nützliche
Organisationselemente« 9 und unterscheidet Gebiete, die »ganz auf sich
selbst bezogen« seien und »Wenig Zusammenhang mit der Stadt außer-

8 Kevin Lynch, a. a. 0., S. 282ff.


9 Ebd., S. 87.

55

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 55 10.08.2015 09:41:16


halb<< hätten und solchen, die »auf die Umwelt bezogen ... nach außen
gekehrt und mit den sie umgebenden Elementen verbunden« 1 0 seien.
Meiner Auffassung nach ließen sich Lynchs psychologischen Unter-
suchungen durch sprachliche Beobachtungen ergänzen. Denn Be-
griffe wie der des Heimatbezirks, durch den der Wiener die Identität
von Heimat und Lebensraum zum Ausdruck bringt, sind bezeichnend
für die tatsächliche Struktur der Wirklichkeit und damit auch der
städtebaulichen Realität. Mit Recht hat Hellpach deshalb von der
Großstadt als der eigentlichen Heimat des modernen Menschen ge-
sprochen11. Der Begriff des Heimatbezirks entspricht aber besonders
gut der morphologischen und historischen Struktur Wiens als Viel-
völkerstadt, die indessen wohl zugleich der einzige Ort war, an dem
sich die einheitliche Konzeption des habsburgischen Reiches konkreti-
sierte.
In Mailand sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Stadtteilen
außerhalb der spanischen Mauern nur durch eine sorgfältige histo-
risch-morphologische Untersuchung aufzudecken. Sprachlich läßt sich
aber bis heute etwas davon in der Tatsache erkennen, daß die bedeu-
tendste dieser Vorstädte, das Gebiet um den Corso San Gottardo im
Mailänder Dialekt kurzerhand el burg heißt. Ginge man ähnlichen
sprachlichen Phänomenen systematisch nach, so käme man zweifellos
zu ebenso wichtigen Ergebnissen für die Gestaltung einer Stadt, wie
sie die psychologischen Untersuchungen zutage gefördert haben. Ich
denke dabei, trotz ihrer unbestreitbaren Wichtigkeit, nicht nur an die
Namensforschung, die zum Beispiel anhand von Straßennamen Er-
hellendes über tiefgreifende Veränderungen des Stadtgeländes auszu-
sagen hat. So erinnern in Mailand die Via Bottonuto, die Via Posla-
ghetto und die Via Pantano ebenso wie die Via San Giovanni in Conca
daran, daß ihr Gebiet früher sumpfig war und in alten Zeiten durch
Entwässerungsanlagen erschlossen wurde. Gleiches gilt für das Pariser
Stadtviertel Marais. Vermutlich würden deshalb auch weitere sprach-
liche Untersuchungen Beweise für die Entstehung der Stadt aus ein-
~.E'lnen Teilen von jeweils besonderem Charakter liefern.

3. Tr ahnviertel
Wenn ich mich nun noch gründlicher mit dem Wohngebiet und den
primären Elementen beschäftigen werde, so sei zuvor noch einmal
darauf hingewiesen, daß die Verwendung des Begriffes Wahngebiet
noch kein Beweis für die Anwendung funktionaler Kriterien bei der

1o Ebd., S. 88f.
11 VVilly Hellpach, Mensch und Volk der Großstadt, Stuttgart 1952, S. VII.

56

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 56 10.08.2015 09:41:18


.\nalvse der Flächennutzung in einer Stadt ist, sondern lediglich an-
zeigt, daß ein städtebauliches Phänomen erster Ordnung gesondert
behandelt werden soll. Denn die vVohngebiete sind ein wesentlicher
Bestandteil aller Städte, und selbst dort, wo- wie zum Beispiel in einer
Festung oder in einem Militärlager- die Wohnfunktion nur von unter-
geordneter Bedeutung war, änderte sich das sehr schnell zu deren
Gunsten.
v'V eder historische Analysen noch Beschreibungen der heutigen Situa-
tion geben Anlaß dazu, Wohnviertel als etwas Amorphes zu betrach-
ten, das ohne weiteres zu verändern ist. Vielmehr ist die Gestalt der
Wohnbauten ein wichtiger Bestandteil der Stadtgestalt. Daß die
Haustypen, die der konkrete Ausdruck für die Lehensweise eines Vol-
kes und damit einer Kultur sind, sich außerdem nur sehr langsam
wandeln, hat Viollet-le-Duc in seinem »Dictionnaire raisonne de
I' Architecture Franc;;aise du XI au XVI Siede« nachgewiesen, in dem
jede Behauptung durch konkrete Fakten erhärtet wird. Hier heißt es
unter dem Stichwort »maison«: »Von allen Werken der Architektur
ist das Wohnhaus ohne Zweifel dasjenige, das Sitten, Geschmack und
Bräuche eines Volkes am deutlichsten charakterisiert. Seine Organisa-
tion und Aufteilung verändern sich nur sehr allmählich.«
Im alten Rom wurde bei den Haustypen, die die augusteische Starlt und
ihre vierzehn Distrikte charakterisierten, streng zwischen domus und
insula unterschieden. Die insula stellt dabei sozusagen ein Abbild der
Stadt selbst dar. Denn, ähnlich wie in den Pariser Häusern, die nach
1850 erbaut wurden, stammten ihre Bewohner - anders, als meist
angenommen wird - aus unterschiedlichen sozialen Schichten, die
jeweils bestimmte Geschosse bewohnten. Die insulae waren sehr
schlecht gebaut und deshalb kurzlebig. Sie wunlen daher immer wie-
der durch neue Bauten ersetzt. Sie stellten rlas städtebauliche Substrat,
die JYiaterie, dar, durch die die Stadt ihre Gestalt gewann. Diese
Massenunterkünfte waren bereits Gegenstände der Spekulation, rlie
immer eine der wichtigsten Kräfte für das ''Vachsturn der Stadt
gewesen ist. Diesen Mechanismus der Bodenspekulation in Wohn-
gebieten muß man kennen, um das System der öffentlichen Bauten,
deren Verlagerung und überhaupt den Wachstumsprozeß einer Stadt
zu verstehen. Ähnliche Vorgänge spielten sich auch in den griechi-
schen Städten ab, obgleich die Bebauung in ihnen nicht so dicht >var.
Die Stadtgestalt von Vfien ergab sich aus einem Wohnproblem. Denn
durch die Hofquartierspflicht verdichtete sich die Bebauung tler
Innenstadt außergewöhnlich, mehrgeschossige Häuser eines neuen
Typs entstanden, und die Vorstädte entwickelten sich. Erst in den
Arbeitersiedlungen, die nach dem Ersten Weltkrieg gebaut wurden,
kam man auf dieses Prinzip zurück, das 'Yohnungsproblem zu einem
die Stadt determinierenden Faktor 7.u machen. Das Programm der

57

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 57 10.08.2015 09:41:18


Stadt Wien hatte es vor allem auf die Errichtung typischer Baukom-
plexe abgesehen, deren Gestalt so weit wie möglich mit der Stadt-
gestalt harmonisieren sollte. Peter Behrens schrieb darüber, diese
Bauten aufgrund von Prinzipien zu kritisieren, die am grünen Tisch
ersonnen worden seien, heiße einen verkehrten Weg einschlagen,
denn nichts sei so wechselhaft und verschiedenartig wie die Bedürf-
nisse, Gewohnheiten und Lebensumstände einer B-evölkerungsgruppe,
die in einem bestimmten Stadtgebiet wohne12 •
Damit gewinnen das Wohngebiet und sein Standort hervorragende
Bedeutung. Die riesigen Flächen, die von den amerikanischen Städten
bedeckt werden, sind, wie Gottmann in seiner Studie »Megalopolis«
(New York 1961) nachgewiesen hat, eine Folge der lockeren Be-
bauung durch Einfamilienhäuser. Dabei ist die Standortwahl von
vielen geographischen, morphologischen, historischen und vor allem
ökonomischen Voraussetzungen abhängig. Denn Entstehung und Ver-
fall von Wohngebieten und ihren spezifischen Bautypen werden von
der Bodenspekulation beeinflußt. Das gilt auch für das heutige Ge-
schehen in den Städten. Vorläufig scheint die sozialistische Stadt der
Art dieses Wachstumsprozesses keine grundsätzliche Alternative
gegenüberstellen zu können. Doch sind ihre von der Spekulation
unabhängigen Schwierigkeiten bei der Standortwahl nicht leicht zu
analysieren und gehören auf jeden Fall in den größeren Rahmen
politischer Entscheidungen und ihrer Bedeutung für die Dynamik der
Stadtentwicklung.
Logischerweise kann die Gründung neuer Wohngebiete nur dann er-
folgreich sein, wenn sie ausreichend mit öffentlichen Dienstleistun-
gen und Gemeinschaftseinrichtungen versorgt werden. Nur sie er-
möglichen eine weite Streuung. Denn die Verdichtung der Wohn-
gebiete im Zentrum des kaiserlichen Roms findet ihre Erklärung im
Fehlen öffentlicher und im geringen Vorhandensein privater Ver-
kehrsmittel. Doch ist diese Erklärung, wie man an den anderen

12 In: Bauwelt, H. 41, 1928. Für das Wohnungsproblem in funktionalistischer


Sicht ist grundlegend: Die Wohnung für das Existenzminimum, Internatio-
nale Kongresse für Neues Bauen, Zürich - Stuttgart 1933, mit folgenden
Aufsätzen: Ernst May, Die Wohnung für das Existenzminimum; Walter
Gropius, Die soziologischen Grundlagen der Minimalwohnung für die städti-
sche Industriebevölkerung; Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Analyse des
Elements fondamentaux du Probleme »La Maisou Minimum«; Hans
Schmidt, Bauvorschriften und Minimalwohnung.
Für einige methodologische Fragen s. Emesto N. R.ogers, Problemi di
metodo, in: Esperienza dell'Architettura, Turin 1958.
Eine zusammenfassende Darstellung der Wohnungsfrage in funktionalisti-
scher Sicht gab Giuseppe Samona, L'urbanstica e l'avvenire delle cittlt, Bari
1959, s. 99.

58

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 58 10.08.2015 09:41:20


Verhältnissen im antiken Griechenland und an der Gestalt e1mger
nordischer Städte erkennt, nicht erschöpfend. Das bedeutet, daß ein
bestimmtes System der öffentlichen V erkehrsmittel kein determinie-
render Faktor für die Stadtgestalt ist, sondern allenfalls deren Ent-
wicklung unterstützt. Deshalb löst der Bau einer Untergrundbahn in
einer großen Stadt lediglich Diskussionen über deren technische Effi-
zienz aus, während beim Bau von Wohnsiedlungen ihre Bedeutung
für das Stadtganze strittig sein kann. Infolgedessen stellt jedes Wohn-
gebiet ein städtebauliches Phänomen dar, das eng mit der sichtbaren
Gestalt dieser Stadt und mit der Lebensweise ihrer Bewohner, und das
heißt mit der Stadtstruktur, zusammenhängt, während keiner tech-
nischen Ausrüstung diese Bedeutung zukommt.
Daraus ergibt sich, daß die Untersuchung von Wohngebieten für das
Verständnis der gesamten Stadt ebenso fruchtbar sein kann wie die
Untersuchung der Gesamtstadt für das Verständnis der Wohngebiete.
Vielleicht ist nichts so erhellend für die Strukturunterschiede zwi-
schen einer mittelmeerischen Stadt wie Tarent und einer nordischen
Stadt wie Zürich wie die Verschiedenartigkeit ihrer Wohnprobleme
auch in morphologischer Hinsicht. Ähnliches gilt auch für Bergdörfer
und alle jene Siedlungstypen, bei denen die Wohnfunktion von haupt-
sächlicher, wenn nicht ausschließlicher Bedeutung ist. Denn Ver-
gleiche dieser Art bestätigen immer wiederdie These von Viollet-le-Duc,
daß das Wohnhaus, seine Organisation und Aufteilung sich nur sehr
allmählich verändern.
Überlegungen dieser und ähnlicher Art könnten wichtige Beiträge
zum Wohnungsproblem darstellen. Sie weiter zu verfolgen, würde uns
aber zu sehr von dem eigentlichen Gegenstand dieses Buches ablenken.
Festzuhalten aber ist, daß es bei den typologischen Problemen des
Wohnhauses nicht nur um deren räumliche Aspekte geht. Denn wenn
man unsere bisherigen Darlegungen mit soziologischen oder eigentlich
politischen Überlegungen zum Wohnungsproblem als einem Element
des städtischen Lebens und seiner sozialen Problematik in Zusammen-
hang bringt, ergeben sich daraus wichtige Schlüsse. Dabei wäre es
interessant, die Folgerungen zu untersuchen, die Architekten aus
bestimmten Daten gezogen haben. Aus diesem Grund sollen hier
einige dieser Folgerungen am Beispiel der Stadt Berlin dargelegt wer-
den, weil für Berlin nicht nur wie für viele andere Städte eine weit-
läufige Dokumentation über das W ahnungsproblern im allgemeinen,
sondern insbesondere über dessen moderne Lösungen zur Verfügung
steht.
Da das Wohnungsproblem gerade in Deutschland zu den wichtigsten
Fragen der architektonischen Theorie und Praxis gehört hat, sollen die
bedeutenden Beiträge, die Hegemann, Gropius, Klein und Van de
Velde dazu geliefert haben, hier behandelt und das Verhältnis von

59

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 59 10.08.2015 09:41:20


theoretischen Forderungen und praktischer Realisierung untersucht
werden.

4. Typologie der Berliner Wohnbauten

Da das Wohnungsproblem wie viele andere städtebauliche Fragen sich


jeweils auf bestimmte Städte bezieht, die als solche zu beschreiben sind,
soll es auch hier jeweils am Beispiel bestimmter Städte abgehandelt
werden, wobei ich alle Verallgemeinerung tunliehst vermeiden
möchte. Da diese Probleme in allen Städten aber Gemeinsamkeiten
aufweisen und wir diesen Gemeinsamkeiten unsere besondere Auf-
merksamkeit widmen wollen, werden wir gleichwohl eine Reihe von
allgemeinverbindlichen Prinzipien herausarbeiten.
Weshalb das Berliner Beispiel besonders interessant ist, ergibt sich aus
dem Stadtplan, der schon vielfach analysiert worden ist. So unterschied
1936 der Geograph Herbert Louis 13 vier verschiedene Berliner Be-
bauungstypen, die er vier durch ihre Entfernung von der historischen
Stadtmitte definierten Stadtbereichen zuordnete:
einförmige, kontinuierliche Bebauung durch zumindest viergeschos-
sige Häuser von großstädtischem Typus;
städtische Mischbebauung, die im Stadtzentrum zum Teil aus
neueren, zum Teil aus sehr alten niedrigen Häusern mit höchstens
drei Geschossen besteht, am Stadtrand aus einem Gemisch von
hohen und niedrigen Häusern, Freiflächen, Feldern und parzellier-
ten Grundstücken;
große Industriegebiete;
aufgelockerte Wohngebiete am äußersten Stadtrand, die aus zu-
meist nach 1918 erbauten Villen und Einfamilienhäusern bestehen.

13 Herbert Louis, Die geographische Gliederung von Groß-Berlin, Stuttgart


1936; weitere wichtige Darstellungen über Berlin; Werner Hegemann, Das
steinerne Berlin, Berlin 1930 (Berlin, FrankfurtfMain, Wien 1963); Robert
E. Dickinson, a. a. 0.; Fritz Schumacher, a. a. 0.; Erich HaenelfHeinrich
Tscharmann, Das Kleinwohnhaus der Neuzeit, Leipzig 1913; Deutsche Bau-
kunst der Gegenwart, Leipzig 1919; Hermann Ziller, Schinkel, Leipzig 1929;
W. Fred, Die Wohnung und ihre Ausstattung, in: Kunst und Handwerk,
Leipzig 1903; Neues Bauen in Berlin, Ber lin 1931; Bauen in Berlin seit 1900,
Ein Führer durch Berlin, Berlin 1963; Adolf Behne, Vom Anhalter bis
zum Bauhaus, 1922 (Nachdruck in >>Bauwelt<<, H. 41/42, Berlin 1961);
>>Berliner Morgenpost<< vom 27. November 1912, Ein Interview mit Peter
Behrens; weitere Veröffentlichungen in: >>Bauwelt«, >>Deutsche Architektur<<
sowie von der Deutschen Bauakademie, Berlin, und dem Institut für Raum-
forschtmg, Bad Godesberg; Aldo Rossi, Aspetti della tipologia residenziale a
Berlino, Casabella-continuita, H. 288, 1964.

60

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 60 10.08.2015 09:41:22


Die Stadtranclgebiete sind dabei ein Gemisch aus Industriekomplexen,
Dörfern, die im Begriff sind ZU verstädtern, proletarischen vVohn-
quartieren wie Henningsdorf oder Pankow und herrschaftlichen Wohn-
vierteln wie Grunewalcl. Schon 1870, als Reinhard Baumeister sein
Zonierungskonzept enhdckelte, das später in die Berliner Bauordnung
einging, waren die einzelnen Berliner vVohnviertel von sehr unter-
schiedlicher Gestalt. Zwischen ihnen bestand keine direkte Verbin-
dung, und ihr Bild war von den verschiedenen Bautypen der Ein-
familienhäuser, Mietskasernen usw. geprägt. Diese typologische Viel-
falt entspricht einer höchst modernen Stadtstruktur, die sich in der
Folgezeit auch in anderen europäischen Städten herausbildete, aber in
ihrer architektonischen und städtebaulichen Gliederung nirgends so
cleutlich erkennbar war wie in Berlin.
Besonders interessant aber ist das Berliner Beispiel auch deshalb, weil
es sich durch eine gewisse Einförmigkeit und Kontinuität der Woh-
nungsprobleme auszeichnet. Ich will versuchen, die Gründe dafür
darzulegen und die Frage zu beantworten, inwieweit einige ältere
oder jüngere Berliner Wohnbaumodelle gültige Lösungen für eine
Reihe von Fragen darstellen, zu denen heute das vVohnungsprohlem
in bezug auf die Stadtwirklichkeit und die Theorien über Stadtent-
wicklung rechnet. Dabei kann man c1ie Wohnbauten in Einfamilien-
häuser, Zeilenbau und Blockbebauung unterteilen. Jeder dieser Bau-
typen ist in Berlin aus kulturgeschichtlichen und geographischen
Gründen zahlreicher vertreten als in jeder anderen europäischen Stadt.
Denn während die gotischen Bauten bis zu ihrer Zerstörung im letzten
VYeltkrieg das Bild vieler deutscher Städte geprägt haben, wurden sie
in Berlin schon im 19. Jahrhundert fast ausnahmslos abgerissen. Die
beinahe vollständige ÜJJerbauung der Grundstücke mit ihren Hinter-
häusern und Hinterhöfen, die durch die Berliner Bauordnung von
1851 möglich wurden, stellt eine der radikalsten Formen städtischer
Bodennutzung dar. Ähnliche Haustypen entstanden auch in Städten
wie Harnburg und vVien. Sie wurden schließlich so charakteristisch
für viele europäische Stäclte, daß auch einige der besten Beispiele für
die funktionalistische Siedlungsarchitektur von diesem Bautypus aus-
gingen, wobei an die Stelle der Hinterhä11Ser und Hinterhöfe freilich
weiträumige Gartenhöfe mit Ladenbauten und Kindergärten traten.
Charakteristisch fiir die funktionalistischen Siedlungen war indessen
der Zeilenbau, der im Gegensatz zu allen bisher üblichen Bauformen
stand. Aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse richtete sich die
Anordnung cler Häuser nach der günstigsten Sonnenbestrahlung der
Wohnungen, setzte eine ganz freie, vorn Straßenverlauf unabhängige
Aufteilung des Bodens voraus und veränderte clamit und durch die
Anlage von Grünflächen rings um die Häuser das im 19. Jahrhundert
gültige Bauprinzip.

61

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 61 10.08.2015 09:41:22


Berlin, Mitte der zwanziger Jahre
1 Gärten nnd Parks
2 Wald
Die wichtigsten Industrieanlagen sind schwarz eingezeichnet
Nebenkarte: Schematische Darstellung der Stadtentwicklnng.
1 alter Stadtkern
2 Dorotheenstadt
3 Stadtmauer des 18. Jahrhunderts.

62

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 62 10.08.2015 09:41:23


Alle diese Bauten gingen von der Untersuchung der Wohneinheit,
der Wohnzelle, aus. Jeder Architekt, der sich mit diesem Siedlungsbau
beschäftigte, versuchte die vVohnung für das Existenzminimum zu
bauen, die durch optimale Grundrißgestaltung ein Minimum an
Wohnfläche ermöglichte. Die Lösung dieser Aufgabe stellt den be-
deutemlsten Beitrag der Funktionalisten zum Wohnungsbau dar. Aber
der Begriff des Existenzminimums unterstellt eine unveränderlich
Beziehung zwischen einer bestimmten Lebensweise, die statistisch
zwar nachweisbar, im Grunde aber hypothetisch ist, und einem
bestimmten W ohnungstypus, was zu einem schnellen Veralten der
Siedlungen führen mußte. Wir haben es hier deshalb mit einer zu
speziellen Raumkonzeption zu tun, als das sie eine allgemeingültige
Lösung für die Wohnungsfrage darstellen könnte. Im übrigen
handelt es sich dabei ohnehin um einen einzigen Aspekt eines sehr
vielschichtigen Problemkomplexes, für den eine Reihe von Variablen
eine Rolle spielt. Einen anderen Aspekt stellt das Einfamilienhaus dar,
für das die Funktionalisten ebenfalls interessante Typen entwickelt
haben, das in Berlin aber auf eine ältere Tradition zurückgeht. Von
besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang Schinkels Ent-
wurf für das Landhaus des Prinzen Wilhelm auf dem Babelsberg bei
Potselam und das Schloß Charlottenhof mit den Römischen Bädern.
vVährend der Grumlriß von Babelsberg in der Anordnung der Räume
von großer Strenge ist, wurde die Gesamtgestalt des Baus auf die
landschaftliche Umgebung abgestimmt. Die Auswirkung von Schin-
kels Werk auf die Berliner Architektur ist insgesamt so ausführlich
dargestellt worden, daß ich hier nicht näher darauf einzugehen brau-
che. Hinweisen aber möchte ich darauf, daß die Babelsherger »Villa<<
im Übergang vom Klassizismus zur Neugotik unter Einbeziehung
englischer Einflüsse den Grundtypus für die Villen Berliner Bürger
aus unserem Jahrhundertanfang darstellt. Durch die Ausbreitung
derartiger Villen und ihre Bedeutungfür das Berliner Stadtbild, mit dem
Verschwinden der Häuser des achtzehnten Jahrhunderts und älterer
Zeiten, an deren Stelle in der Stadtmitte die Ministerien, in den Stadt-
randgebieten die Mietskasernen traten, verwandelt sich die Stadtgestalt
Berlins grundlegend. Bezeichnend dafür ist das Aussehen der Straße
Unter den Linden in den verschiedenen Jahrhunderten. Anfangs han-
delte es sich dabei tatsächlich um eine Promenade unter Linden. Die
Häuser, die die Straßenwiinde bildeten, ·waren zwar von unterschied-
licher Höhe, stellten insgesamt aber eine einheitliche Architektur dar.
Es handelte sich dabei um die für Mitteleuropa charakteristischen
Bürgerhäuser, die auf schmalen, tiefen Grundstücken standen. Ähn-
liche Häuser gab es in Wien, Prag, Zürich und vielen anderen Städten.
Ihrer Funktion nach waren sie Geschäftshäuser, deren Bau mit der
Entstehung der Stadt im modernen Sinn in Zusammenhang stand.

63

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 63 10.08.2015 09:41:24


Als die Stadt sich dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber-
mals verwandelte, verschwanden diese Häuser meist, weil sie baufällig
waren oder die Grundstücke eine neue Nutzung erfuhren. Die Bauten,
die sie ersetzten, veränderten die Stadtlandschaft gründlich. Oft traten,
wie zum Beispiel Unter den Linden, steife Monumentalbauten an ihre
Stelle. Insgesamt wurden sie entweder durch Mietshäuser oder durch
Villen ersetzt.
Fritz Schumacher sieht in dieser Unterteilung der Städte gegen Ende
des 19. Jahrhunderts in Villenviertel und Mietskasernen den Zerfall
der Einheit der alten mitteleuropäischen Stadt. Die Villa soll zugleich
eine engere Verbindung zur Natur herstellen und Repräsentations-
zwecken dienen. Sie führt zu einer auch örtlichen Trennung Jer
sozialen Schichten, und ihre Erbauer sind unfähig oder nicht willens,
sie in ein kontinuierliches Stadtbild einzuordnen. Auf der anderen
Seite wird das Mietshaus zum Spekulationsobjekt degradiert und ver-
liert damit jeden architektonischen Wertl4.
Wenn Schumacher mit dieser Sicht der Dinge auch gewiß recht hat,
so darf man doch nicht vergessen, daß die Veränderung der Bautypen,
die schließlich zum modernen Haus führte, zum großen Teil der Villa
zu verdanken ist. In ihrer Berliner Ausprägung hat sie nur wenig mit
dem englischen Einfamilienhaus zu tun, das in engem Zusammenhang
mit der dortigen Stadtstruktur steht und deshalb eine kontinuierliche
Tradition hat. Die Berliner Villa ist zunächst, wie Schloß Babelsberg
deutlich zeigt, die kleinere Ausgabe eines Schlosses, dann wird ihr
Grundriß mehr und mehr rationalisiert. Diese Entwicklung ist in
Berlin vor allem dem Wirken von Muthesius zu verdanken, der sich
unter dem Eindruck des englischen Landhauses nachdrücklich für eine
freiere und zugleich funktionale Anordnung der Innenräume ein-
setzte.
Bezeichnenderweise entsprechen diesen Innovationen beim Grundriß,
der sich den bürgerlichen Lebensgewohnheiten anpaßte, keine spür-
baren Veränderungen der architektonischen Gestalt. Die jüngeren
Bauten erstarren im Vergleich zu den Schinkelschen Modellen, bei
denen es noch einen deutlichen Unterschied zwischen öffentlichen
Gebäuden und Privathäusern gab, zu ausgesprochener Monumentali-
tät. Typisch für diese Entwicklung sind die um 1900 entstandenen
Berliner Villen von Muthesius. Denn seine Vorstellung von einem
modernen Haus, die er auch in seinen Schriften dargelegt hat, betraf
nur die innere Struktur und nicht die formale Gestaltung. So ergab
sich ein Neo-Klassizismus germanischer Prägung, der für die lokale
Tradition typische Elemente enthielt. Die neuen Villen standen des-
halb im Gegensatz zu den Bauten Schinkels, dessen Wohnhäuser keinen

14 Fritz Schumacher, Strömungen deutscher Baukunst, S. 85ff.

64

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 64 10.08.2015 09:41:26


Schinkels Entwurf für das Landhaus des Prinzen Wilhelm auf dem Babelsberg
bei Po tsdam .

65

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 65 10.08.2015 09:41:27


Berlin, Gartenstadt auf dem Tempelhofer Feld, 1925. Architekt Fritz
Bräuning, Stadtbaurat.

66

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 66 10.08.2015 09:41:28


Repräsentationszwecken dienten und in Grundriß- und Außengestal-
tung übereinstimmten.
Daß die Wohnbauten gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehr und
mehr repräsentativen Charakter annahmen, ist indessen charakteri-
stisch für die gesamte Architektur dieser Zeit. Vermutlich entsprach
das den gewandelten sozialen Verhältnissen und der Notwendigkeit,
das Wohnhaus als Statussymbol zu behandeln. Denn in der modernen
Großstadt, in der immer unterschiedlichere und einander feindliche
Klassen zusammen leben, mußte auch im Städtebau das Differenzie-
rungsbedürfnis ständig zunehmen. Selbst die Villen der berühmtesten
Vertreter des Neuen Bauens wie Gropius, Mendelsohn, Häring usw.
bleiben deshalb diesem Bautypus so sehr verhaftet, daß man bei ihnen
nicht von einem Bruch mit der eklektizistischen Tradition sprechen
kann, auch wenn das äußere Bild dieser modernen Villen sich ganz
anders ausnahm. Es ist Sache der Soziologen zu klären, wie sich bei
ihnen das repräsentative oder sinnbildliche Element verändert hat. Je-
denfalls stellen diese Häuser den Typus der eklektizistischen Villa in sei-
ner letzten Konsequenz dar. Deshalb ist es auch verständlich, daß Archi-
tekten wie Muthesius und Van de Velde, die diesen Bautypus -
möglicherweise unter Einbeziehung englischer und flämischer Anre-
gungen - entwickelt hatten, als Meister anerkannt wurden.
Alle diese Motive des Einfamilienhauses kehren bei den Siedlungs-
bauten wieder, die ihnen aber in gewisser Hinsicht eine neue Bedeu-
tung gaben. Ohne mich allzulange bei den Lösungen des Woh-
nungsproblems durch die funktionalistischen Architekten aufhalten zu
wollen, möchte ich hier doch einige dafür typische Beispiele erwähnen,
die in den zwanziger Jahren in Berlin entstanden sind und wie die
berühmten Siedlungen von Ernst May in Frankfurt und die Weißen-
hofsiedlung in Stuttgart paradigmatischen Charakter haben. Bekannt-
lich gilt, zumindest was den Wohnungsbau angeht, die Siedlung, die
im Grunde eher ein soziologisches Modell ist, bei Fachleuten und
Laien als der Inbegriff des Städtebaus im funktionalistischen Sinn.
Schon aufgrund seiner methodologischen Implikationen stellt das aber
eine unzulässige Einschränkung auf die deutsche Architektur der
zwanziger Jahre dar; aber selbst in der Geschichte des deutschen Städte-
baus dieser Zeit ist die Siedlung nur eine von zahlreichen Bau-
typen. Für Berlin aber hat sie trotz der Vielzahl seiner übrigen
städtebaulichen Phänomene, eine besondere Bedeutung. 'Yährend
bei den Siedlungen auf dem Tempelhafer Feld und in Britz die eng-
lischen Vorbilder noch sehr spürbar sind, entspricht die Friedrich-
Ebert-Siedlung mehr den städtebaulichen Theorien des Funktionalis-
mus. Aber auch aus ihr läßt sich schwer eine Siedlungs-Ideologie ab-
leiten. Ich halte es deshalb für unzweckmäßig, die Siedlung, wie bisher
üblich, unabhängig von den Umständen, unter denen sie entstand,

67

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 67 10.08.2015 09:41:28


Berlin, Siedlung Freie Scholle, 1924-1931. Planung Bruno Taut. Lageplan.

68

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 68 10.08.2015 09:41:30


und oft sogar ohne deren Kenntnis zu betrachten. Vielmehr sollte
man die Berliner Siedlungen im Zusammenhang mit der Planung fiir
Groß-Berlin aus dem Jahr 1920 betrachten. Diese Planung steht jün-
geren Modellen sehr viel näher, als man im allgemeinen annimmt.
Denn in ihrem Rahmen spielen das vVohnungsproblem und die Frage
nach dem richtigen Standort der Wohngebiete eine weit geringere
Rolle als die Vorkehrungen, die für einen zügigen Verkehrsfluß ge-
troffen wurden. Im übrigen verließ man sich weitgehend darauf, daß
die Stadtmitte von allein zum Geschäftszentrum wurde, und verlegte
die Freizeitzentren und Sportanlagen an den Stadtrand. Dieses Modell
ist bis zum heutigen Tage ständig nachgeahmt worden. Insgesamt
beruht es keineswegs auf der Autonomie der Siedlungen oder der ein-
zelnen Stadtteile überhaupt, sonst wäre es revolutionärer ausgefallen.
Die Projekte für die Friedrichstraße und Tauts und Mies van der
Rohes Entwürfe dazu beweisen, daß die deutschen Funktionalisten
sich über die eigentlichen Großstadtprobleme durchaus klar waren.
Das Wohnungsproblem wurde nicht unabhängig von den beiden
Grundmodellen des modernen vVohnungsbaus gelöst, sondern stellt
deren bemerkenswert geglückte Synthese dar.

5. Garden City und villc radieuse

Als zwei unterschiedliche Grundmodelle für das gesamte moderne


Bauen hat Rasmussen die garden city und die ville radieuse erkannt,
die er als repräsentativ für die beiden grunrllegenden zeitgenössischen
Stilrichtungen bezeichnet15 . Aus dieser Außerung geht auch hervor,
daß er ihre eigentliche Bedeutung in ihrem typologischen und nicht
in ihrem ideologischen Aspekt sieht. Das gilt nicht nur für die Ver-
gangenheit, sondern auch für die heutige Situation, wobei ich aller-
dings den Modellcharakter der garden city und der ville radieuse nur
auf den Wohnungsbau und dessen Beziehung zur Stadtstruktur ein-
schränken möchte. Aus dieser Sicht stellen die Berliner, aber auch die
Frankfurter Siedlungen den mehr oder minder bewußten Versuch
dar, Z\\ischen zwei unterschiedlichen Raumkonzeptionen zu vermit-
teln. Das nimmt ihnen nichts von ihrer Bedeutung, die aber in vollem
Umfang nur zu verstehen ist, wenn man das Verhältnis ihrer Vor-
bilder zu bestimmten politischen und sozialen Theorien untersucht.

15 Steen Eiler R.asmussen, Towns and ßuildings, Liverpool 1956; eine mo-
derne Wertung der Garstenstadt nimmt Lloyd R.owdin in »The British New
Towns<<, Harvard 1956, vor; s. a. Lewis Mumford, The Garden City Idea and
Modern Planning, Einleitung zu Ebenezer Howard, Tomorrow ~ A Peaceful
Path to R.eal Reform, London 1945.

69

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 69 10.08.2015 09:41:30


Für die Gartenstallt hat in Italien Carlo Doglio einen derartigen Ver-
such unternommen, wenn er schreibt: »Wir müssen allerdings sofort
darauf hinweisen, daß es sich bei der Gartenstadt um ein außer-
ordentlich kompliziertes Problem handelt, da ihre Anhänger als Kon-
formisten, ja geradezu als Reaktionäre gelten. Dieses J\lißverständnis
bezieht sich nicht nur auf den formalen Aspekt, sondern reicht sehr
viel weiter. Denn wenn Osborn - um hier nur einen der aktivsten
Anhänger Howards zu zitieren - die Gartenstädte als Pilot-Projekte
für einen wahrhaft modernen und humanen Wiederaufbau der Städte
(und das heißt natürlich auch der Gesellschaft) empfiehlt und ver-
ächtlich von den dicht besiedelten Stadtteilen vViens und Stockholms
spricht, möchte man ihm entgegenhalten, daß diese Stadtviertel so-
wohl in ästhetischer als in sozialer Hinsicht ihre große Bedeutung
gehabt haben ... Wenn aber die Nachbeter des Marxismus die
Gartenstädte von Letchworth oder W elwyn nicht nur aufgrund ihrer
Gestalt (und ihrer praktisch unveränderlichen ßewolmerschaft, die
sich daraus ergab), sondern auch wegen ihres strukturellen Konzepts
(Stadt und Land, Entballung usw.) schlichtweg ablehnen, so muß man
doch feststellen, daß diese Gartenstädte trot7. alledem lebendiger, an-
regender und zukunftsträchtiger als alle J\1odelle waren, die seither
entwickelt worden sind.«l6
Nur kurz möchte ich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,
daß sich der Analyse der Beziehung zwischen Wohnung und Familie
mit all ihren kulturellen und politischen Implikationen in der Ideolo-
gie der Kommunen ein interessantes Untersuchungsobjekt böte. Denn
aus ihrer Analyse ginge die Beziehung zwischen örtlicher Kommune
und Demokratie, zwischen der Ortsgebundenheit des Lebens einer
Kommune und ihrer politischen Aktivität hervor. Daraus ließen sich
wichtige Schlüsse für das Wohnungsproblem ziehen.
Wo hingegen die Stadt in ihrer Gesamtheit im Mittelpunkt des Inter-
esses steht und infolgedessen das Loblied von Verdichtung und großem
J\laßstab gesungen wird, scheint das vVohnungsproblem etwas von
seiner Wichtigkeit zu verlieren und tritt hinter anderen Funktionen
des städtischen Lebens zurück. Aus dieser Sicht der Dinge heißt es
dann, daß das, was im 19. Jahrhundert zur Verschönerung und Ver-
größerung der Städte unternommen wurde und im Grunde nur
den Deckmantel für die Bodenspekulation abgab, allen Bürgern zu-
gute gekommen sei und ihre Lebensweise im positiven Sinn beeinflußt
hätte. Nur ausnahmsweise wird dabei der Urbanisierungseffekt so
genau wie von Hellpach definiert, der im Gegensatl. zu seiner Zeit
der Ansicht war, >>daß dem "Menschenschlag, den die Großstadt formt,
sie doch nicht nur Existenzraum, Stanclort, Markt bedeutet, sondern

16 Carlo Doglio, L'equivoco della citta giardino, Urbanistica, H. 13, 1953.

70

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 70 10.08.2015 09:41:32


Gartenstadt Hampstead, 1906. Der Bebauungsplan stammt von Raymond
Unwin und Barry Parker, den zentralen Teil entwarf Edwin Luytens.

