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Thomas Rentsch

Transzendenz und Negativität


Thomas Rentsch

Transzendenz
und Negativität
Religionsphilosophische
und ästhetische Studien

De Gruyter
Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft
im Rahmen des SFB 804 der Technischen Universität Dresden

ISBN 978-3-11-021496-3
e-ISBN 978-3-11-021497-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York


Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen
⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier
Printed in Germany
www.degruyter.com
Alle Dinge sind geschaffen aus nichts; darum
ist ihr wahrer Ursprung das Nichts […].
Meister Eckhart
„Es ist gut, weil es Gott so befohlen hat“, ist
der richtige Ausdruck für die Grundlosigkeit.
Ludwig Wittgenstein
Vorwort

Der vorliegende Band enthält Beiträge aus den letzten Jahren, in denen
ich meine Untersuchungen zur Gottesfrage, zur philosophischen
Theologie und Religionsphilosophie (Gott, Berlin/New York 2005) und
zur systematischen Verbindung von Negativitt und praktische(r) Vernunft
(Frankfurt a.M. 2000) fortgeführt, erläutert, vertieft und konkretisiert
habe. Ebenso enthält der Band ästhetische Studien, die Transzendenz-
und Negativitätsphänomene behandeln.
Es bestätigt sich der Befund, dass eine Jahrzehnte die Moderne do-
minierende Verdrängung und Marginalisierung der Transzendenzthe-
matik insbesondere in der deutschen Philosophie verfehlt und unbe-
gründet war, dass vielmehr weder die Moderne noch die Postmoderne
mit geschichtsphilosophischen Konstruktionen vollendeter und abge-
schlossener Säkularisierung begreifbar ist. Die weltgeschichtliche Ent-
wicklung seit der Jahrtausendwende zeigt, wie komplex, heterogen und
binnendifferenziert das Verhältnis von Wissenschaft, Politik, Religion
und Aufklärung im Prozess der Globalisierung und der interkulturellen
Kommunikation und Konfrontation tatsächlich ist. In der Philosophie
wird deutlich, dass ohne Transzendenzbezug kein wichtiger Ansatz des
vergangenen Jahrhunderts – weder Heidegger noch Wittgenstein, weder
Adorno noch Derrida – auch nur ansatzweise begreifbar ist. Religiöse und
theologische, näherhin mystische und negativ-theologische Tradition
prägen – oft verdeckt und indirekt – die Tiefenstruktur der modernen
und postmodernen Reflexion und ihre kulturellen Wirkungen und
Gestaltungen.
Darüber hinaus aber lässt sich zeigen, dass eine Engführung der
Transzendenzphänomene und Transzendenzdimensionen auf religiöse
(und theologische) Transzendenz eine sowohl historisch wie systematisch
weitreichende Reduktion und Unterbestimmung dieser Phänomene und
Dimensionen impliziert. Vielmehr muss von komplexen Transzen-
denzaspekten der Welt (des Seins und jedes Gegenstandes), der Sprache
(des logos), von interpersonaler Transzendenz sowie von der Transzen-
denz der Individuation und der Individuen ausgegangen werden, um nur
die wichtigsten dieser Aspekte zu nennen – und dies seit Beginn der
philosophischen Reflexion. Erst auf diesem Hintergrund lassen sich dann
VIII Vorwort

kulturelle – mythische, philosophische, praktische, ethische, ästhetische


und religiöse – Paradigmen von Transzendenz analysieren, die auf dem
Wege des Reflexivwerdens von Transzendenz ausgebildet werden.
Es ist daher unverzichtbar und dringend erforderlich, eine kritisch-
hermeneutische, philosophische Analyse und Rekonstruktion von
Transzendenz zu erneuern und explizit auszuführen. Die vorliegenden
Beiträge unternehmen dieses Projekt sowohl auf historischer wie auf
systematischer Ebene. Historisch wird gezeigt, dass und wie Transzen-
denzkategorien und -dimensionen die Genesis der okzidentalen Ratio-
nalität gerade in ihrer Verklammerung mit fundamentalen Aspekten von
Negativität konstituieren und bestimmen. Auf dem Hintergrund der
biblischen Überlieferung und der antiken griechischen Philosophie wird
dieser Befund in Interpretationen zu Kant und Hegel, Benjamin und
Tillich, Gehlen und Bloch, Heidegger, Wittgenstein, Adorno und
Derrida herausgearbeitet. Im systematischen Teil des Bandes wird die
Transzendenzproblematik erkenntnis- und sprachkritisch, existential-
pragmatisch, religionsphilosophisch, negativ-metaphysisch, philoso-
phisch-theologisch und immer wieder in Analysen zu Alltagsprache und
Lebenswelt behandelt. Das Verhältnis von Transzendenz und Sprache,
Transzendenz und Lebenspraxis sowie das Verhältnis von Transzendenz
und Vernunft stehen im Zentrum der Beiträge. Die ästhetischen Un-
tersuchungen vertiefen die Analyse im Blick auf theoretische, meta-
physische und anthropologische Aspekte von Transzendenz und Nega-
tivität im Bereich der Kunst. Es zeigt sich bei aller Materialität und
Konkretion der Untersuchungen, dass die spezifisch systematische Ver-
bindung von Transzendenz und Negativität, die die Philosophie seit
Beginn bis zur Gegenwart charakterisiert, erst erkenntnis- und sprach-
kritisch ganz in die Reflexion eingeholt werden kann. Diese Verbindung
methodisch zu rekonstruieren, ist daher zentrale Aufgabe einer kritischen
Hermeneutik.
Im Jahr 2009 konnte an der TU Dresden der Sonderforschungsbe-
reich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ eingerichtet werden. Die in
diesem Band versammelten Forschungen kann ich nun im Rahmen
meines Projektes zu „Transzendenz und Gemeinsinn in Geschichte und
Gegenwart der Philosophie“ fortsetzen und mit den Forschungen vieler
anderer Disziplinen verbinden. Im Vordergrund meines Projektes steht
neben der Transzendenzthematik die neuerliche Auseinandersetzung mit
Wittgensteins Philosophie der Alltagssprache sowie mit Husserls und
Habermas‘ Philosophie der Lebenswelt. Weitere Projektteile befassen
sich mit Säkularisierungstheoremen sowie mit dem Begriffsfeld Ge-
Vorwort IX

meinsinn/common sense/sensus communis zwischen theoretischer und


praktischer Philosophie in der Aufklärung. Bereits an diesem Band ist der
SFB 804 durch den von ihm und seinem Sprecher Hans Vorländer ge-
währten großzügigen Druckkostenzuschuss und durch die Mitwirkung
meiner Projektmitarbeiterin Nele Schneidereit maßgeblich beteiligt.
Für ihre Mitarbeit bei der Fertigstellung des Bandes danke ich Se-
bastian Böhm und Johannes Quade. Sebastian Böhm, Kristin Matthes,
Daniel Wenz und Carolin Wiegand danke ich für ihre Korrekturtätigkeit
und die Erstellung des Personenregisters, Johannes Quade danke ich
insbesondere für die Erstellung des Sachregisters.

