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Transzendenz
und Negativität
Religionsphilosophische
und ästhetische Studien
De Gruyter
Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft
im Rahmen des SFB 804 der Technischen Universität Dresden
ISBN 978-3-11-021496-3
e-ISBN 978-3-11-021497-0
Der vorliegende Band enthält Beiträge aus den letzten Jahren, in denen
ich meine Untersuchungen zur Gottesfrage, zur philosophischen
Theologie und Religionsphilosophie (Gott, Berlin/New York 2005) und
zur systematischen Verbindung von Negativitt und praktische(r) Vernunft
(Frankfurt a.M. 2000) fortgeführt, erläutert, vertieft und konkretisiert
habe. Ebenso enthält der Band ästhetische Studien, die Transzendenz-
und Negativitätsphänomene behandeln.
Es bestätigt sich der Befund, dass eine Jahrzehnte die Moderne do-
minierende Verdrängung und Marginalisierung der Transzendenzthe-
matik insbesondere in der deutschen Philosophie verfehlt und unbe-
gründet war, dass vielmehr weder die Moderne noch die Postmoderne
mit geschichtsphilosophischen Konstruktionen vollendeter und abge-
schlossener Säkularisierung begreifbar ist. Die weltgeschichtliche Ent-
wicklung seit der Jahrtausendwende zeigt, wie komplex, heterogen und
binnendifferenziert das Verhältnis von Wissenschaft, Politik, Religion
und Aufklärung im Prozess der Globalisierung und der interkulturellen
Kommunikation und Konfrontation tatsächlich ist. In der Philosophie
wird deutlich, dass ohne Transzendenzbezug kein wichtiger Ansatz des
vergangenen Jahrhunderts – weder Heidegger noch Wittgenstein, weder
Adorno noch Derrida – auch nur ansatzweise begreifbar ist. Religiöse und
theologische, näherhin mystische und negativ-theologische Tradition
prägen – oft verdeckt und indirekt – die Tiefenstruktur der modernen
und postmodernen Reflexion und ihre kulturellen Wirkungen und
Gestaltungen.
Darüber hinaus aber lässt sich zeigen, dass eine Engführung der
Transzendenzphänomene und Transzendenzdimensionen auf religiöse
(und theologische) Transzendenz eine sowohl historisch wie systematisch
weitreichende Reduktion und Unterbestimmung dieser Phänomene und
Dimensionen impliziert. Vielmehr muss von komplexen Transzen-
denzaspekten der Welt (des Seins und jedes Gegenstandes), der Sprache
(des logos), von interpersonaler Transzendenz sowie von der Transzen-
denz der Individuation und der Individuen ausgegangen werden, um nur
die wichtigsten dieser Aspekte zu nennen – und dies seit Beginn der
philosophischen Reflexion. Erst auf diesem Hintergrund lassen sich dann
VIII Vorwort
1. II Systematische Perspektiven
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken . . . . . . . . . . . . . . 161
XII Inhalt
Teil 2. Ästhetik
Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der
ästhetischen Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion . . . . 380
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? Zum
Zusammenhang von Schönheit, Metaphysik und Lebenswelt . . . . 394
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht . . . . . . . . 409
Thesen zur philosophischen Metaphorologie . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Strukturen ästhetischer Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
Teil 1. Religionsphilosophie
1.I Historische Untersuchungen
Die Entdeckung der Unverfügbarkeit. Zum
Zusammenhang von Negativität und Sinnkonstitution
im Horizont der biblischen Überlieferung
1. Oberflächliche und tiefe Aufklärung
1 Vgl. Jürgen Habermas, Ansprachen aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des
Deutschen Buchhandels, Frankfurt a.M. 2001, 48.
10 Teil 1. Religionsphilosophie
Gefahr, zu scheitern oder Unrecht zu begehen – das alles können wir erst
im Nachhinein wissen. Hannah Arendt hat in Vita activa besonders
herausgearbeitet, dass deshalb unsere ganze humane Handlungswelt auf
Versprechen und Vergeben beruht. Man könnte deshalb pointiert formu-
lieren: Unsere Fähigkeit, wechselseitig zu vergeben, konstituiert und
eröffnet allererst unsere praktische Freiheit.2
Die Vergegenwärtigung der unverfügbaren Sinnbedingungen hu-
manen Lebens geschieht in der Bibel narrativ, literarisch, geschichtlich,
und auf diese Weise auch hermeneutisch mehrdimensional, tief und
komplex. Diese Vergegenwärtigungsweise – unter Einschluss von Wi-
dersprüchlichkeit – entspricht dem qualitativen Ganzen, der qualitativen
interexistentiellen Totalitt des Menschseins in Geschichte und Augenblick.
Hier scheint mir der Ursprung eines grundsätzlichen Verständnisses von
personaler Menschenwürde zu liegen. Aber die biblische Aufklärung,
deren Grundzüge ich hier nur in aller Kürze zu skizzieren versuche, geht
noch weiter, sprengt daher den Rahmen oberflächlicher Rationalitäts-
vorstellungen, wie sie z. B. szientifischen, formalistischen, funktionalis-
tischen oder utilitaristischen Ansätzen der Gegenwart zugrunde liegen.
Die biblische Aufklärung geht in ihren Kernaussagen insofern noch
weiter, als durch die Dimension der Kreatürlichkeit als Rationalitätsbe-
dingung die Einsicht vermittelt wird, dass nur so, in dieser Kreatürlichkeit
die Sinnbedingungen von Leben und Freiheit, von Gutem und Liebe
überhaupt wirklich sind und wirklich sein können. Das heißt: die
praktische Anerkennung der unverfügbaren Sinnbedingungen als von uns
nicht selbst gemacht: die Existenz des Universums, der Welt, meiner
selbst und der Mitmenschen, die unvordenkliche Vorgegebenheit der
Dimensionen der Freiheit, des Guten und der grundsätzlichen Fehlbar-
keit, die konstitutive Endlichkeit und Unbedingtheit der konkreten
menschlichen Handlungssituation, die Begrenztheit unserer Selbster-
kenntnis, die Verletzlichkeit und Sterblichkeit, die Angewiesenheit auf
die Anderen – ohne Erkenntnis und vor allem: ohne vorgängige Aner-
kennung dieser unvordenklichen Sinnbedingungen, die mich und jeden
Menschen doch ausmachen, gibt es keine tiefergehende Aufklärung
2 Vgl. Hannah Arendt, „Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu
verzeihen“, in: dies., Vita activa oder Vom ttigen Leben, München 1981, § 33,
231 – 238. Ich habe in meiner Untersuchung Die Konstitution der Moralitt.
Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999, eine
negative Interexistentialpragmatik entwickelt, die diese Dimension ins Zentrum
rückt. Vgl. auch Th. Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M.
2000.
12 Teil 1. Religionsphilosophie
heute. Man geht nicht zu weit, wenn man diese Unterscheidung als
Zentrum der klassischen antiken Philosophie begreift, denn auf sie lassen
sich die systematischen Ausdifferenzierungen sowohl der Sokratik und
ihrer Dialogizität und Dialektik als auch die Ausdifferenzierungen der
Ideenlehre Platons und ebenso die der Metaphysik und der Kategori-
enlehre des Aristoteles beziehen.
Wie lässt sich die Fundamentalunterscheidung erläutern? Menschen
orientieren sich handelnd und sprechend. In erfahrbaren Kontexten der
alltäglichen und wissenschaftlichen Praxis gehen sie von verständlichen,
empirisch erfahrbaren, relativ stabilen Abläufen in der Wirklichkeit aus.
Gegenstände fallen nach unten, Wasser fließt, Vögel fliegen, die Erntezeit
kommt, wenn man Hunger hat, muss man etwas essen u.s.f. Wir bewegen
uns hier in einer empirischen Wirklichkeit, die kategorial strukturiert ist,
d. h. sie ist messbar, wägbar, vorhersagbar, nach Wirklichkeit und
Möglichkeit betrachtbar, und diese kategoriale Ebene reicht von der
Alltagserfahrung bis zu allen empirischen bzw. formellen Fachwissen-
schaften. Letztere werden bereits in der Antike vor und vor allem von
Aristoteles im Wesentlichen grundgelegt. So die Mathematik, die Geo-
metrie, die Physik, die Zoologie, die Botanik, die Meteorologie, die
Kosmologie und Astronomie, die Medizin, die Psychologie u.v.a. Ge-
genüber dieser Ebene des Verstandes, die zeitlich empirisch und formal
kategorial konstituiert ist, ist die Ebene, besser, die Dimension und die
Perspektive der Vernunft, des nous, ganzheitlich, transempirisch, transkate-
gorial und reflexiv. Diese Reflexivität zeigt sich bereits in der revolutio-
nären Erkenntniskritik und Methodologie des Sokrates. Die sokratische
Methode ist sicher eines der einmaligen Ursprungsereignisse – mit
Husserl: Urstiftungen – der europäischen Philosophie und Anthropo-
logie. Sie kratzt nicht nur an dogmatischen Erkenntnis-, Wahrheits- und
Geltungsansprüchen, sie destruiert sie in der Konsequenz a primis fun-
damentis, von den Grundlagen her definitiv und irreversibel. Die Aporetik
und Dialektik der frühen und mittleren Dialoge zeigt dies auf einzigartige
Weise: Wir gelangen in den orientierungsrelevanten Diskursen jeweils
bald auf Grenz- und Grundbegriffe wie „Mensch“, „gut“, „gerecht“,
„tugendhaft“, „wertvoll“, „begründet“, „wahr“, „schön“ u.s.f., die nicht
einfach und unstrittig definierbar sind, die aber dennoch alle Menschen
ständig im Munde führen, vor allem solche in Führungspositionen. Diese
Grundbegriffe sind strittige, dialektische, ambivalente, problematische
Reflexionsbegriffe, später so genannte Ideen. Diese sind keineswegs etwas
Abstraktes, Abgehobenes, so Sokrates, sondern sie sind gerade das uns
letztlich Nchste. Gerade im Blick auf die Anthropologie zeigt sich dies. In
16 Teil 1. Religionsphilosophie
1 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M.
2000.
Rationalität, Negativität, Transkulturalität 17
Recht, Sittlichkeit und Moralität ist der unendliche Wert des einzelnen,
einzigartigen Individuums. Die Geschichte des Individuationsprinzips
mit dem von Goethe reformulierten Grundsatz individuum est ineffabile –
was das Individuum ist, ist unsagbar – zeigt wiederum, wie die euro-
päische Reflexion von Beginn an sowohl in der antiken Philosophie als
auch in der christlichen Tradition die praktische Bedeutung dieses
Fundamentalprinzips theoretisch-erkenntniskritisch reflektiert hat.
Es ist nun meine weiterführende These, dass die aufgewiesene Grenz-
und Negativitätsreflexion auch die Entwicklung der Moderne noch er-
möglichte und bestimmte, dass sie wesentliche Quelle auch der Bewäl-
tigung und Klärung der gegenwärtigen und zukünftigen Weltsituation
bilden muss. Im Kern der aufgewiesenen Urkonstitution lassen sich
Selbsterkenntnis, Selbstbewusstsein, unendlich konkret individuierte
Freiheit und ein praktisches Bewusstsein des Nichtwissens, der Grenzen
der Vernunft und der Erkenntnis freilegen. Nur mit diesem Bewusstsein
der Negativität verklammert, also kritisch, ist der Vernunftbezug trag-
fähig. Wenn in der klassischen Moderne Theoretiker wie Marx, Nietz-
sche und Freud Vernunftansprüche und die Perspektive von Ideen als
theoretische und praktische Wahrheits- und Geltungsansprüche in
Zweifel ziehen und mit weitreichender Ideologiekritik destruktiv zu
analysieren beanspruchen, sind sie de facto Gesprächspartner von Sokrates
und Platon, Kant und Hegel, Gesprächspartner auch der normativen
Ansprüche der christlichen Tradition. Und genau das waren Marx,
Nietzsche und Freud. Das bedeutet: Die europäische Tradition ist von
Beginn an eine Tradition kritischer Selbstreflexivitt, die sich nicht mit ihren
erreichten institutionalisierten Formen begnügt, sondern die produktive
Potentiale der Transformation entwickelt. Immer neu kann die Frage
gestellt werden: Ist der gegenwärtige Umgang mit den normativen
Geltungsansprüchen in der Tat begründet und glaubwürdig? So konnte –
nur ein Beispiel – schon Hegel in seiner Rechtsphilosophie in der sich
emanzipierenden Wirtschaftsgesellschaft gemeinschaftssprengende Fol-
gen sehen. Hegel sieht schon vor 180 Jahren:
Zwar muß Gewerbefreiheit und freie Berufswahl herrschen. Aber die Krisen
des Marktes verschärfen den Gegensatz von Armen und Reichen und stürzen
den Einzelnen in unverschuldete Katastrophen. Dann gehen die materiellen
Bedingungen der Ausübung seiner Rechte verloren. Es schwindet auch seine
Loyalität zu Staat und Recht. Daher muß für Hegel der Markt durch
22 Teil 1. Religionsphilosophie
1 Immanuel Kant, ber das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee,
Akademie-Ausgabe Bd. VIII, 255 – 271.
Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt 27
2 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 111967, v. a. § 62. Vgl. Karl-Otto
Apel, „Ist der Tod eine Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung? (Exis-
tentialismus. Platonismus oder transzendentale Sprachpragmatik?)“, in: Jürgen
Mittelstrass/Manfred Riedel (Hg.), Vernnftiges Denken. Studien zur praktischen
Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt 29
mçglich und erwartbar und bei seinem Eintritt das Ende aller menschlichen
Möglichkeiten. Er ist die eigenste Möglichkeit des Menschen und er-
schließt so die unvertretbare Einmaligkeit (Einzigartigkeit, Jemeinigkeit)
der Existenz. Als Sein zum Tode (permanentes Sterben) ist er Form des
ganzen Lebens. Als solche Form bezieht er sich nicht auf irgendein
Faktum in der Welt (im Leben) und ist insofern unbezüglich. Durch keine
unserer Handlungen können wir ,hinter‘ unseren Tod ,zurück‘ oder
,über‘ ihn ,hinaus‘: Er ist schlechthin unhintergehbar, unüberholbar. Er
ist schlechthin gewiss, ohne dass die praktische Todesgewissheit eine aus
der Erfahrung einzelner ,Todesfalle‘ ,errechenbare‘ Gewissheit wäre. Er
ist unbestimmt: Wir wissen nicht, wie er eintritt, und ein angemessenes
Todesverständnis kann sich somit nicht lediglich auf diese oder jene
empirischen Begleitumstände des Sterbens beziehen. Die unverfügbare
Endlichkeit in der Gestalt des Seins zum Tode ist eine wesentliche Form
unseres Lebens. Diese Form ist nun sinnkonstitutiv zu nennen, sinn-
konstitutiv für unser praktisch-vernünftiges In-der-Welt-sein: Die
Endlichkeit in der Gestalt der Sterblichkeit vereinzelt den Menschen auf
einmalige Weise und ist so eine existentiale Bedingung von Verant-
wortlichkeit und Schuld. Verantwortlich und schuldig sind wir als ein-
malige, unvertretbare personale Individuen, mit Bezug auf unsere Exis-
tenz. Die Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit, das Schwinden der
lebensweltlichen Zeit und die pragmatisch nicht mehr zu tilgende Schuld,
die Einzigartigkeit jeden Augenblicks und die ständige Entzogenheit und
Unsicherbarkeit der offenen Zukunft bilden als temporale Charaktere der
endlichen Existenz den konstitutiven Horizont der Irreversibilitt und
Endgltigkeit, ohne den ein ernsthaftes und authentisches Lebensver-
ständnis nicht denkbar und gewinnbar ist.
Malum metaphysicum und malum naturale erweisen sich mithin für eine
existentialanalytische Hermeneutik der Faktizität als Voraussetzungen
einer humanen Welt und als Konstitutiva eines ethischen Selbstver-
ständnisses. Gegen eine allfällige Verdrängung der Endlichkeit und gegen
autonomistische Subjekttheorien ist – mit der Theodizee – dafür zu ar-
gumentieren, dass Leiden und Tod in ihrer Bedeutung fr das Leben nicht als
,lästige Störungen‘ einer reibungslosen Selbstbehauptung anzusehen sind
und insofern als das Andere der Vernunft konstitutiv zu dieser gehören.
Im Übrigen wäre auch durch eidetische Variationen und Fiktionen eines
leidlos und todlos gedachten Lebens die Leibnizsche These zu bestätigen,
daß eine Welt, in welcher das Übel einbegriffen ist, besser sein kann als eine
Welt ohne Übel […] da das Übel ja von einem größeren Gut begleitet sein
kann.3
Mit bestimmten interpretatorischen Mitteln vermag eine Hermeneutik
der existentiellen Faktizität in praktischer Absicht möglicherweise auch
die Reden von den privativen Modi einer primären ontologischen Po-
sitivität angesichts von Endlichkeit und Leiden aufzunehmen. Hierzu
müsste – ich deute dies hier nur an – versucht werden, die Grundsätze
einer harmonischen Ontologie und das System des metaphysischen
Äquilibrismus existentialanthropologisch zu interpretieren. Insbesondere
gälte es, das, was Leibniz ,harmonisch‘ oder ,ausgeglichen‘ nennt, zu-
nächst als gleichursprnglich zu verstehen. Eine existentiale (und sprach-
analytische) Interpretation der ,Theodizee‘ müsste dabei deren syste-
matischen Zusammenhang mit der ,Monadologie‘ besonders
berücksichtigen. Denn diese stellt den (freilich noch metaphysisch
überformten) Entwurf eines intersubjektiven existentialen Solipsismus dar,
der die Analysen Heideggers zur Jemeinigkeit des In-der-Welt-seins und
Wittgensteins zur Gleichursprünglichkeit von Leben (ethischem trans-
zendentalen Ich) und Welt antizipiert. Es ist jedenfalls bemerkenswert,
dass sich Leibniz in der ,Theodizee‘ gerade in dem ethisch so relevanten
Punkt der Einzigartigkeit des transzendentalperspektivischen Weltbezugs
der Personen („Seelen“) auf die ,Monadologie‘ beruft: „Ebenso muß
man zugeben, daß jede Seele das Universum nach ihrem Blickpunkt
vorstellt und daß sie in einzigartiger Beziehung zu ihm steht; allein immer
und immer liegt dem eine vollkommene Harmonie zugrunde.“ (Theo-
dizee § 357) 4
Wie steht es nun mit dem malum morale im Kontext der Theodizee?
Die traditionelle theologische Lehre, dass nicht Gott die Ursache des
Bösen ist, dass es nicht aus seinem Willen stammt, dass es – scholastisch
formuliert – keine wirkende Formalursache hat, Auffassungen, denen
3 Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee, übers. von Artur Buchenau, Hamburg
2
1968, 414 und 413. Nach dieser Ausgabe (PhB 71) wird im Folgenden im Text
zitiert.
4 Zum existentialen Solipsismus im Allgemeinen und bei Leibniz im Besonderen
vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein, a.a.O., 58 f., 127, 189, 232 –
242, 269 ff.
Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt 31
Leibniz folgt, auch diese Lehre lässt sich, so meine ich, modifiziert ver-
stehen. Böse können nur Menschen sein: Das Böse ist ein Existential des
Daseins. Anexistentiale Versuche, das Böse als Natur- oder Weltgesetz
(,Weltwille‘), als Eigenschaft oder Wesen ,der Geschichte‘ oder als ,Wille
Gottes‘ aufzufassen, sind transzendent, überschwenglich und von vor-
neherein verfehlt. Das gilt im Übrigen auch für eine in toto ,negative
Geschichtsphilosophie‘, wie sie einige Entwürfe der Kritischen Theorie
zu kennzeichnen scheint, ebenso für konservative Varianten eines glo-
balen ,Kulturpessimismus‘. Die Tradition und mit ihr Leibniz führen das
malum morale nicht auf den unmittelbaren Einfluss Gottes zurück, sondern
auf die Freiheit des Menschen. Gott wollte freien Geschöpfen das Leben
geben, und – so bereits Augustinus – musste mit dem Faktum der Freiheit
dieser Wesen und der Möglichkeit ihres guten Handelns auch die
Möglichkeit des bösen Handelns eröffnen. Freiheit ist conditio sine qua non
der Ethik und eines guten Lebens endlicher Vernunftwesen. Sie ist
Voraussetzung einer moralisch verfassten humanen Lebenswelt. Das
Faktum der Freiheit ist ein unerklrliches, auf keine Weise ,ableitbares‘
existentiales Konstituens. Insofern ist sie ,gottgeschaffen‘. Die Herme-
neutik der existentialen Faktizität zeigt, dass das Faktum der Freiheit
gleichursprünglich mit den Möglichkeiten des guten wie des bösen
Handelns und entsprechender Selbstverständnisse verbunden ist:
„Spontaneum est, cujus principium est in agente. Auf diese Weise hängen also
Handlungen und Willensentschlüsse ganz und gar von uns ab.“ (Theo-
dizee § 301) Diese Prinzipien können moralisch gerechtfertigt, ,gut‘ oder
moralisch ungerechtfertigt, ,böse‘, sein. Greifen wir die Theodizee-
Reflexion in der Gestalt einer eidetischen Variation auf, so können wir
fragen: Wie wäre eine ausschließlich moralisch gute Lebenswelt freier
Personen denkbar? Sie stellte den Grenzfall des Endes unserer ethischen
Unterscheidungsmöglichkeiten dar. Prälapsarische, eschatologische und
apokalyptische Fiktionen vergegenwärtigen in der Form der Ur- und
Endzeitmythen diese Situation. Solche Fiktionen lassen uns jedoch nur
die faktische, ,gemischte‘ Verfassung unserer realen Welt schärfer er-
kennen. Eine garantiert nur gute Lebenswelt lässt sich kaum anders denn
durch einen ,kausalen Determinismus der Moralität‘ vorstellen, und das
ist eine contradictio in adiecto. Ich denke, es ist nicht die Vorliebe des
Barock für die ,Fülle‘ und die ,Mannigfaltigkeit‘, ihr Votum gegen das
,Einerlei‘, die Leibniz auch hier im Kontext der Ethik dazu führen, die
Abstufungen und Differenzierungen für lebensweltlich sinnkonstitutiv zu
halten, mit seinen Worten: vereinbar mit der guten Schöpfung Gottes.
Denn die Möglichkeit des Bösen, der moralischen Verfehlung, ist der
32 Teil 1. Religionsphilosophie
,negative‘ Hintergrund, die Folie der Defizienz, auf der sich das ver-
nünftige moralische Leben und Handeln allererst geschichtlich zu bilden
und zu entwickeln vermag.
Das Faktum der Freiheit schließt dabei einen transzendenten theo-
logischen Determinismus aus. Bestimmte Teile der ,Monadologie‘, der
,Theodizee‘ (z. B. §§ 332 ff.) und insbesondere das Prädestinationsver-
ständnis Leibniz’ können wir dahingehend interpretieren, dass die gött-
liche Prädestination unter Einschluss des liberum arbitrium von ihm als eine
Erçffnung von Handlungsmçglichkeiten gesehen wird. Sie stellt sozusagen die
Bedingungen her bzw. dar, unter denen ein Leben endlicher moralischer
Wesen überhaupt möglich wird. Deswegen wendet sich Leibniz vehe-
ment gegen ein Prädestinationsverständnis im Sinne einer kausalen De-
termination menschlicher Handlungen: Die Prädestination ist „durchaus
keine Nezessitation“ (Theodizee, Anhänge, 418). Die Theodizee erklärt
mithin nicht auf metaphysische Weise die Gegebenheiten der Lebenswelt
durch eine theologische Kausalordnung, sondern beschreibt sie – im
Ansatz hermeneutisch und transzendental – als eine Konditionalordnung.
Deswegen tritt das jeweilige malum „als Bedingung“ (Theodizee § 336),
als „conditio sine qua non“ (Theodizee § 230) lebensweltlicher Orientie-
rung und Moralität in den Blick.
Der sinnkonstitutive Hintergrund der Negativität, den wir angesichts
des malum metaphysicum und des malum naturale bereits als lebensweltliches
Orientierungskonstituens einsichtig machen konnten, gilt auch für eine
moralische Lebensform. Insofern ist die Erörterung des malum morale im
Kontext der Theodizee gleichfalls hermeneutisch nachvollziehbar. Das
gilt nicht nur für den erörterten Zusammenhang von faktischer Freiheit
und Möglichkeit des Bösen. Es gilt auch für die interne Konstitution au-
thentischer personaler Beziehungen, für die innere Verfassung moralischer,
,transsubjektiver‘ Verhältnisse. Diese innere Verfassung ist konstitutiv
fragil. Das ,Negative‘ tritt hier in der Gestalt der permanenten Verletz-
lichkeit einer moralischen Lebensorientierung in Erscheinung. Das malum
morale ist als Zerbrechlichkeit authentischer Verhältnisse mit diesen
konstitutiv verbunden. Authentische Transsubjektivität, die sich allererst
mit der vernünftigen Abkehr von instrumentellen, strategischen Formen
intersubjektiven Handelns einstellt, ist ihrer Verfassung nach (im Un-
terschied zu extern sanktioniertem Recht) schutz- und garantielos. Eine
existentiale Analytik z. B. des Vertrauens und der moralischen Liebe kann
hier im Übrigen in die Analysen einer philosophischen Grammatik
Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt 33
choses, et qu’il y eût aussi des limitations de toute sorte. (Theodizee § 241;
vgl. §§ 243 und 31)
Diese Begrenztheit in der Gestalt der Gefährdung und des faktischen
Scheiterns gehört konstitutiv zu einer moralischen Lebensführung. Und
auch die ein wenig formal-farblose Rede von den Differenzierungen der
Vollkommenheit lässt sich etwas emphatischer so reformulieren: Besteht
der Reichtum eines moralischen Lebens in dem Maß der liebenden
Hinwendung zu den Mitmenschen, dann gehören die derart entste-
henden Gefährdungen, die Schmerzen und das Leid, Scheitern und
Vergeblichkeit zu diesem Reichtum dazu. Da eine moralische und
praktisch-autonome Lebensform die tätige Selbstannahme und die lie-
bende Bejahung der Anderen einschließt, schließt sie die Annahme des
Scheiterns und auch die Vergebung des Bösen mit ein. Das gilt, so meine
ich, auch für die moralische Enttäuschung durch sich selbst. Die Einsicht in
eigenes Versagen ist ebenfalls moralkonstitutiv. Das malum morale tritt hier
als eigenes Scheitern auf. Auch hier ist ,das Negative‘, in der Gestalt der
Trauer über sich selbst und des moralischen Leidens an sich selbst kei-
neswegs unvernünftig und zu verdrängen. Insbesondere in Fällen tragi-
schen moralischen Leids, in dem unsere besten Intentionen schicksalhaft
und ausweglos kollidieren und unsere moralische Identität zu zerbrechen
droht, bleibt uns nichts als das bewusste, ernste und illusionslose Leiden.
In ihm gerade mag sich hier humane Dignität bewahren.
Entgegen den Idealen etwa stoischer Selbstmächtigkeit, den Strate-
gien apathischer Verhärtung und existentieller Ataraxie sollte eine exis-
tentialanthropologisch-ethische Reflexion des Leidens gerade im Blick
auf die Theodizee-Thematik auch die Rationalität des Weinens und des
Schreiens akzentuieren. Denn nicht nur die Freude, das Glück und das
Lachen sind die Kennzeichen einer moralischen Lebensform. Die antike
griechische Tragödie war keineswegs eine ,irrationale‘ Parallele zur
Ausbildung einer rationalen, diskursiven und universalistischen philo-
sophischen Ethik. Sie hielt vielmehr die solchermaßen nicht mehr be-
wältigbaren Ausweglosigkeiten des menschlichen Lebens in der dichte-
rischen Gestaltung sagbar und gegenwärtig, so dass auch das tragische
Zerbrechen des Individuums als ein Teil der gemeinsamen humanen
Welt nicht in die Sprachlosigkeit verdrängt wurde. Für unsere christliche
Tradition sei nur an den Gekreuzigten erinnert. Nach dem letzten von
Markus überlieferten Satz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich
verlassen?“ (Mk 15, 34) heißt es: „Aber Jesus schrie laut und verschied“
(Mk 15, 37). Karg aber treffend ist das Diktum Wittgensteins: „We are
Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt 35
not here in order to have a good time.“10 Für Kant war das Geschick
Hiobs und sein Verhalten das Paradigma einer „authentischen Theodi-
zee“.11 Diese schließt für ihn Theologie- und Metaphysikkritik ein. Zum
moralischen Leben gehört gemäß Kant das geduldige Leiden ohne me-
taphysische Ausflüchte und die getroste Verzweiflung ohne fatalistische
Resignation. Es gehört zu ihm ein Mut zur Trauer und das bewusste
Durchleiden des Leidens ohne Verdrängung und Beschönigung. Ich
versuchte zu zeigen, dass diese existentialpraktische Transformation der
Theodizee sich auf die Intentionen von Leibniz teilweise und modifiziert
zurückbeziehen lässt. Authentische Theodizee als Hermeneutik der Le-
benswelt heißt dann, dass wir – trotz aller erhofften praktischen Melio-
ration unserer Verhältnisse und unserer Selbstverständnisse – als Men-
schen Sinn, Authentie und moralische Identität nie außerhalb und fern
von Endlichkeit, Leiden, Tod und Schuld gewinnen können.
die Bösen sind geblieben“, wie Marquard Goethes Faust (Vers 2509)
zitiert.1 Dieses Vergessen des Bösen in dominierenden Strömungen der
Gegenwartsphilosophie ist unterdessen weitgehend überwunden. Dazu
nur einige Beispiele. So fand im Wintersemester 1989/90 an der Freien
Universität Berlin eine Ringvorlesung über das Böse und seine „un-
fassliche Evidenz“ mit Beteiligten aus vielen Fächern statt.2 Bezeichnend
ist die Kehre von Jürgen Habermas in diesem Zusammenhang, die Kehre
vom von ihm so genannten postmetaphysischen zum nun von ihm dia-
gnostizierten postskularen Zeitalter. Die Verkündigung einer völlig sä-
kularisierten Welt ist nun selbst überholt. In seiner Friedenspreisrede über
Glauben und Wissen 2001 konstatiert Habermas aus Anlass des 11. Sep-
tembers 2001: „Wer einen Krieg der Kulturen vermeiden will, muss sich
die unabgeschlossene Dialektik des eigenen, abendländischen Säkulari-
sierungsprozesses in Erinnerung rufen“.3 Er erinnert an Kants Versuch,
das radikal Böse zu verstehen und stellt fest:
Wie der enthemmte Umgang mit diesem biblischen Erbe heute wieder
einmal zeigt, verfügen wir noch nicht über einen angemessenen Begriff für
die semantische Differenz zwischen dem, was moralisch falsch, und dem, was
zutiefst böse ist. Es gibt den Teufel nicht, aber der gefallene Erzengel treibt
nach wie vor sein Unwesen – im verkehrten Guten der monströsen Tat, aber
auch im ungezügelten Vergeltungsdrang, der ihr auf dem Fuße folgt.
Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren,
hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen
göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte,
ging etwas verloren […] Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hin-
terlässt eine spürbare Leere.4
Habermas setzt diese Reflexion auf die „Dialektik der Säkularisie-
rung“ in seinem Gespräch mit Kardinal Ratzinger 2004 fort.5 Als weiteres
Beispiel für die gegenwärtige Wende in der philosophischen Themati-
sierung von Bösem und Sünde nenne ich das vielbeachtete Buch von
2002: Das Bçse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie von Susan
1 Odo Marquard, Art. „Malum“, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 5,
Basel/Stuttgart 1980, Sp. 654.
2 Carsten Colpe/Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.), Das Bçse. Eine historische
Phnomenologie des Unerklrlichen, Frankfurt a.M. 1993.
3 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a.M. 2001, 11.
4 Ebd., 24 f.
5 Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, Dialektik der Skularisierung. ber Vernunft
und Religion, Freiburg 2005.
38 Teil 1. Religionsphilosophie
6 Susan Neiman, Das Bçse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt
a.M. 2004.
7 Susan Neiman, a.a.O., 475.
8 Vgl. z. B. Werner Faulstich (Hg.), Das Bçse heute. Formen und Funktionen,
München 2008.
Die Rede von der Sünde 39
10 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Kants
gesammelte Schriften, Akademie-Textausgabe Bd. VI, Berlin 1968, 1 – 202, dort 5.
Im Folgenden werden die Seiten im fortlaufenden Text angegeben.
Die Rede von der Sünde 43
sondern mit „ganz normalem“ Verhalten und mit sinnvoller Praxis. Auch
das gute Handeln kann ich aus Eitelkeit, aus Eigennutz tun, „und der
Mensch ist bei lauter guten Handlungen dennoch böse“ (31). Ebenso
antizipiert Kant Befunde der Psychoanalyse, aber auch unserer alltägli-
chen Erfahrung, wenn er bemerkt, „es sei in dem Unglück unsrer besten
Freunde etwas, das uns nicht ganz missfällt“ (33).
Die gesamte Perversionsanalyse der Moralität, die Kant hier leistet,
bezeugt, dass und wie er die Dimension eines authentischen Gottesver-
ständnisses bei den transpragmatischen und transmoralischen Sinnbe-
dingungen eines gesamten, praktischen, selbstbewussten menschlichen
Lebensverständnisses ansetzt. Sie lässt sich wie folgt reformulieren: Wir
sind selbst mit unseren besten Intentionen und Sinnentwürfen von de-
finitivem Scheitern bedroht, faktisch und praktisch, und vor allem auch in
der Perspektive der Selbstreflexivität.
Es ist die erkenntniskritische Stärke Kants, das solchermaßen aufge-
wiesene Böse weder naturalistisch zu ontifizieren – dies käme in der
Konsequenz einer bloßen Animalisierung des Menschen gleich, noch es
gänzlich mit dem bewussten Willen gleichzusetzen. Der reine böse Wille
würde den Menschen schlechthin zu einem Teufel machen. Vielmehr
besteht die für ein tiefergehendes Religions- und Gottesverständnis
wesentliche Einsicht darin, dass die freie und reflexive moralische Lebenspraxis
von einer tiefgreifenden, strukturellen, konstitutiven Ambivalenz geprgt ist, so
dass wir der Authentizität unserer Orientierungen nie ganz gewiss sein
können. Anders formuliert: Wir können unser Inneres, unser „Herz“
nicht gänzlich durchschauen – wir sind uns nicht „durchsichtig“. Die
Transparenz unserer inneren Natur wie auch der mit ihr verwobenen
moralischen, personalen Identität ist erkenntniskritisch begrenzt: endlich,
fragil, ambivalent, materiell bedingt und partial verdeckt. Subtil unter-
scheidet Kant Stufen solcher Verdecktheit bis hin zur bewussten Pervertie-
rung. Seine durchgeführten Analysen zur Unredlichkeit, zur Selbstge-
rechtigkeit und zur Nichtswürdigkeit zeigen negativ-anthropologisch
und tiefenhermeneutisch eine radikale Problematik an der Basis und an
den Grenzen aller Moralität und aller authentischen menschlichen
Selbstverständnisse auf.
Genau an dieser Stelle erläutert Kant, worin ein wahrhaftiger Trans-
zendenzbezug in diesem Kontext radikaler Fragilität und Ambivalenz
besteht, und zwar gerade so, dass dieser Transzendenzbezug nicht auf die
Rolle einer bloß funktional dem Bedürfnis nach Bewältigung der be-
sagten existentiell-praktischen Problematik entsprechenden Instanz ein-
geschränkt werden kann. Vielmehr zeigt seine Konstitutions- und Gel-
Die Rede von der Sünde 45
das heißt vor allem „ein freier […] Glaube“ sein. Die Menschwerdung
Gottes eröffnet in Kants Sicht die existentiell-praktische Dimension
wahrer, authentischer Freiheit. Und diese Dimension impliziert in der
Konsequenz eine universale, weltgeschichtliche Hoffnungsperspektive
auf wahre Freiheit für alle Menschen.
Es ist daher nur konsequent, wenn Kant gegen faktische religiöse
Fehlentwicklungen, gegen Aberglaube und Unmündigkeit eine „alle
Menschen auf immer vereinigende[n] Kirche“ denkt, „die die sichtbare
Vorstellung […] eines unsichtbaren Reiches Gottes auf Erden ausmacht“
(131 f.). „ ,Wenn kommt nun also das Reich Gottes?‘ – ,Das Reich Gottes
kommt nicht in sichtbarer Gestalt. Man wird auch nicht sagen: siehe, hier
oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch!‘ (Luc. 17, 21
bis 22)“ (136). Es sei festgehalten: Gerade die existentiell-praktische Inter-
pretation dieser Rede vom Reich Gottes fhrt Kant weiter zu einer weltge-
schichtlichen Hoffnungsperspektive der Befreiung der Menschen. Diese Perspektive
wird durch die Rede von Gott notwendig erçffnet, ist in ihr geltungslogisch im-
pliziert. Sie wird in ihrer eigentlichen Stärke als radikale Sinngrenzreflexion
und Sinngrundreflexion auf die transpragmatischen und transethischen Bedin-
gungen humanen Lebens verstanden. Die Rede von Gott hat in genau
diesem Kontext ihren sinnvollen Sitz und Gebrauch. Dass dieser Zugriff
berechtigt ist, zeigt sich auch in Kants Thematisierung des Geheimnis-
begriffs. Während er eine (bis heute) verbreitete Vorstellung von reli-
giösen Geheimnissen, die mit vagen Intuitionen und diffusen Gefühlen
verbunden ist, als irrational zurückweist, kann er sinnkriterial ebenso
authentische Geheimnisse aufweisen.
Der Ansatz Kants ist hier insofern wegweisend, als der Zugang zum
eigentlichen Geheimnis die alltägliche lebensweltliche Praxis ist: „So ist
die Freiheit, eine Eigenschaft, die dem Menschen aus der Bestimmtheit
seiner Willkür durch das unbedingte moralische Gesetz kund wird, kein
Geheimniß, weil ihr Erkenntniß jedermann mitgetheilt werden kann; der
uns unerforschliche Grund dieser Eigenschaft aber ist ein Geheimniß, weil er
uns zur Erkenntniß nicht gegeben ist. Aber eben diese Freiheit ist auch allein
dasjenige, was, wenn sie auf das letzte Objekt der praktischen Vernunft,
die Realisierung der Idee des moralischen Endzwecks, angewandt wird,
uns unvermeidlich auf heilige Geheimnisse führt“ (138, hervorgehoben
von Th. R.). In der Linie Kants können wir demnach irrationale Schein-
bzw. Pseudogeheimnisse von wirklichen, transrationalen, absoluten
Geheimnissen unterscheiden, die sich als unerklärlich, unableitbar und
unerforschlich im Wesentlichen negativ charakterisieren lassen. Sich zu
absoluten, transrationalen Geheimnissen noch sinnvoll zu verhalten, das
50 Teil 1. Religionsphilosophie
Der gesamte kritische Ansatz Kants ist darauf gerichtet, Religion und
Gottesglauben nicht als funktional, instrumentell, nicht als Substitut,
Surrogat und Ersatzhandlung für authentische Praxis zu verstehen. Das
unbedingte praktische Freiheitsverständnis begründet auch das Gottes-
verhältnis. Kants Rekonstruktion geht nicht auf in einem vordergrün-
digen moralistischen, rationalistischen Standardmodell. Vielmehr fragt er
zurück nach den transpragmatischen Sinnbedingungen aller unserer
Praxis. Wir können diese Ebene der Sinnkonstitution über seine Analysen
hinaus existential- und sprachanalytisch präzisieren und kritisch-herme-
neutisch wie auch kulturphilosophisch weiter entwickeln, ohne hinter
seine kritischen Einsichten zurückzufallen.
Wir sind als endliche, leid-, schuld- und todbedrohte Wesen auf Sinn
angelegt. Dies zeigt sich in aller menschlichen Praxis, somit auch in all
ihren uns bekannten früheren Formen. Natürliche Katastrophen wie
auch katastrophale moralische Übel prägen Geschichte und Gegenwart.
In gebrochener, fragiler, durch Scheitern bedrohter Form sind uns
Perspektiven der Vernunft, der Freiheit und des Guten eröffnet. In ihnen
zeigt sich der – in Wahrheit unerklärliche – Sinn des Seins und unserer
Existenz und ist uns real zugänglich. Dass dies für uns konkret nur in
endlicher Form geschieht und geschehen kann, dass die Formen des
Verlustes und des Scheiterns uns konkret drohen, gehört unlöslich zu
unserer leiblichen Natur und zu unserer Freiheitsgeschichte.
Eine eigenmächtige „Indienstnahme“ Gottes ist mit einem verfehlten
Transzendenzverständnis verbunden. Es ist vielmehr umgekehrt: Weil ich
unbedingten, mir unverfügbaren Sinn bereits erfahre, Sein des Sinns, der
mich ermöglicht, darum darf und kann ich auch hoffen, angesichts der
52 Teil 1. Religionsphilosophie
vielen Formen des Übels, des Bösen und der eigenen Fehlbarkeit, absolut
und definitiv betrachtet, zu bestehen. Ich muss aber begreifen, dass diese
transzendierende Hoffnung selbst Geschenkcharakter hat. Wir wissen,
dass in den konkreten Leidsituationen billiger Trost unredlich ist. Die
Formen der Solidarität, die uns möglich sind, eröffnen uns – wiederum
endliche und begrenzte, aber gleichwohl unbedingte und unbedingt
gebotene – Handlungsperspektiven. Eine „Rechtfertigung Gottes“ im
Sinn einer theoretischen Demonstration, die „beweist“, alles Geschehen
sei letztlich gut bzw. zu etwas gut, versucht, sich selbst missverstehende,
szientistische Metaphysik zu betreiben. Nur eine vernunftkritische,
selbstkritische Sinngrenzanalyse kann den Zusammenhang von Negati-
vität und Sinn angemessen einsichtig machen. Dann wird erkennbar: Die
ursprüngliche (unerklärliche) Eröffnung von Sinn in der – selbst uner-
klärlichen – Wirklichkeit der Freiheit in der humanen Welt ermöglicht
Leiderfahrung sowie alle Formen des moralischen Bösen. Die Wirk-
lichkeit von Leiden und Schuld lässt sich nicht nur nicht „erklären“ oder
gar „wegerklären“ oder auch beschwichtigend schönreden. Es lässt sich
erkennen: Wir leben letztlich von ungeschuldetem, unverfügbarem Sinn.
Die einzigartige, prozesshafte Existenz des Kosmos, des Universums
unter Einschluss der Existenz des Lebens der Menschheit und jedes
einzelnen Individuums wird sich in uns selbst bewusst. Dieses einzigartige
Wunder wird nicht geringer durch Leiden und Schuld. Nur eine ober-
flächliche Sicht kann das Böse „relativieren“ und so verharmlosen. Aber
eine dstere Sicht der Welt im Sinne eines tragischen Pessimismus – so nahe
sie aus verständlichen Gründen vielen Philosophen lag und liegt – ist der
Vernunft und der unbedingten Sinndimension humanen Lebens unan-
gemessen. Sie ist theoretisch unbegründbar, praktisch und existentiell
irreführend und falsch. Wenn wir die abgründige Fehlbarkeit der
Menschen und ihrer Leidensgeschichte – die niemand leugnen kann und
darf – bewusst wahrnehmen, ist der Schritt zu Mitleid und Solidarität,
wenn auch noch so schwach, schon vollzogen, und mithin eine – bereits
implizite – Antizipation von Hilfe, Leidensminderung und auch des
Lernens aus Verfehlung. Die urgeschichtliche Abkunft der menschlichen
Natur begleitet uns weiter. Die abgründige Boshaftigkeit ist tief in uns
angelegt, was immer wir tun und sagen, welche oberflächlichen Selbst-
bilder wir auch von uns entwerfen. Diese Tiefendimension wird in der
Leidensanalyse des Buddhismus und bei Schopenhauer sowie in der
christlichen Tradition und bei Kant – lange vor Freud – zu Recht ins
Zentrum gerückt und ausgelotet. Noch die formal-strukturelle Analyse
des jeweiligen „Verfallens“ in Heideggers Sein und Zeit zeigt etwas von
Die Rede von der Sünde 53
11 Hannah Arendt, Vita activa oder von ttigen Leben, München 1981, §33, 231 – 238.
54 Teil 1. Religionsphilosophie
wenn die Ordnung des Guten nicht bestünde, dessen Beraubung das Übel
ist. Diese Ordnung aber wäre nicht, wenn Gott nicht wäre.“12
Betrachten wir die katastrophischen Ereignisse der Weltgeschichte
(nicht nur des 20. Jahrhunderts), so könnten wir auch zu der Einsicht
gelangen, dass das böse Tun über kurz oder lang an sich selbst zugrunde
geht. Dass es indirekt auch Gutes bewirkt (im Sinne von Hegels „Macht
der Negativität“ und „List der Vernunft“), stimmt zwar, sollte aber nicht
wie ein Funktionsmechanismus angesehen werden. Die Erfahrungen, die
mit Leid und Schuld verbunden sind, sind für uns unverzichtbar, gerade
weil das Schreckliche und Fürchterliche weder verkleinert noch relati-
viert werden kann und darf. Je größer unsere Erkenntnis und Einsicht in
die Natur des Bçsen wird, desto unumstößlicher und gewisser wird für uns
die Einsicht in den unbedingten, absoluten Wert des Guten werden
können. Kant spricht in Bezug auf die Hiob-Geschichte der Bibel von
einer „authentischen Theodizee“, gerade weil der leidende Hiob alle gut
gemeinten, aber oberflächlich bleibenden „Erklärungen“ seiner Freunde
zurückweist.13 Da Gutes und unbedingter Sinn uns in ihrer irreduziblen, le-
benstragenden und auch gewissmachenden, bergenden Bedeutung vernnftig zu-
gnglich und erschlossen sind – ebenso wie Freiheit und Wahrheit – ist das Bçse
bereits als nur scheinhaft mchtig durchschaubar, so zerstçrerisch-machtvoll es sich
auch in der Wirklichkeit der Welt aufspreizt. Es ist somit im Ansatz bereits
berwunden und weiter zu berwinden. Es wäre somit auch eine spekulativ-
irreführende und illusionäre Vorstellung von der Allmacht Gottes, als
bestünde sie in einem kausalistisch objektivierbaren „Eingreifen“ in
konkrete einzelne Geschehnisse und Handlungszusammenhänge. Ab-
solute Transzendenz in ihrer Totalität besagt, dass alles Gottes Sein aus-
macht, unter Einschluss unserer Freiheits- und Vernunftgeschichte. Die
Allmacht Gottes zeigt sich indirekt gerade im Scheitern des Guten und
der Liebe, die dennoch ihren unbedingten, absoluten Wert behalten. Das
gilt auch für die weltgeschichtliche Perspektive. Eine Gottesvorstellung,
die einen „Determinismus zum Guten“ denkt, würde die humane Welt
zerstören. Bezüglich künftiger Entwicklungen ist unser Handeln un-
überbietbar auf Hoffnung gestellt. Die Garantielosigkeit des Gelingens
betrifft nämlich gemäß klarer Analyse alle unsere Handlungen – in jedem
Augenblick.
12 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, Darmstadt 2001, III 71.
13 Immanuel Kant, ber das Mißlingen aller philosophischer Versuche in der Theodizee,
in: Kants gesammelte Schriften, Akademie-Textausgabe Bd. VIII, Berlin 1968,
255 – 271.
Die Rede von der Sünde 55
Dass es unbedingten Sinn gibt und dass wir von ihm, durch ihn und in
ihm leben, besagt eben nicht, dass „alles sinnvoll“, „alles gut“ ist auf eine
vordergründig evidente Weise. In den religiösen, jüdischen Weisheits-
traditionen wird die authentische Theodizee, der Hinweis auf die irre-
duzible Einzigartigkeit unbedingten Sinns positiv so artikuliert, dass das
göttliche Gericht dadurch noch aufgehalten wird, solange sich noch ei-
nige wenige Gerechte in der Stadt bzw. im Volk befinden. Auch auf die
Welt wird diese Weisheitslehre bezogen: Sie bleibt noch solange erhal-
ten, wie einige Gerechte in ihr leben. Das Unbedingte ist eben nicht
quantifizierbar. Im ganz profanen Blick auf die Gräuel des 20. Jahr-
hunderts kann die praktisch-vernünftige Urteilskraft nicht umhin, Trost
und Bestätigung aus dem Faktum der tätigen Hilfe, Solidarität und
Nächstenliebe auch unter den widerwärtigsten Bedingungen der Ver-
nichtungslager zu empfangen. Würde die Welt nicht existieren, so gäbe es
diese Wirklichkeit der Liebe nicht – Gott wäre, spekulativ gesprochen,
mit sich allein geblieben. Keinesfalls können wir diejenigen leichtfertig
verurteilen, die die Kraft zur Liebe nicht hatten – wir wissen nicht, wie
wir gehandelt hätten.
Auf karge, aber tragfähige Weise haben Kant und Wittgenstein diese
Gedanken formuliert. Kant sagt in seinen Vorlesungen zur Religions-
lehre: „Die Entsagung (Resignation) in Ansehung des göttlichen Willens
ist unsere Pflicht. Wir entsagen unserem Willen, und überlassen etwas
einem anderen, der es besser versteht und es mit uns gut meint. Folglich
haben wir Ursache, Gott alles zu übergeben, und den göttlichen Willen
schalten zu lassen; das heißt aber nicht: Wir sollen nichts tun und Gott
alles tun lassen, sondern wir sollten das, was nicht in unserer Gewalt steht,
Gott abgeben, und das unsrige, was in unserer Gewalt steht, tun. Und dies
ist die Ergebung in den göttlichen Willen.“14 Der frühe Wittgenstein
schreibt, dass Gott das ist, dass und wie alles geschieht und das, was wir tun
sollen – dies zusammengenommen. Zu Drury bemerkt er: „We are not
here in order to have a good time.“15
Dass die Sinngrenzanalyse auch bei dieser Thematik wieder zur
Sinngrundanalyse führt, kann noch mit einem Argument von Christian
Illies verdeutlicht werden. Er legt dar, dass die Erkenntnisgrenze im Blick
auf das Gute des Bösen, die Unversöhnlichkeit des Bösen mit seiner
Vorstellung als notwendiges Mittel zum Guten selbst etwas Positives ist.
Denn von uns muss das Böse stets als ein absolut zu Vermeidendes erkannt
werden. Es wäre nicht gut für uns, wenn wir – aus einer übergeordneten
Perspektive – wüssten, wozu das Böse (letztlich) doch gut sein mag. Das
Nichtwissen ist auch hier lebensermöglichend und lebenstragend. Des-
wegen ist es auch Mephisto, eine diabolische Gestalt, die sagen kann, er sei
„[e]in Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute
schafft.“16
1 Hegel wird zitiert nach der Theorie-Werkausgabe, 20 Bde., Frankfurt a.M. 1986,
hg. v. Eva Moldenhauer/ Karl Markus Michel. Die Zahlen in Klammern be-
ziehen sich auf Bandzahl und Seite. Zitiert wird aus den Bänden 6 (Wissenschaft
der Logik II), 10 (Enzyklopdie III), 12 (Philosophie der Geschichte) und 17 (Philo-
sophie der Religion II); vgl. zum Thema auch: Thomas Rentsch, „Negativität und
Vermittlung. Hegels Anthropo-Theo-Logik“, in: ders., Negativitt und praktische
Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 213 – 251.
Hegels Gott 59
Der abstrakte Gott, der Vater, ist das Allgemeine, die ewige, umfangende
totale Besonderheit. Wir sind auf der Stufe des Geistes: das Allgemeine schließt
hier alles in sich. Das Andere, der Sohn, ist die unendliche Besonderheit, die
Erscheinung; das Dritte, der Geist, ist die Einzelheit als solche, aber das
Allgemeine als Totalitt ist selbst Geist, – alle drei sind der Geist (17, 234).
Der „Geist“ ist bei Hegel der Titel für die begriffliche Form der ver-
nünftigen Sinnkonstitution für endliche und freie, menschliche Wesen:
Der Geist ist […] in den drei Formen […] zu betrachten, in die er sich setzt.
Diese drei […] Formen sind: das ewige In- und Bei-sichsein, die Form der
Allgemeinheit; die Form der Erscheinung, die der Partikularisation; das Sein für
Anderes; die Form der Rückkehr aus der Erscheinung in sich selbst, die
absolute Einzelheit. In diesen drei Formen expliziert sich die göttliche Idee.
Geist ist die göttliche Geschichte, der Prozess des Sichunterscheidens, Di-
rimierens und dies Insichzurücknehmens (17, 214).
Hegel analogisiert mithin die logische Struktur der zeitlich-endlich ge-
schehenden prädikativen Synthesis im Urteil mit der internen Diffe-
renziertheit der göttlichen Dreieinigkeit. Die interne Komplexität des
sprachlichen Handelns ist nach ihm das offenbare Geheimnis der trini-
tarischen Konstitution des „ewigen Logos“. Es ist daher möglich, der
Theologie Hegels einen anthropologisch-sprachpragmatischen Sinn zu geben.
Wir haben also hier die Religion der Manifestation Gottes, indem Gott sich
im endlichen Geiste weiß (17, 187).
Gott ist Logos, Wort; er ist Begriff: das ist der Kern der Hegelschen
Anthropo-Theo-Logik. Gott ist insbesondere der sich im Menschen
allererst selbst begreifende Begriff. Wenn Hegel sagt:
Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition dessen gibt, was es
für das Wahre hält. Definition enthält alles, was zur Wesentlichkeit des
Gegenstandes gehört, worin seine Natur auf einfache Grundbestimmtheit
zurückgebracht ist als Spiegel für alle Bestimmtheit, die allgemeine Seele alles
Besonderen. Die Vorstellung von Gott macht somit die allgemeine
Grundlage eines Volkes aus (12, 70).
so impliziert seine Interpretation bereits die späteren linkshegelianischen
Projektions- und Depotenzierungstheorien. Allerdings impliziert er sie
nicht mit dem ideologiekritischen Pathos der Entlarvung, sondern mit der
Emphase der Freilegung authentischer Wahrheit, einer Wahrheit, die
partial bereits in den nichtchristlichen Vorgestalten des religiösen Be-
wusstseins erscheint. Die emphatische Bedeutung und Gewichtung, die
die logisch-strukturellen Übersetzungen religiöser oder theologischer
Rede gerade als Übersetzungen von Kernbeständen christlicher Rede
von Gott erhalten, wird erkenntnis- und sprachanthropologisch dadurch
von Hegel gedeckt, dass sie die Struktur des lebendigen Geistes wie-
dergeben. Was die Tradition als „Gott“ bezeichnete, das genau können
wir in der WdL als die vernünftige Grundform möglicher Sinnkonsti-
tution in ihrer begrifflichen Binnenstruktur selbst begreifen. Der so be-
griffene Geist ist der Ort möglicher Einheit (von Bedeutungen, Sätzen,
Urteilen), der Ort möglicher Wahrheit (von Aussagen, Behauptungen,
Schlüssen), schließlich die ausgezeichnete Weise freier, d. h. selbstbe-
stimmter und selber bestimmender Praxis.
Es bestätigt sich somit in Hegels Anthropo-Theo-Logik der Zu-
sammenhang von existentieller Negativität (Unbestimmtheit, unbe-
stimmter Totalität), Sprache (prädikativer Bestimmtheit) und Freiheit
(Möglichkeit von Prädikations- und Negationshandlungen). Der Mensch
ist „der existierende Begriff“ (6, 481); die logischen Formen des Begriffs:
Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit sind auch die möglichen
Formen seines Selbst- und Weltverständnisses. Die „Form Gottes“ wird
als die dreifaltige Form der sprachlichen Weltorientierung verstanden,
und so als die Form des lebendigen menschlichen Geistes. Hegel kann
deshalb seine Anthropo-Theo-Logik zusammenfassen, indem er sagt, dass
der Stoff, welcher den Inhalt des Begriffs von Gott ausmacht, „der Geist“
62 Teil 1. Religionsphilosophie
4 Zit. nach Vittorio Hösle, Hegels System: der Idealismus der Subjektivitt und das
Problem der Intersubjektivitt Bd. 2, Philosophie der Natur und des Geistes, Hamburg
1988, 645, Anm. 116.
Hegels Gott 67
6 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005, 66, 134, 165 f.