71

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 71 10.08.2015 09:41:32


biologisch wie soziologisch das Tiefste werden kann, was einem Men-
schen sein Lebensschauplatz zu bedeuten vermag: Heimat.<< 17
Es wäre interessant zu untersuchen, inwieweit sich diese Theorien in
den Siedlungsbauten der letzten sechzig Jahre niedergeschlagen haben.
Bei den deutschen Siedlungen, aber auch bei manchen italienischen
und englischen Beispielen ist ihr Einfluß nicht zu übersehen. So gibt
es italienische Siedlungsbauten, die ein nicht städtisches, von der
übrigen Stadt abgetrenntes, ja vor ihr bewahrtes Milieu schaffen
wollten, in dem nur die eigene Gemeinschaft und die Nachbarschaft
eine Rolle spielten, und später erbaute Stadtteile, deren reich geglie-
dertes architektonisches Bild mit aller Gewalt den städtischen Charak-
ter unterstreichen sollte. Die ersten new-towns waren, was später
abgelehnt wurde, von geringer Bebauungsdichte. Ihnen folgten die
Experimente von Smithson und Lasdun und die Wohnblöcke von Shef-
field. Denn die Engländer fanden, wie sie behaupten, einen sicheren
Maßstab für ihre neuen Wohngebiete, als sie sich darüber klar wurden,
daß mit der Auflösung der Slums eine Auflösung der Gemeinschaften
Hand in Hand ging, die diese Slums bewohnt hatten. Sie erkannten,
daß die Menschen, die ein enges Zusammenleben gewohnt waren,
in den Suburbs mit ihrer geringen Bebauungsdichte, in die sie umge-
siedelt wurden, nur wenn sie sich grundlegend änderten, ohne weiteres
Wurzeln schlagen konnten. Smithson entdeckte die Bedeutung der
Straße wieder und entwarf für Golden Lane dreigeschossige Fußwege,
die die einzelnen Wohnungen für Fußgänger zugänglich machten
und ein engeres Zusammenleben der Bewohner jeder dieser Ebenen
ermöglichten. Ähnliche Überlegungen liegen dem Projekt von
Sheffield zugrunde, das aus großen Wohnblöcken hoch über der Stadt
besteht, mit der es durch zukünftige Erweiterungsbauten eng ver-
bunden werden soll. Gerade an diesem Projekt ist nachzuweisen, wie
stark es von soziologischen Theorien beeinflußt ist: >>Die Straße ist
eine rechteckige Bühne für Begegnungen, Unterhaltungen, Spiele,
Streitigkeiten, Neid, Flirt und Stolz.<< Einen ebenso großen Einfluß
wie solche Thesen hat aber auch Le Corbusiers Unite d'Habitation in
Marseille auf die Wohnblöcke von Sheffield ausgeübt.

6. Die primären Elemente


Aber der Begriff des Areals und der des Wohngebietes reichen nicht
aus, um die Entstehung und Weiterentwicklung einer Stadt zu erklä-
ren. Zu ihnen müssen weitere genau determinierte Elemente hinzu-
kommen, die den Siedlungskern ausgemacht haben. Diese städtebau-
lichen Phänomene von hervorragender Bedeutung, die konstituierende

17 Willy Hellpach, a. a. 0.

72

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 72 10.08.2015 09:41:34


Bestandteile einer Stadt darstellen und permanent an deren Entwick-
lung teilhaben, bezeichnen wir als primäre Elemente. In der V er-
bindung von natürlichen und baulichen Gegebenheiten, die sie durch
ihre Errichtung an einem bestimmten Standort und die Permanenz
ihrer Grundrisse und Baukörper eingehen, bilden sie die eigentliche
Struktur einer Stadt. Da die Definition dieserprimären Elemente schwie-
rig ist, kann ich nur anzudeuten versuchen, was ich mit ihnen meine.
Insgesamt hat eine Stadt drei Grundfunktionen: die W ohnfunktion,
die Verkehrsfunktion und die fixed activities mit öffentlichen und
Geschäftsbauten, Krankenhäusern, Schulen, Universitäten und ähn-
lichen Dienstleistungsbetrieben, die die städtische Infrastruktur dar-
stellen. Dabei verhalten sich die fixed activities zu den primären Ele-
menten wie die Wohnfunktion zu den W ohngebieten. Obgleich also
fixed activities und primäre Elemente einander entsprechende Begriffe
sind, gehen sie doch von unterschiedlichen Arten des Verständnisses
von Stadtstruktur aus, betonen aber beide den kollektiven und öffent-
lichen Charakter der Phänomene, auf die sie sich beziehen. Dieses
Merkmal der von der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft ge-
schaffenen Öffentlichkeit ist etwas für die Stadt Charakteristisches.
Denn der kollektive Aspekt ist von keiner Definition der Stadt abzu-
trennen und scheint deshalb in engem Zusammenhang mit ihrem
Ursprung oder Zweck zu stehen.
Dieser Sachverhalt bedürfte einer noch genaueren Untersuchung.
Dabei ist nicht zu übersehen, daß der Unterschied zwischen Wohn-
gebieten und primären Elementen im architektonischen Bereich dem
entspricht, was die Soziologen meinen, wenn sie zwischen öffentlicher
und privater Sphäre unterscheiden. Deshalb trägt eine Definition, die
Hans Paul Bahrdt in »Die moderne Großstadt- Soziologische Über-
legungen zum Städtebau« von der Beziehung dieser beiden Sphären
gibt, zur Klärung dessen bei, was die primären Elemente darstellen.
Bahrdt schreibt: »Unsere These lautet: Eine Stadt ist eine Ansiedlung,
in der das gesamte, also auch das alltägliche Leben die Tendenz zeigt,
sich zu polarisieren, d. h. entweder im sozialen Aggregatzustand der
Öffentlichkeit oder in dem der Privatheit stattzufinden. Es bilden sich
eine öffentliche und eine private Sphäre, die in engem Wechselver-
hältnis stehen, ohne daß die Polarität verlorengeht. Die Lebens-
bereiche, die weder als >öffentlich< noch als >privat< charakterisiert
werden können, verlieren hingegen an Bedeutung. Je stärker Polarität
und Wechselbeziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre sich
ausprägen, desto >städtischer< ist, soziologisch gesehen, das Leben einer
Ansiedlung. Je weniger dies der Fall ist, desto geringer ist der Stadt-
charakter einer Ansiedlung ausgebildet.« 1 8
18Hans Paul Bahrdt, Die moderne Großstadt, Soziologische Überlegungen
zum Städtebau, Harnburg 1961, S. 58f.

73

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 73 10.08.2015 09:41:34


Wenn wir die primären Elemente, unabhängig von ihren Funktionen,
unter ihrem räumlichen Aspekt betrachten, so erweist sich, daß sie
neben ihrer Bedeutung »an sich<< auch durch ihren Standort eine Bedeu-
tung haben. In diesem Sinn kann ein historisches Gebäude ein primäres
Element darstellen. Denn selbst wenn es seine ursprüngliche Funktion
nicht mehr erfüllt oder durch verschiedenartige Nutzung im Lauf der
Zeit unterschiedliche Funktionen erfüllt hat, ändert sich seine Bedeu-
tung als ein die Stadtgestalt konstituierender Faktor doch nicht.
Beispielhaft in diesem Sinn sind die Baudenkmäler, auf die wir schon
im vorangehenden hingewiesen haben.
Indessen sind die primären Elemente nicht nur Baudenkmäler oder
dienen den fixed activities. Vielmehr sind unter ihnen alle jene Fak-
toren zu verstehen, die den Urbanisierungsprozeß einer Stadt be-
schleunigen können und dabei die für die räumliche Umgestaltung
des betreffenden Gebietes charakteristischen Elemente darstellen.
Häufig wirken sie sich bei diesem Prozeß deshalb wie Katalysatoren
aus. Soweit sie sich den fixed activities zuordnen lassen, sind sie an-
fänglich durch ihre Funktion zu definieren. Sehr bald aber nehmen sie
eine weiterreichende Bedeutung an. Nicht immer sind sie Bauten oder
haben überhaupt Objektcharakter. Auch die Schauplätze von Ereig-
nissen, die durch ihre Bedeutung Anlaß zu räumlichen Veränderungen
gegeben haben, rechnen zu ihnen, worauf später noch genauer ein-
gegangen werden soll.
Insgesamt spielen diese Elemente also tatsächlich eine primäre Rolle
für die Dynamik einer Stadt. Durch sie und durch ihre räumliche
Anordnung erhalten eine Stadt oder ein Stadtteil ihren spezifischen
Charakter, der auf ihrem Standort, ihrer Funktion und ihrer Indivi-
dualität beruht. Die Architektur ist zugleich konkreter Ausdruck
dieses Prozesses und das eigentlich Faßbare der komplexen Stadtstruk-
tur. In ihr als einem Kunstwerk konkretisieren sich die ästhetischen
Intentionen des Stadtphänomens. »Von einer schönen Stadt sprechen,
heißt deshalb von guter Architektur reden.<<19

7. Baudenkmal und Stadtentwicklung

Analysierbar ist die Stadtstruktur nur anhand einzelner städtebau-


licher Phänomene. Das läßt sich an zwei historischen Beispielen nach-
weisen. Als die römischen Städte Galliens nach dem Ende der pax
romana durch Mauern begrenzt wurden, waren sie weniger um-
fänglich als zu ihrer römischen Blütezeit. Die neuen Mauern um-
schlossen deshalb nicht alle römischen Baudenkmäler und nicht alle

19 Francesco Milizia, a. a. 0., S. 665.

74

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 74 10.08.2015 09:41:36


Wohngebiete, die seinerzeit dicht bebaut waren. In Nimes wurde das
Amphitheater in eine Festung gegen die Westgoten verwandelt, die
eine kleine Kernstadt mit etwa '2000 Bewohnern und zwei Kirchen
beherbergte und durch vier Tore zugänglich war. In der Folgezeit
dehnte sich die Stadt rings um das Amphitheater wieder weiter aus.
Ahnlieh verläuft die Baugeschichte der Stadt Arles. Das beweist unter
anderem, daß die Bedeutung mancher städtebaulicher Phänomene
von dem Flächeninhalt einer Stadt unabhängig ist. Ein Amphitheater
hat eine spezifische Gestalt und eine bestimmte Funktion. Es ist nicht
als ein beliebiger Behälter gedacht, sondern ist von einer unver-
wechselbaren Struktur, Architektur und Gestalt. Aber durch ein
äußeres Ereignis, eine der dramatischsten Phasen der Menschheits-
geschichte, wird seine Funktion verändert: Das Theater verwandelt
sich in eine befestigte Stadt.
In anderen Fällen - wie zum Beispiel im portugiesischen Vila Vicosa
- entwickelt sich eine Stadt innerhalb der Mauern einer Festung, die
sie genau begrenzen. Diese Wandlung hinterläßt zwar ihre Spuren an
dem Bauwerk, insofern es durch seine Bedeutung und seine Architek-
tur zu definieren ist. Aber allein durch die Tatsache, daß dieses Bau-
werk existiert, ist diese Wandlung, ihr Geschehen, die sich daraus
ergebende neue Gestalt und damit eine Kontinuität möglich. Stadt-
architektur und Stadtentwicklung stehen daher in einem sich gegen-
seitig bedingenden Spannungsverhältnis. Die überlebenden Architek-
turelemente wie der römische Aquädukt, der Segovia durchquert, die
Theater und die Brücke von Merida in Estremadura, das römische
Pantheon oder das Forum R.omanum spielen dabei eine ähnliche Rolle
wie die geographischen Gegebenheiten einer Stadt.
Ein anderes wichtiges Beispiel für eine Wandlung dieser Art ist der
Plan des Papstes Sixtus V., aus dem Kolosseum Werkstätten für Woll-
spinnerei zu machen. Auch beim Kolosseum handelt es sich dabei um
den Grundtypus des Amphitheaters. In seinem Erdgeschoß sollten die
vVerkstätten, in den oberen Geschossen die Handwerkerwohnungen
untergebracht werden. So wäre aus dem Kolosseum ein großes Arbei-
terquartier und eine rationelle Fabrik geworden. Fontana schreibt
darüber: >>Er hatte bereits die Erde ringsum abtragen und die Straße,
die von der Torre dei Conti zum Kolosseum führt, planieren lassen,
wovon man noch heute Spuren sieht. Sechzig Pferdekarren und hun-
dert Arbeiter waren dazu eingesetzt, und wenn der Papst auch nur ein
Jahr länger gelebt hätte, wäre aus dem Kolosseum ein vYohnbau
geworden.« 20

20 Della Trasportatione dell'Obelisco Vaticano et delle Fabriche di Nostro


Signore Papa Sisto V, fatte da! Cav. Domenico Fontana, Architelto di Sua
Santita, Rom 1590.

75

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 75 10.08.2015 09:41:36


Nimes.
_ _ _ römische Stadtmauer
- - -mittelalterliche Stadtmauer.

76

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 76 10.08.2015 09:41:38


Der eigentliche Wachstumsprozeß einer Stadt aber vollzieht sich da-
durch, daß sich, ausgehend vom ursprünglichen Stadtkern, nach einem
formal und politisch individuellen Gesetz neue Stadtteile bilden. So
entstanden die Wiener Vorstädte, die borghi der italienischen und die
faubourgs der französischen Städte. Der Vorstadtcharakter bleibt dabei
so unverkennbar bestehen, daß sich zum Beispiel in Mailand, dessen
monozentrische Struktur irrtümlicherweise oft auf ein bloßes Aus-
ufern des historischen Stadtkerns zurückgeführt wird, während des
ganzen Mittelalters das gallo-romanische Stadtzentrum deutlich von
den jüngeren Zentren der Klöster und kirchlichen Stiftungen unter-
schied. Auch in Paris bildeten sich außerhalb der Cite an den beiden
Seine-Ufern durch Klöster, Handelsniederlassungen und die Universi-
tät neue Zentren städtischen Lebens. So entstanden ganz allmählich
die Faubourgs. Die Abtei Saint-Germain-des-Pres wurde schon im
sechsten Jahrhundert unter den Merowingern gegründet, der gleich-
namige Faubourg ist aber erst um 1200 dokumentarisch belegt. Dann
freilich war er so zählebig, daß er noch heute auf dem Stadtplan von
Paris auszumachen ist. Fünf seiner Straßen - darunter die Rue du
Four, die einstige Grand-Rue Saint-Germain,- münden in den Carre-
four de la Croix-Rouge ein, der seinerzeit le chef de la ville oder
le bout de la ville genannt wurde21.
In allen diesen Fällen bildet ein monumentales Baudenkmal den
Agglomerationskern. Damit stellt sich die Frage nach dessen eigen-
tümlichem Charakter als konstituierendem Element der Stadt. Als
diese Eigentümlichkeit, die zu allen anderen typischen Merkmalen
städtebaulicher Phänomene hinzutritt, erweist sich seine Schönheit,
das heißt sein Charakter als Kunstwerk. Damit erhalten solche Bau-
denkmäler eine Bedeutung, die wichtiger ist als ihr Milieu- und
Erinnerungswert. Diese künstlerische Bedeutung ist der Grund dafür,
daß sie niemals zerstört worden sind und sich kein Verteidiger von
Altertümern je für die Florentiner Pazzi-Kapelle oder die Peterskirche
in Rom wird schlagen müssen. Im Gegensatz zu dem, was viele
Architekturtheoretiker glauben, ist diese künstlerische Bedeutung
auch das wichtigste Merkmal der Stadt und stellt den einzigen Fall dar,
in dem die Gestalt Ausdruck der Gesamtstruktur eines städtebaulichen
Tatbestandes ist. In seiner Permanenz steht das Baudenkmal daher
in einem Spannungsverhältnis zur EntVIIicklung einer Stadt, deren
Wachsturn sich dadurch als dialektischer Prozeß erweist. Dabei spielt
21 Fran!;oise Le Houx, Le Bourg Saint-Germain-des-Pres depuis ses Origi-
nes jusqu'a la Fin de la Guerre de cent Ans, Paris 1951; Pierre Lavedan,
Les Villes Franl<aises, Paris 1960, S. 49; Georges Chabot, Les Villes, Paris
1948; Louis Halphen, Paris sous les premiers Capetiens (987 -11223), Paris
1912; Georges Huismann, La Juridiction de la Municipalite parisienne de
Saint Louis a Charles VII, Paris 1912.

77

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 77 10.08.2015 09:41:39


fiir die prinüiren Elemente die vollkommene Gestalt die gleiche Rolle
wie für die Stalltviertel und insbesondere die Wohngebiete die topo-
graphischen Voraussetzungen. Eine derartige Theorie geht davon aus,
daß eine Analyse der Stadt nur durch die Untersuchung ihrer Einzel-
teile möglich ist, weil das \Vachstum einer Stadt sich jeweils nur auf
solche Teile bezieht. Daraus ergibt sich, daß fiir die Entwil;klung einer
Stadt die genaue Kenntnis der primären Elemente und ihrer Umge-
bung von erstrangiger Bedeutung ist, \vährend dem Gesamtplan einer
Stadt, der nach anderen Gesichtspunkten untersucht werden muß, nur
geringere Bedeutung zukommt.

8. Fortleben antiker Städte

Aus der Bedeutung der primären Elemente für die Entwicklung alter
Städte ergibt sich die Wichtigkeit von deren Gestalt, das heißt der
Stadtarchitektur. Die Permanenz dieser Gestalt und ihre Rolle als
Bezugspunkt ist völlig unabhängig von der ihr ursprünglich zuge-
dachten Funktion oder davon, daß sie sich unter L:mständen mit der
Kontinuität städtischer Institutionen deckt. Meine Überlegungen gel-
ten dabei immer der Gestalt der Stadtarchitektur und niemals den
Institutionen. Denn deren Kontinuität hat nicht den Charakter der
Permanenz, sondern beinhaltet stets von Kämpfen bedingte Wand-
lungsprozesse.
Die Bedeutung des Buches »Les Villes et !es Institutions nrbaines«
von Henri Pirenne für die Analyse der Stadt und insbesonclere fiir
das Verständnis der Beziehungen zwischen der Stadt und ihren Insti-
tutionen beruht auf Pirennes Erkenntnis von der wichtigen Rolle, die
Standorte und Baudenkmäler, uml das heißt die physische Realität
einer Stadt in ihrer Permanenz, für das politische Geschehen und die
Institutionen eben dieser Stadt spielen. »Jedenfalls haben Stadtkerne
und Vorstädte in der Geschichte der Städte eine wesentliche Rolle
gespielt. Sie stellen so etwas wie Ansatzpunkte dar. Aus ihrem Ge-
mäuer entwickeln sich die neuen Städte, sobald vom 10. Jahrhundert
an ein neuer wirtschaftlicher Aufstieg beginnt.<< 22 Bezeichnenderweise
geschieht das noch ehe die Städte in sozialer, wirtschaftlicher oder
juristischer Hinsicht wieder Stadtcharakter haben.
Pirenne weist nach, daß die antiken Städte mit den Bürgerstädten des
Mittelalters nichts gerneinsam hatten. In der Antike waren Stadt und
Staat identisch. Als Rom seiner Herrschaft über die mittelmeerische
Welt ausbreitete, machte es aus den Städten die Stützpunkte seines

22Henri Pirenne, Les Villes et les Institutions urbaines, Bd. II Paris, Brüssel
1939, s. 345.

78

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 78 10.08.2015 09:41:41


Herrschaftssystems. Dieses System überlebte die germanischen und
arabischen Invasionen, auch wenn die Städte ganz andere Funktionen
erhielten. Denn die römischen Verwaltungszentren wurden zwar zu
Bischofssitzen. Das verämlerte aber rlie Struktur dieser Städte kaum,
weil der Verfall des Handels und das Aufhören des Verkehrs zwischen
den einzelnen Städten keinen Eint1uß auf die kirchliche Organisation
hatten. Die Städte bezogen ihr Prestige nun von der Kirche, ihr
Reichtum wuchs durch Stiftungen, und durch diesen zunehmenden
Reichtum verstärkte sich wiederum ihr moralisches Ansehen. Das
bewirkte, daß auch nach dem Zerfall des karolingischen Reiches die
Feudalherren die kirchliche Autorität weiter respektierten und daß
selbst in den Wirren des 9. und 10. Jahrhunderts dieses Ansehen der
Bischöfe auch ihren Residenzen, den alten römischen Städten, ganz
selbstverständlich zugute kam.
Darin ist - so erläutert Pirenne - der eigentliche Grund dafür zu su-
chen, daß die römischen Städte im 9. Jahrhundert nicht zugrunde
gingen, obwohl sie damals keinerlei wirtschaftliche Bedeutung mehr
hatten und mit dem Verschwinden der Kaufleute für die weltliche
Gesellschaft jedes Interesse verloren. Die großen Landgüter in ihrer
Umgebung waren in ihrer Existenz von ihnen unabhängig, und auch
der Staat, der auf rein landwirtschaftlicher Grundlage beruhte, küm-
merte sich in keinerWeise um sie. Die Burgen der Fürsten und Grafen
lagen auf dem Land, während die kirchlichen Verwaltungsbehörden
in den Städten ansässig waren. Es waren also die Bischofssitze und
nicht die Kontinuität der städtischen Institutionen, die die Städte vor
dem Untergang bewahrten. Besonders deutlich ist dieses Prinzip in
Rom selbst erkennbar. »Die Kaiserstadt wurde zur Stadt des Papstes.
Ihr historisch begründetes Ansehen erhöhte das des Nachfolgers des
heiligen Petrus. So wurde er zum mächtigsten aller Bischöfe. Schließ-
lich sah man nur noch ihn ... Dadurch, daß er Rom zu seinem stän-
digen Wohnsitz machte, wurde Rom zu seiner Stadt, wie jede Bi-
schofsstadt zur Stadt ihres Bischofs wurde.«23
Pirenne ist der Auffassung, daß die mittelalterlichen Städte nicht auf
das Wirken der Abteien, Burgen und Märkte zurückgehen, sondern
mit ihren bürgerlichen Institutionen aufgrundeiner neuen wirtschaft-
lichen Blütezeit in Europa entstehen. Daß sie sich an den Standorten
der römischen Stäclte entwickelten, liegt nach Pirennes Ansicht daran,
daß die römischen Städte keine künstlichen Gründungen waren, son-
dern alle jene geographischen Voraussetzungen erfüllten, ohne die
eine städtische Siedlung nicht leben und prosperieren kann. Ihre Lage
an den Kreuzungen der großen römischen Straßen, die für Jahrhun-
derte die Straßen der Menschheit waren, ließen sie wiederum zu städti-

23 Ebd., S. 338.

79

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 79 10.08.2015 09:41:41


schem Leben erwachen. »Die Städte, die im 9. und 10. Jahrhundert
lediglich die Verwaltungszentren des großen kirchlichen Grundbesitzes
waren, nahmen durch eine rasche und unvermeidliche Wandlung
wieder den Charakter an, den sie vor so langer Zeit verloren hatten.« 24
Diese Wandlung, die innerhalb der alten römischen Städte und in
ihrer Umgebung stattfand, konnte sich nur deshalb in ihnen vollziehen,
weil sie komplexe, teils von künstlerischen, teils von natürlichen Vor-
aussetzungen abhängige Gebilde waren, deren die Menschheit zu
ihrer Entwicklung immer bedurft hat.
Die erneute Nutzung der Überreste alter römischer Städte beruht
sowohl auf psychologischen wie auf wirtschaftlichen Motiven. Ähn-
lichen Phänomenen begegnen wir auch beim Übergang der bürger-
lichen in die sozialistische Stadt. Auch hier ist man sich inzwischen
darüber im klaren, daß das Tempo, in dem sich die Institutionen ver-
ändern, nicht dasselbe wie das der formalen Entwicklung ist, und daß
die Annahme mancher Autoren beide Vorgänge fänden gleichzeitig
statt, der Wirklichkeit nicht entspricht. Vielmehr erhalten die pri-
mären Elemente oder Monumentalbauten, in denen sich die
öffentliche Sphäre repräsentiert, zwangsläufig einen immer kom-
plexeren Charakter und verändern sich deshalb nicht ohne weiteres,
während die Wohngebiete, weil sie unmittelbar von dem Leben
ihrer Bewohner abhängen, dynamischer sind und deshalb direkt
von dem gesellschaftlichen System einer Stadt beeinflußt werden.

9. Wandlungsprozesse

Die Beziehung zwischen Wahngebieten und primären Elementen


bedingt die konkrete Gestalt einer Stadt. Wenn diese Tatsache schon
bei Städten erkennbar ist, deren historische Entwicklung stets im Sinne
einer Vereinheitlichung der Einzelelemente gewirkt hat, so fällt sie
bei Städten wie London, Berlin, Wien, Rom oder Bari, bei denen eine
einheitliche Gestalt niemals angestrebt worden ist, noch stärker ins
Auge. So stellen in Bari die Altstadt und die unter Murat gebauten
jüngeren Stadtteile zwei voneinander unabhängige Komplexe dar, die
beinahe keine Beziehungen zueinander haben. Die Altstadt und
ihre genau umschriebene Gestalt hat sich nicht ausgedehnt, nur ihre
wichtigste Ausfallstraße ist unverändert zu einem Bestandteil der
unter Murat erbauten Neustadt geworden.
In allen diesen Fällen gibt es immer eine enge Verbindung zwischen den
primären Elementen und ihrem Standort, die manchmal dazu führt,
daß diese Beziehung so charakteristisch für eine Stadt ist, daß sie selbst

24 Ebd., S. 48.

80

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 80 10.08.2015 09:41:42


-I-
D

-
[;mJ

c0
(

London, Schematische Darstellung der Bebauung. Aus dem County of London


Plan Report.
1 Universität, Z Justizgebäude, 5 Presse, 4 Regierung, 5 Museen, 6 Geschäfts-
und Industriegebiete
A Wohngebiete rings um das West End
B Zentrale Wohngebiete mit Slums
C Docks und Industrieanlagen
D Grünflächen
E Kanäle usw.

81

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 81 10.08.2015 09:41:43


zu einem städtebaulichen Tatbestand wird. Dieser Sachverhalt läßt
sich durch eine morphologische Analyse klären, die überhaupt 7.u den
wichtigsten Untersuchungsmethoden einer Stadt gehört. In einer
Stadt gibt es nur dort amorphe Bereiche, wo gerade ein vVandlungs-
prozeß stattfindet. "\Venn solche Phänomene massierter auftreten, wie
etwa bei den amerikanischen Suburbs, wird auch der vVandlungsprozeß
insofern beschleunigt, als die große Bebauungsdichte der Städte einen
verstärkten Druck auf die Bodennutzung ausübt. Solche Wandlungen
finden auf einem fest umschriebenen Areal statt und werden als
redevelopment bezeichnet. Dieser Prozeß ist gegenwiirtig für eine
Großstadt wie Lonclon bezeichnend. >>Die Unterteilung einer Stadt in
Nachbarschaften (precincts)«, schreibt Peter Hall, »ist bei den Colleges
in Oxford nnrl Cambridge, den Londoner Inns oj Court und den ur-
sprünglichen Plänen für Bloomsbury, von dem der gesamte Durch-
gangsverkehr durch Tore ferngehalten werden sollte, von Architekten
und Ingenieuren seit Jahrhunderten instinktiv vorgenommen wor-
den.«25
Städte unterscheiden sich auch in ästhetischer Hinsicht durch die je-
weilige Spannung zwischen Standort und Bebauung, in ihren ver-
schiedenen Stadtteilen. Diese Spannungen haben nicht nur eine räum-
liche, sondern auch eine zeitliche Dimension, die sich sowohl auf die
Permanenz von Phänomenen mit all ihren Implikationen als auf
architektonische Situationen auswirkt, die durch das Ensemble von Bau-
ten aus verschiedenen Zeiten entstehen. In diesem Sinn besitzen
die einstigen Randzonen von Großstädten, die in einer Verwandlung
begriffen sind, ihre spezifische Schönheit. London, Berlin, Mailand
oder Moskau überraschen uns durch unerwartete Durchblicke und
Perspektiven. Mehr noch als ihr gewaltiger Flächenumfang vermitteln
uns die unterschiedlichen Entstehungszeiten der Bauten am Stadtrand
von Moskau durch den ästhetischen Genuß, den sie uns bieten, das
konkrete Bild einer im Umbruch befindlichen Kultur, einer Verände-
rung der Sozialstruktur.
Natürlich können wir uns schon deshalb nicht auf die ästhetischen
\Virkungen solcher chronologischen Ent\vicklungen verlassen, weil
nichts ihr Fortbestehen und ihren Fortgang garantiert. "\Vichtig aber ist,
daß wir diesen Mechanisnms verstehen und wissen, was wir angesichts
dieses Sachverhalts zu tun haben. 1\Ieiner Auffassung nach sollten vvir
dabei nicht versuchen, den Vorgang als solchen bis in die letzte Einzel-
heit unter unsere Kontrolle zu bringen, sondern nur die wichtigsten
städtebaulichen Phänomene, die im Lanf seiner Entwicklung ent-
stehen.
Daß sich das Bild einzelner Stadtteile im Lallf der Zeit verändert,

25 Peter Hall, London 2000, London 1963.

82

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 82 10.08.2015 09:41:44


hängt weitgehend mit Verfallserscheinungen zusammen. Dieser V er-
fall, der allgemein als obsolence bezeichnet wird, tritt vor allern bei
modernen Großstädten auf und wurde in Amerika, wo er besonders
häufig vorkommt, bereits untersucht. Dabei erwies er sich als die
Folge davon, daß in der Cmgebung eines Baukomplexes (innerhalb
einer Straße oder eines Stadtviertels) der Boden einerneuen Nutzung
zugeführt wird. Derartige Slums halten deshalb nicht Schritt mit der
übrigen Stadtentwicklung, sondern stellen im Verhältnis zu ihr rück-
ständige Inseln dar. Während sie also einerseits Zeugnis von der
Architektur einer Stadt in einer vergangeneu Zeit ablegen, bilden sie
andererseits eine Bodenreserve. Damit liefern sie den Beweis dafür,
daß auch die Grundstücke zu den städtebaulichen Tatbeständen ge-
hören und daß ihre Veränderungen von äußeren Cmständen abhän-
gig sind. Diese äußeren Umstände sind die Folge von Entscheidungen.
Deshalb ist die Entscheidungsfreiheit von grundlegender Bedeutung
für den Städtebau. Denn ob zum Beispiel mehr oder weniger hohe
Häuser gebaut werden, ist keine Frage von deren architektonischer
oder typologischer Bewertung, sondern eine Sache der Stadtplaneri-
schen und damit politischen Entscheidung.

10. Geographie und Geschichte

Geografia o historia segun que nos


observen o cuando nos pensamos.
Garlos Barral
Bisher habe ich mich vor allem mit den Wohngebieten und den pri-
mären Elementen und mit der Bedeutung der Stadtteile für die
Stadtstruktur beschäftigt. Im Zusammenhang damit bin ich auf die
großen Baudenkmäler, ihre wechselnde Nutzung und das Verständnis
der Stadt zu sprechen gekommen. Dabei handelte es sich zum Teil um
methodische Fragen, die nach einer Systematisierung drängen. Mög-
licherweise habe ich nicht den kürzesten Weg eingeschlagen, um zu
dieser Systematisierung zu kommen. Es kam mir aber darauf an,
mich an konkrete Fakten zu halten und auf die Beziehung zwischen
Mensch und Stadt hinzuweisen. Zu diesem Zweck habe ich die Stadt
als Artefakt oder Kunstwerk bezeichnet. Wenn wir dieses Artefakt
beobachten und beschreiben oder seine Strukturelemente zu ver-
stehen suchen, stellen wir fest, daß sich die geographischen Gegeben-
heiten einer Stadt nicht von deren historischen Elementen trennen
lassen und daß die Stadtarchitektur als konkreter Ausdruck der Stadt
als »des Menschlichen schlechthin« ohne deren geographische Vor-
aussetzungen nicht zu verstehen ist. Das ging auch aus allen von uns
zitierten Äußerungen von Autoren hervor, die sich mit dem Phänomen

83

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 83 10.08.2015 09:41:45


Stadt beschäftigt haben. »Die Kunst der Architektur<<, schreibt Viollet-
le-Duc, »ist eine Schöpfung des Menschen.« Und weiter: »Diese
Schöpfung des Menschen ist nichts anderes als die Anwendung von
Prinzipien, die wir nicht aus uns selbst entwickeln, sondern uns durch
Beobachtung zu eigen machen«2&.
Auch in der Stadt walten diese Prinzipien. Sie ist die steinerne Land-
schaft - »the ... physical mass of marble, bricks an mortar«27, wie
Fawcett schreibt -, in der die Kontinuität einer Gemeinschaft sich
symbolisiere. Die Soziologen haben die Kollektiverfahrung und die
Stadtpsychologie untersucht. Geographie und Ökologie haben weite
Perspektiven eröffnet. Aber ist es nicht noch wichtiger, die Stadt als
ein Werk der Architektur zu verstehen? Ohne ausführlicher auf den
Begriff der Stadt als Gesamtkunstwerk einzugehen, hat Bernard
Berenson in seiner Darstellung der venezianischen Kunst auf diese
Notwendigkeit hingewiesen, wenn er schreibt: »Es gab nichts, was die
Venezianer nicht getan hätten, um Venedigs Größe, seinen Ruhm
und Glanz zu steigern. Das brachte sie dazu, der Liebe und der Ehr-
furcht, die sie für die Republik empfanden, mit ihrer Stadt selbst ein
Denkmal zu setzen. Noch heute erweckt es die höchste Bewunderung
und hinterläßt einen stärkeren Eindruck als irgendeine andere Lei-
stung des menschlichen Kunstschaffens. Sie gaben sich nicht damit zu-
frieden, aus ihrer Stadt die schönste Stadt der Welt zu machen. Sie
veranstalteten ihr zu Ehren Festlichkeiten mit dem ganzen feierlichen
Aufwand religiöser Feierlichkeiten« 28 .
Ähnliches gilt für alle Städte. Denn es gibt keine Stadt, die sich ihrer
eigenen Individualität nicht bewußt wäre, auch wenn sich dieses
Bewußtsein in sehr unterschiedlichen Formen durch die Stadtarchi-
tektur ausdrücken kann. In jedem Fall unterscheiden sich in dieser
Stadtarchitektur die Wohngebiete von den primären Elementen.
Gleichwohl betrachte ich die Wohnbebauungnicht als etwasAmorphes
und Vorübergehendes, das einer bloßen praktischen Notwendigkeit
entspricht. Im Zusammenhang mit Stadtarchitektur ist es deshalb
sinnvoller als vom einzelnen Wohnhaus, das technologisch rasch über-
holt ist und sich dem gesellschaftlich bedingten Lebensstandard einer
bestimmten Zeit anpassen muß, von Wohngebieten zu sprechen.
Ganze Stadtviertel sind in ihrer Gestalt aber von solchen Lebens-
gewohnheiten und von der Erinnerung an sie gekennzeichnet. Ihre
Individualität beruht auf den morphologischen Merkmalen, deren
Untersuchung die Wichtigkeit des Standortes und der Dimension ver-
deutlicht. Dagegen erweist sich, daß die primären Elemente sich be-

26 Viollet-Le-Duc, a. a. 0., Stichwort »style«.


17 John Summerson, Urban Forms, in: The Historian and the City.
28 Bernard Berenson, Die italienischen Maler der Renaissance, Zürich 1952.