Dresden, im September 2010 Thomas Rentsch


Inhalt
Teil 1. Religionsphilosophie
1. I Historische Untersuchungen
Die Entdeckung der Unverfügbarkeit. Zum Zusammenhang von
Negativität und Sinnkonstitution im Horizont der biblischen
Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Rationalität, Negativität, Transkulturalität. Aspekte europäischer
Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt.
Existentialanthropologische und ethische Bemerkungen . . . . . . . . 26
Die Rede von der Sünde – Sinnpotentiale eines religiösen
Zentralbegriffs aus philosophischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Hegels Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
Dialektik der Transzendenz bei Benjamin. Eine Alternative zur
Substitution des Absoluten in Reflexion und Praxis der Moderne 72
Negativität versus Metaphysik – mit Tillich gegen Tillich. Kritische
Bemerkungen zu seiner Religions- und Kulturphilosophie der
Zwanziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Die Macht der Negativität. Kritik und Rekonstruktion
philosophischer Anthropologie im Blick auf Gehlen . . . . . . . . . . 97
Das Prinzip Hoffnung – in philosophiehistorisch-systematischer
Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Gnosis und philosophische Moderne: Heidegger, Wittgenstein,
Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Spuren Gottes? Substitute des Absoluten in der Reflexion der
Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

1. II Systematische Perspektiven
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken . . . . . . . . . . . . . . 161
XII Inhalt

Zeit, Sprache, Transzendenz – phänomenologische Analysen zu


den Grenzen und zum Sinngrund menschlicher Praxis . . . . . . . . 184
Transzendenz und Sprache. Der Mensch im Verhältnis zu Grenze
und Sinngrund der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution. Aspekte
einer negativen Existentialpragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
Negativität und Rationalität. Gibt es aus philosophischer Sicht
irreduzible Wahrheitsansprüche religiöser Vernunft? . . . . . . . . . . 233
Worin besteht die Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche?
Religion und negative Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes . . . . . . . 269
Religion und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Wieder nach Gott fragen? Thesen und Analysen zur Rehabilitation
philosophischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
Der moderne Wissenschaftsbetrieb und die alte Gottesfrage . . . . . 326
Aspekte des Urvertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

Teil 2. Ästhetik
Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der
ästhetischen Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion . . . . 380
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? Zum
Zusammenhang von Schönheit, Metaphysik und Lebenswelt . . . . 394
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht . . . . . . . . 409
Thesen zur philosophischen Metaphorologie . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Strukturen ästhetischer Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438

Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
Teil 1. Religionsphilosophie
1.I Historische Untersuchungen
Die Entdeckung der Unverfügbarkeit. Zum
Zusammenhang von Negativität und Sinnkonstitution
im Horizont der biblischen Überlieferung
1. Oberflächliche und tiefe Aufklärung

Meine These ist: Aufklärung und absolute Transzendenz (Gottes) sind


unlöslich verklammert; wird diese Verklammerung einseitig aufgelöst
und getilgt, dann ergibt sich eine negative Dialektik von Nihilismus und
Fundamentalismus. Aufklärung muss mithin die negative Theologie des
Absoluten sinnkriterial festhalten und praktisch transformieren, und dies
hat sie in ihren besten Kernbestrebungen auch getan. Religion muss diese
negative Theologie des Absoluten bildlich indirekt vergegenwärtigen
und so meditativ und kongregativ konkret zugänglich und bewusst
machen und zugänglich halten und sie ebenfalls praktisch transformieren.
Aufklärung und Religion, Philosophie und Christentum machen und
halten so – je auf ihre Weise – ein Wissen vom konstitutiven Konnex von
Negativität und Sinn bewusst. Das macht ihre tiefe Entsprechung wie
auch ihre topische Differenz aus, die es wiederzuentdecken und neu zu
beleben gilt. Weder bedeutet dies eine rationalistische Einholung und
Verkürzung christlicher Verkündigung und Praxis, die einen autonomen
Bereich von Sprache und Leben bildete und bildet, eine Lebensform sui
generis. Noch bedeutet es ein Christlichwerden philosophisch-kritischer
Reflexion, denn das wäre eine verhängnisvolle kategoriale Vermengung
ganz verschiedener Ebenen. Wohl jedoch lassen sich die zentralen Ra-
tionalitätspotentiale in der philosophischen Reflexion herausstellen, die
in der biblischen und christlichen Tradition – ganz unabhängig von
Philosophie – angelegt waren und sind. Philosophie vermag durchaus in
anderen religiösen Traditionen – ich denke z. B. an Elemente des Su-
fismus im Islam oder an Traditionen wie den Zen-Buddhismus – ent-
sprechende Einsichten zum Konnex von Negativität und Sinn angelegt
finden. Das gilt m. E. ebenfalls von der genuin philosophischen Tradition
des Neuplatonismus, der negativen Theologie bei Proklos und Plotin.
Worin bestehen die Rationalitätspotentiale der biblisch-christlichen
Tradition? Ich will behelfsmäßig und modellhaft eine oberflchliche Auf-
klrung von einer Tiefenaufklrung unterscheiden.
4 Teil 1. Religionsphilosophie