70 Teil 1. Religionsphilosophie
Hegels Gott
1. Es ist möglich, der Theologie Hegels einen anthropologisch-
sprachpragmatischen Sinn zu geben.
2. Die logischen Formaspekte sprachlicher Sinnkonstitution, Allgemein-
heit, Besonderheit und Einzelheit, die Hegel als „Explikation der
göttlichen Idee“ bezeichnet und mit den „Personen“ der Trinität
gleichsetzt, werden von ihm ebenso zur Unterscheidung von For-
men des Urteils, syllogistischen Formen, aber auch der Formaspekte
der Subjektivität, des vernünftigen Selbstbewusstseins und seiner
Reflexivität herangezogen.
3. Der so begriffene Geist ist der Ort möglicher Einheit (von Bedeu-
tungen, Sätzen, Urteilen), der Ort möglicher Wahrheit (von Aussa-
gen, Behauptungen, Schlüssen), schließlich die ausgezeichnete
Weise freier, d. h. selbstbestimmter und selber bestimmender Praxis.
4. Alle religiçsen Vorstellungen und mythischen Anschauungen sowie die
theologisch-transzendenten Aussagen der Dogmatik werden in philosophische
Analysen und Feststellungen ber die begriffliche Konstitution des mensch-
lichen Selbst- und Weltverstndnisses berfhrt bzw. selbst als solche ge-
deutet.
5. Diese Transformation von Mythologie in anthropologische Konstitutions-
analyse nimmt die Methode der existentialen Interpretation und der
Entmythologisierung vorweg, wie sie im 20. Jahrhundert von Ru-
dolf Bultmann und seiner Schule entwickelt wurde.
6. Theologisch gesprochen entfaltet Hegel eine integrale Pneumato-
logie, wobei der „Geist“ der Titel für die Totalität der Sinnbedin-
gungen menschlicher Orientierung gemäß Hegels Analyse in der
WdL ist: die absolute Vermittlung von Allgemeinem, Besonderem
und Einzelnem, „Vater“, „Sohn“ und (heiligem) „Geist“; „und diese
unendliche Vermittlung hat die objective Gestalt – Daseyn Leiden
und Sterben, und Erhöhung Christi“.
7. Die Christologie ist für Hegel die religionsgeschichtlich radikale
Form der Wahrheit, die seine Anthropo-Theo-Logik philosophisch-
begrifflich zu artikulieren sucht: Das Allgemeine, Universale, das
Un-Endliche, die ,Idee‘ als ,Form‘ und damit die Totalität – sie
können und mssen daher einzig in der Besonderung, partikular, in der
Endlichkeit und so inhaltlich konkretisiert erscheinen.
8. Mit diesem Ansatz steht Hegel in der Tradition der (von ihm ja auch
rekonstruierten) Genesis der okzidentalen Rationalität von Platon
und Aristoteles über Plotin und die mittelalterliche Onto-Theo-
Hegels Gott 71
1
Die Moderne ist auf komplexe Weise durch Entzweiungsprozesse cha-
rakterisiert, die sich, davon bin ich überzeugt, im Kern auf misslungene
Ersatzbildungen für ein wahrhaftes Absolutes zurückführen lassen. Solche
falschen Ersatzbildungen waren Rasse und Klasse, Volk und Nation,
Machtblöcke, der wissenschaftlich-technische Fortschritt, aber auch das
einzelne Individuum. Zu diesen Formen der prekären Moderne gehören
insbesondere die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Ist der Kapitalismus
allein der schon von Hobbes so genannte „übrig gebliebene Wolf“, so
kommt es zur Ersetzung von Gott durch Geld, wie Falk Wagner es
analysiert hat.1 Die Bankhäuser überbieten in ihrer Pracht die Sakral-
bauten. Den Ersetzungsprozessen entspricht auf der realpolitischen Ebene
oft das Totschlagen, auf der ideologischen Ebene vor allem das Totsagen,
das in der Moderne und Postmoderne spätestens seit Nietzsche zu einem
regelrechten Sport geworden ist: Dem „Tod Gottes“ folgte der Tod des
Subjekts, das Ende des Menschen, das Ende der Moderne, das Ende der
Postmoderne, das Ende der Geschichte. Ich plädiere daher seit längerem
1 Falk Wagner, Geld oder Gott? Zur Geldbestimmtheit der kulturellen und religiçsen
Lebenswelt, Stuttgart 1984.
Dialektik der Transzendenz bei Benjamin 73
schon für ein Ende des Endes bzw. für den Tod des Totsagens.2 Dem
tatsächlichen Weiterleben religiöser Bestände kommt in den Gesell-
schaften der Profanität ein eigentümlicher Status zu. Man benötigt keine
Psychoanalyse, um von einer variantenreichen Wiederkehr des Ver-
drängten zu sprechen. Allein der emphatische Gebrauch des mit fraglosen
Sinnansprüchen verbundenen Wortes „Kult“ in der Alltagssprache und
Jugendkultur, die Phänomene der Idolbildung in Sport- und Unterhal-
tungsindustrie, der Eventcharakter spektakulärer öffentlicher Inszenie-
rungen zeugen von solchen Prozessen. Substitute des Absoluten haben
sich aber allesamt als unzulänglich erwiesen. Die Untauglichkeit der
Surrogate zeigt sich auch in pseudo-theologischen und pseudo-meta-
physischen Ansprüchen von Wissenschaften auf der einen, von subjek-
tivistisch-irrationalen Strömungen auf der anderen Seite. Vom Urknall
bis zur schwarzen Messe, von Esoterik über Exotismen bis zum Ewigen
Leben durch Gentechnologie und Klonierung ist alles auf dem Markt.
Dem trotzen ein reduktionistischer Szientismus sowie ein religiöser
Fundamentalismus, sei er nun jüdisch, christlich oder islamisch. Insbe-
sondere dem kritischen Blick auf die Wissenschaften fallen seit langem
pseudo-wissenschaftliche Quasi-Metaphysiken auf. Sie bilden sich um
quasi-absolute Grundbegriffe, um Totalitätssurrogate wie „Funktion“,
„System“, „Struktur“, „Interpretation“, „Konstruktion“, aber auch
„Kontingenz“, „Risiko“ oder „Chaos“ – oder gar „Blase“. Solche alles
erklärenden Metaphysiksurrogate gibt es in der Physik, in der Kosmo-
logie, in der Biologie und in der Soziologie ebenso wie in der modischen
Kulturphilosophie. Was auf diesem Jahrmarkt herumgeboten wird, trägt
sein rasches Verfallsdatum allerdings schon auf der Stirn geschrieben. Für
die Gegenwart gilt: Die beiden Seiten einer ausgefransten Entwicklung –
hybrider Szientismus und Fundamentalismus, kapitalistische Weltöko-
nomie und irrationaler religiöser Dogmatismus – ergänzen sich derzeit zu
einer prekären negativen Dialektik. Ersichtlich führen die geschilderten
Prozesse nicht die besten Traditionen der okzidentalen Rationalitätsge-
schichte weiter.
Die geschilderten Verdinglichungs- und Irrationalisierungsprozesse
wurden von der kritischen Philosophie des 20. Jahrhunderts umfassend
analysiert und auf ihre Gründe befragt. Meine These ist nun aber darüber
hinaus, dass gerade die wichtigsten Autoren, die dies geleistet haben,
gleichzeitig auf ihrer Ebene der Reflexion die radikal-kritische Grund-
2 Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische
Einfhrung, München 1989.
74 Teil 1. Religionsphilosophie
aufgeladenen Begriffen, deren wichtigster der der „Spur“ ist. Den me-
taphysikgeschichtlichen Hintergrund bildet hier Plotins Uwmor-Begriff, der
im neuplatonischen Christentum als vestigium aufgenommen wird. Ins-
besondere, wenn Derrida das allen Unterscheidungen noch vorauslie-
gende Geschehen als archi-trace, als „Ur-Spur“ bezeichnet und es für älter
als das Sein erklärt, werden inmitten hermeneutischer Theoriebildung der
Postmoderne theologisch hochkomplexe und voraussetzungsreiche
Termini in andere Kontexte transferiert, ohne deren ursprüngliche Be-
deutung und Herkunft zu explizieren, um ihr suggestives Potential und
ihre theologisch-metaphysische Sinndimension durchaus erfolgreich zu
beerben. Anders gesagt: Die gesamte Reflexion der Moderne hat einen
verschwiegenen, oft verdrängten theologischen Subtext.
Den Substituten des Absoluten bzw. Gottes – dem Sein, dem Mys-
tischen, dem Nicht-Identischen, der Kommunikationsgemeinschaft, der
Differenz – eignen folgende Strukturmerkmale: Sie sind 1. nicht religiös,
metaphysisch oder theologisch im traditionellen Sinne verstehbar. Sie
sind 2. allerdings auch ohne den geschichtlichen Hintergrund und kul-
turellen Kontext von Mystik, Metaphysik, Christentum, Neuplatonismus
und Gnosis nicht angemessen verstehbar. Ihnen eignet 3. starke Nega-
tivität: Unsagbarkeit, Verborgenheit, Verdecktheit; deswegen werden sie
übersprungen, übersehen, vergessen, verkannt, und das hat unheilvolle
Folgen, denn ihnen kommt 4. in Wahrheit ein eminenter, erhabener,
emphatisch auszuzeichnender Status zu, ein Ausnahmestatus, der in
Wirklichkeit von herausragender praktischer Bedeutung für das wahre
menschliche Welt- und Selbstverständnis ist. Die mit den aufgezeigten
Substituten verbundene Dimension zu begreifen, das ist die eigentlich
wahre, rettende Einsicht der Philosophien von Heidegger, Wittgenstein,
Adorno, Habermas und Derrida. Welche Konsequenzen verbinde ich mit
der skizzierten Analyse? Meinem Urteil nach ist es in der systematischen
Gegenwartsphilosophie angesichts der Sonderbildungen und ihrer Wir-
kungsgeschichte verstärkt erforderlich und angeraten, viel expliziter an
Traditionen der Religion, der Theologie, der Metaphysik und (ratio-
nalen) Mystik anzuknüpfen und sich bewusst mit ihnen auseinander zu
setzen, anstatt diese parasitär zu beerben oder sie bloß indirekt voraus-
zusetzen, ohne sie zu klären. Im Rahmen einer kritischen philosophi-
schen Theologie und Metaphysik gilt es, sich wieder mit den Originalen,
mit den Vor- und Urbildern der genannten Sekundärbildung zu befassen,
ihren spezifischen Sinn und genuinen Wahrheitsanspruch erneut frei-
zulegen und ihre praktische Bedeutung für das Welt- und Selbstver-
ständnis des Menschen im Dialog von Philosophie, Theologie und
Dialektik der Transzendenz bei Benjamin 79
2
Als Kontrastfolie zu dieser Analyse dient mir im zweiten Teil meines
Vortrags das Werk Walter Benjamins. Die These von den Ersatzbil-
dungen für das Absolute in der Reflexion und Praxis der Moderne – in
der Ökonomie, im gesellschaftlichen Bewusstsein und in der Reflexion –
wird ergänzt durch die These, dass Benjamin eine solche Substitutions-
bildung konsequent vermeidet. Wie ist das möglich? Die Antwort ist
einfach und berührt doch alle zentralen Aspekte des Denkens von
Benjamin. Eben weil Benjamin ein irreduzibles Transzendenz- und
Eschatologieverstndnis hat, welches sich begrifflich völlig der Funktiona-
lisierung und der reflexiven, ethischen oder politischen Indienstnahme
verweigert, geradezu radikal sperrt, eben deswegen kann er unklare Sä-
kularisierungskategorien vermeiden, eben deswegen gelingt es ihm,
Profanität anders zu begreifen, und auf diese Weise auch eine andere
Perspektive von Materialismus und Praxis zu entwickeln. Zu fragen ist,
wie diese genuin theologische Dimension von Benjamin gedacht wird.
Entspricht sie strukturell den Entwürfen der Dialektischen Theologie? Es
muss gefragt werden, ob dieses radikale Transzendenzverständnis kryp-
tognostische Züge aufweist, ob es somit der Habermas‘schen Kritik
ausgesetzt ist: Benjamins Denken sei anti-evolutionistisch und zeige ei-
nen manichäischen Blick.17 Meine abschließende These weist diese Kritik
zurück und zeigt den Weg einer möglichen systematischen Rekon-
struktion für die Gegenwart auf.
1. Zunächst zeichnet sich Benjamins Ansatz durch den konsequent
durchgehaltenen historischen Materialismus und die dauernde Bezug-
nahme auf die konkrete Leidensgeschichte der Menschen aus. Mit dieser
17 Vgl. dazu Jürgen Habermas, „Bewußtmachende oder rettende Kritik. Die Ak-
tualität Walter Benjamins“, in: ders., Politik, Kunst, Religion, Stuttgart 1978, 60 f.,
76, 86 f.
80 Teil 1. Religionsphilosophie
Ordnung des Profanen das Kommen des messianischen Reiches. […] Denn
im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm
der Untergang zu finden bestimmt […].24
Man könnte reformulieren: Nur im Widerschein absoluter Transzendenz
zeigen sich auch die transpragmatischen Sinnbedingungen aller Praxis
und Rationalität. Letztere aber müssen für sich stehen, für sich selbst
sorgen. Daher kann sich „nichts Historisches […] von sich aus sich auf
Messianisches beziehen wollen“.25 Ebenso konsequent unterscheidet
Benjamin in der Wahlverwandtschaften-Arbeit „scheinhafte“ von „wahrer
Versöhnung“. Wahre Versöhnung gibt es
in der Tat nur mit Gott. Während in ihr der Einzelne mit ihm sich versöhnt
und nur dadurch mit den Menschen sich aussöhnt, ist es der scheinhaften
Versöhnung eigen, jene untereinander aussöhnen und nur dadurch mit Gott
versöhnen zu wollen. [Dennoch hat] die Versöhnung, die ganz überweltlich
und kaum fürs Kunstwerk gegenständlich ist […], in der Aussöhnung der
Mitmenschen ihre weltliche Spiegelung.26
In diesen Passagen wird sehr gut die konsequent dialektische, und d. h.:
nicht dualistische, nicht gnostische Weise des Bezuges von profaner
Materialität und theologischer Transzendenzperspektive deutlich. Dieser
Bezug lässt sich eben weder natural noch supranatural reduzieren und
auflösen. Deswegen kann Benjamin im Passagen-Werk schreiben:
Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abge-
schlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen
machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfah-
rung, die es uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu
begreifen, so wenig wie wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu
schreiben versuchen dürfen.27
Nur so ist verstehbar, dass Benjamin im Festhalten eines echten Eschaton
schreiben kann: „Es schwingt […] in der Vorstellung des Glücks un-
veräußerlich die der Erlösung mit“28, sowie: „Die echte Konzeption der
historischen Zeit beruht ganz und gar auf dem Bild der Erlösung“.29
Wir berühren mit diesem Gedanken den Kernbereich der philoso-
phischen Reflexion absoluter Transzendenz bei Benjamin. Einerseits
1 Paul Tillich, Gesammelte Werke, Bd. 3, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959,
182 f.
88 Teil 1. Religionsphilosophie
Mit Nietzsches Diktum: „Der reine Geist ist die reine Lüge.“2 Tillich
wurde Pfarrer im Arbeiterviertel Berlin-Moabit – es macht seine Stärke
aus, angesichts seiner Einsichten keinen Zweifel daran zu lassen, dass sich
der unterstellte Wahrheitsgehalt von Christentum, Humanismus und
bürgerlichem Idealismus hier bewähren muss, sonst nicht viel wert wäre.
Dies macht Tillich modern: die nach Karl Löwiths großer Darstellung
beiden Seiten des Zerfalls der Hegelschen Synthese – Kierkegaard und
Marx – aufeinander zu beziehen, „auf der Grenze“, wie er seine spätere
Selbstdeutung programmatisch betitelt.
Ein weiterer Schritt: Die Negativitätsanalysen Tillichs im apostro-
phierten Kontext verbleiben nicht im konstatierenden Aufweis bloßer
Defizite menschlicher Existenz und Praxis. Tillich versucht in seinen
frühen Jahren und auch in seiner Dresdner Zeit, die innere Feinstruktur
existentieller und sozialer Negativität genauer zu erfassen. Menschen sind
zur Selbstverwirklichung gezwungen. Die Akte der Selbstverwirklichung
vollziehen sich in der Endlichkeit: Sie sind der Fehlbarkeit, Irrtumsan-
fälligkeit, Ungesichertheit, der ständigen Gefährdetheit ausgesetzt. Ne-
gativität ist als Selbstentfremdung untilgbar, weil sie sich notwendig noch
auf sich selbst zurückbeziehen muss, um sich zu bewältigen. So steigert sie
sich zu scheinhaften Formen der Selbstmächtigkeit und der Selbsttrans-
parenz, die als Mythen, Ideale, undurchschaute Theoriekonstrukte und
Objektivitätsfetische und in imaginierten Selbstbildern ein gespenstisches
Eigenleben gewinnen, das seine Kraft letztlich nur aus der Angst und der
Einsamkeit der existierenden Subjekte bezieht. Existentielle Negativität
potenziert sich vielschichtig in der illusionären Verabsolutierung endli-
cher Konstrukte und Entwürfe.
Sie verschränkt sich mit der intersubjektiven Ebene der Negativität,
die Tillich in seinen vom Marxismus, der Soziologie Max Webers und
den Historismusstudien Ernst Troeltschs inspirierten sozialen Entfrem-
dungsanalysen thematisiert. Hier rückt – unter dem Eindruck der 20er
Jahre – das Phänomen der Macht ins Zentrum. Tillich stellt in ein-
drucksvoller realistischer Klarsicht die Unverzichtbarkeit von Macht-
strukturen heraus. Grundbedingungen sozialen Lebens sind Bedrohung,
Feindschaft, Ungesichtertheit, die Verstricktheit der Menschen in die
unüberwindliche Faktizität und Partikularität ihrer Praxis.
Es hat keinen Sinn, diese Bedingungen zu leugnen oder sie illusionär
zu beschönigen – politische Ordnungen müssen genau diesen Bedin-
2 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, in: ders., Smtliche Werke, hg. von Giorgio
Colli/Mazzino Montinari, Bd. 6, Berlin/New York 1980, 175.
90 Teil 1. Religionsphilosophie
8 So zu Recht Matthias Kroeger, „Paul Tillich als Religiöser Sozialist“, in: Her-
mann Fischer (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt
a.M. 1989, 93 – 137, dort 106.
9 Paul Tillich, Gesammelte Werke, Bd. 9, a.a.O., 42.
10 Klaus-Michael Kodalle, „Auf der Grenze? Paul Tillichs Verhältnis zum Exis-
tentialismus“, in: Hermann Fischer (Hg.), Paul Tillich, a.a.O. (Anm. 8), 301 –
334, dort 321.
11 Ebd., 320.
94 Teil 1. Religionsphilosophie
daran identifizierbar, dass sie die Möglichkeit kennt, das Wort „seiend“
im Komparativ und also als relationales Prädikat in Sätzen wie: „x ist
seiender als y“ zu verwenden, bzw., in Tillichs charakteristischer Ver-
bindung von Macht und Sein, in Wendungen wie „x ist seinsmächtiger als
y“. Durch eine solche sprachliche Operation kann Tillich eine quasi-
neuplatonische Seinshierarchie etablieren, die so nicht klassisch-antik,
sondern – nach dem Vorgang von Plotin und Proklos – christlich-mit-
telalterlich bzw. eher noch byzantinisch ist. Es ist hier die Rede von
„Seinshöhe“ und „Seinsrang“; es handelt sich um die ontologische
Substruktion, Substantialisierung und Objektivierung einer Axiologie,
die sich – ich komme an den Anfang meiner Überlegungen zurück – von
der faktischen, endlichen und negativen Existenzbewegung völlig los-
gelöst hat und eine positivistische Seinsmetaphysik wiederherstellt. In ihr
emaniert der namenlose Grund in unendlicher Fülle – es gibt schließlich
keine geschöpfliche Selbständigkeit mehr. Aber wenn alle Entfremdung
in letzter Einheit verschwindet – gerät dann nicht Gott in pure Indiffe-
renz? 15
Diese eigentümliche Indifferenz und Kompatibilität aller Ebenen auf
dem Hintergrund eines philosophischen Doketismus und Dualismus
vertritt auch der amerikanische Tillich. Ich kann diese Kontinuität in der
Entwicklung Tillichs hier nicht mehr thematisieren.
15 So Traugott Koch, „Gott: Die Macht des Seins im Mut zum Sein. Tillichs
Gottesverständnis in seiner Systematischen Theologie“, in: Hermann Fischer
(Hg.), Paul Tillich, a.a.O., 169 – 206, dort 191.
96 Teil 1. Religionsphilosophie
Dreimal haben die Götter versucht, den Menschen zu schaffen. Zum ersten
Mal schufen sie ihn aus Lehm; doch der Mensch aus Lehm war so dumm und
ungeschickt, daß die entrüsteten Götter ihn sogleich wieder vernichteten
und einen neuen Menschen aus Holz bildeten. Auch dieser Versuch miß-
lang, denn der Holzmensch war grob und bösartig, so daß man auch ihn
wieder vernichtete. Einige der Holzmenschen entgingen jedoch der Ver-
nichtung und flohen in die Wälder; sie bilden dort das Volk der Affen. – Die
Götter sagten: Laßt es uns doch noch einmal probieren! Und sie schufen
Menschen aus Teig. Die Teigmenschen waren klug, aber auch listig und
verschlagen. Die Götter jedoch waren müde geworden und sprachen: „Ach
– die lassen wir jetzt so.“ Sie ließen die Menschen trotz ihrer Unvollkom-
menheit am Leben. Nur vernebelten sie ihnen noch das Hirn, so daß sie trotz
ihrer Klugheit zu Irrtümern neigen und die letzten Geheimnisse dieser Welt
nicht ergründen können.
Inka-Mythos
Aber daß das von seinem Umfange getrennte Akzidentelle als solches, das
Gebundne und nur in seinem Zusammenhange mit anderm Wirkliche ein
eigenes Dasein und abgesonderte Freiheit gewinnt, ist die ungeheure Macht
des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs.
Hegel
Der folgende Beitrag entwickelt zunächst (1.) Überlegungen zur Tra-
dition negativer Anthropologie. Er thematisiert auf diesem Hintergrund
(2.) paradigmatisch und kritisch die philosophische Anthropologie Ar-
nold Gehlens.1 Im letzten Abschnitt werden (3.) systematische Per-
spektiven einer philosophischen Anthropologie für die Gegenwart und
ihr Verhältnis zur praktischen Philosophie entwickelt. Der Beitrag ak-
zentuiert insbesondere die Bedeutung struktureller Negativität für die
Anthropologie.
1 Vgl. die Hauptwerke: Arnold Gehlen, Urmensch und Sptkultur, Frankfurt a.M.
1956; ders., Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der
industriellen Gesellschaft, Reinbek 1957; ders., Der Mensch. Seine Natur und seine
Stellung in der Welt, Berlin 1940; ders., Moral und Hypermoral. Eine pluralistische
Ethik, Frankfurt a.M. 1969.
98 Teil 1. Religionsphilosophie
2 Vgl. Thomas Rentsch, Artikel „Mensch“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.),
Enzyklopdie Philosophie Bd. 1, Hamburg 1999, 814 – 818.
Die Macht der Negativität 99
gewiesen und kein eigenes Aussehen (nec certam sedem, nec propriam faciem), ich
habe dir keine dich allein auszeichnende Gabe verliehen, da du, Adam, den
Ort, das Aussehen, die Gaben, die du dir wünschst, nach eigenem Willen und
Ermessen erhalten und besitzen sollst. Die beschränkte Natur der übrigen
Wesen wird von Gesetzen eingegrenzt, die ich gegeben habe (natura intra
praescriptas […] leges). Du sollst deine Natur ohne Beschränkung nach deinem
freien Ermessen, dem ich dich überlassen habe, selbst bestimmen (tibi illam
praefinies). Ich habe dich in die Weltmitte gestellt, damit du umso leichter
alles erkennen kannst, was ringsum in der Welt ist. Ich habe dich nicht
himmlisch noch irdisch, nicht sterblich noch unsterblich geschaffen, damit
du dich frei, aus eigener Macht, selbst modellierend und bearbeitend zu der
von dir gewollten Form ausbilden kannst. Du kannst ins Untere, zum
Tierischen, entarten; du kannst, wenn du es willst, ins Göttliche wieder-
geboren werden.6
Pico fragt dann angesichts der vielfältigen Möglichkeiten und Lebens-
formen, die der Mensch annehmen kann: „Wer sollte so ein Chamäleon
nicht bewundern?“7
Er unternimmt eine strikt negative Bestimmung des Menschen im
kritischen Gegenzug zu traditionellen anthropologischen Wesensbe-
stimmungen. Gott hatte keinen Archetypus mehr in seinen Vorräten,
kein Wesensbild, kein Grundmuster, kein Paradigma. Das Wesen des
Menschen besteht, knapp gesagt, darin, dass er kein Wesen hat. Er ist das
Wesen ohne Eigenschaften.8
Die Tradition vor Pico, die scholastische Schulmetaphysik, hatte den
Grundsatz: operari sequitur esse, das Handeln folgt dem Sein. Gemäß
dem von Gott bereits festgesetzten wesenhaften Sein, der essentia, gestaltet
sich dann auch das menschliche Handeln, das operari. Demgegenüber lehrt
Pico: Die Besonderheit des Menschen besteht nicht in seiner vorgege-
benen Natur, in irgend einem wesenhaften Sein, sondern diese Beson-
derheit besteht in der Tatsache, dass er über keine Natur, über keine
essentia verfügt, die sein Handeln im vorhinein determiniert. Er muss sich
selbst schaffen: esse sequitur operari. Das lehrt Pico 500 Jahre vor Heidegger
und Sartre. Diese negative Wesensbestimmung erhält zudem eine ethi-
sche Wendung: Da der Mensch keine Natur hat, so ist es seine Aufgabe in
6 Giovanni Pico della Mirandola, De dignitate hominis, lat. und dt., Bad Homburg/
Berlin/Zürich 1968, 26 – 29.
7 Ebd., 30 f.
8 Vgl. zur Kategorie der Eigenschaftslosigkeit in ihrer bleibenden Bedeutung bis
zur Genese der Moderne in Literatur und Philosophie: Thomas Rentsch, „Wie
ist ein Mann ohne Eigenschaften überhaupt möglich? Philosophische Bemer-
kungen zu Musil“ in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O., 292 – 321.
Die Macht der Negativität 103
13 Johann Gottfried Herder, Abhandlung ber den Ursprung der Sprache, in: Werke
Bd. 5, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1891, 27.
Die Macht der Negativität 105
Arnold Gehlen knüpft mit seinem Hauptwerk Der Mensch. Seine Natur
und seine Stellung in der Welt (1940) an Herder und die aufgewiesene
Tradition negativer Anthropologie explizit an. Aus seiner philosophi-
schen Anthropologie, die Ergebnisse der empirischen Anthropologie von
vorne herein mit berücksichtigt, entwickelt er eine eigene Kultur- und
Institutionentheorie. Nach Nietzsche ist der Mensch „das noch nicht
festgestellte Tier.“14 Bereits Kant sieht den Menschen als ein Wesen, das
von Natur aus Kultur hat, der Kultur bedürftig ist. Auch für Gehlen und
unter dem Eindruck der nicht zu leugnenden, soeben erwähnten bio-
logischen Befunde gilt, dass der Mensch biologisch zur Kultur und zur
Naturbeherrschung gezwungen ist.
Dem biologischen Invaliden und konstitutiv hilflosen Wesen Mensch
dienen die Institutionen und kulturellen Organisationen, seine Mängel zu
kompensieren. Das führt zu recht deutlicher konservativer Kulturkritik,
denn wer angesichts der Kostbarkeit der Institutionen diese antastet und
unbedacht umstürzt, der zerschlägt diejenigen unverzichtbaren Krücken,
an denen sich das Mängelwesen überhaupt aufrecht halten kann.
Mit Bezug auf die von Karl-Siegbert Rehberg entwickelte These von
einem durchgängig das Werk Gehlens prägenden „existentiellen Mo-
tiv“15 will ich im Folgenden untersuchen, ob und wie die von mir
14 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, Sämtliche Werke, KSA Bd. 5,
München 1980, 9 – 243, dort 81.
15 Karl-Siegbert Rehberg, „Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens. ,Per-
sönlichkeit‘ als Schlüsselkategorie der Gehlenschen Anthropologie und Sozial-
106 Teil 1. Religionsphilosophie
18 Ebd., 495.
19 Ebd., 497.
20 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Phnomenologie des Geistes, hg. von Johannes
Hoffmeister, Hamburg 1952, 39; vgl. Thomas Rentsch, „Negativität und
Vermittlung. Hegels Anthropo-Theo-Logik“, in: ders., Negativitt und praktische
Vernunft, a.a.O., 213 – 251, dort 228 f.
108 Teil 1. Religionsphilosophie
37 Ebd., 9 – 29.
38 Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O.; Theda Rehbock,
„Warum und wozu Anthropologie in der Ethik?“, in: Jean-Pierre Wils (Hg.),
Anthropologie und Ethik. Biologische, sozialwissenschaftliche und philosophische ber-
legungen, Tübingen/Basel 1997, 64 – 109.; Reiner Wimmer, „Zum Verhältnis
von Anthropologie und Ethik“, in: Adrian Holderegger/Jean-Pierre Wils (Hg.),
Interdisziplinre Ethik, Freiburg i.Ue./Freiburg i.B. 2001, 32 – 52.
39 Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O., 195 ff., 270 ff.
Die Macht der Negativität 115
Die These meines Vortrags bezieht sich auf die systematischen Grund-
lagen der lebenslangen Hoffnungs- und Utopieanalysen Ernst Blochs. Ich
bin der Auffassung, dass diese Analysen in der Tat ein prinzipientheo-
retisches Fundament haben, das Bloch schon früh erkennt, das er dann –
wie bekannt – äußerst materialreich, literarisch und essayistisch entfaltet,
das er aber schließlich in seinem letzten Hauptwerk, Experimentum Mundi,
noch einmal systematisch expliziert und präzisiert. Mit dieser im Fol-
genden zu begründenden These verbinden sich zwei weitere Interpre-
tationsaspekte im Blick auf das Werk und die Wirkung Blochs. Erstens
wird sich zeigen, dass die materialen Untersuchungen Blochs zur Hoff-
nungsperspektive, seien sie religionsphilosophisch, ästhetisch oder mar-
xistisch ausgerichtet, in ihrer Geltung von der zugrundeliegenden prin-
zipientheoretischen, näherhin fundamentalanthropologischen
Systematik abhängig sind, während das breite, konventionelle Ver-
ständnis der Philosophie Blochs und ihre Rezeption mit seinem Ansatz
einer Immanentisierung der christlichen Transzendenz und Eschatologie
sowie mit deren Konkretisierung in einer marxistischen Utopie der be-
freiten Gesellschaft gleichgesetzt wird. Während aber letztere Perspektive
unserer Gegenwartssituation politisch – ich formuliere vorsichtig –
wieder etwas ferner gerückt ist als in der Zeit der großen Wirkung Blochs
im vorigen Jahrhundert, sind die systematischen Voraussetzungen seiner
Hoffnungsanalyse von bestimmten politischen Formationen unabhängig
und daher auch in einer veränderten weltgeschichtlichen Situation auf
neue Weise zu rezipieren. Zweitens lässt sich zeigen, dass Blochs Vor-
aussetzungen viel stärker in Verbindung zu anderen bedeutenden An-
sätzen seiner Zeit stehen, als dies bisher bewusst wurde. Es sind Ver-
bindungen, die sich erst auf der systematisch grundlegenden Ebene
zeigen: Verbindungen zur Zeitanalyse Heideggers, Verbindungen zur
Sprachanalyse Wittgensteins und zur Konzeption des Nichtidentischen in
der Negativen Dialektik Adornos.
118 Teil 1. Religionsphilosophie
1
Die Hoffnungsanalysen Blochs in seinen Hauptwerken haben ein an-
thropologisches Fundament: einerseits in einer Reflexion auf die trieb-
haften, unbewussten Potentiale des Noch-Nicht-Bewussten in der Natur
des Menschen, die sich zum Beispiel in Hunger, Begehren und Traum
zeigen und aktualisieren; sodann im reflexiv werdenden Bewusstsein des
Noch-Nicht-Gewordenen, das Bloch in seiner Ontologie des Noch-
Nicht analysiert. Bereits hier wird die zeitanalytische Basis des Prinzips
Hoffnung sichtbar: So, wie in Heideggers Sein und Zeit das Sich-vorweg-
sein als ekstatisch-zukünftige Zeitdimension qualifizierend und sinn-
konstitutiv für alle anderen Zeitdimensionen fungiert, so auch bei Bloch
alle Modi der Zukünftigkeit: das Erwarten, das Fürchten, die Phantasie.
So analysiert Heidegger existential-anthropologisch die Furcht und das
Vorlaufen in den Tod als reflexiv-werdendes Bewusstsein der Sterb-
lichkeit und Endlichkeit. Das Sich-vorweg-sein ermöglicht allererst das
Zurück-auf, das heißt: Zukunft ermöglicht in eins Vergangenheit und
Gegenwart, erschließt diese allererst und ermöglicht ihre Sinngebung und
ihr Verstehen.
Bereits an dieser Stelle sei bemerkt, dass das große Paradigma solcher
spezifisch zeitlichen Sinnkonstitutionsanalysen Kants Analysen der trans-
zendentalen Einbildungskraft und des transzendentalen Schematismus in
der Kritik der reinen Vernunft ist. Heidegger bearbeitete diesen Hinter-
grund seiner Zeitanalyse in gründlicher Form in seinem kurz nach Sein
und Zeit veröffentlichten Buch über Kant und das Problem der Metaphysik.
Sein systematischer Hintergrund war wesentlich der innovative Neu-
kantianismus vor allem von Heinrich Rickert und Emil Lask, wie er später
immer betonte. Er promovierte 1913 bei Rickert mit der Dissertation Die
Lehre vom Urteil im Psychologismus. Bereits 1908 hatte Bloch nach sechs
Semestern Studium bei Oswald Külpe mit der Dissertation Kritische Er-
çrterungen ber Rickert und das Problem der modernen Erkenntnistheorie pro-
moviert. Külpe hatte auch Einfluss auf Heidegger. Lask wiederum be-
einflusst mit seinen innovativen Ansätzen zur Kategorienlehre, zur
Kategorienlehre insbesondere der Philosophie selbst, zur Kategorie der
Kategorie und zur Form der Form seine Freunde, Kollegen und Schüler
Lukács, Heidegger und Max Weber. Er entwickelte eine sich selbst an der
Grenze der Reflexion in materiale Modi transformierende Trans-
zendentalphilosophie, so dass Bloch im Blick auf den Materialismus und
Das Prinzip Hoffnung 119
den Marxismus prägnant von ihm sagte: „Er war der Nikolaus, aber noch
nicht der Weihnachtsmann.“1 Neukantianische Transformation der
Kategorienlehre und im Zentrum Kants transzendentale Zeitanalytik
bilden den systematischen Hintergrund des zum Philosophen werdenden
jungen Bloch. Im Zentrum seiner Dissertation steht eine Zeitanalytik. Er
versucht näherhin, das Wesen des Augenblicks phänomenologisch zu
erfassen und zu begreifen. Diese erkenntniskritische Augenblicksanalyse
enthält in nuce alle kategorialen Konstituentien, die später material, kul-
tur- und sozialphilosophisch entfaltet und eingesetzt werden. Einerseits
nämlich ist der jeweilige Augenblick, der gerade gelebte Augenblick in
seiner Präsenz und vollen Intensität schlechthin unverfügbar, unfassbar,
nicht objektivierbar. Dieses Urphänomen bezeichnet Bloch dann auch
später als das „Dunkel des gelebten Augenblicks“. Dieses Dunkel stellt
nach Blochs Dissertation ein ständig sich Entziehendes, eine Bruchstelle
der Erfahrung, ein „Nie“ dar. Denn nie ist der Augenblick fassbar, ver-
suche ich es, habe ich ihn schon als entzogenen objektiviert und re-
flektiert. Andererseits, und dies ist das Entscheidende, im gelebten Au-
genblick entspringt und wird aller Sinn ermöglicht bzw. eröffnet, der als
Noch-Nicht zukünftig möglich wird. Das Noch-Nicht zukünftigen Sinnes
ist die Tendenzkategorie, die dem Augenblick in seiner Unverfügbarkeit
und Entzogenheit gerecht wird. In der abschließenden kategorientheo-
retischen systematischen Summe des Experimentum Mundi werden daher
im Zentrum die Modalkategorien, vor allem die der Möglichkeit the-
matisiert. In der Augenblicksanalyse der Dissertation finden wir somit
Blochs Uridee, die zur Grundlage aller seiner materialen Studien wird
und die er abschließend noch einmal fundamentalanthropologisch wie
kategorientheoretisch expliziert. Diese Uridee ist eine Konzeption der
Struktur existentieller Zeitlichkeit und Sinnkonstitution, in der der
Negativität, der Entzogenheit und Unverfügbarkeit des gleichwohl
sinneröffnenden Augenblicks der Gegenwart zentrale Bedeutung zu-
kommt. Spätere apodiktische Kernformulierungen: „Ich bin. Aber ich
habe mich nicht. Darum werden wir erst.“2 weisen immer wieder auf
diesen Anfang der Blochschen Systematik zurück. Die Struktur der sich
ursprünglich entziehenden Sinneröffnung bildet und formt fundamen-
talanthropologisch und zeitanalytisch den Konstitutionsgrund aller ma-
terialen, kulturellen Modi der offenen Sinnantizipation, seien sie sinnli-
1 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Artikel „Lask, Emil“, in: Metzler Philosophen Le-
xikon, Stuttgart / Weimar 2 1995, 488 – 491.
2 GA Bd. XIII, Tbinger Einleitung in die Philosophie, 13.
120 Teil 1. Religionsphilosophie
2
Ich will nun auf der Basis des bisher Ausgeführten, des seit der Dissertation
bis zum Spätwerk systematischen Kerns des Blochschen Denkens, Be-
ziehungen zu anderen philosophischen Ansätzen aufzeigen, die bisher
wenig beachtet wurden. Dieser Kern ist die Zeit- und Augenblicksana-
lyse, verbunden mit den Aspekten der Negativität und der Sinnkonsti-
8 Friedrich Schiller, ber Matthissons Gedichte, NA Bd. 22, Weimar 1958, 273 f.
9 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Paragraph 57, 5. Absatz.
Das Prinzip Hoffnung 123
Analyse entspricht dem Grundansatz Blochs. Dies ließe sich auch noch an
den religionsphilosophischen Hoffnungsanalysen Kants zeigen.
In der Geschichte der Metaphysik findet sich ein entsprechender
Ansatz bereits bei Plotin. In seiner Schrift Peri Tou Kalou spricht er von
Ekstasis und Pleroma der Seele. Die Struktur der Antizipation formuliert
er so, dass das Schöne das ist, was der Seele ihr Heimkommen zu sich selbst
eröffnet. „Es gibt nämlich etwas Schönes, das schon beim ersten Hin-
blicken wahrgenommen wird; dessen wird die Seele gewissermaßen inne
und spricht es an; indem sie es wiedererkennt, billigt sie es und passt sich
ihm sozusagen an […]. Wir behaupten nun, wenn die Seele das ist was ihr
wahres Wesen ist, […] so ist es das Verwandte oder auch nur die Spur des
Verwandten, dessen Anblick sie erfreut und erschüttert; sie bezieht das auf
sich selbst und erinnert sich ihres eigensten Wesen, dessen was sie in sich
trägt.“10 Das Innewerden der Spur des Verwandten im Augenblick
versammelt bei Plotin schon die systematischen Kernaspekte von Kants
und Blochs Analysen. Insbesondere artikuliert der Begriff der Spur die
Entzogenheit des Grundes der Sinnkonstitution.
(2) Ich gehe jetzt auf eine Betrachtung zu Hegel nicht weiter ein, da
dieser Hintergrund von Bloch selbst umfassend dargestellt wurde. So viel
sei gesagt: Der Geist in Hegels Verständnis hat eine ekstatisch-antizi-
pierende Form, die Allgemeines, Besonderes und Einzelnes je gegen-
wärtig im Selbstbewusstsein vermittelt. Die systematische Verklamme-
rung von Negativität und Sinn steht zudem im Zentrum von Hegels
Gesamtwerk.11
(3) Eine interessante Parallele in der modernen Philosophie der Zeit
Blochs findet sich bei Husserl und seinen Analysen zur Phänomenologie
des inneren Zeitbewusstseins, auch in denen zu Phantasie und Bildbe-
wusstsein. Auch hier ist die Analyse im Kern auf die zeitliche Sinnkon-
stitution bezogen. Der Primat der Sinnkonstitution gebührt ebenfalls der
Zukunft. Husserl nennt die bewusstseins- und sinnkonstitutive Gerich-
tetheit auf die Zukunft Protention, der die Retention, das Bewusstsein
von Vergangenem, wie ein Nachklang folgt. Inmitten der Protention und
der Retention konstituiert sich die Intention, der auch die Aspekte der
Unmittelbarkeit und Entzogenheit eignen. Husserl arbeitet diese eksta-
10 Plotin, Ennēade I. 6 (Über das Schöne), in: Plotins Schriften Bd. 1, hg. von R.
Harder, Hamburg 1956, 1 – 25, dort 7.
11 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Negativität und Vermittlung. Hegels Anthropo-
Theo-Logik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000,
213 – 251.
124 Teil 1. Religionsphilosophie
12 Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, in: Werkausgabe Bd. 1, Düsseldorf 1971,
195.
13 Martin Heidegger, „Der Satz der Identität“, in: ders., Identitt und Differenz,
Pfullingen 51976, 9 – 30.
14 So Thomas M. Seebohm, „Über die vierfache Abwesenheit im Jetzt. Warum ist
Husserl bereits dort, wo ihn Derrida nicht vermutet?“, in: Das Rtsel der Zeit:
Philosophische Analysen, hg. von Hans M. Baumgartner, München 1993, 75 – 108,
dort 91.
126 Teil 1. Religionsphilosophie
Dies gilt nun auch für Wittgenstein. Kierkegaard lehrt: Der konsti-
tutionsanalytisch stets nötige Sprung ist der freie, nicht vergegenständ-
lichbare Akt, der aus der offenen Unbestimmtheit der Schwebe –
Kierkegaard sagt: zwischen entweder-oder – zur innovativ vereindeu-
tigenden Fortsetzung der Praxis führt. Wittgenstein schreibt: „In der
Sprache gibt es stets eine Brücke zwischen dem Zeichen und seiner
Anwendung. Wir müssen die Kluft selbst überbrücken; das kann uns
niemand abnehmen. Keine Erklärung erspart den Sprung, denn jede
weitere Erklärung wird ihrerseits einen Sprung benötigen.“15 Strukturell
nimmt Wittgenstein Kierkegaards Analyse genau auf. Die Bruch- und
Sprung-Kategorie wird, wie bei Bloch, mit der Brückenmetapher ver-
bunden. Sie gilt auch für den Übergang von einem Sprachspiel mit seinen
internen Sinn-Kriterien zu einem anderen, so wie bei Kierkegaard für den
Übergang von dem einen Stadium auf des Lebens Weg zum anderen:
vom ästhetischen zum ethischen und zum religiösen.
Bevor ich Adorno thematisiere, will ich mich kurz Benjamin zu-
wenden. Die Transzendenzdimension der Hoffnung auf Erlösung wird
von ihm konsequent als Sinnpotential auch und gerade vergangener,
verlorener Augenblicke konkreter menschlicher Existenz gedacht und
entfaltet. In seiner rettenden Kritik ist die Verklammerung von Augen-
blick, in der Vergangenheit verborgener und verdeckter Sinnantizipation
und freizulegender Hoffnungspotentiale systematisch konstitutiv. In
dieser rettenden Kritik soll für jeden Augenblick dessen ekstatische Po-
tentialität im Horizont der Hoffnung auf Erfüllung mitgedacht werden.
Diese Transzendenzperspektive auf Rettung geht nicht auf und kann
nicht aufgehen in fortschreitender, innergeschichtlicher Emanzipation,
auch nicht in Erfahrungen des Glücks einzelner Menschen. Auf diese
Weise hält Benjamin einen irreduziblen theologischen, eschatologischen
Transzendenzüberschuss in jedem Augenblick fest. Näherhin konstruiert
Benjamin die Form der zeitlichen Sinnkonstitution in Form eines
Kreuzes: die religiös-eschatologische Transzendenzperspektive nimmt
hier einen vertikalen, synchronen, augenblicklichen, ekstatisch-plero-
matischen Ort in der Zeit ein, die materialistische Emanzipationsge-
schichte einen diachronen, linearen, horizontalen Zeitort. Einerseits
denkt Benjamin Transzendenz als ekstatisch-plötzliches, augenblickliches
Erfüllungsgeschehen in seiner Blitzhaftigkeit. Andererseits denkt er dieses
Geschehen selbst dialektisch, reflexiv, erkenntnisbezogen und sprach-
15 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen 1930 – 1935, hg. von Desmond Lee, Frankfurt
a.M. 1989, 88.
Das Prinzip Hoffnung 127
kritisch. Das heißt, die so eröffnete „Rettung […] läßt […] immer nur an
dem, im nächsten Augenblick schon unrettbar verlorenen sich vollzie-
hen.“16 Diese Kernstelle aus dem Passagen-Werk zeigt: Die Gegenwart
der Erlösung bleibt paradox, das Ineinander von Ekstasis und Trans-
zendenz gestattet keine mystische Vereinigung, sie eröffnet in ihrer
Negativität erneut den Blick auf die Praxis der menschlichen Geschichte
mit ihren Entstellungen und ihrer Verlorenheit wie auch mit ihrem
authentischen vergänglichen Glück. Dieser Ansatz ist dem Blochs gerade
mit seiner dialektischen Verklammerung von Messianismus und Mar-
xismus besonders nahe; aber eben auch mit der von mir akzentuierten
konstitutionsanalytischen Basisanalyse.17
Bei Adorno ist die Basis der unverfügbaren Sinnkonstitution die des
Nicht-Identischen in seiner abwesenden Anwesenheit. Da die Sinnper-
spektive nicht mehr positiv gedacht werden kann, wird sie ständig mi-
nimalisiert.18 Das eigentlich sinnkonstitutive Nicht-Identische ist un-
sagbar bzw. vergessen, verdrängt oder verdinglicht. Denn alles
notwendigerweise identifizierende Denken verfehlt es von vorneherein.
Aber gleichwohl leitet eine sinnantizipierende, eschatologische Utopie
der Erkenntnis unverkürzter, nichtverdinglichter Individualität, also des
Nicht-Identischen, Adornos Denken untergründig. Am Paradigma
avantgardistischer Kunst versucht er, die Kernanalyse von augenblickli-
cher Erfahrung, Negativität und Sinnantizipation ästhetisch zu entfalten.
In seinen Ansatz gehen dabei aufschlussreich wiederum Elemente des
Neuplatonismus von Ekstasis, Pleroma und Plötzlichkeit (exaiphnes) ein.
Das Nicht-Identische ist bei Adorno zudem der Ort, den bei Heidegger
die ontologische Differenz einnimmt, und bei Bloch der des unverfüg-
baren Dass des Augenblicks und des daraus erst entspringenden, durch es
ermöglichten Was in seinem frühen Denken. Wiederum sei bemerkt, dass
diese ontologische Differenz zum Beginn der Philosophie zurückweist:
zu Aristoteles’ Konzeption der protē ousia, der unsagbaren Individualität.
Mit dem Nicht-Identischen ist die systematische Verklammerung von
unsagbar augenblicklicher Individualität, Negativität und Sinnantizipa-
tion als Basis aller weiteren Analysen Adornos benannt, als Basis sowohl
der Minima Moralia als auch der Ästhetischen Theorie.
(5) Abschließend will ich die freigelegte Tiefenstruktur noch an ei-
nem weiteren Autor der Moderne, an Derrida, aufweisen. Es ist klar, dass
er den Grundgedanken der ontologischen Differenz Heideggers aufgreift
und sprachphilosophisch modifiziert. Der Grundbegriff der Differenz
meint hier in den frühen Arbeiten Derridas die Instanz sich augenblicklich
eröffnenden, gleichzeitig sich konstitutiv entziehenden sprachlichen
Sinns, deren Schwund und Entzug, deren Abwesenheit man nie in
Anwesenheit verwandeln kann.19 Um die Differenz, verfremdet wie das
durchgestrichene Sein bei Heidegger als différance, entfaltet sich im
Frühwerk Derridas eine Gruppe von traditionell metaphysischen Be-
griffen, deren wichtigster der der „Spur“ ist. Dieser Begriff ist, wie wir
wissen, auch für Bloch zentral. Den metaphysikgeschichtlichen Hinter-
grund bildet hier Plotins ichnos-Begriff, der im neuplatonischen Chris-
tentum als vestigium aufgenommen wird. Insbesondere, wenn Derrida
das allen Unterscheidungen noch vorausliegende Geschehen als archi-
trace, als „Ur-Spur“ bezeichnet, erreicht er die von mir gemeinte, zu-
grundeliegende Konstitutionsanalyse. Wenn wir Sinn lesend aufnehmen,
kommen wir immer schon zu spät, denn dieser Sinn entzieht sich auf
unfassbare und unverfügbare Weise. Dennoch ist dieser Entzug die Basis
allen Bedeutungsverstehens und all unserer Sinnantizipation, was ins-
besondere die späteren praktisch-philosophischen und politischen Texte
Derridas bezeugen.
3
Nach diesem komparatistischen Durchgang möchte ich ein systemati-
sches Fazit ziehen, einmal gegen, und einmal mit Wittgenstein. Wenn die
Analyse zutrifft, dann ließe sich eine systematische Komparatistik der
Philosophiegeschichte entwickeln, eine kritische Metaphilosophie oder
auch Philosophie der Philosophie, die sich auch als kritische Hermeneutik
entfalten müsste. Gegen Wittgenstein kann so gezeigt werden, dass die
Philosophie eigenständige Sprachspiele ausbildet, die intern insofern
autonom sind, als sie in durchaus jahrhundertelanger Kontinuität para-
digmatische Kernanalysen bzw. Grundeinsichten artikulieren, die in
keinem anderen Sprachspiel auf diese Weise reflexiv gegenwärtig sind –
19 Vgl. v. a. Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972.
Das Prinzip Hoffnung 129
Konstitution der menschlichen Praxis, das andere, was man daraus selbst
macht bzw. folgert.
Somit lässt sich gegen Wittgenstein Philosophie als genuines kom-
plexes Sprachspiel eigenen Rechts betrachten, und dies seit mindestens
2500 Jahren.
Zum Schluss will ich aber Wittgenstein gerade aufgrund der vorge-
stellten Analysen wiederum Recht geben: Die Basis und Rekursinstanz
aller behandelten Ansätze ist und bleibt die lebensweltliche Praxis und
Sprachpraxis. Es bedarf daher einer kritischen Tiefenhermeneutik, um
den Status der Ansätze zu beurteilen. Die ganze humane Praxis und die
ganze Alltagssprache, sie bilden den Hintergrund allen philosophischen
Denkens. Diese Ganzheiten aber stehen auf keine Weise zur Verfügung.
Somit gilt es, im Rekurs auf Paradigmen und Modelle aus der Alltags-
sprache und -praxis die philosophischen Sprachentwürfe zu beurteilen.
Diese sinnkriteriale Tiefenhermeneutik steht selbst keinesfalls in Form
einer analytischen Standardmethodologie zur Verfügung, sondern muss
immer wieder neu geleistet werden – entsprechend den aufgezeigten
Grundeinsichten in Negativität und zeitliche Sinnkonstitution.
Und noch in einer zweiten Hinsicht will ich ein letztlich positives
Fazit meiner Überlegungen ziehen. Ich denke, es führt gerade zu einer
Aufwertung der Philosophie Ernst Blochs, wenn die tiefe systematische
Verbundenheit seines Ansatzes mit den wichtigsten anderen Philosophen
des 20. Jahrhunderts deutlich wird, nachdem die seinerzeitigen Kon-
frontationen und Schulbildungen für den intersubjektiven philosophi-
schen Diskurs des 21. Jahrhunderts nicht mehr prägend sind. Wenn wir
ferner die Reflexion auf die Literarizität der Philosophie sowie ihren
Rückbezug auf die lebensweltliche Praxis auf Bloch beziehen, so lässt sich
mit Bezug auf den freigelegten schulunabhängigen systematischen nuc-
leus und mit Blick auf Blochs Gesamtwerk feststellen: Der nucleus be-
zieht sich auf (transzendentale) Möglichkeitsbedingungen der lebens-
weltlichen Praxis und Sprachpraxis. Blochs Gesamtwerk zeigt auf seine
Weise, dass diese Bedingungen für die menschliche Kultur in all ihren
Ausprägungen, materiell, ökonomisch, politisch, ästhetisch und religiös
konstitutiv waren und sind und gibt damit der grundlegenden Konsti-
tutionsanalyse recht, die Blochs Werk mit so vielen anderen Ansätzen in
der Tiefe verbindet.
Gnosis und philosophische Moderne:
Heidegger, Wittgenstein, Adorno
1
Meine Thesen sind, erstens, dass das Gnostische als komplexer Über-
zeugungszusammenhang systematisch-philosophisch verständlich re-
konstruierbar und praktisch-anthropologisch in jeweils veränderte Ge-
stalt bleibend relevant bzw. unverzichtbar ist; zweitens, dass aus diesem
Grund das Gnostische auch ein notwendiges Element wichtiger syste-
matischer Entwürfe der Philosophie des 20. Jahrhunderts bildet, so z. B.
der Entwürfe von Heidegger, Wittgenstein und Adorno; drittens aber,
dass man systematisch bei der Gnosis nicht stehenbleiben darf, man sie
überwinden muss, und dass sie auch überwunden wird.
Zunächst will ich das gnostische Element möglichst formal und
strukturell erfassen, um dann zu erläutern, wie es sich in den modernen
Ansätzen jeweils spezifischer ausbildet. In der historischen Gnosis und im
Gnostizismus artikulieren sich nach einhelligem Verständnis zumindest
folgende Auffassungen von der Stellung des Menschen in der Welt, oder,
von der Lebens- und Grundsituation des Menschen – unabhängig von
bestimmten geschichtlichen Konstellationen:
1. die absolute Weltfremdheit des Menschen bei gleichzeitiger Welt-
verfallenheit,
2. die völlige Weltjenseitigkeit des Heils, einer möglichen sinnvollen
Ganzheit und Getragenheit des menschlichen Lebens,
3. schließlich die Auffassung davon, dass die Erkenntnis dieser absoluten
Inkommensurabilität von Diesseits und Jenseits, Welt und Gott, Le-
ben und Heil, dass diese Erkenntnis selbst die rettende Erlösung nicht
nur bringt, sondern diese selber ist.
Es handelt sich also um eine Deutung der menschlichen Grundsituation,
die Nihilismus, Transzendenz und das Erreichen eines wahren Lebens-
und Weltverständnisses aufs engste verknüpft. Formal lässt sich dieses
absolut-dualistische Welt- und Selbstverständnis mit folgender Formel
bzw. Aussage, artikulieren: Wenn du dich richtig verstehen willst – wie
du auch seist, – dann musst du alles was du bist, alles was du hast, alles was
du warst und werden kannst, alles, was du jemals erreichen kannst, sowohl
132 Teil 1. Religionsphilosophie
können wir ausrufen: „Wir suchen überall das Absolute, und finden
immer nur Dinge.“1
Dieser strukturelle Befund der absoluten Inkommensurabilität un-
bedingten, nicht-relativierbaren und totalen Sinnes – des Seins, der Welt
bzw. auch des einzelnen Lebens im Ganzen – wird in den Zeugnissen der
historischen Gnosis reich entfaltet und illustriert.
Damit geht eine Entweltlichungskonzeption notwendig einher. Be-
zeichnend ist, dass bereits die Zeugnisse der historischen Gnosis stark von
negativen Phänomenen ausgehen: von der Angst, vom Irren, vom
Grauen in endlosen Angstzuständen, von Vertriebenheit und Heimat-
losigkeit – allesamt sehr konkrete Schicksale damaliger und auch heutiger
Menschen.