84

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 84 10.08.2015 09:41:47


schleunigend auf den dynamischen Prozeß der Stadtentwicklung aus-
wirken. Dabei kann man diese primären Elemente aus einer rein
funktionellen Sicht als fixed activities der Gemeinschaft für die
Gemeinschaft betrachten oder als genau umschriebene städtebauliche
Tatbestände, die als Schauplatz eines Ereignisses oder als Bauwerk die
Gesamtstadt charakterisieren. Als solche sind sie Ausdruck der Ge-
schichte und der Idee einer Stadt, die sich selbst erbaut, ihres »state of
mind«, wie Park es definiert. Ihre Bedeutung wird, nicht zuletzt durch
ihre Größe, bereits bei der Betrachtung eines Stadtplanes ersichtlich.
Obgleich ich immer wieder darauf hingewiesen habe, daß der Begriff
der primären Elemente mehr als die bedeutenden Baudenkmäler einer
Stadt umfaßt, habe ich selbst bisher nur Beispiele aus diesem Umkreis
genannt, wie das Amphitheater in Arles oder den Palazzo della
Ragione in Padua. Ich will versuchen, die Gründe dafür zu klären.
Viele Geographen und Architekturhistoriker unterteilen die Städte in
zwei große Familien: die geplanten und die nicht geplanten Städte.
>>Die geplanten Städte sind als Städte konzipiert und gegründet wor-
den, während die nicht geplanten Städte nicht nach einem Entwurf,
sondern aus Siedlungen entstanden sind, die sich im Lauf ihrer Ent-
wicklung als geeignet erwiesen, Stadtfunktionen zu übernehmen. Ihr
Stadtcharakter hat sich erst allmählich ergeben, und ihre Struktur
resultiert in der Hauptsache daraus, daß rings um einen Siedlungskern
weitere Bauten entstanden.« 29 Bei näherem Zusehen erweist sich diese
Klassifizierung indessen als unzulänglich und in vieler Hinsicht an-
greifbar. Denn schon ein Siedlungskern als solcher besitzt, sofern sich
aus ihm eine Stadt entwickeln kann, in nuce Stadtqualität. Anderer-
seits möchte ich aber auch einen »Plan« ebenso wie eine Festung oder
einen Tempel als ein primäres Element betrachten. Ob dieser Plan
wie in Leningrad zu einer Stadtgründung führt oder wie in Ferrara
einer bereits vorhandenen Stadt sein Gepräge gibt, scheint mir dabei
verhältnismäßig unwichtig zu sein, denn im einen wie im anderen
Fall stellt die Verwirklichung des Planes keine endgültige Lösung für
die Stadtgestalt dar, sondern kennzeichnet wie alle anderen primären
Elemente nur eine bestimmte Entwicklungsphase dieser Stadt. Infolge-
dessen spielt es auch kaum eine Rolle, ob eine Stadt sich aus einem
geordneten oder ungeordneten Siedlungskern entwickelt oder ob ihr
Kristallisationspunkt sogar nur eine natürliche Gegebenheit ist, ob-
gleich das zu jeweils anderen morphologischen Konsequenzen führt.
Es bedarf kaum der Erwähnung, daß Meister der Stadtanalyse wie
Chabot und Poete nur flüchtig auf die Unterscheidung zwischen ge-
planter und ungeplanter Stadt eingehen. Für Chabot handelt es sich
dabei lediglich um ein architektonisches Problem, das die Grundlage

29 Arthur E. Smailes, The Geography of Towns, London 1953, S. 103.

85

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 85 10.08.2015 09:41:47


für städtebauliche Maßnahmen bildet. Größere Bedeutung räumt ver-
ständlicherweise Lavedan dieser Unterscheidung ein, nachdem er sich
so ausgiebig mit der Architektur und der Struktur der französischen
Städte beschäftigt hat. Wenn er vom >>Plan<< einer Stadt spricht, meint
er deshalb deren Architektur. Darum heißt es bei ihm: >>Mag es sich
um eine spontan entstandene oder eine geplante Stadt handeln, immer
sind ihr Plan und ihre Straßenführung keine Zufallsprodukte. In
beiden Fällen gehorchen sie bestimmten Regeln, im einen Fall freilich
unbewußt, im anderen bewußt und deutlich. Ein Ansatzpunkt für
diesen Plan aber muß immer vorhanden sein.<<so
Es könnte so aussehen, als hätte ich bei meinem V ersuch, den Unter-
schied zwischen einem primären Element und einem Baudenkmal zu
klären, so weit ausgeholt, daß sich meine Überlegungen nicht präzi-
siert, sondern kompliziert haben. In Wirklichkeit ermöglicht uns
dieses weite Ausholen auf unsere Ausgangshypothese zurückzu-
kommen, die wir dadurch von verschiedenen Gesichtspunkten aus
analysiert haben. Die Stadt ist ihrer Natur nach keine Schöpfung, die
auf eine einzige Grundidee zurückzuführen ist, sondern unterliegt
vielfältigen Gestaltungsprozessen. Sie besteht aus zahlreichen Teilen,
von denen jeder seinen eigenen Charakter hat. Kristallisationspunkte
sind dabei jeweils primäre Elemente, um die weitere Bauten entstehen.
Dabei erweisen sich die Baudenkmäler als Fixpunkte innerhalb der
städtebaulichen Dynamik, die sich auch wirtschaftlichen Gesetzen
nicht unterordnen, während das für die primären Elemente im all-
gemeinen nicht unbedingt zutrifft. Wovon es abhängt, daß ein Bau-
werk zum Baudenkmal wird, und inwiefern das vorauszusehen ist,
kann man schwer sagen. In jedem Fall aber stellen primäre Elemente
die Stadt konstituierende Faktoren dar, und zwar in architektonischer
ebenso wie in politischer Hinsicht. Daß einige dieser Elemente den
Charakter von Baudenkmälern annehmen, ist eine Folge der ihnen
innewohnenden Bedeutung oder einer spezifischen historischen
Situation, die sich aus dem Leben der Stadt ergibt.

30 Pierre Lavedan, Geographie des Villes, Paris 1959, S. 91f.


»Dieser Ansatzpunkt für den Stadtplan muß nicht mit dem Phänomen
identisch sein, das zur Stadtgründung führte. Wie wir sahen, verdanken viele
Städte ihre Entstehung einem Brunnen. Aber diese Quellen haben fast nie-
mals einen Einfluß auf die Straßenführung gehabt, ja, sie liegen häufig sogar
außerhalb der eigentlichen Ortschaft. Das trifft zum Beispiel auf Cahors,
das antike Divona Caducorum, zu. Die Quelle, die seine ersten Bewohner
anzog, ist von der antiken und mittelalterlichen Stadt ebensoweit ent-
fernt wie vom heutigen Cahors. So geht die Gründung der Stadt zwar auf
eine Quelle zurück, aber ihr Plan ist der einer Straßenstadt. Der Stadtplan
beruht also- und das ist häufig der Fall- auf einem Wachstumselement und
nicht auf dem Gründungselement.«

86

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 86 10.08.2015 09:41:49


D I

I
.E
I
I

El-Leggim
Dagantya
Römische Befestigungen in Jordanien, aus denen sich ein Bebauungstypus
von Städten entwickelte.

87

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 87 10.08.2015 09:41:49


Frankfurt am Main, kun nach der Jahrhundertwende.
1 Stadtkern innerhalb der staufischenMauer aus dem 12. Jahrhundert
2 Bebauung innerhalb der Mauer des 14. Jahrhunderts
5 Bebauung zwischen dem Beginn des 19. und dem des 20. Jahrhunderts
5 Parks
6 Wald

88

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 88 10.08.2015 09:41:51


Selbstverständlich kann man von diesen die Stadt konstituierenden
Faktoren, die für sie charakteristisch sind, nicht sprechen, ohne auf ihre
Architektur einzugehen. Kürzlich schrieb ein französischer Gelehrter,
wenn er an die institutionelle Krise der französischen Universität
denke, so scheine es ihm für diese Krise kein handgreiflicheres Symptom
zu geben als das Fehlen eines Bauwerks, daß die französische Univer-
sität »sei<<. Daß es Paris, der Wiege aller großen europäischen Uni-
versitäten, niemals gelungen ist, sich diese Universität zu »hauen<<,
sei das äußere Zeichen der inneren Schwäche ihres Systems. »Die
Konfrontation mit diesem architektonischen Phänomen löste einen
Schock in mir aus. Ein V erdacht begann mich zu beunruhigen, der in
der Folge seine Bestätigung fand, als ich Gelegenheit hatte, Coimbra,
Salamanca, Göttingen und schließlich Padua zu besuchen . . . Die
architektonische Leere der französischen Universität machte mir ihre
geistige Leere verständlich. << 31
Um einen vergleichbaren Sachverhalt handelt es sich bei der katho-
lischen Kirche, deren Universalität ihren Ausdruck in der Peterskirche
und den Kathedralen und Kirchen der ganzen Welt findet. Dabei
denke ich nicht an die architektonische oder stilistische Bedeutung
dieser Bauwerke, sondern an ihr Vorhandensein, an die Tatsache, daß
sie gebaut wurden, an ihre Geschichte. Mit anderen Worten: an ihre
Eigenschaft als städtebauliche Faktoren.
Derartige städtebauliche Faktoren haben ihr eigenes Leben, ihr beson-
deres Schicksal. So haftet der Schmerz als etwas ganz Konkretes an den
Mauern, in den Höfen und Krankensälen eines Spitals. Als die Pariser
die Bastille zerstörten, vernichteten sie damit die Mißstände und das
Elend von Jahrhunderten, die in Paris die konkrete Gestalt dieses
Gefängnisses angenommen hatten.
Zu Anfang dieses Kapitels habe ich von der Qualität der städtebau-
lichen Phänomene gesprochen und auf einige Autoren hingewiesen,
die deren Untersuchung angebahnt haben. Der wichtigste von ihnen
ist vielleicht Levi-Strauß durch seine Bemerkung, daß sich unser
euklidischer Geist gegen eine qualitative Konzeption des Raums
sträube, sei kein Beweis dafür, daß es diese Raumqualitäten nicht
gebe: »Denn auch der Raum besitzt seine eigenen Werte, genauso wie
die Töne und Gerüche Farben, die Gefühle ein Gewicht haben können.
Die Suche nach den Entsprechungen ist weder dichterisches Spiel
noch Mystifizierung. Sie eröffnet dem Wissenschaftler im Gegenteil
ein neues Feld, dessen Erforschung ihm die reichsten Entdeckungen
verspricht. << 32
In einem ähnlichen Sinn hat Cattaneo von der künstlichen Heimat des

31 Georges Gusdorf, L'Universite en Question, Paris 1964, S. 83.


32 Claude Levi-Strauß, a. a. 0., S. 82.

89

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 89 10.08.2015 09:41:51


Menschen gesprochen, die den gesamten Erfahrungsschatz der Mensch-
heit enthalte. Das gestattet uns zu behaupten, daß die Qualität der
städtehauliehen Phänomene auf ihrer konkreten Wirklichkeit beruht.
Die Qualität der Architektur, dieser menschlichen Schöpfung, ist der
Sinn der Stadt.
Nachdem wir uns hisher mit den verschiedenen Möglichkeiten, die
Stadt zu verstehen und zu definieren, beschäftigt haben, kommen wir
nun zu den individuellsten Merkmalen der städtehauliehen Phäno-
mene zurück, denen die beiden nächsten Kapitel gewidmet sein sollen.
Schon jetzt aber können wir feststellen, daß die primären Elemente
geographischen Charakters in ihrer Qualität und ihrem Schicksal sich
grundsätzlich von den Baudenkmälern unterscheiden. Von dieser
Voraussetzung ausgehend könnte man - auf anderen Wegen, als sie
Kevin Lynch beschritten hat- zu neuen Schlüssen über das mensch-
liche Individual- und Kollektivverhalten in der Stadt kommen und
neue Erkenntnisse über das Kollektivbewußtsein ein~r Stadt bis in seine
tiefsten Schichten gewinnen. Dabei könnte der Qualitätsbegriff ein
neues Licht auf den Stadthereich und seine Grenzen und auf das
politische Territorium und seine Grenzen werfen, für die weder der
Rassenmythos noch sprachliche oder religiöse Gemeinsamkeiten eine
erschöpfende Erklärung gehen.
Damit soll nur auf die Richtungen hingewiesen werden, in denen sich
ergiebige Forschungshereiche für Psychologen, Soziologen und Stadt-
ökologen auftun könnten, wenn sie sich der Zusammenarbeit mit der
Urhanistik versichern. Umgekehrt steht aber ebenso fest, daß auch
wir bei unserer Beschäftigung mit der Stadtarchitektur nur durch
interdisziplinäre Zusammenarbeit zu unangreifbaren Forschungs-
ergehnissen kommen können.

90

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 90 10.08.2015 09:41:53


Drittes Kapitel

Individualität städtebaulicher Phänomene

1. Der Standort

Schon mehrfach habe ich darauf hingewiesen, wie wichtig sowohl für
einzelne Bauten als für eine Stadt insgesamt ihr Standort ist. In der
Antike fand die Bedeutung, die man der Standortwahl gab, ihren
Ausdruck darin, daß man alles, was an einem bestimmten Ort geschah,
dem vYalten eines genius loci zuschrieb. Aber auch bei den Klassikern
der Architekturtheorie spielt der Begriff des Standortes eine große
Rolle, selbst wenn er bei Palladio und erst recht bei Milizia überwie-
gend topographischen und funktionellen Charakter annimmt. Gleich-
wohl spürt man in dem, was Palladio darüber schreibt, noch etwas von
dem geheimnisvollen Schauer des genius loci. Dem entspricht es, daß
manche seiner Bauten wie die Villa Malcontenta und die Villa Rotonda
iiber ihre eigentliche architektonische Qualitä( hinaus einen Zauber
ausstrahlen, der durch ihre Lage bedingt ist.
Selbst Viollet-le-Duc, der versucht, Architektur als eine Folge von
logischen Operationen zu definieren, die auf wenigen rationalen Prin-
zipien beruhen, räumt ein, daß der Standort für ein Bauwerk von
ausschlaggehender Bedeutung ist und daß deshalb die räumlichen
Voraussetzungen in ihrer konkreten Einmaligkeit nicht vom Begriff
der Architektur in ihrem umfassendsten Sinn zu trennen sind. Zu
ähnlichen Ergebnissen kommt aus geographischer Sicht Max Sorre,
wenn er von >>besonderen Punkten« 1 im Raum spricht, die den Schluß
zulassen, daß es räumliche Bedingungen und Qualitäten gibt, ohne
deren Berücksichtigung der spezifische Charakter eines bestimmten
städtebaulichen Phänomens nicht zu verstehen ist. Auch Maurice
Halbwachs hat sich in seinen späten Lebensjahren in »La Topographie
legendaire des Evangiles en Terre Sainte« (Paris 1941) mit dieser
Problematik unter dem besonderen Aspekt beschäftigt, daß das unter-
schiedliche Gepräge von heiligen Stätten aus verschiedenen Zeiten
darauf zurückzuführen ist, daß sich in ihrer Standortwahl und ihren
Bauten die jeweilige Bedürfnisse und Erwartungen ihrer Gründer
ausdrücken. Dem entspricht die Bedeutung des Raumes für den Katho-
li7jsmus. Auch der Raum der Kirche ist im Prinzip unteilbar und all-
umfassend wie sie selbst. Einzelnen Territorien und deren Grenzen
kommt innerhalb dieser universellen Raurnkonzeption, deren Mittel-

1 Max Sorre, a. a. 0., Kapitel I, Anm. 1.

91

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 91 10.08.2015 09:41:53


punkt der Sitz des Papstes ist, nur zweitrangige Bedeutung zu, zumal
der irdische Raum der Kirche nur ein Bruchteil jenes noch umfassen-
deren Raumbegriffes darstellt, den die Kirche als Ort der Gemeinschaft
der Heiligen versteht. Gleichwohl gibt es auch innerhalb dieses
sublimierten und mit irdischen Raumbegriffen nicht zu erfassenden
Universums »besondere Punkte«, nämlich die Wallfahrtsorte und
heiligen Stätten, an denen der Gläubige in eine unmittelbare Be-
ziehung zu Gott tritt. Ihr Charakter ist mit dem der christlichen Sakra-
mente zu vergleichen, die als äußere, sinnlich wahrnehmbare Zeichen
die unsichtbare Gnade spenden. Ihren einmaligen Charakter erhalten
die »besonderen Punkte« aus vielen Gründen, zum Beispiel durch ein
Ereignis, das an ihnen stattgefunden hat. Immer aber verweist die
Besonderheit auf eine eigentümliche, lmter Umständen außergewöhn-
liche Qualität des Raumes hin. Bei stiidtebaulichen Phänomenen ist
diese Qualität nur im Stadtbild faßbar und scheint darüber hinaus
nicht analysierbar zu sein. Letzten Endes läßt sich deshalb lediglich
feststellen, daß ein Standort seine bestimmte Qualitiit hat, auch wenn
wir dessen räumliche und zeitliche Komponenten weder rational
definieren noch vollständig nachempfinden können.
Ich bin mir klar über die Schwierigkeiten, die diesem Problem inne-
wohnen, auch wenn die Frage nach der Qualität des Standortes in jeder
ernstzunehmenden Untersuchung auftaucht, weil es sich bei ihr um
eine Erfahrungstatsache handelt. So weist auch Eydoux in seinem
Buch >>Monuments et Tresors de la Gaule« 2 ausdrücklich darauf hin,
daß es Orte von besonderer, immer wieder sich bestätigender Bedeu-
tung gibt, und fordert eine Analyse der Gründe dafür, daß manche Orte
offentliehtlieh dazu prädestiniert sind, eine historische Rolle zu spielen,
an der Tradition und Willkür gleichermaßen beteiligt scheinen. In
diesem Zusammenhang denke ich oft an die Plätze auf den Bildern der
italienischen Renaissancemaler, deren Architektur und Standort
gerade deshalb einen allgemeinverbindlichen örtlichen Erinnerungs-
wert erhalten, weil sie in einem bestimmten Augenblick und auf eine
bestimmte Art dargestellt wurden. Der Augenblick ihrer Darstellung
vermittelt uns aber auch unsere Grundvorstellung von den Plätzen
Italiens und prägt deshalb unsere Raumvorstellungen von italieni-
schen Städten. Solche Vorstellungen stehen im Zusammenhang mit
unserer historischen Bildung, mit der Art, wie wir vom Menschen
geprägte Landschaften erleben, und mit den Beziehungen, die wir
zwischen unterschiedlichen örtlichen Situationen herstellen. Dabei
wird es immer besondere Punkte geben, die unseren persönlichen
Raumvorstellungen am meisten entsprechen.
Focillon spricht von psychologischen Landschaften, ohne die die

2 Henri-Paul Eydoux, Monuments et Tresors de la Gaule, Paris 1958, S. 43.

92

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 92 10.08.2015 09:41:55


schöpferische Kraft des Ortes undurchsichtig und unfaßbar wäre.
>>Die gotische Landschaft oder vielmehr die gotische Kunst als Land-
schaft hat ein nie dagewesenes Frankreich geschaffen, eine franzö-
sische Humanität, Horizontlinien, Städtesilhouetten, kurz gesagt ein
Poetik, die aus ihr hervorgeht und nicht aus der Geologie oder den
Einrichtungen der Capetinger. Aber gehört es nicht zum Wesen eines
bestimmten Formenkreises, seine Mythen zu zeugen, die Vergangen-
heit nach dem Maß seiner Bedürfnisse zu formen ?« 3
Daß Focillon den Begriff der örtlich bedingten gotischen Kunst durch
den der »gotischen Landschaft« ersetzt, ist insofern sehr wichtig, als
er dadurch die Bedeutung des Bauwerks, des Baudenkmals und der
Stadt als menschlicher Schöpfungen betont. Aber auch als menschliche
Schöpfungen bleiben diese Phänomene eng verbunden mit dem Ereig-
nis, das an ihrem Anfang stand, mit seinem ersten Zeichen, dessen
Entstehen, seiner Fortdauer und Entwicklung, an denen Willkür und
Tradition gleichermaßen beteiligt sind.
Schon die frühen Menschen haben sich nicht nur ein künstliches Klima
geschaffen, sie gaben einem Ort auch ihr Gepräge und verliehen ihm
damit eine Individualität. Die Einbeziehung der Stadtlandschaft in
die Malerei, die unbeirrbare Sicherheit, mit der die Römer heim Bau
neuer Städte immer nach demselben Schema vorgingen und sich darauf
verließen, daß der Ort ihm sein besonderes Gepräge geben würde, und
zahlreiche ähnliche Sachverhalte lassen uns etwas von der Wichtigkeit
der räumlichen Voraussetzungen ahnen. Darüber hinaus wird uns
klar, weshalb die Architektur in der Antike und der Renaissance eine
so bedeutende Rolle gespielt hat. Sie gab einer landschaftlichen Situa-
tion ihre Gestalt, bei der sich Landschafts- und Architekturformen
gegenseitig beeinflußten und ein Ganzes entstehen ließen, das wie der
Bauvorgang selbst zum Ereignis wurde. Nur so läßt sich die Bedeutung
eines Obelisks, einer Säule oder eines Gedenksteins verstehen, in
denen ein Ereignis und das Zeichen für dieses Ereignis eine unauflös-
liche Einheit eingehen;
Ich habe mich schon oft gefragt, ob die Individualität eines städtebau-
lichen Phänomens auf seiner Gestalt, seiner Funktion, seinem Er-
innerungswert oder auf noch etwas anderem beruht. Aus un-
seren bisherigen Darlegungen geht nun hervor, daß ausschlaggebend
für diese Individualität ein Ereignis oder Erlebnis und das Zeichen
sind, durch das sie fixiert wurden. Derartige Überlegungen sind in der
Architekturgeschichte immer wieder angestellt worden. Jacob Burck-
hardt spielt auf diesen Prozeß an, wenn er schreibt: »Allein nur Reli-
gion und Kultus brachte diejenigen feierlichen Schwingungen in der
Seele hervor, welche imstande waren, in dies alles das höchste Ver-

3 Henri Focillon, Das Leben der Formen, München 1954, S. 31.

93

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 93 10.08.2015 09:41:55


mögen hineinzulegen; sie erst brachte in den Künsten das Bewußtsein
höherer Gesetze zur Reife und nötigten den einzelnen Künstler, der
sich sonst hätte gehen lassen, zum Stil; d. h. eine einmal erreichte
Höhenstufe wird festgehalten gegenüber dem daneben weiterlebenden
Volksgeschmack.«4
Damit erweist sich, daß es immer etwas geben muß, auf das Architek-
tur sich bezieht. Aber während Architekten heute jederzeit bereit sind,
sich selbst, ihren Tätigkeitsbereich und ihre Ideale in Frage zu stellen,
neigen sie zugleich dazu, diese Grundvoraussetzung aller Gestaltung zu
vergessen. Dagegen schreibt Adolf Loos: »Wenn wir im walde einen
hügel finden, sechsschuhlang und drei schuh breit, mit der schaufel
pyramidenförmig aufgerichtet, dann werden wir ernst, und es sagt
etwas in uns: Hier liegt jemand begraben. Das ist architektur.« 5
Dieser sechs Schuh lange und drei Schuh breite Grabhügel ist reine
Architektur, weil wir hier aus dem Phänomen seine Bedeutung ab-
lesen können. Das ist nur durch die Geschichtlichkeit der Architektur
möglich, für deren Formen die Antike auch noch heute gültige Lösun-
gen gefunden zu haben scheint. Deshalb haben sich die großen
Architekten aller Zeiten immer wieder mit der antiken Architektur
auseinandergesetzt, als gebe es unveränderliche Beziehung zvvischen
den Formen und ihrer Bedeutung, während diese Beziehung in Wirk-
lichkeit jeweils eine individuelle Lösung findet. Dieselben architekto-
nischen Ideen werden an verschiedenen Standorten realisiert. Deshalb
lassen sich unsere Städte zwar von demselben Prinzip ableiten, stellen
aber im Konkreten jeweils etwas Einmaliges dar. Diese Einmaligkeit
ist durch den Standort bedingt, der deshalb ausschlaggebend für die
Individualität von Baudenkmälern, Städten und sonstigen Bauten ist.
Die Einmaligkeit des Standorts ist dabei durch Raum und Zeit, durch
seine Lage und seine Gestalt bedingt und schließlich dadurch, daß er
der Schauplatz lange oder weniger lange zurückliegender Ereignisse
und die Erinnerung daran ist. Doch damit kommen Kollektivphäno-
mene ins Spiel, die uns zwingen, näher auf die Beziehung zwischen
Mensch und Standort, zwischen Ökologie und Psychologie einzugehen.

4 Jacob Burckhardt, \Veltgeschichtliche Betrachtungen, Gesamtausgabe,


Hrsg. Albert Oeri und Ernil Dürr, Bd. 7, Berlin, Leipzig 1929, S. 78.
5 Adolf Loos, Architektur, in: Sämtliche Schriften, Bd. I, \'Vien, München
1962, s. 517.

94

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 94 10.08.2015 09:41:56


2. Architektur als Wissenschaft

Die bedeutendsten Werke der Ar-


chitektur sind weniger individuel-
len als kollektiven Ursprungs, eher
Eneugnisse des arbeitenden Volkes
als der Wurf eines genialen Einzel-
nen. Sie sind die Hinterlassenschaft
einer Nation, Ablagerungen von
Jahrhunderten, Rückstände von
langjährigen Ausdünstungen der
menschlichen Gesellschaft, mit
einem Wort, Formationen.
Victor Hugo

In seinem 1816 erschienenen Werk >>Monuments de la France<< findet


Alexandre de Laborde, ähnlich wie Quatremere de Quincey, Worte des
Lobes dafür, daß die Künstler des ausgehenden 18. und des beginnen-
den 19. Jahrhunderts zum Studium nach Rom gingen, um sich dort
durch die unmittelbare Anschauung der antiken Werke in die unver-
änderlichen Prinzipien der Kunst einweihen zu lassen. Die Architekten
der neuen Schule studierten dort emsig die alten Bauten. Die Archi-
tektur wandelte deshalb einen sicheren Weg, denn ihre Meister
bemühten sich darum, logische Grundregeln für sie aufzustellen. >>Halb
Künstler, halb Gelehrte widmen sie sich der Beobachtung und der
Kritik ... << 6
Laborde und seine Zeitgenossen verkannten aber das Grundmotiv
dieser Studien, das in ihrer Aufgeschlossenheit für städtebauliche
Probleme und für die Humanwissenschaften bestand und diese Archi-
tekten oft mehr Wissenschaftler als Künstler sein ließ. Es ging ihnen
deshalb in ihren Theorien und ihrer Lehre um Grundprinzipien einer
als Wissenschaft verstandenen Architektur und um die Anwendung
und Formulierung dieser Prinzipien in ihren Bauten. So geht Ledoux
zwar von den klassischen Architekturprinzipien aus, bezieht aber in
seine Analyse von Entwürfen und Bauten deren gesellschaftliche
Bedingtheiten ein. Auch nach der Auffassung von Violett-le-Duc gibt
es für jedes architektonische Problem eine eindeutige Lösung, aber
- und darauf beruht das Besondere in seiner Sicht der Dinge - die
Architekturprobleme ändern sich fortlaufend und erfordern dadurch
immer neue Lösungen. Diesem Grundsatz folgte er in seinem
>>Dictionnaire raisonm\ de l'Architecture Fran~;aise du XI au XVI
Siede«. Ein besonderes überzeugendes Beispiel für dessen Darstel-
lungsmethode ist die Beschreibung der von Richard Löwenherz

6 Alexandre de La Garde, Monuments de la Fr11-nce, Paris 1816, S. 57.

95

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 95 10.08.2015 09:41:57


erbauten normannischen Festung Chateau-Gamard7. Aus der
Analyse ihres Baus, ihrer Lage am Ufer der Seine und ihrer militä-
rischen Bedeutung ergibt sich zusammen mit den Hinweisen auf die
frühere Bebauung ihres Standortes und die Psychologie der Könige
von Frankreich und England, die um sie kämpften, ein Bild ihrer
individuellen Struktur. Wie in vielen anderen Beschreibungen ver-
mittelt Viollet-le-Duc dabei nicht nur die unmittelbare Anschauung
französischer Architektur und ihrer Umgebung, sondern läßt auch die
Geschichte Frankreichs vor dem Leser erstehen. So führen Viollet-le-
Ducs Analysen des einzelnen Bauwerks durch die Einbeziehung geo-
graphischer und soziologischer Aspekte über das bloße Verstämlnis der
Architektur hinaus zu dem der Stadtstruktur als einer menschlichen
Schöpfung. Dabei entdeckt er, daß das Wohnhaus derjenige Bestand-
teil der Architektur ist, in dem Sitte, Brauchtum und Geschmack
einer Bevölkerung ihren deutlichsten Ausdruck finden. Grundriß und
Struktur des Hauses ändern sich nämlich nur sehr allmählich. Aus-
gehend von den Grundrißuntersuchungen von vVolmhäusern rekon-
struiert Viollet-le-Duc die ursprüngliche Gestalt der Stadtkerne und
bahnt damit eine vergleichende Untersuchung der Typologie des
französischen Hauses an.
Nach derselben Methode beschreibt er auch rlie von den französischen
Königen neugegrünrleten Städte. In Monpazier ist nicht nur die Stadt
mit ihren geradlinigen Straßen regelmäßig angelegt, auch alle Häuser
sind gleich groß und haben denselben Grundriß. Deshalb waren auch
die Lebensbedingungen für alle Bewohner dieser privilegierten Häuser
gleich. Die Untersuchung der Parzellen und der durch sie gegebenen
Aufteilung der Stadt läßt bereits Viollet-le-Duc ahnen, daß sich aus
diesen konkreten Daten eine Geschichte der sozialen Klassen in Frank-
reich ableiten läßt. Damit nimmt er Tricarts Sozialgeographie und
ihre Schlußfolgerungen in gewisser \V eise vorweg.
Nur die besten Arbeiten der französischen Geographenschule zu An-
fang dieses Jahrhunderts sind von ebenso großer wissenschaftlicher
Bedeutung. Zu ihnen gehört Albert Demangeons Versuch einer
Klassifizierung des französischen Bauernhauses nach seinen Haupt-
typen8. Demangeon geht bei dieser Untersuchung von einer Beschrei-
bung des ackerhaulieh genutzten Geländes als einer künstlichen Land-
schaft aus und betrachtet das Bauernhaus in diesem Zusammenhang
als ein statisches Element, dessen Entwicklung langsamer und kom-
plizierter als die der Landwirtschaft vor sich geht und ihr keineswegs
immer entspricht. Dadurch ergehen sich die Frage nach den typolo-
7 Viollet-Le-Duc, a. a. 0., Stichwort »Chateau«; vgl. A. Deville, Histoire du
Chateau Gaillard et du Siege qu'il soutint contre Philippe-Auguste en 1203
et 1204, Rouen 1849.
8 Albert Demangeon, Problemes de Geographie humaine, Paris 1942, S. 261.

96

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 96 10.08.2015 09:41:59


gischen Konstanten <les Bauernhauses und der Versuch, dessen Grund-
typen zu identifizieren. Schließlich stellt sich dabei heraus, daß sich
dieses Haus nicht nur durch die örtlich bell i ngten Baumaterialien, <lie
wirtschaftlich bedingte Struktur und seine Funktionen erklären läßt,
sondern daß seine Gestalt auch auf historischen Voraussetzungen beruht
und kulturellen Einflüssen tmterliegt. Im Vergleich zu den Be-
schreibungen von Viollet-le-Duc hat Demaugeans l\Iethocle an Präzision
und Strenge gewonnen, ihr allgemeines Verstänrlnis für architek-
tonische Tatbestände ist aber geringer. Er verzichtet deshalb auch
auf eine Analyse von Stadt- und Landschaftsstruktur.
Wider Erwarten, aber im Grunde bezeichnenderweise hat erst ein als
durch und durch revolutionär geltender Architekt sich wieder mit der
ihm scheinbar fernliegenden Thematik dieser Analysen beschäftigt
und sie zu einerneuen einheitlichen Synthese geführt. In seiner Defi-
nition des Hauses als einer Maschine und der Architektur als eines
Instruments, die für alle ästhetisierenden Kunstliebhaber schockierend
war, faßt Le Corbusier 9 die Lehre der französischen Geographenschule
zusammen, die auf der Untersuchung der Realität basierte. Nicht von
ungefähr hat Demangeon um dieselbe Zeit vom Bauernhaus als von
einem eigens für die bäuerliche Arbeit geschmiedeten Gerät gespro-
chen.
Es wäre indessen übereilt, die Definition der Architektur als einer
menschlichen Schöpfung von instrumentellem Charakter als die ge-
niale Einsicht eines einzelnen zu verstehen und nicht als Folge des
Fortschritts der Architektur als Wissenschaft, deren Analysen sich
auch auf die Planung auswirkten. vVenn man Architektur aber als
Wissenschaft versteht, muß sie in ihre Überlegungen die Beziehungen
zwischen individuellem unu kollektivem Geschehen. den historischen
Gehalt und Entwicklung und bleibende Einflüsse der verschiedenen
Kulturen einbeziehen. Aus diesem Grund habe ich diesem Abschnitt
ein Zitat Victor Hugos vorangestellt, der die große fram.iisische Archi-
tektur in seiner Begeisterung für sie, wie viele andere Künstler und
vVissenschaftler, als beständige Bühne der menschlichen Geschicke
verstanden hatlO.

3. Stadtokologie und Psy-chologie

Im vorangegangenen Abschnitt habe ich dargestellt, daß vVissen-


schaftler n:rschiedener Disziplinen bei ihren Untersuchungen der
Stadt schließlich immer wieder auf die Architektur als das Phänomen

9 Lc Corbusier, JVIaniere de Penser l'Urbanisme, Boulognc-sur-ner 1945.


10 Jeru1 Mallion, Victor Hugo et l'Art architectural, Paris 1962.

97

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 97 10.08.2015 09:41:59


gestoßen sind, das für das Verständnis der Stadtstruktur am wichtig-
sten ist. Daß daneben auch ökologische Fragen eine Rolle spielen, war
aus unserer Beschäftigung mit dem Begriff des Standortes klargewor-
den. Gleichwohl können wir hier nicht auf die Ökologie in ihrem vollen
Umfang eingehen, da sie als Wissenschaft von der Beziehung zwischen
den Lebewesen und ihrer Umgebung, insofern sie sich mit dem Men-
schen beschäftigt, seit Montesquieu eine Sache der Soziologie und der
Naturphilosophie ist. Aus ihrer Gesamtproblematik wollen wir ledig-
lich die Frage herausgreifen, welchen Einfluß der Standort einer Stadt
auf den einzelnen und die Gemeinschaft hat. Max Sorre hat betont,
daß diese Frage schon deshalb besonders wichtig ist, weil sie sich auch
umkehren läßt in die Frage, wie der Mensch seine Umgebung ver-
ändert11. Unter diesem Aspekt müßte die Ökologie allerdings die ge-
samte Kulturgeschichte in ihre Untersuchungen einbeziehen.
Stadtökologie kann allerdings nur dann einen Sinn haben, wenn sie sich
auf die gesamte komplexe Struktur einer wirklichen Stadt und nicht
nur auf ein abstraktes Schema der Stadt bezieht, von dem zum Beispiel
die Amerikaner Park und Hoyt ausgegangen sind und deshalb auch
nur zu Ergebnissen von technischer Bedeutung kamen.
Daß die Sozialpsychologie, die eng mit der Soziologie zusammenhängt,
für die Untersuchung der Stadt eine wichtige Rolle spielt, geht schon
daraus hervor, daß Wissenschaftler aller Disziplinen sie für ihre
Stadtanalysen herangezogen haben. Daneben verspreche ich mir auch
von der Gestaltpsychologie im Sinne der Untersuchungen des Bau-
hauses und später von Kevin Lynch12 wichtige Ergebnisse. Allerdings
kann die Experimentalpsychologie sich auch auf ungeeignete Objekte
erstrecken. Doch ehe wir darauf eingehen, wollen wir kurz bei der
Beziehung zwischen der Stadt und der Architektur als einer
Technik verweilen.
Prinzipien und Methoden von Künsten und Wissenschaften werden
kollektiv erarbeitet und tradiert. Deshalb sind Kunst und Wissenschaft
Kollektiverscheinungen, was freilich nicht ausschließt, daß zu ihnen
gehörende wichtige Einzelphänomene individuellen Ursprungs sind.
Diese Beziehung zwischen einem städtebaulichen Tatbestand als einer
Kollektiverscheinung und dem Individuum, das sie veranlaßt oder
realisiert hat, einerseitsunddem einzelnen Bewohner andererseits kann
nur durch die Untersuchung der Techniken, durch die dieser
Tatbestand Gestalt annimmt, geklärt werden. Die Architektur, mit
der wir es zu tun haben, ist nur eine dieser verschiedenen Techniken.
Von allen anderen Techniken und Künsten unterscheidet sie sich
aber dadurch, daß sie eine breite kulturelle Strömung darstellt, die

11 Max Sorre, a. a. 0.
12 Kevin Lynch, a. a. 0., S. 16ff., S. 107ff.

98

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 98 10.08.2015 09:42:00


auch außerhalb des engen Kreises der Fachleute diskutiert wir<l. Das
ist nur möglich, weil Architektur sich in der Stadt realisiert uml zu
deren Bestandteil, ja schließlich zur Stadt selbst wird. Dabei gibt
es allerdings keine »Üppositionsarchitektur«, denn was gebaut wird,
bestimmt immer die herrschende Klasse, allenfalls ergeben sich
Möglichkeiten, die spezifische Gestalt einer Stadt mit bestimmten
neuen Bedürfnissen in Einklang zu bringen.
Es besteht also eine direkte Beziehung zwischen der Architektur, inso-
fern sie die Formulierung bestimmter Ideen darstellt, und dem, was in
einer Stadt tatsächlich gebaut vvird. Gleichwohl sind beide Faktoren
streng voneinander zu unterscheiden. Man kann die Architektur als
ein logisches Formensystem unabhängig von örtlichen und historischen
Voraussetzungen studieren. Diese Architektur kann sich nur in einer
Idealstadt ohne andere als architektonische Einflüsse realisieren. Die
tatsächliche Architektur in einer wirklich existierenden Stadt ist etwas
ganz anderes. Sie hat es -im Unterschied zu allen anderen Künsten
und Wissenschaften - ständig mit fremden Einflüssen zu tun. Das
macht die demiurgische Attitüde vieler Architekten verständlich,
deren Raumordnung zu einer Gesellschaftsordnung werden und die
Gesellschaft verändern soll.
Mit welchen fremden Einflüssen innerhalb einer Stadt es ein Architekt
zu tun hat, zeigt Andre Chastel in »Art et Humanisme a Florence au
Temps de Laureut le :Magnifique«, der in diesem Buch darstellt,
wie neben den Architekten, die das neue Florenz bauten, auch
die Kunst, die Geschichte und die Politik ihren Anteil an dieser
neuen Stadtidee hatten. Auch Palladio fügte seine Bauten in die be-
stehenden venezianischen Städte ein, und gerade bei ihnen wird die
Bedeutung des Standortes für die Architektur besonders deutlich, vor-
ausgesetzt, daß wir darunter den gesamten städtebaulichen Kontext
verstehen, mit dem sich der einzelne Bau identifiziert. Der individuelle
Charakter einer Stadt beginnt deshalb beim einzelnen Bau, seinem
Material und seinen Geschicken und bei der Mentalität seiner Planer
und Erbauer. Zu dieser Individualität eines Bauwerkes gehört aber
auch sein Standort nicht nur als physische Gegebenheit, sondern auch
insofern er unter vielen möglichen Standorten ausgewählt wurde und
eine unauflösliche Einheit mit dem Bauwerk, das auf ihm erstellt
wurde, einging.
Die Geschichte einer Stadt ist auch die Geschichte ihrer Architektur,
aber die Architekturgeschichte ist bestenfalls ein Aspekt der Stadt.
Daß das nicht verstanden wurde, hat Anlaß dazu gegeben, sich beim
Studium der Stadt und ihrer Architektur auf das Stadtbild zu beschrän-
ken und, wenn man dabei an einen toten Punkt kam, andere Wissen-
schaften, zum Beispiel die Psychologie, zu dessen Verständnis heran-
zuziehen. Aber die Psychologie kann uns nur sagen, daß ein Indivi-

99

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 99 10.08.2015 09:42:01


duum oder mehrere Individuen rlie Starlt auf eine bestimmte Weise
sehen, und kann keine Beziehung zwischen dieser privaten Sicht und
den Prinzipien herstellen, aufgrund deren eine Stadt entsteht und ihr
Bild Gestalt gewinnt. viV enn wir Stadtarchitektur nicht nur vom stili-
stischen Standpunkt aus betrachten, so bedeutet das noch nicht, rlaß
wir uns nicht mit Architektur b<:schäftigen. Im Gegenteil. Denn nie-
mandem kiim<: es in den Sinn, zu verlangen, daß die Architekturtheo-
retiker, die schreiben, Bauten hätten den Kriterien der Solidität,
Nützlichkeit und Schönheit zu genügen, uns auch erklären müssen,
auf welchen psychologischen Motiven dieses Prinzip beruht.
Wenn Bernini verächtlich von Paris spricht, weil er die gotische
Architektur der Stadt barbarisch findet, interessiert uns nicht Berninis
Psychologie, sondern das Urteil eines Architekten, der sich grundsätz-
lich mit dem Städtehau auseinandergesetzt hat. Und die Anschauungen
Mies van der l\ohes von Architektur sind für uns nicht wichtig, weil
wir den »Geschmack« oder das >>Verhalten<< des Durchschnittsdeut-
schen kennenlernen wollen, sondern um etwas über die theoretische
Basis und das klassizistische Erbe Schinkelscher Prägung der deutschen
Stadt zu erfahren.
Natürlich haben Techniken und Künste noch nicht ihre gesamten
Möglichkeiten ausgeschöpft. Denn sobald sie ein Problem gelöst haben,
tauchen neue Probleme auf. vVahrscheinlich wissen wir noch sehr
wenig über rlie Be?.iehung zwischen der Stadt und einzelnen Werken
der Architektur, zwischen einem städtebaulichen Phänomen und
unserer Fähigkeit, es zu schaffen oder zu verstehen. Aber das heißt
nicht, daß wir nicht versuchen dürften, diese Beziehungen mit den
Mitteln, die wir besitzen, zu erforschen.