Eine oberflächliche Aufklärung orientiert sich an Vernunft, v. a. an


praktischer Vernunft, als sei sie schlicht machbar, realisierbar, wenn man
nur wolle. Die Zugänglichkeit des Guten, seine Erkennbarkeit und
Machbarkeit, seine Kommensurabilität, kurz seine Verfügbarkeit schei-
nen klar zu sein und festzustehen. Ineins damit wird die Selbsttransparenz
der Subjekte vorausgesetzt: Prinzipiell können wir uns selbst klar er-
kennen und vernünftig beurteilen; auch wechselseitig besteht eine
Transparenz der Subjekte, ihrer Motive und Handlungsgründe. Auch die
geschichtliche Entwicklung ist prinzipiell pragmatisch zugänglich und
erkennbar. Wissenschaftlicher, politischer und auch existentiell-ethischer
Fortschritt sind prinzipiell sicher erkennbar, sie sind letztlich evident und
daher auch mit sicherem Zugriff zu befördern.
Die skizzierte naive, oberflächliche Form von Aufklärung gehört
sicher zu jeder vernünftigen menschlichen Lebenspraxis. Sie liegt uns
nahe. Ohne sie könnten wir unseren Alltag überhaupt nicht bewältigen
und doch steckt in ihr auf ganz verdeckte, in ihrer Harmlosigkeit ver-
borgene Weise eine mehrfache Gefahr. In ihr angelegt sind nämlich Il-
lusionen der Machbarkeit, Illusionen der Verfügbarkeit, der Selbst-
transparenz und Selbsterkenntnis, die in aller scheinbaren Harmlosigkeit
den Keim von Usurpation und Entfremdung, von Totalitarismus und
Irrationalismus in sich tragen, sowohl individuell wie sozial. Inwiefern ist
das der Fall? Die modellhaft skizzierte oberflächliche Variante von
Aufklärung verkennt die vielfältige Begrenztheit und Bedingtheit
menschlicher Praxis und Selbsterkenntnis. Eine über sich selbst aufge-
klärte Aufklärung muss zunächst dieser vielfältigen Begrenztheit und
Bedingtheit innewerden, aber sie muss aus dieser reflexiven Bewusst-
werdung auch die richtigen Schlüsse ziehen.
Aus der Enttäuschung der oberflächlichen Aufklärung, aus dem
Bruch mit der sie ermöglichenden Naivität ergibt sich oft ein Skepti-
zismus, ein Relativismus, schließlich ein Nihilismus. Diese Resultate der
Enttäuschung können wiederum ganz alltägliche Form haben; alltägliche
Resignation, alltäglicher Zynismus, stoisches Weitermachen; sie können
aber auch zu subtilen und anspruchsvollen Formen der Ratlosigkeit auf
hohem Niveau werden. So bei Nietzsche, bei Freud oder auch in der
Dialektik der Aufklrung von Horkheimer und Adorno. In diesen Re-
flexionsbewegungen wird der Befund der durchgängigen Begrenztheit
und Bedingtheit unserer Selbsterkenntnis und Praxis zum Ausgangspunkt
nihilistischer, pessimistischer, negativistischer Gesamtdeutungen der
Menschheit und ihrer Geschichte.
Die Entdeckung der Unverfügbarkeit 5

In der säkularisierten Gegenwart der westlichen Demokratien nimmt


die oberflächliche Aufklärung unter Einschluss der in ihr angelegten
Enttäuschungspotentiale sehr häufig die Gestalt vermeintlich souveräner
Selbstverwirklichung an. Der sich selbst sichernde Individualismus geht
mit einem wiederum oberflächlichen, nur allzu gut verstehbaren Frei-
heitsverständnis einher. Auch diese Resultante von Oberflächlichkeit
und Enttäuschung nimmt massenhafte Form an – Fitness, Lifestyle,
Hedonismus, Konsumismus, der Eventcharakter medial vermittelter
Welt- und Selbstverhältnisse – ebenso wie sie auch in anspruchsvolle,
reflexive Formen überführt werden kann. Der erfolgreiche Ansatz einer
Neubelebung des Konzepts der Lebenskunst und einer Philosophie der
Lebenskunst ist ein Beispiel dafür, die Flut trivialpsychologischer Ratge-
ber- und Handbücher zum glücklichen, sorgenfreien Leben und zur
Selbstverwirklichung bildet den Mainstream dieser Entwicklung.
In den grotesken bis abstrusen Formen der Esoterik, der Magie und
z. B. in pathologischen bis kriminellen Formen des Satanismus erreicht
die oberflächliche Aufklärung, gepaart mit der in ihr angelegten Ent-
täuschung und gepaart mit dem doch nicht preisgegebenen Selbstver-
wirklichungsindividualismus prekäre, aufschlussreiche Formen ihres
Umschlags in offenen Irrationalismus.
Aber auch die mannigfachen Formen des Szientismus und des
Technizismus, die unser Alltagsleben bis tief in die Selbstverständnisse
hinein prägen, die unsere medizinische Praxis dominieren und die die
Prozesse der Globalisierung mit ermöglichen und beschleunigen, lassen
sich als reale, konkrete Konsequenzen des Standardmodells der ober-
flächlichen Aufklärung verstehen.
Die oberflächliche Aufklärung verfehlt auf grundsätzliche Weise die
Begrenztheit und Bedingtheit des Menschen und seiner Praxis, sie
überschätzt die Möglichkeiten der Vernunft und Selbsterkenntnis.
Die Aufklrung der Aufklrung, die eigentlich nötig ist, wurde in
kritischer Reflexion auf die Grenzen der Vernunft von Kant epochal
entwickelt. Auch Marx, Nietzsche und Freud gehören auf ihre Weise zu
dieser Vernunftkritik. Im 20. Jahrhundert hat Wittgenstein diese Re-
flexion durch die Analyse der Grenzen der Sprache radikalisiert und
präzisiert. Heidegger hat – u. a. im Anschluss an Kierkegaard – die kri-
tische Grenzreflexion im Blick auf die Grenzen der menschlichen
Existenz und ihre Zeitlichkeit und Endlichkeit ebenfalls radikalisiert.
Adorno hat die Grenzen des verfügenden, pragmatischen, prädikativen
Erkennens und Unterscheidens im Verfehlen und Ausgrenzen des
Nichtidentischen in seiner Negativen Dialektik herausgearbeitet. Ich habe
6 Teil 1. Religionsphilosophie

mir diese philosophische, vernunftkritische Vertiefung der Aufklärung


systematisch angeeignet und halte sie für unverzichtbar. Die Tragweite
dieser Vernunftkritik halte ich für noch längst nicht hinreichend er-
messen.