Die Radikalität strukturell gnostischer „Lösungen“ bzw. Problem-
vergegenwärtigungen lebt in krisenhaften Epochen erneut auf.
Weil die philosophische Spekulation nur einen begrenzten Set
wirklich triftiger Gesamtkonzeptionen zur Verfügung hat, die m. E.
letztlich anthropologisch fundiert sind, kehren auch gnostische Kon-
zeptionen schlicht wieder – ebenso, wie z. B. der antike Materialismus
oder die Skepsis, über deren häufige Wiederkehr sich niemand wundert.
(In der Politik gibt es auch nur ca. fünf Grundmodelle von Herrschaft, die
sich abwechseln – so endlich ist der Mensch.)
2
Wie sieht nun die Wiederkehr der gnostischen Systemelemente, deren
Struktur klar ist, im 20. Jahrhundert bei Heidegger, Wittgenstein und
Adorno, aus? Dazu sei vorbemerkt, dass Philosophie keine zeitlose Ak-
tivität im luftleeren Raum der Argumente ist, sondern von konkreten
Individuen unter konkreten Lebensbedingungen entwickelt wird. So
auch bei den genannten Autoren. Und ich zögere nicht, gleichsam in
einer Betrachtung „von außen“, ihre Philosophien auch als Ausdrucks-
formen radikaler Lebens- und Zeiterfahrungen zu sehen.
Kurz: Angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts: 1. Welt-
krieg, 2. Weltkrieg, 70 Millionen Todesopfer Hitlers und Stalins, Ho-
locaust, Hiroshima – verbot sich ein beruhigtes Denken in akademischer
Unberührtheit vom lauten Lärm des Tages.
1 Novalis, „Blütenstaub Nr. 1“, in: ders., Werke und Briefe, München 1968, 340.
134 Teil 1. Religionsphilosophie
2 Vgl. Hans Jonas, „Gnosis, Existentialismus und Nihilismus“, in: ders., Zwischen
Nichts und Ewigkeit. Drei Aufstze zur Lehre vom Menschen, Göttingen 21987, 5 –
25; Barbara Merker, Selbsttuschung und Selbsterkenntis. Zu Heideggers Transfor-
mation der Phnomenologie Husserls, Frankfurt a.M. 1988; Wolfgang Baum,
Gnostische Elemente im Denken Martin Heideggers? Eine Studie auf der Grundlage der
Religionsphilosophie von Hans Jonas, Neuried 1997.
Gnosis und philosophische Moderne 135
3
Auch für Wittgenstein ist der katastrophische Hintergrund des Welt-
krieges zu konstatieren. Zu dieser Zeit wurde er von seinen Kameraden
„der Mann mit dem Evangelium“ genannt, weil er immer eine Reclam-
Ausgabe von Tolstois Evangelienbuch bei sich hatte. Die Tagebuch-
aufzeichnungen, die zum „Tractatus“ führten, hat er an der galizischen
Gebirgsfront und teilweise im Schützengraben gemacht, unmittelbar
konfrontiert mit dem Schlimmsten. Später noch sagte er in Gesprächen in
seiner brüskierenden Art, das Hämmern der schweren Artillerie sei das
schönste Geräusch gewesen, das er je in seinem Leben gehört habe. In den
5 Vgl. dazu auch: Andreas Luckner, Martin Heidegger: „Sein und Zeit“, Paderborn/
München/Wien/Zürich 1997,142 – 148.
Gnosis und philosophische Moderne 137
„Gott offenbart sich nicht in der Welt“ (T 6.432). Und vorher: „Wie
die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig“ (ebd.).7
Wittgenstein denkt also eine völlige Vermittlungslosigkeit von
„Höherem“ und „Welt“. Auf drei Wegen radikalisiert er diesen Ge-
danken: durch seine Konzeption des weltjenseitigen einzigen bzw.
einzigartigen Ich – das entspricht dem pneumatischen Wesenskern des
Gnostikers, – dann durch seine Unsagbarkeitslehre – das Höhere lässt sich
überhaupt nicht sagen, weder ethisch noch religiös, es bleibt einzig das
Schweigen, – dies ist der klassische Topos des Arreton, das Ineffabile der
negativen Theologie, – und schließlich drittens durch den siebenstufigen
Aufstieg, den Anhodos des „Tractatus“. Der fertige „Tractatus“ führt in
sieben Sätzen und Stufen zur obersten Erkenntnis: zur Erkenntnis der
Nichtigkeit der Weltwirklichkeit für das Höhere, das nur im Schweigen
nahe ist. Derjenige, der die siebenstufige Leiter mit hinaufgestiegen ist,
kann sie dann wegwerfen. Er sieht jetzt die Welt richtig. Der Bezug zu
den Styliten ist m. E. bewusst gestaltet, Wittgensteins Leben im Kloster
und später in der Einsamkeit „allein nur mit Gott“ wird in seiner Be-
deutung für sein Denken durch die kürzlich erschienenen neuen Tage-
bücher eindrucksvoll bestätigt.8 All dies lässt sich zunächst so zusam-
menfassen: Das Jenseits bzw. das Höhere ist von der Welt her betrachtet
nur das Nichts des Diesseits, und so heißt es auch am 15. 10. 1916: „[…]
auf der einen Seite bleibt also nichts übrig, auf der anderen als unik die
Welt.“ Einzig, wenn ich dies – und die definitive Unsagbarkeit des
Höheren – erkenne, werde ich der Erlösung inne. Diese Erkenntnis ist
identisch mit meiner wahren Selbsterkenntnis – nämlich mit der Er-
kenntnis, dass einzig mein einziges Ich nicht zu dieser verfallenen Welt
gehört. Traditionell reformuliert: Der pneumatische Wesenskern meines
Selbst erkennt sich in seinem transmundanen, göttlichen Ursprung.
Genau dies ist der Sinn der Ausführungen Wittgensteins. Salvator sal-
vandus.
Den Höhepunkt gnostisierender Grundgedanken bieten die Tage-
buchaufzeichnungen von Juli/August 1916, in denen Wittgenstein ex-
plizit die Lehre von den zwei Gottheiten entwickelt. Der eine Gott ist der
Gott dieser Welt, bzw. mit ihr und ihrem gesamten Wirklichkeits- und
Tatsachenzusammenhang identisch. Der andere Gott ist der absolut
4
Die Frage nach Adornos Gnosisverwandtschaft lässt sich so zuspitzen:
Lassen sich in seinen beiden Hauptwerken, „Negative Dialektik“ und
„sthetische Theorie“, gnostische Elemente freilegen? Antwort: Ja. Bleibt
es dabei? Ja und Nein. Ich will dies kurz erläutern. Die beiden Haupt-
werke muten heute in vielem wie Werke der 20er Jahre an, was ihre
Radikalität, Dezidiertheit und Unduldsamkeit, ja auch, was ihre speku-
lative Ungeschütztheit anbetrifft. Dies mag sich aus der zeitlichen Ver-
schiebung durch die Emigration erklären. Denn schließlich hatte Adorno
ja bereits Ende der 20er Jahre seine Konzeption einer von ihm soge-
nannten „Logik des Zerfalls“11 entwickelt.
Was ist gnostisch an der „Negativen Dialektik“? Erstens das Grund-
motiv der Nichtidentität, das jegliche Form von Vermittlung als eine
Form von „repressiver Identität“ erscheinen lässt; zweitens die dualisti-
schen Begriffskonstruktionen, schließlich drittens eine erkenntnis-
kritische Festschreibung von Schuld und Verdinglichung.12 Das Motiv
bzw. Axiom der Nichtidentität wird von Adorno so forciert, dass alle
Formen von Vermittlung als „zwanghafter Schein“ entlarvbar werden.
Sie stehen gleichsam auf der Stufe des Scheinleibes des Erlösers in der
Gnosis. Dabei wird der verhängnisvolle Zwang zur begrifflichen Iden-
tifizierung von Adorno an den Imperativen der Reproduktion und
Selbsterhaltung der Gattung Mensch festgemacht. Der den täuschenden
Schein bedingende Zwang ist notwendig für die Selbstkonstitution der
Subjekte, die sich selbstbehauptend und beharrend ihrer Weltbemäch-
tigung, der Natur- und Selbstbeherrschung vergewissern müssen – in
einem universalen Schuld-, Leidens- und Verblendungszusammenhang.
Was philosophisch als Apriori erscheint, ist demnach nur scheinhaft einer
autonomen Gesetzgebungsebene zugehörig; in Wahrheit enthüllt es sich
als Aspekt der Naturgeschichte der Gattung ,Mensch‘. Hier kann Adorno
11 Vgl. zum Thema: Joseph F. Schmucker, Adorno – Logik des Zerfalls, Stuttgart/Bad
Cannstatt 1977.
12 Vgl. dazu meinen Aufsatz: „Vermittlung als permanente Negativität. Der
Wahrheitsanspruch der „Negativen Dialektik“ auf der Folie von Adornos He-
gelkritik“, in: Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M.
2000, 252 – 270.
142 Teil 1. Religionsphilosophie
Subjekt Objekt
Begriff Nichtbegriffliches
Allgemeines Besonderes
Identität Nichtidentisches
Momente begrifflicher Vermittlung, wie sie Hegel zwischen Allgemei-
nem, Besonderem und Einzelnem entwirft und durchführt, werden von
Adorno auf zwei unvermittelbare Positionen der Negativität zusam-
mengestrichen: auf Allgemeines und Einzelnes. Das Allgemeine kann das
Einzelne nie erfassen, nur vergewaltigen; das Nichtbegriffliche ist per se
unsagbar, unerreichbar. Eine Mitte aber gibt es nicht. Wohl jedoch gibt es
eine erkenntniskritische Festschreibung und mithin Ontologisierung von
Negativität bei Adorno. „Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von
13 Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach
Adorno, Frankfurt a.M. 1985, 156.
14 Ebd., 157.
Gnosis und philosophische Moderne 143
ist auch der mit dieser Botschaft unlösbar gekoppelte Elitarismus einer
winzigen Schar von electi, die überhaupt Zugang zur so minimalisierten
und solitären, eigentlichen Erkenntnis haben. Die Masse, die Massen-
kultur, die Kulturindustrie – sie gehören zur unheilvollen Welt, sind
Hyliker und Psychiker, massa perditionis. In den Kunstwerken sieht
Adorno, wie Wellmer zusammenfasst, den Vorschein von Versöhnung,
die „gewaltlose Synthesis des Zerstreuten“, die „gewaltlose Einheit des
Vielen in einem versöhnten Zusammenhang alles Lebendigen“, „die
gewaltlose Überbrückung der Kluft zwischen Anschauung und Begriff,
zwischen Besonderem und Allgemeinen, zwischen Teil und Ganzem.
Und nur dieser, den versöhnten Zustand in sich vorbildenden Gestalt
kann berhaupt Erkenntnis zufallen; in diesem Sinn ist der Satz aus den
Minima Moralia zu verstehen, dass ,Erkenntnis kein Licht (hat), als das von
Erlösung her auf die Welt scheint.‘“23
Soweit die gnostische Substruktur des Adornoschen Denkens. Auch
er aber überwindet sie von Zeit zu Zeit: erstens in seinen mehr sozial-
philosophischen, exoterischen Arbeiten, zweitens, damit verbunden, in
seinen materialen Einzelanalysen, auch in den Einzelanalysen zur Musik.
Hier siegt oft ein vermittelnderes Denken, die Kategorien werden ab-
gemildert, sie kennen Pragmatik, Übergänge, Kommensurabilität und
konkrete Verortung.
5
Auf dem Hintergrund der Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts
weisen alle drei Philosophen starke gnostische Systemelemente auf, die im
innersten Bereich ihrer Systematiken verankert sind, sei es, dass sie sich auf
die Nichtigkeit des Seins (Heidegger), auf das Unsagbare (Wittgenstein)
oder auf das Nichtidentische (Adorno) beziehen. Anders formuliert:
Hält man nach dem Untergang der neuzeitlichen, szientifischen
Metaphysik die Totalitätsperspektive der Metaphysik fragend in der
Philosophie aufrecht, so hat man es auch mit systematischen Problemen
der radikalen Sinngrundreflexion zu tun, mit Problemen der Trans-
zendenz, des Absoluten und des Nihilismus. Gerade bei einer radikalen
Verendlichung und Immanentisierung der philosophischen Sinngrund-
26 Adorno, ebd.
27 Ebd.
Spuren Gottes? Substitute des Absoluten
in der Reflexion der Moderne
1
In einem grundsätzlichen Beitrag zur Frage nach Gott in der Gegen-
wartsphilosophie stellt Klaus-Michael Kodalle fest, dass sich mit der
„Epochenschwelle zur Neuzeit“ das „grundsätzliche Einverständnis
zwischen Vernunft und Glauben tendenziell aufgelöst [hat]“, dass das
religiöse Bedürfnis sich vielfach „in exzentrischen Kostümierungen be-
friedigt“, dass schließlich die „Philosophie, im Banne der Religionskritik
des 19. und 20. Jahrhunderts“ „eine tiefe Scheu ausgebildet [hat], die
Thematik aufzugreifen, die einmal ihre Mitte und ihren Ursprung bil-
dete.“1
Ich teile diese Diagnose. Im Folgenden will ich sie im Dialog mit
Kodalle weiter entwickeln und dazu eine kurze Analyse von Substituten
des Absoluten in der Reflexion der Moderne durchführen. Moderne
(und Postmoderne) sind – so meine These – reich an solchen Substituten;
vielleicht lassen sie sich mit Hilfe von Ersatzbildungsphänomenen sogar
wesentlich charakterisieren. Der Beitrag zu dieser Festschrift gibt mir die
Gelegenheit, einmal kurz, tentativ und ungeschützt eine skizzenhafte
Analyse von solchen Substituten vorzustellen. Ohne das Eigenrecht und
die „Legitimität“ von Neuzeit und Aufklärung zu bezweifeln, wie sie
eindrucksvoll von Hans Blumenberg gegen die Säkularisierungsthese Karl
Löwiths herausgearbeitet wurde2, so kommt dem tatsächlichen Weiter-
leben theologischer, religiöser Bestände in den Gesellschaften der Pro-
fanität, in ihrer Reflexion und Praxis doch ein eigentümlicher, zu wenig
explizit beachteter und analysierter Status zu. Man benötigt keine Psy-
choanalyse, um von einer variantenreichen Wiederkehr des Verdrängten
zu sprechen. Allein der emphatische Gebrauch des mit fraglosen Sinn-
ansprüchen verbundenen Wortes „Kult“ in der Alltagssprache und Ju-
2
Die Substitutionsformen des Absoluten weisen Elemente der Anthro-
pologisierung, der Ästhetisierung und der Formalisierung auf. Die An-
thropologisierung in ihrer klassischen Gestalt liegt in der Religionskritik
Feuerbachs vor. Sie liefert mit der Projektionsthese eine einfache Er-
klärung für die Legitimität der Wiederaneignung der entfremdeten
Sinngehalte der Transzendenz. Das ebenso einfache Modell einer ge-
schichtsphilosophisch-emanzipationstheoretischen Säkularisierung der
Eschatologie lässt sich anschließen. Subtiler sind Formen ästhetischer
Transformation und Anverwandlung des Absoluten. So wird die Struktur
ästhetischer Erfahrung durch ihre konstitutiven Eigenschaften der To-
talität und Simultaneität, der Nichtinstrumentalität, der Singularität, der
kommunikativen Selbsttransparenz der Subjekte und des ungeschuldeten
Glückscharakters in Kontinuität mit den erkenntnistheoretisch-logischen
Bestimmungen der visio beatifica, der seligen Schau Gottes bestimmt, wie
sie die hochmittelalterliche Theologie ausgearbeitet hatte.6 Eine analoge
formale Kontinuität weist die rationale begriffslogische Reinterpretation
der göttlichen Trinität in Hegels Anthropo-Theo-Logik auf: Vater, Sohn
und Geist verhalten sich zueinander wie das Allgemeine, das Besondere
und das Einzelne, sie repräsentieren die innere Struktur der sich welt-
geschichtlich entfaltenden Vernunft.7 Es zeigt sich, dass eine tiefenher-
meneutische Erfassung der Entwicklung der okzidentalen Rationalität
ohne deren metaphysisch-theologische Substruktur unmöglich ist. Bei
den erwähnten Prozessen der Ästhetisierung und Logisierung handelt es
sich gleichermaßen um solche der Immanentisierung und Anthropolo-
gisierung, die letztlich ihren geschichtlichen Ermöglichungsgrund wohl
in der Botschaft von der Menschwerdung Gottes und der Gotteben-
bildlichkeit des Menschen haben.
Mit zunehmender Entfernung und Entfremdung vom christlichen
Traditionskontext wandeln sich auch die Rezeptionen und Transfor-
6 Vgl. dazu Thomas Rentsch, „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und
Geschichte der ästhetischen Idee“, in diesem Band.
7 Vgl. dazu Thomas Rentsch, „Negativität und Vermittlung. Hegels Anthropo-
Theo-Logik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000,
213 – 251.
Spuren Gottes? Substitute des Absoluten in der Reflexion der Moderne 151
gung“.13 Das „Seyn“ wird als mit Attributen der Personalität versehene
wirkende Macht konzipiert; es „spricht an“ und „versagt sich“ den
wenigen „Zukünftigen“, „auf die als die rückwegig Er-Wartenden in
opfernder Verhaltenheit der Wink und Anfall der Fernung und Nahung
des letzten Gottes kommt.“14 Die Schreibung „Seyn“, dann noch die das
Geheimnishafte steigernde kreuzweise durchgestrichenen Variante von
„Sein“ sind typische Züge dieses Substituts des Absoluten bzw. Gottes.15
Dieser Befund gilt auch dann noch, wenn wir Heidegger darin folgen,
dass er mit dem seinsgeschichtlichen Denken bzw. „Andenken“ des Seins
nur dem „Fehl“, der Abwesenheit Gottes in der Gegenwart der mo-
dernen Welt entspricht.16
Heideggers und Wittgensteins Substitutions- und Transformations-
strategien, die an die Stelle konventioneller Auseinandersetzung mit
traditionellen Formen der Metaphysik, Theologie und religiösen Praxis
treten, sind auch noch in einem weiteren Punkt ähnlich. Wittgenstein
hält die Artikulation des Eigentlichen oder Wesentlichen für sehr schwer,
sehr missverständlich und zunächst für unmöglich und gebietet daher das
Schweigen. Später hält er poetische, dichtende Sprachformen für der
Philosophie eigentlich angemessen. Auch Heidegger rückt das eigentli-
che Denken später in die Nähe des Dichtens. Beiden geht es darum, im
sprachlichen Medium bereits eine spezifische Form der Artikulations-
weise zu verorten, die das Außergewöhnliche und Besondere, ja Ein-
zigartige des Gemeinten anzeigt.
Eine weitere Variante der Substitute des Absoluten neben Witt-
gensteins mystischem Dass der Welt und seiner Unsagbarkeit und Hei-
deggers sich entbergend-verbergendem Sein und seiner Vergessenheit ist
das Nicht-Identische, wie es in Theodor W. Adornos Theorie der Negativen
Dialektik eingeführt wird.17 Es ist die Dimension des begrifflich Unfass-
baren an allen Dingen, eines Unfassbaren, das dennoch gleichsam den
Nerv und das Zentrum aller Wirklichkeit bildet. Auch es ist somit un-
20 Theodor W. Adorno, Fragment ber Musik und Sprache, in: ders., Gesammelte
Schriften, Bd. 16, 252.
21 Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in: Adorno-Konferenz
1983(Anm. 19), 41 – 65, dort 65.
22 Theodor W. Adorno, sthetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, 131. Vgl. dazu
Rentsch, Der Augenblick des Schçnen, in diesem Band.
23 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: Gesammelte Schriften
Bd. 12, Frankfurt a.M. 1975, 126; vgl. dazu Theunissen, a.a.O. (Anm. 20), 60.
24 Kodalle, „Gott“, a.a.O., 412 f.
25 Jacques Derrida, , L’criture et la diffrence, Paris 1967 (dt. Die Schrift und die Dif-
ferenz, Frankfurt a.M. 1972); ders., Marges de la philosophie, Paris 1972 (dt.
Randgnge der Philosophie, Frankfurt a.M. 1976; dt. vollständig Wien 1988); Vgl.
auch Gilles Deleuze, , Diffrence et rptition, Paris 1968 (dt. München 1992); Jean-
Francois Lyotard, Le diffrend, Paris 1983 (dt. Der Widerstreit, München 1987).
156 Teil 1. Religionsphilosophie
3
Abschließend will ich einige Strukturelemente der vorgestellten Substi-
tute des Absoluten hervorheben und mögliche Konsequenzen meiner
kurzen Diagnose formulieren. Sicher ließen sich in modernen Theo-
riebildungen auch weitere Substitute des Absoluten aufzeigen. Es sind
vornehmlich flächendeckend verwendete Grundbegriffe wie „Struktur“
und „System“, aber auch solche wie „Kontingenz“ oder „Chaos“, die so
formal und neutral verwendet werden, dass die mit ihnen formulierten
Großtheorien zu Quasi- bzw. Ersatzmetaphysiken tendieren. Auch die
Rede von „Zeichen“ und „Interpretation“ kann solche Tendenzen
befördern. Bei den von mir thematisierten Substitutionsformen lassen
sich insbesondere folgende Strukturmerkmale herausstellen.
26 Vgl. Jacques Derrida, „Die différence“, in: ders., Randgnge der Philosophie, Wien
1988, 29 – 52.
Spuren Gottes? Substitute des Absoluten in der Reflexion der Moderne 157
27 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Die Eroberung des Nutzlosen. Kritik des Wunschdenkens
und der Zweckrationalitt im Anschluß an Kierkegaard, Paderborn u. a. 1988; vgl.
Thomas Rentsch, „Anrennen gegen das Paradox: Wittgenstein, Heidegger und
Kierkegaard“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O., 322 – 334;
sowie ders., „Gnosis und philosophische Moderne: Heidegger, Wittgenstein,
Adorno“, in diesem Band; Stephen Mulhall, Inheritance and Originality. Witt-
genstein, Heidegger, Kierkegaard, Oxford 2001; Mariele Nientied, Kierkegaard und
Wittgenstein. „Hineintuschen in das Wahre“, Berlin/New York 2002.
1.II Systematische Perspektiven
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken
1. Zum Status der Philosophie
Auch das Bild von der alten Stadt, das er für die Sprache in ihrer ge-
schichtlichen Entwicklung verwendet, kann hilfreich sein. In der antiken
Philosophie wurde der Mensch mit zwei wesentlichen Bestimmungen
versehen: Er ist das sprach- bzw. vernunftbegabte und das in der Stadt
lebende Wesen. Eine Landkarte der orientierungsrelevanten Gramma-
tiken muss die unterschiedlichen Vernunftpotentiale der theoretischen,
der praktischen, der sittlichen, der ästhetischen und der religiösen Rede
erschließen und kritisch auf einander beziehen. Eine sprachphilosophi-
sche Grundeinsicht kritischer Hermeneutik kann im Blick auf den le-
bensweltlichen Kontextholismus so formuliert werden: Beachtet werden
muss gerade das – gelingende oder misslingende – Zusammenspiel der
ausdifferenzierten Grammatiken. Ein sektorieller Ausgrenzungsplan der
menschlichen Vernunftvermögen würde deren wechselseitiges Ergän-
zungs- und Durchdringungsverhältnis verkennen. So sind wir zum
Beispiel bei allen Sprach- und Handlungsformen auf bestimmte Tech-
niken angewiesen: Bei der Verfassung von Texten zu bestimmten
Zwecken ebenso wie beim Brückenbau, in der Landwirtschaft oder in der
chirurgischen Eingriffspraxis. Deswegen gilt in einem Kontextholismus
der humanen Vernunft ganz besonders der Grundsatz Heideggers, dass
Techniken nichts bloß Technisches sind. Auch Wittgenstein hebt in
seinen Analysen die „technischen“ Gebrauchsgrundlagen unseres
Sprachhandelns ständig hervor. Es kommt hinzu: Wir müssen lernen, zu
denken und zu sprechen. Die dazu nötigen Einübungsformen sind nichts
„bloß Didaktisches“, bloße Pädagogik in einem ephemer vermittelnden
Sinne, sondern die Formen der Vermittlung sind selbst vernunftkonstitutiv.
Wenn Gesellschaften dazu tendieren, Techniken, die ehemals zu Recht
als Knste begriffen wurden, an Apparate und Maschinen abzugeben,
deren mechanischer Produktion und Reproduktion einstmals autonome
menschliche Tätigkeiten überantwortet werden, dann sind Formen der
entfremdeten und enteigneten Vermittlung zu kritisieren. Demgegen-
über erscheinen zum Beispiel die traditionelle Rhetorik und auch die
Stilistik als Versuche, für bestimmte Kontexte angemessene Sprachfor-
men zu finden und Techniken bewusst anzueignen.
Ebenso ist es verfehlt, die Wissenschaftssprachen und die Sprachen
der Kunst so zu separieren, als seien ästhetische Erfahrung und sinnliche,
bildliche Vermittlung und literarische Form der Darstellung nur äußer-
liche Faktoren. Es gehört zu einer Wiedergewinnung der Komplexität
der Vernunftperspektive, deren bildliche, sinnliche Dimension erneut zu
erschließen und zu begreifen. Vernunft ist auf sinnliche, bildliche und
beispielbezogene Vermittlung bleibend und dauernd angewiesen.
166 Teil 1. Religionsphilosophie
Kambartel hat dies immer wieder auf sehr grundsätzliche Weise erläutert.3
Das paradigmatische Fundament unseres Erkennens bleibt stets erhalten;
theoretische Konstruktionen können es nur zum Schein gänzlich ent-
behren, weil elementare Beispiele und Gegenbeispiele für unser Ver-
stehen unverzichtbar bleiben. Die Möglichkeit, allgemeine, abstrakte und
universale Sätze und Geltungsansprüche auf besondere Situationen und
einzelne Individuen zurück zu beziehen, macht einen wesentlichen Teil
unseres Denkvermögens schon im Alltag aus und bildet dessen elementare
dialektische Struktur.
Auf diesem Hintergrund lässt sich der Status der philosophischen
Reflexion näher bestimmen. Die Geschichte der Philosophie zeigt uns,
dass sie eine große Bandbreite literarischer Formen verwendet und aus-
gebildet hat. Innerhalb einer komplexen Reflexionssituation, einer
Kommunikation, die die ganze Vielfalt sprachlicher Möglichkeiten bei
Bedarf nutzen kann, lässt sich die dialektische Struktur unserer Orien-
tierungspraxis am besten vergegenwärtigen. Die Dialoge Platons bilden
das klassische Beispiel solcher, ganze Beurteilungsperspektiven in Beziehung
setzender Sprachereignisse.4 Deswegen sind auch die schriftlichen For-
men der Philosophie seit Platons Schriftkritik als behelfsmäßige Formen
bewusst, die das eigene Denken und das gemeinsame Gespräch nie er-
setzen können. Im konventionellen Philosophiestudium wurde diese
dialogisch-diskursive Grundform philosophischer Reflexion lange Zeit
zu wenig beachtet. Stattdessen wurde die Aneignung eines Wissens über
die Theorien und Auffassungen von Philosophen an die Stelle lebendigen
Philosophierens gesetzt. Philosophiegeschichtsschreibung ersetzte viel-
fach eigenes Denken. Demgegenüber ist die Einübung in das selbständige
Philosophieren und auch in das Schreiben philosophischer Texte ver-
nachlässigt worden. Gerade im Kontext der Ausbildung der Ethik- und
Philosophielehrer und -lehrerinnen für das Gymnasium, aber auch für die
Mittel- und Grundschule wurde in den letzten Jahren deutlich, dass und
wie eine Einübung in das Verfassen von philosophischen Texten ver-
schiedener literarischer Form produktiv eingesetzt werden kann.5 Auf
3 Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empi-
rismus und Formalismus, Frankfurt a.M. 1968, 21976. Vgl. zum paradigmatischen
Fundament auch: Achim Hahn, Erfahrung und Begriff. Zur Konzeption einer so-
ziologischen Erfahrungswissenschaft als Beispielhermeneutik, Frankfurt a.M. 1994.
4 Vgl. dazu grundlegend: Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens,
Göttingen 1982.
5 Vgl. dazu Johannes Rohbeck (Hg.), Philosophische Denkrichtungen, Dresden 2001;
ders. (Hg.), Denkstile der Philosophie, Dresden 2002, darin: Thomas Rentsch,
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken 167
Weise „gibt“. Sie wird, worauf auch Kant bereits aufmerksam machte,
aber auch niemals beweisen können, dass es sie nicht gibt. Eine analoge
Kategorienverwechslung finden wir seit langem im Bereich der Part-
nerschaft und der Liebe. Populärwissenschaftliche Darstellungen be-
schreiben kommunikative Lebensformen – mit all ihren kulturellen,
sozialen und ethischen Aspekten – als Wirkungen bestimmter chemischer
Prozesse, in der die Stoffe „Serotonin“, „Dopamin“ und andere die Rolle
von Quasi-Subjekten übernehmen. Entsprechend könnten wir die
menschliche Kochkunst in ihrem ganzen Reichtum durch leere Mägen
und Hungergefühle zu „erklären“ versuchen. Materielle Lebensbedin-
gungen sind bereits immer schon in unsere kommunikative Lebenspraxis
eingebettet und einbezogen und können nur künstlich aus diesem kul-
turellen Kontext isoliert werden. Ein kausaler Determinismus und ein
neurobiologischer Materialismus sind gegenwärtige Formen einer szi-
entistischen Quasi-Metaphysik. Ihr gegenüber sind die traditionellen
Ansätze einer Metaphysik der Freiheit, der Personalität und der Men-
schenwürde im Recht. Sie lassen sich heute undogmatisch als Explika-
tionen der Sinnbedingungen einer menschlichen Welt verstehen und
rekonstruieren.
Die kritisch-hermeneutische Rekonstruktion einer umfassenden
Vernunftperspektive muss von der Grundeinsicht ausgehen, dass wir die
konkreten Sinnbedingungen unserer Praxis, unseres Denkens, Sprechens
und Handelns nicht erreichen können, wenn wir unterhalb ihrer kom-
plexen, intern begrifflich strukturierten Konstitution mit unseren Ana-
lysen ansetzen und von einem subhumanen, subkomplexen oder partialen
Bereich aus diese Konstitutionsebene wieder einholen wollen. Diese
Grundeinsicht artikuliert Kant mit seiner Rede vom Faktum der Ver-
nunft. Wittgenstein bemerkt einmal: „Ein lächelnder Mund lchelt nur in
einem menschlichen Gesicht.“6 Anders formuliert: Wir müssen von der
Irreduzibilität authentischer humaner Phänomene ausgehen, deren ge-
nuinen Geltungssinn es freizulegen und zu erfassen gilt.
Das ist im Blick auf die praktische Seite der Vernunft von besonderer
Bedeutung, da Konstitutionsanalysen, Analysen der Grammatik von
Sinnbedingungen und Geltungsansprüchen, die diese Irreduzibilität zum
Ausgangspunkt nehmen, in der Perspektive falscher, weil illusionärer
Begründungs- und Ableitungsvorstellungen immer wieder mit dem
Vorwurf des „naturalistischen Fehlschlusses“ bzw. mit dem Vorwurf des
logisch falschen Schlusses „vom Sein auf das Sollen“ konfrontiert wer-
16 Vgl. dazu Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O.; ders.; „Wie ist
eine menschliche Welt überhaupt möglich? Philosophische Anthropologie als
Konstitutionsanalyse der humanen Welt“, in: Christoph Demmerling/Gottfried
Gabriel/ders. (Hg.), Vernunft und Lebenspraxis. Philosophische Studien zu den Be-
dingungen einer rationalen Kultur. Fr Friedrich Kambartel, Frankfurt a.M. 1995,
192 – 214; Reiner Wimmer, „Anthropologie und Ethik. Erkundungen in un-
übersichtlichem Gelände“, in: Demmerling u. a. (Hg.), Vernunft und Lebenspraxis,
a.a.O., 215 – 245; Theda Rehbock, „Warum und wozu Anthropologie in der
Ethik?“, in: Jean-Pierre Wils (Hg.), Anthropologie und Ethik. Biologische, sozial-
wissenschaftliche und philosophische berlegungen, Tübingen/Basel 1997, 64 – 109;
dies., Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns,
Paderborn 2005; Christoph Demmerling, Gefhle und Moral. Eine philosophische
Analyse, Bonn 2004 (Bonner Philosophische Vorträge und Studien 22).
178 Teil 1. Religionsphilosophie
3. Neben den sich neu stellenden Aufgaben im Bezug auf die theoretische
und die praktische Seite der philosophischen Vernunftkritik ist in der
Ereignis, das Mystische, das ganz Andere, das Nichtidentische, die ideale
Kommunikationsgemeinschaft, die Differenz – nicht verstehbar.21
Es gibt also nicht nur drängende weltgeschichtliche, sondern auch
triftige innerphilosophische Gründe, die Fragen nach Gott, nach unbe-
dingtem Sinn, nach dem Absoluten und nach dem Verhältnis von Im-
manenz und Transzendenz neu zu reflektieren. Systematisch bin ich der
Überzeugung, dass ein vertieftes Verständnis von Vernunft und ihren
Grenzen die religiöse Perspektive und ein geklärtes Gottesverständnis
nicht aus- sondern notwendig einschließt. Ohne diese Perspektive der
Transzendenz lässt sich die europäische Vernunftgeschichte weder in
ihrer theoretischen noch in ihrer praktischen Dimension begreifen. Das
biblische Bilderverbot und die sich im christlichen Platonismus entfal-
tende negative Theologie führen ebenso zu kritischen Grenzbestim-
mungen der menschlichen Vernunft wie das Sokratische Nichtwissen
und die Erkenntniskritik Kants. Und sie sind praktisch konstitutiv mit der
Perspektive der nichtobjektivierbaren Personalität und Würde des
Menschen verbunden.22 Insofern lässt sich von einer religiösen Aufklä-
rung als einer Aufklärung über praktisch lebenssinnkonstitutive Unver-
fügbarkeit sprechen.23 Über Genesis und Geltung der Konzeptionen der
Einheit und der Grenzen der Vernunft lässt sich daher nur unter Ein-
beziehung der religiösen und theologischen Perspektive begründet re-
flektieren. Angesichts der aufgewiesenen irrationalen Entwicklungen ist
dieser Befund insbesondere auch für den interkulturellen und interreli-
giösen Dialog zu berücksichtigen.
1
Zunächst zum Status phänomenologischer Analysen. Ihr Ziel war und ist
die „Rettung der Phänomene“ gegen szientistische, naturalistische Re-
duktionen einerseits, gegen scheinhafte, theoretische Verdopplungen
andererseits. Aber das Wegarbeiten dieser Reduktionen und Verdopp-
lungen allein genügt nicht. Da die Phänomene in ihrer Nähe und All-
täglichkeit verdeckt und verborgen sind – wir sehen sie nicht, weil sie uns
zu nahe sind – gilt es, sie aus den mannigfachen Verdeckungstendenzen
freizulegen und in ihrer genuinen Konstitution zu durchleuchten. In-
sofern ist Phänomenologie sinnexplikative Tiefenhermeneutik: Klärende
Freilegung und Auslegung der Phänomene der menschlichen Welt gegen
deren Verzerrung und Verdeckung. Wenn Phänomenologie sich in ei-
nem solchen methodischen Sinn als Aufklärung versteht, wird auch ihre
2
Ich will mit einem einfachen, allen noch gegenwärtigen Beispiel be-
ginnen. In meiner zweiten Heimat, Dresden, stehe ich im Regen am Ufer
der Elbe und beobachte die steigende Flut. Der gesamte Kontext mit
seinen pragmatischen Implikationen wird durch die Wahrnehmung
bereits evoziert: die zukünftige Bedrohung, die Möglichkeit der Über-
flutung und Vernichtung, die Ungewissheit der Entwicklung, die so-
zialen Konsequenzen.
Betrachten wir auf diesem Hintergrund die Konstitution unserer
alltäglichen Praxis. Wer sind wir? Leiblich und sprachlich orientieren wir
uns konkret in Raum und Zeit. Die primäre Weltkonstitution ist irre-
duzibel holistisch, ganzheitlich, auf ganze Gestalten bezogen. Ein holis-
tisches Situationsverständnis geht allen individuierenden Akten schon
voraus.
Würde ich auch nur den sinnkonstitutiven und unthematischen
Hintergrund einer solchen konkreten Lebenssituation vollständig zu ex-
plizieren versuchen, ich würde nie an ein Ende kommen. Auch Ge-
genstände und Vorgänge der alltäglichen Wahrnehmung weisen eine
innere, interne Unendlichkeit von Aspekten und Implikationen auf. Ich
6 Ich beziehe mich dabei auf die einschlägigen Analysen von Husserl zur Zeiter-
fahrung und zur passiven Synthesis und von Heidegger in Sein und Zeit (Edmund
Husserl, Zur Phnomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893 – 1917), hg. von
Rudolf Boehm, Den Haag 1966 (Husserliana X); ders., Analysen zur passiven
Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1818 – 1926, hg. von
Margot Fleischer, Den Haag 1966 (Husserliana XI), Martin Heidegger, Sein und
Zeit, Tübingen 141977; vgl. Thomas Rentsch (Hg.), Martin Heidegger, Sein und
Zeit, Reihe Klassiker Auslegen Bd. 25, Berlin 2001.
Zeit, Sprache, Transzendenz 189
7 Vgl. Thomas Rentsch (Hg.), Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., 199 – 228.
8 Vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein, a.a.O., Kapitel 5.
190 Teil 1. Religionsphilosophie
können wir nicht isoliert nach Sinn und Bedeutung fragen, ohne dass sich
diese in einen semantischen Nihilismus oder technischen Formalismus
entziehen. Zu all diesen Nihilismen gab und gibt es prominente Beispiele
der Philosophie in Geschichte und Gegenwart.
Wenn wir aber die orientierungsermöglichende lebensweltliche
Sinnkonstitution, die existentiale Grammatik nicht überspringen oder
durch Reduktionismen und Isolationismen verzerren, dann erkennen wir
im Kontext eines primären interexistentialen und grammatischen Ho-
lismus: Wir sind es, die – auf der Basis der gesamten Orientierungs- und
Sprachpraxis – dann auch von jeweiliger „Gegenwart“ bzw. von einem
„Ich“, einem einzelnen Subjekt sprechen können. Aber diese abstrakten
Begriffe verdanken sich unserer komplexen Unterscheidungspraxis – ihnen
entsprechen keine „Dinge an sich“. Und diese erkenntniskritische Be-
merkung lässt sich auch auf andere theoretische Verzerrungen und
Verstellungen lebensweltlicher Sinnkonstitution ausweiten; so, wenn bei
bestimmten ungeklärten Grundbegriffen wie „Natur“, „Nutzen“ oder
„Funktion“, „System“, „Chaos“ oder „Kontingenz“ haltgemacht und
von diesen her die humane Welt rekonstruiert werden soll – ein sinn-
kriterialer Kategorienfehler, der eine verkehrte Welt und verkehrte
Weltsichten hervorbringt. Entweder wir fragen radikal zurück in die
lebensweltliche Sinnkonstitution, oder wir machen theoretisch halt bei
solchen ungeklärten Grundbegriffen – gegenwärtig z. B. der Neuro-
physiologie oder der Computertechnologie – um uns von defizitären
Konstrukten her auszulegen, wer wir eigentlich sind. Ich verweise auf die
ideologiekritischen Potentiale der Phänomenologie, die keineswegs ab-
gegolten sind, sondern sich auf gegenwärtige Forschungspolitik, die
Stellung der Philosophie und der Geisteswissenschaften in der Gesell-
schaft, auf kulturelle Identität und das Selbstverständnis unserer Zivili-
sation beziehen lassen.
Im Folgenden will ich die systematische Verbindung der Zeit- mit der
Sprachanalyse vertiefen und die Struktur des lebensweltlichen Trans-
zendierens genauer herausarbeiten. Die gesamte menschliche Orientie-
rungspraxis ist ekstatisch-zeitlich konstituiert, ebenso die Sprachpraxis.
Die Diskursivität unserer Erkenntnis bleibt somit für die Rede so gültig,
wie sie schon für die nichtsprachliche sinnliche Wahrnehmung und
Erfahrung gültig ist. Es war der späte Wittgenstein, der in seiner Analyse
des Regelfolgens in den Philosophischen Untersuchungen 9 die apriorische
10 Vgl. Saul Kripke, Wittgenstein on Rules and Private Language, Oxford 1982.
11 Bernhard Waldenfels, Deutsch-Franzçsische Gedankengnge, Frankfurt a.M. 1995,
117.
12 Ebd., 114 – 117.
13 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., 34.
192 Teil 1. Religionsphilosophie
folgert nichts“;14 „Sie läßt alles, wie es ist“.15 Aber diese methodischen
Zugriffe sind der Sache nach völlig berechtigt. Sinnkriteriale Konstitu-
tionsanalysen untersuchen noch die normativen Grundlagen unserer
Praxis und unseres Sprachhandelns, die Bedingungen der Möglichkeit
unserer Beschreibungs- und Urteilspraxis. Diese Analysen müssen daher
selbst deskriptiv sein; sie haben den Status „formaler Anzeigen“, den
Status eines aufweisenden, hinweisenden Denkens. Die dazu geeignete
Sprache ist eine erläuternde Parasprache, keine Metasprache, die eine
Metatheorie oder Ontologie neben der humanen Welt und der lebens-
weltlichen Praxis errichtet. Die formal-anzeigende Parasprache arbeitet
mit erhellenden Beispielen, sie benötigt ein paradigmatisches Fundament
aus Lebenssituationen und Sprachgebräuchen.
Zurück zum Konnex von ekstatischer Zeitlichkeit und prädikativem
Sprachhandeln. Die Basisfähigkeit des Wiederholenkönnens sprachlicher
Gebilde, insbesondere ganzer Sätze erst konstituiert mögliche mensch-
liche Orientierung. Auch hier ist durch die Struktur möglicher Fort-
setzbarkeit prädikativer Praxis in anderen Situationen und mit Bezug auf
andere Fälle ganz elementar eine Offenheit und Unbestimmtheit sinnkon-
stitutiv, die formal bereits die ekstatische Zeitlichkeit aufweist. Durch den
Primat der Zukünftigkeit in der zeitlichen Horizontbildung, durch das
Sich-vorweg-Sein werden Vergangenheit und Gegenwart erst qualifi-
zierbar. Beim sprachlichen Regelfolgen ist es die mçgliche, auch abwei-
chende Wiederholbarkeit prädikativer Praxis mit Bezug auf unterschied-
liche Individuen, die für diese Praxis sinnkonstitutiv ist. Das sprachliche
Handeln lässt sich somit als freies Fortsetzen nicht-festlegender Anfnge be-
schreiben.16 Nur so ist schon an der Basis die Möglichkeit des Verstehens
und Missverstehens, des Interpretierens, des Abweichens oder des
Konventionellen, des Wahren oder Falschen strukturell in der Konsti-
tution der Praxis angelegt.
Wer sind wir? Eine menschliche Welt ist nur möglich in der situa-
tiven Erschlossenheit ekstatischer Zeitlichkeit sowie der zeitlichen
Wiederholbarkeit prädikativen Sprachhandelns. Horizontbildung wie
auch Wahrnehmung einzelner Phänomene sind nur möglich in einem
zur Zukunft offenen, nicht vollständig bestimmten sprachlich-zeitlichen
Raum. Dieser Raum eröffnet die sinnhafte Lebenswelt. Die existentielle
18 Heinrich von Kleist, ber die allmhliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in:
Werke, hg. H. Sembdner, München 1966, 810 – 814.
19 Vgl. Christa Kühnhold, Der Begriff des Sprunges und der Weg des Sprachdenkens. Eine
Einfhrung in Kierkegaard, Berlin/New York 1975.
20 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen 1930 – 1935, hg. v. Desmond Lee, Frankfurt
a.M. 1989, 88.
Zeit, Sprache, Transzendenz 195
3
Um die Analyse der Konstitution der menschlichen Welt in Richtung auf
Grenze und Sinngrund menschlicher Praxis zu vertiefen, müssen wir die
Reflexion der strukturellen Endlichkeit dieser Praxis noch ausweiten. Das
menschliche Selbsttranszendieren in Sprache und Handeln kann sich nur
zeitlich und endlich, leiblich-räumlich situiert und diskursiv vollziehen.
All unser Erkennen, Handeln und Sprechen ist begrenzt. Diese End-
21 Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, in: Werkausgabe Bd. 1, Düsseldorf 1971,
175 – 382, 195.
22 Martin Heidegger, Identitt und Differenz, Pfullingen 51976, 9 – 30.
23 Erwin Straus, Vom Sinn der Sinne, Berlin/New York/Heidelberg 21956., 21; vgl.
Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phnomenologie des Leibes,
Frankfurt a.M. 2000, 131.
24 Thomas M. Seebohm, „Über die vierfache Abwesenheit im Jetzt. Warum ist
Husserl bereits dort, wo ihn Derrida nicht vermutet?“, in: Hans Michael
Baumgartner (Hg.), Das Rtsel der Zeit. Philosophische Analysen, München 1993,
75 – 108, 91.
196 Teil 1. Religionsphilosophie
lichkeit und Begrenztheit allen Transzendierens ist der Praxis nicht äu-
ßerlich, sondern konstituiert deren Sinn intern und durchgängig. Das
menschliche Transzendieren ist sinnkonstitutiv mit Negativitt – mit
„nicht mehr“ und „noch nicht“ – verklammert. Nur partiale Aspekte
jeder Situation und jedes Gegenstandes sind uns, selbst nur diskursiv-
zeitlich, perspektivisch-räumlich, durch und durch endlich und zeitlich
begrenzt zugänglich. In allem Denken, Erkennen und Handeln zeigt und
entzieht sich uns die Welt zugleich auf uns unverfügbare Weise. Diese
Begrenztheit unseres Transzendierens verweist auf einen nicht-objekti-
vierbaren Grund. Wir können uns selbst, unser Wesen, ebenso wie das
Wesen unserer Mitmenschen nicht wie etwas Vorhandenes vergegen-
ständlichen, objektivieren und zur Gänze erkennen. Diese negative
Einsicht gehört notwendig zu Methode wie Selbsterkenntnis. Auf diese
Weise werden Kantische Grundeinsichten in der radikalisierten Sinn-
kritik nach Heidegger und Wittgenstein bewahrt.25 Wir sind nämlich,
anders gesagt, nicht-objektivierbarer Grund aller unserer ekstatischen
Horizontvorzeichnungen und all unserer prädikativen Leistungen. We-
der uns selbst und unsere Individualität noch die der Anderen können wir
anders als partial und gebrochen transparent machen. Phänomenologisch
betrachtet gilt dies, recht verstanden, schon von jedem noch so einfachen
Gegenstand in seiner inneren Unendlichkeit. Sprachphänomenologisch
gilt es von jeder Wortbedeutung, von jedem Satz im konkreten
Sprachgebrauch. Sie sind unabschließbar offen und in ihren möglichen
innovativen Verwendungen sinnkonstitutiv unbestimmt. Das Ganze der
Gebräuche können wir nicht überschauen. Jedes Wort ist in gewisser
Hinsicht eine eigene Wortart.
Mit dieser strukturellen Negativitätsanalyse schließt die Phänome-
nologie als sinnkriteriale Tiefenhermeneutik an Kants Erkenntniskritik
an. Es gibt aber nicht zwei Welten – eine noumenale und eine phäno-
menale – falls Kant dies gemeint haben sollte – sondern nur eine Welt, in
der im Modus der Negativität und internen Unendlichkeit die „andere“,
die noumenale Welt konkret und sinnkonstitutiv gegenwärtig ist. Mit
Paul Eluard: „Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in dieser.“ Ich bin der
Überzeugung, dass gerade die nochmalige Radikalisierung der Sinnkritik
über Kants transzendentale Kritik hinaus, wie sie durch Husserl und
Frege, Heidegger, Wittgenstein und Merleau-Ponty als Leistung des 20.
Jahrhunderts erreicht wurde, diese neuerliche Vertiefung unserer Einsicht
in die Weltkonstitution (und in die Einheit der Welt) begründet.
munikation. Wir sind in der Lage, die leiblichen, zeitlichen und räum-
lichen, die interexistentiellen und existentiellen, die modalen und die
sprachlich-grammatischen Sinnbedingungen unserer Praxis und unseres
Transzendierens selbst zu erkennen und zu thematisieren.
Weder Sprache noch räumlich-zeitlich-leibliche, interexistentielle
Horizonteröffnung lassen sich einseitig als ontologisches bzw. apriori-
sches Fundament der humanen Welt auszeichnen. Vielmehr müssen wir
die Gleichursprnglichkeit der Sinnbedingungen mit ihrer Unerklrlichkeit
zusammendenken. Das ist in vielen philosophischen Ansätzen aufgrund
ihrer quasi-szientifischen, verzerrten oder ungeklärten Methodologie
leider gerade nicht möglich. Innerhalb der ekstatischen und prädikativen
Weltkonstitution lassen sich keine vorgegebenen Ableitungs- oder
Fundierungsverhältnisse darstellen. Daher ist ein sprachanalytischer lin-
guistischer Idealismus so verfehlt wie empiristische oder auch bewusst-
seinsphilosophische Vorstellungen von der Unmittelbarkeit eines Welt-
zugangs. Auch die Auszeichnung bestimmter Sinnbedingungen zu
Ursprungsereignissen lebt bereits von der in Wahrheit irreduzibel
komplexen, holistischen Konstitution der humanen Welt. In der philo-
sophischen Rekonstruktion kann es so zu theoretischen Stilisierungen
und Hypostasierungen kommen. Der Heidegger von Sein und Zeit hat in
dieser Linie die Zeitigung der Zeitlichkeit geradezu in ein quasi-my-
thisches Großsubjekt transformiert. Der späte Heidegger denkt die
Sprache gleichermaßen als solch eine sinnstiftende Mega-Instanz. Die
Husserlsche bewusstseinsphilosophische Engführung der Konstitutions-
analyse habe ich bereits kritisiert. Eine andere Variante dieser theoreti-
schen Verzerrung der Konstitution stellt der Existenzialismus dar, inso-
weit er die isolierte Existenz des Einzelnen zum Mittelpunkt der Welt
macht und die Negativität der Sinnkonstitution als Nichtigkeit und
Sinnlosigkeit theoretisch fixiert. Eine theoretisch verzerrte Sicht der
Weltkonstitution wird auch in Derridas Husserl-Kritik und im Paradigma
des Dekonstruktivismus mit Bezug auf die Sprache entwickelt. Anstatt die
– selbst unerklärlichen – Sinnbedingungen in ihrer praktischen Bedeutung
für die Konstitution einer humanen Welt zu analysieren, verharrt der
Zugriff in einem schlecht-idealistischen Sinne in der Sprache und kon-
struiert einen semantischen Verkettungsimmanentismus, der nicht mehr
zur Welt und zur Praxis hinausfindet. Und auch die Analyse der Welt-
sinnkonstitution durch den Anderen und sein „Antlitz“ bei Lévinas stellt
die einseitige Überakzentuierung einer wenn auch zentralen interexis-
tentiellen Sinnbedingung der menschlichen Welt dar.
Zeit, Sprache, Transzendenz 199
Für über 2000 Jahre bildete das Fragen nach der Transzendenz mitsamt
den verschiedenen Antworten den gemeinsamen Bezugsrahmen der
europäischen Religions- und Vernunftgeschichte. Dieser Bezugsrahmen
ist von Beginn an nicht der theoretischer Wissenschaft im modernen
Verständnis, sondern der Kontext eines emphatischen Wahrheitsan-
spruchs; eines Wahrheitsanspruchs, der primär praktisch auf das lebens-
ermöglichende und lebenstragende Gute und seine wahre Erkenntnis
sowie auf die gerechte Ordnung des Miteinanderlebens gerichtet ist. Es
geht um die Lebenspraxis und deren Sinn, und in diesem Zusammenhang
um das rettende Göttliche. Zu dieser Lebenspraxis führt nach Sokrates
wahre Erkenntnis, auf sie zielt die Verklammerung von Metaphysik und
Politik bei Platon, auf sie zielt die systematische Verbindung von Me-
taphysik, Ethik, Politik und Ökonomie bei Aristoteles. Wahre Erkenntnis
zielt auf den praktischen Sinn des guten und gerechten Lebens. Das gilt
auch für die religiösen, z. B. christlichen Traditionen. Aber welchen
Status hat diese Erkenntnis? Wie ist sie sprachlich zugänglich? Wie lässt sie
sich vermitteln?
Ich will diesen Fragen im Folgenden in vier Schritten nachgehen.
Zunächst will ich erläutern, warum ich Transzendenz als mehrfache
Schnittstelle von Reflexion und Praxis ansehe.
Dann werde ich einen strukturellen Transzendenzbegriff herausar-
beiten.
Drittens werde ich die Dialektik der Transzendenz sowie ihre
sprachkritische Radikalisierung durch die Entwicklung der modernen Phi-
losophie betrachten. Auf diesem Hintergrund werde ich viertens Kern-
thesen zum Verhältnis von Transzendenz und Sprache im Kontext der ge-
genwrtigen Religionsphilosophie entwickeln.
202 Teil 1. Religionsphilosophie
wiederholen. (Wir haben es hier mit der Kantischen Lösung des Problems
der Philosophie zu tun.)“3
Die Problemstellung von Transzendenz und Sprache führt uns somit
auf mehrfache Weise an die Grenze und Schnittstelle von Herkunft und
Zukunft, von Moderne und Metaphysik, von Philosophie und Theo-
logie, von westlicher Profanität und religiöser Lebensform, schließlich zur
Sprache als dem Ort und zugleich dem Medium von Transzendenz. An
diesem Problemaufriss wird deutlich, dass die Frage nach der Trans-
zendenz in der Moderne sowie gerade in unserer gegenwärtigen ge-
schichtlichen Situation faktisch unvermeidlich ist, dass diese Frage ferner
praktisch und auch politisch außergewöhnlich bedrängend ist, dass ihr
ferner auch methodisch-systematisch für das Selbstverständnis der modernen
Philosophie weiterhin zentrale Bedeutung zukommt.
Vierbeiner immer mit zwei Beinen fest auf dem Boden stehen, muss der
Mensch stets in einem Moment schwebend fallen und sich fangen, um
voranzukommen. Die Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins
Husserls analysiert die Struktur des Transzendierens als passive, not-
wendige Horizontbildung durch das transzendentale Bewusstsein, als
passive Aktivität der zeitlichen Horizontvorzeichnung, als Horizont-
vorzeichnungsvollzugsnotwendigkeit. Dieses Transzendieren im Raum
und im Zeitbewusstsein wird durch die menschliche Sprachfähigkeit auf
einzigartige Weise noch einmal transzendiert und qualitativ gesteigert.
Wir können nun durch Referentialisierung und prädikative Synthesis
Wirklichkeit nicht nur konkret, sondern auch gedanklich festhalten und
überschreiten, abstrakt fixieren und sozial kommunizieren. Denken heißt
überschreiten. Die Sprache ist sowohl Ort als auch Medium des spezifisch
humanen Transzendierens. Sie gestattet die Fortsetzung der Bedeu-
tungspraxis und ermöglicht so die Kontinuität von Sinn, ebenso gestattet
sie die Rückfrage und ermöglicht innovative Sinnstiftung. Mit der Frage
nach dem Verhltnis von Transzendenz und Sprache ist die Philosophie somit im
Zentrum der Frage nach der menschlichen Selbsterkenntnis angelangt. Das
handelnde und sprachliche Überschreiten des Gegebenen, einzelner
Kontexte und Situationen, ihr Verneinen und Negieren ist für unser
Welt- und Selbstverständnis konstitutiv. Es gründet die genuin
menschlichen Möglichkeiten der Wissenschaft und Technik, der Ethik,
der Ästhetik und der Religion, die alle ohne sprachliche Selbsttrans-
zendenz unmöglich wären. Insofern ist weder ein Sinn von Sein noch
eine menschliche Welt ohne kommunikative Selbsttranszendenz auch nur
denkbar. Die Frage nach dem Verhältnis von Transzendenz und Sprache
ist daher ersichtlich fundamental: Sie berührt die Möglichkeitsbedin-
gungen einer menschlichen Welt. Damit bildet die Frage auch einen
zentralen Bezugspunkt von Religion und Philosophie in Geschichte und
Gegenwart.