4. Architektur als stiidtebauliches Phiinomen

Um diese Analyse voranzutreiben, bleibt uns nichts anderes übrig als


die Konfrontation mit einigen -typischen oder einzigartigen- Phäno-
menen, un1 zu untersuchen, wie diese Problen1e entstehen und inwie-
fern diese Phänomene zu deren Lösung beitragen können. Dabei kann
das Verständnis der Stadt als Architektur uns möglicht>rweise zu neuen
Einsichten Yerhelfen.
Die Architekten aller Zeiten sinrl sich darüber klar gewesen, und die
modernen Architekten haben versucht, logische Systeme zu erarbeiten,
um diese Einsichten zu gewinnen, sind dabei aber nicht immer er-
folgreich gewesen. Manche städtebauliche Situation und manche Kul-
turepoche kamen ihren Bemühungen entgegen, andere verleiteten sie
zu falschen Schlüssen. In diesem Zusammenhang habe ich mir oft
Gedanken über die Bedeutung rles Snnbolischen in der Architektur

100

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 100 10.08.2015 09:42:03


gemacht. Damit meine ich nicht die Yorstellung der Funktionalisten,
daß Form Funktion folgt und also gewissermaßen deren sichtbares
Symbol ist. Ich denke vielmehr an die Revolutionsarchitekten und an
die russischen Konstruktivisten, die ja ebenfalls Architekten einer
Revolution waren. Daß gerade bei ihnen das Bedürfnis besteht, der
Architektur Zeichencharakter zu geben, scheint darauf hinzuweisen,
daß in solchen entscheidenden Augenblicken der Geschichte die Archi-
tektur Symbol für den Anbruch einerneuen Zeit und damit unmittel-
bar auch ein sie konstituierendes Element13 sein will. >>Eine Kugel ist
jederzeit nur mit sich selbst identisch. Damit ist sie das vollkommene
Symbol der Gleichheit. Denn kein anderer Körper besitzt die entschei-
dende Eigenschaft, aus jeder Perspektive gleich auszusehen.« Das
heißt, daß die Kugel nicht Allegorie der Gleichheit ist, sondern die
Idee der Gleichheit in ihrer eigenen Gestalt verkörpert und deshalb
als Bauform Gleichheit stiftet. Bei der Verwendung solcher neuen
Bauformen scheint die Kontinuität städtebaulicher Tatbestände abzu-
reißen und muß unter neuen Bedingungen wiederhergestellt werden,
die zu neuen Grundlagen führen. In diesem Zusammenhang kommt
einem die Diskussion der Humanisten über den Zentralbau in den
Sinn, bei der es sich nur scheinbar um eine typologische Frage handelt.
»Der Bau hat eine doppelte Funktion. Einerseits soll er die Seele so
gut wie möglich auf Meditation einstimmen und wird dadurch, daß er
eine erhebende und reinigende Wirkung auf den Betrachter ausübt,
zu einer Art geistigen und geistlichen Therapeutikums. Zum anrleren
ist der sublime Charakter des Bauwerks selbst ein Akt der Anbetung,
weil er durch seine vollkommene Schönheit religiösen Charakter
erhält.« 14 Es ist rleshalb auch kein Zufall, daß die Diskussion über den
Zentralbau, dessen Grundriß für die Spätantike typisch war und später
für den Kirchenbau im byzantinischen l~eich verbindlich wurde, zu
derselben Zeit stattfinclet, als man Reformen oder Vereinfachungen
des kirchlichen Hitus anstrebte. Chastel verweist darauf, wenn er
schreibt: »Dreierlei Motive wirkten sich zugunsten des Zentralhaus
aus: die symbolische Bedeutung der Kreisform, rlie zahlreichen
geometrischen Spekulationen über die Kombination von Kubus und
Kugel und das Ansehen, das die historischen Beispiele genossen.« 1 5

13 Emil Kaufmann, Von Ledoux bis Le Corbusier, Ursprung und Entwicklung


der autonomen Architektur, vVien, Leipzig 1953; ders. Three Revolutionary
Architects, Boullee, Ledoux et Lequeu, Philadelphia 1952; ders. Architecture
in the Age of Reason, Harvard 1955; Joseph Fayet, La Revolution Fran~taise
et la Science 1789-1795, Paris 1960.
14 Andre Chastel, Art et Humanisme a Florence au Temps de Laureut le
Maguifique, Paris 1959.
15 Andre Chastel, a. a. 0.

101

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 101 10.08.2015 09:42:03


Beispielhaft dafür ist die Kirche San Lorenzo in Mailand16 . Ihr Grund-
riß wird von der Renaissance übernommen, und Leonardo war von der
Beschäftigung mit ihm gerarlezu besessen. Aber auch bei Borromini 17
spielt er eine große Rolle, denn seine eigene Architektur entwickelt
sich aus einer Kombination der Vertikalen des Mailänder Dorns mit
dem Grundriß des Zentralbaus von San Lorenzo. Heute stellt sich uns
diese Kirche nicht mehr in ihrer ursprünglichen Gestalt dar. Zu den
barbarischen Erweiterungen der spätantiken Zentralkirche, wie zum
Beispiel der Cappella Sant'Aquilino, kommt der vollständige Umbau
durch Martino Bassi im Geiste der Spätrenaissance hinzu. Aber all
dieses spätere Baugeschehen vollzieht sich ständig arn Standort der
antiken Thermen im Herzen des römischen Mediolanum. Es erscheint
mir deshalb unmöglich, diesen Bau nur unter seinem formalen Aspekt
zu betrachten. Um ihn wirklich zu verstehen, muß man auf seine
Bedeutung, seinen Stil, seine Geschichte und den Grund, weshalb er
gebaut wurde, eingehen. Die Künstler der Renaissance haben San
Lorenzo noch unter all diesen verschiedenen Aspekten gesehen. Aber
auch heute kann niemand von Stadtarchitektur sprechen, wenn er
derartige Faktoren nicht in seine Betrachtung einbezieht. Denn sie
stellen die Grundlagen der Wissenschaft vorn Städtebau dar. Unsere
Überlegungen zum Symbolcharakter der Architektur und insbesondere
zur Identifikation von Geschehen und Zeichen im Symbol treffen
nicht nur auf das hier genannte Beispiel, sondern auf die Architektur
insgesamt zu, die wir - was in gewissen Epochen der Architektur-
geschichte immer wieder notwendig wird - heute nach neuen Krite-
rien beurteilen müssen.
Es gibt Bauwerke, die die Keimzelle einer Stadt sind, in und mit ihr
weiterleben und durch einen Wandel ihrer ursprünglichen Funktion
oder deren völliges Erlöschen so sehr zu einem charakteristischen
Bestandteil eines Stadtviertels werden, daß wir sie mehr unter ihrem
städtebaulichen als unter ihrem architektonischen Aspekt betrachten.
Andere Bauwerke sind Zeichen für den Anbruch einer neuen Epoche
der Stadtgeschichte, sie entstammen meist Revolutionszeiten oder
stehen in engem Zusammenhang mit Ereignissen, die für clie Ge-
schichte der Stadt von entscheidender Bedeutung sind.
Daraus geht hervor, daß die Kornpositionsprinzipien und der Stil einer
Architektur, wenn sie der Ausdruck für die politische und Kultur-

16 Aristide Calderini, La zona monumentale di San Lorenzo in Milano, Mai-


land 1934. Julius Kohte, Die Kirche San Lorenzo in Mailand, Zeitschrift für
Bauwesen, Berlin 1890. G. Chierici, Un quesito sulla basilica di San Lo-
renzo, in: Palladio I, 1938. De Dartein, Etude sur 1' Architecture lornbarde
et sur les Origines de l'Architecture byzantino-rornaine, Paris 1865-1882.
17 Eberhard Hempel, Francesco Borromini, Römische Forschungen des
Kunsthistorischen Instituts, Graz 1924.

102

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 102 10.08.2015 09:42:05


geschichte einer Zeit sind, auch für den Städtebau ihre Rolle spielen.
l'iur deshalb können wir von einer gotischen, einer barocken oder
klassizistischen Stadt sprechen. Das setzt freilich voraus, daß ein Stil
auf rationalen und daher lehrbaren Prinzipien beruht und genau
definierbare Formen entwickelt. Denn nur das macht es möglich, daß
man sich beim Bau eines neuen Stadtteils für ihn entscheidet. VVenn
indessen die so entstehemlen neuen städtebaulichen Phänomene nicht
den konkreten Gegebenheiten einer Stadtsituation entsprechen, kommt
es zu ästhetizistischen Lösungen, die allenfalls in Reformzeiten ihre
Berechtigung haben.
Eine solche Auffassung vom städtebaulichen Geschehen steht in deut-
lichem Widerspruch zu dem, was town-design meint. Denn bei der
Stadtplanung im modernen Sinn versucht man eine homogene,
koordinierte, zusammenhängende Umgebung zu schaffen, deren Ge-
setze, Motive und Ordnungsprinzipien sich nicht aus der historisch
gewonlenen Realität der bestehenden Stadt ergeben, sondern einen
Plan dessen darstellen, wie die Stadt sein soll. Derartige Stadtplanungs-
prinzipien mögen allenfalls angehen, wenn es sich um einen Stadt-
ausschnitt, einen zusammenhängenden Gebäudekomplex handelt. Auf
eine ganze Stadt angewandt führen sie zu keinem positiven Ergebnis,
sondern zerstören häufig eine vorhandene Ordnung und damit die
Kontinuität der Stadtgestalt. Denn diese Stadtkonzeption reduziert die
Struktur einer Stadt auf das bloße Stadtbild und macht damit aus ihr
eine Geschmacksfrage. Sinnvoller Städtebau müßte dagegen von einer
Stadtkonzeption ausgehen, die alle strukturellen Elemente in ihre
Planung einbezieht.
In seiner bereits erwähnten Studie hat Carlo Aymonino es als Aufgabe
der modernen Architektur bezeichnet, einige typologische Grund-
gesetze zu erarbeiten, die technologisch und hinsichtlich der Grundriß-
gestaltung allgemeine Gültigkeit haben, aber durch ihre differen-
zierte Anwendung eine individuelle Baugestaltung ermöglichen.
vVenn die Planung außerdem auf Bestimmungen über die Flächen-
nutzung, auf die Zonierung und auf Normen und Anordnungen rein
quantitativer Art für die Bebauung verzichtete, könnte die Architektur
der Bauten zum entscheidenden Ausgangspunkt für einen gesamten
städtebaulichen Komplex werden. Sicherlich würde ein solch ganz
konkreter Entwurf der einzelnen Bauten eines Stadtviertels schon in
dessen Planungsphase dazu führen, daß die architektonische Gestalt
wieder ihre führende Rolle erhielte, die sie früher für einen städtebau-
lichen Komplex innehatte. Die Entstehung neuer Stadtteile, durch die
sich das vVachstum einer Stadt vollzieht, ist nie ohne die Präzisierung
einzelner Elemente möglich. Gerade äußerste Präzisierung aber löst
Pine Reihe von Reaktionen aus, die nicht spontaner Natur, sondern
insgesamt geplant sind, wenn auch nicht vorauszusehen ist, wie sie

103

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 103 10.08.2015 09:42:05


sich im einzelnen konkretisieren werden. Ein Entwicklungsplan, der
diese Bedingungen erfüllt, erweist sich als sinnvoll.
Diese Theorie, die sich aus der Analyse der städtebaulichen Realität
ergibt, widerspricht der verbreiteten These, daß durch bloße Planung
von Funktionen automatisch eine Gestalt entstehe. In Wirklichkeit
sind es vielmehr die Formen (und zwar nicht nur insofern sie eine
Funktion erfüllen), die eine Stadt entstehen lassen. In diesem Sinn ist
der einzelne Bau ein wesentlicher Bestandteil der städtebaulichen
Realität. Er erhält damit eine Bedeutung, die sich aus seiner Konzep-
tion als abstraktem Behälter für wechselnde Funktionen nicht ergibt.
Ich weiß wohl, daß diese Alternative zu der heute üblichen funktio-
nalen Konzeption der Stadtplanung schwer zu definieren ist und in
ihrer Realisierung auf vielfältige Schwierigkeiten stößt. Gleichwohl
bin ich fest davon überzeugt, daß wir die mißlichen Folgen des Funk-
tionalismus nicht überwinden werden, solange wir uns nicht klar-
machen, wie wichtig die Form und die logischen Prozesse der Archi-
tektur sind. Daß die architektonische Form dabei ihre Bedeutung und
ihren Zeichencharakter verändern und einer unterschiedlichen
Nutzung dienen kann, habe ich am Beispiel des Amphitheaters in
Arles und des Kolosseums dargelegt. Dabei zeigte sich, daß die Gesamt-
heit dieser Bedeutungen, einschließlich des Erinnerungswertes, die
Struktur einer Stadt bildet und nichts mit den Grundrissen und deren
Funktionen zu tun hat. Allerdings bin ich der Auffassung, daß die
Beziehung zwischen Grundriß und- nur unter zwingenden Umstän-
den sich verändernden - Funktionen durch die Gestalt hergestellt
wird. Bei einem städtebaulichen Komplex insgesamt kann im übrigen
von einer eindeutigen Funktion ohnehin keine Rede sein. Flächen-
nutzungspläne sind deshalb für die Analyse einer Stadt nur von
begrenztem Wert.

5. Das Forum Romanum

Nachdem wir uns im Vorangehenden mit dem Begriff des Standortes


beschäftigt und daran einige Überlegungen darüber angeknüpft ha-
ben, welche Bedeutung einzelne städtebauliche Faktoren für das Ent-
stehen und das Wachstum einer Stadt haben, möchte ich jetzt noch
einmal auf die Beziehung zwischen einem einzelnen Bauwerk und
seinem Stamlort zurückkommen und anschließend die Bedeutung
des Baudenkmals für die Stadt behandeln.
Das Forum Romanum 18 , das als Mittelpunkt des römischen Kaiser-

18 Castagnoli-Cechelli-Giovannoni-Zocca, Topografia e urbanistica di Roma,


Bologna 1958; Leon Homo, Rome imperiale et l'Urbanisme dans l' Antiquite,

104

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 104 10.08.2015 09:42:07


reiches Vorbildcharakter für den Bau und den Umbau zahlreicher
antiker Städte hatte und alle »klassischen« Epochen der europäischen
Architektur inspirierte, weicht in seiner Gestalt und Lage von den
Vorstellungen der römischen Städtebautheorien ab. Seine Entstehung
ist von geographischen und historischen Voraussetzungen bedingt. Es
entstand in einem tiefgelegenen Sumpfgebiet zwischen steilen Hügeln.
Starke Regenfälle verwandelten die Sümpfe in seiner Mitte mit ihrem
Schilf und Weidengebüsch zu regelrechten Seen, während die umlie-
genden Hügel von Wald und Weideland bedeckt waren. Aenes und
die Seinen » . . . sahn rings weidende, brüllende Herden, wo das
römische Forum nun ist und die stolzen Carinen.« 19 Latiner und
Sabiner siedelten sich deshalb auf dem Esquilin, dem Virinal und
dem Quirinal an. Aber die Archäologen haben festgestellt, daß die
Latiner schon im 8. vorchristlichen Jahrhundert von ihren Hügeln
hinabstiegen, um ihre Toten auf dem späteren Forum zu bestatten.
Daß sie für diese Nekropole, die Boni zwischen 1902 und 1905
zu Füßen des Tempels des Antonius und der Faustina entdeckte,
gerade dieses und keines der anderen zahlreichen Täler der römischen
Campagna wählten, mag ein Zufall gewesen sein. Jedenfalls wurde die
Nekropole zunächst zu einer Kampf- und Kultstätte, aus der sich
allmählich die Anfänge einer Stadt und einer neuen gemeinsamen
Lebensform für die bisherigen Bewohner der Hügel entwickelte.
Der Verlauf der Pfade und späteren Straßen - Via Sacra, Argiletus
und Vicus Patricius - folgte wie die ursprünglich außerhalb der Stadt
gelegenenWegeinsofern der Formation des Geländes, als er Steigungen
möglichst vermied. Diese starke Abhängigkeit von den topographischen
Voraussetzungen kennzeichnet auch die weitere Entwicklung des
Forums und unterscheidet es durch dieses Fehlen eines rationalen
Bebauungsplanes von den Foren aller später gegründeten römischen

Paris 1951; Pietro Romanelli, Il Foro Romano, Bologna 1959; J. Carcopino,


La Vie quotidienne a Rome a l' Apogee de !'Empire, Paris 1959; besonders
aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung von Ludovico
Quaroni in >>Una citta eterna- quattro lezioni da 27 secoli<<, in: Urbanistica,
Turin o. J., S. 15: >>Für uns ist am interessantesten, daß das pomoerium, der
Anger innerhalb und außerhalb der Stadtmauer, auch die Grenze für die
städtische Bebauung war, deren Fläche vor allem aus militärischen und Ver-
waltungsgründen möglichst klein gehalten wurde. Das konnte natürlich nicht
verhindern, daß der ärmste Teil der Bevölkerung, der auch nur einen Teil der
Bürgerrechte genoß, unerlaubtermaßen außerhalb des pomoerium Baracken
baute. Diese continentia bildeten weite halb ländliche Vorstädte, die den
heutigen bidonvilles am Stadtrand von Rom glichen.«
19 Vergil, Aenes, Achter Gesang, Vers 390/591 in der Übersetzung von Jo-
hann Heinrich Voss.

105

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 105 10.08.2015 09:42:07


Städte. Die Unregelmäßigkeit seiner Form wurde schon von Livius
kritisiert, der sie auf den raschen Wiederaufbau nach der Brand-
schatzung durch die Gallier zurückführte. Sie entspricht aber der Art,
wie alle Städte zu jener Zeit sich ausdehnten.
Im 4. Jahrhundert verlor das Forum seine Marktfunktion und wurde
zu einem öffentlichen Platz im Sinne von Aristoteles, der schreibt:
>>Der öffentliche Platz ... darf nie durch Markttreiben verschandelt
werden, auch den Handwerkern soll der Zutritt zu ihm verwehrt wer-
drn ... Der Marktplatz soll fern von ihm liegen und deutlich von ihm
abgetrennt sein ... <<20 Die neue Nutzung des Forums brachte es mit
sich, daß Basiliken, Tempel und die beiden großen Straßen, die Via
Sacra und die Via Nova, in die zahlreiche Gassen einmündeten, all-
mählich die W asserstellen, Kultstätten, Märkte und Schenken ver-
drängten, die jahrhundertelang charakteristisch für das Tal gewesen
waren. Auch durch die späteren Baumaßnahmen zur Erweiterung des
römischen Stadtzentrums unter Augustus, Trajan und Hadrian verlor
das Forum bis zum Verfall des römischen Reiches seinen Charakter
als Mittelpunkt und Inbegriff der Stadt Rom nicht. »Auf der Via Sacra
und ihren Nebenstraßen entstanden immer mehr Luxusgeschäfte.
Die Leute zogen neugierig an ihnen vorüber, ohne etwas Bestimmtes
vorzuhaben, ohne etwas zu tun. Sie warteten lediglich darauf, daß das
Theater begann oder die Thermen geöffnet wurden. Den Typus dieser
Flanierer hat Horaz in seiner Satire >lbam forte via Sacra< glänzend
beschrieben. Was er hier schildert, vollzog sich tagtäglich tausendfach,
wenn nicht ein tragisches Ereignis in den kaiserlichen Palästen oder im
Prätorianerlager hin und wieder die Gleichgültigkeit der Römer er-
schütterte. Selbst das Forum wurde zur Kaiserzeit noch gelegentlich
zum Schauplatz von Bluttaten, die aber auf dem Platz, auf dem sie sich
ereigneten, kaum Spuren hinterließen. Auch das Leben in Rom wurde
von ihnen kaum berührt. Ihre wirklichen Auswirkungen hatten sie
andernorts. << 21
Dieses Rom mit seinen müßigen Menschenmassen, die zum Stadtbild
gehörten, ohne etwas von dem Stadtmechanismus zu verstehen, dessen
Bestandteil sie waren, hatte große Ähnlichkeit mit einer modernen
Stadt. Auch Poete drängte sich dieser Vergleich auf, wenn er von den
antiken Städten schrieb: >>Der Hauch einer modernen Stadt scheint
von dieser fernen Welt zu uns zu dringen. Wir haben den Eindruck,
daß wir uns in einer Stadt wie Alexandria oder Antiochia nicht allzu
fremd gefühlt hätten, ja daß wir uns in manchen Augenblicken dem
alten Rom näher als mancher mittelalterlichen Stadt fühlen.<< 22

20 Zitiert bei Andre Chastel, a. a. 0., S. 148.


21 Pietro Romanelli, a. a. 0.
22 Marcel Poete, a. a. 0., S. 344.

106

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 106 10.08.2015 09:42:09


Was den Müßiggänger an das Forum Roman um fesselt, seine innige
Teilnahme an ihm, seine Identifikation, die er dadurch mit der Stadt
vollzieht, gehört zu den Geheimnissen jeder echten Stadt. Das Forum
Romanum als Keimzelle Roms, das sich immer wieder bis zur Un-
kenntlichkeit wandelte, jedoch seinen ursprünglichen Standort bei-
behielt, mit jedem Stein die römische Geschichte und Legende doku-
mentiert und in seinen herrlichsten Symbolen bis in unsere Zeit erhal-
ten blieb, ist nur ein besonders einprägsames Beispiel für dieses Geheim-
nis. Mit der Gesamtheit seiner Baudenkmäler ist das Forum zugleich
Teil und Inbegriff der Stadt Rom. Seine Individualität stellt mehr dar
als die Summe seiner individuellen Baudenkmäler. Es ist Ausdruck
einer bestimmten, nämlich der klassischen Vorstellung von der For-
menwelt. Und doch ist seine Gestalt älter, existierte schon zuvor und
existiert weiter in dem Tal, in dem sich einst die Hirten von den um-
liegenden Hügeln versammelten. Besser als durch sein Beispiel könnte
ich nicht definieren, was ich unter einem städtebaulichen Phänomen
verstehe, das Geschichte und Erfindung in sich vereint. Denn das
Forum erteilt uns eine der nachdrücklichsten Lehren darüber, was
Architektur ist.
Es ist dabei notwendig, hier zwischen dem Begriff des Standorts im
Sinne des antiken >>locus« und dem Begriff des Milieus zu unterschei-
den, wie er im Zusammenhang mit Architektur und Stadtplanung
zumeist gebraucht wird. Bei meinem Versuch, die Bedeutung des Stand-
orts zu analysieren, habe ich mich bemüht, ein komplexes Phänomen
so rational wie möglich zu definieren, und bin dabei so vorgegangen
wie ein Naturwissenschaftler, der die komplexe Welt der Materie und
ihrer Gesetze klären will. Über den psychologischen Wert dieser
Analyse habe ich schon zuvor gesprochen.
Jedenfalls hat der Standort in dem von mir definierten Sinn keinerlei
Berührungspunkte mit dem Begriff des Milieus, das den Begriffen der
Illusion und des Illusorischen merkwürdig nahesteht. Redensarten
wie » man hatte das Gefühl, ins Mittelalter versetzt zu sein« sind dafür
bezeichnend. Diese Auffassung von Milieu hat nichts mit Architektur
zu tun, sie versteht das Milieu vielmehr als eine Bühne und fordert
infolgedessen die Erhaltung von dessen Funktionen, weil sie d!lvon
ausgeht, daß nur sie die Form erhalten. Statt dessen lähmen diese
künstlich erhaltenen Funktionen das Leben und wirken so deprimie-
rend wie alle Vortäuschungen vom Bestehen einer entschwundenen
Welt, die nur den Zwecken des Fremdenverkehrs dienen. Nicht von
ungefähr wird dieser Begriff des Milieus häufig von denen verwendet
oder empfohlen, die glauben, sie könnten eine Altstadt dadurch erhal-
ten, daß sie die alten Fassaden konservieren oder sich bei deren Wieder-
aufbau an die früheren Umrißlinien, Farben usw. halten. Das Ergeb-
nis eines solchen Verfahrens ist, wenn es sich überhaupt durchführen

107

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 107 10.08.2015 09:42:09


läßt, eine leere, oft sogar abstoßende Bühne. Eines der widerwärtigsten
Beispiele dafür ist der Wiederaufbau eines kleines Teiles der Frank-
furter Altstadt unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, bei dem
man sich unter Verwendung von pseudo-modernen oder alter-
tümlichen Bauformen an die Abmessungen der gotischen Baukörper
hielt. Von dem Eindruck oder der Illusion, die durch solche Bau-
maßnahmen entstehen sollten, ist in \'Virklichkeit nichts zu spüren.
Unter Baudenkmal kann man in einem weiteren Sinn aber auch eine
Straße, ein Stadtviertel, ein Dorf verstehen. Wenn man es auf Kon-
servierung abgesehen hat, muß man deren Gesamtheit erhalten, wie es
die Deutschen in Quedlinburg getan haben. Auch wenn es einiger-
maßen bedrückend sein muß, in einer solchen Stadt zu leben, läßt sich
dieses Verfahren dort insofern rechtfertigen, als dadurch ein
eindrucksvolles ::Vluseum der Gotik und das heißt eines wichtigen
Teiles der deutschen Geschichte entstand. Eine vergleichbare Erschei-
nung stellt V encdig dar. Indessen möchte ich mich hier nicht auf die
detaillierte Untersuchung einlassen, die für Venedig wie für alle ähn-
lich gelagerten Fälle notwendig wäre, um zu schlüssigen Ergebnissen
zu kommen, sondern möchte noch einmal auf das Forum Romanum
zurückkommen.
Im Juli 1811 unterbreitete de Tournon dem französischen Innen-
minister, Comte de 1\Iontalivet, seine Vorstellungen für eine Instand-
setzung des Forums: >>Restaurierung der antiken Baudenkmäler.
Wenn man auf dieses Thema zu sprechen kommt, denkt man zu-
allererst an das Forum, den berühmten Platz, auf dem sich derartige
Baudenkmäler geradezu häufen und hochfliegende Erinnerungen
hervorrufen. Die Restaurierung dieser Baudenkmäler besteht vor
allem darin, daß man ihren unteren Teil aus der sie bedeckenden Erde
ausgräbt, ihren Zusammenhang untereinander wiederherstellt und
schließlich bequeme und angenehme Zugangswege zu ihnen anlegt ...
Der zweite Teil des Projekts sieht eine V crbindung zwischen den ein-
zelnen Bauwerken durch eine abwechslungsreiche Promenade vor.
Ein Plan dafür, auf den ich mich beziehen möchte, ist nach meinen
Angaben und unter meiner Aufsicht gezeichnet worden ... Schließ-
lichßarf ich noch darauf hinv.:eisen, daß der Palatin, der mit den herr-
lichen Ruinen seiner Kaiserpaläste ein riesiges Museum darstellt, un-
bedingt in den anzulegenden Park einbezogen werden sollte. Denn
dieser Park würde durch die Bamlenkmäler, die er enthielte, und
durch die Fülle seiner Erinnerungsstätten gewiß etwas in der Welt
Einmaliges sein.«23
Tournons Idee, die der Planung des Parks vermutlich einen großen
Teil der Baudenkmäler geopfert und uns dadurch eines hervorragen-

23 Castagnoli usw., a. a. 0., S. 537.

108

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 108 10.08.2015 09:42:11


den architektonischen Anschauungsmaterials beraubt hätte, wurde
nicht verwirklicht. Aber seit die Archäologie Tournons Vorstellungen
übernommen hat, ist die Einbeziehung der Foren in die moderne
Stadt zu einem wichtigen städtebaulichen Problern geworden. Ihre
Grundvoraussetz11ng ist nämlich, daß man sich bei der Erforschung des
Forums nicht mehr auf die Untersuchung seiner einzelnen Baudenk-
mäler beschränkt, sondern das Forum als ein städtebauliches Ganzes,
als konkreten Ausdruck des kontinuierlichen Fortbesteliens der Stadt
Rom behandelt. Bezeichnenderweise wurde diese I(lee von der Repu-
blik l'tom 1849 aufgenommen und weiterentwickelt. Denn auch diese
Revolution fand eine unmittelbare Beziehung zur Antike und knüpfte
damit an die Vorstellungen der Pariser l'tevolutionsarchitekten an.
Doch erwies sich der Gedanke, die römischen Foren dem Publikum
zu erschließen, als so lebendig und unabhängig von seinem politischen
Kontext, daß auch die Restauration unter Pius IX. ihn nicht wieder
fallenließ.
Wenn wir uns aus heutiger architektonischer Sicht erneut mit diesem
Problern beschäftigen, so spricht vieles für die Vorschläge von Archäo-
logen des letzten Jahrhunderts, die <las Forum Romanurn rekonstruie-
ren, mit dem Forum Augusti und den trajanischen Märkten verbinden
und den ganzen riesigen Komplex einer neuen Nutzung zuführen
wollten. In unserem speziellen Zusammenhang wollen wir es indessen
mit dem Hinweis darauf bewenden lassen, daß dieser gesamte Bau-
komplex mit seinem Denkmalscharakter heute ein Bestandteil der
modernen Stadt ist, der als Inbegriff von Rom ein einzigartiges stiidte-
bauliches Phänomen darstellt.
Auch wenn - wie das in Zukunft durchaus geshehen könnte - der
lVIarkusplatz mit dem Dogenpalast als einzige Zeugnisse des alten
Venedig in einer vollkommen gewandelten Stadt iibrigblieben, würde
uns ihr Anblick nicht weniger ergreifen, weil sie uns als bauliches
Zentrum des alten Venedig immer noch unmittelbar an dessen Ge-
schichte teilnehmen ließen. Eine Erfahrung dieser Art machte ich in
den Nachkriegsjahren mit dem Kölner Dom inmitten der zerstörten
Stadt. Nichts hätte für die Phantasie dieselbe Bedeutung haben
können wie dieses von Ruinen umgebene beinahe unversehrte Bau-
werk. Auch wenn der vViecleraufbau der Stadt ringsum in seiner
Beliebigkeit und Häßlichkeit gewiß bedauerlich ist, so hat auch er dem
Dom als Bauwerk ebensowenig anhaben können wie ihre schlechte
Darbietung den Objekten vieler moderner Museen, auch wenn wir das
eine wie das andere als irritierend empfinden. Dabei soll dieserVer-
gleich nur zwei Punkte hervorheben: daß nicht die Umgebung und
ihre möglicherweise illusionistische vVirkung zum Verstämlnis eines
Bauelenkmals und seiner Bedeutung in einem städtebanliehen Zu-
sammenhang beiträgt, sondern daß es gcra<lc <Iurch den Gegensatz zu

109

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 109 10.08.2015 09:42:11


anderen städtebaulichen Tatbeständen durch seine Einzigartigkeit
einen Sinn innerhalb einer Stadtarchitektur erhält. Beispielhaft für
diesen Sachverhalt erscheint mir die römische Stadtplanung des
Papstes Sixtus V. Hier wurden rlie Basiliken zu Angelpunkten der
Stadt, zu deren komplexer Struktur dann noch die Verbindungsstraßen
zwischen den einzelnen Kirchen und die Wohngebiete innerhalb dieses
Gesamtsystems hinzukamen. Bei Fontana heißt es über die Grundidee
dieser Stadtplanung: >>In der Absicht, denen den Zugang zu erleich-
tern, die aus Gründen der Frömmigkeit oder besonderer Gelübde die
heiligsten Stätten Roms und insbesondere die sieben Kirchen zu be-
suchen pflegen, die wegen ihrer Ablässe und Reliquien so berühmt
sind, hat Cnser Herr vielerorts Straßen durchbrechen lassen, die so
breit und gerarle sind, daß jedermann von jedem beliebigen Punkt der
Stadt aus zu Fuß, zu Pferd oder im 'Vagen beinahe geradewegs zu den
berühmtesten Andachtsstätten gelangen kann2 4 .«
Siegfried Giedion war vielleicht der erste, der die Bedeutung dieses
Planesinneuerer Zeit wiedererkannt hat, wenn er schreibt: >>Es war
nicht nur ein papierener Plan. Sixtus V. hatte sozusagen Rom in seinen
Knochen. Er selbst ging die Straßen entlang, die die Pilger begehen
mußten, und kannte deswegen die Distanzen zwischen Punkten, und
als er im 1\lärz 1588 die neue Straße vom Colosseum zum Lateran er-
öffnete, ging er mit seinen Kardinälen zu Fuß den ganzen vVeg zu dem
im Bau stehenden Lateranpalast ... Sixtus V. breitete seine Straßen
organisch aus, wo immer die topographische Struktur Roms es möglich
machte. Auch war er weise genug, um mit Umsicht alles, was möglich
war, von dem Werk seiner Vorgänger miteinzubeziehen ... Vor seinen
eigenen Bauten, dem Lateran und Quirinal, und wo immer seine
Straßen zusammenkamen, sorgte Sixtus V. für genügend freien Platz
für eine spätere Entwicklung ... Indem er den Platz um die antoni-
nische Säule säuberte und die Umrisse der Piazza Colonna vorzeichnete
(1588), schuf er das heutige Zentrum der Stadt. Die Trajanssäule beim
Colosseum mit der Erweiterung des sie umgebenden Platzes war ein
Bindeglied zwischen der alten und der neuen Stadt. Wie ein J\lann mit
einer Wünschelrute verteilte Sixtus V. seine Obelisken auf Punkte,
wo während der kommenden Jahrhunderte die schönsten Plätze ent-
standen. Von all seinen Unternehmen galt während mehr als einem
Jahrhunclert die Niederlegung, der Transport und die vViederaufrich-
tung cles Obelisken vor St. Peter (1585-1586) als das sensationellste ...
Der letzte der vier Obelisken, die Sixtus V. aufstellte, erhielt den
schönsten Standplatz. Er steht am Nordende von Rom, am Schnitt-
punkt von drei Hauptstraßen (sowie der projektierten, aber nie aus-
geführten Verlängerung der Strada Felice). Zwei Jahrhunderte später

24 Domenico Fontana a. a. 0.

110

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 110 10.08.2015 09:42:13


kristallisierte sich die Piaz7.a del Popolo an dieser Stelle. Der einzige
Obelisk, der eine ebenso dominierende Stellung erhielt, ist jener an der
Place de la Concorde in Paris, 1836 aufgestellt.«25
Mit diesen Ausfiihrungen über das städtebauliche \Virken Sixtus V.
weist Giedion auf eine Reihe von Dingen hin, die für die Stadtplanung
im allgemeinen von Wichtigkeit sind. Denn obwohl - oder vielleicht
gerade weil- die Planung Sixtus V. revolutionär ·war, bezog sie bereits
vorhandene Elemente der Stadt verständnisvoll ein und schuf damit
eine Einheitlichkeit der Stadtarchitektur, wie sie l"\om selbst in der
Antike nicht gekannt hatte. Das neue Straßensystem war von zugleich
praktischer und ideeller Bedeutung, und die Aufstellung der Obeliske
schuf Kristallisationspunkte für eine spätere Bebauung. Dabei blieben
die Gestalt der Baudenkmäler (auf die Umwandlung des Kolosseums in
Spinnereiwerkstätten haben wir schon hingewiesen) und die topogra-
phische Gestalt in einem sich wandelnden System erhalten. Vergan-
genheit und Zukunft waren in diese Planung miteinbezogen. Daß ich
dieses Beispiel der Vergangenheit entnehme, spielt dabei keine Rolle.
Denn ich habe von vornherein betont, daß ich jede Stadt als Artefakt
betrachte und dabei keinen Unterschied zwischen alten und neuen
Städten mache. Im übrigen gibt es kaum Städte, die nur eine moderne
und keine ältere Bausubstanz haben, und die wenigen, auf die das
nicht zutrifft, können keinesfalls als typisch gelten, weil die Perma-
nenz zu den wichtigsten ·Merkmalen der Stadt gehört.
Diese Kontinuität der Stadt erweist sich aber nur dann als auf einem
logischen Prinzip beruhend, wenn man davon ausgeht, daß ihre Keim-
zelle spätere Baudenkmäler im weitesten Sinn des Wortes sind. Diese
Auffassung wurde von der Aufklärung geteilt, während sie von allen
jenen abgelehnt wird, die den Fortschritt als zerstörerisch für eine
Stadt ansehen. Beispielhaft dafür ist Fichtes Parteinahme für die go-
tische Stadt und ihren volkhaften Charakter, die im Kern bereits
Spenglers reaktionäre Kritik an dem fatalen Charakter der Stadt ent-
hält. Ohne näher auf diese Theorien und Anschauungen über die Stadt
eingehen zu wollen, möchte ich doch darauf hinweisen, daß in diesen
Konzeptionen das formale Element einer Stadt keine Rolle spielt und
daß deren späteren Vertreter mehr oder minder bewußt dem auf-
klärerischen Gehalt der Planung feindlich gegenüberstehen.
Auch an den romantischen Sozialisten und ihren verschiedenartigen
V ersuchen mit sich selbst genügenden Städten und Phalanstcres ist
aus meiner Sicht der Stadt Kritik zu üben. Denn sie gehen davon aus,
daß die moderne Gesellschaft weder sie transzendierende noch über-
haupt gemeinsame, sie repräsentierendeWerte zum Ausdruck bringen
könne, und kommen von diesem Ausgangspunkt zu einer Reduktion

25 Siegfried Giedon, R.aum, Zeit, Architektur, R.avensburg 1965, S. 83-87.

111

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 111 10.08.2015 09:42:13


<ler Stadt auf ihre rein funktionellen Nutzwerte. Ihre >>moderne«
Alternative Y.n den früheren Städten ist deshalb eine Stadt, die ledig-
lich aus "\Vohngebieten und Dienstleistungsbetrieben besteht. Nach
einer wirklich progressiven Auffassung stellen hingegen, weil es sich
bei der Stadt um ein Kollektivphänomen handelt, gerade Bauwerke
von ausgesprochen kollektivem Charakter ihre wichtigsten Bezugs-
punkte dar. Denn diese Banwerke sind zwar ursprünglich der Anlaß
zur Stadtgründung, werden aber durch ihre Schönheit, die sowohl
auf den Gesetzen der Architektur als auf ihrer Bedeutung für die
Gerneinschaft beruht, alsbald zu den wichtigsten Strukturelementen
der Stadt.