2. Aspekte biblischer Aufklärung


Im Folgenden will ich Aspekte der biblischen Aufklärung auf diesem
Hintergrund aus meiner systematischen Sicht in ihrer Eigenart rekon-
struieren. Enthält die biblische Überlieferung Elemente dessen, was ich als
tiefe Aufklärung der oberflächlichen Vernunft und Aufklärung entge-
gensetze? Ich meine ja. Im Zentrum dessen, was ich als tiefe Aufklärung
bezeichne, steht die Reflexion bzw. das Bewusstsein und die Einsicht
noch in die transpragmatischen Sinnbedingungen von Vernunft und aller unserer
Praxis. Vernunftkritik und Praxisreflexion, die nur bei der externen
Bedingtheit und Begrenztheit von Vernunft, Sprache und Praxis durch
Materialität und Endlichkeit stehen bleibt, führen alsbald zur Depoten-
zierung von Vernunft und Praxis. Sie können auch zu einer formalistisch-
prozeduralen oder fiktionalen Abdrängung und Verkürzung der tatsächlich
nur qualitativ, inhaltlich und ganzheitlich verstehbaren Dimension ver-
nünftiger Praxis, und damit der Basis von Aufklärung, führen.
Der Gesichtspunkt der transpragmatischen Sinnbedingungen hin-
gegen nimmt die Dimension der Negativität, der pragmatischen Un-
verfügbarkeit und Entzogenheit, ganz in die Perspektive der humanen
Sinnkonstitution mit hinein – und dies scheint mir das proprium dessen zu
sein, was wir zu Recht biblische Aufklärung nennen können.
An einigen zentralen Beispielen will ich dies verdeutlichen. Ich
verzichte dabei auf genauere Exegesen, sondern versuche, die entschei-
denden Einsichten möglichst direkt zu reformulieren.
Entscheidend scheint mir zu sein, dass die biblische Tradition
durchweg ihre praktisch-rationalen Elemente: die Ethik der zehn Gebote
schon im Alten Testament, die Ethik der Bergpredigt im Neuen Testa-
ment, aber auch bei Paulus, in dauernden Rückbezug auf unverfgbare
Sinnbedingungen dieser praktischen Rationalitt durchdenkt und verkündet,
religiös gesprochen mit Bezug auf Gott. Ich will diesen expliziten Got-
tesbezug zunächst methodisch bewusst abblenden, um die negativ-kri-
tischen Rationalitätspotentiale der biblischen Botschaft gleichsam etwas
neutraler reformulieren zu können.
Die Entdeckung der Unverfügbarkeit 7

Zu den unverfügbaren, transpragmatischen Sinnbedingungen all


unserer Vernunft und Praxis gehört zunächst fundamental das, was die
Bibel Geschöpflichkeit, Kreatürlichkeit nennt. Die grundlegende prak-
tische Einsicht, die sich hier philosophisch reformulieren lässt, ist die
Einsicht, dass wir uns nicht selbst geschaffen, gemacht, hergestellt haben, sondern
dass wir – bei allen wissenschaftlichen Erklärungsmöglichkeiten – auf
letztlich unerklärliche Weise da sind. Und dies ist eine untilgbare Dif-
ferenz.
Aber diese Negativität reicht viel weiter. Die Unerklärlichkeit der
Sinnbedingungen unserer humanen Existenz, die im Zentrum biblischer
Aufklärung steht, erstreckt sich auf alle Menschen aller Zeiten, die in ihrer
Kreatürlichkeit verbunden sind. Sie erstreckt sich auf die Existenz des
Lebens auf der Erde und das Phänomen der Evolution. In unserer
Kreatürlichkeit sind wir mit den Tieren und allen Lebewesen tief ver-
bunden, und zwar materiell, real, leiblich.
Und diese kreatürliche Verbundenheit ist selbst etwas uns Vorge-
gebenes, sie gehört zu den unvordenklichen Sinnbedingungen unserer
Existenz. Ich weise nur daraufhin, dass diese holistische und materialis-
tische Sicht der menschlichen Situation über sich selbst aufgeklärter ist, als
z. B. die neuzeitliche, cartesische Konstruktion eines atomistisch ver-
engten, zu einem denkenden Punkt reduzierten ego cogito, welches die
ganze Welt, die „Außenwelt“, zu einer ausgedehnten Sache, res extensa,
verdinglicht, wobei menschliche Mitgeschöpfe mitsamt ihren Leibern
zunächst nicht in Sicht sind und die Tiere als aufgezogene Maschinen, als
Automaten konzipiert werden. Welche Konzeption ist wohl rationaler –
die der Bibel oder die des Descartes? Dreihundert Jahre lang feierte und
mythisierte man Descartes zum Gründungsvater von Neuzeit und Auf-
klärung. Dreihundert Jahre brauchte die Philosophie, um mit Heidegger,
Wittgenstein und der Phänomenologie – ich denke an Merleau-Ponty
und Hermann Schmitz – aus der epistemologischen Sackgasse der ato-
mistischen Subjekttheorie wieder herauszukommen. Unterdessen sah
sich der epistemologische Solipsismus zeitweilig genötigt, einen „Beweis
für die Existenz der Außenwelt“ zu leisten und ebenso, die Existenz
anderer Subjekte allererst zu deduzieren – in der Tat ein schwieriges
Unterfangen.
Die gemeinsame Kreatürlichkeit und die mit ihr verbundene negativ-
praktische Einsicht in die unverfügbaren Sinnbedingungen unserer
Existenz erstreckt sich weiter: auf unsere Erde als materielle Lebensbasis
für alle Geschöpfe. Wir haben die Erde nicht technisch hergestellt,
8 Teil 1. Religionsphilosophie