Das menschliche Selbsttranszendieren in Sprache und Praxis kann
sich nur zeitlich und endlich, diskursiv vollziehen. Alles Erkennen,
Handeln und Sprechen ist begrenzt. Diese Endlichkeit und Begrenztheit
allen Transzendierens können wir selbst erfahren, erkennen und the-
matisieren. Die menschliche Selbstreflexion führte und führt nach we-
nigen Schritten zur Frage nach der Eigenart der Grenze und des Grundes
bzw. des Sinns dieses endlichen Seins – man denke z. B. an die klassischen
Gottesbeweise. Wir können diesen Zusammenhang von Transzendenz
bzw. Transzendieren und Endlichkeit, von Grenze und Grund unseres
Seins, unseres Bewusstseins und unserer Sprache strukturell mit folgenden
206 Teil 1. Religionsphilosophie
5 Novalis, „Blütenstaub Nr. 1“, in: ders., Werke und Briefe, München 1968, 340.
Transzendenz und Sprache 209
6 Ludwig Wittgenstein, „Zu Heidegger“, in: Ludwig Wittgenstein und der Wiener
Kreis: Gesprche, hg. v. Brian F. Mc Guinness, Frankfurt a.M. 1967, 68 f. Vgl.
dazu: Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existenzial- und Sprachanalysen
zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 1985, 22002 sowie ders.,
Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, v. a. 322 – 334.
210 Teil 1. Religionsphilosophie
kann über Gott, den Sinn der Welt und die Grenzen des Lebens sowie
über das Mystische und Unaussprechliche selbst sprechen und wurde
verstanden, gerade mit diesen Passagen seines frühen Hauptwerkes.
Denn: Diese Sätze haben und hatten einen Gebrauch. Sie haben ihre
Kontexte, ihre – selbst voraussetzungsreichen, komplexen – Sinnbedin-
gungen und Verwendungsregeln. Diese sind geschichtlich situiert und auf
Lebensformen und Lebenspraxis bezogen. Das ist es also, wohin uns ein
durch Sprachkritik nochmals radikalisiertes Transzendenzverständnis
führt. Zurück auf den rauhen Boden der religiösen Praxis, in die alte Stadt
der religiösen Traditionen mit einigen neu angebauten Stadtteilen und
Gebäuden.7 Letztlich führt uns gerade die nochmalige Radikalisierung
der Sinnkritik, das ist meine Abschlussthese, recht verstanden, zur
berwindung eines transzendenten Transzendenzverstndnisses: Die sprach-
kritisch radikalisierte Dialektik der Transzendenz lenkt unseren Blick
gerade auf die Formen der sprachlichen Vermittlung religiöser Einsichten mit
ihrer irreduziblen Grammatik, damit auf die Formen der mit ihnen
verbundenen intersubjektiven Vermittlung, die pragmatisch und lebens-
praktisch eingebettet sein muss, und damit auch auf die zeitliche, ge-
schichtliche und kulturelle Vermittlung. Die Radikalisierung Kants gibt mit
Wittgenstein Hegel recht. Mit dieser sinnkritischen Bewegung beginnt
für die Philosophie erneut die hermeneutisch-reflexive Aneignung der Ra-
tionalitätspotentiale der gesamten religiösen Tradition.
Die These lautet also: Gerade die sprachkritisch radikalisierte Dia-
lektik der Transzendenz führt religionsphilosophisch zu einer kritischen
Hermeneutik religiöser Rede und Praxis. Sie führt zur Rückbindung an
und Einbettung dieser Rede und Praxis in kommunikative Lebensfor-
men. Eine analoge, spätwittgensteinsche Transformation radikalisierter
Dialektik der Transzendenz betrifft nach dem Gesagten im Übrigen auch
Kierkegaards Existenzdialektik und die Dialektische Theologie: Selbst
die radikalisierteste Artikulation des Transzendenzbezuges und seiner
gleichzeitigen Unmöglichkeit und unbedingten Notwendigkeit führt
zurück in die sozialen, kommunikativen und lebenspraktischen Kon-
texte, in denen dieser Bezug seinen Sitz hat. Kurz: Auch das Unsagbare,
das Paradoxon, hat seinen spezifischen Praxiskontext und seine unver-
zichtbaren Sinnbedingungen. Das gilt im Übrigen auch für die großen
neuplatonischen, mystischen und negativ-theologischen Paradigmen der
Unsagbarkeit z. B. von Plotin und Pseudo-Dionysios. Und es ist sehr
bezeichnend, dass für Proklos gerade aus der Unsagbarkeit des Einen die
und -praxis geht von der Wirklichkeit des Heils, von dem wirklichen
Heilshandeln aus. Bezogen auf geläufige funktionale Rekonstruktionen
der religiösen Lebensformen etwa im Bereich der Soziologie heißt das:
Für die Glaubenden sind ihre religiösen Orientierungen nicht wahr, weil
sie funktionieren, sondern sie funktionieren, weil sie wahr sind.
Die kritisch-hermeneutische, philosophische Rekonstruktion der
intrinsischen Authentizität religiöser Sprache konfrontiert uns daher er-
neut mit dem, was ich die Dialektik der Transzendenz genannt habe, und
zwar auf zweierlei Weise: Einerseits so, dass sich die Frage nach der
Angemessenheit der philosophischen Metasprache zur Rekonstruktion
der religiösen Sprache stellt. Wie steht der geschichtliche religiöse Diskurs
mit seinen Wahrheitsansprüchen zu allgemeinen Wahrheitsansprüchen
philosophischer Rationalität? Und ferner, da es viele Religionen gibt –
wie verhalten sich deren divergierende Wahrheitsansprche ihrerseits zu-
einander? Lässt sich philosophisch eine ekstatische Vernunft konzipieren,
die die religiösen Sinntraditionen in ihrem authentischen Wahrheitsan-
spruch ernstnimmt, ohne sie von außen zu usurpieren, ohne sie aber auch
einem ratlosen postmodernen Relativismus zu überlassen? Das eine große
Modell ist das Hegels, das weltgeschichtlich euro- und christozentrisch,
auf grandiose Weise monologisch bleibt. Das andere Modell ist das eines
verschärften Sprachspielrelativismus, einer Dogmatisierung kultureller
Differenzen – Modell eines Subjektivismus und Monologismus mit eben
mehreren Groß-Subjekten und Monologen – das des sogenannten Fide-
ismus. Beide Wege sind falsch, weil sie die Offenheit der Sprache, die
Offenheit der Religionsgeschichte und die Offenheit der Vernunftge-
schichte verkennen und verfehlen. Wenn aber Sprache Ort und Medium
von Transzendenz ist, Ort unseres Transzendierens, dann ist sie konsti-
tutiv verklammert mit Freiheit, mit der befreienden Überwindung der
Monologe und Subjektivismen. Es gilt daher für die Philosophie des 21.
Jahrhunderts, sich die Rationalitätspotentiale der religiösen Sinntradi-
tionen aktiv neu zu erschließen und anzueignen, ebenso für die Reli-
gionen, sich der philosophischen Sinngrenzreflexion mit ihrer Dialektik
und Aporetik zu stellen. Ziel muss eine umfassende Neubestimmung von
Transzendenz sein. In der Perspektive eines solchen Projekts läge die
Freilegung der Tiefenstruktur religiöser, ekstatischer Vernunft und der
für sie unverzichtbaren Sprache. Auf diese Weise können wir uns selbst
besser erkennen als Ort und Medium der Transzendenz und vielleicht
besser heimisch werden in der Dialektik der Transzendenz – philoso-
phisch, religiös und in aller Alltäglichkeit.
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution.
Aspekte einer negativen Existentialpragmatik
1
Um das Urphänomen der lebensweltlichen Sinnkonstitution zu erreichen
und zu erhellen und um die mit ihm verbundenen Einzelphänomene in
ihrer inneren Komplexität genau zu erfassen, ist der Blick auf das Un-
mögliche zentral und unverzichtbar – das ist die These. Kant fragt: Was
kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der
Mensch? Betrachtet man die kritische Transzendentalphilosophie näher,
so lässt sie sich viel besser als Versuch der Beantwortung der folgenden
Fragen verstehen: Was kann ich definitiv nicht wissen? Was kann und soll
ich nicht tun? Was kann ich nicht hoffen? Was ist der Mensch jedenfalls
nicht? Denn die kritische Philosophie Kants ist das Unternehmen einer
Grenzziehung. Das Hauptwerk heißt nicht „Die reine Vernunft“, son-
dern bekanntlich „Kritik der reinen Vernunft“. Es enthält Sinngrenz-
analysen, die in der transzendentalen Dialektik gipfeln. Die Struktur der
Negativität, die die transzendentale Dialektik konstituiert, weist auf die
Einsicht Hegels, eine Grenze zu denken, heiße, diese zu überschreiten.
Sie weist auf die Einsicht, die Heidegger dem griechischen Ursprung der
Philosophie zuschreibt: Eine Grenze sei nicht das, wobei etwas aufhört,
sondern das, von woher etwas sein Wesen beginnt.
Im Zentrum der okzidentalen Rationalität lässt sich die Einsicht in
uns, endlich-freien Vernunft- und Naturwesen, Unmögliches, verorten.
Das Sokratische Nichtwissen, das Bilderverbot des ethischen Monothe-
ismus und die negative Theologie des Neuplatonismus sind die Urstif-
tungen der europäischen Vernunftgeschichte, die nous und episteme,
intellectus und ratio, Vernunft und Verstand unterscheiden und nur so
zusammen denken können. Auf diese Weise lässt sich das Verhältnis von
Metaphysik und Wissenschaft, von Transzendenz und Immanenz kritisch
und dialektisch denken. Die je eine Perspektive ist undenkbar und un-
erkennbar ohne die andere; ohne die andere ihrer selbst. Mit Cusanus
formuliert: Die horizontale Gerichtetheit der diskursiven Rationalität
wird sichtbar von der intellektuellen docta ignorantia aus; die vertikale
Gerichtetheit des gelehrten Nichtwissens wird sichtbar von der Dis-
218 Teil 1. Religionsphilosophie
kursivität her. Der Mensch ist die ekstatische Schnittstelle dieser Rich-
tungen.
Der Fortschritt in der Philosophie der Moderne sieht genau deswegen
größer aus als er eigentlich ist, wie Wittgenstein Nestroy zitiert, als er in
keiner quantitativen oder iterativen Größe, in keiner Zunahme an em-
pirischem Wissen welcher Art auch immer bestehen kann. Er kann, recht
verstanden, nur in einer Vertiefung kritischer Sinngrenzanalysen und der
mit ihnen verbundenen, vor allem negativ-praktischen Einsichten be-
stehen. Darum sagt Wittgenstein, der Geist seiner Texte sei ein anderer als
der der heute herrschenden westlichen Zivilisation: Während diese
immer größere äußerliche und letztlich oberflächliche Strukturen auf
allen Ebenen errichtet, will dieser immer nur dableiben und immer
dasselbe – immer tiefer – erkennen.
Es wäre auf diesem Hintergrund daher gänzlich verfehlt, die ge-
schichtliche Entwicklung der Aufklärung und der Moderne in der Phi-
losophie einseitig, eindimensional und undialektisch in einer Linie von
Marx, Nietzsche und Freud allein anzusetzen. In der Konsequenz der
okzidentalen Rationalitätsgeschichte vertiefen und radikalisieren diese
die – für die humane Vernunftkultur unverzichtbare – kritische Einsicht
in die menschliche Naturabhängigkeit und die mannigfache Bedingtheit
der menschlichen Praxis. Politische Ökonomie, Anthropologie der
Leiblichkeit und Psychoanalyse entwickeln als kritische Tiefenherme-
neutik negativ-praktische Einsichten weiter, die nur zu Unrecht als
Kränkungen bezeichnet werden. Vielmehr sind Einsichten in konstitu-
tive Abhängigkeiten, in Entfremdungsprozesse von Menschen als leib-
lich-endlichen Naturwesen, die mit Liebe, Angst und Tod konfrontiert
sind, in ihrem Kern befreiend. Desillusionierung ist keine Kränkung,
sondern lebenssinnkonstitutiv. Erst der Umschlag der Ansätze von Marx,
Nietzsche und Freud in positivistische, quasi-szientifische Theorien
machte und macht sie selbst zu zerstörenden Ideologien.
Gleichwohl ist diese Aufklärungstradition der Moderne für sich ge-
nommen einseitig, wenn wir nicht die Linie mit- und weiterdenken, die
durch die Namen Heidegger, Wittgenstein, Benjamin, Adorno, Hork-
heimer und Derrida angezeigt werden kann. Denn hier vollzieht sich eine
Radikalisierung der philosophischen Sinngrenzanalysen, die ganz eng mit
der Erkenntnis von Unmöglichkeit verbunden ist, mit der Erfahrung der
Grenzen des endlichen, sterblichen Lebens, der Grenzen der gesell-
schaftlich vermittelten Form der Erkenntnis sowie der Grenzen der
Sprache und des Verstehens. Dieser Prozess der Moderne lässt sich als
Vertiefung und Radikalisierung der Vernunftkritik begreifen. Diese
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution 219
2
Ich möchte im Folgenden zeigen, wie sich die genannten Ansätze heute
in der Form einer negativen Existentialpragmatik bzw. Interexistential-
pragmatik sowie einer negativ-sprachkritischen Hermeneutik fortführen
lassen, in einer negativen Anthropologie und Sprachphilosophie.1 Bei
dieser methodischen Zugangsweise wird erneut sichtbar, dass Strukturen
der Negativität, der Nichtigkeit für die lebensweltliche Sinnkonstitution
viel wichtiger sind, als vielfach bislang angenommen. (Das gilt nicht für
die Traditionen der negativen Philosophie, die ich anfangs erwähnte.
Daher ergibt sich für die späte, vertiefte Moderne, die man auch Ultra-
moderne nennen könnte, weil sie über ihre eigenen Grenzen und Be-
dingungen aufgeklärt ist, eine erneute Verbindungsmöglichkeit mit Pa-
radigmen der Metaphysik, der Theologie, der Mystik und der kritischen
Transzendenzreflexion.)
Wesentliche Formen der menschlichen Selbstverfehlung entspringen
dem Verkennen der Grenzen des Lebens und der Praxis. Sie entspringen
dem Verkennen des Unmöglichen. Das Unmögliche, das hier gemeint
ist, ist prinzipieller Natur. Es betrifft und konstituiert (ex negativo) alle
menschlichen Handlungsmöglichkeiten. Wir müssen unterscheiden
zwischen relativen pragmatischen Unmöglichkeiten (Ich kann nicht Ja-
panisch; Ich kann kein Flugzeug steuern) und unbedingten, absoluten
Handlungsunmöglichkeiten, die gleichzeitig, als Bedingungen der Un-
möglichkeit, auch Sinnkonstitutionsbedingungen einer menschlichen
Welt sind.
1 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt. Transzendentale An-
thropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999; ders.: Negativitt und
praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000.
220 Teil 1. Religionsphilosophie
2 Vgl. Ulrich Pothast, Die Unzulnglichkeit der Freiheitsbeweise, Frankfurt a.M. 1980.
3 Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969, 264 – 269.
222 Teil 1. Religionsphilosophie
wir uns mit etwas in der Welt ganz und gar, so haben wir es mit patho-
logischen Phänomenen zu tun. Die Tradition isolierte substanz-onto-
logisch ein Ich als separate Entität, different von aller Welt. Die negativ-
kritische Analyse muss es vermeiden, ein Ich als welttranszendentales
Quasi-Ding vorzustellen. Sprachkritisch können wir sagen: Hinter die
Möglichkeit, in einzigartigen Lebenssituationen zu sprechen und zu
handeln, das Wort „ich“ verständlich zu gebrauchen, können wir nicht
zurückgehen. Die einzigartige Ganzheit jedes Augenblicks der Gegen-
wart ist unfassbar, unvorstellbar. Dass die Welt meine Welt ist – in jedem
unsagbaren Augenblick – gehört zum Sinn unseres Menschseins. Aber
diese Dimension ist durch nichts in der Welt charakterisierbar, und auch
durch nichts außerhalb der Welt. Die Entzogenheit und Eigenschaftslosigkeit
unserer selbst erscheint von der empirischen, vergegenständlichten
Realität aus, die prädikativ erfassbar ist, wie nichts.
Wir berühren mit diesem zweiten Grundsatz eine Thematik, die
ebenso unter dem Titel der transzendentalen Subjektivitt, als auch unter
den Titeln Personalitt und Individualitt behandelt wurde. Die Negativität
des Grundes im Bewusstsein zu begreifen, hat ebenso Anschluss an
Traditionen der rationalen Mystik. Die Negativität dieser Dimension, die
Unmöglichkeit, sie positiv zu erfassen, war stets mehr oder weniger
bewusst. Sie hat Anschluss an die Thematik der Freiheit und der Würde,
deren positive Explikation stets problematisch blieb.
In einem dritten Grundsatz können wir die sinnkonstitutive Entzo-
genheit der Mitmenschen bzw. die interexistentielle Unverfgbarkeit feststellen.
Die Uneinholbarkeit darf nicht subjektivistisch enggeführt werden,
sondern konstituiert allererst in Sprache und Praxis unser gemeinsames
Leben. Der Schutz der Negativität ermöglicht wechselseitige normale
und authentische Verhältnisse. Wenn wir uns etwas versprechen, so wird
dies dadurch ermöglicht, dass keine instrumentelle Beherrschbarkeit des
Verhältnisses besteht. Ohne sich auf Andere verlassen zu können, ohne ein
Sich-Einlassen auf garantielose Praxis kommt auf Dauer keine gemein-
same Praxis zustande. Die Tradition unterschied die securitas im Sinne
technisch-instrumenteller Gesichertheit von der für kommunikative
Verhältnisse zentralen certitudo, der gewissmachenden Gewissheit. Sie ist
konstitutiv für Glaube, Liebe und Hoffnung, für konstitutive Interexis-
tentiale der menschlichen Welt. Der Grundsatz von der interexistenti-
ellen Unverfügbarkeit lässt sich auch als Satz von der Unmöglichkeit der
technischen Sicherung interpersonaler Verhältnisse formulieren. Wieder
zeigt sich: Was wir nicht kçnnen, ermçglicht gerade lebensweltlichen Sinn – auch
und gerade in aller Alltglichkeit. Hannah Arendt hat in ihrem Hauptwerk
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution 223
3
In einem zweiten Schritt will ich die Unmöglichkeitsanalyse phänome-
nologisch, dialektisch, hermeneutisch und sprachkritisch vertiefen und
radikalisieren. Strukturell entspricht dieser Schritt dem von Kant zu
Hegel. Wir wiederholen diese systematische Prozessualisierung der sta-
tisch-synchronen Konstitutionsanalyse und ihre Transformation in eine
dynamisch-diachrone Perspektive nach den Leistungen der Philosophie
des 20. Jahrhunderts. Eine umfassende Unmöglichkeitsanalyse muss
neben der Naturabhängigkeit der menschlichen Kultur die Grundzüge
der Unwiederbringlichkeit in der Interexistenz, der Unumkehrbarkeit der
sterblichen Lebensbewegung, der Unvermeidlichkeit der zukünftigen Si-
tuationen, der Endgltigkeit, der Irreversibilitt des Geschehens der Wirk-
lichkeit, der Unvordenklichkeit der Anfänge sinnhaften und bewussten
Lebens und der Unvorhersehbarkeit seines Endens einbeziehen und inter-
korrelieren. Diese Interkorrelation ist nötig, weil die genannten
Grundzüge alle gleichursprünglich sind, so, wie auch die drei Grundsätze
gleichermaßen gelten. Gleichursprünglichkeit besagt methodisch: Die
lebensweltlich sinnkonstitutiven Grundzüge, Aspekte sind unableitbar
von einander, sie sind irreduzibel auf einander, und sie sind nur ge-
meinsam mit einander und durcheinander verstehbar. Die Analysen
weisen daher in die Richtung eines qualitativen Holismus der kulturellen
Lebenswelt, den wir paradigmatisch ebenso wie strukturell-modellhaft
entfalten können. Als Sinngrenzanalyse hat diese Betrachtungsweise den
Status traditioneller Philosophie und Metaphysik, weil sie ihre Grenzen
negativ-kritisch in die Reflexion einbezieht. Um die Perspektive des
qualitativen Holismus in unserer Analyse zu erreichen, genügt ein Blick
auf unsere räumlich-zeitliche, leiblich-soziale und kommunikative Le-
benssituation, auf unsere konkrete Gegenwart. Ich verstehe diese Si-
tuation als ganze, als Vortragssituation hier in Zürich. Dieses Verstehen ist
irreduzibel ganzheitlich, holistisch, konstituiert durch einen unthemati-
schen Hintergrund, der meine Erfahrung mit Hilfe passiver Synthesen
gleichsam stiftet, lenkt und trägt. Der Hintergrund, wie ihn Husserl und
gegenwärtig z. B. Taylor analysieren, ist unthematisch wie sinnkonstitutiv
und auch kulturell, sozial, geschichtlich vorkonstituiert, im Übrigen auch
individuell: da ich z. B. von 1979 bis 1982 in Zürich und auch hier in
diesem Raum studiert habe, gehen in die Verstehenssituation auch
persönliche Aspekte auf besondere Weise ein. Entscheidend ist nun für
unsere Frage nach der lebensweltlichen Sinnkonstitution: Es erfolgt eine
Horizontbildung, so Husserl, im Medium vorgängiger Erschlossenheit, so
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution 225
Heidegger, und diese Horizontbildung ist passiv und unthematisch, sie hat
die Struktur einer Vollzugsnotwendigkeit. Ich komme nicht umhin –
anders gesagt: Es ist mir unmçglich – die Horizontbildung nicht gemäß
dem mir Bekannten und von mir Gelernten zu vollziehen. Die Hori-
zontvorzeichnungsvollzugsnotwendigkeit ist passiv, hat mithin viele
unbewusste Aspekte. (Mir scheint es von Bedeutung, dass Husserl und
Freud zur selben Zeit in Wien die Vorlesungen Franz Brentanos hörten,
der solche Analysen als erster exemplarisch subtil durchführte.) 4
Wir brauchen nicht bei der bewusstseinsphilosophischen Fassung der
Analyse von der passiven Horizontvorzeichnung stehen zu bleiben; es ist
klar, dass diese mit der sprachlichen Erschlossenheit lebensweltlicher Si-
tuationen aufs Engste verwoben ist – übrigens auch mit der leiblichen
Erschlossenheit, auf die ich aus Zeitgründen nicht eingehen kann. Bereits,
wenn ich einen Gegenstand thematisiere, bildet sich unweigerlich ein
unthematisches Feld von Bedeutungen, ein Hof, würde Husserl sagen,
eine Umgebung, die praktisch vorgängig erschlossen ist.
Für unsere Analyse ist wichtig, dass die situative Horizontvorzeich-
nung einen unabschließbaren, offenen Charakter hat. Würde ich auch
nur versuchen, den sinnkonstitutiven und unthematischen Hintergrund
einer konkreten Lebenssituation zu explizieren, ich würde nie an ein Ende
kommen. Es ist unmçglich, auch nur einen Aspekt der Wirklichkeit, nur
einen Apfel, nur einen Augenblick, zur Gänze zu erfassen, zu beschrei-
ben, zu erkennen. Individuum est ineffabile. (Inwieweit dies schon für die
ousia-Konzeption der Aristotelischen Metaphysik gilt, wäre spannend zu
erforschen und zu diskutieren.) Die Wirklichkeit ist, mit Hegel gespro-
chen, intern unendlich, sie gibt sich in jedem Augenblick in unendlicher
Konkretion. Die Unmöglichkeit, diese innere, wahre Unendlichkeit zu
objektivieren, zu erfassen, zu erschöpfen, ist im Übrigen Anschlussbe-
dingung für ästhetische, ethische, religiöse und mystische Erfahrung und
Gestaltung. Das Unmögliche hat auch hier wieder sinnkonstitutive,
sinneröffnende Bedeutung. Seine Kehrseite ist die freie Eröffnung von
Sinnpotentialen, von Fortsetzungsmöglichkeiten, von Perspektiven.
Denken wir an die vielen Möglichkeiten, einen Apfel zu malen; an den
vielen Weisen, auf die Monet Seerosen malte, an die Weisen, auf die
Vermeer das Licht malte.
chorismos, des hiatus zu entwickeln. Der Urstifter dieser Analyse ist für
die Moderne Kierkegaard, der gleichermaßen auf Heidegger, Wittgen-
stein und – was noch wenig bewusst und erforscht ist – auf Adorno
wirkte. Die zentrale Einsicht findet sich aber auch in dem wunderbaren
Aufsatz von Heinrich von Kleist „Über die allmähliche Verfertigung der
Gedanken beim Reden“, der philosophisch zu wenig beachtet wird. Bei
der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden praktizieren
wir ständig Brüche und Sprünge, die wir selbst mit den verwendeten
sprachlichen Mitteln aber nicht mehr thematisieren können. Kleist
schreibt: „Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand
unsrer, welcher weiß.“6 Kierkegaard unterscheidet in seiner Wieder-
holungsanalyse einen Schritt, einen Satz und einen Sprung.7 Diese Analyse
denkt Dialektik als Ineinander von Vermittlung und Unmittelbarkeit.
Der formal, strukturell stets nötige Sprung ist der freie, d. h. nicht ver-
gegenständlichbare Akt, der aus der offenen Unbestimmtheit der Schwebe
– mit Kierkegaard: zwischen entweder-oder – zur innovativ-verein-
deutigenden Fortsetzung der Praxis führt. Wittgenstein schreibt: „In der
Sprache gibt es stets eine Brücke zwischen dem Zeichen und seiner
Anwendung. Wir müssen die Kluft selbst überbrücken; das kann uns
niemand abnehmen, keine Erklärung erspart den Sprung, denn jede
weitere Erklärung wird ihrerseits einen Sprung benötigen.“8 Der
Übergang von einer (auch nur scheinbar) bloßen Wiederholung zu einer
neuen, selbständigen Anwendung der Regel ist selbst nicht regelhaft
fassbar. Auch beim Übergang vom Reden zum Handeln gibt es diesen
regelfreien Punkt. So heißt es in den „Philosophischen Untersuchun-
gen“: „Muß ich einen Befehl verstehen, ehe ich nach ihm handeln kann?
– Gewiß! Sonst wüßtest du ja nicht, was du zu tun hast. – Aber vom
Wissen zum Tun ist ja wieder ein Sprung! –“.9 Die Analysen, die
Wittgenstein in diesem Kontext in seiner Spätphilosophie entfaltet – vor
allem in den Texten „Über Gewissheit“ – konzentrieren sich auf die
Grundlosigkeit unseres Glaubens, auf die Unerklrlichkeit der Sprache (der
Sprachspiele) und auf die Unableitbarkeit unseres Sprachhandelns und der
Es sind drei Thesen, die ich abschließend im Blick auf die systematisch
freigelegte Verklammerung von Unmöglichkeit und lebensweltlicher
Sinnkonstitution noch ausblickhaft aufstellen will.
1. Die Entwicklung der negativ-kritischen Philosophie im 20. Jahr-
hundert weist wissenschaftskritisch, metaphysikkritisch wie auch prak-
tisch vor auf ein verändertes Welt- und Selbstverständnis, das die sinn-
konstitutiven Grenzen der menschlichen Vernunft wieder viel deutlicher
erkennt und ernstnimmt, als dies in bestimmten Standardmodellen von
Neuzeit, Aufklärung und Moderne geschah. Diese Erneuerung einer
Tiefenaufklrung – einer Aufklärung, die noch ihre eigene Begrenztheit
und Endlichkeit mitzudenken versucht, ihre eigenen unverfügbaren
Bedingungen – weist eine religiöse und theologische Dimension auf, die
weit mehr als bisher gesehen, das moderne Denken bestimmt und un-
tergründig leitet. Und es ist, wenn einmal begriffen, klar: Eine radika-
lisierte Sinngrenzreflexion gelangt an die Grenzen der Vernunft, an die
Grenzen der Welt und des Lebens, an die Grenzen der Sprache, und damit
zum Ort des niemals als vorhanden denkbaren Absoluten. Im Zentrum
der modernen Philosophie stehen mit dem sich entziehenden Sein bei
Heidegger, mit dem sich zeigenden Unsagbaren, Mystischen bei Witt-
genstein, mit dem ebenso jeder Vereinnahmung unverfügbaren Nicht-
Identischen bei Adorno, mit der Entzogenheit der Spur der Schrift bei
Derrida – im Zentrum der modernen Philosophie stehen Paradigmen eines
negativen Absoluten, die auf einen religiösen, oft mystischen Glutkern
verweisen. Kurz: Am Fundament der modernen Philosophie ist ein
heiliger Rest in der Reflexion zu erkennen. Er weist zurück – das könnte
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution 231
11 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005, insb. 119 – 211.
232 Teil 1. Religionsphilosophie
12 Vgl. dazu: Chris Gudmunsen, Wittgenstein and Buddhism, New York 1977; Tyson
Anderson, „Wittgenstein and Nagarjuna’s paradox“, in: Philosophy East and West
2/1985, 157 – 169.
Negativität und Rationalität. Gibt es aus
philosophischer Sicht irreduzible Wahrheitsansprüche
religiöser Vernunft?
l
Beginnen wir mit einer negativen Ausgrenzung religiöser Wahrheits-
ansprüche. Meine erste These betrifft eine vermeintliche Konkurrenz von
religiösen und theoretischen oder empirischen wissenschaftlichen
Wahrheitsansprüchen. Genuin religiöse Geltungsansprüche stehen, recht
verstanden, nicht in Konkurrenz zu naturwissenschaftlichen, empirischen
Theorien welcher Art auch immer. Sie bewegen sich überhaupt nicht auf
der Ebene empirischer Sätze über etwas, das in der Welt naturwissen-
schaftlicher Tatsachen verifiziert oder falsifiziert werden könnte. Sie sind
keine theoretischen Orientierungen und sie sind in ihrer Geltung nicht
von bestimmten empirischen Behauptungen über die Welt abhängig.
Analysieren wir Sprachgebräuche im Kernbereich religiöser Praxis, so
wird sichtbar: Die Sätze „Jesus lebt“, „Christus ist für uns gestorben“ sind
keine schlichten Tatsachenmitteilungen wie „Herr Schulze lebt“ oder
„Herr Müller ist gestern gestorben“. Mit den religiösen Bekenntnissätzen
wird eine auf das ganze Leben bezogene Orientierung, eine grundsätz-
liche Lebenseinstellung artikuliert. Was der Satz „Gott ist der Schöpfer“,
„Jesus lebt“ oder „Allah ist groß“ für die Glaubenden bedeutet, das lässt
234 Teil 1. Religionsphilosophie
sich nur durch deren Lebensverständnis erläutern, nicht jedoch durch den
Blick auf empirische Tatsachen außerhalb dieser Lebenszusammenhänge
beweisen oder widerlegen. Es gibt also außerhalb der komplexen
Glaubens- und Bekenntnispraxis zunächst einmal keine externen wis-
senschaftlichen Überprüfungsinstanzen für solche religiösen Wahrheits-
ansprüche.
Vorkopernikanische Lebensformen artikulierten ihre religiösen
Überzeugungen im Rahmen von mythischen Bildern vom „Aufbau der
Welt“. Nachdem diese Weltbilder kosmologisch zerfielen, konnte und
musste die neuzeitliche Religionskritik dogmatische Ansprüche ver-
werfen, die Gott und Welt, Himmel und Hölle, Diesseits und Jenseits
objektivistisch auf verschiedene kosmologisch verortbare „Räume“
projizierte, etwa: Raum I – diese Welt, Raum II – das Jenseits. Wären
religiöse Wahrheitsansprüche von solchen Modellen fehlgeleiteter Spe-
kulation abhängig, dann wäre es schlecht um sie bestellt. So beruht z. B.
der anti-evolutionäre Kreationismus in manchen christlich-fundamen-
talistisch beeinflussten schulischen Lehrplänen Nordamerikas auf einer
Konfusion des genuinen Wahrheitsanspruches des religiösen Satzes „Alle
Menschen sind Geschöpfe Gottes“ mit evolutionsbiologischen empiri-
schen Forschungen zur Menschheitsentwicklung. Von solchen For-
schungen handeln Religionen nicht. Deswegen reproduzieren auch
gegenwärtig neu eröffnete Diskussionsrunden hinsichtlich der möglichen
Bedeutung der theoretischen Erkenntnisse der Quantenmechanik oder
der gegenwärtigen Kosmologie für religiöse Wahrheit auf immer neue
Weise und im großen Maßstab alte Missverständnisse. Würde man die
Ebenendifferenz von Religion und Naturwissenschaft selbst kriterial
vernünftig begreifen, so hätte eine aufgeklärte Gesellschaft es nicht nötig,
diffuse Grauzonen aus unbegriffener Physik und Esoterik zu kultivieren –
zum Schaden beider: der wissenschaftlichen wie der religiösen Vernunft.
Für die Beurteilung der Wahrheitsansprüche von Religionen gilt aber
umgekehrt auch: dass ihre Entfaltung mit vormodernen Weltbildern
verbunden war, das allein genügt nicht, sie für falsch oder illusionär zu
erklären. Es genügt dann nicht, wenn es gelingt, die tatsächlich haltbare
religiöse Wahrheit, von wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen unab-
hängig, zu entwickeln und anzueignen und letztlich von schlechter
Metaphysik zu befreien. Kurz: kein Galilei oder Darwin bedroht ir-
gendeine relevante religiöse Wahrheit. Das gilt auch für die vermeintliche
Abhängigkeit religiöser Wahrheit, von empirischen historischen Tatsa-
chen, z. B. über das Leben Jesu, Buddhas oder über die Entstehungsge-
schichte des Korans. Die Wahrheitsansprüche der Lehren der Religi-
Negativität und Rationalität 235
3 Martin Luther, „Tischreden aus Anton Lauterbachs Sammlung B“, in: ders.,
Weimarer Ausgabe, Bd V, Köln/Wien 2002, 6211.
4 Javed Nurbakhsh, In the Tavern of Ruin. Seven Essays on Sufism, New York 1978,
96 (übersetzt von Thomas Rentsch).
238 Teil 1. Religionsphilosophie
Gefühlen; (2.) handeln sie auch nicht von Gefühlen (gegen die These von
einem emotiven Gehalt); (3.) sind sie auch nicht durch Gefühle beweisbar
(nicht emotiv verifizierbar).
Viertens kommt religiösen Wahrheitsansprüchen auch nicht der Status
von Fiktionen zu. Es schien sinnvoll, angesichts einer „entzauberten“
Außenwelt die spezifisch religiösen Reden von „Schöpfung“, „Gericht“
und „Erlösung“, „tao“ oder „Dharma“ als praktische, lebensdienliche
Illusionen zu betrachten. Bereits Kants Metasprache zur Rekonstruktion
religiöser Wahrheit, die Postulatenlehre, baut auf der Rekonstruktions-
ebene authentischer religiöser (bzw. schlicht humaner) Praxis ein un-
angemessenes sprachliches Element ein, welches bei falschem Verständnis
subjektiv, beliebig oder voluntaristisch interpretiert werden kann –
nämlich die Rede vom Postulat. Unter dem Einfluss von Nietzsche und
dem Positivismus konnte z. B. Vaihinger im Neukantianismus eine solche
fiktionalistische Rekonstruktion vertreten. Solche Rekonstruktionen
verfehlen das Rationalitätspotential religiöser Orientierungen gleich
mehrfach. Die praktischen Einsichten, die sich in diesen Orientierungen
artikulieren, haben ihren Sitz in kulturellen Lebensformen, die sich nicht
in eine pure Faktizität einerseits, in subjektive Sinnkonstruktionen an-
dererseits, aufspalten lassen. Ähnlich wie in der normativ und sozial
konstituierten Praxis der Moralität und Ethik wissen wir in der Regel
bereits viel über lebenstragende Einsichten und ihre institutionelle und
kulturelle Vermittlung. Eine Tabula-rasa-Situation, deren sinnfreier
Faktizität noch eine subjektiv projizierte Sinn-Fiktion wie eine illusio-
näre Sahnehaube hinzugefügt wird, ist daher eine irreführende, abstrakte
Vorstellung. Dementsprechend wird man folgende Formulierungen
ablehnen müssen: „Ich lebe als Buddhist so, als ob es eine Befreiung aus
Weltbefangenheit gäbe.“ Oder „Ich lebe als Christ so, als gäbe es Gott,
Gnade und Vergebung.“ Oder „Muslime tun so, als ob Mohammed der
Prophet sei.“ Religiöse Sprechakte im Kernbereich der Bekenntnisse und
Lehren sind konstitutive Akte, mit denen unbedingte normative Ver-
pflichtungen und grundlegende Sichtweisen hinsichtlich des eigenen
Lebensverständnisses artikuliert werden, z. B. Glaube, Hoffnung und
Liebe.
Fnftens werden religiöse Wahrheitsansprüche im Kern nicht ange-
messen begriffen, wenn wir sie auf ihre sozialen oder auch individual
psychologischen Funktionen reduzieren, z. B. auf die sogenannte
„Kontingenzbewältigungspraxis“. Religiöse Sprache und Praxis folgt
nicht der Logik von Erklärungen, sie bewegt sich nicht auf der Ebene
instrumenteller Rationalität. Natürlich sind religiöse Orientierungen als
Negativität und Rationalität 239
5 Vgl. Hubertus Halbfas, Das Welthaus, Stuttgart 1983, 214. (Die authentischen
Beschreibungen des Sonnenfestes der Inka, die wir besitzen, bestätigen die
nichtinstrumentelle Deutung: Garcilaso de la Vega – seine Mutter war Inka-
Prinzessin – schreibt, dieses höchste Fest glich „einem Bankett, dass die Sonne
ihren Kindern gab.“) (Im Übrigen wissen wir ja auch nach Hume nicht, ob die
Sonne aufgehen wird.)
240 Teil 1. Religionsphilosophie
6 Rabia, zit. nach Idries Shah, The Way of the Sufi, Harmondsworth/New York
1982, 239.
Negativität und Rationalität 241
7 Vgl. dazu: Jörg Fisch, „Jenseitsglaube, Ungleichheit und Tod. Zu einigen As-
pekten der Totenfolge“, in: Saeculum Bd. 44 (1993), 265 – 299.
242 Teil 1. Religionsphilosophie
2
Diese Explikation erfolgt aus philosophischer Sicht. Da nur Philosophie
eine explizite Theorie der Vernunft entwickelt hat, kann gerade sie auch
ein spezifisches Verständnis religiöser Wahrheitsansprüche zu rekon-
struieren versuchen, und zwar mit Blick auf eines ihrer Dauerthemen: die
Grenzen der Vernunft. In der Linie von Kant und Wittgenstein können
Negativität und Rationalität 243
8 Vgl. dazu: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phnomenologie des Geistes, Hamburg
6
1952, 322 f..
246 Teil 1. Religionsphilosophie
sagte Luther, Glauben heiße auf dem Nichts stehen.) Aber auch wenn wir
den Buddhismus betrachten, begegnen wir diesem konstitutiven Zu-
sammenhang von Negativität und Sinn. Die Intensität der Vergegen-
wärtigungspraxis dieses Zusammenhangs lässt westliche Interpreten rasch
mit dem missverständlichen Etikett des „Nihilismus“ operieren, wo es in
Wirklichkeit um vernünftige praktische Einsichten geht.
Wir können angesichts der Vernunftansprüche der Religionen von
einer Kultur praktischer Einsichten z. B. in die unvordenkliche Existenz
der Welt und der Natur, in die Transzendenz, d. h. die erkenntnismäßige
Unerreichbarkeit unseres eigenen Wesens und in unsere sowohl unga-
rantierbare als auch lebenssinnkonstitutive Orientierung an Vernunft,
Wahrheit und Moral sprechen. Eine grundlegende systematische Reli-
gionsphilosophie kann zeigen, dass die Verbundenheit der religiösen
Wahrheit mit negativen praktischen Einsichten gerade in klassischen
Ansätzen prägnant herausgearbeitet wurde: z. B. in der Analyse des
„Anrennens gegen das Paradoxon“ bei Kierkegaard und Wittgenstein
oder, anders, in der Praxis des Zen-Koans im Buddhismus. Bei näherer
Betrachtung ließe sich zeigen, dass das credo quia absurdum auf der gleichen
Ebene wie das credo ut intelligam liegt, wenn es um die negative Einsicht in
die sinnkonstitutiven Grenzen unserer Vernunft geht und um das be-
freiende Selbstverständnis, das eine solche Grundeinsicht bewirken kann.
Befreiend deswegen, weil diese Einsicht von illusionären Selbstmiss-
verständnissen der Vernunft befreit.
Die kulturellen Modi der Vergegenwärtigung und lebenspraktischen
Transformation dieser Einsicht sind so komplex, weil alle Phänomene und
Probleme im Leben zum Paradigma ihrer Bedeutung und ihrer Verge-
genwärtigung werden können – auf der faktischen, auf der praktischen
und auf der begrifflich-sprachlichen Ebene. Als spezifisch religiöse Pra-
xisformen lassen sich auszeichnen: die meditative Vergegenwärtigung des
Konnexes von Negativität und Sinn im Blick auf die Totalität unseres
Lebens, die kongregativen Modi der Vergegenwärtigung im kultischen,
rituellen Rahmen, aber auch in der konkreten Lebenspraxis, schließlich
auch spekulative, theoretisch-reflexive und didaktische Modi wie die
theologische Sinnexplikation und die religiösen Lehr- und Lerntradi-
tionen in den großen Weltreligionen. Der ästhetische, sprachliche,
künstlerische und sinnliche Vergegenwärtigungsreichtum religiöser
Vernunft braucht nicht als überflüssiger Zierrat abgetan zu werden, denn
die angemessene Form der Vermittlung praktischer Einsichten gehört
konstitutiv zu ihrer Rationalität. Da sich ferner praktische Einsichten auf
unsere gesamte Praxis beziehen, kann religiöse Rationalität nicht allein im
248 Teil 1. Religionsphilosophie
Postskriptum:
Einige Bemerkungen im Anschluss an die Diskussion meines Beitrags
auf der Frankfurter Konferenz:
Im Folgenden möchte ich einige weiterführende Anschlussüberle-
gungen kurz skizzieren, die sich aus den Diskussionen auf der Frankfurter
Konferenz für mich ergeben haben. Die Rückfragen und Anregungen
waren so vielfältig, dass eine gründliche und umfassende Ausführung
meiner Antworten eine neue, größere Abhandlung erforderlich machte.9
3. Dies führt auf einen dritten Fokus der Diskussion; in ihm bündeln sich
Fragen (v. a. von Nagl, Kaufmann, Honnefelder) nach einer möglichen
positiven Sinnexplikation genuin religiçser Vernunft insbesondere in ihrer trans-
ethischen Dimension. Mein Vortrag akzentuiert die Differenz von Religion
und Moral bei deren gleichzeitiger enger Verklammerung. Ludwig Nagl
macht in seinem Kommentar auf die Linie Kant – Peirce – James –
Putnam aufmerksam und kritisiert meine Distanzierung von Kants Me-
tasprache der Postulatenlehre. Ich stimme mit ihm darin überein, dass eine
„Hoffnungslogik“ im Kontext der unverfügbaren, unsicherbaren Sinn-
bedingungen unseres praktisch-vernünftigen gemeinsamen Lebens zum
Kernbereich religiöser Vernunft gehört. Ob im Messianismus, ob in den
Eschatologien und Soteriologien, ob in der Befreiungstheologie oder
auch in den Konzeptionen anamnetischer Solidarität – die Unverzicht-
barkeit der Hoffnungsdimension ist einer der „harten“ Gründe und
Fundamente der Religionen. Deswegen ist die These, an der „Schnitt-
stelle von Praxisende und Hoffnung“ zeige sich so etwas wie religiöse
Tiefe, ganz in meinem Sinne. Die Nachfrage nach der positiven Expli-
kation der Grundzüge der emphatischen, ekstatischen Vernunft reicht
aber noch weiter. „Wie verhalten sich metaphysikkritische Negativität
und emphatische Vernunft („ekstatisches Denken“) zueinander?“ – so
252 Teil 1. Religionsphilosophie
fragt Nagl zu Recht. Und ich stimme ihm auch darin zu, dass meine
Prätention, über Kant hinauszudenken, „erst dann stimmig (würde),
wenn wir im Optionenkatalog diversifizierter Analysen humaner Gel-
tungsansprüche ein differenzierteres Instrumentarium besäßen als das
einer – nicht nur theoretizismuskritischen, sondern auch transethisch
verfassten – Kantischen Hoffnungslogik“.
Hier berührt sich die Aufgabe der Religionsphilosophie mit einer
systematischen Rekonstruktion, Rehabilitierung und Fehlentwicklung
der Metaphysik bzw. näherhin der philosophischen Theologie. Von der
traditionellen metaphysica specialis scheint ja vielerorts nur noch der
Freiheitstraktat in modernen Varianten ,detranszendentalisiert‘ zu über-
leben. In der religionsphilosophischen Reflexion auf die transpragmati-
schen Sinnbedingungen unserer Praxis stoßen wir allenthalben auf
Transzendenzbezüge, die den Rahmen der Immanenz überschreiten,
durchbrechen und sprengen. Gerade die genuin religiösen Praxen: Z.B.
supererogatorische Opfer, Riten, Kulte, Gebet, Gesang, Meditation,
Vergebung, Beichte – eröffnen der Vernunft einen Bereich, der ohne sie
tendenziell der Sprachlosigkeit, der Trostlosigkeit und Sinnlosigkeit, der
bloßen Negativität, der Banalität oder kruder Faktizität anheimfiele und
überantwortet bliebe. Insofern wird Vernunft hier ekstatisch. Wird sie
damit im Kantischen Sinne „überschwänglich“ und „entfremdet“ sie sich
ihrem eigenen Bereich – oder kommt sie so zu sich selbst? Über eine
Hoffnungslogik hinaus setzen hier Fragen ein, die zum Projekt einer
Rehabilitation der Metaphysik und auch philosophischer Theologie nach Kant
und Hegel, nach Marx, Nietzsche und Freud sowie (in meiner Sicht)
nicht ohne Heidegger, Wittgenstein und Adorno führen müssen. Im
Gegensatz zu vielen Gegenwartsphilosophen, die wie Rorty und Ha-
bermas im Konsensus mit Reduktionisten, Positivisten und Szientisten
vom „Ende der Metaphysik“, vom „nachmetaphysischen Denken“, vom
„Abschied vom Prinzipiellen“ (O. Marquard) bzw. Absoluten sprechen,
halte ich eine kritische Rezeption der solchermaßen flächendeckend allzu
leichtfertig abgetanen Traditionen für philosophisch viel wichtiger und
interessanter als die zu Gemeinplätzen gewordenen Formeln des Totsa-
gens (Tod Gottes, Tod des Subjekts, Ende der Geschichte, usw.). Es gilt
demgegenüber, die Rationalitätspotentiale der metaphysischen Sinn-
grenzreflexion und Sinngrundreflexion wieder neu zu erschließen und
weiterzuentwickeln, ohne deren Vorarbeit ja auch die Kantische Re-
volution gar nicht erst verstehbar wäre. Eine kritische Rehabilitation der
metaphysischen und philosophisch-theologischen Reflexion hätte eine
umfassende Neubestimmung von Transzendenz wie auch des Verhält-
Negativität und Rationalität 253
samen Welt. Kurz: Es ging und es geht überall mit rechten Dingen zu,
auch wenn z. B. alte Traditionen andere sprachliche Weisen der Ver-
gegenwärtigung ihres Welt- und Selbstverständnisses und andere kulti-
sche und rituelle Übungen praktizierten. Dass es mit rechten Dingen
zuging, ist auch der Grund dafür, dass wir ferne wie auch fremde religiöse
Zeugnisse in ihrem internen Wahrheits- und Authentizitätsanspruch
verstehen können, ohne diesen Anspruch noch selbst in ihrer Form zu
übernehmen und zu vertreten. Wir leben weiß Gott nicht mehr unter
dem altgriechischen Götterhimmel. Dennoch wissen wir, je nach Bil-
dungshorizont, etwas anzufangen mit Zeus, Apollon und Dionysos, mit
Aphrodite, mit Pan und Poseidon. Diese Götter beziehen sich auf in-
tensive Lebenserfahrung und Lebenswirklichkeit, und wir verstehen den
Sinn dieser Gestalten, ihre existentielle Bedeutung, die ganz unabhängig
ist von ihrer nur vermeintlich von dieser Bedeutung separierbaren,
bloßen „Existenz“. Wir können sagen: Die alten Griechen haben sich so
ausgedrückt, um das ihnen Wichtige im Leben auf anspruchsvolle Weise
zu artikulieren. Auch der scheinbar oft bizarre Götterhimmel des alten
Ägypten besetzt ganz verständlich die Stellen existentieller Lebenswirk-
lichkeit; so steht Bastet mit dem Katzenkopf für Fröhlichkeit, Festlich-
keit, Liebe und Freude; die Göttin Maat ist die Inkarnation der Wahrheit
und Gerechtigkeit – mit ihr wird das Herz der Verstorbenen gewogen;
selbst Toeris, dargestellt als aufrecht stehendes trächtiges Nilpferd mit
gehörntem Krokodilskopf und Sonnenscheibe, Schwanz und Löwen-
beinen, sie ist die Göttin der Frauen, der Wochenstube und der
Wöchnerinnen. Als gutmütige Beschützerin hält sie das Lebenszeichen in
der Hand und stützt sich auf das Zeichen für Schutz und Beistand. All dies
ist eminent vernünftig, verstehbar und sinnvoll als intensiver Ausdruck
letzter, grundlegender Lebenswirklichkeiten: Liebe und Freude, Wahr-
heit und Gerechtigkeit, Fruchtbarkeit und schutzbedürftiges Men-
schenleben. Die religiöse Sprache bildet somit keine noch über oder unter
der normalen Welt I vorhandene Welt II repräsentationalistisch ab. Dies
wäre eine vorhandenheitsontologische bzw. vorhandenheitssemantische,
metasprachliche Fehldeutung religiöser Rede und Praxis, die leider sehr
verbreitet ist. Vernünftig ließe sich sagen: die Rede und die Darstel-
lungsformen von Toeris artikulieren auf emphatische Weise die Wahrheit
über die Schwangerschaft, das Wochenbett und die Geburt im alten
Ägypten, und damit eingeschlossen die Wahrheit über den angemessenen
praktischen Umgang mit diesen Lebenswirklichkeiten par excellence.
Auf emphatische Weise; das heißt auch: es wird eine hçhere Wahrheit
artikuliert, die in ihrem ganzheitlichen Anspruch Faktizität, Normativität
256 Teil 1. Religionsphilosophie
und Praxis auf sinnvolle Weise umgreift. Gerade deswegen wird dieser
höheren Wahrheit ja auch eine ganz besondere Ausdrucksform und ri-
tuelle Sonderpraxis zugeordnet. Denn die Schutzgöttin verdichtet die
menschliche Lebenswirklichkeit von Schwangerschaft, Empfängnis und
Geburt, in der das Faktische, das Normative und das Praktische, kurz: das,
was geschieht und das, was wir tun können und tun müssen, untrennbar
verbunden sind. Die Ebene der hçheren Wahrheit ist deshalb nicht un-
vernünftig oder gar widervernünftig. Sie übersteigt zunächst einmal die
bloß verstandesmäßig objektivierbare Ebene. Es wäre ein Fall von her-
meneutischer Blindheit, würde man der Rede und der Praxis, die diese
Lebensschutzgöttin Toeris konstituiert und umgibt, vorwerfen, sie
stimme ja nicht mit unseren zoologischen Kenntnissen über Krokodile
und Nilpferde überein. Das wäre eine grundsätzliche Ebenenverwechs-
lung, denn Wahrheitsansprüche über das konkrete Tierleben im Nil der
damaligen Zeit werden mit dieser Rede und Praxis nicht erhoben, wohl
jedoch lebenspraktische Wahrheitsansprüche hinsichtlich dessen, was gut
ist im Hinblick auf Schwangerschaft, werdende Mütter, Empfängnis und
des Berufsethos der altägyptischen Hebammen.
Ich nenne diesen Aspekt des Wahrheitsanspruches religiöser Rede
mitsamt ihrer sinnkonstitutiven Praxisverwobenheit ihre hermeneutische
Irreduzibilitt. Das heißt auch: wenn wir diese Rede und Praxis berhaupt
verstehen wollen, so müssen wir zunächst einmal ihre interne Logik, mit
Wittgenstein, das Sprachspiel begreifen. Gerade deswegen habe ich ein so
entlegenes Beispiel gewählt. Ersichtlich ist das Verstehen und Begreifen
der internen Logik hier nicht notwendig mit der Übernahme der kon-
kreten kultischen und rituellen Verehrungspraxis einer solchen Gottheit
verbunden. Hier ist es anders als mit geläufigen z. B. arithmetischen oder
empirischen, z. B. medizinischen Wahrheitsansprüchen, die viel stärker,
wenn auch nicht gänzlich kulturunabhängig sind. Es gilt: Je mehr
Wahrheitsansprüche mit der gesamten inneren Komplexität einer kul-
turellen menschlichen Lebensform verbunden sind, desto vorausset-
zungsreicher ist ihr Verständnis, desto unverzichtbarer ist die Kenntnis
ihres praktischen Kontexts.
In unserer westlichen Zivilisation werden viele ältere religiöse Le-
bensformen durch modische, industriell vermarktbare Kulte und Praxen
ersetzt. Eine große Gottheit heißt hier „Leben“: Leben, life, fitness,
wellness, fun, Spaß. Diese Gottheit des unbeschwerten Lebensgenusses,
mit den kleineren Göttern der Jugend, des Konsums, der Freizeit, des
Urlaubs, der Reisen und der sportlichen Aktivitäten ist zwar sehr mächtig.
Sie bestimmt das Lebenssinnverständnis vieler Menschen, und wer würde
Religion und negative Metaphysik 257
geben, kann sehr unterschiedlich sein. Das hängt von sehr vielen sons-
tigen Faktoren ab, tangiert aber nicht den Wahrheitsanspruch sich viel-
fach wandelnder religiöser, ekstatischer, sich für ihre eigenen transprag-
matischen Sinnbedingungen öffnender Vernunft.
Die bisherige Analyse führte zu folgendem Ergebnis. In religiöser
Praxis, in religiösen Sprach- und Lebensformen bekundet sich die Ein-
sicht in transpragmatische Sinnbedingungen menschlichen Lebens und
auch menschlicher Vernunft. Ihr Wahrheitsanspruch besteht also, recht
verstanden, nicht in etwas Irrationalem, Nichtvernünftigem oder Un-
vernünftigem oder gar Widervernünftigem, sondern – in der Perspektive
der Sinnbedingungen von Vernunft selbst – in etwas Transrationalem,
Übervernünftigem, das keineswegs unvernünftig ist. Wenn die religiöse
Rede und Praxis bekennend, bezeugend und betend, rituell und sakra-
mental, meditativ und kongregativ den ungeschuldeten Geschenkcha-
rakter aller Wirklichkeit artikuliert und kultiviert – und zwar unter
Einschluss der ethischen und moralischen Wirklichkeit – dann lässt sich
solche Praxis als kulturell gestaltete, gelebte Einsicht in die transpragmatischen
Sinnbedingungen einer humanen Welt verstehen. Wo sie dies nicht ist – in
Fanatismus, Dogmatismus und den vielen Irrationalismen, von denen alle
menschliche Praxis durchsetzt ist, wo sie politisch funktionalisiert oder
zur Aufrechterhaltung ethisch und politisch verurteilenswerter Verhält-
nisse instrumentalisiert wird –, da kommt es zu Perversionsformen, die
der Kritik um willen des genuinen Wahrheitsanspruchs von Religion zu
unterziehen sind.
(1.) Es ist zunächst die Einsicht, dass wir das Ganze der Welt nicht
erkennen können. Erst recht steht uns das Ganze der Welt handelnd nicht
zur Verfügung. Nur partiale Aspekte der Welt sind uns, selbst wiederum
nur sehr partial, diskursiv-zeitlich, perspektivisch-räumlich, kurz: durch
und durch endlich und zeitlich begrenzt zugänglich. Kantisch und als
2 Immanuel Kant, Kants Opus Postumum, hg. von Artur Buchenau, Berlin 1936,
Nr. 9132.