6. Baudenkmäler und Milieu

Aus unseren bisherigen Überlegungen zum Standort geht hervor, daß


die Untersuchung der Rolle, die er in der gesamten Architektur-
geschichte gespielt hat, ebenso wie die Untersuchung seiner Beziehung
zur Planung Ergebnisse von entscheidender "Wichtigkeit zeitigen
wird. Denn nur so ließe sich der scheinbare Widerspruch zwischen der
Planung als einem rationalen Prinzip und den naturgegebenen Vor-
aussetzungen des Standortes, die zu einem Bestandteil der Architektur
werden, auflösen. Auf jeden Fall aber steht die Individualität eines
Bauwerkes im Zusammenhang mit dieser Beziehung zwischen Stand-
ort und Planung. Dabei haben wir gesehen, daß der Begriff des
>>Milieus« so, wie er zumeist verstanden wird, nur verunklärend wirkt.
Ihm haben wir den Begriff des Baudenkmals gegenübergestellt, das
historisch determiniert und in seiner Realität zu analysieren ist. Wenn
wir uns selber vornehmen, »Baudenkmäler<< zu errichten, können wir
das nur durch eine stilistisch definierbare Architektur. Denn der
Baustil kennzeichnet die konkreten städtebaulichen Phänomene und
ermöglicht dadurch jene Entscheidungen, die zu einer Stadterweiterung
führen. Unter diesem Aspekt stellt sich Architektur als eine Technik dar.
Fragen der Technik aber sollte man, wenn man sich mit Fragen der
Stadtplanung beschäftigt, keinesfalls unterschätzen. Denn der Begriff
des Stadtbildes vvird nur zu bald zur Leerformel, wenn er nicht durch
die Architektur, die dieses Bild entstehen läßt, konkretisiert wird. Stadt
erweist sich deshalb letztlich als Architektur, die es mehr als alle an-
deren Künste mit der Gestaltung der Materie aufgrund formaler
Gesetze zu tun hat.
Wir haben bereits gesehen, daß die Beziehung zwischen Ereignissen
und deren Zeichen für die Stadt eine Rolle spielt. Diese Beziehung
kennzeichnet die Entstehung der gesamten Stadtgestalt, für die die
einzelnen Baudenkmäler insofern exemplarischen Charakter haben,

112

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 112 10.08.2015 09:42:15


als sie durch das zeitliche Nacheinander ihres Entstehens, das sich in
ihrer Individualibit ausdrückt, Zeichen historischer Ereignisse sind.
Es ist deshalb ein Irrtum zu glauben, kompositorische Probleme der
Architektur ließen sich durch die Suche oder die Entdeckung eines
neuen Milieus oder durch die Anwendung größerer :\laßstäbe lösen.
Denn solche Vorstellungen erweisen sich als sinnlos angesichts der
Tatsache, daß dieses 1Vlilien ja erst durch die Architektur geschaffen
wird und die Einwurzelung eines Bauwerkes in seinen Standort und
dessen Geschichte ohne bereits vorhandene Bauwerke gar nicht mög-
lich ist.
Ich neige deshalb der Auffassung zu, daß das wichtigste Merkmal
eines Bauwerks seine Technik ist; damit sind die autonomen Prinzi-
pien gemeint, nach denen es entsteht und besteht. vVir sprechen von
der Technik, vermittels deren jeder Architekt seine Idee bei der
Begegnung mit der ·Wirklichkeit konkretisiert, was selbstverständlich
immer auch eine Begrenzung beinhaltet.
Die Technik als logisches Prinzip der Architektur macht es indessen
auch möglich, daß Architektur Mitteilungswert hat und gefallen
kann. Mit dieser Tatsache setzt sich Durand auseinander, wenn er in
der »Partie graphique des Cours d' Architecture faits a l'Ecole R.oyale
Polytechnique« 1821 schreibt: >>Es liegt uns völlig fern anzunehmen,
Architektur könne nicht gefallen. Vielmehr behaupten wir, daß sie
notwendigerweise gefallen muß, wenn sie wahren Prinzipien gemäß
behandelt winl ... Denn wie wäre es möglich, <laß eine Kunst wie
die Architektur, die eine so große Anzahl unserer Bedürfnisse un-
mittelbar befriedigt ... , uns nicht gefallen könnte?«
Diese Auffassung von Architektur führt zu einer l~eihe von Folge-
rungen, die auch für die Planung neuer Städte wie Palmanova und
Brasilia gelten. Derartige Stadtplanungen können nämlich, da ihre
Gestaltung unabhängig und eigenstämlig ist, als Architektur betrach-
tet werden. Denn bei ihnen handelt es sich um präzise Entwürfe mit
einer eigenen Geschichte, die einen Teil der Architekturgeschichte
bilden. Sie wurden aufgrund einer Technik im Sinne eines Stils nach
bestimmten Prinzipien und entsprechend einer allgemeinen Vorstel-
lung von c\rchitektur konzipiert. Auf diese Prinzipien und Vorstellun-
gen können wir hier nicht näher eingehen. Es sei lediglich darauf hin-
gewiesen, daß nur sie es möglich machen, daß uns Kriterien zur
Beurteilung dieser Städte zur Verfügung stehen, auch wenn es sich
inzwischen um Städte mit einer eigenen Inrlividualität und einem
eigenen Schicksal handelt. Der architektonische Tatbestand ist nur
die \' oraussetzung für rliese Individualität. Aber gerade darin erweist
sich die Wichtigkeit des kompositorischen Prozesses und seiner eigen-
ständigen Logik, die es uns erlaubt, in rler Architektur eines der
Grundprinzipien einer Stadt zu sehen.

113

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 113 10.08.2015 09:42:15


7. Stadt als Geschichte

Die Geschichtsträchtigkeit der Stadt als eines konkreten Faktums läßt


die historische Methode besonders geeignet erscheinen, um je1lP Hypo-
these über die Stadt zu überprüfen. Dabei kann man auf zweierlei
Arten vorgehen. Einmal kann man die Stadt als etwas :Materielles, ein
künstliches Gebilde betrachten, das im Lauf der Zeit gebaut wurde
und in dem sich die Spuren dieser Zeit, wenn auch auf diskontinuier-
liche 'V eise, erhalten haben. Archäologie, Architekturgeschichte und
stadtgeschichtliches Quellenmaterial können zu dieser Sicht der
Stadt wichtige Beiträge leisten. Denn - darauf haben wir immer wie-
der hingewiesen und uns dabei auf die Theorie der Permanenz von
Poete und Lavedan berufen - eine Stadt ist auch in ihrem architek-
tonischen Bestand ein geschichtliches Phänomen. Eine ernstzuneh-
mende Untersuchung dieses architektonischen Bestandes kann deshalb
nicht davon absehen, daß das historische Element für dessen Verständ-
nis eine ausschlaggebende Rolle spielt.
Diese Sicht der Stadt wird durch eine Betrachtungsweise ergänzt, die
sich nicht nur mit deren materiellen Struktur, sondern mit der Idee
der Stadt als einer Synthese aller ihrer Qualitäten beschäftigt. Wir
haben es hierbei mit einem Phänomen der Kollektivimagination zu tun.
In diesem Sinne gibt es eine Stadtidee von Athen, Rom, Konstanti-
nopel oder Paris, die mehr ist als die physische Gestalt oder die histo-
rische Permanenz dieser Städte.
Beide Betrachtungsweisen der Stadt gehen jedenfalls davon aus, daß
die Kontinuität ein entscheidendes Merkmal der Stadt ist, auf dem alle
ihre Entwicklungsprozesse beruhen. Bezeichnenderweise spricht der
positivistische Historiker Carlo Cattaneo in seinem 1858 erschienenen
Aufsatz »La citta« 26 davon, daß jede Stadt Elemente enthalte, die nur
durch historische Begriffe zu definieren seien. Auch in seinem großen
Werk »La citta considerata come principio delle istorie italiane«
schreibt er, die führende Rolle, die Mailand nach dem Zerfall des
Römischen Reiches unter den lombardischen Städten spielte, sei weder
durch die Größe der Stadt noch durch ihren Reichtum oder andere
derartige Faktoren zu erklären. Vielmehr sei der Grund für die
Führungsrolle der Stadt in einer Art typologischem Merkmal zu
suchen. »>hre Bedeutung war der Stadt eingeboren. Sie beruhte auf
einer Tradition, die älter war als die ambrosianische Kirche, älter als
das Papsttum, das römische Reich und die Eroberung durch die Römer:
Mediolanum Gallorum Caput2 7 .«
26 Carlo Cattaneo, La citta, in: Crepuscolo del Tenca, 1858, Neuauflage
Mailand 1949.
27 Ders.: La citta considerata come principio delle istorie italiane, Neu-
auflage Florenz 1931.

114

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 114 10.08.2015 09:42:16


Dieses beinahe mystische Prinzip erweist sich als eine historische Kraft,
die sich selbst in den Zeiten schlimmsten Verfalls bewährte. Denn
auch in der Spätantike zeigte sich, daß >>die Leichname halbverfallener
Städte« Italiens nicht wirklich tot waren, sondern, wie auch später in
Kriegs- und Besatzungszeiten, die clie Stadtfreiheit bedrohten, die
Kraft zur Regeneration, selbst nach vollkommener Zerstörung, aus
ihrem Standort zogen. Denn »die Stadt bildete mit ihrem Territorium
eine unauflösliche Einheit<<. Die sich daraus ergebende Bedeutung und
Permanenz stellen ein nicht weiter reduzierbares Prinzip dar. »Die
Fremden staunen, wenn sie bei den italienischen Städten derselben
Kraft zum Überleben von Angriffen begegnen, über die sie sich bei
Königreichen nicht verwundern. Denn der militante und königliche
Charakter dieser Städte ist ihnen unverständlich. Daß Mailands :\lacht
und noch mehr sein Ehrgeiz den Grund dafür darstellte, daß es rings-
um von Feinden umgeben war, beweist die Tatsache, daß viele der
ihm zuvor feindlich gesonnenen Städte, als Mailand überwältigt und
zerstört war, nicht mehr glaubten, die Stadt fürchten zu müssen, und
sich deshalb zusammentaten, um ihr bei ihrem Wiederaufbau zu
helfen.<<
Dieses von Cattaneo erwähnte Lebensprinzip der Städte hängt meines
Erachtens mit deren Baudenkmälern und der Rolle, die sie für die
Individualität einer Stadt spielen, zusammen. Daß auch Cattaneo
selbst diesen Zusammenhang zwischen diesem Lebensprinzip der
Städte und ihrer Gestalt sah, geht aus seinen Schriften über den
lombardischen Stil und aus dem Anfang seiner Beschreibung der
Lombardei hervor, wo er das jahrhundertelang bebaute und fruchtbar
gemachte Land zum wichtigsten Zeugnis der Kultur erklärt. Wie man
an seiner Stellungnahme zu dem Streit um den Mailänder Domplatz
erkennt, konnte seine auf der Eigenständigkeit der lombardischen
Kultur beruhende föderalistische Einstellung aber keine überzeugende
Lösung für die zahlreichen Probleme bieten, die sich aus dem Streit
darüber ergaben, welche Rolle die Städte im geeinten Italien spielen
sollten. Denn wenn ihn seine föderalistische Einstellung auch vor
nationalistischem Schwadronieren bewahrte, so verkannte er doch,
wie sehr sich die allgemeine Situation gewandelt hatte und daß der
Elan der Aufklärung und des Positivismus, der die Städte bis dahin
beseelt hatte, nunmehr erlosch.
Gewiß hing diese Krise nicht nur mit der Einigung Italiens zusammen,
ganz abgesehen davon, daß gerade die Ideen Cattaneos und die stäche-
baulichen Vorstellungen des Architekten Camillo Boito den Städten
einen neuen Sinn hätten geben können. Was dieser Krise eigentlich
zugrunde lag, geht deutlicher aus der Diskussion darüber hervor, ob
nach der Einigung Italiens Rom die Hauptstadt des Königreiches wer-
den sollte. Unter den Aufzeichnungen von Antonio Gramsei gibt es

115

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 115 10.08.2015 09:42:17


eine Notiz, der in diesem Zusammenhang besondere llecleutung zu-
kommt: >>Als Theodor :\1ommsen fragte, mit welcher Lniversalitlce
Italien nach Hom gehe, antwortete ihm Quintino Sella: ,:Mit <lcr der
vVissenschaft.' Diese ,\nt,,ort Seilas ist bezeichnend, denn zu jener
Zeit stellte die VVissenschaft die neue , Universalidee' und die Grund-
lage für eine neue Kultur rlar. Aber Rom wurde nicht die Stadt der
vVisscnschaft, dazu hätte es eines großen Industrialisierungsprogramms
bedurft, zu dem es niemals kam.« 28 Obgleich grundsätzlich richtig,
blieb Seilas Antwortdeshalbreine Rhetorik. Die Industrialisierung Roms
hätte nämlich vorausgesetzt, daß man frei von der Furcht gewesen
wäre, damit in der Hauptstadt eine Arbeiterklasse entstehen zu
lassen, selbstbewußt und bereit, in die Entwicklung der nationalen
Politik einzugreifen.
Gleichwohl bleibt die Diskussion darüber, ob Rom italienische Haupt-
stadt werden sollte, auch heute für uns noch interessant, weil viele
Wissenschaftler und Politiker aller Richtungen sich an ihr mit Über-
legungen dazu beteiligten, an welche Tradition man in Rom anknüp-
fen und wie der italienische Staat aussehen solle, der durch die Tradi-
tion seiner Hauptstadt geprägt würde. Soviel bloße Rhetorik und
Pateienhader diese Diskussion auch enthielt, könnte ihre gerraue
Untersuchung doch einen wichtigen Beitrag zu der Frage nach der
Stärke einer Stadtidee in einer konkreten historischen Situation dar-
stellen. Dieser Beitrag wäre auch in Hinblick auf gewisse städtebau-
liche l\Iaßnahmen wichtig, die Rom modernisieren und eine Beziehung
zwischen seiner Vergangenheit und seinem Bild als einer der großen
europäischen Hauptstädte herstellen wollen. Die Erörterung dieser
Probleme als bloßes nationalistisches Geschwätz abtun hieße übersehen,
daß die Rhetorik, die in dieser Diskussion zweifellos auch im Spiele war,
nur eine Randerscheinung eines wichtigen Prozesses darstellt, der im
übrigen typisch für viele Länder und Zeiten ist. Statt dessen sollte man
lieber überlegen, wie sich die römische Stadtstruktur mit einem Haupt-
stadtmodell in Einklang bringen läßt, das bekanntlich innerhalb und
zum Teil auch außerhalb Europas Paris heißt. Dieser Einfluß, den
Paris ausgeübt hat, ist so stark, daß man viele moderne Hauptstädte,
aber auch sonstige Großstädte wie Berlin, Barcelona, Madrid und
Rom, ohne ihn nicht verstehen kann. Dabei handelt es sich wieder-
um um die Beziehung zwischen den Strukturelementen einer Stadt
und einem l\1odell oder Schema. Diese Beziehung, die in einem engen
Zusammenhang mit der historisch-politischen Entwicklung steht, kann
indessen nur geklärt werden, wenn man sich mit den konkreten
Ereignissen beschäftigt, aus denen sie entstanden ist.
28Antonio Gramsci, Il Risorgimento, Turin 1953, S. 160, s. a. Albert
Caracciolo, Roma capitale del Risorgimento, Rom 19 56; Italo Insolera,
Roma moderna, Turin 1962.

116

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 116 10.08.2015 09:42:19


8. Das Kollektivgcdiichtnis

Das verweist uns noch einmal zurück auf unser Hauptthema, das Ver-
ständnis der Stadtarchitektur als Gestalt der Stadtstruktur und damit
als entscheidendes und unterscheidendes Merkmal der Stadt. Maurice
Halbwachs schreibt: >>Eine Gruppe, die in einem bestimmten räum-
lichen Bereich lebt, formt ihn nach ihrem eigenen Bild um; gleich-
zeitig aber beugt sie sich und paßt sich denjenigen materiellen Dingen
an, die ihr Widerstand leisten. Sie schließt sich in den Rahmen ein,
den sie aufgestellt hat. Das Bild des äußeren Milieus und der dauer-
haften Beziehungen, die sie mit ihm unterhält, tritt in den Vorder-
grund der Vorstellung, die sie sich von sich selber macht.<< 29 Diese
These von Halbwachs möchte ich dahingehend erweitern, daß rlie
Stadt selbst das Kollektivgedächtnis der Völker ist, und wie clas
Gedächtnis an Tatbestände und Orte gebunden ist, so ist die Stadt der
Ort des Kollektivgeclächtnisses, dessen Ausdruck Architektur und
Landschaft sind. Und wie zum Gedächtnis immer neue Elemente
hinzutreten, so verwachsen auch ständig neue Tatbestände mit der
Stadt. In diesem durchaus positiven Sinn schlagen sich die großen
Ideen in der Stadt unrl ihrer Geschichte nieder und prägen so ihr Bild.
Deshalb halten wir auch den Standort für ein wesentliches !\Ierkmal
der Stadt und ihrer Teile. Zusammen mit der Architektur, der Per-
manenz und der Geschichte kennzeichnet er insofern die komplexe
Struktur einer Stadt, als seine materiellen Gegebenheiten der V er-
änderung durch die Gemeinschaft und das Kollektivgedächtnis
widerstehen. In diesem Sinn wird das Gedächtnis zum Leitfaden durch
die gesamte komplexe Stadtstruktur. Stadtarchitektur ist dann inso-
fern etwas von der Kunst Unabhängiges, als auch die bedeuten<lsten
Baudenkmäler in erster Linie Bestandteile der Stadt sind.
Dazu schreibt J acoh Burckhardt: »Es erhebt sich die Frage: vVie
spricht die Geschichte durch die Kunst? Es geschieht dies vor allem
durch das Baulich-Monumentale, welches der willentliche Ausdruck
der Macht ist, sei es im Namen des Staates oder dem der Religion.
Aber man kann sich mit einem Stonehenge begnügen, wenn nicht in
dem betreffenden Volke das Bedürfnis vorhanden ist, in Formen zu
sprechen ... So spricht der Charakter ganzer Nationen, Kulturen und
Zeiten ausihrem Gesamtbauwesen als der äußeren Hülle des Daseins.« 30
Aus alledem dürfen wir schließlich folgern, daß die eigentliche Inten-
tion der Stadt in ihr selbst beschlossen ist, insofern sie nach und nach
eine bestimmte Stadtidee entwickelt. An dieser Entwicklung der
Stadtidee sind auch einzelne Imlivi<luen beteiligt. Deshalb ist nicht

29 Maurice Halbwachs, Das lwllektive Gedächtnis, Stuttgart 1967, S. 129.


30 A. a. 0. S. 59f.

117

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 117 10.08.2015 09:42:19


jedes ihrer Phänomene kollektiven Ursprungs. Gleichwohl ist die
Struktur der Stadt in ihrer Individualität kollektiver Natur und das
Kollektivgedächtnis ist ihr Bewußtsein, das in ihrer Architektur auf
rationale Weise mit größter Klarheit, Sparsamkeit und Harmonie
Gestalt gewinnt. Diese Gestaltwerdung und ihr Verständnis sind von
kulturellen und Zeitumständen abhängig. Nur das erklärt, weshalb
weitgehend gemeinsame architektonische Voraussetzungen zu Stadt-
individualitäten führen, die sich so stark unterscheiden wie zum Bei-
spiel die Städte der Toscana von denen Andalusiens. Das Kollektiv-
gedächtnis als Beziehung der städtischen Gemeinschaft zur Idee der
Stadt und zu ihrem Standort stellt, da es der Stadt und ihren einzelnen
Faktoren Gestalt verleiht, sich selbst aber durch die Konfrontation mit
der Wirklichkeit ständig wandelt, den Zusammenhang zwischen den
städtebaulichen Tatbeständen zugrundeliegenden Ereignissen und
seiner ständig im Werden begriffenen Zukunft her.

9. Athen

»Doch die attischen Geschichtsschreiber, die ihrem Lande eine Kö-


nigsliste geben wollten, ließen im Erichthonios, dem zweiten Ur-
Athener, mit der seltsamen Geburtsgeschichte, die man aus den
Erzählungen um die Göttin Athena kennt, gleichsam den zweiten
Kekrops wiedererstehen ... Er soll auch das ... Heiligtum der Athena
Polias erbaut, die Holzstatue der Göttin darin aufgestellt haben und
ebendort begraben sein . . . Es erscheint . . . so, daß sein sprechender
Name, der betonterweise einen Chthonios, ein Wesen aus dem unter-
irdischen Bereich, meint, ursprünglich keinen Herrscher und König
hier oben, in unserer Welt, sondern das geheimnisvolle Kind bezeich-
nen wollte, das in manchen Mysterien verehrt und in selten erzählten
Geschichten erwähnt wurde ... Nach seinem Urwesen nannten sich
die Athener Kekropiden, nach diesem ihrem König und Heros
Erechtheiden. << 31
Es mag seltsam anmuten, daß dieses der Geschichte gewidmete
Kapitel mit der Erwähnung eines Mythos endet, auch wenn dieser
Mythos die Stadt betrifft, die wir nicht länger mit Schweigen über-
gehen können: Athen. Denn Athen in seinem Übergang von Natur zu
Kultur, wie er sich in seiner Tempel-Architektur und dem ihr entspre-
chenden Mythos darstellt, ist die älteste Stadt, deren Stadtidee für die
Wissenschaft faßbar wird. Das Bewußtsein der Stadt reicht deshalb
bis ins alte Griechenland zurück, wo das Werden der Stadt sich mit der
Entwicklung des Denkens deckt und die Imagination zu Geschichte

31 Karl Kerenyi, Die Heroen der Griechen, Zürich 1958, S. 231 f.

118

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 118 10.08.2015 09:42:21


und Erfahrung wird. Die Stadt als eine konkrete Individualität, die
wir analysieren können, ist deshalb griechischen Ursprungs. Wenn
Rom allgemeine städtebauliche Prinzipien entwickelt und in der
gesamten römischen Weltaufgrund logischer Prinzipien Städte gebaut
hat, so entdecken wir in Griechenland die Grundlagen für die Stadt-
werdung. Griechisch ist auch das Schönheitsideal, dem die römischen,
arabischen, gotischen und modernen Städte bewußt nacheifern, ohne
es jemals auch nur annäherungsweise zu erreichen. Denn die histo-
rischen Umstände, auf denen alle kollektiven und individuellen Ele-
mente ebenso wie die ästhetischen Bestrebungen der griechischen
Stadt beruhten, sind unwiederholbar.
Die Realisierung der griechischen Kunst und der griechischen Stadt
setzt den Mythos und die Beziehung des Mythos zur Natur voraus.
Diese Analogie zwischen der griechischen Stadt und der Beziehung
des Mythos zur Natur sollte bei allen Stadtstaaten der griechischen
Welt untersucht werden. Dabei sollten derartige Untersuchungen von
der erstaunlichen Einsicht ausgehen, mit der Karl Marx in seiner >>Ein-
leitung zur Kritik der Politischen Ökonomie« (1857) von der griechi-
schen Kunst als dem Kindheitsstadium der Menschheit spricht, wobei
er Griechenland als ein normales menschliches Kindheitsstadium
bezeichnet, dem er die sich selbst entfremdete Kindheit anderer Kul-
turen gegenüberstellt. »Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu
verstehen, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche
Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für
uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm
und unerreichbare Muster gelten. Ein Mann kann nicht wieder zum
Kinde werden oder er wird kindisch. Aber freut ihn die Naivität des
Kindes nicht, und muß er nicht selbst wieder auf einer höheren Stufe
streben, seine Wahrheit zu reproduzieren? Lebt in der Kindernatur
nicht in jeder Epoche ihr eigener Charakter in seiner Naturwahrheit
auf? Warum sollte die geschichtliche Kindheit der Menschheit, wo sie
am schönsten entfaltet, als eine nie wiederkehrende Stufe nicht ewigen
Reiz ausüben? Es gibt ungezogene Kinder und altkluge Kinder. Viele
der alten Völker gehören in diese Kategorie. Normale Kinder waren
die Griechen. Der Reiz ihrer Kunst für uns steht nicht im Widerspruch
zu der unentwickelten Gesellschaftsstufe, worauf sie wuchs. Ist viel-
mehr ihr Resultat und hängt vielmehr unzertrennlich damit zu-
sammen, daß die unreifen gesellschaftlichen Bedingungen, unter
denen sie entstand und allein entstehen konnte, nie wiederkehren
können.« 32
Ich weiß nicht, ob Marcel Poete diese Stelle bei Marx gekannt hat.
32 Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Einleitung, aus dem
handschriftlichen Nachlaß, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 13, Berlin (DDR)
1961, s. 641f.

119

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 119 10.08.2015 09:42:21


Jedenfalls unterscheidet auch er bei seiner Darstellung der griechischen
Stadt und ihres Entstehens zwischen ihr und den Städten Ägyptens
und im Zweistromland: »In Athen lernen wir einen ganz anderen
Stadttypus kennen als den, dem wir in Ägypten und in den Strom-
tälern des Euphrat und Tigris begegnet sind. Hier stellen der Tempel
für die Gottheit oder der Herrscherpalast die einzigen Gestaltungs-
elemente dar. In Athen dagegen finden wir neben den Tempeln - die
sich schon als solche von denen früherer Kulturen unterscheiden -
als stadtbildende Elemente die Bauten für die Institutionen eines freien
politischen Lebens (Senat, Volksversammlung und Ältestenrat) und
die Gymnasien, das Theater, das Stadion und das Odeon, die dem ge-
sellschaftlichen Leben dienten. Eine Stadt wie Athen entspricht einer
höheren Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft.« 33
Bereits in Athen erweisen sich also genau die Bauten, die wir als pri-
märe städtebauliche Elemente bezeichnet haben, als stadtbildend. Um
verständlich zu machen, weshalb ich der griechischen Stadt und ihrem
modernen städtebaulichen Charakter, der sich auf die gesamte künf-
tige Geschichte der Stadtarchitektur auswirken sollte, so große Bedeu-
tung beimesse, soll hier die ursprüngliche griechische Stadtstruktur
mit der anderer - auch der römischen - Städte verglichen werden.
Abgesehen .von ihrer politisch bedingten komplexen Struktur, auf die
bereits Poete hingewiesen hat, zeichnet sich die griechische Stadt da-
durch aus, daß sie sich von ihrem Zentrum ausgehend allmählich
ausbreitet und daß die Wohnhäuser und der Tempel ihr konstituieren-
des Element sind. Erst nach der archaischen Epoche umgeben sich die
griechischen Städte aus reinen Verteidigungsgründen mit Mauern,
die nirgends ein ursprüngliches Element der Polis sind. Im Gegensatz
dazu verleihen die orientalischen Städte ihren Mauern und Toren, die
zu ihren primären Elementen gehören, sakralen Charakter, und selbst
innerhalb dieser Mauern umgeben sich Paläste und Tempel mit
weiteren Mauern, die sowohl Grenz- als Festungscharakter haben.
Die große Bedeutung, die die Grenze für die Orientalen hatte, erhielt
sie auch in der römischen und etruskischen Kultur. Dagegen kennen
die griechischen Städte keine geheiligten Grenzen. Sie sind der Le-
bensraum einer politischen Gemeinschaft und der Wohn- und Tätig-
keitsbereich ihrer Bürger. Sie gehen nicht auf den Willen eines Herr-
schers zurück, sondern auf die Beziehung zur Natur unter der Gestalt
des Mythos. Entscheidend für ihren Charakter ist aber vor allem, daß
sie Stadtstaaten waren, deren Bürger diesen Staaten angehören, aber -
was für ihre starke Bindung an Grund und Boden bezeichnend ist -
oft weit über das Land verstreut leben.
Schon Cattaneo hat - wie später auch Poete - den für die Geschicke

33 Marcel Poete, a. a. 0., S. 212.

120

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 120 10.08.2015 09:42:23


der Stadt grundlegenden Unterschied zwischen der Polis, den orien-
talischen Städten als »ummauerten Feldlagern« und den Siedlungen
der Barbaren erkannt, »die nur Dörfer bewohnen«. Nach Catta-
neos Auffassung stellen die ummauerten Feldlager eine völlige Ablö-
sung von Grund und Boden dar, »während in Italien die Stadt eine
unauflösliche Einheit mit ihrem Standort bildete ... Aus dieser Bin-
dung der gesamten Bevölkerung an die Stadt, wo die angesehensten,
reichsten und tüchtigsten Leute wohnten, ergibt sich eine politische
Individualität, ein elementarer, permanenter und unauflöslicher Zu-
stand.«34 Ob Cattaneo die Ähnlichkeit zwischen diesen freien italie-
nischen Kommunen und den griechischen Städten sah, wissen wir
nicht, da er sich darüber nicht äußert. Aber allein die Tatsache, daß
das gemeinsame Merkmal der von Cattaneo beschriebenen italienischen
Städte und der demokratischen Stadtstaaten Griechenlands die starke
Bindung an das Stadtterritorium ist, genügt ja bereits, um sich mit
dieser Tatsache noch genauer zu beschäftigen.
Athen war ein Stadtstaat, dessen Bürger zum Teil weit zerstreut im
Umland wohnten, aber eine feste Bindung an ihre Stadt beibehielten.
Auch wenn zahlreiche kleinere attische Städte ihre eigene Verwaltung
hatten, stellten sie keine Konkurrenz zu diesem Stadtstaat dar. »Der Be-
griff der Polis bezeichnet zugleich Stadt und Staat. Ursprünglich wurde
er nur für die Akropolis verwendet, die zugleich Fliehburg, Kultstätte
und Regierungssitz war. So war die Akropolis zugleich Stadt und Staat
und gab dem Begriff der Polis seine doppelte Bedeutung.« 35 Auch die
Geschichte bestätigt die Grundtatsache, daß die Bindung der Athener
an ihre Stadt vorwiegend politischer und administrativer Natur war
und daß sie sich, da sie nicht zwangsläufig in der Stadt wohnten, nur
für deren politisches Schicksal und allenfalls in einem sehr allgemeinen
Sinn für deren städtebaulichen Probleme unteressierten. Roland Mar-
tin weist darauf hin, wie bezeichnend es für diesen Stand der Dinge
ist, daß die frühesten Überlegungen zur Organisation des Stadtstaates
Athen rein spekulativer Natur sind und sich damit beschäftigen, welche
Form und politische Organisation der Stadt für die sittliche Entwick-
lung der Bürger am förderlichsten sei. Selbst in den antiken Schriften
zur Architektur scheint der materielle Aspekt der Stadt eine unter-
geordnete Rolle zu spielen, als handele es sich dabei nur um eine
geistige Vorstellung. Aber vielleicht ist es gerade dieser spekulative
Charakter der griechischen Stadtarchitektur, der ihr ihre außerordent-
liche Schönheit verleiht. Dadurch steht sie uns und unserer lebendigen
Erfahrung aber auch ferner als Rom. Denn während im republika-
nischen und kaiserzeitlichen Rom dieselben Konflikte und Wider-

34 Ebd.
35 Roland Martin, L'Urbanisme dans la Grece antique, Paris 1956.

121

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 121 10.08.2015 09:42:23


sprüche wie in modernen Städten auftreten und vielleicht eine noch
dramatischere Form als bei uns annehmen, bleibt Athen der Inbegriff
menschlichster Stadtarchitektur, die unter Umständen entstand, die
niemals wiederkehren werden.