sondern fanden sie mitsamt den materiellen, realen Bedingungen von


Wasser, Luft und allen Lebensvoraussetzungen vor.
Das Schöpfungsparadigma der Kreatürlichkeit erstreckt sich
schließlich universal und unbedingt auf das gesamte Universum. Auch
hier gilt: Welche empirischen, wissenschaftlichen, kosmologischen Er-
kenntnisse auch immer wir noch gewinnen werden, die Existenz des
Universums mit seinen Milliarden Galaxien bleibt unerklärliche, unab-
leitbare Sinnbedingung auch unserer Existenz und allen Lebens.
Es gibt derzeit wieder viele pseudowissenschaftliche und gleicher-
maßen pseudoreligiöse Deutungen naturwissenschaftlicher Forschungs-
ergebnisse, das heißt letztlich empirisch gestützter, falsifizierbarer Hy-
pothesen. Urknall und Hubble-Konstante, Rotverschiebung und
Hintergrundstrahlung werden mit theologischen oder metaphysischen
Begriffen interpretiert. Diese Zugriffe stellen exemplarisch fundamentale
Kategorienverwechslungen dar. Denn die unerklärliche Existenz des
Universums als unverfügbare Sinnbedingung für alles Leben und Er-
kennen steht auf einer ganz anderen kategorialen Ebene als empirische
Forschungsergebnisse der physikalischen Kosmologie. Dass das Univer-
sum mitsamt seiner Entstehungsgeschichte und mitsamt unserer, der
Menschheit, Entstehung und Existenz ist, das lässt sich philosophisch
negativ in seiner Unableitbarkeit und Unerklärlichkeit explizieren, wie es
schon Kant in seiner Rekonstruktion der metaphysica specialis in der
transzendentalen Dialektik unternahm.
Die biblische Kreatürlichkeitsperspektive einer göttlichen Schöpfung
enthält die tiefe Aufklärungsperspektive einer Aufklärung über die
letztlich absolute Unverfgbarkeit und Unerklrlichkeit aller natürlichen
Sinnbedingungen unserer Existenz, des Universums selbst als Ganzem.
Augustinus wie auch Luther haben dies klar und insbesondere auch er-
kenntniskritisch gesehen. Das wird noch in Luthers Antwort auf die Frage
deutlich, was denn Gott vor der Schöpfung getan habe. Er sei an die Elbe
gegangen, Ruten zu pflücken, um diejenigen damit zu prügeln, die solche
dummen Fragen stellen.
Indem die biblische Aufklärung auf praktischen Einsichten in die
unverfügbaren, transpragmatischen Sinnbedingungen humaner Existenz
hinweist und insistiert, trägt sie zur tiefen Aufklärung und damit indirekt
zur Kritik oberflächlicher Vernunft- und Aufklärungskonzeptionen bei.
Das gilt für die gesamte menschliche Handlungssituation und ihr Ver-
ständnis. Während die oberflächliche Aufklärung durchsichtig über sich
selbst verfügende, autonome Einzelsubjekte in diesen Subjekten transpa-
renten Handlungssituationen mit dem berblick über die Folgen ansetzt,
Die Entdeckung der Unverfügbarkeit 9

Subjekte, deren wissenschaftliche und technische Erkenntnisfähigkeiten


und Handlungsmöglichkeiten zur pragmatischen Weltbewältigung in der
Lage sind, geht die Vernunftkritik biblischer Aufklärung weiter; sie
antizipiert schon die mit der naiven Vernunftkonzeption implizierten
Enttäuschungen und Desillusionierungen. Welche Züge dieser vertieften
Vernunftkritik lassen sich in der biblischen Tradition aus philosophischer
Sicht weiter freilegen?
Neben der Schöpfungsperspektive ist hier die Sündendimension zu
nennen. Ich gebe Habermas recht, wenn er feststellt, dass etwas sehr
Wesentliches verlorengeht, wenn die hamartiologische Dimension in die
bloße Schuldkategorie transformiert wird.1 Tiefer ist auch hier wieder die
praktische Einsicht in die strukturelle Fehlbarkeit der Menschen und ihr
katastrophisches Gewaltpotential. Es ließe sich meines Erachtens unter
Rekurs auf Kants Analysen zum radikalen Bösen in der menschlichen
Natur zeigen, dass die fundamentale Fehlbarkeit, traditionell die Sünd-
haftigkeit, strukturell und konstitutiv zur menschlichen Freiheit und
Moralität gehört, anders gesagt: ebenfalls zu den negativen, unverfüg-
baren Sinnbedingungen, denen wir unterliegen, wenn wir überhaupt
wollen und handeln. So hat z. B. Hermann Cohen in seiner Religions-
philosophie die Erfahrung der Sündhaftigkeit als Konstituens personaler
moralischer Identität analysiert. Die Realität des Bösen tritt der Bibel
zufolge bereits mit der ursprünglichen Selbstbewusstwerdung des Men-
schen auf; dieser reflexive Status des radikalen Bösen wird auch in der
Botschaft Jesu und in der Theologie des Paulus deutlich und bei Kant als
Affektion der obersten Maxime rekonstruiert. So viel scheint mir klar und
unverzichtbar zu sein: Ohne die reale Dimension fundamentaler Fehlbarkeit
lässt sich die Perspektive der Moralität nicht wirklich angemessen be-
greifen. Die Verdrängung und Tabuisierung des Bösen und der Sünde ist
typisch und bezeichnend für die oberflächliche Aufklärung. Die ver-
nunftkritische Tiefendimension wird erst erreicht, wenn moralisches
Scheitern und mit der Freiheit und Selbstreflexivität konstitutiv mitge-
gebene Fehlbarkeit als irreduzible Sinnbedingung von Moralität mitge-
dacht werden.
Der Realismus biblischer Aufklärung, der die Illusionen oberfläch-
licher Rationalität hinter sich hat, liegt auch darin begründet, dass die
Bibel weder im Alten noch im Neuen Testament in ihrem Zentrum
theoretische Konstruktionen, metaphysische Abhandlungen oder dog-

1 Vgl. Jürgen Habermas, Ansprachen aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des
Deutschen Buchhandels, Frankfurt a.M. 2001, 48.
10 Teil 1. Religionsphilosophie