262 Teil 1. Religionsphilosophie
3 Vgl. Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000.
Religion und negative Metaphysik 263
ernd neu und unüberbietbar evident. Kern ekstatischer Vernunft war und
ist hier die Kategorie des Opfers, ihre negativ-praktische Grundeinsicht
die, dass ungeschuldete Opfer die humane Welt wesentlich ausmachen – und
tragen. Die Opfer mitsamt ihrer Leidensgeschichte tragen mithin das, was
trotz der heillosen Menschengeschichte der Weltkriege, von Holocaust
und Hiroshima, trotz Kosovo und Ost-Timor im vernünftigen Be-
wusstsein zu behalten ist. Dass es Opfer, Solidarität und die Achtung und
Rettung des Anderen als des einzelnen, konkreten Mitmenschen doch
inmitten unvorstellbarer Verhältnisse gab und gibt, davon leben auch alle
sinnvollen Weiterentwicklungen einer humanen Welt. Dass es solche
Weiterentwicklungen geben wird, das ist nicht garantiert und das können
wir nicht wissen, sondern das ist unüberbietbar auf Hoffnung gestellt.
Ekstatische Vernunft entfaltet sich zeitlich und endlich somit in den
Formen des Eingedenkens und der Hoffnung inmitten einer praktisch be-
griffenen Gegenwart. Ein Leben in der gemeinsamen Hoffnung auf
Frieden gehört zu ihrem Kernbereich.
Hier wird auch sichtbar, dass angesichts der Negativität der Trans-
zendenz-Aspekte auch Haltungen des Nihilismus, der Resignation und
der Verzweiflung verständlich und verbreitet sind. Sie gehören zur Frei-
heitsdimension religiöser Vernunft.
Die einmalige, endliche Ganzheit menschlichen Lebens ist irredu-
zibel auf technisch herstellbare Verhältnisse und instrumentell erreichbare
Formen von Wissen. Die Unwiederbringlichkeit und Irreversibilität der
Vergangenheit, der schwindende Augenblick und die Offenheit und
Unbestimmtheit der Zukunft ermöglichen Verantwortung und Schuld,
Verfehlung und moralisches Scheitern, das nicht zu tilgen ist. Diese
Verschränktheit von Endlichkeit, Unbedingtheit und (moralischem) Sinn
bewusst zu machen und kulturell in Formen gelebter kommunikativer
Praxis meditativ und kongregativ bewusst zu halten, ist eine spezifische
Leistung religiöser Vernunft. Sie vermag für die ethischen Aspekte so-
zialer Transzendenz zu sensibilisieren. Die Traditionen des ethischen
Monotheismus in Judentum, Christentum und Islam stehen auch für
diese Kultivierungsleistung, die eine Daueraufgabe der werdenden
multikulturellen Weltgesellschaft ist und bleiben wird. Dazu braucht es
mehr denn je ein Bewusstsein von der Ferne, der Entzogenheit und der
Würde des Anderen und der Achtung des Fremden in seiner Alterität. Die
universalistischen Potentiale der religiösen, ekstatischen Vernunft spre-
chen von den Anderen als Geschöpfen Gottes, als Brüder und Schwes-
tern. Der praktische Wahrheitsanspruch dieser Sprache ist funktionalis-
tischen Depotenzierungen vollends inkommensurabel.
266 Teil 1. Religionsphilosophie
4 Vgl. dazu Agnes Heller, „Politik nach dem Tode Gottes“, in: Jörg Huber/Alois
M. Müller (Hg.), Instanzen/Perspektiven/Imaginationen, Frankfurt a.M./Basel
1995, 75 – 94; und Thomas Rentsch, Art. „Theologie, negative“, in: Joachim
268 Teil 1. Religionsphilosophie
Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Hist. Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel
1998, Sp. 1102 – 1105.
Negative Theologie, Transzendenz
und Existenz Gottes
Lange Zeit schien die Frage nach Gott aus dem Zentrum des philoso-
phischen Diskurses an den Rand gewichen zu sein. Religionsphilosophie
und das Gespräch zwischen Philosophie und Theologie waren bis in die
Mitte des vergangenen Jahrhunderts intensiv entwickelt. Dafür stehen
Namen wie Karl Barth, Rudolf Bultmann, Karl Rahner, Ernst Bloch,
Paul Tillich und Karl Jaspers. Nachdem aus vielen Gründen seit Mitte der
60er Jahre andere Themen in den Vordergrund rückten, ist mittlerweile
die Wiederholung der expliziten systematischen Reflexion auf die Frage
nach Gott in der Philosophie und im Blick auf gesellschaftliche und
interkulturelle Diskurse nötig, ja unverzichtbar geworden.1 Die Gründe
für diese Unverzichtbarkeit sind, ganz kurz gefasst: Erstens das immense
weltpolitisch bedeutsame Erstarken religiöser Fundamentalismen auf
christlicher wie islamischer Seite, zweitens das von Habermas so genannte
Phänomen des Postsäkularismus. Bei letzterem Phänomen handelt es sich
um ein treffendes Schlagwort für die Tatsache, dass sich auf Dauer die
existentiellen, ehemals metaphysischen Grundfragen nach dem Sinn des
Lebens und nach Gott nicht abweisen und verdrängen lassen. Vor we-
nigen Jahren noch hatte derselbe Habermas das „nachmetaphysische“
Zeitalter angekündigt, verkennend, dass es von den metaphysischen
Grundfragen und ihrer Bedeutung für die Praxis keinen Abschied in der
Reflexion geben kann, werden sie nun ontologisch, bewusstseinsphilo-
scheiden. Das aber ist auf einer bloßen Gefühlsebene, im Medium des
Subjektivismus, unmöglich.
Ein weiteres Missverständnis im Blick auf die Gottesfrage besteht in
einem kulturellen Relativismus. Dieser liegt einem aufgeklärten und li-
beralen Selbstverständnis mit geschichtlicher Bildung und in einer Welt
der Globalisierung natürlich besonders nahe. Und ist es nicht gerade zu
von überwältigender Evidenz, dass die Gottesvorstellungen der Reli-
gionen einer diachronen wie synchronen Relativität unterliegen, dass sie
Produkt und Teil geschichtlicher Gesellschaftssysteme sind, ebenso wie
aufgeklärter Atheismus oder profane Gleichgültigkeit in religiösen
Dingen im modernen säkularen Staat? Aber diese Perspektive ist aus
philosophischer Sicht unbefriedigend, unzulänglich und oberflächlich. In
der Frage nach Gott und nach lebenstragender Wahrheit kann ich als
Philosophierender nicht, wie der Ethnologe, der Soziologe, der Histo-
riker, eine bloße Beobachterposition einnehmen. Relativismus ist nur ein
Subjektivismus im großen Stil, ein Bild, das sich aus der Beobachter-
perspektive ergibt. In lebensbezogenen, praktischen Belangen – auch z. B.
im Bereich der Ethik und der Moral – müssen wir in der philosophischen,
kritisch-hermeneutischen Reflexion eine Teilnehmerperspektive, eine
Perspektive persönlicher Betroffenheit und gerade darum eine Per-
spektive der Orientierung an Wahrheitsansprüchen, an allgemeiner
Vernunft und Geltung einnehmen. Gottesverständnisse wie überhaupt
religiöse Lebensformen lassen sich relativistisch nicht begreifen. Es ist
unmöglich, sie von außen und objektivistisch zu rekonstruieren.
Ebenso letztlich abzuweisen sind entfremdungstheoretische Analysen
des menschlichen Gottesverständnisses, wie sie in den schon klassischen
Ansätzen von Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud ausgearbeitet
wurden. Der Glaube und die Orientierung an Gott lassen sich nicht
einseitig als Wunschvorstellung, Symptom von Todesangst, Schuld-
komplexen und Projektionen des Unbewussten, als Reflex ökonomi-
scher Verhältnisse verstehen. Selbst, wenn solche Aspekte bei der Reli-
gionsentstehung eine Rolle spielten, selbst, wenn gegenwärtige
Religionen starke Entfremdungstendenzen aufweisen – auf sie ist das
Gottesverständnis nicht reduzibel. In diesem Zusammenhang ist es zu-
nächst wichtig, grundsätzlich festzustellen, dass es Religion und Got-
tesglaube in der Tat von Beginn an auch mit den tiefsten Ängsten und
Kümmernissen und mit der Todesangst zu tun haben – mit der End-
lichkeit des Menschen, mit den unumstößlichen Gegebenheiten seiner
Wirklichkeit: mit Schuld und Scheitern, mit irreversiblem Versagen, mit
den Grenzen des Lebens. Die entfremdungstheoretischen Deutungen
Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes 275
und dem Gerechten, Gott und dem Glück besteht. Mehr noch: Erst,
wenn diese Differenz wirklich präzise deutlich wird, tritt die genuine
Ebene des Transzendenzbezugs, des Absoluten und einer spezifisch
philosophisch-theologischen Dimension von Wahrheit und Geltung in
den Blick. Denn der Kern religiöser Sprache besteht nicht in ethischen
Forderungen, sondern in transethischen, das Sein betreffenden Kategorien,
die die ethische Dimension aber freisetzen. Die Frage nach Gott hat es mit
Grenze, Grund und Sinn unseres Seins und mit unserem Welt- und
Selbstverständnis im Ganzen zu tun.
Mit diesen sieben Schritten einer zeitgemäßen modernen negativen
Theologie sind zunächst objektivistische, quasi-naturwissenschaftliche,
subjektivistische, psychologische, relativistische, entfremdungstheoreti-
sche, funktionalistische, fiktionalistische und moralistische Zugänge zur
Gottesfrage zurückgewiesen. Entscheidend ist, dass wir neben der Zu-
rückweisung Vertreter dieser Verständnisse mit ihren Gründen und
Motiven zugleich rekonstruieren und ihrerseits verstehen können sollten.
Die zurückgewiesenen Auffassungen führen Wahrheitsaspekte mit sich, die
in späteren Schritten im Hegelschen Sinne aufgehoben werden müssen,
ohne dass man bei ihnen stehen bleibt. Es handelt sich um Partialaspekte.
Um sie angemessen zu verstehen, benötigen wir eine philosophische
Theologie, eine Theologie, die eine begründete Antwort auf die Frage
nach Gott für die Gegenwart gibt.
cher Eigenname wie „Peter“ oder „Paul“. Das Wort bezeichnet kein
Individuum im üblichen, innerweltlichen Sinne. Wenn wir Kern-Sätze
religiöser Rede betrachten, die im Zentrum von Bekenntnissen stehen,
zum Beispiel: „Ich glaube an Gott, den Schöpfer der Welt“ und „Ich
glaube, dass Gott Schuld vergibt“, dann wird deutlich, dass Gott als
handelndes Subjekt vorgestellt wird, dem die Eigenschaften der Allmacht
und der Liebe zukommen. Andererseits sind die bildlichen Vorstellungen
anthropomorpher Art – Gott „sieht“, „spricht“, „handelt“, „liebt“ – stets
dann missverständlich, wenn wir solche Ausdrucksformen zu eigentli-
chen und realistischen Vorstellungen etwa von einem großen Menschen
verselbständigen.
Der praktische Geltungssinn der Ausdrucksformen ist dennoch
sinnvoll und vernünftig verstehbar. So bedeutet „Gott sieht alles“ zum
Beispiel: Ich bin stets unbedingt verantwortlich, mein ganzes Leben steht
im Horizont von Vernunft und Freiheit, nur so kann ich ein authentisches
Selbstverständnis entwickeln und zu mir selbst werden. Aber, wie schon
Wittgenstein bemerkt, sind konkrete Vorstellungen von den „Augen“
Gottes oder gar seinen „Augenbrauen“ abwegig und irreführend. Das darf
weder zur Abwertung kindlichen Glaubens in seiner genuinen Au-
thentizität noch zur hochmütigen Diskreditierung naiver Frömmig-
keitsformen führen, die beide gelungenere Lebensformen sein können als
verbreitete Formen eines „aufgeklärten“ Materialismus und Zynismus.
Dennoch muss der philosophische Anspruch dahin gehen, die Rede
von Gott so zu verstehen, dass wir auch die Wirklichkeit Gottes, die
Dimension seines schöpferischen Wirkens, seines Handelns, und die
Einzigkeit Gottes denken und explizieren können. Dies wird möglich,
wenn wir das Wort „Gott“ selbst als einzigartiges Wort verstehen – als
eigene Wortart mit nur einem Wort, das wie ein Name fr den Grund des
sinnerschließenden, sinnerçffnenden Transzendenzgeschehens steht. Damit ist
verbunden, dass über die Grenze des Dass der Welt (des Seins des Sei-
enden), des gleichursprünglichen Dass des Seins des Sinns der Sprache
und des unerklärlichen Dass unserer eigenen, konkreten Existenz hinaus
nichts gedacht werden kann. Alles jedoch, was wir sind und erfahren, ist nur
möglich und wirklich in, mit und durch das einzigartige, vorgängige,
prozessuale Transzendenzgeschehen, welches uns Vernunft und Freiheit,
Wahrheit und Gutes eröffnet. Diese Stiftung, Eröffnung und Schöpfung
aber, dieser Hervorgang ist real und konkret. Die Trans-
zendenzdimension erschließt die innere Unendlichkeit der Wirklichkeit,
sie ermöglicht unser eigenes Transzendieren – auf selbst unfassbare, un-
erklärliche Weise, denn alles Fassbare und alles Erklärliche wird durch sie
286 Teil 1. Religionsphilosophie
erst möglich. Auf diese Weise wird deutlich: Der einzigartige Name
„Gott“ bezieht sich auf das unfassbare, authentische Wunder des Seins und des
Seins des Sinns, welches den Ursprung des gesamten Universums ebenso
einbegreift wie jeden konkreten, gelebten Augenblick in unseren je
einzigartigen Lebensvollzügen.
Philosophische, kritisch-hermeneutische und sinnexplikative Theo-
logie kann bis zu dieser einzigartigen Seins-, Sinn- und Schöpfungsdi-
mension vorstoßen, von der wir, recht verstanden, in jedem Augenblick
leben: Im Atmen und Fühlen, im Sehen und Hören, in den Erfahrungen
der Erfüllung und Versagung, in den Modi kommunikativer Hilfe und
wechselseitiger Anerkennung, in den Möglichkeiten des Denkens. Gott
darf nicht mit unseren Vorstellungen, Gedanken, Erfahrungen identifi-
ziert werden, die allesamt den absoluten Sinngrund schon voraussetzen.
Deswegen ist auch die Rede von der Abwesenheit Gottes sehr berechtigt
und sinnvoll. Wenn Menschen in ihrer durch Gott ermöglichten Praxis
die Orientierung an Vernunft und Freiheit, an Wahrheit und Liebe
verlieren oder bewusst in Lüge, Hass und Mord pervertieren, dann büßen
sie die von Gott gegebene Sinnperspektive ein. Das böse Handeln ist
bereits selbst die Strafe. Es ist identisch mit der Ferne Gottes für dieje-
nigen, die den unbedingten Sinn ihres Seins verderben. Indem wir
„Gott“ als Eigennamen des einzigartigen Dass des Seins des Sinns ex-
plizieren, können wir neben den negativ-theologischen Explikations-
traditionen auch die Eminenztraditionen in ihrer Berechtigung verste-
hen. Insbesondere die berstiegs- und Hyperformeln des Neuplatonismus
artikulieren ja die erkenntniskritische Einsicht in die Grenze unseres
Erkennens, die wir als Grenze und ineins als sinnermöglichenden,
sinneröffnenden Grund unserer Welt, unserer Existenz und unserer ei-
genen Entwürfe expliziert haben. Auch die traditionellen theologischen
Feststellungen ber Analogien lassen sich sinnvoll verstehen. Gott ist „wie ein
guter Vater“ – ohne die uns real ermöglichenden Sinnbedingungen und
ihre noch jetzt wirksame Macht wären wir gar nicht. Gott ist „wie das
Licht“ – der Grund, das Dass des Sinns des Seins ist selbst nicht sichtbar,
aber alles wird sichtbar, erkennbar, wahrnehmbar, erfahrbar und kom-
munizierbar durch ihn, durch den sinneröffnenden Transzendenzprozess.
Begreifen wir als wirklich nicht krude Gegenstndlichkeit: Steine, Atome,
Dinge, szientifisch reduzierte Quantitäten, sondern begreifen wir das
Wirkliche als die konkrete Lebenswirklichkeit, in der Menschen im höchsten
Maße vernünftige, freie, Sinn erfahrende und entwerfende Wesen sind
und sein können, dann ist uns Gott nirgends nher als in authentischer
existentieller und interexistentieller Praxis: wenn wir uns selbst trans-
Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes 287
1
Die Prognosen vom Ende der Religion, vom „Tod Gottes“ und von
einer vollendeten Säkularisierung haben sich als verfehlt erwiesen.
Vielmehr ist die Permanenz der Vielfalt religiöser Orientierungen – auch
im Blick auf eigenartige Transformations- und Umbesetzungsprozesse –
das eigentlich zu begreifende Phänomen. Mehr noch: Gerade die
weitreichenden und tiefgreifenden Ansätze der Religionskritik von
Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud lassen sich in langfristiger Per-
spektive als produktive Beiträge zur Rekonstruktion religiöser Sinnan-
sprüche verstehen. Die Entfremdungs- und Projektionsanalysen der ra-
dikalen Religionskritik dienen ex negativo der Freilegung authentischer
religiöser Rationalität. Nietzsches Illusionskritik und Freuds tiefenher-
meneutische Analysen von Verdrängungsprozessen sind, wo sie triftig
sind, bereichernd, hilfreich und klärend für ein kritisches philosophisches
Religionsverständnis. Freilich dürfen die Entfremdungsanalysen nicht
verabsolutiert werden – denn dann werden sie selbst zur Ideologie.
Geschärftes Bewusstsein von verzerrten, verfehlten und repressiven
Formen von Religion führt, recht verstanden, zu einer aufgeklärten,
autonomen Perspektive auf die religiöse Sinndimension. Dieses Be-
wusstsein schärft auch die Wahrnehmung der zur kulturell entwickelten
Religion konstitutiv gehörenden innerreligiösen Religionskritik: in der
Gestalt der Kritik an falschen Göttern und Götzen und irrigen Gottes-
vorstellungen in den drei monotheistischen Weltreligionen, im Kampf
des Buddhismus gegen verdinglichte Selbst- und Weltverständnisse, in
auf Befreiung und sittliche Praxis zielender religiöser Lehre. Religions-
Religion und Philosophie 291
kritik ist gut für Religion. Der Zusammenhang des Heiligen auch mit
Gewalt und Macht verdient kritische Reflexion.1
Auch das spannungsreiche Verhältnis der Religionen zu den Wis-
senschaften, wie es sich im 20. Jahrhundert entfaltet hat, lässt sich phi-
losophisch produktiv rezipieren. Die ethnologischen, psychologischen
Untersuchungen und insbesondere die funktionale Religionssoziologie,
wie sie paradigmatisch von Niklas Luhmann entwickelt wurde, enthält
viele wichtige Einsichten in die soziale und pragmatische Bedeutung
religiöser Praxis. Sie ist zumindest teilweise kompatibel mit den leitenden
Thesen des Pragmatismus in der Religionsphilosophie von Dewey und
William James. Religionen lassen sich (zumindest auch) in ihrer prag-
matisch-sinnkonstitutiven Funktion angesichts der unverfügbaren Be-
dingungen des menschlichen Lebens verstehen und untersuchen. Den-
noch ist ihre Bestimmung als Kontingenzbewältigungspraxis2
religionsphilosophisch partial und missverständlich. Sie bricht den Re-
ligionen die kreative Sinnspitze ab. Die praktische Dimension z. B. der
christlichen Verkündung – von den zehn Geboten bis zur Bergpredigt
Jesu – lässt sich nicht als funktionale Kontingenzbewältigung begreifen.
Auch die Entwicklung der Naturwissenschaften in der Moderne trägt
bei näherer Betrachtung zur Klärung des genuinen Status von Religion
bei: Philosophisch lässt sich ein Ausdifferenzierungsprozess konstatieren,
naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit sind zweierlei. Die sinn-
kriteriale Ablösung der religiösen Dimension von kosmologischem,
physikalischem Wissen, von einer quasi-empirischen Verortung des
Jenseits, von einer supra-naturalistischen „Vorhandenheitsontologie“
(Heidegger) bzw. einer Vorhandenheitssemantik (im Sinne der Sprach-
kritik Wittgensteins) setzt die kritischen Arbeiten Kants fort, dessen ge-
samte Vernunftkritik der leitenden Intention folgt, das Wissen einzu-
schränken, um dem Glauben einen ihm angemessenen Ort
wiederzugeben. Von dieser sinnkriterialen Ausdifferenzierung her er-
scheint das gesamte System Kants in einer gleichermaßen religionskriti-
schen wie religionsrettenden, um philosophische Theologie und die
Dimension des „Intelligiblen“ zentrierten Perspektive.
1 Dazu instruktiv: Ludwig Nagl (Hg.), Religion nach der Religionskritik, Wien/Berlin
2003 sowie Matthias Lutz-Bachmann, „Religion nach der Religionskritik“, in:
Theologie und Philosophie 3 (2002) 374 – 388; vgl. René Girard, Das Heilige und die
Gewalt, Zürich 1987 (Paris 1972).
2 So Herrmann Lübbe, Religion nach der Aufklrung, Graz 1986.
292 Teil 1. Religionsphilosophie
2
Auf diesem Hintergrund ist es von besonderer Bedeutung, dass die
moderne philosophische Entwicklung in ihren wichtigsten Ausprägun-
gen zunächst durch eine latente Präsenz des Religiösen charakterisiert ist.
Diese latente, indirekte Präsenz wird dann in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts in weiterführende systematische Ansätze der Religions-
philosophie überführt, die verstärkt eine explizite Thematisierung von
Religion unternehmen. Schließlich führt diese Entwicklung in jüngster
Zeit zu philosophischen Entwürfen, die die Wahrheit von Religion, die
Frage nach Transzendenz, dem Absoluten und nach Gott erneut syste-
matisch angehen.
Betrachtet man die wichtigsten und einflussreichsten Philosophen des
20. Jahrhunderts, so wird sichtbar, dass sie ohne „religiöse Glutkerne“
nicht verstehbar sind. Und das gilt nicht für ihre expliziten Ausarbei-
tungen zur Religion und zur Religionsphilosophie, sondern es gilt für
den Zentralbereich ihrer Systematik. Dies sei kurz an Heidegger, Jaspers,
Wittgenstein, Benjamin, Adorno, Horkheimer, Habermas und Derrida
aufgezeigt.
4 Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische
Einfhrung, München 1989 sowie ders. (Hg.), Martin Heidegger: Sein und Zeit,
Reihe Klassiker Auslegen, Berlin 2001.
5 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1964.
6 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M. 1954 – 1959.
7 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis, 1936 – 1938),
Frankfurt a.M. 1989.
294 Teil 1. Religionsphilosophie
8 Vgl. Rentsch, Das Sein und der Tod (Anm. 4), 175 – 221.
9 Das Interview stammt vom 23.9.1966. Veröffentlicht in: Der Spiegel (31. Mai
1976) 193 – 219.
10 Karl Jaspers, Philosophie III Metaphysik, München 1994 (Heidelberg 1932) sowie
ders.: Chiffren der Transzendenz, München 1970.
Religion und Philosophie 295
11 Paul Tillich, Religionsphilosophie, Stuttgart 1962; ders.: Der Mut zum Sein,
Stuttgart 1968.
12 „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle mçglichen wissenschaftlichen Fragen beant-
wortet sind, unsre Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ (Tractatus logico-
philosophicus 6.52)
13 Maurice O’Connor Drury, „Some notes on conversations with Wittgenstein“,
in: Rush Rhees (Hg.), Ludwig Wittgenstein: Personal Recollections, Oxford 1981,
102.
14 Ebd., 94.
15 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen und Gesprche ber sthetik, Psychologie und
Religion, Göttingen 21971. Zu Wittgensteins Religionsphilosophie: Friedo Ri-
cken, Religionsphilosophie, Stuttgart 2003, v. a. 29 – 56.
296 Teil 1. Religionsphilosophie
Maße für ihren Urvater Walter Benjamin und auch für ihre klassische
Gestalt bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Benjamins
ganzes Denken entfaltet eine radikalisierte Form der Dialektik zwischen
absolut gedachter Transzendenz und dem historisch-materialistisch
konzipierten Geschichtsprozess. Er entwickelt ein irreduzibles Trans-
zendenz- und Eschatologieverständnis, welches sich begrifflich völlig der
Funktionalisierung und auch der politischen Indienstnahme verweigert,
und das gerade so ein vertieftes Verständnis von Profanität und Säkula-
risierung erreicht. Gott und Welt, Transzendenz und Profanität,
Eschatologie und Geschichte, Erlösung und Befreiung werden radikal
unterschieden, gerade um eine radikal kritische Instanz der Infragestel-
lung aller Immanenz festzuhalten. Nur die Perspektive absoluter Trans-
zendenz entbirgt ein anamnetisches – ein „Eingedenken“ ermögli-
chendes – und auch auf Zukunft gerichtetes Vernunftpotential, das in
keinem linearen Fortschrittsoptimismus aufgehoben werden kann. Die
authentische Transzendenzperspektive allein eröffnet nach Benjamin die
Tiefenstruktur der praktischen Vernunft und die Dimensionen des Ge-
dächtnisses, der Erinnerung an das Leiden der Unschuldigen. Für die
Gegenwartsdiskussion besonders relevant ist im Ansatz Benjamins, dass
für radikal gedachte Transzendenz keine weltlichen Substitute oder
Surrogate möglich sind. Mythisierungen weltlicher Instanzen, politische
Hoffnungen als Hoffnungen auf endgültiges Heil, Herrschaftsformen als
göttlich legitimiert – das sind fundamentale Missverständnisse, die sich in
der Praxis verheerend auswirken. Nur im Widerschein absoluter Trans-
zendenz zeigen sich die transpragmatischen Sinnbedingungen aller Praxis
und Rationalität: „Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das
Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach
dem Löschblatt, so würde nichts was geschrieben ist, übrig bleiben
[…].“16
In veränderter Form bleibt dieser sinnkonstitutive Trans-
zendenzbezug der Kritischen Theorie erhalten, wenn Max Horkheimer
die „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ im Zentrum seines Denkens
expliziert. Die Kritik der instrumentellen Vernunft hat eine theologische
Tiefendimension. Horkheimer konstatiert apodiktisch: „Einen unbe-
16 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, N8, 1 (GS V) 588. Man vergleiche diese
Aussage mit dem Diktum Wittgensteins, Anm. 14.
Religion und Philosophie 297
dingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel.“, und „Zugleich mit Gott
stirbt auch die ewige Wahrheit.“17
In Adornos Theorie nimmt die reflexive Bezugnahme des philoso-
phischen Denkens auf ein Absolutes systematisch eine charakteristisch
transformierte Gestalt an. Da das Absolute nicht mehr positiv gedacht
oder gar expliziert werden kann, „wird es“ nach einer treffenden For-
mulierung Michael Theunissens „immer kleiner“.18 Der Kern dieses
Denkens ist das – ebenso wie das „Mystische“ Wittgensteins und das
„Sein“ Heideggers – unsagbare, prädikativ nicht vergegenständlichbare
„Nichtidentische“. Dass alles identifizierende, vorstellende Denken
dieses Nichtidentische notwendig verfehlt, ist Grundlage der „Negativen
Dialektik“.19 Auf diese Weise leitet eine negative, eschatologische Utopie
unverkürzter, liebender Erkenntnis und nicht-verdinglichter Indivi-
dualität Adornos Gesellschaftskritik, seine „Ästhetische Theorie“ und
seine Musikästhetik. Erst der eschatologische Zusammenfall von ästhe-
tischer Erfahrung und begrifflicher Diskursivität ergäbe Adorno zufolge
die „wahre Sprache“, deren Idee „die Gestalt des göttlichen Namens“
ist.20 In seinen bahnbrechenden Analysen zur modernen Kunst und
Musik verbindet Adorno eine neuplatonisch inspirierte Ästhetik von
Ekstasis, Pleroma (erfüllter Augenblicklichkeit) und Plötzlichkeit (Plotin:
exaiphnes) mit Elementen einer kenotischen Christologie. Schönbergs
Musik hat „alle Dunkelheit und Schuld der Welt […] auf sich genom-
men.“21 Spuren der Transzendenz, Spuren des Absoluten gibt es bei
Adorno zwar in „kleingewordener“ Form, im scheinbar Marginalen, in
kurzen Momenten der Kindheit, der ästhetischen Erfahrung oder in
entfremdeten und dennoch auf Erfüllung hin geöffneten Alltagssitua-
17 Vgl. dazu Jürgen Habermas, „Zu Max Horkheimers Satz ,Einen unbedingten
Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel‘“, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt a.M.
1991, 110 – 126.
18 Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in: Ludwig v. Friedeburg/
Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a.M. 1983, 41 – 65,
dort 65.
19 Dazu Thomas Rentsch, „Vermittlung als permanente Negativität. Der Wahr-
heitsanspruch der „Negativen Dialektik“ auf der Folie von Adornos Hegelkri-
tik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 252 – 270.
20 Theodor W. Adorno, Fragment ber Musik und Sprache, in: ders., Gesammelte
Schriften Bd. 16, Frankfurt a.M. 1978, 252.
21 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: ders., Gesammelte
Schriften Bd.12, Frankfurt a.M. 1975, 126.
298 Teil 1. Religionsphilosophie
faltet sich der rationale Sinn von normativer Geltung.“27 Obwohl sich
Habermas später differenziert mit religiösen Wahrheitsansprüchen aus-
einander setzt, stellt er fest: „Nachmetaphysisches Denken unterscheidet
sich von Religion dadurch, dass es den Sinn des Unbedingten rettet ohne
Rekurs auf Gott oder ein Absolutes.“28
Dennoch wird er zunehmend sensibel dafür, „dass die monotheisti-
schen Traditionen über eine Sprache mit einem noch unabgegoltenen
semantischen Potential verfügen, das sich in weltaufschließender und
identitätsbildender Kraft, in Erneuerungsfähigkeit, Differenzierung und
Reichweite“ gegenüber „säkularen Traditionen“ „als überlegen er-
weist“.29 Deutlich wird diese Sensibilität in Habermas’ Rede zum Frie-
denspreis des Deutschen Buchhandels: „Säkulare Sprachen, die das, was
einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich
Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß
gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“30 Es geht
Habermas in der Tradition Kants daher um „eine säkularisierende und
zugleich rettende Dekonstruktion von Glaubenswahrheiten“: „Wer ei-
nen Krieg der Kulturen vermeiden will, muss sich die unabgeschlossene
Dialektik des eigenen abendländischen Säkularisierungsprozesses in Er-
innerung rufen.“31 Das heißt: Der Prozess der Aufklärung im Dialog
zwischen Religion und Philosophie ist offen und geht weiter.
Auch das Denken des neben Deleuze und Lyotard wichtigsten
Philosophen des französischen Poststrukturalismus, der Postmoderne und
Dekonstruktion, von Jacques Derrida, ist ohne einen religiösen, negativ-
theologischen Hintergrund nicht zu begreifen. Sein Grundbegriff der
Differenz meint – in sprachphilosophischer Fortführung Heideggerschen
Denkens – den sprachlichen Sinn, dessen Abwesenheit man nie in An-
wesenheit verwandeln kann. Strukturell der traditionellen Konzeption
der Ferne und Nähe, der abwesenden Anwesenheit Gottes konform,
entfaltet sich um die Differenz eine Gruppe ehemals metaphysischer
Begriffe, deren wichtigster der der „Spur“ ist. Wir erreichen je nur
Spuren sich zeigenden Sinns. Dies lehrt auch die neuplatonische Theo-
logie Plotins mit ihrem Begriff der Spur (ichnos) des Einen, ebenfalls
Augustinus, der die Spur als vestigium Gottes bezeichnet.32 Der religiöse,
negativ-theologische, mystische Subtext des Denkers der entzogenen
Schrift ist in seinen vielen Werken überall präsent. Als algerischer Jude
beerbt Derrida so die Lehre von der verborgenen Thora. In weiteren
großen Texten zu „Glaube und Wissen“ und zur Sprache des Gebets
expliziert Derrida immer deutlicher seine lebenslange Bezogenheit auf
religiöse Ursprünge und die „Rückkehr des Religiösen“ in der modernen
Welt: „Die ,Tode Gottes’, auf die man vor dem Christentum, im
Christentum und jenseits des Christentums stößt, sind […] Figuren und
Peripetien einer […] Anwesenheit einer Abwesenheit. Das Nichter-
zeugbare, das so immer wieder erzeugt wird, ist der leere Ort. Ohne Gott
kein absoluter Zeuge.“33 Er reflektiert „die weltweite Latinisierung ( jenes
eigentümliche Bündnis des Christentums als Erfahrung von Gottes Tod
mit dem fernwissenschaftstechnischen Kapitalismus)“, die „eine hege-
monische Position einnimmt und zugleich an ihr Ende gelangt, über-
mächtig und fast schon erschöpft.“34 Er macht deutlich, dass der absolute
Wert des menschlichen Lebens – gegen allen Marktpreis und gegen alle
Biotechnologie „die unendliche Transzendenz bezeugt, die dem, was
mehr wert ist als es selbst, eignet“ – „die Göttlichkeit, das Allerheiligs-
te“.35 In seinen Interpretationen arbeitet Derrida konsequent und dra-
matisch die konstitutiv religiösen und theologischen Prämissen des
Kantschen Denkens wie der westlichen Moderne insgesamt heraus. Er
rekonstruiert eine gegenwärtige Konstellation, die sich „zwischen einer
Sakralität ohne Glaube (Anzeichen dieser Algebra: ,Heidegger’) und
einer Heiligkeit ohne Sakralität (…) (Anzeichen: ,Lévinas‘ (…))“ ab-
zeichnet.36 Seine persönlichen Reflexionen zur Gebetspraxis vertiefen
das Bewusstsein dieser Konstellation auf eindrucksvolle Weise.37
32 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972; ders.,
Randgnge der Philosophie, Wien 1988.
33 Jacques Derrida, „Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ,Religion‘ an den
Grenzen der bloßen Vernunft“, in: ders./Gianni Vattimo, Die Religion, Frankfurt
a.M. 2001, 9 – 106, dort 47.
34 Derrida, Glaube und Wissen, 25.
35 Derrida, Glaube und Wissen, 84.
36 Derrida, Glaube und Wissen, 103.
Religion und Philosophie 301
37 Vgl. dazu John D. Caputo, „Die différance und die Sprache des Gebets“, in:
Florian Uhl/Artur R. Boelderl, (Hg.), Die Sprachen der Religion, Berlin 2003,
293 – 315.
39 Emmanuel Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfllt. Diskurse ber die Betroffenheit von
Transzendenz, Freiburg 1985.
40 Hans-Georg Gadamer, „Metaphysik und Transzendenz“; „Der letzte Gott“,
beide in: ders., Die Lektion des Jahrhunderts. Ein Interview von Riccardo Dottori,
Münster 2002, 72 – 87 und 140 – 153; vgl. auch ders., Sein Geist Gott (1977),
Gesammelte Werke Bd. 3, Tübingen 1987, 320 – 332. Auch das Werk Paul
Ricoeurs thematisiert im Zentrum religiöse Fragen; vgl. dazu Paul Ricoeur/
Yvanka B. Raynova, „Der Philosoph und sein Glaube“, in: Deutsche Zeitschrift
für Philosophie 1(2004), 85 – 112.
41 Gianni Vattimo, „Die Spur der Spur“, in: Jacques Derrida/ders., Die Religion,
107 – 123; vgl. ders., Glauben – Philosophieren, Stuttgart 1997.
42 Charles M. Taylor, Die Formen des Religiçsen in der Gegenwart, Frankfurt a.M.
2002.
43 Charles M. Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, 85; vgl. sein
Hauptwerk: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität,
Frankfurt a.M. 1994.
44 Charles M. Taylor, „Ein Ort für die Transzendenz?“, in: Information Philo-
sophie 2 (2003) 7 – 16.
302 Teil 1. Religionsphilosophie
45 Ebd., 15.
46 So z. B. Dewi Z. Phillips, The concept of prayer, London 1965.
47 Hilary Putnam, „God and the Philosophers“, in: Midwest studies in philosophy 21
(1997) 175 – 187; ders., „On Negative Theology“, in: Faith and Philosophy 14
(1997) 407 – 422.
48 Richard Swinburne, Die Existenz Gottes, Stuttgart 1987.
49 Alvin Plantinga, God, Freedom, and Evil, New York 1974.
50 John Leslie Mackie, Das Wunder des Theismus. Argumente fr und gegen die Existenz
Gottes, Stuttgart 1985.
Religion und Philosophie 303
3
Das Verhältnis von Philosophie und Religion lässt sich am Schluss unserer
knappen Darstellung im Blick auf Probleme, offene Fragen und syste-
matische Anforderungen mit folgenden Bemerkungen präzisieren. Ob-
wohl lange nicht explizit genug bedacht, zeigt der genaue Blick auf die
wesentlichen Leistungen der Philosophie der Moderne, auf Heidegger,
Wittgenstein, Adorno, Derrida und andere Denker, dass diese Philoso-
phien in ihrem Zentrum selbst eine mehr oder weniger ausgebildete re-
ligiçse Tiefendimension aufweisen. Sie haben einen religiösen Kern, ohne
den sie gar nicht denkbar sind. Auch Fergus Kerr hat in einer sehr in-
struktiven Untersuchung herausgearbeitet, dass die moderne Philosophie
entgegen weit verbreiteter Meinung in säkularisierter Form tief von
religiösen Motiven geprägt ist. In seinen Stanton Lectures an der Uni-
versität Cambridge analysiert er die theologische Tiefendimension der
Philosophien von Martha Nussbaum, Iris Murdoch, Luce Irigaray,
Stanley Cavell und Charles Taylor.54 Er zeigt, dass in allen diesen An-
sätzen Wege des Transzendierens des Menschlichen um des Menschen
Willen leitend sind. Theologische Vorbegriffe spielen in der modernen
Philosophie eine viel größere Rolle als bisher wahrgenommen.
51 John Hick, Religion. Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod,
München 1996.
52 William P. Alston, Perceiving God – The Epistemology of Religious Belief, Ithaca/
London 1991.
53 Eine sehr gute Einführung bietet Christoph Jäger (Hg.), Analytische Religions-
philosophie, Paderborn 1998. Als einen extremen Gegenentwurf zu solchen ra-
tional-metaphysischen Ansätzen kann man die religionsphilosophischen Arbei-
ten von Kurt Hübner lesen, der eine totale Differenz von Vernunft und
christlicher Offenbarung, von wissenschaftlicher und mythischer Wahrheit, von
Denken und Glaube so festschreibt, dass keine Vermittlung denkbar ist; vgl. Kurt
Hübner, Glaube und Denken. Dimensionen der Wirklichkeit, Tübingen 2001.
54 Fergus Kerr, Immortal Longings. Versions of Transcending Humanity, Norte Dame
(Indiana) 1997; vgl. ders., Theology after Wittgenstein, Oxford 1986, 21997.
304 Teil 1. Religionsphilosophie
55 Vgl. dazu das Standardwerk von Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen.
Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, 2 Bde.,
Darmstadt 1972/München 1979; sowie Georg Scherer, Die Frage nach Gott.
Philosophische Betrachtungen, Darmstadt 2001 und Philip Clayton, Das Gottespro-
blem. Bd. 1, Gott und die Unendlichkeit in der neuzeitlichen Philosophie, Paderborn
1996.
Religion und Philosophie 305
hältnis des „Gottes der Philosophen“ zum „Gott der Theologen“ geführt
worden.56 Franz von Kutschera hat zu den philosophisch-theologischen
Grundfragen Untersuchungen vorgelegt, die auf modifizierte Weise an
Kant anschließen.57 Die Modifikationen betreffen die stärkere Einbe-
ziehung existentiell-holistischer und emotiv-affektiver Aspekte des
christlichen Glaubens, der im Zentrum der Analysen von Kutscheras
steht: „Der Glaube ist nicht erkenntniserweiternd, aber er zeigt einen
Weg, den wir gehen können, und öffnet unserem Leben einen über-
wältigend großen Sinnhorizont.“58
Die Sinngrenzreflexion in der Tradition des transzendentalen Idea-
lismus in Richtung auf ein Absolutes als Grund des Bewusstseins fort-
zuführen, steht auch im Zentrum des Denkens von Dieter Henrich.
Metaphysik wird als eine Erkenntnis mit Selbst- und Weltbezug und als
„Grundverfassung des bewussten Lebens“ begriffen, die ihre „Form ganz
aus der Einsicht in die Wahrheit einer Lebensdeutung gewonnen hat.“ 59
Das heißt: In einer recht verstandenen philosophischen Grundlagenre-
flexion geht es letztlich um das Gewinnen wahrer, verbindlicher, le-
benstragender Einsichten, und damit auch um die Frage nach Gott.
60 Robert Spaemann, „Das unsterbliche Gerücht“, in: Nach Gott fragen. ber das
Religiçse, Sonderheft Merkur, Heft 9/10 (1999), 772 – 783, dort 775; s. auch
ders., Personen. Versuche ber den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“,
Stuttgart 1996.
61 Robert Spaemann, „Gottesbeweise nach Nietzsche“, in: Nagl, Religion (Anm. 1)
111 – 122.
62 Ernst Tugendhat, Egozentrizitt und Mystik. Eine anthropologische Studie, München
2003, 115.
63 Micheal Theunissen, Negative Theologie der Zeit. Frankfurt a.M. 1991.
Religion und Philosophie 307
Gibt es eine Möglichkeit, die Frage nach Gott für den Kernbereich der
systematischen Philosophie zurückzugewinnen, in dem sie einst stand?
Welche Entwicklungen der modernen Philosophie tragen zur Rehabi-
litation philosophischer Theologie tatsächlich bei?
Der Goldene Logos des Aristoteles besagt: Schon wenn wir uns
fragen, ob wir überhaupt philosophieren sollen oder nicht, philoso-
phieren wir – philosophieren müssen wir auf jeden Fall. Verstehen wir das
Philosophieren als Fragen nach Grenze, Grund und Sinn der Welt und des
menschlichen Lebens, so ist mit dem radikalen Fragen der Philosophie
auch ein Transzendenzbezug eröffnet und sogar notwendig verbunden,
den es gegenwärtig erneut explizit zu machen gilt. Wir müssen, sollen und
können gegenwärtig die philosophische Sinngrenzreflexion und Sinn-
grundreflexion wieder auf Grundfragen der Metaphysik und der
Theologie zurückbeziehen. Warum? Im vorliegenden Text will ich in
drei Schritten Gründe und Aspekte dieser Erneuerungsaufgabe erörtern.
Um deutlich zu sein, will ich meine Thesen provokativ zuspitzen.
Die erste These ist die historisch-systematische Irreduzibilittsthese:
Die Gottesfrage und die philosophische Theologie sind für die Genesis
der okzidentalen Rationalität unverzichtbar.
Die zweite These ist die logisch damit verbundene Substitutionsthese:
Die philosophische Reflexion der Moderne ist durch Substitute des
Absoluten, durch Surrogate geprägt – mangels expliziter theologischer
Dimension. Den tieferen Grund dieser Surrogatbildungen schaffen
prekäre Entzweiungsprozesse der Moderne, die ich als negative Dialektik
von Subjektivismus und Objektivismus charakterisiere.
Die dritte These besagt, dass wir der Irreduzibilität der theologischen
Grundlagen der okzidentalen Rationalität systematisch gerecht werden
sowie die krisenhaften Entzweiungsstrukturen und Surrogate der Mo-
derne und Postmoderne kritisch-reflexiv überwinden können, wenn wir
statt der Substitutionsbildungen eine philosophische Prototheologie innovativ
und systematisch entfalten. Deren Grundzüge werde ich abschließend
skizzieren.
310 Teil 1. Religionsphilosophie
1
Die erste These ist möglicherweise am ehesten allgemeiner Zustimmung
fähig. Was besagt diese Irreduzibilitätsthese? Genesis wie Geltung der
okzidentalen Rationalität sind ohne den ethischen Monotheismus un-
denkbar. Dessen Tiefenstruktur ist bei genauerer Analyse negativ-kritisch
und universalistisch. Es wird ein Bereich gedacht, der unbedingt sinn-
konstitutiv für die Vernunft, für Theorie und Praxis des Menschseins ist,
der aber andererseits der menschlichen Verfügungsmacht und Erkenntnis
in seiner Unbedingtheit völlig entzogen ist: Negativität, Transzendenz,
Sinnkonstitution und Universalismus werden so verklammert. Das bi-
blische Bilderverbot besagt, dass die Gottebenbildlichkeit des Menschen
darin besteht, dass Gott bildlos und unverfügbar bleibt und begründet so
die universale Menschenwürde. Das Sokratische Nichtwissen und die
sinnkonstitutive Transzendenz des Göttlichen und Guten in Platons
Ideenlehre setzen die kritisch-negative und letztlich ethische Sicht ab-
soluter Wahrheitsansprüche in der griechischen Philosophie fort. Die
Freisetzung der diskursiven Rationalität der Wissenschaften und der
praktischen Vernunft in Ethik, Politik und Ökonomie ist mit der Ne-
gativität der Transzendenz unlöslich verklammert. Nichts darf sich an die
Stelle Gottes setzen. Der praktische Sinn des konstitutiven Konnexes von
Negativität und Transzendenz artikuliert sich christlich in der Botschaft
von der Menschwerdung, vom Tod Gottes und vom Bleiben der Gemeinde in
der Liebe. Bilderverbot, Nichtwissen und Tod Gottes aus Liebe lassen sich
als Urstiftungen der okzidentalen Rationalität auszeichnen. Sie konsti-
tuieren sinnkriterial die okzidentale Rationalität, die Kompatibilität von
Wissenschaft, Ethik und Religion, ihre wechselseitige Verwiesenheit und
die Potentiale ihrer Ausdifferenzierung. Von Sokrates und Platon bis zu
Kant und Hegel besteht hier ein klarer faktischer systematischer Zu-
sammenhang von Wahrheits- und Geltungsansprüchen. Die Bewegung
zu Gott, die Orientierung an Gott wird als praktische, existentielle und
universale Lebensform verstanden. Die revolutionäre Entwicklung des
Abendlandes ist ohne den philosophischen wie religiösen ethischen
Monotheismus unmöglich und unverständlich, alle Fehlformen, Per-
vertierungen und Instrumentalisierungen eingeschlossen. An drei Bei-
spielen sei dies verdeutlicht. So entfaltete sich im okzidentalen Paradigma
eine reiche und radikal sinnkritische negative Theologie, deren große
Entwürfe im Verbund mit der rationalen Mystik in Aufklärung und
Moderne weisen, ohne den Gedanken absoluter Transzendenz preiszu-
geben, so bei Meister Eckhart und Cusanus. Bei Cusanus präfiguriert die
Wieder nach Gott fragen? 311
3 Vgl. Martin Krieger, Geist, Welt und Gott bei Christian August Crusius, Würzburg
1993, v. a. 300 – 323.
Wieder nach Gott fragen? 313
Platz zu bekommen“4 – für den Glauben, und nicht für Scheinwissen oder
Vermutung, für Fiktionen oder Illusionen. Die Grenzen der theoreti-
schen Vernunft führen bei Kant zu ihrem Fundament, der praktischen
Philosophie der Freiheit. Deren Grenzen wiederum führen zu ihrem,
dem letzten Fundament: der existentiellen religiösen Authentizität, die
man auch als selbst grundlosen Glauben oder grundlose Gewissheit un-
bedingten Sinns verstehen kann. Mit dieser gegenwärtig weniger ver-
breiteten Kant-Interpretation ist die These von der Kontinuitt und Irre-
duzibilitt philosophischer Theologie von Platon bis Kant und Hegel in
gewisser Weise abschließend skizziert. Hegels Zusatzthese zu Kant lautet,
dass diese rationale theologische Basis unbedingten Sinnes sich zeitlich-
geschichtlich, kulturell und institutionell entfalten und entwickeln
musste. Schellings Zusatzthese zu Kant lautet, dass diese Basis zuvor in der
Naturgeschichte und in der Mythologie vorbereitet, angelegt und fak-
tisch ermöglicht werden musste. Kierkegaards Zusatzthese lautet, dass
diese Basis unbedingten Sinns immer neu existentiell-praktisch ange-
eignet werden muss, einem unbeteiligten Beobachter von Empirie oder
Historie nicht einsichtig werden kann. Dies hatte schon im Sinne Kants
und Kierkegaards 500 Jahre vorher Duns Scotus so formuliert: „Fides non
est habitus speculativus […] sed practica.“5
Die Irreduzibilitätsthese besagt mithin, dass die Tiefenstruktur der
okzidentalen Rationalitätsgeschichte sich als ein Befreiungsgeschehen
von Irrtümern und Götzen, damit als die Freilegung unbedingten Sinns
und durch diesen konstituierte humane Würde auch trotz Vergäng-
lichkeit, Schuld und Tod sowie als die praktische Einsicht in die Einheit
von Freiheit und Gutem (Liebe) als Grund des Seins und als ens realissimum
rekonstruieren lässt. Sie lässt sich so verstehen unter Einschluss und Be-
rücksichtigung aller Pervertierungen, Funktionalisierungen und ideolo-
gischen Instrumentalisierungen dieser theologisch-philosophischen
Vernunfttradition, die ich auch als Transzendenzparadigma bezeichne.
4 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage, XXX
(Akad.-Ausg. 19).
5 Johannes Duns Scotus, ber die Erkennbarkeit Gottes, Hamburg 2000, 42.
314 Teil 1. Religionsphilosophie
2
Ich komme zur zweiten, der Substitutionsthese. Sie folgt in gewisser
Hinsicht aus der Irreduzibilitätsthese. Denn: Verlässt man philosophisch
die explizierte Sinntradition, dann muss man diese Tradition destruieren –
das geschieht zum Beispiel bei Marx, Nietzsche, Freud und Foucault;
oder man muss sie durch etwas anderes ersetzen – das geschieht zum
Beispiel bei Heidegger, Wittgenstein, Adorno und Derrida. Ferner gilt:
Alle soeben genannten Autoren lassen sich systematisch mit ihren De-
struktionen und Fortbewegungen nur im Horizont des Trans-
zendenzparadigmas verstehen. Insofern ist die Säkularisierungsthese Karl
Löwiths weiterhin begründbar. Ohne die theologischen und metaphy-
sischen Voraussetzungen des Transzendenzparadigmas lassen sich weder
Aufklärung, noch Säkularisierung, noch Moderne und Postmoderne
verstehen. Auch die Reflexion der Genesis der okzidentalen Rationalität
folgt einem dialektischen Prozess wechselseitiger Aufklärung und Aus-
differenzierung von Religion und säkularer Rationalität, von Glauben
und Wissen, um einen Prozess auch der Vermeidung und Überwindung
der kategorialen Vermischung und damit Verfehlung beider.
Die Moderne ist auf komplexe Weise durch Entzweiungsprozesse
charakterisiert, die sich, davon bin ich überzeugt, im Kern auf misslun-
gene Ersatzbildungen für ein wahrhaftes Absolutes zurückführen lassen.
Solche falschen Ersatzbildungen waren Rasse und Klasse, Volk und
Nation, Machtblöcke, der wissenschaftlich-technische Fortschritt, aber
auch das einzelne Individuum. Zu diesen Formen der prekären Moderne
gehören insbesondere die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Ist der
Kapitalismus allein der schon von Hobbes so genannte „übrig gebliebene
Wolf“, so kommt es zur Ersetzung von Gott durch Geld, wie Falk
Wagner es analysiert hat.6 Die Bankhäuser überbieten in ihrer Pracht die
Sakralbauten. Den Ersetzungsprozessen entspricht auf der realpolitischen
Ebene oft das Totschlagen, auf der ideologischen Ebene vor allem das
Totsagen, das in der Moderne und Postmoderne spätestens seit Nietzsche
und bis heute zu einem regelrechten Sport geworden ist: Dem „Tod
Gottes“ folgte der Tod des Subjekts, das Ende des Menschen, das Ende
der Moderne, das Ende der Postmoderne, das Ende der Geschichte. Ich
plädiere daher seit längerem schon für ein Ende des Endes bzw. für den
6 Falk Wagner, Geld oder Gott? Zur Geldbestimmtheit der kulturellen und re-
ligiösen Lebenswelt, Stuttgart 1984.
Wieder nach Gott fragen? 315
Tod des Totsagens.7 Substitute des Absoluten haben sich allesamt als
untauglich erwiesen. Die Untauglichkeit der Surrogate zeigt sich auch in
pseudo-theologischen und pseudo-metaphysischen Ansprüchen von
Wissenschaften auf der einen, von subjektivistisch-irrationalen Strö-
mungen auf der anderen Seite. Vom Urknall bis zur schwarzen Messe,
von Esoterik über Exotismen bis zum Ewigen Leben durch Gentech-
nologie und Klonierung ist alles auf dem Markt. Dem trotzen ein re-
duktionistischer Szientismus sowie ein religiöser Fundamentalismus, sei
er nun jüdisch, christlich oder islamisch. Insbesondere dem kritischen
Blick auf die Wissenschaften fallen seit langem pseudo-wissenschaftliche
Quasi-Metaphysiken auf. Sie bilden sich um quasi-absolute Grundbegriffe,
um Totalitätssurrogate wie „Funktion“, „System“, „Struktur“, „Inter-
pretation“, „Konstruktion“, aber auch „Kontingenz“, „Risiko“ oder
„Chaos“ – oder gar „Blase“. Solche alles erklärenden, zuweilen auch
unfreiwillig komischen Metaphysiksurrogate gibt es in der Physik, in der
Kosmologie, in der Biologie und in der Soziologie ebenso wie in der
modischen Kulturphilosophie. Was auf diesem Jahrmarkt herumgeboten
wird, trägt sein rasches Verfallsdatum allerdings schon an die Stirn ge-
schrieben. Für die Gegenwart gilt: Die beiden Seiten einer ausgefransten
Entwicklung – hybrider Szientismus und Fundamentalismus, kapitalis-
tische Weltökonomie und irrationaler religiöser Dogmatismus ergänzen
sich derzeit zu einer prekären negativen Dialektik. Ersichtlich führen die
geschilderten Prozesse nicht die besten Traditionen der okzidentalen
Rationalitätsgeschichte weiter.
Die geschilderten Verdinglichungs- und Irrationalisierungsprozesse
wurden von der kritischen Philosophie des 20. Jahrhunderts umfassend
analysiert und auf ihre Gründe befragt. Meine These ist nun aber darüber
hinaus, dass gerade die wichtigsten Autoren, die dies geleistet haben,
gleichzeitig auf ihrer Ebene der Reflexion die radikal-kritische Grund-
lagenreflexion abbrachen und charakteristische Substitutionsbildungen
des Absoluten schufen. Dies gilt exemplarisch für Heidegger, Wittgen-
stein, Adorno und Derrida. Systematisch bin ich der Auffassung, dass wir
heute in der Philosophie nicht hinter deren negativ-kritische Analysen
ganz Anderen“ sprach und die Sätze schrieb: „Einen unbedingten Sinn
retten ohne Gott ist eitel.“ Und „Zugleich mit Gott stirbt auch die ewige
Wahrheit.“14
Noch ein viertes Beispiel eines Substitutes des Absoluten sei kurz
beleuchtet. Es ist der Begriff der „Differenz“, wie er bei Deleuze, Lyotard
und v. a. bei Derrida in den letzten dreißig Jahren außergewöhnlich
wirksam entfaltet wurde. Strukturell wiederum der traditionellen Kon-
zeption der Ferne und Nähe, der abwesenden Anwesenheit Gottes
konform, entfaltet sich um die Differenz, verfremdet wie das durchge-
strichene „Sein“ Heideggers als „différance“, im Frühwerk Derridas eine
Gruppe von ehemals metaphysisch aufgeladenen Begriffen, deren
wichtigster der der „Spur“ ist. Den metaphysikgeschichtlichen Hinter-
grund bildet hier Plotins Uwmor-Begriff, der im neuplatonischen Chris-
tentum als vestigium aufgenommen wird. Insbesondere, wenn Derrida das
allen Unterscheidungen noch vorausliegende Geschehen als archi-trace,
als „Ur-Spur“ bezeichnet und es für älter als das Sein erklärt, werden
inmitten hermeneutischer Theoriebildung der Postmoderne theologisch
hochkomplexe und voraussetzungsreiche Termini in andere Kontexte
transferiert, ohne deren ursprüngliche Bedeutung und Herkunft zu ex-
plizieren, um ihr suggestives Potential und ihre theologisch-metaphysi-
sche Sinndimension durchaus erfolgreich zu beerben. Anders gesagt: Die
gesamte Reflexion der Moderne hat einen verschwiegenen, oft ver-
drängten theologischen Subtext.