122

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 122 10.08.2015 09:42:25


Viertes Kapitel

Stadtentwicklung

1. Veränderungen der Eigentumsstruktur

Die Stadt und einzelne ihrer Teile können nur in bezugauf Zeit und
Raum hinreichend definiert werden. Denn das heutige Rom unter-
scheidet sich von dem Rom der Antike, auch wenn den seit der Antike
erhaltenen Phänomenen, die das heutige mit dem vergangeneu Rom
verbinden, eine unbestreitbare Bedeutung zukommt. Aber wie sowohl
sorgfältige Untersuchungen als auch die allgemeine Erfahrung bestä-
tigen, verwandelt sich eine Stadt im Laufe von fünfzig Jahren gründ-
lich. \'V er ständig in dieser Stadt lebt, gewöhnt sich allerdings langsam
an diese Veränderungen, die durch vielerlei Umstände bedingt sind.
Gewiß gibt es Epochen und mehr oder minder lange Zeitabschnitte, in
denen sich derartige Veränderungen sehr viel schneller als sonst voll-
ziehen. Das trifft zum Beispiel für Paris unter Napoleon III. und für
Rom zu, nachdem es die Hauptstadt Italiens geworden war. Aber auch
zu anderen Zeiten wimmelt es in der Literatur aller Länder von Be-
schreibungen, Anmerkungen und wehmütigen Betrachtungen dar-
über, daß eine Stadt ihr Gesicht verändert.
Ebenso verschieden wie das Tempo derartiger Veränderungen sind
auch die Gründe dafür. So können Kriege und Enteignungen städte-
bauliche Situationen plötzlich und scheinbar endgültig verändern. In
anderen Fällen vollzieht sich eine Wandlung schrittweise unrl betrifft
jeweils nur einzelne Bauten oder Stadtteile, wobei wirtschaftliche,
politische, aber auch zahlreiche andere Ursachen eine Rolle spielen
können. So kann der Reichtum einer Stadt, der zu neuen Lebens-
gewohnheiten führt, ihre nachdrückliche Wandlung hervorrufen.
Kriege zerstörten Städte wie Berlin oder das alte Rom. London und
Harnburg wurden sowohl nach großen Bränden als auch nach den
Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg zu großen Teilen neu auf-
gebaut. Jedenfalls aber lassen sich die Ursachen solcher Verämlerungen
immer feststellen, und eine Analyse der Stadt macht auch deutlich,
wie sie im einzelnen zustandekommen.
So ersehen wir aus den aufeinander folgenden Katasterpliinen, wie
Grundstücke irrfolge gewisser wirtschaftlicher Entwicklungen ihren
Eigentümer wechseln. Wenn dabei finanzstarke Gruppen zum Zuge
kommen, so bedeutet das in aller Regel das Ende der Parzeliierung
und das Entstehen großer Areale, die eine ganz andere Art rler
Bebauung als bisher ermöglichen. Unklar bleibt allerdings, wie diese

1:23

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 123 10.08.2015 09:42:25


verursachenden Kriifte sich im einzelnen auswirken. Denn wenn wir
zum Beispiel die Auswirkungen der Spekulation untersuchen, können
wir zwar vermutlich feststellen, daß sie aufgrund bestimmter wirt-
schaftlicher Gesetze zustande kommen, warum sie aber in verschie-
denen Städten zu so unterschiedlichen Folgen führen, ist sehr viel
schwerer zu beantworten. Zweifellos spielen dabei nicht nur die
Kräfte, die eine Veränderung auslösen, eine !"'tolle, sondern auch die
örtliche Situation, der Stadttypus usw.
In heutiger Zeit kommt ein großer Teil dieser Veränderungen durch
Stadtplanerische Maßnahmen zustande. Sie sind das Instrument, dessen
sich die verursachenden Kräfte be<l ienen. Dabei verstehen wir unter
Stadtplanung die planende und koordinierende Tätigkeit, der eine
Stadtverwaltung eigenständig oder auf Veranlassung von privater
Seite nachkommt. Stadtplanung in diesem Sinn findet aber nicht nur
in der heutigen Zeit statt, sondern seit der Gründung jeder Stadt,
deren Erweiterung sich, zumindest teilweise, stets durch Planung
vollz.ogen hat. Denn gerade <1er Kollektivcharakter der Stadt setzt für
ihre Gründung oder Erweiterung irgendeine Art von Planung voraus.
"\Yir haben bereits gesehen, daß solche Planungen genauso einen die
Stadt konstituierenden Charakter haben können wie geographische
oder bauliche Elemente. Zu den wichtigsten L'rsachen, die zu einem
Stadterweiterungsplan führen, gehören die wirtschaftlichen Kräfte,
die in der kapitalistischen Stadt in Gestalt der Spekulation in Erschei-
nung treten. Wir wollen uns nun damit beschäftigen, ob und inwie-
fern Planung, Enteignung und Spekulation einen bestimrnten Typus
der Stadterweiterung hervorrufen. Zu diesem Zweck möchte ich zu-
nächst die Thesen von zwei Autoren darlegen, die sich aus wirtschaft-
licher Sicht mit der Stadt beschäftigt haben, und dann versuchen,
meine eigenen Schlüsse darauf zu ziehen.

3 ..Z\1auricc llalbwachs und sezne These

Die These von Maurice Halbwachs, der sich in »La Population et !es
Traces des Voies a Paris depuis un Siecle« 1 mit dem Phänomen der
Enteignung beschäftigt hat, lautet, daß wirtschaftliche Tatbestände
ihrer Natur nach bei der Entwicklung einer Stadt eine vorrangige
Rolle spielen und daß das nach allgemein gültigen Gesetzen geschieht.
Fälschlicherweise überschätze man dabei aus wirtschaftlicher Sicht
meist die konkreten Umstiinde, unter denen sich ein zwangsläufig
ausgelöster Prozeß vollzieht, wiihrend dessen Bedeutung in Wirklich-
keit von seinem spe7.ifischen \'er lauf und dessen zeitlichen und ört-

1 Paris 1928.

124

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 124 10.08.2015 09:42:27


Iichen Voraussetzungen unabhängig se1. Da sich die Gesamtstruktur
einer Stadt indessen nicht <lurch derartige wirtschaftliche Prozesse
definieren läßt, erklärt Halbwachs sie durch ein komplexeres System,
das Kollektivgedächtnis, das ciie Beziehung zwischen der Stadt als
ein~m architektonischen Faktum un<l ihrem Verhalten als Individuali-
tät herstellt. In dieser Studie, die in demselben Jahr wie »Das Gedächt-
nis und seine sozialen Bedingungen« (N euwied 1966) konzipiert wurde,
wertete Halbwachs statistische Daten ebenso überzeugend aus wie
1933 in >>L'Evolution des Besoins dans la Classe ouvriere«.
Die zweite These stammt von Hans Bernoulli. In seiner 1946 erschie-
nenen Studie »Die Stadt und ihr Boden<< geht er davon aus, daß das
Privateigentum an Grund und Boden und deren damit zusammen-
hängende Zerstückelung das Hauptübel der modernen Stadt sei. Da
die Stadt von dem Boden, auf dem sie steht, untrennbar ist, hält es
Bernoulli für notwendig, daß dieser Boden wieder Kollektiveigentum
wird. Daraus würden sich seiner Auffassung nach auch unmittelbare
Folgen für die 'Wohnviertel und deren Infrastruktur ergeben. Ich
stimme allen jenen zu, die in der von Bernoulli geforderten Über-
führung des Bodens einer Stadt in Staatseigentum ein entscheidendes
qualitatives Merkmal sehen, durch das sich die sozialistische von der
kapitalistischen Stadt unterscheidet. Aber ich halte die Verstaatlichung
von Grund und Boden zwar für eine - gewiß wünschenswerte - Voraus-
setzung für eine bessere Stadtarchitektur, glaube jedoch nicht, daß sich
aus ihr zwangsläufig ein bestimmter Typus von Architektur ergibt.
Ich habe diese zwei Thesen hier dargelegt, weil sie uns durch ihre
Klarheit die wirkliche Natur der Stadtstruktur verdeutlichen. Für sie
spielt aber außer den wirtschaftlichen Kräften und Tatbeständen die
politische Entscheidung eine ausschlaggebende Rolle, die aber nur zu
verstehen ist, wenn man einen Überblick über die Gesamtstruktur der
Stadt hat.
Bei seinen Überlegungen zum Phänomen der Enteignung in der
bereits erwähnten, 1928 erschienenen Studie über die Pariser Straßen
versucht Halbwachs dieses Phänomen abgelöst von seinem großstädti-
schen Kontext zu betrachten und unterstellt damit, daß es nur ihm
eigentümliche und allen seinen Spielarten gemeinsame Merkmale
besitzt. Tatsächlich aber ist es für die Zerstörung eines einzelnen Ge-
bäudes unerheblich. ob sie auf zufällige Ursachen wie Branrl oder auf
die normale Entwicklung durch V crfall zurückgeht oder ob es
gar aus Gründen der Spekulation abgerissen wird. Andererseits
wirkt sich die Enteignung in einer Stadt nicht allenthalben gleich-
förmig aus. Einige Stadtviertel werden durch sie vollständig verändert,
andere verschont sie. Nur durch die historische Untersuchung
einzelner Stadtviertel iiber längere Zeitspannen hinweg würden wir
ein vollständiges Bil<l von Enteignungen und V criiußerungen erhalten.

125

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 125 10.08.2015 09:42:27


Dabei unterscheiden sich die einzelnen Fälle einmal durch clie Per-
sonen, die dabei in Aktion treten, uncl ;mm anderen durch die Trag-
weite des einzelnen Eingriffs. Dazu meint Halbwachs: »Die Namen
der Ruc Rambuteau, der Avenue Pereire oder des Boulevard Hauss-
mann sollen gewiß keine Ehrungen für die Träger dieser Namen clar-
stellen, sondern sind so etwas wie ein l\larkenzeichen.«
Wenn städtische Planungen auf erklärte Bedürfnisse der Bevölkerung
zurückgehen und das Ergebnis gründlicher Diskussionen sincl, so wir-
ken sich neben zahlreichen wichtigen Eint1üssen auch nebensächliche
::vlotive auf sie aus. Wenn aber(wie in Paris 1831 und 1871) die Stadtver-
waltung nicht den Volkswillen repräsentiert, dann ist es beinahe unum-
g-änglich, daß fürdie Stadtplanung die ästhetischen, hygienischen, städte-
baulichen uncl sozialen Anschauungen eines einzelnen oder weniger
Individuen entscheidend werden. Aus dieser Sicht muß man die heutige
Gestalt der Großstädte als deren von bestimmten Parteien, Persönlich-
keiten oder Herrschern veranlaßten Überbau betrachten. Planungen
dieser Art überlagerten einander, vermischten sich oder nahmen vonein-
anrler keine Kenntnis. So sieht das heutige Paris wie eine Photographie
aus, bei der Aufnahmen von Paris unter Ludwig XIV., Ludwig XV.,
Napoleon I. und dem Baron IIaussmann auf demselben Blatt überein-
ander kopiert worden sind. Denn viele nicht zu Ende gebaute Straßen
und verwahrloste Viertel bezeugen, wie unterschiedlich und vonein-
ander unabhängig ein großer Teil der Pariser Planungen war.
Zu dieser Bedeutung bestimmter Persönlichkeiten für die Stadtpla-
nung kommt die Tragweite der einzelnen Eingriffe hinzu. Es gibt
konstante Kräfte, die zu allen Zeitt>n das Baugewerbe und den Grund-
stückshandel begünstigen. Aber diese Kräfte entwickeln sich entspre-
chend den Möglichkeiten, die ihnen durch vorliegende Planungen
geboten werden. Dabei wechseln sie manchmal unversehens ihre
Stoßrichtung. Die Natur dieser normalen ökonomischen Kräfte bleibt
indessen immer dieselbe, doch kann ihre Intensität durch Umstände,
die nichts mit dem wirtschaftlichen Mechanismus als solehern zu tun
haben, gesteigert oder vermindert werden.
Haussrnann hat unter anderem militärische Gründe für seine Straßen-
durchbrüche in Paris angeführt. Derartige Überlegungen entsprechen
einem autoritäten und unpopulären Regime ebenso wie die zahlrei-
chen Verdienstmöglichkeiten, die sich den Arbeitern boten, und die
gewinnversprechenden Perspektiven, die sich den Spekulanten auf-
taten. Denn ein Minimum an politischen Rechten sollte durch ein
l\Iaximum an wirtschaftlicher Prosperität ausgeglichen werden. Des-
halb haben die umfangreichen Enteignungen in Paris unter Napo-
leon III. letztlich politische Hintergründe, sie stellten den scheinbar
endgültigen Triumph der Ordnungskräfte über clie H.evolntion, des
Bürgertums über die Arbeiterklasse dar.

126

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 126 10.08.2015 09:42:28


Als ein amleres bezeichnendes Beispiel fiir die 1\olle, die außergewöhn-
liche politische Umstünde fiir Enteignungen und die mit ihnen zu-
sammenhängenden städtebaulichen Veränderungen spielen können,
sei die Planung neuer Straßenaufgrund der Verstaatlichung cles Eigen-
tums der Kirche und der Emigranten während der Französischen
Revolution erwähnt. Auch hier hängt die Veränderung der Pariser
Stadtarchitektur unmittelbar mit den Ereignissen der französischen
Geschichte zusammen. Die dabei entstehende neue Gestalt der Stadt
ist deshalb einerseits durch den historischen Baubestand, andererseits
durch die von bestimmten Personen getroffenen Maßnahmen bedingt,
deren Willen sich ebenfalls als eine historische Kraft erwies.
Schon aus diesen Beispielen geht hervor, daß die Enteignung sich
grundsätzlich von jedem anderen Besitzwechsel unterscheidet. Zu
ihrem besonderen Charakter gehört, daß sie im allgemeinen kein
isoliertes Faktum darstellt, das diese oder jene Straße oder lediglich
einen bestimmten vVohnbaukomplex betrifft, sondern daß ihre ein-
zelnen Maßnahmen Teile eines Gesamtsystems sind, dem die ohnehin
vorhandenen Entwicklungstendenzen einer Stadt zugrunde liegen. In
den beiden Fällen, in denen wir historische Ursachen fiir die Ver-
änderungen von Paris angeführt haben, könnte man diese V erände-
rungen auch auf wirtschaftliche Tatsachen, nämlich die Enteignungen,
zurückführen, die wiederum mit anderen wirtschaftlichen Prozessen
zusammenhängen. So sind einerseits nicht alle Straßen, die auf dem
Gelände der verstaatlichten Kirchengüter geplant waren, auch wirklich
gebaut worden. Andererseits stellt die Verstaatlichung des klöster-
lichen Grundbesitzes schon selbst einen wirtschaftlichen Tatbestand
dar. Da dieser klösterliche Grundbesitz der Entwicklung der Stadt auf
jeden Fall im Wege gestanden hatte, wäre er unter anderen politi-
schen Umständen entweder vom König enteignet worden, oder die
Ordensleute hätten ihn, wie das später anläßlich des Eisenbahnbaus
geschah, von sich aus verkauft.
Diese Überlegungen bestätigen tatsächlich, daß es ein Irrtum ist, die
konkreten Formen zu überschätzen, in denen sich ein unumgänglicher
Prozeß abspielt, da sie auf dessen eigentliche Bedeutung keinen Ein-
fluß ausüben. Das gilt auch für alle militärischen, politischen oder
ästhetischen Gründe, die sich für Haussmanns Pariser Stadtplanung
anführen lassen. Militärische Überlegungen mögen einen Straßen-
durchbruch zwar in topographischer Hinsicht bestimmt haben, seine
wirtschaftliche Bedeutung berühren sie nicht. Man sollte ihnen des-
halb nicht mehr Beachtung schenken als der Chemiker Form und Größe
des Reagenzglases, in dem er seine Versuche vornimmt. Auch um
gesundheitliche oder ästhetische Gründe einer städtebaulichen Maß-
nahme braucht rnan sich nur dann zu kiimmern, wenn sie zu wirt-
schaftlichen Veränderungen führen, fiir die sich keine wirtschaft-

127

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 127 10.08.2015 09:42:29


liehen Erklärungen finclen lassen. Solche wirtschaftlich unerklärlichen
»Rückstände<< gibt es aber bei Enteignungen niemals. Sie erweisen
sich deshalb als letztlich unabhängig von individuellen oder politisch-
historischen Einflüssen.
Da Enteignungen durch ihre Gleichzeitigkeit rasch zu Gesamtlösun-
gen führen, liegt es nahe, in ihnen die Entladung von Kräften zu
sehen, die sich in rler vorangehenden Zeit angestaut haben. (Auch ihre
juristische Form spielt deshalb keine Rolle.) Voraussetzung für diese
Entladung ist, daß das Bewußtsein eines kollektiven Bedürfnisses sich
artikuliert. Dieses gesellschaftliche Bewußtsein kann sich natürlich
auch irren. So kann eine Stadt veranlaßt werden, dort Straßen zu
bauen, wo sie in 'Virklichkeit nicht nötig sind, oder Grundstücke in
einem Stadtteil zu erschließen, der abseits von ihrer tatsächlichen
Expansionsrichtung liegt. Unter solchen Umständen bleiben rasch an-
gelegte Straßen unbenutzt. Außerdem kann die Enteignung aus
vielerlei Gründen schon stattfinden, ehe sich ein wirkliches Bedürfnis
danach einstellt. So kann die Planung einer dringend benötigten
Straße dazu führen, daß analog dazu noch weitere Straßen vorgesehen
werden.
Jedenfalls weigert sich Halbwachs, die Enteignung als eine anomale
oder außergewöhnliche Maßnahme anzusehen, sondern hält sie viel-
mehr fiir das zweckmäßigste und ambestengeeignete NJ:ittel, um die
Stadtentwicklung 7.u fön1ern, derf'n Tendenzen sich in ihr zu einer -
auch für das Studium dieser Tendenzen besonders geeigneten -
Synthese vereinen. Halbwachs kommt das Verclienst zu, als erster auf
diese Bedeutung der Enteignung hingewiesen zu haben. Drei Punkte
in seinen i'!berlegungen scheinen mir von besonderer ''Vichtigkeit zu
se1n:
das Ausmaß an Unabhängigkeit der wirtschaftlichen Prozesse und
der Stadtplanung voneinander, beY.iehungsweise das ihrer gegen-
seitigen Bedingtheit;
der Beitrag, den einzelne Personen zur Veränderung einer Stadt
leisten, dessen Bedeutung und Grenzen, und im Zusammenhang
damit die Beziehung zwischen historisch genau determinierbaren
Fakten und ihren allgemeinen Ursachen;
die Stadtentwicklung als ein komplexes gesellschaftliches Phänomen,
das aufgrund genau definierbarer W achstumsgesetze, die sich in
bestimmten Richtungen auswirken, nach Selbstverwirklichung
strebt.

3. Historische Beispiele

Da ich die Anwendung der Hypothese von Halbwachs auf konkrete

128

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 128 10.08.2015 09:42:31


Städte für eine der sichersten und ergiebigsten Methoden zu deren
Untersuchung halte, habe ich selbst einen derartigen Versuch in bezug
auf ein bestimmtes Mailänder Stadtviertel unternommen. Dabei kam
es mir vor allem darauf an, die Aufmerksamkeit meiner Leser auf die
Bedeutung scheinbar zweitrangiger Fakten, wie 1,um Beispiel der
Kriegszerstörungen, für die spätere Entwicklung der Stadt zu lenken.
Nach meiner Auffassung läßt sich nämlich nachweisen- und ich selbst
habe damit einen Anfang gemacht -, daß Ereignisse dieser Art die
Realisierung bereits bestehender Tendenzen lediglich beschleunigen.
Zwar verändern sie tweilweise die wirtschaftlichen Voraussetzungen
dieser Tendenzen, aber ihre Auswirkung auf die Stadt, deren Zer-
störungen und Wiederaufbau, hätte sich in ähnlicher Form wie durch
den Krieg ohnehin vollzogen. Die Kriegsauswirkungen in ihrer Plötz-
lichkeit und Brutalität lassen den Forscher aber zu rascheren Unter-
suchungsergebnissen kommen als umständliche historische Studien
über die Entwicklung des Grundeigentums in einer Stadt. Unter-
suchungen dieser Art werden in der Moderne durch das Studium von
Stadterweiterungsplänen, Flächennutzungsplänen usw. erheblich er-
leichtert. Insgesamt stehen diese Pläne in engem Zusammenhang mit
den Enteignungen, ohne die sie überhaupt nicht möglich wären. Im
übrigen treffen die Folgerungen, die Halbwachs aus den Pariser Plänen
der »Commission des Artistes« in der Französischen Revolution und
Haussmanns unter Napoleon III. zieht (wobei sich beide Pläne in vieler
Hinsicht mit Plänen decken, die schon zur Zeit des Absolutismus ent-
standen waren), auf viele, ja vermutlich auf alle Städte zu. Ich selbst
habe versucht, die Voraussetzungen zu klären, die durch die Reformen
unter Maria Theresia und später unter Joseph II. für die Veränderun-
gen der Mailänder Stadtgestalt unter Napoleon geschaffen wurden.
Dabei ergab sich unmißverständlich, daß diese städtebaulichen V er-
änderungen nur durch vorangehende Enteignungen möglich wurden.
Denn abgesehen davon, daß Enteignungen als politisches Instrument
zugunsten der einen oder anderen Gesellschaftsklasse benutzt werden
können, erweisen sie sich in allen Epochen der Stadtentwicklung als
eine unumgängliche Maßnahme, die ihre Wurzel in den jeweiligen
gesellschaftlichen Entwicklungen einer Stadt hat.
In Mailand 2 zeigt sich, daß die napoleonische Stadtplanung sich zwar
an die Pariser Stadtplanung während der Revolution anlehnte, aber
zu ihrer Zeit eine der modernsten in ganz Europa war. Dabei machte
sie sich die lange Reihe der Enteignungen kirchlichen Grundbesitzes
unter der habsburgischen Herrschaft zunutze. Die Gestalt des napo-
leonischen Planes ist deshalb die architektonische Lösung, die sich aus

2 Aldo Rossi, Il concetto di tradizione neU' architettura neoclassica milanese,


in: Societa, H. 3, 1956.

129

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 129 10.08.2015 09:42:31


den vorhandenen wirtschaftlichen Voraussetzungen ergab. Innerhalb
dieser Grenzen läßt er sich als klassizistische Stadtplanung beurteilen,
an der neben anderen Architekten Luigi Cagnola und Giovanni
Antonio Antolini mitarbeiteten und bei der man sich auf eine ganze
Reihe früherer Planungen stützen konnte. Die planensehe Gestaltung
als solche ist dabei vollkommen unabhängig von den wirtschaftlichen
Voraussetzungen, die sie ermöglichten. In diesem Sinne wirkte sie sich
auch auf alle späteren Planungen aus, führte aber zu keinerlei wirt-
schaftlichen Veränderungen.
Der Durchbruch der Via Napoleone, der späteren Via Dante, erwies
sich als ebenso erfolgreich wie später der Plan von Beruto für den
Norden der Stadt. Denn beide Pläne entsprachen den ohnehin vor-
handenen städtischen Entwicklungstendenzen, während Berutos Plan
für den südlichen Stadtteil daran scheiterte, daß er der wirtschaftlichen
Entwicklung zu weit vorauseilte oder zu stark von ihr abwich.
Diese wirtschaftliche Kraft wurde bereits durch die Auflösung religi-
öser Orden unter Joseph II. zwischen 1765 und 1785 entfesselt, die
freilich zugleich eine politische Bedeutung hatte. Denn die Aufhebung
des Jesuitenordens, die Beseitigung der Inquisition und die Abschaf-
fung zahlreicher seltsamer religiöser Kongregationen, die in Mailand
wie in kaum einer Stadt unter einstiger spanischer Herrschaft
wucherten, war auch eine Tat des kulturellen Fortschritts. Zugleich
setzte sie die Stadt jedoch in den Besitz eines großen innerstädtischen
Areals, das ihr den Bau von Schulen und Akademien, die Begradigung
von Straßen und die Anlage von Gärten erlaubte. So entstand der
Mailänder Stadtpark, die giardini pubblici, auf dem früheren
Gelände zweier Nonnenklöster und des Senatsgebäudes.
Das Foro Bonaparte allerdings verdankt seine Entstehung nicht einer
architektonischen Notwendigkeit, sondern dem Bedürfnis der Stadt,
sich durch den Bau eines Geschäftsviertels für das aufstrebende Bür-
gertum ein neues Gesicht zu geben. Das hatte nichts mit der architek-
tonischen Gestaltung oder der Standortwahl für das Foro Bonaparte
zu tun und noch nicht einmal etwas mit deren historischen Gründen.
(Das Gelände des Castello Sforzesco war nämlich für den neuen Bau-
komplex ausgesucht worden, weil es aus politischen Gründen zer-
stört werden sollte.) Antolinis Gestaltungsidee wurde indessen zu-
nächst nicht verwirklicht, sondern ging erst unter ganz anderen poli-
tischen Umständen in den Stadtplan von Beruto ein, innerhalb dessen
sie eine ausschlaggebende Bedeutung erhielt. Nur daß das Foro Bona-
parte, und zwar wiederum aus wirtschaftlichen Gründen, nicht zum
Geschäftszentrum wurde. Vielmehr fiel ihm eine ganz andere Rolle
für das Gleichgewicht der komplexen Stadtstruktur zu. Diese Rolle,
darauf möchte ich noch einmal hinweisen, hat aber nichts mit dem
Stadtplanerischen Entwurf als solchem zu tun.

130

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 130 10.08.2015 09:42:33


Die Theorie von Halbwachs läßt uns begreifen, welche Verwirrung es
auslösen muß, wenn man, ausgehend von völlig unwissenschaftlichen
Voraussetzungen und ohne Kenntnisse von der Natur des Stadtphäno-
mens, von unsinnigen Sanierungsplänen usw. spricht. Bezeichnend
für eine derartige Einstellung sind die üblichen Urteile über Hauss-
manus Werk. W cnn man sich indessen an die Theorie von Halbwachs
hält, kann man diese Stadtplanung lediglich vom architektonischen
Standpunkt aus billigen oder mißbilligen, an ihr Gefallen finden oder
sie bemängeln. Denn auch vom rein architektonischen Standpunkt
aus ist Haussmanns Stadtplanung natürlich von großer Bedeutung.
Und mit eben dieser architektonischen Bedeutung will ich mich im
folgenden beschäftigen. Ebenso großen Wert aber lege ich auf die
Feststellung, daß diese Planung ihrer Natur nach der damaligen
Stadtentwicklung von Paris und den ihr zugrundeliegenden Bedürf-
nissen genau entspricht und deshalb eine der erfolgreichsten Stadt-
planungen war, die es je gegeben hat. Denn die Straßen, die Hauss-
mann bauen ließ, folgten den tatsächlichen Entwicklungsrichtungen
der Stadt, weil er die nationale und internationale Funktion der Stadt
richtig einschätzte. Es ist allerdings behauptet worden, Paris sei zu
groß für Frankreich und zu klein für Europa. In der Tat kann man die
Größenordnung einer Stadt und Planungseingriffe nicht unabhängig
davon beurteilen, welches Ziel sich eine Planung gesetzt hat und
welcher Erfolg ihr dabei beschieden ist. So gibt es Städte wie Ferrara
oder Richelieu, deren Planung nur durch wenige Bauten und Straßen
realisiert wurde und deshalb fast nur symbolischen Charakter hat.
In anderen Städten wie Bari, Rom oder Wien haJ; die Planung Kräfte,
die sich bereits in der Stadt entfalteten oder zumindest im Begriff
waren, sich zu entfalten, kanalisiert, ihnen eine bestimmte Richtung
gegeben und die Entwicklung unter Umständen sogar beschleunigt.
Schließlich gibt es noch Stadtplanungen, die sich vollständig auf die
Zukunft beziehen, im Augenblick ihres Entstehens für unaktuell gel-
ten, und deshalb schon in der ersten Phase ihrer Realisierung
blockiert werden, um sich in einer späteren Zukunft dann als außer-
ordentlich weitblickend zu erweisen. Dabei ist in vielen Fällen die
Beziehung zwischen den wirtschaftlichen Kräften, die nach Entfaltung
drängen, und den Gestaltungsprinzipien des Planes nur schwer aus-
zumachen.
Ein gewichtiges und zu wenig bekanntes Beispiel für eine solche ganz
auf die Zukunft ausgerichtete Planung ist die von Ildefonso Cerda für
Barcelona. Vom technischen Standpunkt aus ist der Plan Cerda un-
gemein fortschrittlich, weil er den wirtschaftlichen Veränderungen,

3 Ildefonso Cerda, Teoria general de la urbanizacion y aplicacion de sus


principios y doctrinas a la reforma y ensanche de Barcelona, Barcelona 1867;

131

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 131 10.08.2015 09:42:33


die sich damals in der katalanischen Hauptstadt anbahnten, Rechnung
trug. Da er aber zugleich die wirtschaftliche und die damit zusammen-
hängende demographische Entwicklung überschätzte, wurde der Plan
in seiner ursprünglichen Gestalt nicht realisiert, auch wenn er für die
künftige Stadterweiterung von Barcelona dann doch eine große Rolle
spielen sollte.
Haussmanns Stadtplanung ähnelte er insofern, als auch er für den V er-
kehr breite Durchgangsstraßen vorsah, die alle Teile der Stadt mit-
einander verbinden sollten, gleichzeitig aber den einzelnenWahnvierteln
eine gewisse Autonomie ließ. Da er dabei aber weit über Haussmanns
Vorstellungen hinausging, hätte er technischer und politischer Vor-
aussetzungen bedurft, die damals wahrscheinlich in keiner europä-
ischen Stadt gegeben waren. Unrealisierbar war dieser Plan aber auch
dadurch, wie Oriol Bohigas34 mit Recht anmerkt, daß er eine nur
geringe Bebauungsdichte vorsah und damit der Struktur der mittel-
meerischen Stadt und der durch sie bedingten Lebensweise wieder-
sprach. Andererseits aber kam der Plan durch sein rechtwinkliges
Straßennetz der Bodenspekulation durchaus entgegen und wurde des-
halb schließlich durch eine Blockbebauung der einzelnen Straßen-
quadrate zwar verfälscht, aber in gewisser vVeise doch realisiert. Seine
Geschichte stellt damit ein bezeichnendes Beispiel für die oft schwer
entwirrbaren Beziehungen zwischen wirtschaftlich-politischen Tat-
beständen und einer architektonischen Planung dar.
Gleichwohl muß der Plan Cerda, unabhängig von seiner Realisierung
und von den spezifischen Umständen, die in Barcelona gegeben waren-
ähnlich wie die niemals zu Ende geführte Stadtplanung der Herzöge
von Este für Ferrara - als wichtiger Beitrag zur Geschichte der Stadt-
planung gelten. Einen solchen Beitrag stellt auch die Planung für die
Neustadt von Bari 5 dar, mit deren Realisierung unter der Herrschaft
von Joachim Murat begonnen wurde. Ihr gingen radikale Enteignun-
gen voraus, die wie immer und überall einen spezifischen historischen
und politischen Hintergrund hatten. Interessanterweise stützte sich
aber auch diese Planung, die für Bari bis 1918 verbindlich blieb, auf
ein bereits 1790 unter Ferdinand I. von Bourbon genehmigtes Projekt.
Auch bei ihr blieben ihre die Spekulation unterbindenden Prinzipien
und damit die vorgesehenen Bebauungsdichte nicht unangetastet.

4 Oriol Bohigas, Barcelona entre el plan Cerda y el barraquisme, Barcelona


1965. In dieser Studie veröffentlichte Bohigas wohl zum erstenmal den Plan
Cerda und wies mit Recht darauf hin, daß Cerdas theoretische Abhandlung
dazu 28 Jahre älter ist als >>Der Städtebau« von J. Stübben (Handbuch der
Architektur, Hrsg. J. Durm, H. Ende, E. Schmitt und H. Wagner, Darmstadt
1895, Band IX), der im allgemeinen als die früheste Abhandlung über
Städtebau gilt.
5 Vincenzo Rizzi, I cosidetti statuti murattiani per Ia cittlt di Bari, Bari 1959.

132

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 132 10.08.2015 09:42:34


Barcelona, die Strukturen der Bebauung zeigen die Phasen des Wachstums
im 18. und 19. Jahrhundert.

133

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 133 10.08.2015 09:42:35


Aber zusammen mit der nördlich von ihr gelegenen Altstadt stellt die
Neustadt, deren Kern die unter Murat begonnene Vorstarlt außerhalb
der alten Stadtmauer bildet, eine in ihren Zusammenhängen von
jedermann erkennbare Stadtarchitektur dar.
Schließlich sollten wir jedoch unsere Überlegungen nicht nur auf die
Entwicklung von Städten beschränken, sondern prüfen, v.'ie weit sich
die These von Halbwachs auch auf deren Verfall anwenden läßt. Die
von Lavedan in >>Les Villes Frangaises<<6 erwähnte Stadt Richelieu, die
der gleichnamige Kardinal und Minister Ludwig XIII. 1635 bis 1640
erbaute, verfiel nach dessen Tod zwar nicht, hat sich aber auch nicht
weiterentwickelt. Bis auf das im 19. Jahrhundert abgerissene Schloß
Richelieus besteht sie noch heute in der Gestalt, die 1641 vollendet
wurde. Ähnliches gilt für die um 1460 von Pius II. gegründete Stadt
Pienza. Gleichwohl dürfen wir keinesfalls annehmen, daß die beiden
Städtchen, nur weil sie künstliche Gründungen waren, niemals ein
Eigenleben entwickelt haben. Denn auch Washington und das heutige
Leningrad sind solche künstlichen Gründungen. Daß es sich bei ihnen
inzwischen, anders als bei Richelieu und Pienza, um bedeutende Groß-
städte handelt, beweist nicht etwa, daß die Größenordnung ein auch
qualitatives Problem ist, sondern gerade das Gegenteil. Denn auch
St. Petcrsburg war ursprünglich eine willkürliche Gründung Petcrs
des Großen. Aber selbst nachdem es nicht mehr Hauptstadt ist und
keine internationale Rolle mehr spielt, stellt es durch sein anhaltendes
Wachstum für Moskau eine ständige Konkurrenz dar. Die Gründe für
dieses Wachstum sind vorerst ebensowenig geklärt wie die des Ver-
falls zahlreicher anderer Städte. Denn wir wissen auch nicht, weshalb
Moskau eines Tages Nischnij-Nowgorod überflügelte oder Mailand
Pavia und die anderen lombardischen Städte.

4. Das Grundeigentum

Wie bereits erwähnt, hat Bernoulli in seiner Studie »Die Stadt und ihr
Boden« dargestellt, daß nicht nur das private Grundeigentum, sondern
auch die daraus resultierende Parzellierung des Bodens die Haupt-
hindernisse für eine gesunde Stadtentwicklung sind und von einem
gewissen Zeitpunkt an auch die Stadtgestalt beeinflußt haben. Von
derselben Zerstückelung ist aber auch der landwirtschaftlich genutzte
Boden betroffen: »Die neue Stadt, die neuen Quartiere, müssen ange-
legt werden auf einem Gebiet, das schon seit Jahrzehnten vom Pflug
durchfurcht, in hundert und aber hundert Felder aufgeteilt ist ...
Jedes Feld ist sorgsam durch Grenzsteine bezeichnet, denn jedes Feld

6 a. a. 0., S. 105.