matische Traktate enthält, sondern im Wesentlichen die narrative Verge-


genwrtigung von konkreten Lebenssituationen. Diese konkreten Lebenssi-
tuationen bilden die Beglaubigungsbasis der Bibel im Alten Testament;
aber sie bilden die Basis selbst noch für die theologischen Entwürfe des
Paulus und des Johannes im Neuen Testament. Durch diese narrative
Vergegenwärtigung praktischer Einsichten wird auf vielfache Weise der
unbedingte Ernst der Perspektive religiöser Vernunft vergegenwärtigt,
ohne jedoch theoretisch demonstriert werden zu müssen. Denn dies führt
bekanntermaßen nicht sehr weit. Der ethische Monotheismus entfaltet so
eine Unbedingtheitsperspektive, die meines Erachtens sinnkonstitutiv zur
Ethik gehört und die z. B. wiederum von Kant, Kierkegaard und Witt-
genstein zu rekonstruieren versucht wurde.
Welche Geschichte des Alten Testaments wir auch nehmen, ob wir
uns auf Moses oder Hiob, auf Ruth oder Rebekka beziehen – es wird uns
fehlbares menschliches Handeln im Horizont unbedingter, nämlich von
Gott ausgehenden Geltungsansprüchen gezeigt. Mit dieser Unbedingt-
heitsperspektive ist in der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit der
existenziale Sinn der Eschatologie verbunden. Mit dem Bezug auf Gott,
auf absolute Transzendenz, ist eine Perspektive der Endgltigkeit und Ir-
reversibilitt präsent, die wiederum zu den unvordenklichen Sinnbedin-
gungen verantwortlichen Handelns und eines menschlichen Selbstver-
ständnisses überhaupt gehört. In der einzigartigen Geschichte Jesu wird
dies nochmals auf unüberbietbar radikalisierte Weise bewusst.
Zu der erwähnten Dimension tiefer Aufklärung gehört neben der
sinnkonstitutiven Fehlbarkeit, der Unbedingtheit und Endgültigkeit auch
die Perspektive fundamentaler menschlicher Bedürftigkeit, der Ange-
wiesenheit auf die Mitmenschen, der Abhängigkeit von den Anderen und
ihrer Mithilfe, ihrem Wohlwollen. Diese Dimension wird in der Bibel
vortheoretisch, lebensweltlich-praktisch in ihrer ganzen Komplexität
narrativ vergegenwärtigt. Vergegenwärtigt wird die zeitlich-endliche
Augenblicklichkeit des Handelns, vergegenwärtigt wird die unauslotbare
Entzogenheit des eigenen Inneren bei aller Selbstmächtigkeit, verge-
genwärtigt wird die leibliche Fragilität und Verletzlichkeit des Menschen
– vergegenwärtigt wird die alle Menschen einende Kreatürlichkeit. Die
lebendige Persönlichkeit eines Menschen konstituiert sich im Medium
der Irreversibilität und Unabsehbarkeit seines Handelns. Sinnkonstitutiv
für personales Handeln ist gerade, dass es in seinem potentiellen Charakter
keine Sicherheit und Konstanz bietet. Es ist theoretisch unmçglich, sich han-
delnd auf die Handlungen Anderer zu verlassen – ohne Vertrauen aber gibt
es schlechterdings keine humane Welt. Ein jeder, der handelt, läuft
Die Entdeckung der Unverfügbarkeit 11

Gefahr, zu scheitern oder Unrecht zu begehen – das alles können wir erst
im Nachhinein wissen. Hannah Arendt hat in Vita activa besonders
herausgearbeitet, dass deshalb unsere ganze humane Handlungswelt auf
Versprechen und Vergeben beruht. Man könnte deshalb pointiert formu-
lieren: Unsere Fähigkeit, wechselseitig zu vergeben, konstituiert und
eröffnet allererst unsere praktische Freiheit.2
Die Vergegenwärtigung der unverfügbaren Sinnbedingungen hu-
manen Lebens geschieht in der Bibel narrativ, literarisch, geschichtlich,
und auf diese Weise auch hermeneutisch mehrdimensional, tief und
komplex. Diese Vergegenwärtigungsweise – unter Einschluss von Wi-
dersprüchlichkeit – entspricht dem qualitativen Ganzen, der qualitativen
interexistentiellen Totalitt des Menschseins in Geschichte und Augenblick.
Hier scheint mir der Ursprung eines grundsätzlichen Verständnisses von
personaler Menschenwürde zu liegen. Aber die biblische Aufklärung,
deren Grundzüge ich hier nur in aller Kürze zu skizzieren versuche, geht
noch weiter, sprengt daher den Rahmen oberflächlicher Rationalitäts-
vorstellungen, wie sie z. B. szientifischen, formalistischen, funktionalis-
tischen oder utilitaristischen Ansätzen der Gegenwart zugrunde liegen.
Die biblische Aufklärung geht in ihren Kernaussagen insofern noch
weiter, als durch die Dimension der Kreatürlichkeit als Rationalitätsbe-
dingung die Einsicht vermittelt wird, dass nur so, in dieser Kreatürlichkeit
die Sinnbedingungen von Leben und Freiheit, von Gutem und Liebe
überhaupt wirklich sind und wirklich sein können. Das heißt: die
praktische Anerkennung der unverfügbaren Sinnbedingungen als von uns
nicht selbst gemacht: die Existenz des Universums, der Welt, meiner
selbst und der Mitmenschen, die unvordenkliche Vorgegebenheit der
Dimensionen der Freiheit, des Guten und der grundsätzlichen Fehlbar-
keit, die konstitutive Endlichkeit und Unbedingtheit der konkreten
menschlichen Handlungssituation, die Begrenztheit unserer Selbster-
kenntnis, die Verletzlichkeit und Sterblichkeit, die Angewiesenheit auf
die Anderen – ohne Erkenntnis und vor allem: ohne vorgängige Aner-
kennung dieser unvordenklichen Sinnbedingungen, die mich und jeden
Menschen doch ausmachen, gibt es keine tiefergehende Aufklärung

2 Vgl. Hannah Arendt, „Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu
verzeihen“, in: dies., Vita activa oder Vom ttigen Leben, München 1981, § 33,
231 – 238. Ich habe in meiner Untersuchung Die Konstitution der Moralitt.
Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999, eine
negative Interexistentialpragmatik entwickelt, die diese Dimension ins Zentrum
rückt. Vgl. auch Th. Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M.
2000.
12 Teil 1. Religionsphilosophie