Den Substituten des Absoluten bzw. Gottes – dem Sein, dem Mys-
tischen, dem Nicht-Identischen, der Differenz – eignen folgende
Strukturmerkmale: Sie sind 1. nicht religiös, metaphysisch oder theolo-
gisch im traditionellen Sinne verstehbar. Sie sind 2. allerdings auch ohne
den geschichtlichen Hintergrund und kulturellen Kontext von Mystik,
Metaphysik, Christentum, Neuplatonismus und Gnosis nicht angemessen
verstehbar. Ihnen eignet 3. starke Negativitt: Unsagbarkeit, Verbor-
genheit, Verdecktheit; deswegen werden sie übersprungen, übersehen,
vergessen, verkannt, und das hat unheilvolle Folgen, denn ihnen kommt
4. in Wahrheit ein eminenter, erhabener, emphatisch auszuzeichnender
Status zu; ein Ausnahmestatus, der in Wirklichkeit von herausragender
praktischer Bedeutung für das wahre menschliche Welt- und Selbst-
verständnis ist. Die mit den aufgezeigten Substituten verbundene Di-
14 Vgl. dazu Jürgen Habermas, „Zu Max Horkheimers Satz ,Einen unbedingten
Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel‘“, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt a.M.
1991, 110 – 126.
Wieder nach Gott fragen? 319
3
Meine dritte These besagt, dass wir der Irreduzibilität der theologischen
Grundlagen der okzidentalen Rationalität systematisch gerecht werden
können, wenn wir statt der Substitutionsbildungen eine rationale Pro-
totheologie innovativ entwickeln. An diese philosophische Theologie
lassen sich folgende Anforderungen stellen. Zunächst muss sie es gestat-
ten, die Substitute zu kritisieren und zu destruieren (Sie muss, traditionell
gesprochen, Gott von Göttern und Götzen unterscheiden können.). Dies
versucht in der Gegenwart z. B. eine an die negative Theologie an-
schließende Richtung der Philosophie. Sie lehrt, dass, wenn auch der
Platz Gottes in der Gegenwartsreflexion leer bleibt, dieser Platz keinesfalls
durch irgendetwas anderes ersetzt werden kann und darf. Dieser Platz
steht gleichsam im unsichtbaren Zentrum der Welt, der Politik und der
Praxis, und er darf nicht durch partiale Interessen, Meinungen, Bedürf-
nisse besetzt werden. Ich denke hier an die politische Philosophie einer
„leeren Stelle des Sakralen“ bei Claude Lefort, M. Gauchet und Agnes
Heller, aber auch an die „negative Theologie der Zeit“ von Michael
Theunissen.15 Als abgeschwächte Form könnte man noch den knappen,
aber weitreichenden Grundsatz des deutschen Verfassungsjuristen Bö-
ckenförde an dieser Stelle zitieren, der besagt: Der freiheitliche demo-
kratische Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht
schaffen kann. Das Bewusstsein der Abhängigkeit von unverfügbaren
Sinnbedingungen unserer Praxis lässt sich schon negativ artikulieren. Dies
allein genügt jedoch nicht. Negative Bestimmungen ohne positive Ex-
plikation des Geltungssinnes einer Transzendenzperspektive bleiben
letztlich leer. Sie lassen die weiter Fragenden mit Formen des Negati-
vismus, des Reduktionismus, des Formalismus und v. a. des Relativismus
allein.
Mit der systematischen Entwicklung einer Prototheologie müssen
drei weitere Ansprüche eingelöst werden. Sie muss zum einen die Ra-
tionalitätspotentiale der philosophischen und theologischen Tradition
rettend bewahren. Es darf nichts an wesentlichen und tragfähigen Ein-
sichten verlorengehen. Diese Anforderung war für Kant und Hegel lei-
tend, und sie sollte es auch für uns sein. Zu dieser Anforderung gehört,
dass die als berechtigt erweisbare Religions- Metaphysik- und Theolo-
giekritik z. B. von Marx, Nietzsche und Freud in diese kritische Inno-
vation und Rekonstruktion sinnkriterial mit eingeht. Ferner gehört zur
systematischen Anforderung die Aufnahme der sinnkritischen und me-
thodischen Leistungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts: die
Sprachkritik, die Ontologiekritik, die Ideologiekritik und Einsichten
einer kritischen Hermeneutik. Schließlich geht es drittens um den An-
spruch der Klrung des Verhltnisses einer philosophischen Prototheologie
zu faktischen Religionen, Konfessionen und religiösen Selbstverständ-
nissen auch auf der interkulturellen Ebene. Man wird hier sicher mit einer
produktiven Spannung rechnen müssen. Wie gelangen wir nun auf
kritische Weise zu irreduziblen Wahrheitsansprüchen einer rationalen
(philosophischen) Prototheologie?
2. Der Akzent auf der ursprünglichen Einheit und Synthesis ist zentral.
Nach langen Überlegungen wurde mir deutlich, dass alle Versuche, Gott
zu denken oder zu beweisen, die nach einer solchen ursprünglichen
Synthesis ansetzen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt bzw.
verfehlt sind. Denn sie wollen etwas denken oder beweisen, was sie schon
voraussetzen müssen. Ich bin der Auffassung, dass dies der Sinn der tra-
ditionellen Aussagen von der Nähe Gottes, der uns näher als wir uns selber
Wieder nach Gott fragen? 321
sind, (z. B. bei Augustinus) ist. Das unvordenkliche Sinnereignis ist schon von
vorneherein falsch gedacht und verfehlt, wenn ich es in der Reflexion
einer Subjekt-Objekt-Dichotomie, einer verußerlichenden Gegenberstel-
lung sprachlich oder ontologisch unterziehe. Alle Sinnexplikation, alle
Erläuterung, jede Handlung und jede Sprachhandlung setzt es schon voraus.
Deswegen ist es zwar durchaus möglich, die ursprüngliche Einheit (das
ursprüngliche Sinnereignis) ontologisch, bewusstseinsphilosophisch und
insbesondere transzendentalphilosophisch auf verschiedene Weise zu
explizieren. Aber dies alles sind nachtrgliche Erläuterungen, die die
Möglichkeit wie die Wirklichkeit der ursprünglichen Einheit und Syn-
thesis schon voraussetzen.
6. Ersichtlich kann die Rede von einer „Ebene“ der absoluten Trans-
zendenz nicht auf einen isolierten Ort bezogen werden. Die Vorgän-
gigkeit des Sinn-Ereignisses, sein Wirken kann auch nicht zeitlich oder
kausal im innerweltlich-empirischen Sinn verstanden werden. Dennoch
ist der Vorgang der Transzendenz in aller Immanenz in aller Alltäglichkeit
sichtbar und wirksam – bewusst wird er explizit aber nur denjenigen, die
religiös oder philosophisch die völlige Unerklärlichkeit und daher das
Wunder und das Geheimnis des Seins des Sinnes einsehen und begreifen.
Dieses Einsehen und Begreifen ist der Ursprung von Religion – in all
ihren unüberschaubaren Erscheinungsformen.
Gottes? Was bedeutet dieses Wort? Welchen logischen Status hat es?
Mit Wittgenstein bin ich der Auffassung, dass es keine flächende-
ckende Metatheorie der Sprache gibt, die wir dann auf die faktisch un-
endlich komplexe Sprachpraxis bloß noch anzuwenden brauchten. Wir
sollten erkennen, dass in gewisser Weise jedes Wort eine eigene Wortart
ist. Insbesondere gilt dies für das Wort „Gott“. Wir können dieses Wort
nicht wie ein übliches Prädikat verstehen, aber auch nicht wie einen
normalen Eigennamen. Es ist vielmehr Eigenname des einzigartigen
Ereignisses der vorgängigen Einheit und Synthesis von Sinn und Sein.
„Gott“ ist ein Wort für die Gleichursprünglichkeit des unerklärlichen,
lebens- und weltsinnkonstitutiven Geschehens. Hier ist auch der Ort
einer prototheologischen, sinnkriterialen Rekonstruktion der Rede von
einer Personalitt Gottes. Denn im Horizont sinnermöglichender abso-
luter Transzendenz ist Gott uns näher als wir uns selbst sind; begriffen als
324 Teil 1. Religionsphilosophie
1
Unsere Gegenwart ist von tiefgreifenden Fehlentwicklungen und tief
sitzenden Missverständnissen im Bereich der vernünftigen Selbstver-
ständigung geprägt. An zwei Phänomenen bzw. Syndromen lässt sich
diese Fehlentwicklung besonders plastisch vergegenwärtigen, weil sie sich
in ihnen mentalitätsgeschichtlich verdichtet, und zwar weit über die
Ebene akademischer Diskurse und die Ebene philosophischer Reflexion
hinaus. Das erste Syndrom ist das Totsagen, das zweite ist das der Er-
satzbildung. Beide zusammen tragen zu einem vagen und diffusen Klima
der Desorientierung und der neuen „Unübersichtlichkeit“ bei, wie
Jürgen Habermas schon vor über 20 Jahren formulierte.
Betrachtet man philosophische Gesamtdeutungen der Menschheits-
geschichte aus den letzten 100 Jahren, so ist auffällig, dass eine Sportart
besonders kultiviert wurde und noch immer wird, nämlich der Wett-
Der moderne Wissenschaftsbetrieb und die alte Gottesfrage 327
2
Wenn die Analysen der Sinndepotenzierung, die sich letztlich hinter den
Traditionen des Totsagens verbirgt, zutreffen, und wenn ferner die
Diagnose der Ersatzbildungen, der Surrogate und Substitute des Abso-
luten auf vielen Ebenen der gesellschaftlichen Praxis und Reflexion mehr
oder weniger zutrifft, dann ist eine Kritik irreführender Depotenzierung
von Sinn ebenso erforderlich wie eine Neubestimmung authentischer,
glaubwürdiger und verlässlicher Orientierungen. Wir benötigen daher
eine neue Topik, eine neue Architektonik der mçglichen Vernunftansprche,
um eine klarere Übersicht über die grundlegenden Möglichkeiten und
Grenzen unserer Erkenntnis zu gewinnen. Denn darin, in einer solchen
kritischen Neubestimmung von Vernunft, besteht Aufklärung. Sie ist von
jeder Zeit neu zu leisten. Zu diesem Zweck will ich das Verhältnis von
Gott, Religion und Wissenschaft philosophisch neu bestimmen, und
zwar im Blick auf ein über sich selbst aufgeklärtes Aufklärungsverständnis,
an dem beide – Gott und Wissenschaften – recht verstanden, beteiligt
sind.
Meine grundsätzliche These in diesem Zusammenhang lautet: Auf-
klrung und Transzendenz (Gottes) sind eigentlich verklammert; wird diese
Verklammerung einseitig aufgelöst und getilgt, dann ergibt sich eine
negative Dialektik von Nihilismus und Fundamentalismus, und zwar in
Religion und Wissenschaft. Aufklärung muss mithin die Theologie
sinnkriterial festhalten und praktisch transformieren, und dies hat sie in
ihren besten Kernbestrebungen auch getan. Religion muss diese Theo-
logie bildlich indirekt vergegenwärtigen und so meditativ und kongre-
330 Teil 1. Religionsphilosophie
3
Enthält die religiöse Überlieferung Elemente dessen, was ich als tiefe
Aufklärung der oberflächlichen Vernunft und Aufklärung entgegenset-
ze? Hat auch die alte Gottesfrage mit Bezug auf die moderne wissen-
schaftliche Zivilisation noch eine Berechtigung? Ich meine ja. Bei tieferer
Betrachtung stimmen sie zusammen. Im Zentrum dessen, was ich als tiefe
Aufklärung bezeichne, steht die Reflexion bzw. das Bewusstsein und die
Einsicht noch in die transpragmatischen Sinnbedingungen von Vernunft und
aller unserer Praxis. Wissenschaftliche Vernunftkritik und Praxisreflexion,
die nur bei der externen Bedingtheit und Begrenztheit von Vernunft,
Sprache und Praxis durch Materialität und Endlichkeit stehen bleibt,
führen alsbald zur Depotenzierung von Vernunft und Praxis. Sie können
auch zu einer formalistisch-prozeduralen oder fiktionalen Abdrängung
und Verkürzung der tatsächlich nur qualitativ, inhaltlich und ganzheitlich
verstehbaren Dimension vernünftiger Praxis, und damit der Basis von
Aufklärung, führen.
Der Gesichtspunkt der transpragmatischen Sinnbedingungen hin-
gegen nimmt die Dimension der Negativität, der pragmatischen Un-
verfügbarkeit und Entzogenheit, ganz in die Perspektive der humanen
Sinnkonstitution mit hinein – und dies scheint mir das proprium dessen zu
sein, was wir zu Recht Aufklärung nennen können. Es ist eine Aufklä-
rung, die um ihre eigenen Grenzen weiß.
An fünf zentralen Beispielen will ich dies mit Blick auf die Gottesfrage
verdeutlichen.
Entscheidend scheint mir zu sein, dass die biblisch-christliche Tra-
dition durchweg ihre praktisch-rationalen Elemente, die Ethik der zehn
Gebote, schon im Alten Testament, die Ethik der Bergpredigt im Neuen
Testament, aber auch bei Paulus, in dauerndem Rückbezug auf unver-
fgbare Sinnbedingungen dieser praktischen Rationalitt durchdenkt und
verkündet, eben mit Bezug auf Gott.
1. Zu den unverfügbaren, transpragmatischen Sinnbedingungen all
unserer Vernunft und Praxis gehört zunächst fundamental das, was die
Bibel Geschöpflichkeit, Kreatürlichkeit nennt. Die grundlegende prak-
334 Teil 1. Religionsphilosophie
tische Einsicht, die sich hier philosophisch reformulieren lässt, ist die
Einsicht, dass wir uns nicht selbst geschaffen, gemacht, hergestellt haben, sondern
dass wir – bei allen wissenschaftlichen Erklärungsmöglichkeiten – auf
letztlich unerklärliche Weise da sind. Und dies ist eine unaufhebbare
Differenz.
Aber diese Negativität reicht viel weiter. Die Unerklärlichkeit der
Sinnbedingungen unserer humanen Existenz, die im Zentrum religiöser
Aufklärung steht, erstreckt sich auf alle Menschen aller Zeiten, die in ihrer
Kreatürlichkeit verbunden sind. Sie erstreckt sich auf die Existenz des
Lebens auf der Erde und das Phänomen der Evolution. In unserer
Kreatürlichkeit sind wir mit den Tieren und allen Lebewesen tief ver-
bunden, und zwar materiell, real, leiblich.
Und diese kreatürliche Verbundenheit ist selbst etwas uns Vorge-
gebenes, sie gehört zu den unvordenklichen Sinnbedingungen unserer
Existenz. Ich weise darauf hin, dass diese holistische und materialistische
Sicht der menschlichen Situation über sich selbst aufgeklärter ist als z. B.
die neuzeitliche, cartesische Konstruktion eines atomistisch verengten, zu
einem denkenden Punkt reduzierten ego cogito, welches die ganze Welt,
die ,,Außenwelt“, zu einer ausgedehnten Sache, res extensa, verdinglicht,
wobei menschliche Mitgeschöpfe mitsamt ihren Leibern zunächst nicht
in Sicht sind und die Tiere als aufgezogene Maschinen, als Automaten
konzipiert werden. Welche Konzeption ist wohl rationaler, aufgeklärter –
die der Bibel oder die des Descartes? Dreihundert Jahre lang feierte man
Descartes und mythisierte ihn zum Gründungsvater von Neuzeit und
Aufklärung. Dreihundert Jahre brauchte die Philosophie, um mit Hei-
degger, Wittgenstein und der Phänomenologie aus der erkenntnistheo-
retischen Sackgasse der atomistischen Subjekttheorie wieder herauszu-
kommen. Unterdessen sah sich der epistemologische Solipsismus
zeitweilig sogar genötigt, einen „Beweis für die Existenz der Außenwelt“
zu leisten, und ebenso die Existenz anderer Subjekte allererst zu dedu-
zieren – in der Tat ein schwieriges Unterfangen.
Die gemeinsame Kreatürlichkeit und die mit ihr verbundene Einsicht
in die unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Existenz erstrecken sich
weiter: auf unsere Erde als materielle Lebensbasis für alle Geschöpfe. Wir
haben die Erde nicht technisch hergestellt, sondern fanden sie mitsamt
den materiellen, realen Bedingungen von Wasser, Luft und allen weiteren
Lebensvoraussetzungen vor.
Das Schçpfungsparadigma der Kreatrlichkeit erstreckt sich schließlich
universal und unbedingt auf das gesamte Universum. Auch hier gilt:
Welche empirischen, wissenschaftlichen, kosmologischen Erkenntnisse
Der moderne Wissenschaftsbetrieb und die alte Gottesfrage 335
auch immer wir noch gewinnen werden, die Existenz des Universums
mit seinen Milliarden Galaxien bleibt unerklärliche, unableitbare Sinn-
bedingung auch unserer Existenz und allen Lebens. Anders gesagt: Das
Wunder des Seins reicht von Beginn an bis zu diesem Augenblick.
Wunder sind nicht quantifizierbar, die Größe Gottes ist nicht messbar.
Es gibt derzeit wieder viele pseudowissenschaftliche und gleichermaßen
pseudoreligiçse Deutungen naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse,
das heißt letztlich empirisch gestützter, falsifizierbarer Hypothesen. Ur-
knall und Hubble-Konstante, Rotverschiebung und Hintergrundstrah-
lung werden mit theologischen oder metaphysischen, religiösen Begriffen
interpretiert. Diese Zugriffe stellen exemplarisch fundamentale Katego-
rienverwechslungen dar. Denn die unerklärliche Existenz des Universums als
unverfügbare Sinnbedingung für alles Leben und Erkennen steht auf einer
ganz anderen kategorialen Ebene als empirische Forschungsergebnisse der
physikalischen Kosmologie. Dass das Universum mitsamt seiner Entste-
hungsgeschichte und mitsamt unserer, der Menschheit, Entstehung und
Existenz ist, das lässt sich philosophisch negativ in seiner Unableitbarkeit
und Unerklärlichkeit explizieren, wie es schon Kant in seiner Rekon-
struktion der metaphysica specialis in der transzendentalen Dialektik un-
ternahm.
Die religiöse Kreatürlichkeitsperspektive einer göttlichen Schöpfung
enthält die tiefe Aufklärungsperspektive einer Aufklärung über die
letztlich absolute Unverfgbarkeit und Unerklrlichkeit aller natürlichen
Sinnbedingungen unserer Existenz, des Universums selbst als Ganzem.
Augustinus wie auch Luther haben dies klar und insbesondere auch er-
kenntniskritisch gesehen. Das wird noch in Luthers Antwort auf die Frage
deutlich, was denn Gott vor der Schöpfung getan habe. Er sei an die Elbe
gegangen, Ruten zu pflücken, um diejenigen damit zu prügeln, die solche
dummen Fragen stellen. Die Zurückweisung von Evolutionstheorien
durch den aggressiven Kreationismus der fundamentalistischen Moral
Majority in den USA ist dem gegenüber ein unaufgeklärtes Zerrbild der
kategorialen Differenz von Unbedingtheit und Empirie. Stephen Jay
Gould schreibt dazu: „Diese regelrechte Tragikomödie, die das ganze
20. Jahrhundert hindurch die Geistesgeschichte in den Vereinigten
Staaten vergiftet hat, zeigt, welche einzigartige Verbindung Wissenschaft,
Religion und Politik in diesem Land eingegangen sind.“8
8 Stephen Jay Gould, Rocks of Age, Science and Religion in the Fullness of Life, New
York 1991, zit. nach Jean-Claude Guillebaud, Das Prinzip Mensch. Eine abend-
lndische Utopie?, München 2004, 427.
336 Teil 1. Religionsphilosophie
9 Ich habe das in meinen Untersuchungen Die Konstitution der Moralitt, Frankfurt
a.M. 21999, in Form einer negativen Interexistentialpragmatik entwickelt.
Der moderne Wissenschaftsbetrieb und die alte Gottesfrage 339
gebenheit der Dimensionen der Freiheit, des Guten und der grundsätz-
lichen Fehlbarkeit, die konstitutive Endlichkeit und Unbedingtheit der
konkreten menschlichen Handlungssituation, die Begrenztheit unserer
Selbsterkenntnis, die Verletzlichkeit und Sterblichkeit, die Angewie-
senheit auf die Anderen – ohne Erkenntnis und vor allem, ohne vor-
gängige Anerkennung dieser unvordenklichen Sinnbedingungen, die
mich und jeden Menschen doch ausmachen, gibt es keine tiefergehende
Aufklärung unserer Vernunft und Praxis. Überzogene Wissensansprüche
und falsch verstandene Heilsansprüche – Positivismus und Obskuran-
tismus – beide stehen einem aufgeklärten Selbstverständnis des Menschen
im Wege. Ein Gott, der wissenschaftlich bewiesen werden muss, ist kein
Gott mehr; ebenso kann keine naturwissenschaftliche, empirische Un-
tersuchung die unbedingte Würde des Menschen, seine Gottebenbild-
lichkeit beweisen oder widerlegen, und braucht es auch nicht. Der bi-
blische Gott widersetzt sich jeder Verfügbarmachung, ebenso wie sich die
Menschlichkeit der Menschen jeglicher empirischen Reduktion und
jeder wissenschaftlichen Begründungsbedürftigkeit entzieht. Weder das
Gottsein Gottes noch das Menschliche des Menschen sind verifizierbare
Fakten oder Forschungsergebnisse: Sie gehören zu der uns erst ermög-
lichenden Dimension unbedingten Sinns und absoluter Selbstzwecke.
Wie zivilisiert eine Gesellschaft ist, zeigt sich daran, wie sie im Blick auf
diese Dimension sich selbst Grenzen zu setzen vermag: Grenzen der
Wissenschaft, Grenzen der Politik, Grenzen der Religion.
Die Moderne speist sich aus zwei Quellen – aus der Transzendenz
Gottes und der Freisetzung der Freiheit des Menschen. Wir müssen im
Westen die zweifache Steigerung von Säkularität und Religiosität wei-
tertreiben – beide Quellen der tiefen Aufklärung gegen alle oberfläch-
lichen Vermischungen und falschen Ersatzbildungsprozesse.
Ort dieser Rede klären; sie kann auch die Grammatik dieser Rede zu
klären versuchen. Aber sie kann auf die lebenspraktische Konkretion dieser
Rede in Verkündigung und Existenz, in den meditativen und gemein-
schaftlichen Lebensformen nur hinweisen als auf eine Realität sui generis,
die für sich selbst sorgen muss. Die durch die Dimensionen der Krea-
türlichkeit, der Unverfügbarkeit und der konstitutiven Nichtobjekti-
vierbarkeit eröffneten Perspektiven der transpragmatischen Sinnbedingungen
des humanen Lebens, der irreduziblen Personalitt und Wrde, der Freiheit und
Fehlbarkeit gehören zur tiefen Aufklärung, die den Menschen letztlich vor
Gott begreift. Sie berühren sich mit dem Sokratischen, ebenso sinn-
konstitutiven Nichtwissen, mit der Aufklärung der Grenzen der Vernunft
und der Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis bei Kant und Wittgen-
stein. Leben in praktischer Anerkennung der Transzendenz der Welt, der An-
deren und meiner selbst ist Voraussetzung noch aller vernnftigen gemeinsamen,
auch wissenschaftlichen Praxis. Aufklärung als in diesem Sinne vermittelte
Einsicht in die unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Existenz ist
weder ein Epochentitel, noch irgendwo „vorhanden“. Sie muss immer
neu authentisch angeeignet werden in lebendigen Kommunikations-
prozessen zwischen Religion und Wissenschaft, Philosophie und
Theologie. Wo dies vergessen wird, da werden auch die Einsichten der
tiefen Aufklärung pervertiert, dogmatisiert, funktionalisiert und zu
Herrschaft und Unterdrückung missbraucht. Dann müssen Wissenschaft
wie Religion an der Perspektive absoluter Transzendenz gemessen und
daran erinnert werden, dass ihnen die unverfügbaren Sinnbedingungen
nicht gehören, weil sie niemandem gehören. Das heißt: Leben in
praktischer Anerkennung absoluter Transzendenz verhindert sowohl
wissenschaftliche Hybris wie auch religiösen Fundamentalismus. Diese
Anerkennung absoluter Transzendenz ist Voraussetzung noch von
Vernunft und Aufklärung, von rationaler Wissenschaft wie Religion. Sie
verhindert das Totsagen wie auch die Ersatzbildungen und ermöglicht das
Leben. Dabei ist absolute Transzendenz weder eine Fiktion noch eine
Idee, sondern erschließt vielmehr gerade die Wirklichkeit in ihrer un-
endlichen Konkretion. So kann ich mit einem Wort Luthers schließen:
„Wir sollen Menschen und nicht Gott sein. Das ist die summa.“10
10 Martin Luther, Luther an Spalatin in Augsburg. [Veste Koburg,] 30. Juni 1530, in:
ders., Weimarer Ausgabe, Briefwechsel Bd. 5, Brief Nr. 1612, 415, Z.45 f.
Aspekte des Urvertrauens
1
Sowohl Husserl und Heidegger als auch Wittgenstein haben im vorigen
Jahrhundert auf innovative Weise Aspekte der menschlichen Praxis
thematisiert, die ehemals wenig oder nicht gesehen wurden. Bei Husserl
werden diese Aspekte unter dem Titel der Passivität bzw. der passiven
Synthesis in der Phase der transzendentalen Phänomenologie in höchst
342 Teil 1. Religionsphilosophie
1 Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und For-
schungsmanuskripten 1918 – 1926, hg. von M. Fleischer, Den Haag u. a. 1966
(Husserliana Bd. XI).
Aspekte des Urvertrauens 343
4 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der
funktionalistischen Vernunft, 192.
5 Ebd., 198 f.
6 Ebd., 199.
7 Ebd., 218.
346 Teil 1. Religionsphilosophie
2
Auf der existentiell-praktischen Ebene ist die sinnkonstitutive Bedeutung
des Vertrauens fundamental. Nicht erst in philosophisch-systematischen,
an unbedingten ethischen Geltungsansprüchen orientierten Ansätzen
erhält das Vertrauen diese zentrale Bedeutung. In seiner psychoanalyti-
schen Theorie des frühkindlichen Selbstwerdungsprozesses verwendet
Erik H. Erikson den Begriff des Ur-Vertrauens. Er unterscheidet acht
Phasen des Mensch-seins: Autonomie gegen Scham und Zweifel, In-
itiative gegen Schuldgefühl, Leistung gegen Minderwertigkeitsgefühl,
Identität gegen Rollenkonfusion, Intimität gegen Isolierung, zeugende
Fähigkeit gegen Stagnation, Ich-Integrität gegen Verzweiflung. Aber an
der Basis dieser acht Phasen identifiziert Erikson die Phase: Urvertrauen
gegen Misstrauen: „Die feste Prägung dauerhafter Verhaltensformen für die
Lösung der Kernkonflikte von Urvertrauen und Urmißtrauen in bezug
auf das Leben an sich ist also die erste Aufgabe des Ich und daher auch die
vornehmste pflegerische Aufgabe der Mutter. […] Ich glaube, dass die
Mutter in dem Kinde dieses Vertrauensgefühl durch eine Pflege erweckt,
die ihrer Qualität nach mit der einfühlenden Befriedigung der indivi-
duellen Bedürfnisse des Kindes zugleich auch ein starkes Gefühl von
persönlicher Zuverlässigkeit innerhalb des wohlerprobten Rahmens des
Lebensstils in der betreffenden Kultur vermittelt. Hier formt sich die
Grundlage des Identitätsgefühls, das später zu dem komplexen Gefühl
wird, daß man ,in Ordnung’ ist, daß man ein Selbst besitzt und daß man
das Vertrauen der Umwelt rechtfertigt, indem man so wird, wie sie es von
einem erwartet.“8 Erikson zufolge bedeutet der Gewinn des Urvertrauens
für das Kind die Grundlage des Identitätsgefühls mit vertrauensvoller
Selbst- und Fremdbeziehung, während das Misstrauen den Beginn
schizoider und depressiver psychopathologischer Prozesse bildet. „Aber
selbst unter den günstigsten Umständen scheint diese Phase ein Gefühl
innerer Spaltung und eine allumfassende Sehnsucht nach einem verlo-
renen Paradies in das Seelenleben einzuführen (ein Gefühl, das geradezu
prototypisch dafür wird). Gegen diese machtvolle Kombination des
Gefühls, beraubt zu sein, gespalten zu sein und verlassen zu sein, muss sich
das Urvertrauen ein ganzes Leben lang aufrechterhalten.“9 In der psy-
choanalytischen Sicht Eriksons ist das Urvertrauen also von fundamental
sinnkonstitutiver Bedeutung für das spätere Leben des werdenden
Menschen und dessen Gelingen. Mehr noch: Das Urvertrauen birgt nach
Erikson späterhin nachgerade uneinholbare Sinnpotentiale, Potentiale
der Erfüllung, die in späteren Lebensphasen nicht eingelöst werden
können.
Nicht nur in der Psychoanalyse, auch in der Soziologie des 20.
Jahrhunderts erhält das Vertrauen eine eminente Bedeutung. Das gilt zum
Beispiel für die funktionale Systemtheorie von Niklas Luhmann, deren
Grundzüge er ein seinem Buch Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion
sozialer Komplexitt (1968) entwickelt. Es ist gerade das Beispiel des
Vertrauens, durch das es Luhmann gelingt, seine funktionale, system-
theoretische Terminologie einzuführen. Er schreibt: „Vertrauen nimmt
geschichtlich wie sachlich vielerlei Gestalt an. Es hat in archaischen So-
zialordnungen einen anderen Stil als in zivilisierten, kann spontan ent-
stehendes oder taktisch durchschauend aufgebautes persönliches Ver-
trauen oder Vertrauen in allgemeine Systemmechanismen sein. Es
entzieht sich einer eindeutigen ethischen Anweisung. Nur von seiner
Funktion her kann es als Einheit begriffen und mit anderen, funktional
äquivalenten Leistungen verglichen werden. Vertrauen reduziert soziale
Komplexität dadurch, dass es vorhandene Informationen überzieht und
Verhaltenserwartungen generalisiert, indem es fehlende Information
durch eine intern garantierte Sicherheit ersetzt. Es bleibt dabei auf andere,
parallel ausgebildete Reduktionsleistungen angewiesen, zum Beispiel auf
die des Rechts, der Organisation und natürlich auf die Sprache, kann aber
nicht auf sie zurückgeführt werden. Vertrauen ist nicht das einzige
Fundament der Welt; aber eine sehr komplexe und doch strukturierte
Weltvorstellung ist ohne eine ziemlich komplexe Gesellschaft und diese
ohne Vertrauen nicht zu konstituieren.“10
Sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Soziologie wird dem
Vertrauen, dem Ur-Vertrauen, in führenden Ansätzen des 20. Jahrhun-
derts zentrale Bedeutung eingeräumt. Sie greifen damit, oft ohne es zu
wissen bzw. es zu explizieren, große Traditionen der Philosophie auf, in
denen das Vertrauen in seiner existentiell-praktischen Tragweite bedacht
wurde. Ich nenne nur einige Beispiele.11 Ohne Vertrauen kann das Leben
nach Gorgias nicht gelebt werden. Es wird bei Cicero und Seneca auf
stoische Weise stark auf das Selbstvertrauen konzentriert. Nach Thomas
von Aquin ist Vertrauen Bedingung der Tugenden Großmut und Tap-
ferkeit. Vertrauen als Hoffnung auf zukünftige Erfüllung ist für den
Menschen als animal sociale und selbstmächtiges Wesen notwendig. Für
Fichte ist Vertrauen auf Erfüllung Bedingung jeglicher Verträge, für
Hegel als Form der Anerkennung Ausdruck von und für Selbstbe-
wusstsein: „Wem ich vertraue, dessen Gewißheit seiner selbst, ist mir die
Gewißheit meiner Selbst; ich erkenne mein Fürmichsein in ihm, daß er es
anerkennt, und es ihm Zweck und Wesen ist.“12
Für die existentiell-praktische Sinnkonstitution durch Vertrauen
sind, das ist Ergebnis eigener Untersuchungen, Momente der Negativitt
wesentlich.13 In bestimmter Hinsicht lässt sich gerade „grundlose Ge-
wissheit als Lebensform“14 auszeichnen. Denn wir müssen existential-
pragmatisch sowohl von der objektiven Uneinholbarkeit unserer selbst als
auch von unserer wechselseitigen, interexistentiellen Entzogenheit aus-
gehen, um unsere Praxis und insbesondere deren ethische, moralische
Dimensionen in ihrer Tiefenstruktur zu begreifen. Die Uneinholbarkeit
unserer selbst und die anthropologische Entzogenheit bzw. Unverfüg-
barkeit gilt für unsere gemeinsame Existenz in der alltäglichen Welt.
Entzogenheit muss als ein wechselseitiges Verhältnis zwischen Menschen
begriffen werden, als Interexistential. Bereits, wenn wir uns am Abend
mit jemandem verabreden, so ist dies ein einfacher Fall wechselseitiger
Unsicherheit und Unsicherbarkeit: Jeder kann die Verabredung nur zum
Schein getroffen haben, beide können nicht kommen. Das kommuni-
kative Vertrauensverhältnis der Verabredung lebt von seiner reziproken
Garantielosigkeit. Eine Verabredung der üblichen Art kommt nur zu-
stande, wenn keine instrumentelle Beherrschbarkeit des Verhältnisses
besteht. Das unterscheidet ein Rendezvous zum Beispiel von einer
Zwangsvorführung. Es wird deutlich, dass die reziproke Garantielosigkeit
nicht erst hohe und subtile Formen moralischer Verhältnisse prägt,
sondern dass sie auf ebenso elementare wie fundamentale Weise die ge-
samte Lebenspraxis konstituiert. Denn die Angewiesenheit darauf, sich auf
andere verlassen zu können, besteht durchgängig. Sie prägt das gesamte
Leben aller Menschen. Sie stellt somit keinen Sonderfall dar, zu dem wir
3
Auf dem entwickelten Hintergrund können wir abschließend religiöse
Aspekte unserer Thematik ausblickhaft betrachten. Ersichtlich steht das
Gottvertrauen im Zentrum der christlichen Botschaft und sicher auch der
anderen monotheistischen Traditionen. Aber in der christlichen Reli-
gion, auf die ich hier allein rekurriere, ist durch die Botschaft von der
Menschwerdung und dem Tod Gottes aus Liebe ein unüberbietbares
Transzendenzgeschehen paradigmatisch, das den Grund des Glaubens
und des Gottesvertrauens legt. Ich betrachte aus philosophischer Sicht
Religion in ihren authentischen, irreduziblen und sowohl säkularisie-
rungsermöglichenden wie säkularisierungsresistenten Kerngehalten als
eine radikale Form von Aufklärung, in meiner Terminologie: als Tie-
fenaufklärung über die unverfügbaren Sinnbedingungen des menschli-
chen Welt- und Selbstverhältnisses. Im Kontext der Thematik des Ur-
vertrauens erschließen die genuin religiösen Perspektiven diese
Sinnbedingungen mit der Dimension der Schöpfung aus dem Nichts und
der dauernden Schöpfung/Erhaltung der Welt und des Lebens, in der
Aspekte des Urvertrauens 351
Form der Erlösung, der Befreiung von Zweifel und Angst auch im
moralischen Bereich, in der Form der Vollendung, des letztlich irredu-
ziblen, unbedingten Sinns des Lebens. Mit der paulinischen Trias von
Glaube, Liebe und Hoffnung wird die Tiefendimension des Urvertrauens
in der christlichen Verknüpfung bleibend artikuliert. Ersichtlich wird in
der Perspektive von Religion als Tiefenaufklärung, dass die Glaubens-
und die Gottesperspektive wesentliche Aspekte des lebensermöglichen-
den Urvertrauens explizit und bewusst und damit auch kulturell, sozial
und institutionell gestaltbar macht und hält, Aspekte, die in den mo-
dernen, säkularen, lebensweltlichen Vertrautheits- und Gewissheitsana-
lysen als unbewusst oder intuitiv handlungsermöglichend, handlungs-
leitend und sinnkonstitutiv rekonstruiert und identifiziert werden. Was
durch die Lebenswelt- und Alltagsanalysen der modernen Philosophie
von Husserl bis Habermas als unhintergehbares Sinnesfundament der
Lebenspraxis freigelegt wird, ebenfalls auf andere Weise in der Psycho-
analyse und der funktionalen Soziologie als solches unverzichtbare
Fundament erkannt wird, das wurde und wird in der religiösen Ver-
kündigung und Praxis in wesentlichen Aspekten explizit bewusst ge-
macht und bewusst gehalten. Besonders wichtig ist, dass es gerade die
ansonsten in der gelingenden Praxis als selbstverständlich immer schon
und passiv, intuitiv und unbewusst vorausgesetzten Phänomene sind, die
religiöse Tiefenaufklärung reflexiv macht. Dass es die Welt gibt, dass wir
sind, dass wir leben und handeln, überhaupt Sinn erfahren und entbehren
können, dass es Grund zum Vertrauen gibt – diese Basis unseres Welt-
und Selbstverständnisses wird in der religiösen Lehre und Praxis als ex-
plizite Transzendenzdimension bewusst gemacht.
Die religiöse Bewusstmachung des Urvertrauens als lebenstragender
Basis geht aber noch weiter. Sie weist (so in der christlichen Tradition) auf
konkrete Lebensformen, in denen diese Einsicht das ganze Leben zu
bestimmen beginnt: als Leben in und aus Glaube, Liebe und Hoffnung im
Sinne des Paulus. Die genuine Transzendenzdimension des Urvertrauens
– dessen sinnkonstitutive Bedeutung sowohl moderne Philosophie wie
Psychoanalyse und Soziologie hervorheben – wird erkennbar an den im
Zentrum der Verkündigung stehenden Lebensformen des Opfers für
andere, der supererogatorischen Werke, zu denen auch die unbedingte
Moral nicht verpflichten kann, in Formen der schutzlosen Selbstpreis-
gabe. Aus philosophischer Sicht könnte man sagen, es handelt sich dabei
um existentiell-praktische Lebens- und Praxisformen, die Möglich-
keitsbedingungen noch für die (immanente, „säkular“ verstehbare)
Moralität sind. In der Bibel (und auf andere Weise auch in der Tragödie,
352 Teil 1. Religionsphilosophie
15 Martha C. Nussbaum, The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy
and Philosophy, Cambridge 1986.
16 Hannah Arendt, „Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu ver-
zeihen“; in: dies., Vita activa oder Vom ttigen Leben, München 1981, § 33, 231 –
238; dazu auch: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005, 114 ff.
Teil 2. Ästhetik
Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und
Geschichte der ästhetischen Idee
Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Goethe
1
Die autonom gewordene und afunktionale Kunst, wie sie in den Sys-
temästhetiken seit Kant und bis in die Gegenwart, etwa bei Adorno,
reflektiert wird, eröffnet eine Weise der Erfahrung, die sich als – wie auch
immer gebrochene – Kontemplation auratischer Phänomene beschreiben
lässt. Für die Aura der Werke sind dabei deren genuine formale Qualitäten
konstitutiv.1 Sie sind die Garanten der spezifischen Sinnlichkeit von
Kunst. Dieser Sinnlichkeit ordnet die Philosophie seit Baumgarten eine
eigene Erkenntnisweise: cognitio sensitivia, zu. Die cognitio sensitiva ist
demnach diskursiv uneinholbar und reflexiv unüberbietbar. Als we-
sentliche Formqualitäten der ästhetischen Erfahrung seien genannt:
Zukunft, die ebenfalls gegen die Diskursivität auf die Fülle eines Au-
genblicks weist.2
2. Die Nichtinstrumentalitt ästhetischer Erfahrung. Diese ,Zwecklo-
sigkeit‘ hat ihren Grund darin, dass ein Kunstwerk durch Kategorien
instrumenteller Rationalität im Wesen unerreichbar ist.
3. Die Singularitt. Der auratische Zug der Werke gründet auch in
ihrer Einzigartigkeit als Individuen.
4. Ästhetische Erfahrung ermöglicht eine Art von kommunikativer
Selbsttransparenz der Subjekte, in der diese zwanglos sie selbst sein dürfen
und dennoch auf konsubjektive Weise mit anderen Subjekten verge-
meinschaftet werden. Ästhetische Konsubjektivität wäre dann sowohl
von theoretischer Intersubjektivität als auch von praktischer Transsub-
jektivität zu unterscheiden.
5. Der Nichtinstrumentalität ästhetischer Erfahrung entspricht positiv
ihre Genussqualitt, ihr Glckscharakter. Sie kann als Erfahrung jenseits von
Technik und Herrschaft wie auch jenseits des ethischen Sollens die be-
glückende Erfahrung von ungeschuldetem Sinn sein und insofern Er-
füllungscharakter haben.
2
Um den entscheidenden begriffs- und systemgeschichtlichen Wende-
punkt zu erreichen, muss zunächst die Vorgeschichte der Rede von der
Schau Gottes mit ihren mythologischen und theologisch-eschatologi-
schen Paradigmen knapp umrissen werden. Bei dieser Rede handelt es
sich um einen Kernstoff der Überlieferung, der vielleicht am besten als
3 Vgl. Georg Hoffmann, Der Streit ber die selige Schau Gottes, Münster 1917; John d.
Walshe, The Vision Beatific, New York 1926; Anton D. Sartori, La visione beatifica,
Turin 1927; Patrick Bastable, Desire for God. London 1947; Nikolaus Wicki, Die
Lehre von der himmlischen Seligkeit in der mittelalterlichen Scholastik von Petrus Lom-
bardus bis Thomas von Aquin. Frankfurt a.M. 1954. Bereits im Kontext ästhetischer
Thematik: Hans U. von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische sthetik. Bde. 1 – 3
(in sieben Bänden), Einsiedeln 1961 – 1969; Thomas Rentsch, Artikel ,Visio Dei
beatificia‘, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopdie Philosophie und Wissen-
schaftstheorie, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 1996, 549 f. Vgl. Helmut K. Kohlenber-
ger, Artikel ,Anschauung Gottes‘, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wçrter-
buch der Philosophie. Bd. 1, Basel 1971, Sp 348.
358 Teil 2. Ästhetik
Aristoteles stellt die Schau das Integral seiner Kosmologie, Theologie und
der Lehren von der Theoria und Eudaimonia dar.8 Joachim Ritter weist
darauf hin, dass gerade hier die Aristoteles-Rezeption der christlichen
Metaphysik einhaken konnte.9 Für Plotin ist die Schau Ziel des Lebens
und des Philosophierens. Sie wird hier wie bei Platon als beglückende und
identitätsstiftende Erfahrung des Schönen gedacht.10 Dieses Denken prägt
auch die neuplatonisch beeinflusste Patristik.11
Der biblische Traditionsstrang setzt sich im Neuen Testament fort, im
johanneischen Bereich12, insbesondere aber im paulinischen Entwurf
einer eschatologischen ,Erkenntnistheorie‘ im Agape-Hymnus, 1
Kor. 13,9 – 12.13 Paulus rezipiert in diesem eschatologischen Entwurf das
Spiegel-Motiv der griechischen Literatur. Der Spiegel symbolisiert 1. die
Meeres des Schönen, welche ,mit einem Blick‘ geschieht (Symposion 210D ff. ).
Das Ewig-Schöne rettet vor der Gewalt der Zeit: vgl. Gerhard Krüger, Einsicht
und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Frankfurt a.M. 41973, 280.
Vgl. 200, 219, 261 f. Die Schau bildet das Zentrum der Erostheologie: Krü-
ger. 280 – 283.
8 Met. 1072b 25. Met. 1074b 33 f. Dazu: Walter Bröcker, Aristoteles, Frankfurt
a.M. 31964, 220. Hier gründet die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei
Aristoteles, dazu: Joachim Ritter, „Die Lehre vom Ursprung und Sinn der
Theorie bei Aristoteles“, in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles
und Hegel, Frankfurt a.M. 1969, 9 – 33. Dazu weiter: Met. 983a 5 ff. Met. 980a
sowie Ritter. 18.
9 ,Theoria ducit ad Dei cognitionem.’ (Albertus Magnus). Interpreriert bei Ritter.
ebd., 15.
10 Porphyr rückte Plotins Schrift ber das Schçne gleich in die erste Enneadengruppe
ein, zwischen die Abhandlung ber die Glckseligkeit und die ber das Gute. Nach
Hans Blumenberg, „Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philoso-
phischen Begriffsbildung“, in: Studium Generale Jg. 10, Heft 7 (1957), 437 f. hat
der Neuplatonismus das Höhlengleichnis nicht mehr als erkenntnistheoretische
Metapher aufgefasst, sondern wörtlich und mithin kosmologisch gelesen. Un-
beschadet davon kommt der plotinischen Hypostasenschematik mit ihrer auf-
und absteigenden Fluchtbewegung zum Einen/vom Einen (Enn. VI 9, 11 , Z. 51)
ein existentieller Sinn zu, der sich in der Schau des Einen in seiner Schönheit
erfüllt: Enn. V 1. Z. 43 – 49. Enn. I 6, 7. Z. 21 – 34. Zählung nach: Plotini Opera,
Paul Henry/Hans R. Schwyzer (Hg.) Leiden 1951 ff.
11 So bei Origenes, Basilius und Gregor von Nyssa. Vgl. Heinrich Scholz., Glaube
und Unglaube in der Weltgeschichte. Ein Kommentar zu Augustinus De civitate Dei. Mit
einem Exkurs: Fruitio Dei, ein Beitrag zur Geschichte der Theologie und Mystik, Leipzig
1911, 197 – 235. Zu Gregor: Franz Diekamp, Die Gotteslehre des hl. Gregor von
Nyssa, Münster 1896.
12 1. Joh. 3,2. Vgl. auch 1. Tim. 6, 13.16.
13 Vgl. auch I. Kor. 8, 3 und 2. Kor. 5, 7.
360 Teil 2. Ästhetik
14 Dazu: Hans Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, Göttingen 1969. 268 ff.
Das Moment der Klarheit geht auf Timaios 72 C zurück. Das Moment der
Selbsterkenntnis findet sich so auch in der Stoa, in der platonischen Tradition sind
bei Plutarch die unbelebten Dinge ein ainigma tou theou, die belebten dagegen
klare Spiegel. Die Indirektheit bereits Timaios 71 B. Das paulinische Kerygma
wendet sich hier mit der Vergegenwärtigung der ekstatisch-eschatologischen
Struktur christlicher Existenz gegen eine gnostisch-enthusiastische immanente
Verfügbarmachung des Eschaton.
15 Im Perlenlied wird dieses transzendente Ebenbild dem heimkehrenden Prinzen
in der Gestalt eines prachtvollen Strahlenkleides entgegengesandt: ,Seinen (= des
Kleides = des wahren Selbst) Glanz / hatte ich vergessen, da ich es als Kind im
Vaterhause / zurückgelassen hatte. / (Doch) plötzlich, als ich es mir gegenüber
sah, / Wurde das Strahlenkleid ähnlich meinem Spiegelbild / mir gleich; / Ich sah
es ganz in mir, / Und in ihm sah ich mich auch mir ganz gegenüber, / So dass wir
Zwei waren in Geschiedenheit / Und wieder Eins in einer Gestalt.‘ (Zit nach
Gilles Quispel, Makarius, das Thomasevangelium und das Lied von der Perle, Leiden
1967, 43.)
16 Simultaneität: exaiphanes, plötzlich. Totalität: holon, ganz. Vgl. zum Thema der
Rückerinnerung an die göttliche Lichtheimat als des Innewerdens der eigenen
Identität: Hans Jonas, Gnosis und sptantiker Geist, 2. Tl., 1. Hälfte: Von der
Mythologie zur mystischen Philosophie, Göttingen 1954, 2. Kapitel.
17 In der frühmedinensischen Sure ,Die Kuh‘, wo die Omnipräsenz des Antlitzes
Allahs verkündet (2,115) und das gute Handeln als Streben nach diesem Antlitz
bezeichnet wird (2,272), in der Sure ,Die Scharen‘, in der die Posaunenstöße des
Gerichts die plötzliche Schau der Gerechten einleiten (39, 68 f.), in der Sure ,Der
Barmherzige‘, in der der Vergänglichkeit der Welt die Unvergänglichkeit des
Antlitzes Allahs entgegengesetzt wird (55, 26 f.). Nach Tilman Nagel, Der Koran,
München 1983, 128, ist „das Antlitz Gottes zuwenden […] der ursprüngliche
Sinn des Wortes, Islam‘“.
18 Vgl. Heinz Halm, Die islamische Gnosis, Zürich/München 1982, 303.
19 Vgl. Scholz (Anm. 11).
Der Augenblick des Schönen 361
31 Umberto Eco, Il problema estetico in San Tommaso, Turin 1956; ders., „Sviluppo
dell’estetica medievale“, in: Momenti e problemi di storia dell’estetica. Bd. 1, Mailand
1959, 115 – 239, v. a. 129. 137.
32 So Francis J. Kovach, Die sthetik des Thomas von Aquin, Berlin 1961; Winfried
Czapiewski, Das Schçne bei Thomas von Aquin, Freiburg i.B. 1964; Willehad P.
Eckert, „Der Glanz des Schönen und seine Unerfüllbarkeit im Bilde“, in: Thomas
von Aquino. Interpretation und Rezeption, ders. (Hg.), Mainz 1974. 229 – 244.
33 Günther Pöltner, Schçnheit. Eine Untersuchung Zum Ursprung des Denkens bei
Thomas von Aquin, Wien/ Freiburg i.B./ Basel 1978. Gerade die mitunter etwas
gewaltsam an die thomanischen Grundunterscheidungen (additio ad ens, modus
generaliter consequens omne ens in se, diversificatio etc.) angeschlossene exis-
tenziale Interpretation ist m. E. hermeneutisch sehr fruchtbar.
34 Migne, PL Bd. 206, 9 – 862.
364 Teil 2. Ästhetik
Ekstasis die Einheit von kognitiver Liebe und affektivem Intellekt. 35 In der
solchermaßen ästhetisch gestifteten Einheit des Bewusstseins durch-
dringen sich die Neigung zum Schönen und die Bewegung zum Guten in
der Weise des amor cognitivus bzw. der cognitio amativa. 36 Mit diesem
Kommentar liegt eine mystische Ästhetik vor, die sich zu einer ästheti-
schen Mystik ausformt: das ekstatische Geschehen bleibt schließlich
begrifflich uneinholbar, und dies entspricht gerade der ineffabilitas der
Schönheit.37
3
Wir erreichen nun den begriffs- und systemgeschichtlichen Termin, an
dem die entscheidende Transformation greifbar wird, auf die sich meine
These stützt. Hier ist das Werk des Johannes Duns Scotus (wie auch sonst
für Fragen der „Epochenschwellengeschichtsschreibung“) von zentraler
Bedeutung. Zweifellos war er mit den Gedanken des Thomas von
Vercelli vertraut.38 Ich erwähne dies, weil ich für die Kernthese auf einer
faktischen Filiation insistiere. Zunächst sei die scotische Konzeption der
visio beatifica kurz dargestellt. Gott hat demnach nur einen einzigen
„Zweck“: geliebt zu werden. Dementsprechend ist es der alleinige
Zweck des homo viator, Gott ohne jegliches egoistisches Interesse zu
lieben. Die Erfüllungsgestalt dieser beiden singulären Zwecke ist die
cognitio intuitiva der Seligen.39 Aus der Konvertibilität der trinitarischen
Personen mit den Transzendentalien der Einheit, Wahrheit und Güte
(Liebe) und ihrer mit der Schönheit ergibt sich für Duns Scotus, dass die
visio Schau des schrankenlos Schönen ist. Die Glückseligkeit entspringt –
wie bei Thomas von Vercelli – der Synthesis von Intellekt und Willen:
Hic dictur quod beatitudo consistit simul in actu intellectus et voluntatis. 40 Das
heißt: Totalität und Simultaneität der visio beatifica beziehen sich auf das
35 Edgar De Bruyne, Etudes d‘esthetique medievale. Bd. 3, Brügge 1946, 62, bemerkt
zu Recht, dass diese Ästhetik auf die Vermittlung fundamentaler Gegensätze
abzielt: „beauté et bonté, intelligence et affection, sens supérieurs et sens infé-
rieurs, clarté et suavité, splendeur et douceur, éclat éclairant et chaleur vivifiante,
grâce et force, contemplation et dilection, vision et plaisir.“
36 Zit. nach De Bruyne, ebd., 67 und 61.
37 Ebd., 70.
38 So auch De Bruyne, ebd., 359.
39 Dazu: Reinhold Seeberg, Die Theologie des Johannes Duns Scotus. Ein dogmenge-
schichtliche Untersuchung, ND der Ausg. Leipzig 1900, Aalen 1971, 457 ff.
40 Zit. nach De Bruyne (Anm. 35), 359.
Der Augenblick des Schönen 365
Geschaute, die Schau und den Schauenden in eins und zugleich. Primär
ist das eschatologische (ästhetische) Ereignis mit seinen formalen Fülle-
qualitäten (auf den scotischen Formbegriff kann hier nicht eingegangen
werden), erst von ihm lassen sich die genannten Aspekte „abschatten“.
Mit der visio verbindet Duns Scotus sodann den Gedanken der be-
glückten Ruhe: Der Intellekt wird durch die unmittelbare Schau erfüllt
und befriedet, der Wille ebenso durch die gleichursprüngliche Liebe. Die
visio führt so zur quietatio totalis et ultima. 41 Bekanntlich akzentuiert die
Anthropologie des Schotten die menschliche Freiheit in einer für mit-
telalterliche Denktraditionen unerhörten Schärfe. So bleibt es nicht aus,
dass auch im Kontext der eschatologischen visio-Thematik dieses Ele-
ment seines Denkens unverkennbar bleibt: Der Wille des Menschen ist
(und bleibt auch im Status der visio) frei. Die hier wirklich werdende
reine, interesselose Liebe ist nun auch nach Duns Scotus die Höchstform
der Manifestationen der menschlichen Freiheit. Hierin liegt für ihn ge-
rade der Charakter der fruitio bei der Schau begründet: Nicht die con-
templatio des Schönen, für sich genommen, bewirkt die Freude, den
Genuss; sondern dieser Genuss ist Genuss der eigenen Freiheit –
Selbstgenuss im Fremdgenuss, um eine Formulierung zeitgenössischer
Ästhetik hier aufzugreifen.42 Dieser Selbstgenuss wird durch eine Freiheit
ermöglicht, die sich ihrerseits der interessenlosen Liebe zur göttlichen
Schönheit verdankt.43 Und diese Liebe hat zwei wesentliche Aspekte:
zum einen vereinzelt sie den Liebenden auf eine einmalige Weise (sie
wird gleichsam zum eschatologischen Individuationsprinzip), zum an-
deren entledigt sie ihn aber jeglichen Egoismus. Die Interesselosigkeit
ohne jede Restriktion befreit so von der Last, vom Schwerecharakter der
Existenz.44
Und es ist nun das Entscheidende: an dieser Stelle und zur logischen
Bestimmung des Status der visio beatifica begegnen bei Duns Scotus
genau jene Fundamentalunterscheidungen, in deren Rahmen im
18. Jahrhundert, zuerst von Baumgarten, das Spezifikum ästhetischer
Erkenntnis systematisch formuliert werden konnte, nämlich als cognitio
clara et confusa. Für Duns Scotus hebt jede Erfahrung mit der sinnlichen
Erkenntnis konkreter Individuen an; und die menschliche Verständigung
41 Ebd., 364.
42 Hans R. Jauß, sthetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M.
1982, 84 f.