134

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 134 10.08.2015 09:42:37


ist einem besonderen Eigentümer zu eigen ... Nicht eimnal für die
Landv.rirtschaft selbst scheint diese Verteilung brauchbar . . . Auf
solch zersplittertem und zerfetztem Gebiet ... sollen nun die kunst-
vollen Gebiete unserer Städte entstehen, müssen die bestehenden
Städte sich weiterentwickeln, sich ausbreiten: In solch ein verzweifeltes
Liniengewirr wächst jede Stadt hinein, wenn sie die kaum erst frei-
gekämpften Vororte erweitern will. Jeder Fußbreit Boden, der über-
baut werden will, gerät in diese Schlingen, muß sich mit Advokaten-
list dieses Gestricks erwehren.« 7 Diese mißliche Entwicklung setzt
mit der Französischen Revolution ein, als nach 1789 die Güter von
Adel und Kirche an Bürger und Bauern verkauft wurden. Aber durch
das neue Bodenrecht wurden nicht nur die Privilegien von Adel und
Kirche aufgehoben, sondern auch die Allmenden aufgelöst. Der Boden
wurde dadurch zu einer verkäuflichen Ware. »Das Land, fast ver-
sehentlich der Allgemeinheit entglitten, nun im Eigentum von bedäch-
tigen Bauern und haushälterischen Bürgern, sollte bald zum Spekula-
tionsobjekt werden ... Nun stand die Stadt wieder an einer jener
Kehren ihres Weges, da das Eigentumsrecht an Grund und Boden sich
auswirkte in ihrer Anlage und ihrem Aufbau. Die unversehens zu
höchstem Leben erweckte Neuzeit hatte dem privaten Grundeigen-
tümer schier unbegrenzte Möglichkeiten in die Hand gespielt, sein
Land spekulativ aufzuwerten.« 8
Diese negative Entwicklung führt Bernoulli auf die Französische
Revolution zurück. Dabei ist er der Meinung, wenn die konfiszierten
Güter öffentliches Eigentum geblieben und nicht an Privatpersonen
verkauft worden wären, so wäre es nicht zu jener Parzeliierung ge-
kommen, die eine vernünftige Entwicklung der Städte und der Land-
wirtschaft behinderte. Einen ähnlichen Verlauf nahm die Entwick-
lung aber auch außerhalb Frankreichs und seiner revolutionären
Neuerungen. So befolgte 1808 ein preußisches Gesetz den Rat Adam
Smiths und gestattete den Verkauf von Staatsdomänen, um mit dem
Erlös die Staatsschulden tilgen zu können. Welch katastrophale Folgen
diese Privatisierung von Grund und Boden vor allem für die Arbeiter
hatte, schildert uns vVerner Hegemann in »Das steinerne Berlin«.
Hier wird deutlich, daß die »Baupolizei-Ordnung für Berlin und dessen
Baupolizeibezirk« von 1853, die eine maximale Bebauung der Grund-
stücke und damit das Entstehen der berüchtigten Berliner Hinterhöfe
zur Folge hatte, die letzte Konsequenz der Privatisierung des Grund-
eigentums war.9
Daraus geht aber auch hervor, daß die Phänomene, auf die Bernoulli

7 Hans Bernoulli, Die Stadt und ihr Boden, Zürich 1946, S. 17f.
s Ebd., S. 61f.
9 Werner Hegemann, a. a. 0., S. 295-504.

135

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 135 10.08.2015 09:42:37


hinweist, zwar gewiß wichtige Aspekte der bürgerlich-kapitalistischen
Stadt darstellen, aber selbst in ihrem Rahmen keine endgültige Be-
deutung haben. Sie sind Erscheinungsformen allgemeingültiger wirt-
schaftlicher Gesetze, die sich auf jeden Fall ausgewirkt hätten und für
die Stadtentwicklung auch ihre positiven Seiten hatten. Diese Er-
scheinungen hingen auch nicht mit bestimmten Staats- und Gesell-
schaftsformen zusammen, sonst hätten sie sich nicht in den Reformen
der Habsburger oder der in Neapel residierenden Bourbonen und sogar
in einem so erzreaktionären Staat wie Preußen auswirken können.
Vielmehr stellen die Zerstückelung des Großgrundbesitzes, die Ent-
eignungen und die Veränderung der Besitzverhältnisse eine unum-
gängliche Phase der westeuropäischen Stadtentwicklung dar. Ange-
sichts dieser Tatsache erweist sich der Sozialismus eines Bernoulli
oder Hegemann als zutiefst romantisch und wie das gesamte Neue
Bauen in seinen Anfängen unter demEinf1uß vonMorris' romantischen
Vorstellungen beeinflusst. Bezeichnend rlafür ist, daß Hegemann
gegen die Mietskasernen zu Felde zieht, ohne sich zu fragen, ob die
Blockbebauung als solche vom hygienischen, technischen und ästheti-
schen Standpunkt wirklich den sogenannten Eigenheimen unterlegen
ist, wofür die Wien er und Berliner Siedlungen der Zwischenkriegszeit ja
den deutlichen Gegenbeweis lieferten. Nicht zufällig beziehen Autoren
wie Bernoulli und Hegemann sich stündig auf die gotischen Stä<lte und
den Staatssozialismus der Hohenzollern, die eine moderne Staatsplanung
auch um den Preis einer vorübergehenden Zuspitzung der Situation
ja schließlich überwinden mußte.
Damit komme ich auf den Zusammenhang zwischen den Großstadt-
problemen und der Industrialisierung zu sprechen. Meist winl ange-
nommen, daß zwischen den Städten vor der Industrialisierung und
den heutigen Städten ein grundsätzlicher qualitativer Unterschied
besteht und daß deshalb die philanthropischen und utopischen Experi-
mente des romantischen Sozialismus positiv zu bewerten seien, ja die
eigentliche Grundlage für die ganze moderne Stadtplanung darstellen
sollten, weil der Städtebau, wenn er nicht als Politikum verstanden
werde, zu einer bloßen Technik im Dienste der etablierten Macht
verkomme.
Ich will mich hier nur mit der ersten dieser beiden Thesen beschäf-
tigen, weil von meinem Standpunkt aus schon die Fragestellung, die
der zweiten These zugrunde liegt, falsch ist. Nach meiner Auffassung
treten die Großstadtprobleme längst vor der Industrialisierung auf
und haben deshalb alle diejenigen, die sich über die Stadt Gedanken
machten, von jeher beschäf6gt. Im übrigen weist Hans Faul Bahrdt10
darauf hin, daß die Polemiken gegen die Industriestadtbereits einsetzten,

10 H. P. Bahrdt, a. a. 0., S. 12fT.

136

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 136 10.08.2015 09:42:39


als es noch gar keine Industriestädte gab. Denn als die ersten roman-
tischen Sozialisten ihre Thesen entwickelten, waren Lonclon und Paris
die einzigen wirklich großen europäischen Stiidte, clie sich von jeher
mit den Problemen herumschlugen, <lie <Iiese romantische Polemik der
Industrialisierung in die Schuhe schieben möchte. Dnisburg, Essen und
Dortmund waren dagegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts 1\leinstädte
mit weniger als 10000 Eim\·ohnern, und in :\Iailand nnrl Turin gab es
ebenso wenig Inrlustrie wie in Moskau und Petersburg.
Was immer wietler überrascht, ist <lie TatsachP, claß ein großer Teil
derer, die sich mit der Geschichte des Stächebaus beschäftigen, keine
Schwierigkeit clarin sieht, die Thesen der romantischen Sozialisten
mit den Anklagen von Engels in Einklang Z<l bringen. Denn Engp]s
behauptete: »Die sogenannte vVohmmgsnot. die heutzutage in der
Presse eine so große Rolle spielt, besteht nicht darin, <laß clie Arbeiter
klasse überhaupt in schlechten, iiberfiillten, ungesuntlen \Vohnungen
lebt. Diese Wohnungsnot ist nicht etwas der Gegenwart Eigentüm-
liches; sie ist nicht einmal eins der Leiden, die <lern modernen Prole-
tariat, gegenüber allen früheren untPnlrückten Klassen, eigentümlich
sind; im Gegenteil, sie hat alle unterdrückten Klassen all<·r Zeiten
ziemlich gleichmäßig betroffen. Um dieser \Yohmmgsnot ein Ende zu
machen, gibt es nur ein lVIittel: die Ausbeutun~ und Unterdrückung
der arbeitenden Klasse clurch die herrschcmle Klasse überhaupt zu
beseitigen. - Was man heute unter \V uhmmgsnot versteht, ist die
eigentümliche Y erschiirfung, die die schlechten YiTohnverhältnisse der
Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach clen
großen Stiidten erlitten haben ... 11 «
Engels ist also nicht der Ansicht, daß die Stiidtc vor der Industriali-
sierung ein Paradies gewesen seien. Vielmehr betont er, daß das Ent-
stehen der Großindustrie lediglich ohnehin katastrophale \Volmungs-
verhältnisse noch weiter verschlechtert habe. Die Folgen, die sich aus
der Entstehung der Großindustrie ergaben, sind also nicht eine speziell
die Großstädte betreffende Erscheinung, sondern ein allgemeines
fbel der bürgerlichen Gesellschaft, die nicht durch die Lösung der
Wohnungsfrage beseitigt werden kann. Darauf beruht auch die Kritik
von Engels sowohl an Ilaussmanns Pariser Stadtplanung als an der
Sanierung der englischen Städte und den Stautplanungsideen <ler
romantischen Sozialisten. Das bedeutet aber auch, daß Engels über-
haupt bestreitet, daß das Elend der Arbeiterklasse durch städtebau-
liche Maßnahmen beseitigt werden könne. Vielmehr hält er solche
Vorstellungen für eine reine Abstraktion und eine praktisch reaktio-
näre Einstellung. Alledem ist wohl nichts hinzuzufügen.

11Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage, in: Über die Umwelt der arbeiten-
den Klasse, Gütersloh 1970, S. 159.

137

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 137 10.08.2015 09:42:39


5. Das Wohnungsproblem

Heute ist allgemein bekannt, daß die W ahnungsnot im antiken Rom,


sobald es zu einer Großstadt wurde, nicht geringer war und nicht
weniger Problernte mit sich brachte als in den heutigen Städten. Denn
wie verzeifelt das Wohnungsproblem seit Cäsar und Augustus bis in
die spätrömische Zeit war und welch wichtigen Platz es in der Politik
einnahm, können wir den antiken Schriftstellern entnehmen. Doch
selbst im Mittelalter war das nicht anders. Die romantische Vision
<ler mittelalterlichen Stadt widerspricht deshalb ganz und gar der
Wirklichkeit. Aus Dokumenten, Beschreibungen und den Überresten
der gotischen Städte selbst ersehen wir, daß die Lebensverhältnisse
der unterdrückten Klassen in ihnen zu den traurigsten gehören, die es
in der Menschheitsgeschichte je gegeben hat. Exemplarisch dafür ist
die Pariser Stadtgeschichte, denn die Lebensumstände der proletari-
schen Massen in der französischen Hauptstadt waren einer der Gründe
dafür, daß es zur Französischen Revolution kam. Sie änderten sich
auch bis zu Haussmanns Stadtsanierung nicht, die schon deshalb, wie
immer man sie im einzelnen beurteilen mag, einen Fortschritt dar-
stellt. Denn wenn sie auch bestimmten Interessen diente und demago-
gisch ausgeschlachtet wurde, entspringt sie doch insofern einem fort-
schrittlichen Geist, als die Lebensbedingungen in den Altstadtvierteln
tatsächlich unvertretbar waren und auf jeden Fall hätten verbessert
werden müssen.
Bernoullis und Hegemanns ausgesprochene oder unausgesprochene
moralische Tendenzen haben sie indessen schließlich doch nicht von
einer wirklich wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Stadt abge-
halten. Niemandem kann es nämlich entgehen, daß die wichtigsten
wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Städtebau jenen Gelehrten
zu verdanken sind, deren Untersuchungen sich jeweils auf eine he-
stimmte Stadt beziehen. So wird unser Wissen über Paris, London oder
Berlin immer mit den Namen von Poete, Rasmussen12 oder Hegemann
verbunden bleiben. Wenngleich ihre Arbeiten in vieler Hinsicht ganz
unterschiedlich angelegt sind, zeichnen sie sich doch alle dadurch aus,
daß die allgemeingültigen Gesetze in vorbildlicher Weise durch kon-
krete Tatsachen verdeutlicht werden. Denn jede Einzeluntersuchung
eröffnet Perspektiven, die über ihren speziellen Gegenstand hinaus-
führen. Das ist gerade für die Urbanistik von Vorteil, da sie es ja stets
mit jenem für jedes Kunstwerk charakteristischen Gesamtphänomen
zu tun hat, das bei einer bloß abstrakten Behandlung nur zu leicht
starr und unanschauhar wird oder überhaupt aus dem Blickfeld ver-
schwindet. Dagegen ist einer der Vorzüge von Bernoullis kleiner

12 Steen Eiler R.asmussen, London the unique City, London 1934 und 1960.

138

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 138 10.08.2015 09:42:41


Schrift, daß sie sich stets auf konkrete Tatbestände bezieht, ohne dabei
so historisierend zu sein wie Mumford gerade in den überzeugendsten
Teilen seines Buches. Bernoulli betrachtet die Stadt, wie er selbst es
definiert, als eine Baumasse, innerhalb derer jedes Einzelelement
seinen eigentümlichen und differenzierten Charakter haben kann.
Zwischen einem Grundstück und seiner Bebauung besteht nicht nur
eine wirtschaftliche Beziehung, doch läßt sich ihr komplexer Zu-
sammenhang kaum erschöpfend formulieren. Die funktionalistischen
Theoretiker stützen sich bei ihrem Eintreten für die Einheitlichkeit
eines Stadtviertels auf die Einheitlichkeit der großen historischen Ban-
komplexe. Bezeichnenderweise beziehen sie sich dabei vor allem auf
die Architekturtheoretiker der Renaissance und hier wiederum ins-
besondere auf Leonardo und seinen Stadtplan mit einem System
unterirdischer Straßen und Kanäle für den Warentransport und dem
Zugang zu den Kellergeschossen, über dem auf der Höhe des Erd-
geschosses der Häuser ein Straßennetz für den Fußgängerverkehr vor-
gesehen ist. Als zweites Vorbild nennen die Funktionalisten dann mit
schöner Regelmäßigkeit den Entwurf der Brüder Adam für den Lon-
doner Stadtteil Adelphi. Hierfür hatten die Brüder südlich vom Strand
zwischen City und Westruinster vom Herzog von St. Albany, dem
Eigentümer, das Recht zur Bebauung erworben. Dieses Areal war
groß genug, um ein Straßensystem auf mehreren Ebenen anzulegen,
deren unterste Ebene auf dem Niveau des Themse-Quais lag. Aber war
das Projekt für Adelphi nur deshalb interessant und beruht rlie Bedeu-
tung von Leonardos Entwurf nur darauf, daß es eine einheitliche
Lösung von stark funktionalistischem Einschlag für einen relativ
großen Bereich vorschlug?
Bernoulli hat nicht gesehen, daß Leonardos Projekt insgesamt eines
der ehrgeizigsten im Sinne der Renaissance-Vorstellungen von der
Stadt als Kunstwerk höchster Qualität darstellt, wobei dieses Kunstwerk
als etwas der Natur, der Technik, der Malerei und der Politik unmittel-
bar Benachbartes aufgefaßt wurde. Es ging dabei weit über die schema-
tischen Lösungen von Idealplänen hinaus. Denn es bezog sich auf
eine reale Stadt, deren imaginierte Beziehungen denselben Realitäts-
grad wie die Plätze auf den Bildern Bellinis und der venezianischen
Maler hatten. Es knüpfte an eine reale Stadterfahrung an und sah für
das Mailand zur Zeit von Ludovico il Moro eine Gestalt vor, die ebenso
konkret war wie das Ospedale Maggiore mit seiner Anwendung von
Filaretes architektonischen Grundsätzen oder die Kanäle, die Schleusen
und die neuen Straßen. Keine Stadt ist in ihrer Gesamtheit so durch-
konstruiert wie die Renaissance-Stadt. Ihre Architektur war dabei
zugleich Zeichen und Ereignis und stellte eine Ordnung höherer Art
dar, als sie sich aus ihren reinen Funktionen ergeben hätte. Deshalb
hat auch das Ospedale Maggiore, dessen Konzeption Leonardos Projekt

139

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 139 10.08.2015 09:42:41


durchaus entspricht, bis heute nichts von semer für die Stadtgestalt
entscheidenden Bedeutung eingebüßt. Zweieinhalb Jahrhunderte
später hatten dann die Brüder Adam tatsächlich die Möglichkeit, einen
Stadtteil, wenn auch unter all den Schwierigkeiten, die die Realisie-
rung eines solchen Projekts mit sich bringt, wirklich zu bauen. Dabei
sollte man A(lelphi nicht als eine Ausnahme betrachten, sondern als
einen Beweis dafür. daß auch ein Wohnviertel zu einem primären
Element wenlt•n kann.

6. Der neue Maßstab

Im vorangehenden haben wir auf Pm1ge Irrtümer bei der Lnter-


suchung der St;ult hingewiesen: die Cberschätzung <!essen, was die
Industrialisierung, wenn sie auf diP übliche verallgenwinernde "\Veise
betrachtet "\\in!, für die Sta(lt und deren Dynamik bedeutet; die- von
dem städtischen Kontext abstrahieremle- Behandlung einiger Proble-
me; das Hindernis, das ein moralisierendes Verhalten für die wissen-
schaftliche Darstellung städtebaulicher Phänomene bedeutet. Obgleich
diese Irrtümer nur einen beschränkten Wirkungskreis haben und nie-
mals systematisiert worden sind, was im übrigen auch schwierig wäre,
wurden sie doch zur Quelle zahlreicher Mißverständnisse. Da viele
technische und Teilprobleme betreffende Schriften13 immer noch von
<Iiesen Mißverständnissen ausgehen, die sich vor allem anf <lie Ent-
stehung der modernen Stadt beziehen, sollen die ihnen zugrunde-
liegenden Meinungen hier zusammenfassend dargestellt werden.
Die Vertreter dieser 1\Ieinungen sind in erster Linie der Auffassung,
daß der Begriff der Stadt heute insofern problematisch geworden sei,
als die Industrialisierung der physischen und politischen Homogenität
der Städte ein En<le bereitet hätten. Damit wird (lie Industrie als
Quelle allen Übels und alles Guten zur hauptsächlichen Ursache der
Veränderung der Städte, die sich nach dieser Auffassung in drei Pha-
sen vollzogen haben soll. Der Ursprung dieser gesamten Veränderung
wird auf die Zerstörung der Grundstruktur der mittelalterlichen Städte
zurückgeführt, die darauf beruhte, daß jeweils dasselbe Gebäude
VVohn- und Arbeitsstätte war. Damit fand die Hauswirtschaft als eine
zugleich produzierende und konsumierende Wirtschaftseinheit ihr
Ende. Die Zerstörung dieser Grundform mittelalterlichen Lebens
führte zu einer Kettenreaktion, deren letzte Folgen sich erst in der
Stadt der Zukunft voll auswirken werden. Hand in Hand mit dieser

13 Stadtplanungs-und Vermessungsamt Hannover, Städte verändern ihr Ge-


sicht, Stuttgart 1962; enthält auch eine ausführliche Bibliographie von
Schriften dieser Richtung.

140

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 140 10.08.2015 09:42:43


Entwicklung entstanclen Arheiterhäuser, :Vlassenunterkünfte, lVIiets-
kasernen. Erst damit sei die vVohnungsfrage zu einem städtebaulichen
und sozialen Problem geworden. Als entscheidendes Merkmal dieser
Phase gelten die Stadterweiterung und die Trennung von Wohn-
gebieten und Gewerbevierteln. Diese Trennung nehme in der zweiten
Phase definitiven Charakter an und zerstöre t!amit die nachbarschaft-
liehen Beziehungen. Denn das Entstehen der ersten kollektiven
Arbeitsstätten erlaube es, daß die Arbeitnehmer sich eine Wohnung
suchen, die nicht in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer Arbeitsstätte
liege. Parallel dazu verläuft die Unterteilung der Arbeitsstätten in
Produktions- und Verwaltungsbetriebe. Damit kommt es zur Arbeits-
teilung im eigentlichen Sinn. Aus der Spezialisierung der Arbeits-
stätten ergehe sich das Entstehen der city. Denn die Dienstleistungs-
betriebe seien immer mehr auf gegenseitige Nähe angewiesen gewesen.
So siedle sich die Hauptverwaltung eines Industrieunternehmens eher
in der Nähe der Banken, der Stadtverwaltung und der Versicherungen
an als in der ihrer eigenen Produktionsstätten. Dabei vollziehe sich
diese Konzentration von Dienstleistungsbetrieben, solange genügend
Grundstücke zur Verfügung stehen, zunächst in der Stadtmitte.
Die dritte Phase dieser Veränderungen beginne mit der Fortentwick-
lung des Individualverkehrs und der vollen Effizienz der JVIassenver-
kehrsmittel, die dem Transport zur Arbeit dienen. Diese Entwicklung
wird nicht nur dem technologischen Fortschritt, sondern auch der
wirtschaftlichen Beteiligung der öffentlichen Verwaltung an den Ver-
kehrsmitteln zugeschrieben. Dadurch wird die Wahl des Wohnortes
immer unabhängiger von der Lage der Arbeitsstätten. Da die Dienst-
leistungsbetriebe in der Stadtmitte immer mehr Platz beanspruchen,
kommt es zu einer zunehmenden Nachfrage nach Wohnungen am
lland der Stadt und in ihrem Umland. Damit werden die Bürger zu
»Pendlern«, Wohnung und Arbeitsstätte werden in ihrer Ueziehung
zueinander immer mehr vom Zeitfaktor bestimmt, das heißt sie
werden zu Zeitfunktionen.
Bei einer derartigen Beschreibung der Stadtentwicklung sind Rich-
tiges und Falsches eng miteinander verwoben. Ihre Grenzen zeigen
sich am deutlichsten daran, daß sich die Dynamik der Stadtentwick-
lung als eine Art Naturkraft darstellt, angesichts derer es für das
menschliche Handeln, für städtebauliche Initiativen und politische
Entscheidungen, die in der Stadt getroffen werden, keine Alter-
nativen mehr gibt. D<ts führt schließlich dazu, daß berechtigte
und technisch bedeutsame Maßnahmen wie die Entballung und die
Gestaltung der Beziehung zwischen Wohn- und Arbeitsstätten ihren
instrumentellen Charakter verlieren und aus Mitteln zu Zwecken
werden, denen eine beinahe grundsätzliche und allgemeingültige
Bedeutung zukommt.

141

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 141 10.08.2015 09:42:43


Vor allem aber geht diese Auffassung von unklaren Ausgangspositionen
aus, bei denen die unterschiedlichsten Gesichtspunkte und Methoclen
auf eine zu einfache und schematische Art miteinander vermischt
werden. Dabei ist insbesondere den auf das Wohnungsproblern und
den Maßstab bezogenen Thesen zu widersprechen. Auf das 1'Vohnungs-
problem bin ich anhand seiner Darstellung durch Engels für unseren
Zusammenhang schon ausführlich genug eingegangen, das Problern
des Maßstabs bedürfte hingegen noch einer gründlicheren Behand-
lung. Sie müßte von der Größe des Bereiches ausgehen, auf den sich
eine Untersuchung oder eine städtebauliche Maßnahme bezieht.
Wenn ich mich hier mit diesem Problem noch einmal beschäftige, so
verstehe ich darunter »den neuen Maßstab der Stadt<<. Bei dem unge-
wöhnlichen Wachstum der Städte in den letzten Jahren ist es nur
natürlich, daß sich Stadtplaner und diejenigen Sozialwissenschaftler,
die sich mit der Stadt beschäftigen, vor allem den Problemen zugewandt
haben, die mit der Verstädterung der Bevölkerung, den Ballungs-
räumen und dem Flächenwachstum der Städte zu tun haben. Dieser
größere Maßstab, rler allenthalben wahrzunehmen ist, stellt ein Phä-
nomen dar, das alle Großstädte betrifft. In manchen Fällen kommt ihm
aber eine außergewöhnliche Bedeutung zu. Zur Kennzeichnung des
Gebietes an der Nordostküste rler Vereinigten Staaten, das sich von
Boston und VVashington bis an die Apalachen und den Atlantik erstreckt,
hat Jean Gottmann 14 den- zuvor schon von Mumford1 5 geprägten und
definierten - Begriff der Megalopolis verwendet. Aber wenn es sich bei
der von ihm untersuchten Stadtregion auch gewiß um den Fall han-
delt, der am meisten Aufsehen erregte, so ist die Frage der Stadt-
erweiterung doch auch für die europäischen Großstädte von derselben
Bedeutung.
Die unterschiedlichen Thesen über die Regionalstadt haben viel inter-
essantes Material zutage gefördert, das für deren Untersuchung von
Nutzen sein kann. Dabei wird der Begriff der Regionalstadt sich vor
allem zur Klärung jener Phänomene als nützlich erweisen, die unsere
bisherigen Hypothesen nicht hinreichend deuten konnten. Wider-
sprechen aber möchte ich der Behauptung, daß der >>neue Maßstab<<
die Qualität eines städtebaulichen Tatbestandes verändern kann. Die
meisten der dabei verwendeten Definitionen mögen dabei im techni-
schen Sprachgebrauch ihren Sinn haben, erklären aber im Grunde
nichts. Gottmann betont allerdings, daß er den Begriff »nebulös« für
die Stadt gebraucht, >>Um den komplexen Charakter und die mangeln-
de Klarheit in der Struktur<< der Regionalstädte zu bezeichnen. Er
teile aber nicht die Auffassung einer amerikanischen Ökologenschule,

14 J ean Gottmann, a. a. 0.
15 Lewis Mumford, a. a. 0.

142

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 142 10.08.2015 09:42:45


für die >>der alte Begriff der Stadt als eines räumlich definierten, von
seiner Nachbarschaft zu unterscheidenden strukturierten Kerns tot
ist« und die meint: »Dieser Kern löst sich auf, an seiner Stelle ent-
steht ein mehr oder weniger gallertartiges Gebilde, und die Stadt geht
in der Wirtschaftsregion oder sogar in der Gesamtnation auf.,,l& Auch
uer amerikanische Geograph Richard Ratcliff hat, obwohl aus einer
anderen Sicht als der unseren, die These, daß die Großstadtprobleme
Fragen des Maßstabes seien, als zwar populär, aber falsch abgetan17 .
Die Großstadtprobleme auf Fragen des Maßstabs zu reduzieren, heißt
in der Tat die Existenz einer Wissenschaft von der Stadt, ja geradezu
die reale Stadtstruktur und ihre Entwicklungsbedingungen ignorieren.
Unsere Definition der Stadt aufgrund von primären Elementen, dar-
aus sich ergebenden städtebaulichen Tatbeständen und von Standortein-
flüssen, erlaubt dagegen, das Wachstum der Städte zu untersuchen,
ohne davon ausgehen zu müssen, daß die neue Größenordnung zu
einer Veränderung der Entwicklungsgesetze führt. Die verfehlten
Konsequenzen, die die Architekten aus der neuen Größenordnung
gezogen haben, scheint uns deshalb von bestimmten Gestaltungs-
tendenzen auszugehen. In diesem Zusammenhang möchten wir daran
erinnern, daß Giuseppe Samona zu Beginn der Auseinandersetzung
über den neuen Maßstab darauf hingewiesen hat, wie falsch es von
den Architekten sei, sich ohne weiteres mit dem größeren städtebau-
lichen Maßstab und den riesigen Ausmaßen der Projekte zu identifi-
zieren: »Die Vorstellung von riesigen Ausmaßen der räumlichen
Maßstäbe halte ich für ganz verkehrt. Im allgemeinen befinden wir
uns auch heute wie zu allen Zeiten in einer Situation, in der ein aus-
geglichenes Verhältnis zwischen Mensch und Raum ebensogut mög-
lich ist wie früher, nur daß die räumlichen Abmessungen heute gegen-
über den statischeren Verhältnissen vor fünfzig Jahren an Größe
zugenommen haben.«l8

7. Die politische Entscheidung

In diesem Kapitel haben wir uns mit einigen - zutiefst von den öko-
nomischen Ursachen der Stadtentwicklung abhängigen oder jedenfalls
von ihnen bedingten - Fragen beschäftigt, die in den vorangehenden
Kapiteln noch nicht (oder allenfalls in dem Klassifikationssystem von
Tricart) aufgetaucht waren. Dabei habe ich die Thesen von Maurice
16 Jean Gottmann, De la Ville d'aujourd'hui II. la Ville de demain - la
Transitionvers la Cite nouvelle, in: Prospective, H. 11, 1964.
17 R.ichard R.atcliff, a. a. 0.
18 Giuseppe Samona, La cittlt territorio, un esperimento didattico sul centro
direzionale di Centocelle in R.oma, Bari 1964.

143

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 143 10.08.2015 09:42:45


Halbwachs und Hans ßernoulli llargelegt und kommentiert. Beide
Autoren eröffnen aber noch weitere Perspektiven hinsichtlich der von
uns behandelten Probleme. Bernoulli mußte durch seine These von
der Beziehung zwischen dem Eigentum am Boden und der Stadt-
architektur schnell zu einer ähnlichen wissenschaftlichen Konzeption
von der Stadt kommen, wie sie unter demselben Einfluß des Funk-
tionalismus auch von Le Corbusier und Hilbcrseimer entwickelt wor-
den ist. Wie bei Hegemann läßt sich auch bei Bernoulli, wenn man
die wissenschaftliche Bedeutung seiner These richtig bewerten will,
kaum von deren moralisierender Komponente absehen, auch wenn sie
Bernoullis und Hegemanns Blick für die ·Wirklichkeit oft durch ihre
romantischen Vorstellungen getrübt hat. Die Position von Engels war
ihnen gegenüber zweifellos einfacher, weil er sozusagen von außen,
nämlich aus politischer und wirtschaftlicher Sicht an die Wohnungs-
frage als städtebauliches Problem heranging, um zu dem Schluß zu
kommen, daß dieses Problern gar nicht existiert. Das mag paradox
klingen, ist aber die einzig klärende Sicht der Dinge. Denn wenn
Murnford Engels vorwirft, er behaupte, »es gebe genug Wohnungen,
wenn man sie nur aufteile« und begründe das durch die nicht über-
prüfte Annahme, daß alles, was die Reichen besitzen, auch gut sei, so
entstellt er damit Engels' Überlegungen brutal, bestätigt aber im
Grunde die Tauglichkeit von Engels' These19 . Andererseits darf man
sich nicht darüber wundern, daß die These von Engels nicht von
städtebaulichen Untersuchungen ausgeht. Sie konnte nur aus politi-
scher Sicht entwickelt werden.
Hier könnte man einwenden, daß ich nach meinem bisherigen V er-
such, das Problem des Städtebaus in seinem komplexen Charakter zu
erfassen und deshalb die Erklärung jedes einzelnen Phänomens auf
die Gesamtstruktur zu beziehen, jetzt den Städtebau aus seinem
Zusammenhang mit der Grundtatsache jeder polis, nämlich der Politik,
herauslösen möchte. Denn wenn die Stadtarchitektur das Produkt
eines Bauvorgangs ist, dann scheint es unmöglich, das entscheidende
Moment, das den Bauvorgang auslöst, die Politik also, nicht in dessen
Betrachtung einzubeziehen. Tatsächlich ist mir aber aufgrund der
hier dargelegten Gedanken nicht nur klar, daß dieser Zusammenhang
zwischen Bauen und Politik besteht, sondern ich bin mir auch der
Tatsache bewußt, daß dieser Zusammenhang entscheidenden Charak-
ter hat. Denn die Entscheidungen, die dabei gefällt werden müssen,
sind politischer Natur. Letzten Endes ist es nämlich die Stadt selbst,
die ihr Bild bestimmt, und zwar vermittels ihrer Institutionen. Wollte
man dabei die Art dieser Entscheidung für bedeutungslos halten, so
würde man die ganze Frage in unerlaubter Weise banalisieren. Denn

19 Lewis Mumford, a. a. 0.

144

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 144 10.08.2015 09:42:46


sie ist keineswegs gleichgültig. Vielmehr stellen die Gestalt von Athen,
Rom und Paris das sichtbare Zeichen ihres politischen Willens dar.
Wenn wir freilich die Stadt nach Art der Archäologen als ein künst-
liches Gebilde betrachten, können wir ihre sichtbare Gestalt insgesamt
als Zeichen des Fortschritts ansehen. Das ändert indessen nichts daran,
daß unterschiedliche vVertungen dieses Fortschritts möglich sind und
damit auch der ihnen zugrundeliegenden politischen Entscheidungen.
Dann aber spielt die Politik, die wir bisher scheinbar aus unseren
Überlegungen über die Stadt ausgeklammert haben, für sie eine
Hauptrolle und stellt ein die Stadt konstituierendes Element dar. Die
Stadtarchitektur, von der wir gezeigt haben, daß sie eine Schöpfung
des Menschen ist, ist als solche gewollt worden. Zum Beispiel sind die
italienischen Renaissance-Plätze in ihrer Gestalt nicht auf bloße
Funktionen oder gar auf einen Zufall zurückzuführen. Sie sind ein
Mittel zur Gestaltung der Stadt, aber dieses scheinbare Mittel ist zum
Zweck geworden. Diese Plätze selbst sind die Stadt. Deshalb ist die Stadt
sich Selbstzweck, und es gibt daran nichts weiter zu erklären, als daß
die Stadt in ihnen gegenwärtig ist. Diese Gegenwart aber impliziert
den v'Villen zu einem So-Sein und ZU dessen Kontinuität. Dieses So-
Sein beruht auf der Schönheit des antiken Stadtschemas, an dem wir
auch unsere Städte immer wieder messen. Gewiß verändern Funk-
tionen, Zeit, Ort und Kultur dieses Schema ebenso wie die architek-
tonischen Formen. Aber diese Veränderung hat nur eine Bedeutung,
wenn sie als Ereignis und Zeichen die Stadt ihrer selbst bewußt
werden läßt.
Wir haben gesehen, daß sich vor allem Zeiten der Neuerungen mit
dieser Frage auseinandersetzen. Aber nur das Zusammentreffen
glücklicher Umstände ermöglicht es, daß die Stadt in ihren Einzel-
phänomenen ihre Idee von sich selbst verwirklicht, inrlem sie sie aus
Stein erbaut. Und nur in dieser konkreten Gestalt können wir ihre
Bedeutung ermessen. Dabei besteht in den Elementen der Stadtarchi-
tektur eine Interdependenz zwischen Willkür und Tradition wie
zwischen den allgemeinen Gesetzen und ihrer konkreten Ausformung.
Denn selbst wenn in jeder Stadt unterschiedliche Individuen leben
und die Individualität der Stadt selbst von ihren spezifischen Tradi-
tionen, Gefühlen und unausgesprochenen Ehrgeizen geprägt ist, so
unterliegt sie doch den allgemeinen Gesetzen der Stadtentwicklung.
Da hinter allen Einzelentwicklungen eine Allgemeingesetzlichkeit
steht, vollzieht sieh das Wachsturn einer Stadt nicht spontan. Viel-
mehr lassen sich die Veränderungen in ihrer Struktur durch die
natürlichen Tendenzen der einzelnen Gruppen erklären, die in
den verschiedenen Stadtteilen leben. Denn der Mensch ist nicht
nur Angehöriger eines bestimmten Landes und einer bestimm-
ten Stadt, sondern auch eines bestimmten, fest umgrenzten Stadt-

145

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 145 10.08.2015 09:42:47


bezirks. Darum deutet jede städtebauliche Veränderung auch auf
eine veränderte Lebensweise ihrer Bewohner hin. Aber diese Reak-
tionen lassen sich nicht ohne weiteres voraussehen oder zwangsläufig
aus ihren Voraussetzungen ableiten. Damit verfiele man nämlich bei
der Definition des physischen Milieus demselben Determinismus wie
der naive Funktionalismus bei seinem Versuch, die Form zu definieren.
Vielmehr entziehen sich rlie Beziehungen zwischen dem Menschen
und seiner Umwelt weitgehend einer Analyse, finden ihren Ausdruck
aber in der Stadtstruktur.
Daß die Beziehungen zwischen lVIensch und Umwelt so schwer zu
identifizieren sind, könnte uns dazu verleiten, nach einem irrationalen
Faktor zu suchen, auf den das Wachsturn einer Stadt zurückzuführen
ist. Aber dieses Wachstum ist nichts Irrationaleres als jedes Kunstwerk.
Es beruht wohl vor allem auf dem geheimen und unaufhaltsamen
Kollektivwillen. So ergeben sich schließlich nur wenige Anhaltspunkte
für die komplexe Struktur der Stadt. Aber vielleicht verhält es sich mit
ihr nicht anders als mit den Gesetzen, die das Leben und Schicksal der
einzelnen Menschen bestimmen. Denn obgleich jede menschliche
Lebensgeschichte mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet,
verdient sie doch unser Interesse. Auch die Architektur der Stadt ist,
abgesehen von ihrer Bedeutung und von den Empfindungen, die diese
Bedeutung in uns auslöst, als >>das Menschliche schlechthin« das kon-
krete Zeichen einer solchen Lebensgeschichte.

146

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 146 10.08.2015 09:42:48


Bildteil

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 147 10.08.2015 09:42:48


0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 148 10.08.2015 09:42:48
1. Zürich, frühes 19. Jahrhundert. Sicht vom Petersturm auf Stadt und
Alpen.

149

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 149 10.08.2015 09:42:49


2. Teufelsbrücke über die Reuss an der Gotthardstraße in der Schöllenen-
schlucht, nach 1830.

150

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 150 10.08.2015 09:42:50


3. Padua, Palazzo della Ragione, erbaut 1172-1219, Loggien von 1306.

151

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 151 10.08.2015 09:42:51


4., 5. Padua, Palazzo della Ragione, erbaut 1171-1219, Loggien von 1306.

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 152 10.08.2015 09:42:52


.\. /
..... ,
. '

.I
(

l jI r II
jj '
n'

6. Francesco Milizia: Principj di architettura civile, Teil I, Bildtafel1.

153

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 153 10.08.2015 09:42:53


7. Stuttgart, Weißenhofsiedlung 1927. Ursprünglicher Zustand an der
Rathenaustraße mit dem Haus von Max Taut rechts im Vordergrund,
dahinter der mehrgeschossige Bau von Mies van der Rohe.