unserer Vernunft und Praxis. Insbesondere kann kritische Philosophie die


zentralen Aspekte der konstitutiven Verbindung von Negativität und
Sinnkonstitution aufnehmen, wie sie in der biblischen Tradition präsent
sind. Ich habe dabei das Zentrum der christlichen Botschaft, den Kreu-
zestod und die Auferstehung Jesu – Menschwerdung und Tod Gottes,
bewusst ausgespart. Aber in der Linie meiner Interpretation wurde sicher
deutlich, dass hier der Konstitutionszusammenhang von Unverfügbarkeit
und Sinn auf unüberbietbar extreme, paradoxe Weise verdeutlicht wird.
Eine weitere Bemerkung betrifft das Verhältnis von Philosophie und
Religion. Die philosophische Reflexion bezieht sich auf die Struktur und
Geltung von Einsichten, die sich in der biblischen Tradition finden.
Religion ist eine konkrete Lebensform und Lebenspraxis. Während
Philosophie die Unverfügbarkeit, die Entzogenheit der Sinnbedingungen
als deren allerdings für sie konstitutive, nicht wegzudenkende Negativität
rekonstruiert, spricht an dieser Stelle die christliche Religion von Ge-
heimnis, Wunder und Gnade. Die philosophische Reflexion kann den
Ort dieser Rede klären; sie kann auch die Grammatik dieser Rede zu
klären versuchen. Aber sie kann auf die lebenspraktische Konkretion
dieser Rede in Verkündigung und Existenz, in den meditativen und
gemeinschaftlichen Lebensformen nur hinweisen als auf eine Realität sui
generis, die für sich selbst sorgen muss. Die durch die Dimensionen der
Kreatürlichkeit, der Unverfügbarkeit und der konstitutiven Nichtob-
jektivierbarkeit eröffneten Perspektiven der transpragmatischen Sinn-
bedingungen des humanen Lebens, der irreduziblen Personalität und
Würde, der Freiheit und Fehlbarkeit gehören zur tiefen Aufklärung. Sie
berühren sich mit dem Sokratischen, ebenso sinnkonstitutiven Nicht-
wissen und mit der Aufklärung der Grenzen der Vernunft bei Kant. Leben
in praktischer Anerkennung der Transzendenz der Welt, der Anderen und
meiner selbst ist Voraussetzung noch aller vernünftigen gemeinsamen
Praxis. Die biblischen Aufklärungspotentiale sind auch darin stark, dass sie
die Sprachlichkeit der Eröffnung negativ-praktischer Einsichten akzentu-
ieren: in der Rede Gottes im Alten Testament, in der Rede der Pro-
pheten, in der kerygmatischen, absoluten Rede Jesu und der Apostel und
Evangelisten im Neuen Testament. Aufklärung als in diesem Sinne
vermittelte Einsicht in die unverfügbaren Sinnbedingungen unserer
Existenz ist weder ein Epochentitel, noch irgendwo „vorhanden“. Sie
muss immer neu authentisch angeeignet werden in lebendigen Kom-
munikationsprozessen. Wo dies vergessen wird, da werden auch die
negativ-praktischen Einsichten biblischer Aufklärung pervertiert, dog-
matisiert, funktionalisiert und zu Herrschaft und Unterdrückung miss-
Die Entdeckung der Unverfügbarkeit 13

braucht. Dann müssen Kirche und Religion erneut an der biblischen


Aufklärung gemessen und daran erinnert werden, dass auch ihnen die
unverfügbaren Sinnbedingungen nicht gehören.
Rationalität, Negativität, Transkulturalität.
Aspekte europäischer Anthropologie

In konzentrierter Form will ich im Folgenden auf zentrale Aspekte eu-


ropäischer Anthropologie eingehen, die irreduzibel und konstitutiv für
die Genese der okzidentalen Rationalität waren und sind, mit denen die
europäische Vernunftgeschichte somit steht und fällt. Ich entwickele
diese Aspekte thetisch und dezidiert.
Die Grundzüge europäischer Anthropologie speisen sich im Kern aus
zwei Quellen: aus der antiken Philosophie und Wissenschaft und aus dem
Christentum sowie in den Verbindungen beider großer okzidentaler
Paradigmen in den unterschiedlichsten Formen. Die Paradigmen werden
gemeinhin vielfach unter den Überschriften Vernunft und Glaube the-
matisiert. Auf diese Weise erfolgt bereits von Anfang an eine subkom-
plexe, dualistische, konträre, bzw. oft sogar kontradiktorische Kon-
struktion der europäischen Großtraditionen, insbesondere, wenn
Vernunft mit Wissen und Wissenschaften (vielleicht sogar mit den Na-
turwissenschaften) und Glauben mit subjektiv-beliebigem Fürwahrhalten
von geoffenbarten, höheren Wahrheiten gleichgesetzt wird. Die gesamte
diskutable europäische philosophische, theologische und wissenschaftli-
che Kultur seit der Antike ist aber gegen eine solche prekäre, ihre Seiten
wechselweise depotenzierende Kontradiktion gerichtet. Die Stärke der
europäischen Philosophie, Anthropologie und Theologie besteht viel-
mehr darin, die wechselseitige, komplexe Bezogenheit von empirischen
Verstandesorientierungen und deren spezifischen Wahrheits- und Gel-
tungsansprüchen einerseits und transempirischen, das normative Le-
bensverständnis insgesamt betreffenden Vernunftorientierungen ande-
rerseits, auf allen Ebenen der Theorie und der Praxis, der Reflexion und
der Institutionalisierung durchgearbeitet zu haben.
Das wird zunächst daran deutlich, dass die griechische Philosophie in
den kurzen goldenen Jahrzehnten Athens von Sokrates bis Aristoteles
ständig intensiv an der Fundamentalunterscheidung von Verstand und
Vernunft, griechisch von dianoia bzw. episteme und nous lateinisch ratio und
intellectus arbeitet, an einer Fundamentalunterscheidung, die für die eu-
ropäische Vernunft und Aufklärung grundlegend wird, und zwar bis
Rationalität, Negativität, Transkulturalität 15