43 De Bruyne, (Anm. 35), 368.
44 Ebd.
366 Teil 2. Ästhetik
45 Ebd., 348.
46 Ebd., 349.
47 Duns Scotus, De anima, q. 16 n. 2.
48 Duns Scotus, Theoremata X.
49 Duns Scotus, Oxon. I d. 3 q. 2 n. 21.
50 Ebd .
51 De Bruyne (Anm. 35), 349.
Der Augenblick des Schönen 367
für die Moduslehre, den Begriff occasio, die Concursuslehre und die
Cardiologie.57
2. Die besondere, präzise und im Kontext der Ästhetik und Er-
kenntnistheorie erfolgende Ausarbeitung der genannten Unterschei-
dungen durch den doctor subtilis gelangte im 17. Jahrhundert durch die
erste moderne Gesamtausgabe der Werke des Duns Scotus (L. Wadding,
Lyon 1639) zur Kenntnis. Zweifellos hat Leibniz diese Werke rezipiert
(ebenso wie Bossuet und Malebranche), ja auch sein berühmter ,Gra-
dualismus’ der Intensität der Vorstellungen geht auf die Erkenntnistheorie
des Duns Scotus zurück. So vermutete denn auch bereits Benedetto
Croce 1907 in seiner ,Ästhetik‘ die scotische Herkunft der Leibnizschen
Unterscheidungen, ohne diese Spur historisch weiter zu verfolgen.58
Einige kurze Bemerkungen zu Gregor von Rimini, Dante, Meister
Eckhart und Cusanus mögen die Exposition der Vorgeschichte unseres
Themas abschließen, um die hier gefundenen Spuren im 18. Jahrhundert
aufzunehmen. Der Nominalist Gregor charakterisiert die visio als cog-
nitio clara et confusa – dies ist eben die wörtliche Definition der logischen
Eigenart der ästhetischen Erfahrung bei Baumgarten und in der Folgezeit.
Er setzt sie von der cognitio abstractiva per discursum als cognitio intuitiva
ab. Es ist insbesondere aufschlussreich für unsere These, dass diese
Trennung bei Gregor von Rimini unter ausdrücklichem Bezug auf die
paulinische Erkenntnislehre des 1. Korintherbriefes erfolgt. Die abs-
traktive Erkenntnis benennt das videre per speculum in aenigmate, die
intuitive die des – nichtdiskursiven – videre facie ad faciem.59
Gegen Ende des Mittelalters verschärft sich eine Tendenz zur
,Transzendenz in der Immanenz‘: Die Schau wird innerweltlich – nicht
erst post mortem – erlebt und gedacht. In der Commedia Dantes wird zum
guten Schluss die visio als Schau der trinitarischen Perichorese besungen:
„Du ewig Licht ruhst in dir selbst allein,/verstehst, erkennst dich, bist
erkannt, verstanden/in dir und lächelst dir in Liebe zu.“60 Dieses vor-
nehme und abschiedliche Lächeln Gottes enthüllt und verbirgt zugleich,
dass sich Dante in der Trinität selber wie in einem lichterfüllten Spiegel
sieht. Seit Augustinus wurde der menschliche Geist als ,Abbild‘ der
Trinität aufgefasst.61 Der anthropologische Sinn von Theologie, der sich
hier bei Dante so dichterisch und gleichsam zärtlich artikuliert, scheint der
Kern des so genannten Visio-Streites des 14. Jahrhunderts zu sein.62
Meister Eckharts radikal-anthropologische Interpretation der
Theologie63 hat auch Konsequenzen für sein Visio-Verständnis: „Das
Auge, darinnen ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darinnen mich Gott
sieht. Mein Auge und Gottes Auge, – das ist ein Auge und ein Gesicht und
ein Erkennen und ein Lieben.“64 In der mystischen visio beatifica ereignet
sich die Inkarnation: der Augenblick der Schau ist der christologische,
inkarnatorische, „in einem gegenwertigen nu“, „daz begrifet in im alle
zit“.65
Joachim Ritter hat bereits in seinem Aufsatz „Landschaft. Zur
Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“66 darauf auf-
merksam gemacht, dass Cusanus eine der ratio (intellectio abstractiva)
überlegene Erkenntnisweise beschreibt. Die Koinzidenz der Gegensätze,
die Docta ignorantia ereignet sich nicht diskursiv und insofern ,logisch‘
60 Dante Alighieri, Die Gçttliche Komçdie, dt. v. Karl Vossler. Berlin 1942, 629 f.
61 Augustinus, De trin. X, 12. Kapitel.
62 Die Beguinen und Begharden vertraten die Auffassung, die visio sei bereits im
Diesseits jedem vernünftigen Wesen möglich, ja komme ihm gleichsam von
selbst zu. Die Möglichkeit einer innerweltlichen seligen Schau wurde durch
Clemens V. 1311 auf dem Konzil von Vienne als Häresie verurteilt. (Vgl. Scholz
[Anm. 11], 221). Daraufhin eschatologisierte Johannes XXII. die visio gänzlich:
Animas sanctorum non videre divinam essentiam clare ante generalem diem
iudicii et corporis resurrectionem – nicht vor dem Jüngsten Tag. Dagegen Be-
nedikt XII. 1336: sofort nach dem Tod. (Vgl. Scholz, ebd.). Zum Begriff der
Perichorese, circumincessio und circuminsessio vgl. Peter Stemmer, „Pericho-
rese. Zur Geschichte eines Begriffs“, in: Archiv f. Begriffsgeschichte Bd. XXVII
(1983) 9 – 55.
63 Jeder Mensch ist Gottes Sohn, die zweite Person der Trinität. Der Häresieprozess
begann 1326.
64 Meister Eckhart, „Predigt über Jesus Sirach 24, 30: Quid audit me, non con-
fundetur“, in: Meister Eckharts deutsche Predigten und Traktate, Friedrich Schulze-
Maizier (Hg.), Leipzig o. J. 305 .
65 M Pred. 10, DW I 171, 6 und Pred. 9, ebd. 143.8.
66 In: Joachim Ritter, Subjektivitt. Sechs Aufstze, Frankfurt a.M. 1974, 141 – 163.
370 Teil 2. Ästhetik
sondern „ohne Hin und Her“.67 Gegen die diskursive Erkenntnis, deren
Bild bei Cusanus spurensuchende Jagdhunde auf ihrer Jagd nach der
Weisheit (venatio sapientiae) sind, betont er, „daß die wissende Un-
wissenheit einem hohen Turme gleich jeden zur Schau erhebt“.68 „Denn
wer dort oben steht, übersieht alles, was der unten über das Feld
Schweifende auf verschiedenen Wegen nach Spuren forschend sucht“.69
Die docta ignorantia ist eine simultane, totale, nicht-diskursive Er-
kenntnis der Fülle, in der Einheit und Vielheit koinzidieren. Sie ist nicht
nur ästhetische Erkenntnis, sondern wird hier bereits als die spezifische
Erkenntnisform der Philosophie selbst identifiziert.70
4
Die scotischen Fundamentalunterscheidungen gelangten über Leibniz zu
Wolff, die suaresischen über Descartes in das gesamte neuzeitliche
,Nootop‘. Mit der Autonomisierung der ,unteren Vermögen‘ der
Leibniz-Wolffschen Erkenntnistheorie, die bei Baumgarten und Meier
zur cognitio sensitiva befreit werden, beginnt der Versuch, den Status der
ästhetischen Erfahrung als eine klare (nämlich zwar Phänomene identi-
fizierende und wieder-erkennende, insofern unterscheidende), jedoch
zudem ,verworrene‘ (konfuse, nicht begrifflich-deutliche) zu begreifen.71
Die auf die extensive Flle von Gegenständen (seien es Äpfel, Wälder, sei es
die Nacht oder ein Gefühl wie die Liebe) bezogene ästhetische Erfahrung
wird so aus dem System der axiomatisch-deduktiven Metaphysik im
Wolffschen Stile, deren Ziel im Rahmen der Begriffsbildung die Defi-
nition ist, herausgelöst. Die Fülle der Erscheinungen (ubertas aesthetica,
venusta plenitudo), die vom abstrahierenden Verstand in den Wissen-
schaften verlassen und verdrängt wird, soll nunmehr durch das sinnlich
erkennende analogon rationis 72 bewahrt und zum Gegenstand eigenen
Rechts werden. Paradigmen solcher Erfahrungsmöglichkeiten – jenseits
von Wissenschaft und Metaphysik – sind für Baumgarten etwa die an
Gedichten73 exemplifizierten „vielsagenden Vorstellungen“ (perceptio-
nes praegnantes). Im poetisch konstituierten horizon aestheticus soll ohne
Anschauungsverzicht die ,ptolemäische‘ nicht technisch und experi-
mentell vermittelte Welt aufbewahrt werden.74 Der durch Verwis-
senschaftlichungsprozesse verstellte lebensweltliche Anschauungsraum
wird ästhetisch restituiert. Von den ästhetischen „Begriffen“ Baumgartens
und Meiers, die durch perspicuitas und lux aesthetica eine Art ,Prospekt‘ sind,
in welchem der Hauptbegriff am nächsten steht, „während die Neben-
begriffe wie in weiter Ferne hinter ihm auftauchen“75, führt die Ent-
wicklung zu Kants Konzept der ästhetischen Idee und ihrer ästhetischen
Attribute, „die so viel zu denken veranlaßt als sich niemals in einem
bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf
unbegränzte Art ästhetisch erweitert“ und die das „Gemüth“ belebt,
„indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter
Vorstellungen eröffnet“.76 Die begrifflich unerreichbare Mannigfaltigkeit
des ästhetischen Phänomens wird hier von Kant mit Hilfe einer optischen
Metapher artikuliert. Es steht mir an dieser Stelle nicht der Raum zur
Verfügung, den komplizierten Prozess, der von Leibniz’ ,klaren und
konfusen Ideen‘ (deren Vorgeschichte wir nun kennen) und seiner Rede
vom „wogenden fundus animae“ als dem Ort jener nicht-diskursiven
Erkenntnis über die Lehre von der sthetischen extensiven Klarheit (claritas
extensiva, d. h. der nicht-analytischen Überbestimmtheit der ästhetischen
Gegenstände/Begriffe) bei Baumgarten bis zu Kants Lehre von den äs-
thetischen Ideen nachzuzeichnen.77 Das tangiert jedoch nicht die These:
Die Eigenart und logische Struktur der formalen Qualitäten ästhetischer
Erfahrung, wie sie seit den Ästhetiken des 18. Jahrhunderts und in der
Folge im Deutschen Idealismus aufgewiesen werden, ist aufgrund der
terminologischen Bestimmung ihres erkenntnistheoretischen Status von der Form
der mittelalterlichen kontemplativen und insbesondere visionären Er-
kenntnis. Um den Übergang von der theologischen Erkenntnistheorie in
die ästhetische Theorie zu begreifen, muss dieser Hauptthese eine Zu-
satzthese an die Seite gestellt werden: Die optische Simultaneitt des in der
visio beatifica Geschauten wird im Zuge der rationalistischen Logisierung der
theologischen Epistemologie przisiert als die konnotative Simultaneitt der
,Nebenideen‘, die sich ,nher‘ und ,ferner‘ um eine sthetische Idee gruppieren und
deren extensive Flle (extensive Klarheit) konstituieren. Zum Raum wird hier
die Zeit, jedoch auf der Ebene einer unhintergehbaren Bildlichkeit, denn
es wird hier ja über die Sprache gesprochen. Die extensive Fülle, die
ubertas aesthetica und venusta plenitudo der Konnotationen und Implika-
tionen der ästhetischen Ideen führt dann wiederum die signifikante
optische Metaphorik mit sich, wie wir sie soeben bei Kant beobachteten.
Eine umfassendere Untersuchung könnte das beschriebene Phänomen
zum Leitfaden nehmen: Die in der Zusatzthese behauptete Logisierung
und Verräumlichung im Sinne optischer Metaphorik ist ebenfalls in der
Symboltheorie Goethes sowie in Herders Theorie der sinnlichen Begriffe
festzustellen. Schiller bemerkt: „darin liegt das Anziehende solcher äs-
thetischen Ideen, dass wir in den Inhalt derselben wie in eine grundlose
Tiefe blicken.“78 Denn ihr „möglicher Gehalt“ sei „eine unendliche
77 Vgl. dazu: Karl Heinrich von Stein, Die Entstehung der neueren sthetik, Stuttgart
1886. Repr. ND Hildesheim 1964.V. a. 336 – 369; Robert Sommer, Grundzge
einer Geschichte der dt. Psychologie und sthetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-
Schiller, Würzburg 1892, repr. ND Amsterdam 1966; Alfred Baeumler, Das Ir-
rationalittsproblem in der sthetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der
Urteilskraft, Halle 1923. Repr. ND Tübingen 1967; Hans-Georg Juchem, Die
Entwicklung des Begriffs des Schçnen bei Kant unter besonderer Bercksichtigung des
Begriffs der verworrenen Erkenntnis, Bonn 1970; Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis.
Die Rolle der Sinnlichkeit in der sthetik des Alexander Baumgarten, Wiesbaden 1972.
78 Friedrich Schiller, ber Matthissons Gedichte. NA Bd. 22, Weimar 1958, 273 f.
Der Augenblick des Schönen 373
79 Ebd.
80 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Akad.-Ausg. 242.
81 Vgl., ebd., 215.
82 Vgl. dazu die Analyse von Baeumler (Anm. 77), 288.
374 Teil 2. Ästhetik
83 Conimb., Phys., I, 1, 2, I. Vgl. den Art. „Distinct“, in: Etienne Gilsons Index
Scholastico-Cartesien.
84 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Akad.-Ausg. 194.
85 Ebd., 99.
86 Vgl., ebd., 207.
87 Bereits in der Kritik der reinen Vernunft ist eine Vorstellung im Augenblick als
„absolute Einheit“ verstanden (A 99).
Der Augenblick des Schönen 375
die visio beatifica von ganz zentraler Bedeutung. Die negative Theologie
etwa der areopagitischen Tradition hatte ja eine absolute Transzendenz
Gottes und mithin seine völlige Unerkennbarkeit vorgegeben. Weder
eine apophatische noch eine kataphatische Theologie ist demnach
möglich, ja noch nicht einmal die Existenzaussage („Gott existiert“).
Diese vielfältig, insbesondere trinitätstheologisch und kenotisch gemil-
derte absolute Transzendenz führte zu den Auseinandersetzungen um
eine mögliche Unmittelbarkeit und auch Komprehensivität der Schau.
Der Umgang mit transzendenten Begriffen brachte die mittelalterlichen
Autoren in ständige Not, einer transzendentalen Dialektik zu entkom-
men. Einerseits soll die Schau das letzte und höchste Ziel sein, andererseits
ist sie eigentlich unvorstellbar, oder nur vorstellbar mit letalem Ausgang –
wäre sie nicht postmortal konzipiert. Es war wiederum, wie Hyacinthe
Dondaine aufgewiesen hat88, Duns Scotus, der das Problem gesehen
hatte. Gemäß ihm wird Gott nicht essentialiter geschaut, sondern in seiner
Theophanie. In diesem Zusammenhang wird die comprehensio der
Schau thematisch. Und wiederum ist es Thomas von Vercelli, der der
visio den Status „clara et comprehensiva“ zumisst.89
5
Einige abschließende Bemerkungen sollen anregen, die Thematik bis in
unsere Zeiten zu verfolgen. Hinzu kommen Hinweise auf mögliche
Deutungen der hier vorgestellten Befunde – es wurde ja bislang nur eine
These über einen begriffs- und systemgeschichtlichen Zusammenhang
aufgestellt. Die exponierte faktische Filiation bedarf aber einer Deutung,
die ich hier noch nicht zu geben vermag.
Für Schopenhauer erfüllt sich das ,metaphysische Bedürfnis’ des
Menschen nicht in der philosophischen Reflexion, sondern in der äs-
thetischen Erfahrung. (Er nimmt hier Carnap vorweg.) Die Kunstwerke
zeigen anschaulich Ideen im Singulären, Individuellen. Sie ermöglichen
so ein Hinausgelangen über die Gewaltverhältnisse der Welt, die Scho-
penhauer als „Wille zum Leben“ bezeichnet. Der Visio-Topos begegnet
in Die Welt als Wille und Vorstellung im Bilde des „klaren und ewigen
Weltauges“. Der Wille erlischt, und „wir sind nur noch da als das eine
Weltauge, was aus allen erkennenden Wesen blickt, im Menschen allein
aber völlig frei vom Dienste des Willens werden kann.“90 Das interes-
selose Wohlgefallen Kants steigert Schopenhauer emphatisch zur „See-
ligkeit des willenlosen Anschauens“. Wieder und wieder setzt er der
begrifflich-deutlichen Diskursivität die intuitive, simultane und totale,
beruhigende Füllequalität ästhetischer Erfahrung entgegen. Bei der Be-
stimmung der Zeitlichkeit schließt er sich an eine gängige scholastische
Definition der Ewigkeit an.91 Der Augenblick ästhetischer Erfahrung hat
die Zeitstruktur simultaner Totalität, das Weltauge ist „gleichewig“ mit
allen Augenblicken.92 Ohne die Kenntnis der Vorgeschichte dieser
Denkweise wird nicht sichtbar werden können, wie traditionell eine
solche ästhetische Metaphysik der Willensauslöschung ist.
Adornos ästhetische Theorie trägt eschatologische Züge und lebt von
hintergründig wirksamen Theologoumena, die unausgesetzt dementiert,
verboten und „totgesagt“ werden. In der Form der Kunstwerke sieht er –
ich folge Albrecht Wellmer – den Vorschein von Versöhnung, die
„gewaltlose Synthesis des Zerstreuten“, die „gewaltlose Einheit des
Vielen in einem versöhnten Zusammenhang alles Lebendigen“, „die
gewaltlose Überbrückung der Kluft zwischen Anschauung und Begriff,
zwischen Besonderem und Allgemeinem, zwischen Teil und Ganzem.“
Und nur dieser, den versöhnten Zustand in sich vorbildenden Gestalt
kann berhaupt Erkenntnis zufallen; in diesem Sinn ist der Satz aus den
Minima Moralia zu verstehen, dass „Erkenntnis kein Licht (hat), als das von
Erlösung her auf die Welt scheint.“93 Noch in der Beschreibung ästhe-
tischer Versöhnung in der Erfahrung von Musik kehrt die uns bekannte
optische Metaphorik wieder: „Musik trifft es (sc. das Absolute, Th. R.)
unmittelbar, aber im gleichen Augenblick verdunkelt es sich, so wie
überstarkes Licht das Auge blendet, welches das ganze Sichtbare nicht
90 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, Leipzig
1891, 233.
91 Quod aeternitas non sit temporis sine fine aut principio successio; sed Nunc stans;
i. e. idem nobis Nunc esse, quod erat Nunc Adamo: inter nunc et tunc nullam esse
differentiam. Schopenhauer, ebd. 330. Er zitiert hier nach Thomas Hobbes,
Leviathan.
92 Schopenhauer, ebd. 333. Das Weltauge ist unvergänglich.
93 Albrecht Wellmer, „Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Ret-
tung der Modernität“, in: Adorno-Konferenz 1983, Ludwig v. Friedeburg/ Jürgen
Habermas (Hg.), Frankfurt a.M. 1983, 138 – 176, dort 142.
Der Augenblick des Schönen 377
102 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Die Negativität der Sprache. Bemerkungen zu
Adorno und Wittgenstein“, in: Wittgenstein Studies I (1996).
103 Hans Jonas, „Der Adel des Sehens“, in: ders., Organismus und Freiheit. Anstze zu
einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, 198 – 225. Vgl. v. a. 199 f. und 209 –
217.
104 Oskar Becker, „Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des
Künstlers“, in: ders., Dasein und Dawesen. Gesammelte philosophische Aufstze,
Pfullingen 1963, 11 – 40, dort, 36.
Der Augenblick des Schönen 379
105 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der
Weltgeschichte. 2. Bd., Welthistorische Perspektiven, München 151922, 227 – 282
(Kap III A. „Historische Pseudomorphosen“).
106 Ludwig Wittgenstein, Tagebcher 1914 – 1916, in: Schriften 1, Frankfurt a.M.
1969, 176 (Eintrag vom 7. 10. 1916).
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik
und Religion
1 Hans Jonas, „Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens“, in: ders., Organismus
und Freiheit. Anstze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, 226 – 257.
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion 381
stile. Nach dem Ende dieser zeitbedingten Episode wird uns bereits seit
längerem deutlich, dass die versuchsweise Verdrängung der existentiellen
Tiefendimension nicht gelingen konnte. Es wird im Rückblick klar er-
kennbar: Ohne einen Bezug zur Transzendenz, zum Absoluten, zu Gott,
zum Unbedingten lässt sich keine der bedeutenden Leistungen der
Philosophie des 20. Jahrhunderts verstehen: Weder Wittgensteins Bezug
zum Mystischen, noch Heideggers Andenken des Seins, weder Adornos
Reflexion des Nichtidentischen noch Derridas Denken der Differenz.2
Fergus Kerr hat in seinen Stanton Lectures auf überzeugende Weise
herausgearbeitet, dass Ansätze moderner Philosophie ganz grundsätzlich
eine theologische Sub- und Tiefenstruktur aufweisen.3 Ebenso ist im
Alltagsleben moderner westlicher Gesellschaften die Hinwendung zu
vielfältigen Formen religiöser Praxis zu beobachten. Es gilt, die kom-
plexen Übergänge von Minimalformen eines wenig bewussten Tran-
szendenzverständnisses zu expliziten Formen eines religiös aufgeklärten
Selbstbewusstseins ebenso erkennbar zu machen wie die Übergänge von
scheinbar völlig profanen Praxen zu quasi-religiösen Sinnentwürfen und
zu Formen kultisch-ritueller Selbstverständnisse, von enthusiastischer
Verehrung und Idealisierung z. B. in Sport, Musik, Film und Unterhal-
tungsindustrie. Welche normativen Identitäts- und Lebensverständnisse
bilden spätmoderne Gesellschaften aus? Wie verhalten sich diese Ver-
ständnisse zur Wirklichkeit des Lebens, zu Schuld, Scheitern und Ein-
samkeit, zu Liebe und Tod? Für eine kritisch-hermeneutische Philoso-
phie gilt bei der Analyse dieser Fragen: Auch eine oberflächliche
Gleichgültigkeit, ein zynischer Nihilismus und selbst das Nichtmehrbe-
merken des Fehlens lebenstragender, sinnstiftender Orientierungen,
lassen sich ex negativo nur durch den vergangenen, verlorenen, ver-
gessenen oder verdrängten Hintergrund normativer Lebenssinnentwürfe
verstehen. Schließlich ist durch die weltgeschichtliche Entwicklung der
Jahrtausendwende, der Erneuerung des islamischen wie christlichen
Fundamentalismus als politisch-religiöser Legitimationsideologien sowie
vielfältiger Formen religiösen Irrationalismus die Frage nach einem
philosophisch reflektierten Verständnis religiöser und theologischer
Grundprobleme erneut ins Zentrum gerückt. Das heißt: Ohne explizite
philosophisch-theologische Verständnisbildung lässt sich weder die Ge-
2 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005, v. a. 173 – 188.
3 Fergus Kerr, Immortal Longings, Versions of Transcending Humanity, Notre Dame
(Indiana) 1997.
382 Teil 2. Ästhetik
genwart des Religiösen begreifen, noch lässt sich ihr Verhältnis zu äs-
thetischen Gestaltungen und Erfahrungen bestimmen.
In einem ersten Schritt will ich daher Potentiale der ästhetischen wie
religiösen Einbildungskraft für die Genese der okzidentalen Vernunft selbst
historisch wie systematisch bestimmen. Im zweiten Schritt werde ich
systematisch und praktisch-philosophisch Möglichkeiten einer produk-
tiven und fruchtbaren Fortentwicklung der freigelegten Potentiale für die
Zukunft einer menschlichen Vernunftkultur aufweisen.
1
Nietzsche schreibt, am Beginn des Abendlandes stünde der Tod zweier
Männer – Sokrates und Jesus. Pointiert und nach Kant und Hegel müssen
wir erneut begreifen, dass und wie die erkenntniskritischen Potentiale,
die zu Neuzeit und Aufklärung und zur Moderne führten, sehr tief und
früh in der Genese der okzidentalen Rationalität angelegt waren und dass
sie – das weist uns bereits auf die Zukunft – noch keineswegs abgegolten
sind. Ein reflexivwerdendes Selbstbewusstsein der Grenzen der
menschlichen Erkenntnis führt in der Phase der Urstiftungen (Husserl) der
europäischen Vernunft zu deren kritischer Bestimmung. Wesentliche
Quellen dieses Bewusstseins sind das biblische Bilderverbot, das sokra-
tische Nichtwissen und die christlich-platonisch sich entfaltende negative
Theologie. Diese Paradigmen der Negativitt konstituieren die okzidentale
Vernunftgeschichte von ihren Grenzen her.4 Sie stehen also nicht stets im
Zentrum, sondern sie können und müssen in Erinnerung gerufen und
kritisch eingesetzt werden, wo andere menschliche Praxisformen – z. B.
Religion, Wissenschaft oder Politik – sich an die Stelle des Absoluten, an
die Stelle der Transzendenz Gottes setzen wollen. Dieses geheime
Zentrum der Negativität ist wie ein blinder Fleck, von dem her die
Ausdifferenzierungs- und Freisetzungsprozesse möglich werden und
gelingen, die auch für den Siegeszug und Welterfolg von Wissenschaft,
Technik und praktizierter Verstandestätigkeit verantwortlich sind.
Erst ein reflexiv gewordenes Transzendenzverstndnis, das heißt auch: ein
Erkennen dessen, was wir nicht erkennen können, setzt die kreativen
Entwurfspotentiale der Einbildungskraft so frei, dass sie zu befreienden
Potentialen werden können und nicht zu mythischen Zwangssystemen
4 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M.
2000.
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion 383
zu ihrer Grundlage. Die Bilder, so gelungen sie auch sein mögen, haben
letztlich nur die Funktion, die Einsicht zu vermitteln, dass Gott nur
jenseits aller Bilder zu verstehen ist. Die Theologie absoluter Transzen-
denz und Unerkennbarkeit Gottes ermöglicht und begrenzt zugleich den
freien Bildentwurf. Explizit unterstreicht Dionysios, dass es völlig verfehlt
sei, wenn der Phantasie vorgeworfen werde, „dass wir uns sinnlich an den
Erdenstaub und die Gemeinheit der Bilder heften“.7 Die Bilder der
Phantasie sind vielmehr mit „Fug und Recht“ vor das Bildlose gewoben.8
In dieser für das Abendland bestimmenden Konzeption sind die „Bilder
des Bildlosen“ (ta schemata ton aschematiston) 9 eine Sinngrenze, die den
bildlosen Gott vor einem dessen Transzendenz depotenzierenden und
verdinglichenden Zugriff ebenso schützt, wie sie den Einsichtigen zum
„Transzendieren des Gegebenen“ freisetzt. In dieser Reflexion ist bereits
eine kulturkonstitutive Urstiftung und Weichenstellung erfolgt, die,
recht verstanden, bis in die Neuzeit und die Moderne und Postmoderne
reicht, und die bis heute unabgegolten ist. Die ästhetische Dimension
erhält eine erkenntniskritisch wohldurchdachte, die Phantasie freiset-
zende Funktion der Transzendenz in der Immanenz; die radikal negative
Theologie des Absoluten ist es, die die Grundstruktur des menschlichen
Selbst- und Weltverhältnisses in einer Anwesenheit des Abwesenden, somit
in einer uneinholbaren Differenz verortet. Dabei ist für unsere Thematik
besonders hervorzuheben, dass die ästhetische mit der religiösen Tran-
szendenzdimension in diesem Ansatz erkenntniskritisch strukturell ver-
klammert wird. Wir werden sehen, dass diese Verklammerung bis in die
Spätmoderne erhalten bleibt. Besonders zu akzentuieren ist angesichts der
negativ-theologischen Phantasiereflexion des Dionysios, dass es gerade
die uneinholbare Transzendenz Gottes ist, die der Freisetzung der
Phantasie, der Bildentwurfspraxis „einen geradezu universalen Spiel-
raum“ einräumt. Dionysios setzt explizit nicht nur schöne Bilder frei, die
per analogiam auf die überschöne, überseiende Transzendenz Gottes
verweisen, sondern „schlechthin alle Bilder“, auch die neutralen, weder
schönen noch hässlichen, und auch „die ausgesprochen abstoßenden
Darstellungen“.10 Eine Ästhetik des Hässlichen, die Rosenkranz 1853
Ästhetiken seit Baumgarten und Kant bis zu Adorno und Lyotard reflexiv
und normativ herausgebildet werden.11
Dieser Befund, der sich in Analysen zur transzendentalen pulchritudo
in der mittelalterlichen Ästhetik und in Analysen zur Bedeutung der
Erkenntnistheorie des Duns Scotus für die Entstehungsgeschichte der
philosophischen Ästhetiken des 18. Jahrhunderts detailliert bestätigen
lässt, führt zur Freilegung folgender sich durchhaltenden strukturellen
Konstituentien, die auch die Kantsche Analyse der Einbildungskraft
prägen und die ich der Kürze halber als Konstituentien der immanenten
Transzendenzerfahrung bezeichne. Es sind die Strukturmomente
1. der Sinnantizipation, des – wie auch immer gebrochenen – Glücks-
und Erfüllungscharakters dieser Erfahrung;
2. der antizipierten Ganzheitlichkeit, des Totalitätsbezugs dieser Erfah-
rung bei aller Fragilität und Fragmentarizität;
3. der damit verbundenen Nichtinstrumentalität und Selbstzweckhaftig-
keit dieser Erfahrung;
4. der Besonderheit, der tendenziellen Singularität und Einzigartigkeit
dieser Erfahrung, damit verbunden
5. ihr Plötzlichkeits-, Augenblicklichkeits- und ihr Bruchcharakter;
6. der gestaltete, geformte Charakter der Erfahrung, der auf die kom-
munikative Selbsttransparenz der an ihr beteiligten Subjekte ausgerichtet
ist.12
In Kants Theorie der ästhetischen Ideen in der Kritik der Urteilskraft
werden diese Strukturmomente als kreative Potentiale der produktiven
Einbildungskraft herausgearbeitet. Sinnantizipation, antizipierte Ganz-
heitlichkeit, Selbstzweckhaftigkeit, Einzigartigkeit, Augenblicklichkeit
und kommunikative Selbsttransparenz der Subjekte bilden ein in der
ästhetischen Erfahrung des Schönen und des Erhabenen auf komplexe
Weise gleichursprüngliches Gefüge von Strukturmomenten, die alle in
11 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und
Geschichte der ästhetischen Idee“, in diesem Band.
12 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Ästhetische Anthropomorphie. Die Konstitution
des Schönen und die transzendental-anthropologische Bestimmung thauma-
tisch-auratischer Weltverhältnisse“, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der
Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt a.M. 1991, 27 – 35; ders.,
„Strukturen ästhetischer Erfahrung“, in diesem Band; ders., „Wie lässt sich
Angemessenheit ästhetisch denken?“ in diesem Band.
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion 387
dieser Erfahrung freigesetzt werden und so mit Kants Worten ins Spiel
kommen. Die Freisetzung nennt Kant das In-Schwung-versetzt werden.13
Der Rahmen gestattet es nicht, die innere Differenziertheit dieser
antizipierenden Totalitätserfahrung in ihren vielfältigen Modi zu ent-
falten. Hier ist für unsere Thematik nur folgendes wichtig: Bereits bei
Dionysios, aber auch noch bei Kant sind die Züge der Universalitt und der
Negativitt der durch die freien Bildentwürfe eröffneten Erfahrung un-
verkennbar. Universalität freier Transzendenzerfahrung in der Immanenz
besagt: Es gibt keine inhaltlichen, materialen Einschränkungen derjeni-
gen Erscheinungen, die zu Paradigmen dieser antizipierend-transzen-
dierenden Erfahrung werden können. Es kann ein kleiner Stein sein, der
Flug eines Vogels, es kann ein kurzer Augenaufschlag sein, ein Klang, und
es können beliebig komplexe sinnliche Gestaltungen in allen Künsten
sein, deren der Mensch fähig ist: eine Skulptur und Komposition, Malerei
und Dichtung, aber auch eine Natur- und Selbsterfahrung. Entscheidend
ist neben dieser Universalität immanenter Transzendenzerfahrung deren
strukturell konstitutive Negativitt: Immer wieder betont Kant in seinen
Analysen die begrifflich, sprachlich unerreichbare Tiefe, Ferne und Fülle
der entworfenen wie entzogenen Bildlichkeit, die die produktive Ein-
bildungskraft erschließt. Negativität, Unsagbarkeit, ineffabilitas waren
auch die Charakteristika der negativ-theologisch und mystisch ausge-
wiesenen, vertieften Transzendenzerfahrung bei Dionysios und in der
mittelalterlichen Mystik. So fern Kant explizit dem direkten Anschluss an
diese Tradition auch steht – es ist gerade daher besonders wichtig und
aufschlussreich, wie nah seine systematische Konzeption dieser Tradition
tatsächlich ist. Der Bezug der ästhetischen Erfahrung und der produktiven
Einbildungskraft auf Metaphysik und Religion und damit auf Grenze und
Grund der menschlichen Welt ist systematisch eindeutig: Sie dient der
Versinnlichung von Vernunftideen und mit ihnen verbundener funda-
mentaler Menschheitserfahrungen, so Kant zufolge Seligkeit und
Ewigkeit, Liebe und Tod (KU 194). Ästhetische Formgebung versucht,
diese Ideen und die mit ihnen verbundenen existentiellen Grunderfah-
rungen vermittels der Einbildungskraft „über die Schranken der Erfah-
rung hinaus“ „sinnlich zu machen“ (KU 194 f.). Mit dieser existentiellen
wie metaphysischen Tiefendimension ästhetischer Erfahrung ist eine
innere, versinnlichte Form von Unendlichkeit verbunden. Die ästheti-
13 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Akad.-Ausg., ND, Berlin 1968, Band V,
§ 49, 192 (ab hier wird die Randzählung dieser Ausgabe im fortlaufenden Text
zitiert).
388 Teil 2. Ästhetik
sche Idee „eröffnet […] die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter
Vorstellungen“ (KU 195), die „keine Sprache völlig erreicht“ (KU
192 f.), sie ist eine Vorstellung der Einbildungskraft, die „in dem freien
Gebrauche der selben […] viel Unnennbares hinzu denken lässt“ (KU
197). Es ist bezeichnend, dass Kant genau in diesem Kontext einen
emphatischen Geistbegriff durchaus pneumatologischer Konnotation
verwendet: „Geist in ästhetischer Bedeutung heißt das belebende Prinzip
im Gemüt“ (KU 192). Er antizipiert eine innere Unendlichkeit in ver-
sinnlichter Vernunftperspektive – das Bild der unsagbaren Einzigkeit der
Welt in ihrer unendlichen Konkretion.
Im Schillerjahr ist es besonders passend, Schiller als Kant-Schüler in
diesem Zusammenhang zu zitieren. In seiner Schrift über Matthissons
Gedichte schreibt er im Anschluss an Kant: „(D)arin liegt das Anziehende
solcher ästhetischen Ideen, dass wir in den Inhalt derselben wie in eine
grundlose Tiefe blicken“. Denn ihr „möglicher Gehalt“ sei „eine un-
endliche Größe“.14 Eine nochmalige Präzisierung der Struktur der sol-
chermaßen gefassten immanenten Transzendenzerfahrung und der in-
neren Unendlichkeit der Wirklichkeit in ihrer Tiefe erreicht Kant durch
seine Lehre von der comprehensio aesthetica, der ästhetischen Ver-
dichtung. Comprehensio aesthetica heißt das ästhetische Begreifen der
Zusammenfassung durch die Einbildungskraft zu einer individuierten
Form, deren außergewöhnliche Zeitstruktur Kant so beschreibt: Die
Komprehension der Einbildungskraft als „die Zusammenfassung der
Vielfalt in die Einheit, nicht des Gedankens, sondern der Anschauung,
mithin des Successiv-Aufgefassten in einen Augenblick, ist […] ein
Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus der Einbildungskraft
wieder aufhebt und das Zugleichsein anschaulich macht“ (KU 99). Die
neuplatonische Analyse von ekstatischer Fülle (pleroma) im Augenblick
der mystischen Einung (Henosis) weist eine analoge Struktur auf.15
Zweifellos akzentuiert noch Kant ein existentielles Transzendenzver-
ständnis, wenn er die Aktivität der Einbildungskraft als „eine verborgene
Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“ bezeichnet, „deren wahre
Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abrathen und sie unverdeckt
14 Friedrich Schiller, ber Matthissons Gedichte, NA Bd. 22. Weimar 1958, 273 f.
Vgl. zu Kant und Schiller auch: Hans Feger, Die Macht der Einbildungskraft in der
sthetik Kants und Schillers, Heidelberg 1995.
15 Vgl. zu Plotin: Thomas Rentsch, „Strukturen ästhetischer Erfahrung“, a.a.O.
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion 389
vor die Augen legen werden“.16 Noch bis zu Wittgenstein reicht das
bislang aufgewiesene, ästhetische wie religiöse Transzendenzverständnis,
wenn er schreibt: „Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeter-
nitatis gesehen; […] Die gewöhnliche Betrachtungsweise sieht die Ge-
genstände gleichsam aus ihrer Mitte, die Betrachtung sub specie aeter-
nitatis von außerhalb. So daß sie die ganze Welt als Hintergrund haben“.17
In meiner kurzen Darstellung bin ich auf die außergewöhnlich reich-
haltigen Befunde im Deutschen Idealismus nicht eingegangen. Es sei nur
– neben der Bedeutung der intellektuellen Anschauung für Schelling und
die innere Unendlichkeit des Individuums bei Hegel als offenbares Ge-
heimnis und Zentrum des Christentums und der religiösen Vernunft – auf
Fichte hingewiesen. Genau aus den skizzierten Gründen konzipiert er
1792 eine Offenbarung a priori. In ihr kann das Moralgesetz „durch eine
Kraft des Gemüths an die Seele gebracht werden, welche von der einen
Seite sinnlich […], von der anderen durch Freyheit bestimmbar ist, und
Spontaneität hat“: durch die produktive Einbildungskraft, die als
„wunderbare(s) Vermögen“ auf der Grenze zwischen den scheinbar
unvereinbaren Gegensätzen der Sinnlichkeit und des Absoluten diese
doch beide „zugleich fest“ hält, zwischen beiden „schwebt“, beide
„berührt“, so „wieder von ihnen zurückgetrieben“ wird, so dass sie die
„Möglichkeit […] unsers Lebens, unsers Seyns für uns“ ist.18
2
Was ergibt sich systematisch aus der Kontinuität der Struktur dieser
Befunde von Platon und Dionysios bis zu Kant und Wittgenstein? Jörg
Hermann wies bereits in seiner Analyse der Entsprechung von mystischer
und ästhetischer Erfahrung darauf hin, dass auch die postmoderne Äs-
thetik Lyotards das Erhabene als plötzliches Ereignis des Bildes bestimmt.
So ist das Thema der Bilder von Barnett Newman „der Augenblick, der
16 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akad. Ausg., ND Berlin 1968, Band
III, 180 f. (Randzählung).
17 Ludwig Wittgenstein, Tagebcher 1914 – 1916, in: Schriften 1, Frankfurt a.M.
1969, 176 (Eintrag vom 7. 10. 1916).
18 Johann Gottlieb Fichte, Gesamt.-Ausg. der Bayer. Akad. d. Wiss. Bd. I/1, 68 und
Bd. I/2, 353 – 369; s. auch: Karl Homann, Artikel „Einbildung, Einbildungs-
kraft“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 2, Basel/Stuttgart 1972,
346 – 358.
390 Teil 2. Ästhetik
geschieht“ und so „das Mysterium des Seins“.19 Mit Bezug auf Derrida
ließe sich gerade im Blick auf seine letzten religionsphilosophischen
Texte zu Kant zeigen, dass die antizipierende Erfahrung von Spuren des
Absoluten in ihrer ständigen Ferne und Entzogenheit geradezu die
Grunderfahrung seines Denkens ist.20
Meine systematische Antwort auf die Frage nach Identität und Dif-
ferenz von ästhetischer und religiöser Sinnerfahrung und Bildlichkeit lässt
sich zunächst so formulieren, dass ein vertieftes und reflexiv gewordenes
Welt- und Selbstverständnis ohne Transzendenzdimension nicht zu ha-
ben ist. Mit dem Bewusstsein der Antizipation des Absoluten in der
Endlichkeit und Wirklichkeit der sinnlichen Welt geht die Genese eines
tendenziell radikalen Negativitätsverständnisses einher: das Absolute ist
unverfügbar, entzogen und unfassbar, und gerade so setzt es die innere
Unendlichkeit der Wirklichkeit für das formende Bewusstsein des
Menschen frei. Die Aspekte der Tiefe, der Ferne, der Fülle und
Grundlosigkeit der Wirklichkeit unter Einschluss unserer eigenen Natur
als Individuen, als Wesen innerer Unendlichkeit sind für die religiöse
Vernunftperspektive ebenso konstitutiv wie für die sinnliche Erfahrung
und Gestaltung des Schönen und seiner Abwesenheit. Die Einbil-
dungskraft wird in den für die Genese der okzidentalen Kultur grund-
legenden Paradigmen vom Platonismus bis zu Kant und zur Postmoderne
als Schnittstelle von Transzendenz und Immanenz gedacht, als Schnitt-
stelle von Praxisende und Hoffnung.
Die bereits herausgearbeiteten, vernunftkonstitutiven Aspekte der
Negativität und der Universalität der durch die Einbildungskraft ästhe-
tisch wie religiös erschlossenen immanenten Transzendenzerfahrung
verhelfen uns zur Bestimmung ihrer Bedeutung für die Gegenwart.
Erstens müssen wir dazu ihren Alltags- und Lebensbezug begreifen.
Zweitens müssen wir ihre praktische und politische Bedeutung auch in
weltgeschichtlicher und interkultureller Hinsicht ausloten. Die Sinn-
entwürfe des immanenten Transzendierens sind aufgrund der kreativen
Potentiale der menschlichen Einbildungskraft sprachlich und bildlich von
19 Jörg Herrmann, „Wir sind Bildhauern gleich. Von der Verwandlung mystischer
in ästhetische Erfahrung“, in: ders. u. a. (Hg.), Die Gegenwart der Kunst (Anm. 12),
87 – 105, dort 87. Zitiert wird Jean-François Lyotard, „Das Erhabene und die
Avantgarde“, in: ders., Das Inhumane, Plaudereien ber die Zeit, Wien 1989, 159 –
187, dort 165.
20 Jaques Derrida, „Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ,Religion’ an den
Grenzen der bloßen Vernunft“, in: ders./ Gianni Vattimo, Die Religion,
Frankfurt a.M. 2001, 9 – 106. Vgl. dazu Thomas Rentsch, Gott, 184 – 186.
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion 391
21 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken?“
in diesem Band.
22 Theodor W. Adorno, sthetische Theorie, Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt
a.M. 1970, 258 f.
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion 393
Von Wilhelm Lehmbruck stammt der Satz „Alle Kunst ist Maß; Maß
gegen Maß.“ Die Bestimmungen des Maßes, der Proportion, der Sym-
metrie, Ordnung und Harmonie lassen sich verstehen, wenn wir uns klar
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? 395
2
Wir können heute, nach dem Jahrhundert der Analysen Heideggers und
Wittgensteins, philosophische Fragen nach der Konstitution nicht mehr
länger im Blick auf ontologische Strukturen der Wirklichkeit beant-
worten; und ebensowenig können wir sie im Blick auf Strukturen von
Subjekten bzw. eines „Bewusstseins überhaupt“ behandeln. Vielmehr
müssen wir unseren Blick auf die sprachlich verfasste kommunikative
Lebenspraxis richten: auf die von uns praktizierten Sprachhandlungs-
zusammenhänge in fragilen, opaken, naturhaften, materiellen und end-
lichen Lebenssituationen. Wir sind leiblich-sinnliche, endliche und be-
dürftige Wesen, die der kommunikativen Praxis fähig sind. Aus der
lebensweltlichen Sprache und Praxis der Verwendung solcher Worte wie
„wahr“, „richtig“, „es gibt“, „existiert“, „wirklich“ entsteht die kriterial
konstituierte Praxis der theoretischen Intersubjektivitt. Aus der kommuni-
kativen Praxis der Verwendung von Worten wie „gut“, „sinnvoll“,
„Einsicht“, „menschlich“, „unmenschlich“, „anständig“, „schrecklich“
erwächst die kriterial (grammatisch) konstituierte kommunikative Le-
bensform der praktischen Transsubjektivitt. Entsprechend lässt sich in der
alltäglichen Verwendung der urteilenden Prädikate „schön“, „herrlich“,
„hässlich“, „meisterhaft“ , „wohlgefällig“, „grauenhaft“, „außerge-
wöhnlich gelungen“, „total misslungen“, „einmalig“ in den entspre-
chenden Kontexten das Fundament der kommunikativen Lebensform
der sthetischen Konsubjektivitt oder kurz: der ästhetischen Praxis anset-
zen. Das fundamentale Erkenntnisinteresse an sowohl theoretischer
Wahrheit wie auch an praktischen Einsichten ist evident tief in unserer
Bedürfnisstruktur verwurzelt. Und so fundamental wie das universale
Formgebungsproblem wurzelt auch unser Interesse an einer gemeinsa-
men Praxis ästhetischen Umgangs und Urteilens.
Die (grammatische) Konstitution eines bestimmten Bereiches er-
schließt sich, analysieren wir Voraussetzungen (transzendentale Präsup-
positionen) lebensweltlicher Sprache und Praxis dieses Bereiches. Hin-
sichtlich des Bereiches des Ästhetischen wurden die formalen
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? 399
7 Vgl. Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der sthetik des
Alexander Baumgarten, Wiesbaden 1972.
8 Vgl. Thomas Rentsch, „Ästhetische Anthropomorphie. Die Konstitution des
Schönen und dietranszendental-anthropologische Bestimmung thaumatisch-
auratischer Weltverhältnisse“, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphi-
losophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt a.M. 1991, 27 – 35 u. 308 – 321. Aus
der kritischen Berliner Diskussion ergab sich meine modifizierte Darstellung
ästhetischer Sinnbedingungen im vorliegenden Aufsatz.
9 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Die Aktualitt des Schçnen. Kunst als Spiel, Symbol und
Fest, Stuttgart 1977, 32 ff.
400 Teil 2. Ästhetik
10 Oskar Becker, „Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des
Künstlers“, in: ders., Dasein und Dawesen. Gesammelte philosophische Aufstze,
Pfullingen 1963, 11 – 40.
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? 401
11 Vgl. dazu Franz Koppe, Grundbegriffe der sthetik, Frankfurt a.M.1983, 166 – 169.
402 Teil 2. Ästhetik
3
Die aufgezeigten Kategorien der Konsubjektivität entspringen der –
unübersehbar vielfältigen – Gestaltungspraxis des ästhetischen Umgangs
in jeweils ausdifferenzierten geschichtlichen Lebensformen. Bereits der
Teloscharakter, aber auch die übrigen Sinnbedingungen dieser Praxis
verweisen auf die kommunikative Verfassung des ästhetischen Welt-
verhältnisses: Im kommunikativen Akt des Schenkens erfährt die Be-
schenkte die Schönheit der Rosen. Auch in der lebensweltlich-prag-
matischen Rekonstruktion wird sichtbar: Kant hatte Recht mit seinen
Bestimmungen des sensus communis und des „Ansinnens“ der Allge-
meingültigkeit der subjektiven Geschmacksurteile; auch ästhetisches
Mitsein mit Anderen kennt eine spezifische Form der Universalität, so,
wie theoretische Intersubjektivität die Universalität von Wahrheitsan-
sprüchen, so, wie praktische Transsubjektivität die Universalität von
moralischen Geltungsansprüchen. Die Universalität, die sich durch die
ästhetische Konsubjektivität herstellt, ist nun dadurch besonders ausge-
zeichnet, dass die Subjekte im Medium des ästhetischen Weltverhältnisses
eine Beziehung zu den anderen Subjekten „kon-subjektiv“ einnehmen
können, in der sie in ihrer Sinnlichkeit und Bedürftigkeit zwanglos sie
selbst als Individuen bleiben, und in der sie dennoch mit den Anderen auf
eine genuine, tiefe und wesentliche Weise vergemeinschaftet werden.
Diese Tiefendimension ästhetischer Kommunikation und Universalität
führt uns auf die Eigenart der ästhetischen Angemessenheit. Den Kern-
bereich des Ästhetischen bilden nämlich, so meine These, genuin an-
thropomorphe Phänomene. Im Medium der ästhetischen Gemeinsam-
keit können Subjekte zwanglos und entlastet der Tiefe und Komplexität
ihrer inneren Bedürfnisnatur innewerden, so sich selbst im „Anderen
ihrer selbst“ erfahren (Hans Robert Jauß sprach vom „Selbstgenuß im
Fremdgenuß“12) und sich in der Totalität ihrer Weltbezüge begegnen.
Diese Analyse entspricht der Grundidee der Ästhetik Kants, und auch
seiner Konzeption der ästhetischen Ideen. Die Leitidee, die er auf der
Ebene einer Analytik der ästhetischen Geschmacksurteile entfaltet, ge-
stattet ihm deshalb in seiner Theorie des Schönen auch eine Rekon-
strukion der Platonischen und metaphysischen Tradition. Diese Idee
besagt: Im Medium ästhetischer Erfahrung werden Bedingungen von
Erfahrungsfähigkeit überhaupt auf prägnante Weise thematisch. Ästhe-
12 Zum Genussbegriff, vgl. Hans Robert Jauß, Kleine Apologie der sthetischen Er-
fahrung. Mit kunstgeschichtlichen Bemerkungen von Max Imdahl, Konstanz 1972.
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? 403
13 Dies hat bei Kant mit der transzendentalen Affinität zwischen Vernunftregulation
und Verstandeskonstitution zu tun; vgl. Günter Wohlfart, „Zum Problem der
transzendentalen Affinität in der Philosophie Kants“, in: Akten des 5. Internatio-
nalen Kant-Kongresses, Bd. 1.1, Bonn 1981, 313 – 322.
14 Vgl. Christian v. Ehrenfels, „Über ,Gestaltqualitäten‘“, in: Ferdinand Weinhandl
(Hg.), Gestalthaftes Sehen. Ergebnisse und Aufgaben der Morphologie, Darmstadt
1960, 11 – 43.
404 Teil 2. Ästhetik
Widerständigkeit preis und schmiegen sich mit ihrem Antlitz der be-
dürftigen Subjektivät an. Dieses Passen ist Grund auch der Kategorie der
Mimesis.
(3) Auch die ästhetische Singularitt entspricht den Sinnbedingungen
des humanen Lebens, und zwar auf eminente Weise. Im ästhetischen
Phänomen – bereits in den Rosen – tritt uns (der Idee und der Mög-
lichkeit nach) eine unbegreifliche (begrifflich uneinholbare) individuelle
Weltgestalt entgegen. Auch jedes menschliche Leben hat eine einmalige,
irreduzible, unaustauschbare und unwiederholbare Gestalt. Die qualita-
tive, bedeutsame Lebenszeit weist die Form inkommensurabler Augen-
blicklichkeit auf. Auch ästhetische Phänomene zeigen diese Form ein-
maliger Gestalt (die Rosen, Gebirgszüge, Wolken, Wellen, Dünen) oder
gestalteter Einmaligkeit (z. B. ein architektonisches Ensemble wie
Dresden oder die Phänomene der pulchritudo vaga bei Kant). Das Moment
des Nichtdiskursiven, begrifflich Unsagbaren des Schönen ist für die
spezifisch konsubjektive Kommunikation notwendige Bedingung. Sie
wurde dementsprechend ästhetik-theoretisch früh, z. B. von Dubos und
Batteux, bemerkt und auf die auch Leibniz geläufige Grundformel „Je ne
say quoy“ gebracht. (Auf die Zusammenhänge mit mystischer Erfahrung
und der logischen Struktur der visio beatifica bin ich andernorts einge-
gangen.15 Der Schwund des Schönen scheint etwas mit dem „Tode
Gottes“ zu tun zu haben.) Da dieses Moment des Unbegrifflichen eine
entscheidende Differenz zur theoretischen und praktischen Vernunft und
Kommunikation darstellt, sei es im Blick auf die ekstatische Tiefen-
struktur der ästhetischen Ideen Kants einmal etwas genauer beleuchtet.
Die für die cognitio sensitiva, für die ästhetische Erkenntnis charakte-
ristischen vielsagenden Vorstellungen (perceptiones praegnantes) ermögli-
chen bereits in Baumgartens Ästhetik eine klare und sinnliche Erkenntnis
der Fülle des Gegenstandes (ubertas aesthetica, venusta plenitudo), eine Er-
kenntnis seiner nicht-deutlichen, nicht-abstrakten, individuierten To-
talität. Wovon wir keinen deutlichen, letztlich: wissenschaftlichen Be-
griff gewinnen können, dies zeigen die ästhetischen Ideen: die Tiefe,
Ferne, Fülle und Grundlosigkeit unserer inneren Natur, die diskursiv
uneinholbar und reflexiv unüberbietbar ist, und die Leibniz als den
wogenden fundus animae bezeichnete. Sie – das eigentlich Unsagbare, das
15 Vgl. Thomas Rentsch, „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Ge-
schichte der ästhetischen Idee“ in diesem Band.
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? 405
16 Nach Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Akademie-Ausgabe, Bd. V, Berlin
1908, §§ 26, 27.
406 Teil 2. Ästhetik
17 Zur Struktur praktischer Sinnentwürfe, vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der
Moralitt. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Frankfurt a.M.
2
1999, 115 – 129.
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? 407
20 Vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O., 88 – 93, l08 f.
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht
Der Entwurf ist die existentiale
Seinsverfassung des Spielraumes des
faktischen Seinkönnens.
M. Heidegger
1
So, wie wir Menschen und Dinge wahrnehmen, so verhalten wir uns
auch zu ihnen. Meine Analysen betreffen den Kernbereich der Konsti-
tution der menschlichen Praxis. Der Entwurfcharakter des menschlichen
Daseins wurde von Heidegger in seiner ekstatischen Struktur beschrie-
ben. Die Konstitution der lebensweltlichen Horizontbildung bzw. Ho-
rizontvorzeichnung wurde von Husserl wegweisend thematisiert. In
diesen Analysen wird bereits das konstitutiv antizipatorische Moment der
Entwurfspraxis und der Horizontbildung deutlich. Wenn ich einen ap-
petitlichen Apfel sehe, so bin ich mir vorweg ekstatisch (außer mir) beim
Apfel und komme so auf mich zurück in meine jeweilige ganze Le-
benssituation. Die raum-zeitliche Konstitution der Praxis ist ekstatisch-
sinnantizipierend verfasst. Sie hat, auch dies wird deutlich, einen primär
ganzheitlichen Status; wir können Situationen der Horizontbildung und
der Entwurfspraxis nicht in einzelne isolierte Entitäten „an sich“ auf-
spalten, in mich an sich, in den Apfel an sich, in den Anblick des Apfels an
sich etc. Diese sich zeigenden Aspekte sind Sinn-Aspekte des situatio-
nalen Gesamtsinns, der sich uns in den jeweiligen konkreten Lebenssi-
tuationen erschließt, der sich zeigt. Primäre Sinnantizipation und Hori-
zontbildung sind durch einen irreduziblen Holismus minimaler interner
Komplexität konstituiert. (Alle Wissenschaften entstehen durch Re-
duktion, Objektivation und Isolation dieser primären ganzheitlichen
Komplexität.)
Über diese Analyse hinaus muss mit Heidegger und Wittgenstein die
primäre sprachliche Erschlossenheit der Horizontbildung hervorgehoben
werden. Gerade, weil, wie Wittgenstein überzeugend herausarbeitet hat,
sprachliche Bedeutung mit der außersprachlichen Gebrauchspraxis
konstitutiv verklammert ist, wissen wir, was ein Apfel ist und dass das da
vor uns ein Apfel ist, weil wir wissen, wie ein Apfel schmeckt, wie wir mit
410 Teil 2. Ästhetik
trachtung offen zugänglich ist und zutage liegt. Ohne Hermeneutik und
Dialektik gibt es daher keine Phänomen- und keine Sprachanalyse.