8. Frankfurt am Main, Siedlung Römerstadt, 1925-1930. Architekt ErnstMay

9. Berlin, Siedlung Siemensstadt, 1929. Wohnblock von Walter Gropius.

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 154 10.08.2015 09:42:53


10. Arles, das römische Amphitheater im Jahr 1686.

11. Arles, Luftaufnahme des römischen Amphitheaters.

155

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 155 10.08.2015 09:42:54


12. Plan der unter Richelieu 1630-1640 erbauten Festung Brouage (Charente -
Maritime).

13. Luftaufnahme des heutigen Dorfes Brouage.

156

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 156 10.08.2015 09:42:54


14. Plan der Festung Rocroi (Ardennes) aus der Zeit Vaubans.

15. Luftaufnahme des heutigen Städtchens Rocroi.

157

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 157 10.08.2015 09:42:54


16. Plan von Giovanni Antolini für das Foro Bonaparte in Mailand 1807.

17. Lageplan für das Foro Bonaparte von Antolini .

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 158 10.08.2015 09:42:55


18. Abwandlung von Antolinis Bebauungsplan rings um das Castello Sforzesco
in Mailand durch Cesare Beruto 1874.

159

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 159 10.08.2015 09:42:56


DULA
CIVILTA
R0'1ANA

19. Modell der Stadt Rom zur Kaiserzeit.

160

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 160 10.08.2015 09:42:56


ZO., 21. Segovia, römischer Aquädukt.

161

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 161 10.08.2015 09:42:57


22. Blick von Nordwesten auf das Forum R.omanum.

162

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 162 10.08.2015 09:42:58


23 . Merida, Ruinen der römischen Wasserleitung.

24. Merida, Guadiana-Brücke.

163

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 163 10.08.2015 09:42:59


25. Paris 1853-1870 mit Haussmanns Straßendurchbrüchen.

164

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 164 10.08.2015 09:42:59


26., 27. Wien, K11rl Marx-Hof, 1!:127. Architekt K. Ehn.

165

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 165 10.08.2015 09:43:00


28 . Place de l'Hötel-de-la- Ville in Le Havre nach dem Wiederaufbau durch
Auguste Perret 1945-1955.

166

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 166 10.08.2015 09:43:01


29. Avenue Poch in Le Havre nach dem Wiederaufbau.
167

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 167 10.08.2015 09:43:02


30. Le Havre, Betonkirche Saint-Joseph mit106m hohem Turm. Architekt
Auguste Perret.

168

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 168 10.08.2015 09:43:03


51., 52. Paris, Rue de Ia Ferronnerie. Entwurf 1669.

169

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 169 10.08.2015 09:43:04


33., 34. Paris, Rue de Ia Ferronnerie.

170

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 170 10.08.2015 09:43:05


35 . Le Corbusier, Generalbebauungsplan für Chandigarh, in der Mitte das
Geschäftszentrum, oben das Kapitol, 1951.

171

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 171 10.08.2015 09:43:06


36. Lucio Costa, Lageplan von Brasilia mit den neuen Stadtteilen am See,
1958.

37. Lucio Costa, ursprünglicher Entwurf für Brasilia, aus dem Wettbewerb
1956/1957.

172

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 172 10.08.2015 09:43:06


Nachwort zur deutschen Ausgabe

Das vorliegende Buch ist ein Architekturentwurf. Wie bei jedem


Entwurf kommt es auch bei ihm weniger auf das verwendete Material
als darauf an, Beziehungen zwischen vorgegebenen Sachverhalten
herzustellen. Insbesondere geht es dieser Untersuchung um die wichtige
Beziehung zwischen der Einmaligkeit einer Gestalt und der Vielfalt
ihrer Funktionen. Heute bin ich der Auffassung, daß diese Beziehung
das Wesen der Architektur ausmacht. Einige in diesem Buch ana-
lysierte Grundprobleme sind in der Folge zu Grundbegriffen einer
Entwurfstheorie geworden. Das gilt für die Topographie der Stadt,
das Studium der Typologie und das Verständnis der Architektur-
geschichte als Voraussetzung des heutigen Bauens. Dabei durchkreuzen
räumliche und zeitliche Aspekte sich fortwährend. Topographie, Typo-
logie und Geschichte werden so zum Maßstab für eine sich verändernde
Wirklichkeit. Damit tragen sie gemeinsam zur Entwicklung eines
Architektursystems bei, in dem es für .beliebige Erfindungen keinen
Platz gibt. Das heißt, daß diese Theorie den Kampf gegen das Chaos
in der heutigen Architektur aufnimmt.
Das vorliegende Buch hat - nicht anders als meine architektonischen
Entwürfe- unterschiedliche Interpretationen erfahren. Dabei stellen
alle jene Versuche, unter Berufung auf eine angebliche Objektivität
der städtebaulichen Forschung oder auf die Autonomie der Gestalt
nur einen einzigen Aspekt dieser Untersuchung ins Auge zu fassen,
da Mißverstände dar, wo sie den komplexen Charakter der Architektur
nicht berücksichtigen. Mir ging es um den Nachweis, daß in der Sicht
des Architekten auch die Topographie formale Werte enthält, aus
denen er Folgerungen für seinen Entwurf zu ziehen hat. Denn so
ergibt sich die Eigenart eines Baus aus der Eigenart einer Stadt. Vor
fünfzigJahrenschrieb Adolf Behne in seiner Definition rationalistischer
Architektur: »Nicht handelt es sich bei dem Begriff >Form< um Zutat,
Schmuck, Geschmack oder Stil ( ... ), sondern um die Konsequenzen,
die sich aus der Eigenschaft des Baues, ein Gebilde von Dauer zu sein,
ergeben ( ... ). Der Rationalist (will) die beste Entsprechung für
viele Fälle.<< In diesem Sinne versteht auch das vorliegende Buch die
bedeutenden Bauten der Vergangenheit als Strukturen, die eine Stadt
gestaltet haben und weiter gestalten, weil sie im Laufe der Zeit immer
neuen Funktionen entsprechen.

173

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 173 10.08.2015 09:43:07


Die Stadt Split, die innerhalb des Dioklatian-Palastes entstand und
dabei für unveränderliche Formen eine neue Nutzung und eine neue
Bedeutung fand, hat für dieses Wesen der Architektur und deren
Beziehung zur Stadt emblematische Bedeutung erlangt. Denn
äußerster Prägnanz der Form entspricht hier ein Höchstmaß von
Anpassungsfähigkeit an verschiedenartige Funktionen.

August 1973 Aldo Rossi

174

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Inhalt_Hauptteil_20150810.indd 174 10.08.2015 09:43:07


Typologische Probleme
(Nachwort zur dt. Übersetzung von L’architettura della città)

Eine der bekanntesten Passagen aus L’architettura della città stammt nicht vom Au­
tor selbst, sondern ist ein langes Zitat des französischen Kunsthistorikers Antoine
Chrysostôme Quatremère de Quincy. In dessen Dictionnaire historique de l’Architec­
ture von 1832 findet sich eine Eintragung zum Stichwort »Typus«, die von Aldo
Rossi als »meisterhafte« Definition im Unterkapitel »Typologische Probleme« in
Teilen wiedergegeben wird, welche mit den Worten beginnen: »Das Wort Typus
bezieht sich nicht so sehr auf das Bild einer zu kopierenden oder vollständig nach­
zuahmenden Sache als auf eine Idee, die dem Modell als Regel dient.«1 Quatremère
de Quincy erläutert an dieser Stelle den konzeptuellen Unterschied zwischen
­Modell und Typus. Während das Modell ein konkretes Objekt ist, das lediglich
­unmittelbar kopiert werden kann, wird der Typus vom Autor als eine »Idee«, als
eine »Regel« bezeichnet, die nur vage umrissen ist, durch die jedoch zahllose Ein­
zelwerke entstehen können, »die einander überhaupt nicht ähnlich sehen.« Rossi
schlussfolgert, dass der Typus ein »Grundbegriff der Architektur« ist,2 eine Struk­
tur, die selbst nicht kopiert oder imitiert werden kann, die aber die Vielzahl an For­
men ermöglicht, in denen der Typus jeweils als Regel immanent ist: »Dabei ist kein
Typus mit einer Form identisch, auch wenn alle architektonischen Formen auf
­Typen zurückzuführen sind.« Die »Typologie« ist entsprechend »die Lehre von
nicht weiter reduzierbaren elementaren Typen.«3 Und das heißt wiederum, nicht
die technischen oder sozialen Funktionen bestimmen die »Architektur der Stadt«,
sondern überlieferte Bautypen, teilweise Jahrhunderte alt.
Als L’architettura della città 1966 auf Italienisch4 und nur wenige Jahre später auch
auf Deutsch5 (sowie in vielen anderen Sprachen) erschien, war es genau diese

1 Aldo Rossi, Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen, aus dem Italienischen
von Arianna Giachi, Bertelsmann, Düsseldorf 1973, S. 27
2 Ibid., S. 26
3 Ibid., S. 28
4 Aldo Rossi, L’architettura della città, Band 8 der Reihe »Biblioteca di Architettura e Urbanistica«, Marsilio
­Editori, Padova 1966, zweite Auflage 1969, dritte Auflage 1973; 1978 und 1987 erschienen überarbeitete Neu­
auflagen beim Verlag clup (cooperativa libraria universitaria del politecnico) in Mailand; die letzte italienische
Ausgabe, die den Text der ersten Auflage und nur einen spärlichen Bildapparat hat, ist 1995 beim Turiner Verlag
CittàStudiEdizioni herausgebracht worden.
5 Die deutsche Übersetzung hat bekanntlich Mängel; es gibt willkürliche Eingriffe in Inhalt und Struktur des
Originaltexts. Diese sind aber nicht Bestandteil des vorliegenden Textes. Für jede weiterführende Diskussion die­
ses und anderer Aspekte von Rossis Werk s. Angelika Schnell, Die Konstruktion des Wirklichen. Eine systematische
Untersuchung der geschichtstheoretischen Position in der Architekturtheorie Aldo Rossis, Staatliche Akademie der
Bildenden Künste Stuttgart, 2009

175

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Anhang_20150807.indd 175 10.08.15 09:46


These, die sich klar und deutlich gegen den »naiven Funktionalismus«6 der mo­
dernen Nachkriegsarchitektur aussprach, die alle lesen wollten. Ganz besonders
in ­einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland, wo zunehmend der Verlust
histo­rischen Baubestands beklagt wurde, der nicht nur durch den Zweiten Welt­
krieg, sondern auch durch nachfolgenden Abriss verursacht wurde, traf des Autors
Plädoyer für eine neue Wertschätzung der »Architektur der Stadt«, ihrer Monu­
mente und ihrer überlieferten architektonischen Typen den Nerv. Die Architektur
der Stadt war schnell vergriffen.
L’architettura della città
Freilich: Dass Quatremère de Quincy als Kronzeuge für die Hauptthese von L’ar­
chitettura della città eingeführt wurde, hätte auch Fragen aufwerfen können. In
den 1960er Jahren begann Rossi gerade, sich mit dem Begriff des architektoni­
schen Typus zu beschäftigen; dass er auf der Suche nach einer griffigen Definition
war, ist daher verständlich. Aber warum zieht er für einen seiner zentralen Be­
griffe, der konzeptuell die Verbindung zwischen »Architektur« und »Stadt« her­
stellen soll, ausgerechnet einen als konservativ bekannten Klassizisten heran, des­
sen platonisch-metaphysische Architekturdoktrin nicht wenige für »starr«, sogar
»beschränkt« halten? 7 War Rossi doch nur der Neo-Aufklärer und Neo-Klassizist,
für den ihn nicht nur seine Kritiker hielten, der er aber nie sein wollte? 8 Die Ant­
wort auf diese Frage ist nicht ohne Umwege möglich, aber sie führt auch zu einem
Grundproblem von Aldo Rossis schriftlichem Werk.
Es polarisiert. Von Anfang an gab es diejenigen, die Rossi fast schon hemmungslos
bewunderten, und diejenigen, die ihn für einen Scharlatan hielten: »Rossi, der bei­
nahe im Alleingang [das] Vertrauen in den Beruf wieder hergestellt hatte, wurde
zum Helden der Architekten, die ihm dankbar zu Füßen lagen. […] Seine schlag­
wortartigen Thesen waren nicht weniger einprägsam, hypnotisch und charisma­
tisch als die Le Corbusiers. Sie zu übernehmen, war wie bei Le Corbusier eher
Glaubensakt als rationale Entscheidung.«9 Alexander Tzonis trifft den Kern von
Rossis architekturtheoretischen Schriften. Rossis Thesen sind eine Mischung aus

6 Aldo Rossi, Die Architektur der Stadt, op. cit., S. 29ff


7 Vgl. z. B. Robin Middleton/David Watkin, Klassizismus und Historismus (Storia universale dell’architettura,
Gruppo Editoriale Electa S.p.A., Milano 1980), 2 Bde., DVA, Stuttgart 1987, bes. S. 99 und S. 215; Hanno-Walter
Kruft, Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart (1985), C.H. Beck, München 2004, S. 316
8 Noch wenige Jahre zuvor hatte Rossi einem platonischen Klassizismus, der auf bloßen Abstraktionen beruht, als
»tote Kunst« eine Absage erteilt. Aldo Rossi, »Il concetto di tradizione nell’architettura neoclassica milanese«, in:
Società, XII, Nr. 3, 1956, S. 474–493; Aldo Rossi, »L’ordine greco«, in: Casabella-Continuità, Nr. 228, Juni 1959,
S. 14–16. Er hat sich später darüber beklagt, für einen »Neo-Aufklärer« gehalten zu werden (er meinte damit vor
allem Manfredo Tafuri), allerdings hat er selbst viel dazu beigetragen. Vgl. Aldo Rossi, Wissenschaftliche Selbst­
biographie, Gachnang & Springer, Bern/Berlin 1991, S. 28
9 Alexander Tzonis / Liane Lefaivre, Architektur in Europa seit 1968, Campus, Frankfurt am Main/New York
1992, S. 62

176

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Anhang_20150807.indd 176 10.08.15 09:46


zugleich selbstbewussten und undeutlichen Aussagen, die zu (eigennützigen) Inter­
pretationen führen können und geführt haben – manche davon äußerst fruchtbar.
Ihr Verfasser hat dies gewiss nicht beabsichtigt; allein der große Umfang von ­Rossis
schriftlichem Werk spricht dagegen. Gleichwohl findet man in seinen Schriften
immer wieder dasselbe Phänomen: was auf den ersten Blick klar und systematisch
erscheint, löst sich bei näherer Betrachtung in Bestandteile auf, die sich teilweise
sogar widersprechen und Mißverständnisse ermöglichen.
Das gilt auch für L’architettura della città. Es ist keine architekturtheoretische
Schrift im Sinne einer Entwurfstheorie; Schlüsselbegriffe wie Architettura Razio­
nale oder Tendenza werden in L’architettura della città überhaupt nicht diskutiert.
Dazu muss man auf Rossis zahlreiche Aufsätze zurückgreifen, die jedoch nur teil­
weise ins Deutsche übertragen worden sind. In L’architettura della città macht
Rossi, so konstatiert Massimo Scolari später, absichtlich keine »operativen Anga­
ben«.10 Wie der Untertitel verdeutlicht, handelt es sich vielmehr um eine »Skizze«
zu einer »grundlegenden Theorie des Urbanen«. Erstaunlicherweise gibt es diesen
Untertitel nur in der deutschen Übersetzung,11 doch er vermittelt die Ambition des
Autors: eine vorläufige Studie zu einer Stadttheorie vorzulegen, die sich ausschließ­
lich auf ihre Architektur stützt, das heißt, andere die Stadt prägende Kräfte wie
­politische, soziale, ökonomische usw. zwar nicht leugnet, aber im Rahmen der eige­
nen Theorie ignoriert.
Gleichwohl ist L’architettura della città auch keine wissenschaftliche Studie. Trotz
der zahlreichen theoretischen Bezüge aus ganz unterschiedlichen Disziplinen, dar­
unter eine Reihe französischer Stadtgeographen des 19. und beginnenden 20. Jahr­
hunderts, fehlen das systematische und kritische Diskutieren der verwendeten
Quellen sowie eine erkennbare Untersuchungsmethode.12 Systematik suggeriert
zwar die nach Maßstäben geordnete Kapiteleinteilung – Stadt, Stadtquartiere, Ge­
bäude, Politik –, aber sie hält nicht, was sie verspricht. Bereits die Binnengliede­
rung durch unterteilende Abschnitte macht klar, dass in jedem einzelnen Kapitel
zwischen den Maßstäben gesprungen wird und dieselben Fragen immer wieder
­anders diskutiert werden. So tauchen die »monumenti«, die »fatti urbani« und die
»questioni tipologiche« in jedem Kapitel wieder auf, genauso die Begriffe »strut­
tura« oder »locus«, die ebenfalls prominent vertreten sind. Rossi präsentiert auch

10 Massimo Scolari, »L’impegno tipologico«, in: Casabella 509/510, Januar/Februar 1985, S. 44


11 Weder das italienische Original noch z. B. die sorgfältig editierte amerikanische Ausgabe haben einen Unter­
titel.
12 Rossi schreibt zwar, dass er unter anderem die »vergleichende Methode« gewählt habe, eine Methode, die
­dezidiert Émile Durkheim in seinem methodischen Hauptwerk »als die einzige, welche der Soziologie entspricht«
und absichtlich »ahistorisch« vorgeht, propagiert, aber er schreibt nicht genau, was er mit was vergleichen will,
auch erwähnt er keine Referenz (weder Durkheim noch andere Wissenschaftler), so dass vieles undeutlich bleibt,
auch die Frage, wie er die »vergleichende Methode« anzuwenden gedenkt. Vgl. Émile Durkheim, Die Regeln der
soziologischen Methode, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, S. 205

177

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Anhang_20150807.indd 177 10.08.15 09:46


keinen Leitfaden, nach der er zwischen den Maßstäben und den Begriffen hin und
her springt, daher bleibt den Lesern und Leserinnen nichts anderes übrig, als die
Schrift als ein Konglomerat aus vielen interessanten Beispielen zu lesen. Diese
­fußen teilweise tatsächlich auf langjährigen Untersuchungen verschiedener Auto­
ren; manche davon sind durch ihre anschauliche Präsentation in L’architettura
della ­città zum Synonym für die These des Buches selbst geworden, dass die archi­
tektonischen Formen als »fatti urbani«13 ihre Nutzung überdauern können. Dazu
zählen vor allem die ehemaligen römischen Amphitheater in Arles und in Florenz,
deren physische Gestalt noch erkennbar ist, die aber durch mittelalterliche Umnut­
zung in Wohnbau inzwischen mit dem Stadtgewebe verschmolzen sind, der Palazzo
della Ragione in Padua und der Diokletianspalast in Split, der nach Rossi »emble­
matische Bedeutung« erlangt habe, da »äußerster Prägnanz der Form […] ein
Höchstmaß von Anpassungsfähigkeit an verschiedenartige Funktionen« entsprä­
che, wie Rossi im Nachwort zur deutschen Ausgabe im August 1973 noch einmal
betont.14 Nicht zuletzt aufgrund solcher Worte wurde Rossi als »postmodern« eti­
kettiert; Heinrich Klotz gehört jedenfalls zu denen, die Rossi so interpretiert haben,
denn Rossis Architektur und Theorie führe »insgesamt aus der Moderne heraus.«15
Questioni tipologiche
Wieder ein Missverständnis? Rossi hat oft genug betont, dass er sich in der Konti­
nuität der modernen Bewegung, genauer: in der Kontinuität der von ihm als Ratio­
nalisten identifizierten modernen Architekten sieht, darunter u. a. Le Corbusier,
Ludwig Hilberseimer, Ludwig Mies van der Rohe, Adolf Loos, Hannes Meyer,
Hans Schmidt und natürlich auch Giuseppe Terragni. Doch die Einführung des
Typus-Begriffs als Kritik am Funktionalismus der Moderne hat dazu geführt, dass
Rossi schon nicht mehr als deren Erbe gedeutet wurde.
Auch Anthony Vidler hat den moderne-kritischen Ansatz von Rossi erkannt, aber
sich als Redakteur der einflussreichen Zeitschrift Oppositions vor allem bemüht,
Geschichte und Theorie hinter Rossis Typus-Definition zu erläutern, und dabei
Etikettierungen wie »modern« oder »postmodern« zu vermeiden. In dem viel­
beachteten Aufsatz mit dem Titel »The Third Typology« formuliert er die These,

13 Es ist kritisiert worden, dass die deutsche Übersetzung von »fatti urbani« mit »städtebaulichen Tatbeständen«
falsch sei. Die Verfasserin vertritt aber eher die Auffassung, dass es sich dabei um eine korrekte Übersetzung han­
delt, da Rossi den Begriff wahrscheinlich von Émile Durkheims »fait social« entlehnt hat, auch wenn er ihn nicht
erwähnt.
14 Aldo Rossi, Die Architektur der Stadt, op. cit., S. 174
15 Heinrich Klotz, Moderne und Postmoderne. Architektur der Gegenwart, Vieweg, Braunschweig/Wiesbaden
1987, S. 245

178

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Anhang_20150807.indd 178 10.08.15 09:46


dass es seit Beginn der Neuzeit drei verschiedene Typusdefinitionen gegeben ­habe.16
Der »ersten Typologie«, die sich aus der rationalistischen Philosophie der Aufklä­
rung entwickelt hat und daher abstrakten Ideen huldigt, folgte die »zweite Typo­
logie« der modernen Bewegung, die die Typisierung operationell verstand, als in­
dustriell vorgefertigte Bauelemente, um schließlich durch die »dritte Typologie«
der Gegenwart abgelöst zu werden, bei der sich die Typen aus der (historischen)
Stadt und ihren konkreten Artefakten bilden. Zu letzterer gehört selbstverständ­
lich Rossis Typologie-Theorie.
Doch auch Vidlers Bemühungen werfen Fragen auf, passen sie doch offenbar gar
nicht zu Rossis bzw. Quatremère de Quincys Typus-Definition, die nach Vidler zur
»ersten Typologie« gehören müsste. Die Antwort kann man sich fast schon denken:
Rossi versteht den Typus nicht so wie Quatremère de Quincy ihn anscheinend
­verstanden hat, als eine Abstraktion, eine Idee, eine begriffliche Urhütte, die von
­Naturgesetzen abgeleitet ist und deshalb a priori existiert.17 Er bezieht sich statt­
dessen auf einen Aufsatz von Giulio Carlo Argan, der bereits 1962 auf die Typus-
Definition von Quatremère de Quincy hingewiesen hat, aber selbst andere Schlüsse
daraus gezogen hat. Der Kunsthistoriker Argan, einstiger Kollege von Rossi in der
Redaktion von Casabella, hat Quatremère de Quincys Definition nicht als plato­
nisch und metaphysisch interpretiert. Er überspringt diejenigen Passagen, wo Qua­
tremère de Quincy davon spricht, dass der Typus auf einen »Keim« menschli­
cher Erfindungen zurückgehe, sondern schlussfolgert vielmehr aus der Behauptung
Quatremère de Quincys, der Typus selbst bleibe »unbestimmt«, dass dieser »nie­
mals a priori formuliert« sei, sondern »immer von einer Serie von Beispielen de­
duziert.«18 Anders ausgedrückt: Argan stellt gewissermaßen Quatremère de Q ­ uincys
These vom Kopf auf die Füße und macht zurecht darauf aufmerksam, dass der
­architektonische Typus nur durch einen rückwärtsgewandten Prozess deduziert
werden kann, da er sich allmählich als eine kulturelle Übereinkunft herausgebildet
hat, als »Antwort auf eine Gesamtheit von ideologischen, religiösen oder prakti­
schen Anforderungen.«19 Nach Argan ist der Typus ein Modell der Reife und nicht
der »archè«, der Anfänge der Natur oder der Architektur. Damit hat Argan den

16 Anthony Vidler, »The Third Typology« (Oppositions, Nr. 7, Winter 1976), in: Michael Hays (Hrsg.), Oppositions
Reader. Selected Readings from A Journal for Ideas and Criticism in Architecture 1973–1984, Princeton Architectu­
ral Press, New York 1998, S. 13–16. Eine deutsche, leicht gekürzte Übersetzung unter dem Titel »Die Dritte Typo­
logie« erschien wenige Jahre später in: G. R. Blomeyer/B. Tietze, In Opposition zur Moderne. Aktuelle Positionen
in der Architektur, Vieweg, Braunschweig/Wiesbaden 1980, S. 108–116
17 Es gibt natürlich auch Sätze, die das Gegenteil zu belegen scheinen, wie z. B.: »Schließlich können wir sagen,
daß der Typus die Idee der Architektur an sich ist; das, was ihrem Wesen am nächsten kommt.« Aldo Rossi, »Das
Konzept des Typus«, in: 37 ARCH+, April 1978, S. 40
18 Giulio Carlo Argan, »Sul concetto di tipologia architettonica« in: Festschrift für Hans Sedlmayr, C.H. Beck,
München 1962, S. 96–101
19 Ibid., S. 97; Übersetzung: Ingo Bohning, Ingo Bohning, »Autonome Architektur« und »partizipatorisches Bauen«.
Zwei Architekturkonzepte, Birkhäuser, Basel/Boston/Stuttgart 1981., S. 63

179

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Anhang_20150807.indd 179 10.08.15 09:46


doktrinären Akademiker Quatremère de Quincy als modernen Kulturtheoretiker
umgedeutet, der regionale und kulturelle Unterschiede anerkennt,20 und Rossi ist
ihm darin gefolgt.
Freilich ergeben sich aus dieser Umkehrung neue Probleme. Die Frage stellt sich,
ob das Modell, das durch Quatremère de Quincy diskriminiert war, nicht wieder
aufgewertet oder gar wichtiger wird? Beim Lesen von L’architettura della città hat
man jedenfalls den Eindruck, dass die »fatti urbani«, die konkreten Architektur­
formen, für Rossi viel wichtiger sind. Daraus speist sich nicht zuletzt auch das neu­
ere Interesse an Rossis Theorie, das durch Pier Vittorio Aureli initiiert wurde, der
immer wieder darauf hinweist, dass der Begriff »locus« (bzw. Stadttopographie)
eine bisher unterschätzte Rolle in L’architettura della città spielt.21
Aber Rossi hält am Typus-Begriff als zentralem theoretischem Konzept fest, will
ihn als »etwas Bedingtes und etwas Bedingendes«22 zugleich verstehen. Dadurch
wird der Typus aber zum einen maßstabslos und taugt nicht als Differenzierungs­
kategorie; er findet sich in Bauelementen, Gebäuden, ganzen Stadtstrukturen und
sogar in der Topographie. »So ist aufgrund der Ähnlichkeit jeder Korridor eine
Strasse, der Hof ist ein Platz, und ein Gebäude reproduziert die Orte der Stadt,«23
erklärt Rossi an anderer Stelle. Zum anderen lässt sich seine Herkunft nicht klären.
In L’architettura della città behauptet Rossi einerseits, der Typus sei »die Regel, auf­
grund derer Architektur entsteht.« Und die Typologie sei folglich »die Lehre von
nicht weiter reduzierbaren elementaren Typen.«24 Zugleich schreibt er aber auch:
»Man kann die Stadt von verschiedenen Gesichtspunkten aus analysieren, doch
immer wird sich die Architektur dabei als ihr letztes, nicht weiter reduzierbares
Element erweisen.«25
Statt die Frage, was nun die »letzten, nicht weiter reduzierbaren Elemente« der
Stadt sind, die Typen oder die Architektur, einfach beiseite zu lassen und sich da­
rauf zu beschränken, dass es in der Gegenwart identifizierbare Typen gibt, versucht
Rossi immer wieder, die Herkunft beider zu klären. So preist er das antike Athen
als (ziemlich eurozentrischen) Ursprung der Stadt überhaupt, dort, wo »Natur in

20 Dass Quatremère de Quincy von Rossi so prominent zitiert wurde, hat nebenbei auch den Effekt gehabt, dass
neuere Studien über den französischen Kunsthistoriker erschienen sind, die ihn in einem weniger doktrinären
Licht zeigen. Vgl. Sylvia Lavin, Quatremère de Quincy and the Invention of a Modern Language of Architecture,
MIT Press, Cambridge/Mass. 1992; Samir Younés, The True, the Fictive, and the Real. The Historical Dictionary
of Architecture of Quatremère de Quincy, Andreas Papadakis Publishers, London 1999
21 Vgl. Pier Vittorio Aureli, The Project of Autonomy: Politics and Architecture Within and Against Capitalism,
Princeton Architectural Press, New York 2008
22 Aldo Rossi, Die Architektur der Stadt, op. cit., S. 21
23 Aldo Rossi, »Voraussetzungen meiner Arbeit«, in: werk · archithese, Nr. 3, März 1977, S. 38
24 Aldo Rossi, Die Architektur der Stadt, op. cit., S. 27 und 28
25 Ibid., S. 14

180

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Anhang_20150807.indd 180 10.08.15 09:46


Kultur« übergeht,26 dann wieder versucht er mit Claude Levi-Strauss über das
­ursprüngliche Bauen der ersten Menschen zu reflektieren, und ist sich nicht sicher,
ob erst das Schutzbedürfnis oder der Drang nach Schönheit steht.
Dabei hätte die These vom Typus als allmähliche kulturelle Übereinkunft, wie sie
Argan formuliert hat, sehr gut zur Theorie des »kollektiven Gedächtnisses« gepasst,
die Rossi in L’architettura della città und erstaunlicherweise nur in L’architettura
della città präsentiert. Auch hier stand ein Wissenschaftler Pate; der französische
Sozialpsychologe Maurice Halbwachs schrieb mehrere Publikationen zu diesem
Thema. In der auch von Rossi erwähnten Untersuchung über die Stätten der Ver­
kündigung im Heiligen Land erläutert er, dass »Überlieferungen im Hinblick auf
die heiligen Stätten« lediglich »geformte Erinnerungen« sind. Das »kollektive Ge­
dächtnis« ist eine »Rekonstruktion der Vergangenheit«, das »Wissen darum, was
ursprünglich war, mindestens zweitrangig, wenn nicht ganz und gar überflüssig:
die Wirklichkeit der Vergangenheit, eine unveränderliche Vorlage, der man zu ent­
sprechen hätte, gibt es nicht mehr.«27
Rossi hätte also den von ihm so oft beschriebenen Prozess einer historischen Ent­
wicklung von Stadtstrukturen und deren Elementen, die irgendwann anfangen,
sich zu verselbstständigen und Typen bilden, als »geformte Erinnerung« bezeich­
nen können. Mit Halbwachs hätte er auf »die Wirklichkeit der Vergangenheit«,
auf eine ontologische Struktur, die die Gegenwart mit der Vergangenheit verbin­
det, verzichten können – nur die Rekonstruktionen der Erinnerung wären wich­
tig.28 Aber dazu hätte er auch die zentrale begriffliche Unterscheidung, die Halb­
wachs macht, nämlich die Unterscheidung zwischen Geschichte und Gedächtnis,
ebenfalls nachvollziehen müssen.
Nach Halbwachs bildet das kollektive Gedächtnis keine abstrakten Grundsätze
über die Vergangenheit, das wäre stattdessen »die Domäne des Historikers«, der
dort beginnt, »wo die Vergangenheit nicht mehr ‚bewohnt‘, d.h. nicht mehr vom
kollektiven Gedächtnis lebender Gruppen in Anspruch genommen wird.«29 In Das
kollektive Gedächtnis unterstreicht Halbwachs nicht nur die oppositionelle Bedeu­
tung von Geschichte und Gedächtnis, sondern weist ihnen auch einen unterschied­
lichen Platz in der Zeitlinie zu: »Das bedeutet, daß die Geschichte im allgemeinen

26 Ibid., S. 118f
27 Maurice Halbwachs, Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis (La
Topographie légendaire des évangiles en Terre Sainte, Paris 1941), Maurice Halbwachs in der édition discours, 6,
uvk, Konstanz 2003, S. 20, 21
28 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985,
S. 72
29 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen
(1992), C.H. Beck, München 2002, S. 44

181

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Anhang_20150807.indd 181 10.08.15 09:46


an dem Punkt beginnt, an dem die Tradition aufhört – in einem Augenblick, in
dem das soziale Gedächtnis erlischt und sich zersetzt.«30
Das soziale Gedächtnis ist folglich abhängig von der Existenz von Gruppen und
­Individuen – Halbwachs macht klar, dass die »räumlichen Rahmen«31 selbst nicht
die Träger des kollektiven Gedächtnisses sein können. Rossi löst jedoch »diesen Be­
zug zur gelebten Erfahrung von Gruppen«32 in seinem »Permanenz«-Begriff, daher
können Leser von L’architettura della città schlussfolgern, die »Architektur der
Stadt« und das »kollektive Gedächtniss« seien identisch. Peter Eisenman hat dies
zum Beispiel getan. In seiner Einleitung zur amerikanischen Ausgabe von L’archi­
tettura della città stellt er Halbwachs’ Theorie gleichsam auf den Kopf, indem er
postuliert, dass »das Gedächtnis dort beginnt, wo die Geschichte endet.«33 Damit
hat Eisenman vielleicht eines der folgenreichsten Mißverständnisse von Rossis
L’architettura della città vorgelegt. Zumindest belegt diese theoretische Volte ein­
mal mehr die Schwierigkeiten, die den Leser und die Leserin von L’architettura
della città erwarten: des Autors Ambition, eine komplexe Theorie der Architektur
der Stadt, die materialistisch und nicht formalistisch verstanden werden soll, vor­
zulegen, hat er selbst oft genug verunklärt, indem er mißverständliche Referenzen
wie Quatremère de Quincys Typus-Definition angeführt hat.
Juli 2015 Angelika Schnell

30 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Das kollektive Gedächtnis, Fischer, Frankfurt am Main 1985,
S. 66
31 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, op. cit., S. 142
32 Werner Sewing, »Die Gesellschaft der Häuser«, in: 139/140 ARCH+, Dezember 1997/Januar 1998, S. 85
33 Peter Eisenman, »Editor’s Introduction. The Houses of Memory: The Texts of Analogy«, in: Aldo Rossi, The
Architecture of the City, Opposition Books, MIT Press, Cambridge, Mass./London 1986, S. 7

182

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Anhang_20150807.indd 182 10.08.15 09:46


Bauwelt Fundamente (lieferbare Titel)
1 Ulrich Conrads (ed.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts
2 Le Corbusier, 1922 – Ausblick auf eine Architektur
4 Jane Jacobs, Tod und Leben großer amerikanischer Städte
12 Le Corbusier, 1929 – Feststellungen
16 Kevin Lynch, Das Bild der Stadt
21 Ebenezer Howard, Gartenstädte von morgen (1902)
41 Aldo Rossi, Die Architektur der Stadt
50 Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur
53 Robert Venturi / Denise Scott Brown / Steven Izenour, Lernen von Las Vegas
118 Thomas Sieverts, Zwischenstadt
126 Werner Sewing, Bildregie. Architektur zwischen Retrodesign und Eventkultur
127 Jan Pieper, Das Labyrinthische
128 Elisabeth Blum, Schöne neue Stadt. Wie der Sicherheitswahn die urbane Welt
diszipliniert
131 Angelus Eisinger, Die Stadt der Architekten
132 Wilhelm / Jessen-Klingenberg (ed.), Formationen der Stadt. Camillo Sitte weiter­
gelesen
133 Michael Müller / Franz Dröge, Die ausgestellte Stadt
134 Loïc Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays
135 Florian Rötzer, Vom Wildwerden der Städte
136 Ulrich Conrads, Zeit des Labyrinths
137 Friedrich Naumann, Ausstellungsbriefe Berlin, Paris, Dresden, Düsseldorf 1896–1906.
138 Undine Giseke / Erika Spiegel (Hg.), Stadtlichtungen.
140 Yildiz / Mattausch (ed.), Urban Recycling. Migration als Großstadt-Ressource
141 Günther Fischer, Vitruv NEU oder Was ist Architektur?
142 Dieter Hassenpflug, Der urbane Code Chinas
143 Elisabeth Blum / Peter Neitzke (Hg.), Dubai. Stadt aus dem Nichts
144 Michael Wilkens, Architektur als Komposition. Zehn Lektionen zum Entwerfen
145 Gerhard Matzig, Vorsicht Baustelle!
146 Adrian von Buttlar et al., Denkmalpflege statt Attrappenkult
147 André Bideau, Architektur und symbolisches Kapitel
148 Jörg Seifert, Stadtbild, Wahrnehmung, Design
149 Steen Eiler Rasmussen, LONDON, The Unique City
150 Dietmar Offenhuber / Carlo Ratti (Hg.), Die Stadt entschlüsseln
151 Harald Kegler, Resilienz. Strategien & Perspektiven für die widerstandsfähige und
lernende Stadt
152 Günther Fischer, Architekturtheorie für Architekten.
153 Bodenschatz / Sassi / Guerra (Hg.), Urbanism and Dicatorship
154 Dellenbaugh / Kip / Bieniok / Müller / Schwegmann, Urban Commons: Moving
beyond State and Market

Alle Titel sind auch als E-Book erhältlich

0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Anhang_20150807.indd 183 10.08.15 09:46


0044-5_BWF41_Aldo Rossi_Die Architektur der Stadt_Anhang_20150807.indd 184 10.08.15 09:46

Das könnte Ihnen auch gefallen