Bereits die Erfassung und Betonung des pragmatischen, lebenswelt-
lich-praxisbezogenen und des konstitutiv sprachlichen Charakters der
Horizontbildung erlaubt es gegen eine bewusstseinsphilosophisch aus-
gerichtete, an einzelnen Bewusstseinsleistungen bzw. an einem zunächst
isoliert gedachten transzendentalen Subjekt ausgerichtete Analyse ihren
primär sozialen, kommunikativen, intersubjektiven, besser: interexistentiellen,
interpersonalen Charakter zu erkennen. Ein isoliert gedachtes Orientie-
rungssubjekt gelangt nie von sich aus zum isoliert gedachten Apfel,
sondern eingebettet in die gesamte, komplexe Sprach- und Handlungs-
praxis bin ich allererst in die Lage versetzt, den Apfel, seinen Geschmack,
seine Farbe, seinen Duft, seine Konsistenz sinnvoll zu antizipieren. In
unserer Welt, und in unserer gemeinsamen Sprachwelt, sind Äpfel er-
schlossen. Die intersubjektive Konstitution der Horizontbildung ist un-
hintergehbar. Erst auf ihrem material-apriorischen Fundament ist dann
auch eine individuelle Entwurfspraxis möglich (und stets nötig). Zum
Beispiel beruht die Höchstform subjektiver Gestaltungs- und Aus-
drucksfähigkeit bei einem Komponisten wie Schubert eben gerade nicht
auf bloß subjektivistischen Intuitionen, sondern auf der gesamten kom-
plexen, hochgradig vorkonstituierten Kompositionstechnik der klassi-
schen Wiener Schule, der Sonatenhauptsatzform und der intersubjektiv
konstituierten Öffentlichkeit der Aufführungspraxis vom frühen Haydn
bis zum späten Beethoven. Gleiches gilt für alle Künste und für die Ar-
chitektur.
Im Folgenden will ich die Analyse der Horizontbildung und der
Entwurfspraxis noch vertiefen, indem ich die aufgewiesenen Struktur-
momente der ekstatischen Sinnantizipation, des irreduziblen qualitativen
Holismus, der konstitutiven Negativität des Hintergrundes und der
Passivität, der primär sprachlichen Erschlossenheit und der sozial-kom-
munikativen, intersubjektiven Konstitution (vor aller Privatheit) um
weitere notwendige Strukturmomente ergänze. Die Analysen sind gegen
reduktionistische, szientistische, theoretizistische Auffassungen von un-
serem Welt- und Selbstverhältnis gerichtet, Auffassungen, die vorhan-
denheitsontologisch bzw. vorhandenheitssemantisch unsere Sicht auf die
lebensweltliche Praxis verstellen und vergessen und die letztlich von einer
dualistischen Ontologie von Subjekt und Objekt bzw. Subjekt und
Subjekt oder von einer Referenzsemantik des Abbildverhältnisses von
sprachlichen Unterscheidungen und vorhandenen Dingen ausgeht, d. h.:
von einer verdinglichten, verfallenen Ontologie, die allerdings viele
412 Teil 2. Ästhetik
2
Die paradigmatischen Analysen und Bezüge dienen auch der kontrastiven
Erläuterung und kulturellen Kontextualisierung meiner Überlegungen.
Sie sollen Horizontbildung und ihre theoretische Thematisierung
gleichzeitig in den Blick nehmen. Die Bemerkungen können in unserem
Rahmen nur kurz Aspekte skizzieren. Dennoch sollen sie auch so etwas
wie eine modellhafte Ultrakurzgeschichte der Horizontbildung darstel-
len, eine Geschichte, die eben bis zu unserer gegenwärtigen Frage- und
Orientierungssituation führt.
Ein erster Bezug ist der auf die Urgeschichte der Menschheit. In
seinen Untersuchungen zu einer philosophischen Biologie, die 1973
unter dem Titel Organismus und Freiheit auf deutsch erschienen, hat Hans
Jonas die urmenschliche Höhlenmalerei zum Ausgangspunkt seiner
Analysen der „Freiheit des Bildens“ gemacht. Der Mensch ist für ihn, wie
für Cassirer, animal symbolicum, Bilder entwerfendes und so sich aus, in
und durch sie verstehendes Wesen. In der Bildentwurfspraxis verdichten
sich bereits in den frühesten Zeugnissen der Menschheitsfrühgeschichte
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht 413
die Aspekte von Freiheit und Sinn: menschliches Handeln ist ein freies
Fortsetzen nicht-festlegender Anfänge von bewusstem, verstehbarem
Sinn. Horizontbildung setzt imaginative Freiheit voraus. Diese vermag
sich von den Gegenständen zunehmend abzuheben und zu eigenstän-
diger Gestaltgebung überzugehen. Das Bewusstsein der Differenz des
Entwerfenden selbst vom entworfenen Sinn wie auch von der gegen-
ständlichen Wirklichkeit der Außenwelt muss dabei bereits ausgebildet
sein, und damit der entscheidende Schritt zur Menschwerdung durch
Sprache, Freiheit und Sinnorientierung. „Der Nachschöpfer von Dingen
ist […] potentiell auch der Schöpfer neuer Dinge […]. Die erste vor-
sätzlich gezogene Linie erschließt jene Dimension von Freiheit“, die „als
ganze“ „die aktuelle Wirklichkeit“ „transzendiert“ und ein „Feld un-
endlicher Variation als ein Reich des Möglichen“ eröffnet, „das vom
Menschen wahrgemacht werden kann nach seiner Wahl.“1 Dabei ist der
praktische Bild- und Sinnentwurf nach Jonas gerade mit der leiblich-
sinnlichen Basis der Konstitution verklammert: das transanimalische,
einzigartige menschliche Urphänomen der eidetischen Kontrolle der
Motilität (der Muskeltätigkeit) „regiert nicht von festen Reiz-Reakti-
onsschemata, sondern von freigewählter, imaginierter und vorsätzlich
projizierter Form.“2 Dies gilt für das Malen, für das Tanzen, wie später für
das Sprechen, Hören und Schreiben. „Die eidetische Kontrolle der
Motilität, mit ihrer Freiheit äußerer Ausführung, ergänzt so die eidetische
Kontrolle der Imagination, mit ihrer Freiheit inneren Entwerfens. Ohne
die letztere gäbe es kein rationales Vermögen, aber ohne die erste wäre
sein Besitz umsonst, weil wirkungslos. Beide zusammen ermöglichen die
Freiheit des Menschen. Homo pictor, der beide in einer anschaulichen,
unteilbaren Evidenz zum Ausdruck bringt, bezeichnet den Punkt, an dem
homo faber und homo sapiens verbunden sind – ja, in dem sie sich als ein
und derselbe erweisen.“3 So konzentriert der Bildentwurf eines Büffels,
den der vorzeitliche Jäger an die Höhlenwand zeichnete, in seiner Ab-
breviatur noch einmal dessen Welt und ihren lebensweltlichen Sinnho-
rizont.
Horizontvorzeichnung mit lebensweltlich-praktischem Fundament
erschließt uns somit in gewisser Weise den Zugang zum Zentrum der
1 Hans Jonas, „Homo pictor: Von der Freiheit des Bildens“, in: ders., Organismus
und Freiheit. Anstze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, 226 – 257,
dort 243.
2 Ebd., 244.
3 Vgl., ebd.
414 Teil 2. Ästhetik
4 Vgl. zum Folgenden meinen Aufsatz „Was ist eine Welt? Bermerkungen zum
Verhältnis von Philosophie und Weltanschauung“, in: Johannes Rohbeck (Hg.),
Philosophie und Weltanschauung, Dresden 1999, 49 – 65 sowie Texte aus dem
Enuma Elisch, in: Die Schçpfungsmythen. gypter, Sumerer, Hurriter, Hethiter,
Kanaaniter und Israeliten., Darmstadt 1980, 134 ff. Dazu: Carmen Blacker/ Mi-
chael Loewe (Hg.), Weltformeln der Frhzeit. Die Kosmologien der alten Kulturvçlker,
Düsseldorf, Köln 1977 sowie: Hubertus Halbfas, Das Welthaus. Ein religionsge-
schichtliches Lesebuch, Stuttgart 1983.
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht 415
sind das vorgängige Oben (männlich) und Unten (weiblich). Aus ihnen
entspringen zwei Zeiten, die himmlische und die irdische. Außerdem geht
aus Anschar Anu, der Himmelsgott, hervor. Dieser schafft den Urhim-
mel, und sein Sohn Enki den kosmischen Urabgrund, auf dem alles ruht.
Am Busen dieses Abgrunds wird Marduk geboren, der göttliche Cha-
oskämpfer. In einem Kampf vornehmlich gegen Thiamat (das Urmeer)
und ihre Chaosmächte ordnet Marduk den Kosmos endgültig. Auf dem
Leichnam der Thiamat wird die Erde gegründet: auf ihrem Haupt erhebt
sich ein Berg, aus ihren Augen entspringen Tigris und Euphrat, auf ihrem
Busen stehen üppige Hügel. Marduk lässt nun Anu, Anlil (den Windgott)
und Enki ihre Plätze einnehmen. Dann schafft Marduk die Menschen aus
dem Blut eines geopferten Gottes, und zwar, damit ihnen
der Dienst der Götter zufalle, damit diese ruhen können […]
auf dass der Dienst der Götter ihr Los sei auf immer.
Das System der babylonischen Welt sieht jetzt vereinfacht so aus:
Anu-Himmel
Erdscheibe
Weltberg
(Tempel E-Anna, Haus des Himmels)
Enki-Bereich
(kosmischer Urabgrund)
Der Weltberg ist der Tempel in Uruk, er hat die gleiche Bedeutung wie
der Weltbaum oder Weltpfahl der Sumerer, die wir oben erläutert haben.
In weiteren Mythen werden die Einsetzung und die Funktionen der
Königs und der Priester und die einzelnen Rituale festgelegt. In diesem
4000 Jahre alten Weltentwurf gibt es eine genaue Entsprechung des
416 Teil 2. Ästhetik
5 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die
philosophische Anthropologie, New York/Berlin 1975, 288.
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht 417
der Kopf der Schlange gut festgehalten wird. Um in der Welt als der
sinnhaften Gesamtwirklichkeit heimisch zu wohnen, baut man sich in ihr
Zentrum ein. Es ist ersichtlich, dass an diesem weltgeschichtlich vielleicht
bedeutendsten bisherigen Paradigma von Weltentwurf und Horizont-
vorzeichnung die Strukturmomente der ekstatischen, rückwirkenden
Sinnantizipation, des irreduziblen qualitativen Holismus, der sinnkon-
stitutiven Negativität und Passivität (also das Eingelassensein in die in der
Horizontbildung vergegenwärtigten natürlichen, kosmischen Bezüge),
die Momente der sprachlichen Erschlossenheit und der sozial-kommu-
nikativen, intersubjektiven Konstitution ebenso aufweisbar sind wie das
normativ-ethische Moment, das leiblich-materielle und das situativ-in-
dividuierte.
In einem dritten Paradigma beziehe ich mich auf Vastu, die indische
Lehre vom guten Bauen und Wohnen.6 Die hinduistischen Bauten sollen
die kosmische Ordnung vergegenwärtigen. Der Architekt wird als Arzt
verstanden. Entscheidend ist, dass das Wesen der Technik in dieser Tradition
nichts Technisches ist, sondern dass die Bautechniken auf Weisheitstradi-
tionen aufruhen. Es geht bei dieser Baukunde um das Einwohnen in einer
Totalität in rechter, guter, gesunder Balance. Die in diesem Horizont-
entwurf vorgezeichnete Totalität wird aus den fünf Basis-Elementen
Wasser, Feuer, Luft, Himmel und Erde gebildet. Die Prinzipien der Lehre
haben einen klaren Lebensform-Praxisbezug: Orientierung, Situierung,
Proportionalisierung und maßvolle Gestaltung, schließlich Schönheits-
aspekte sind leitend. Raum und Zeit sind in diesem Horizontentwurf keine
entleerten Anschauungsformen, sie sind Lebensformen – wie auch in den
altorientalischen Weltbauten. In der indischen Baukunst mit ihrer
5000 Jahre alten Tradition wird eine qualitative Raumzeit mit konkretem
Bezug auf gelingende Lebenspraxis konzipiert. Im Maß, begriffen als
„Frieden und Segen“, wird so eine Einheit von Mensch und Natur, von
Geist und Leben in Gestalt einer integralen Biologie angestrebt. Der
Hausbau ist ein religiöser Akt. Es lässt sich nun, so die These der Dis-
sertation, zeigen, dass sich die Ansätze des Vastu mit dem modernen
Konzept des sustainable development verbinden lassen, auch ohne be-
6 Ich betreute vor einiger Zeit mit meinem Kollegen Bernhard Irrgang die phi-
losophische Dissertation einer Inderin, Reena Patra, an unserem Institut: Vastu
Shastra. An old Indian Technical Philosophy (Diss. TU Dresden 2003); vgl. auch:
Birgit Frohn/ Hans-Heinrich Rhyner, Vastu. Die indische Lehre vom gesunden
Bauen und Wohnen, München 1999 sowie Arun Kumar Tripathi, „Menschliche
Leiblichkeit und das Prinzip von Vastu Purusha Mandala“, in: Ausdruck und
Gebrauch 5, Heft II (2004) 41 – 48.
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht 419
3
Es geht meines Erachtens darum, die bleibende Gültigkeit der traditio-
nellen Paradigmen der Horizontbildung zu retten, indem wir sie aus ihren
ontologisch-objektivistischen und ontologisch-subjektivistischen Vor-
aussetzungen lösen, indem wir ihren Alltags- und Lebensbezug begreifen
und neu begreifen. In aller Alltäglichkeit nämlich praktizieren wir die
horizontbildenden Sinnentwürfe, die einst mythisch, metaphysisch bzw.
transzendentalphilosophisch vergegenwärtigt wurden. Die Sinnentwürfe
entfalten sich aufgrund der kreativen Potentiale der menschlichen Ein-
bildungs- und Antizipationskraft sprachlich, bildlich und technisch-
praktisch in unüberschaubarem Gestaltungsreichtum, sowohl diachron
wie synchron. Die Gestaltungsfreiheit und die Offenheit der Formgebung
über jeden Funktionalismus hinaus hat hier ihren Ursprung. Einerseits
sind Horizontvorzeichnung wie auch Gestaltgebung notwendig. Deswe-
gen kann man mit Husserl von dieser Notwendigkeit als von der Passivität
der Synthesis sprechen. In allen bereits elementaren Wahrnehmungs- und
Orientierungssituationen ist die Horizontbildung fr unsere Lebenspraxis sinn-
konstitutiv. 9 Eine menschliche Welt ist unmöglich ohne leiblich-zeitlich-
räumliche, sinnliche Horizontbildung, die einen gleichursprünglich-
ekstatischen Charakter besitzt. In diese vorprädikative Horizontbildung
ist auch die sprachliche Horizontbildung, die an der Basis in ganzen
Sätzen erfolgt, eingebettet. Wir müssen unsere Horizonte vorzeichnen
und kommen so aus der Zukunft auf uns zurück in die schon erschlossene
Gegenwärtigkeit. Aber wie wir bewusst gestalten und formen, dies ist in
Grenzen offen. Wir mssen unserer Welt, unseren Wohnungen, Häusern,
Städten und Gebrauchsgegenständen Form geben; aber das Wie ist in
Grenzen unbestimmt und offen.10 Für die gegenwärtige Reflexionssi-
tuation der Philosophie ist es nötig und möglich, künstliche Schein-
Oppositionen von Technik und Praxis, Wissenschaft und Kultur, Tra-
dition und Moderne zu überwinden. Wir können, das ist mein Ziel,
gerade so einen interkulturellen und intrakulturellen Gradualismus und
Differentialismus des Sinns der bewussten Entwurfspraxen auf letztlich
lebensweltlichem Fundament erreichen. Das universale lebensweltlich-
alltägliche Fundament der Horizontbildung und der Einbildungskraft ist
der menschliche Leib als der Ort der Synthese von Sinn und Sinnlichkeit.
Leiblich entwerfen und leben, leiblich gestalten, sprechen und wohnen
wir. Der Leib ist die wahrhaft ekstatische Mitte der menschlichen
Welterfahrung, in der deren Naturgrund und deren kommunikatives
Wesen sich vereinen und durchdringen. Die sublimierten und subjek-
tivierten Modi der epistemischen Rekonstruktion der Horizontbildung
in Transzendentalphilosophie, klassischer Phänomenologie und
Sprachanalyse erscheinen so noch als Verdeckungen des Leibes und der
lebensweltlichen Sinnlichkeit. In ihr hat das Bauen und Wohnen und
unser gesamtes Entwerfen und Gestalten seinen bleibenden Bezugspunkt.
Die Theorien der Subjektivität sind ebenso lebensweltentfremdet und
verkopft, wie auf ihre Weise die ontologisch-metaphysischen Theorien,
wenn wir sie objektivistisch verstehen. Auch die subjekttheoretischen
Ästhetiken der klassischen wie modernen Kunstentwicklung stellen nur
eine extrem partiale Sondervariante des in Wirklichkeit universalen
Gestaltgebungsproblems dar. Im Blick auf den fundamentalen Aspekt
ihrer lebensweltlichen Bedeutung müssen die Horizontbildung, die
Gestaltgebung und die Entwürfe neu gedacht werden im Kontext
praktischer Vernunft: als die verantwortliche Gemachtheit unserer ei-
genen Lebensumstände unter Einschluss der Verhässlichung der Welt und
der Unwirtlichkeit der Städte; als die Ganzheit der in natürliche Kreis-
läufe eingebetteten Praxis auch des Atmens, des Gehens, der Ge-
schwindigkeit, des Geräuschpegels, des Wohnens und Essens; als die
Einmaligkeit und Kostbarkeit verletzlicher leiblicher Individuen in ihrer
Naturhaftigkeit, Materialität und Endlichkeit, als die Fragilität des durch
Alter und Tod bedrohten organischen Lebens und als der selbstzweck-
hafte Teloscharakter sinnlich-bedürftiger, endlicher, Sinn und Erfüllung
antizipierender Wesen. Auf diese Weise würden sowohl subjektivistische
wie auch objektivistische, verdinglichte und reduktionistische Weltver-
ständnisse gesprengt. Der praktische Kontext der lebenssinnkonstitutiven
Horizontbildung kann für das Zwischen sensibilisieren, für das Inmitten
422 Teil 2. Ästhetik
von Natur und Kultur, von Negativität und Vernunft, das wir in
Wahrheit selber sind.11
Das Wohnen in der Zwischenstadt, im städtisch-landschaftlichen
Gebiet, kann demnach als konkretes Paradigma einer faktischen und zu
gestaltenden Lebenswirklichkeit begriffen werden, an dem Exzentrizität
und Re-Integration als Lebensform anschaulich werden. Die hier ge-
nuine Horizontbildung im Rahmen einer Grammatik des Randes, wie sie
Achim Hahn analysiert hat, bestätigt die Strukturmomente, die ich auf-
gewiesen habe, konkret.12 Es ließe sich so ein für die Moderne ein-
schlägiges, integratives, sowohl konstruktives wie mimetisches Paradigma des
Wohnens und des Lebens in der humanen Welt denken und entwerfen.
Es geht schließlich darum, ich will es abschließend mit Heidegger for-
mulieren, dass wir endlich heimisch werden in der Endlichkeit, da
nämlich, wo wir längst schon waren und eigentlich nur sind.
11 Vgl. Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000,
v. a. 9 – 29.
12 Vgl. dazu Achim Hahn/Michael Steinbusch, „Biographisch-räumliche Wan-
derung und das ,gute Leben’, in: Raumplanung 91 (August 2000) 191 – 196;
Achim Hahn, „Lebenswelten am Rand. Interpretationen zum kulturellen
Ausdruck von Wohnsuburbanisierung“, in: Brake u. a. (Hg.), Suburbanisierung in
Deutschland. Opladen 2001, 223 – 233.
Thesen zur philosophischen Metaphorologie
Ce qui n’est pas ineffable
n’a aucune importance
Valry
Zur Rede von der philosophischen Metaphorologie
Zunächst möchte ich vorschlagen, den Begriff „Metapher“ in einem
engeren, den Begriff „Bild“ in einem weiteren und fundamentaleren
Sinne zu verstehen, der gleich erläutert wird. Der Disziplinentitel
„philosophische Metaphorologie“ verdeckt bei Blumenberg diese Un-
terscheidung. Wissenschaftspolitische Gründe waren wohl dafür aus-
schlaggebend. Auch die angelsächsische Diskussion – etwa seit Mary
Hesse – verwendet „Metaphorologie“ ebenfalls in Zusammenhängen, in
denen weit besser von Bildern, Modellen oder auch von Paradigmen die
Rede sein könnte. Dann könnte man die harmlosen Metaphern-Fälle und
die ihnen entsprechenden Theorien (etwa Searle, mit Ausnahme seiner
Zeit-Beispiele) wieder auf sich beruhen lassen. Es ist klar, warum der Titel
gewählt wurde, denn „philosophische Symbolik“ bzw. „Philosophie der
symbolischen Formen“ sind antiquiert, und „Philosophie der Bilder“ o. ä.
klingt zu schwächlich.
8 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprach-
analysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003; ders., Die
Konstitution der Moralitt. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie,
Frankfurt a.M. 21999.
Thesen zur philosophischen Metaphorologie 429
(a) Sprache
Eine erste konstitutiv bildlich durchsetzte Sprachspielgruppe (Familie) ist
verbunden mit dem Reden über die Sprache und die sprachlichen Un-
terscheidungen selbst. Dieses Reden kann nicht auf Gegenstände refe-
rieren, auf sie zeigen im Sinne deiktischen Hinweisens, sondern dieses
Reden muss, um die menschliche Sprachsituation zu erschließen, selbst
etwas zeigen. Beispiele sind die „syntaktischen Metaphern“ bzw. die
Metaphern, die Frege zur Grundlegung einer nicht-aristotelischen Logik
verwendet (s. u.). Es muss hier eine Umlenkung der Blickrichtung ein-
geleitet werden, die Sprache muss anders gesehen werden. Es muss geklärt
werden, inwiefern über die Sprache auch bildlich gesprochen werden
muss, und inwiefern über sie in einem wesentlichen Sinne nur bildlich
gesprochen werden kann.
(b) Welt
Ebenso wie über die Sprache (als Ganze – ggf. ist dies das Kriterium
bezüglich auch-müssen/nur-können) so können wir auch bezüglich
einer weiteren transzendentalen Lebensform im Wesentlichen nur
konstitutiv-bildlich reden: angesichts unseres In-der-Welt-seins, ange-
sichts der Weltlichkeit. Die Lebenswelt als transzendentaler Horizont
unserer einzelnen Handlungsorientierungen ist selbst kein Gegenstand
einzelner referentialisierender Akte, sondern kann nur mit Hilfe von
Bildern (als „Hintergrund“) in ihrer Bedeutsamkeit sprachlich erschlossen
werden. Die Weltdimension der Metaphorologie zeigt sich aber auch in
der physikalischen Kosmologie z. B. angesichts des Urknalls. Der Urknall
wird in der Forschung als „eine verführerisch falsche Metapher“ be-
zeichnet; denn der „Urknall ist keine Explosion. Ein Feuerwerkskörper
zerplatzt in einem Punkt der Raumzeit; am Urknall jedoch begann die
Raumzeit erst ihre Existenz.“9 Aber das verführerische Bild einer riesigen
Explosion, die mit ihrem gewaltigen Getöse den Beginn der Existenz des
Universums einleitete, bewirkt einen guten Teil des öffentlichen Inter-
esses an der Kosmologie.
„inneren Natur“ kann nur bildlich erschlossen werden, ohne dass die hier
verwendeten Reden auf innere Objekte oder Zustände „in uns“ oder
„in“ anderen bezogen wären. Die Rede ist konstitutiv-metaphorisch; sie
konstituiert als Grammatik der Schmerzen, als Grammatik der Gefühle,
der Stimmungen, Befindlichkeiten und der Selbstverständnisse die
Subjektivität und die gleichursprüngliche Intersubjektivität, ohne dass
hinter dieser Rede ein „eigentlicher“, „wirklicher“ Entitätenbereich
erklärend gesichert werden könnte. Hier ist die bildliche Fundamental-
unterscheidung von innen und außen konstitutiv für die Grammatik dieser
Sprachspielgruppen, ohne dass eine subjektive Innenwelt von einer ob-
jektiven Außenwelt ontologisch und dichotomisch abgespalten werden
könnte. Das macht im Übrigen auch die fundamentalontologischen
Probleme an dieser Stelle metasprachlich so schwierig und führt zu Para-
Ontologien (Oskar Becker, Hermann Schmitz) alternative Ontologien
(Heidegger) oder negative Ontologien (Wittgenstein, Adorno).
(d) Freiheit
Das gilt insbesondere auch von einem zentralen Konstituens der
menschlichen Situation und des menschlichen Selbstverständnisses, der
Freiheit. Hier kann der Grenzfall reiner Negativität eintreten, wenn wir
überhaupt sagen wollen, was wir unter Freiheit verstehen.
(e) Zeit
Die konstitutive Bildlichkeit betrifft auch unser Reden von der Zeit. Wie
für unser „Innenleben“, so müssen wir auch für unsere Artikulation der
Zeiterfahrung im Wesentlichen räumliche Bilder gebrauchen. Auch die
transzendentale Lebensform der Zeitlichkeit können wir zwar jeweils
(z. B. datenzeitlich, messend, uhrzeitlich) objektivieren, jedoch geschieht
auch dieses Handeln wieder zeitlich verfasst.
(f) Gott
Die Rede von Gott, vom Sinn der Welt, vom Absoluten und vom
„Grund“ des Seins war schon immer bildlich: mythisch, religiös, litur-
gisch, sakramental, ästhetisch und theologisch. In der Kombination von
negativer Theologie und Analogielehre wurde diese Tatsache selbst von
Beginn an kritisch reflektiert.10 An diesem Bereich wird auch deutlich,
10 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005; ders., Artikel
Thesen zur philosophischen Metaphorologie 431
dass zu überlegen ist, ob und wann besser von Metaphern des Absoluten als
von absoluten Metaphern die Rede wäre.
„Theologie, negative“, in: Hist. Wçrterbuch der Philosophie Bd. 10, Basel 1998,
Sp.1102 – 1105.
11 Vgl. dazu: Hans Blumenberg, „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“,
in: ders., Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M.
1979, 77 – 93.
432 Teil 2. Ästhetik
14 Gottlob Frege, „Über Sinn und Bedeutung“, in: ders., Funktion, Begriff, Be-
deutung. Fnf logische Studien, Göttingen 1969, 44 f.
434 Teil 2. Ästhetik
Mantel.15 Die doppelte Negation wird als „Verschmelzung von etwas mit
sich selbst“, die Unterscheidung von Gedanke und Wahrheit mit einer
„Kernspaltung“ verbildlicht.16 Frege wehrt auch seiner Meinung nach
irrige Auffassungen der Negation durch Verbildlichungen ab.17 „Sätti-
gung“ und „Fügung“ eines „logischen Baus“, die dessen „Zusammen-
halt“ sichern, sind immer wieder auftretende Bilder.18 Sein Verfahren der
logischen Analyse verdeutlicht Frege am Beispiel der Subjunktion:
„Winke gehören zum Beiwerke, das in der Sprache des Lebens den
Gedanken oft umrankt. Meine Aufgabe ist es hier, durch Abscheidung
des Beiwerks als logischen Kern ein Gefüge von zwei Gedanken her-
auszuschälen, ein Gefüge, welches ich hypothetisches Gedankengefüge
genannt habe. Die Einsicht in den Bau der aus zwei Gedanken gefügten
Gedanken muss die Grundlage für die Betrachtung vielfältiger gefügter
Gedanken bilden.“19 Er verwendet Bilder bewusst und gezielt, und zwar
bereits im Rahmen erkenntnistheoretischer Erwägungen, versteht sie
jedoch andererseits eher als ein notwendiges Übel: „Ich muss mich be-
gnügen, den an sich unsinnlichen Gedanken in die sinnliche sprachliche
Form gehüllt dem Leser darzubieten. Dabei macht die Bildlichkeit der
Sprache Schwierigkeiten. Das Sinnliche drängt sich immer wieder ein
und macht den Ausdruck bildlich und damit uneigentlich. So entsteht ein
Kampf mit der Sprache […]“.20„Der Ausdruck ,Fassen’ ist ebenso bildlich
wie ,Bewusstseinsinhalt’. Das Wesen der Sprache erlaubt es eben nicht
anders.“21 Freges Bildlichkeit kommt aber nicht nur eine Verdeutli-
chungsfunktion zu, sondern ist für die Gewinnung seiner neuen Sicht-
weise der Form der Sprache geradezu konstitutiv. Denn abgesehen von
der schon gemäß der neuen Sichtweise vollzogenen Formalisierung
seiner alltagssprachlichen Beispielsätze stehen Frege – außer seinen Bil-
dern – nur noch syntaktische Metaphern im Sinne von Erik Stenius zur
15 Gottlob Frege, „Die Verneinung. Eine logische Untersuchung“, in: ders., Lo-
gische Untersuchungen, Göttingen 1966, 71.
16 Ebd., 63.
17 Ebd., 60.
18 Ebd., 72 f.
19 Ebd., 84.
20 Gottlob Frege, „Der Gedanke“, in: ders., Logische Untersuchungen, a.a.O., 40
(Anm. 15).
21 Ebd., 49.
Thesen zur philosophischen Metaphorologie 435
Verfügung. Stenius geht sogar selbst so weit, zu sagen, „daß alle philoso-
phischen Stze syntaktische Metaphern sind“.22
Eine erste explizite (transzendentale) kritische Reflexion der Bild-
lichkeit stellt bereits der Tractatus dar. Die root metaphor ist hier „logi-
scher Raum“. Sie ist irreduzibel. (In der mittleren Phase kennt Witt-
genstein dann viele logische Räume – dies sind transzendental-kategoriale
Gruppen oder Felder.) Im Tractatus gibt es im logischen Raum logische
Orte. Sie bilden ein „Gerüst“. Der logische Raum bildet die Welt der
Tatsachen ab. Der Raum ist endlich, begrenzt. Wittgenstein selbst ver-
wendet im Tractatus eine Sprache, die keinen Ort im logischen Raum hat.
Dies wird selbst metaphorisch vergegenwärtigt in der Leiter-Metapher:
Metaphorische Redeweisen bilden das (unhintergehbare) Fundament für
explizitere Formen der Rede. Können wir die Leiter auch wegwerfen, so
ist doch die Leiter der Metaphorik unverzichtbar.
In den Philosophischen Untersuchungen treten organische Metaphern
auf: alte Bedeutungen sterben, neue wachsen, die Sprache lebt im Ge-
brauch, andere und andere Bedeutungen wachsen den Worten zu. Die
geschichtlich-architektonische Metapher ist die der Sprache als alte Stadt,
mit vielen neuen Vierteln. Sprache wird sodann als Spiel verbildlicht. Das
Präzisieren geht vor sich aufruhend auf der Basis der Bilder, denn wir
müssen schon irgendwo stehen, um dann zu präzisieren. Und wir stehen
nicht im Reiche der Präzision/Exaktheit, sondern schwimmen im Meer
des Lebens. Daher schreibt Wittgenstein: „107. Je genauer wir die tat-
sächliche Sprache betrachten, desto stärker wird der Widerstreit zwischen
ihr und unsrer Forderung. (Die Kristallreinheit der Logik hatte sich mir ja
nicht ergeben; sondern sie war eine Forderung.) Der Widerstreit wird
unerträglich; die Forderung droht nun, zu etwas Leerem zu werden. –
Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedin-
gungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht
gehen können. Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung.
Zurück auf den rauhen Boden! 108. Wir erkennen, dass, was wir ,Satz’,
,Sprache’, nennen, nicht die formelle Einheit ist, die ich mir vorstellte,
sondern die Familie mehr oder weniger mit einander verwandter Ge-
bilde. – Was aber wird nun aus der Logik? Ihre Strenge scheint hier aus
dem Leim zu gehen. – Verschwindet sie damit aber nicht ganz? – Denn
wie kann die Logik ihre Strenge verlieren? Natürlich nicht dadurch, dass
man ihr etwas von ihrer Strenge abhandelt. – Das Vorurteil der Kristall-
reinheit kann nur so beseitigt werden, dass wir unsere ganze Betrachtung
drehen. (Man könnte sagen: Die Betrachtung muss gedreht werden, aber
um unser eigentliches Bedürfnis als Angelpunkt.)“23 Und Wittgenstein
stellt daher fest: „115. Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten
wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur un-
erbittlich zu wiederholen.“24 Das stellenweise nötige Präzisieren und
Definieren ruht immer auf der Bildlichkeit auf: die Reflexionsbegriffe
sind schon da.
Im Text ber Gewissheit werden diese Analysen noch einmal vertieft.
Gewisse fundamentale Einsichten, die Basis, das Flussbett unseres Wis-
sens, sind letztlich nur auf die Weise auszudrücken, in der wir in-der-
Welt-sind (existieren): Sie zeigen sich von sich selbst her: So, wie sich
unser Existieren in der Welt, (als jemeinige Person, in Zeit und Raum
usf.) nur zeigt. So sind fundamentale Metaphern irreduzibel und un-
übersetzbar. Rechtfertigung und Begründung kommen an ihr Ende,
weder rational noch irrational, sondern konkret in unserer menschlichen
Lebensform. Das Wissen gründet in der Anerkennung.25 Ich muss stets
bereits etwas nicht diskursiv Einlösbares an-erkannt haben, bestimmte
Bilder bereits problemlos verwenden können, um dann auch eine ex-
plizite und diskursive Ebene zu erreichen. Die Möglichkeitsbedingungen
von Rationalität gründen ihrerseits im Bildlichen: Eine menschliche
Lebensform ist konstituiert durch gemeinsame Erfahrungen, die sich in
bestimmten Bildern und Gleichnissen artikuliert, und gründet in diesen.
Die Reflexionsgeschichte, die kritische Selbstreflexionsgeschichte von
Frege bis zu Wittgenstein zeigt exemplarisch und im Paradigma einer
kritischen Sprachphilosophie und Logik ein Zu-sich-selbst-Kommen des
Geistes als vernünftiges Selbstbewusstsein im Hegelschen Sinne. Im Blick
auf die Bildlichkeit ist, wie Ricoeur mit Hegel formuliert, „das Speku-
lative die Bedingung der Möglichkeit des Begrifflichen“.26 So lässt sich
die Seinsgeschichte kritisch-hermeneutisch und praktisch als Vernunft-
geschichte begreifen und damit auch als Fortschritt im Bewusstsein der
Freiheit auch der Sprachverwendung, als Befreiung von falschen Bildern.
Wir sind es selbst, die handelnd sprechen, und keine Ontologie oder
sonstige Theorie nimmt uns dies ab. Die Sprache, die Wirklichkeit und
wir selbst sind intern unendlich komplex. Sie haben kein Abbildverhältnis
zueinander, noch einen Bezug zueinander außerhalb unserer letztlich
freien, offenen Entwurfspraxis.
Strukturen ästhetischer Erfahrung
Abstract
1
Zum Beispiel. Joseph von Eichendorff hat als Adliger unter der franzö-
sischen Revolution schwer gelitten. In seiner Novelle Das Schloß Drande
gestaltet er diesen Schmerz als die letzte Abschiedlichkeit einer unter-
gehenden Welt:
Ludwig XVI. und sein Hof waren damals in Versailles; Renald eilte sogleich
hin und freute sich, als er bei seiner Ankunft hörte, daß der König, der
Strukturen ästhetischer Erfahrung 439
unwohl gewesen, heute zum ersten Male wieder den Garten besuchen wolle.
Er hatte zu Hause mit großem Fleiß eine Supplik aufgesetzt, Punkt für Punkt,
das himmelschreiende Unrecht und seine Forderung, alles, wie er es dereinst
vor Gottes Thron zu verantworten gedachte. Das wollte er im Garten selbst
übergeben, vielleicht fügte es sich, daß er dabei mit dem König sprechen
durfte; so, hoffte er, könne noch alles wieder gut werden.
Vielerlei Volk, Neugierige, Müßiggänger und Fremde hatten sich un-
terdes schon unweit der Tür, aus welcher der König treten sollte, zusam-
mengestellt. Renald drängte sich mit klopfendem Herzen in die vorderste
Reihe. Es war einer jener halbverschleierten Wintertage, die lügenhaft den
Sommer nachspiegeln, die Sonne schien lau, aber falsch über die stillen
Paläste, weiterhin zogen Schwäne auf den Weihern, kein Vogel sang mehr,
nur die weißen Marmorbilder standen noch verlassen in der prächtigen
Einsamkeit. Endlich gaben die Schweizer das Zeichen, die Saaltür öffnete
sich, die Sonne tat einen kurzen Blitz über funkelnden Schmuck, Ordens-
bänder und blendende Achseln, die schnell vor dem Winterhauch unter
schimmernden Tüchern wieder verschwanden. Da schallt’ es auf einmal:
„Vive le roi!“ durch die Lüfte, und im Garten, soweit das Auge reichte,
begannen plötzlich alle Wasserkünste zu spielen, und mitten in dem Jubel,
Rauschen und Funkeln schritt der König in einfachem Kleide langsam die
breiten Marmorstufen hinab. Er sah traurig und bleich – eine leise Luft rührte
die Wipfel der hohen Bäume und streute die letzten Blätter wie einen
Goldregen über die fürstlichen Gestalten.1
Diese literarische Gestaltung entspricht genau der Theorie der ästheti-
schen Ideen, wie sie Kant – im Anschluss an die Lehre von den ästhe-
tischen Begriffen Baumgartens und Meiers – in der Kritik der Urteilskraft
(v. a. § 49) entwickelt hat:
Geist in ästhetischer Bedeutung heißt das belebende Princip im Gemüthe.
Dasjenige aber, wodurch dieses Princip die Seele belebt, der Stoff, den es
dazu anwendet, ist das, was die Gemüthskräfte zweckmäßig in Schwung
versetzt, d.i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die
Kräfte dazu stärkt.
Nun behaupte ich, dieses Princip sei nichts anders, als das Vermögen der
Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe
ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt,
ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein
kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen
kann. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer
1 Joseph von Eichendorff, Das Schloß Drande, in: ders., Werke, hg. von Wolf
Dietrich Rasch, München 1966, 1326 – 1364, dort 1346 f.
440 Teil 2. Ästhetik
Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung
(Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.2 (KU 192 f.)
Kant legt hier die eigentümliche Struktur einer spezifischen menschli-
chen Kommunikationsmöglichkeit frei: die Struktur der ästhetischen
Erfahrung, deren Kern und Wesen er auch als die Versinnlichung von
Vernunftideen bzw. fundamentaler Menschheitserfahrungen bezeichnet,
so z. B. Seligkeit und Ewigkeit, Liebe und Tod (KU 194). Ästhetische
Gestaltung versucht, diese Ideen bzw. Grunderfahrungen vermittels der
Einbildungskraft „über die Schranken der Erfahrung hinaus“ „in einer
Vollständigkeit sinnlich zu machen, für die sich in der Natur kein Beispiel
findet; und es ist eigentlich die Dichtkunst, in welcher sich das Vermögen
ästhetischer Ideen in seinem ganzen Maße zeigen kann.“ (ebd.)
Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft untergelegt
wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu denken
veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt,
mithin den Begriff selbst auf unbegränzte Art ästhetisch erweitert: so ist die
Einbildungskraft hierbei schöpferisch und bringt das Vermögen intellectu-
eller Ideen (die Vernunft) in Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung
einer Vorstellung zu denken (was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes
gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann. (KU 194 f.)
Kant nennt die Formen, die „nicht die Darstellung eines gegebenen
Begriffs […] ausmachen, sondern nur als Nebenvorstellungen der Ein-
bildungskraft die damit verknüpften Folgen und die Verwandtschaft
desselben mit andern ausdrücken“, sthetische Attribute eines Gegenstan-
des, „dessen Begriff als Vernunftidee nicht adäquat dargestellt werden
kann.“ (KU 195) Diese ästhetischen Attribute stellen im Unterschied zu
den logischen Attributen Kant zufolge nicht das dar, was in unseren
Begriffen liegt, „sondern etwas anderes […], was der Einbildungskraft
Anlaß giebt, sich über eine Menge von verwandten Vorstellungen zu
verbreiten, die mehr denken lassen, als man in einem durch Worte be-
stimmten Begriff ausdrücken kann; und geben eine ästhetische Idee, die
jener Vernunftidee statt logischer Darstellung dient, eigentlich aber um
das Gemüth zu beleben, indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches
Feld verwandter Vorstellungen eröffnet.“ (ebd.)
Mit einem Worte, die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe
beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen
3 Friedrich Schiller, ber Matthissons Gedichte, NA Bd. 22. Weimar 1958, 273 f.
Zur Analyse der ästhetischen Ideen vgl. Thomas Rentsch, „Der Augenblick des
Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee“ in diesem Band.
Strukturen ästhetischer Erfahrung 443
2
Auf diesem Hintergrund möchte ich abschließend noch genauer bzw. mit
eigenen systematischen Mitteln die Frage nach dem was und wie des An-
tizipierten in einer solchen ästhetischen Idee beantworten.
Was wird antizipiert mit und in der Struktur ästhetischer Erfahrung,
wie wir sie exemplarisch in der Eichendorffschen Szene vor uns sehen?
Folgende Strukturmomente4 möchte ich abheben – dass die Kantsche
Ästhetik dabei im Hintergrund steht, thematisiere ich nicht eigens – es
sind die Strukturmomente der
1. Artefaktizität,
2. der Totalität und Simultaneität,
3. der Nichtinstrumentalität,
4. der Singularität,
5. der kommunikativen Selbsttransparenz (der Subjekte)
6. und des Genuss- bzw. Glückscharakters, des Erfüllungscharakters der
ästhetischen Erfahrung.
4. Das Strukturmoment der Singularitt besagt, dass uns im Text als äs-
thetischem Phänomen eine einmalige, individuelle Gestalt entgegentritt.
Das Zusammenspiel der Formqualitäten, der ästhetischen Attribute, er-
gibt eine begrifflich-diskursiv uneinholbare, irreduzible Weltgestalt, bzw.
hier besser: Situationsgestalt, die nur sie selbst ist: eine nichtabstrakte,
sinnlich individuierte Ganzheit. Von solcher individuierten Totalität
konkreter Lebenssituationen erfahren wir nichts im Medium theoreti-
scher Intersubjektivität (in den Wissenschaften), nichts im Medium
praktischer Transsubjektivität (in der Ethik), aber wir erfahren davon im
Medium ästhetischer Erfahrung – im Medium ästhetischer Konsubjek-
tivität. Wovon wir keinen deutlichen wissenschaftlichen Begriff ge-
winnen können, dies zeigen die ästhetischen Ideen; die Tiefe, Ferne, Flle
und Grundlosigkeit unserer inneren Natur, das Je ne say quoy der frühen
Strukturen ästhetischer Erfahrung 445
zusagen an […] Wir behaupten nun, wenn die Seele das ist was ihr wahres
Wesen ist, […] so ist es das Verwandte oder auch nur die Spur des
Verwandten, dessen Anblick sie erfreut und erschüttert; sie bezieht das auf
sich selbst und erinnert sich ihres eigensten Wesens, dessen was sie in sich
trägt.“5 Dieses Innewerden der Spur des Verwandten scheint mir schon
diejenigen Aspekte der ästhetischen Erfahrung anzusprechen, die ich als
Tiefe der inneren Natur der Subjekte und als Totalität ihrer Weltbezüge
zu charakterisieren versuchte. Eine Untersuchung der Bedeutung des
Platonismus für die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Geschichte
der Ästhetik könnte auch die spezifisch anamnetischen Züge ästhetischer
Antizipation genauer ins Auge fassen, die bereits an unserer Beispiel-
analyse – als Erinnerung an humane Welterfahrung – ablesbar sind. Und
ebenso wird das Sichtbarmachen von auratischer Weltfülle und Einma-
ligkeit als Signum des Pleroma im Neuplatonismus mit Augenblick-
lichkeit und Plötzlichkeit (exaiphnes) verbunden – dem plötzlichen
Aufblitzen des Schmucks und dem Goldregen der Blätter bei Eichendorff
entsprechend. Es ergäbe sich in nuce eine Kontinuität der philosophischen
Analyse der Struktur ästhetischer Erfahrung, die letztlich in der Meta-
physikgeschichte gründet.
5 Plotin, Ennēade 1.6 (ber das Schçne), in: Plotins Schriften Bd. 1. Griechisch-
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131, 133f., 141–147, 149, 151, 292, 296, 317, 392
153–155, 158, 161, 180, 202, 207, Benn, Gottfried 92, 399
218, 228, 230, 252, 270, 289, 292, Berg, Alban 22
296–298, 303, 307, 314f., 317, Bernhard von Clairvaux 362
319, 328, 331, 333, 355, 357, 370, Birkenstock, Eva 176
376–378, 381, 386, 392, 397, 405, Bloch, Ernst 117–123, 125–130,
410, 430 180, 269, 293, 392
Al Ghazali, Muhammad 231 Blumenberg, Hans 148f., 174, 227,
Albert, Hans 77, 149, 298 358f., 361, 423–427, 431f.
Alexander von Hales 397 Boethius 292
Alston, William P. 303 Bonaventura 362
Anderson, Tyson 232 Brentano, Franz 225
Apel, Karl-Otto 28, 77, 270, 298 Buddha 234
Archilochos 172 Bultmann, Rudolf 63, 70, 180, 269,
Arendt, Hannah 11, 24, 40f., 53, 293, 358
222, 338, 352 Bush, Georges W. 38
Aristoteles 14f., 17–19, 65, 70, 101,
120, 127, 170, 172f., 178, 183, Camus, Albert 149
201f., 260, 270, 292, 304, 309, Capelle, Wilhelm 100
359 Caputo, John D. 301
Arndt, Andreas 83 Caravaggio 400
Augustinus 8, 31, 134, 209, 272, 292, Carnap, Rudolf 202, 375
300, 321, 324, 335, 360f., 369 Cassirer, Ernst 412
Avenarius, Richard 162 Cavell, Stanley 180, 303
Chilon von Sparta 100
Cicero 347
Barth, Karl 94, 269
Cohen, Hermann 9
Batteux, Charles 404
Colpe, Carsten 37
Baum, Wolfgang 134
Constable, John 400
Baumgarten, Alexander Gottlieb
Croce, Benedetto 368
355, 357, 365, 368, 370–372, 386, Crusius, Christian August 312
399, 404, 438f., 445
Baumgartner, Hans M. 305
Bayle, Pierre 28 Dahrendorf, Ralf 328
Beck, Ulrich 328 Dante Alighieri 368f.
Becker, Oskar 378, 400, 430 Darwin, Charles 234
Beethoven, Ludwig van 411 Deleuze, Gilles 77, 155, 299, 318
Demmerling, Christoph 174, 177
452 Namenregister
Derrida, Jacques 72, 74, 77f., 128f., Girard, René 240, 291
151, 155f., 161, 180, 198, 203, Gloyna, Tanja 347
207, 218f., 230, 270, 292, 299f., Goethe, Johann Wolfgang von 21,
303, 314f., 318f., 381, 390, 410 37f., 355, 366, 372, 405, 407, 445
Descartes, René 7, 36, 185, 334, 367, Gogh, Vincent van 134, 400
370 Gould, Stephen J. 335
Dewey, James 291 Gregor von Nyssa 359
Dietschy, Beat 121 Gregor von Rimini 368
Diogenes 16 Gudmunsen, Chris 232
Dionysios Areopagita 74, 214, 231,
263, 316, 383–385, 387, 389 Habermas, Jürgen 9, 37, 72, 74,
Dondaine, Hyacinthe François 375 76–79, 82, 98, 115, 149, 152, 180,
Dostojewski, Fjodor M. 134 202, 248f., 252, 269f., 292f.,
Drury, Maurice O’Conner 35, 55, 297–299, 318, 326, 336, 345, 351
295 Haecker, Theodor 147
Dubos, Jean-Baptiste 404 Hahn, Achim 166, 422
Duns Scotus, Johannes 65, 74, 313, Halbfas, Hubertus 239, 414
316, 364–368, 374f., 386, 399 Haydn, Joseph 411
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
Eco, Umberto 363, 397 19–22, 24, 54, 58–71, 88, 90,
Ehrenfels, Christian von 124, 403 107–109, 123, 125, 142, 146,
Eichendorff, Joseph von 438f., 150f., 158, 164, 170, 173, 183,
441–443, 445, 447 207, 209, 214, 216f., 220, 224f.,
Eluard, Paul 196 232, 237, 243, 245, 248f., 252,
Erikson, Erik H. 346f. 257–260, 270, 277, 289, 304,
Eriugena, Johannes Scotus 362f. 307f., 310, 313, 319, 327, 348,
382, 389, 407, 436
Faulstich, Werner 38 Heidegger, Martin 5, 7, 28, 30, 52,
Feuerbach, Ludwig 150, 270, 274, 69, 72, 74–78, 92, 102f., 106, 108,
290 117f., 120–122, 124f., 127–129,
Fichte, Johann Gottlieb 65, 348, 389 131, 133–136, 143, 145f.,
Fisch, Jörg 241 151–153, 155f., 158, 161f., 165,
Foucault, Michel 240, 314, 328 170, 180, 185–189, 191, 194–196,
Frege, Gottlob 186f., 196, 429, 198, 202, 207, 209f., 217–221,
433f., 436 223, 225, 228, 230–232, 248, 252,
Freud, Sigmund 4f., 21f., 52, 88, 90, 260, 270, 284, 289, 291–295, 297,
99, 106, 109, 164, 207, 218, 225, 300, 303, 307, 314–321, 332, 334,
240, 249, 252, 270, 274, 290, 314, 341, 343–345, 370, 381, 395, 398,
320, 331f., 408, 410 409f., 422, 426, 428, 430
Frohn, Birgit 418 Heller, Agnes 267, 319
Fukuyama, Francis 328 Henning, Christoph 178
Henrich, Dieter 143, 304f.
Gadamer, Hans-Georg 188, 202, Heraklit 136, 294
301, 396, 399 Herder, Johann Gottfried 104f., 372
Galilei, Galileo 234 Hermann, Jörg 389
Gauchet, Marcel 267, 319 Hertz, Heinrich 426
Gehlen, Arnold 97–99, 105–112, Hesiod 74, 136, 294, 316
114–116, 143 Hesse, Mary 423
Namenregister 453
Absolute, das 3, 65, 68, 72–82, 91, Böse, das 9, 26, 30–34, 36–41,
93, 96, 133, 144f., 148–153, 43–48, 50, 52–57, 62f., 282, 312,
155–158, 181, 208, 230, 252f., 336
267, 270f., 277, 284, 288, 292,
297, 299, 304–306, 309, 314f., Christologie 47f., 64, 70, 76, 93,
317f., 324, 328f., 376f., 381–385, 144, 155, 297, 317, 377
389f., 430f.
– Substitute des 72f., 75–78, 80, Differenz 77f., 128, 155–157, 181,
82f., 148–150, 153, 156, 270f., 209, 242, 270, 299, 318, 381, 393
296, 309, 315, 317–319, 328f. – Kultur der 24
Alltagspraxis, kommunikative 17, – ontologische 69, 74, 120, 127f.,
77, 149, 298, 344 152, 155, 271, 316
Analogie 236, 286, 323 Diskursethik 77, 298, 345, 349
anthropologia transcendentalis 261, 263
Aufklärung 3–14, 19f., 24f., 28,
38f., 82, 86, 98, 103, 115, 148, Endlichkeit 5f., 11, 26–30, 35, 53,
176, 179f., 182–184, 202, 218, 58, 64, 69f., 88f., 94, 104, 110,
230, 233, 235, 250, 268, 270, 272, 118, 195–197, 205f., 208, 230,
276, 289, 299, 310, 312, 314, 326, 243, 245f., 258, 262f., 265f., 274,
329–334, 340, 380, 382, 419 280, 294, 301, 308, 333, 339,
390f., 400, 406, 408, 421f., 444
– biblische 6, 8f., 11, 337
Eschatologie 10, 79–81, 117, 144,
– Dialektik der 4, 76, 106, 143, 317,
150, 155, 296, 363, 374, 377, 431
331
Evolutionstheorie 272, 335
– existentielle 57 Freiheit 9, 11f., 16, 20f., 25, 31–33,
– Tiefen- 3, 6, 12, 36, 57, 230, 288, 36, 39, 41f., 45–49, 51–54, 60–63,
330, 333, 336f., 339f., 350f. 67, 71, 101, 103f., 107f., 115,
Augenblick 10, 17, 29, 53f., 69, 82, 125, 169, 177, 187, 193, 195, 197,
85, 91, 119, 121–124, 126f., 129, 204, 212, 216, 220–222, 227, 245,
135, 222, 225, 232, 265f., 279, 266f., 282, 285f., 294, 306–308,
286, 297, 306, 323, 335, 337f., 311–313, 322, 324, 336, 338–340,
352, 356, 374, 376–378, 385f., 352, 365, 392, 412f., 425, 430,
388f., 400, 404f., 417, 442f., 445, 436
447
Autonomie 33, 42, 212, 267, 346,
406, 444 Gewissheit 29, 222, 229, 236, 313,
341, 343–345, 348f., 351
Gnosis 74, 78, 90, 131, 133–136,
Bilderverbot 18f., 24f., 100, 181, 140f., 146f., 157, 316, 318, 360
210, 217, 231, 244, 246, 261, 275, Grundsituation, menschliche 58f.,
310, 382 131, 341, 360, 428, 433
Sachregister 457
Gute, das 4, 11, 17, 19, 39, 42, – Hermeneutik der 26f., 29–31, 35
46–48, 54–56, 63, 68f., 88, 201, Leiden, das 26–30, 33–35, 39, 52, 64,
212, 262, 276, 310f., 313, 321, 70, 82, 94, 141, 143, 245, 264,
324, 330, 338, 359, 396f., 399 268, 296, 359f., 446
transpragmatisch 6–8, 12, 42–45, 49, – in der Immanenz 19, 69, 181, 189,
51, 84, 211, 215, 243, 245, 252, 207, 209, 212, 217, 252f., 263,
258–260, 266, 268, 278, 281f., 277f., 283, 287f., 322, 324, 368,
287, 296, 333, 340 384, 387, 390
transrational 18, 49, 69, 270, 287 – interexistentielle 12, 24, 206, 211,
Transsubjektivität 32, 248, 356, 398, 262, 264f., 282, 340
402, 444 – kommunikative Selbst- 122, 194,
Transzendentalien 203, 262f., 205, 280, 282
362–364, 397 – Paradigmen der 14, 76, 210f.,
Transzendenz 3, 10, 18f., 44, 50f., 214, 287, 313, 317
54, 69, 71, 76, 79–85, 94, 117, – -überschuss, eschatologischer 82,
125–127, 131f., 145f., 149f., 155, 126
181f., 184, 189, 195, 201–217, – und Geschichte (Benjamin) 81f.,
247, 252f., 263, 265–267, 271, 85
278–283, 285–288, 290, 292–298, Transzendenzreflexion, europäische
74, 207, 219, 307, 316, 385
300–302, 304, 307f., 310–312,
Trinität 60, 62, 66, 70, 150, 301,
314, 319, 322–325, 329f., 339f.,
369, 397
350, 375, 381f., 384f., 391f.
– -ansprüche, ethische 140 Unverfügbarkeit, sinnkonstitutive 6,
– ästhetische 377, 385, 391 8, 12, 18f., 24, 28, 82, 119, 181,
– der Sprache 69, 206, 212, 271, 197, 206, 211, 222f., 231, 278,
280f., 283 282, 287f., 311, 330, 333, 335,
– der Welt 12, 69, 206, 212, 262, 339f., 348, 350, 383
264, 278, 280, 283, 340
– des Guten 262 Verifikation, eschatologische 236,
– Dialektik der 201, 207, 210–214, 302
216 Vernunftreligion 50, 308
– existentielle 12, 51, 206, 211, 262,
282f., 340 Wunder 12, 52, 62, 69, 254, 259,
– Gleichursprünglichkeit der 271, 264, 272, 278–281, 283, 286, 294,
283f., 288, 320 306, 308, 322, 335, 339