heute. Man geht nicht zu weit, wenn man diese Unterscheidung als
Zentrum der klassischen antiken Philosophie begreift, denn auf sie lassen
sich die systematischen Ausdifferenzierungen sowohl der Sokratik und
ihrer Dialogizität und Dialektik als auch die Ausdifferenzierungen der
Ideenlehre Platons und ebenso die der Metaphysik und der Kategori-
enlehre des Aristoteles beziehen.
Wie lässt sich die Fundamentalunterscheidung erläutern? Menschen
orientieren sich handelnd und sprechend. In erfahrbaren Kontexten der
alltäglichen und wissenschaftlichen Praxis gehen sie von verständlichen,
empirisch erfahrbaren, relativ stabilen Abläufen in der Wirklichkeit aus.
Gegenstände fallen nach unten, Wasser fließt, Vögel fliegen, die Erntezeit
kommt, wenn man Hunger hat, muss man etwas essen u.s.f. Wir bewegen
uns hier in einer empirischen Wirklichkeit, die kategorial strukturiert ist,
d. h. sie ist messbar, wägbar, vorhersagbar, nach Wirklichkeit und
Möglichkeit betrachtbar, und diese kategoriale Ebene reicht von der
Alltagserfahrung bis zu allen empirischen bzw. formellen Fachwissen-
schaften. Letztere werden bereits in der Antike vor und vor allem von
Aristoteles im Wesentlichen grundgelegt. So die Mathematik, die Geo-
metrie, die Physik, die Zoologie, die Botanik, die Meteorologie, die
Kosmologie und Astronomie, die Medizin, die Psychologie u.v.a. Ge-
genüber dieser Ebene des Verstandes, die zeitlich empirisch und formal
kategorial konstituiert ist, ist die Ebene, besser, die Dimension und die
Perspektive der Vernunft, des nous, ganzheitlich, transempirisch, transkate-
gorial und reflexiv. Diese Reflexivität zeigt sich bereits in der revolutio-
nären Erkenntniskritik und Methodologie des Sokrates. Die sokratische
Methode ist sicher eines der einmaligen Ursprungsereignisse – mit
Husserl: Urstiftungen – der europäischen Philosophie und Anthropo-
logie. Sie kratzt nicht nur an dogmatischen Erkenntnis-, Wahrheits- und
Geltungsansprüchen, sie destruiert sie in der Konsequenz a primis fun-
damentis, von den Grundlagen her definitiv und irreversibel. Die Aporetik
und Dialektik der frühen und mittleren Dialoge zeigt dies auf einzigartige
Weise: Wir gelangen in den orientierungsrelevanten Diskursen jeweils
bald auf Grenz- und Grundbegriffe wie „Mensch“, „gut“, „gerecht“,
„tugendhaft“, „wertvoll“, „begründet“, „wahr“, „schön“ u.s.f., die nicht
einfach und unstrittig definierbar sind, die aber dennoch alle Menschen
ständig im Munde führen, vor allem solche in Führungspositionen. Diese
Grundbegriffe sind strittige, dialektische, ambivalente, problematische
Reflexionsbegriffe, später so genannte Ideen. Diese sind keineswegs etwas
Abstraktes, Abgehobenes, so Sokrates, sondern sie sind gerade das uns
letztlich Nchste. Gerade im Blick auf die Anthropologie zeigt sich dies. In
16 Teil 1. Religionsphilosophie

einer Anekdote wird Diogenes beschrieben, wie er am helllichten Tag


mit einer Laterne auf den Marktplatz geht, gefragt, was das soll, antwortet
er: „Ich suche einen Menschen.“ Gut zweitausend Jahre später benennt
noch Kant die Grundfragen der Philosophie: Was kann ich wissen?; Was
soll ich tun?; Was darf ich hoffen? und stellt fest: Alle diese Fragen lassen
sich zurückführen auf die eine Grundfrage: Was ist der Mensch?
Es ist nun entscheidend, dass Sokrates die Aporetik und Dialektik in
seiner philosophischen Frageaktivität auf die Spitze und an die Grenze
treibt. Mit dieser fragenden Aktivität, mit der das Philosophieren als ein
dynamischer Prozess der gemeinsamen Klärung lebensorientierender
begrifflicher Perspektiven beginnt, sind die zwei weiteren zentralen In-
novationen des Sokrates verbunden: diese fragende Aktivität ist exis-
tentielle an den einzelnen Gesprchspartner gerichtete Aufforderung zur
Erinnerung (anamnesis), zur Arbeit an der Erinnerung an das Selbstver-
ständliche, aber Vergessene und Verdrängte. Es ist auch eine therapeu-
tische, auf jeden Fall eine kritische Aufgabe, die unauflöslich mit
Selbsterkenntnis verklammert ist. Die Vernunfttradition ist auf diese Weise
mit der früheren Weisheitstradition verbunden, mit dem Weisheitswort:
gnothi seauton – Erkenne dich selbst – nosce te ipsum. Die Weisheitstradition
setzte aber hinzu: meden agan – nicht zu sehr, nicht zu viel, und hier
beginnt ein weiterer Strang der europäischen, vernunftkritischen An-
thropologie, der sich bei Sokrates zu seiner Lehre, besser: zu seiner
praktischen Einsicht in das Nichtwissen entfaltet. Klassisch wird das ver-
nunftkritische Diktum des Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Genau
bezieht sich das Diktum ganz existentiell praktisch übrigens erstens auf die
ungewisse Stunde des Todes jedes Menschen – lange Zeit weiß niemand,
wann er stirbt; und zweitens bezieht sich das Diktum auf die unbeant-
wortete Frage nach dem Sinn und der Bedeutung des Todes für das
Leben. Es steht keine tragfähige Antwort auf diese Frage zur Verfügung.
Das Nichtwissen erstreckt sich aber des Weiteren auf alle existentiell
relevanten Fragen und Begriffe, die die Grundlagen unserer praktischen,
existentiellen, ethischen, moralischen und politischen Orientierungen
betreffen.
Mit dieser vernunftkritischen Negativittsreflexion 1 ist mit einem Schlag
im Ansatz eine irreduzible Freiheitsdimension eröffnet: die Freiheit der
Wissenschaften und der Forschung, die Freiheit der praktischen und
poetischen Gestaltungsformen, die Freiheit der existentiellen Selbster-

1 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M.
2000.
Rationalität, Negativität, Transkulturalität 17

kenntnis. Platon und Aristoteles setzen diese sokratische Negativitätsre-


flexion in ihrer Ideenlehre bzw. in ihrer Tugendlehre fort. Die Ideen
Platons sind keineswegs etwas abstrakt Jenseitiges, in diesem Sinne
weltfern Transzendentes, sondern die Orientierungen des Wahren, des
Guten und des Schönen sind in Wirklichkeit recht verstanden Kern und
Zentrum der intersubjektiven humanen Lebenspraxis. Dieser Kern, dieses
Zentrum, ist aber nicht dogmatisch vorgegeben und verfügbar, wie noch
in mythischen Narrativen und Herrschaftslegitimationsideologien vor
der Entstehung der Philosophie. Die Philosophie entsteht in einer tief-
greifenden Krisen- und Umbruchssituation, in der neben der kritischen
Vernunft- und Wissenschaftsreflexion nahezu gleichzeitig auch alle pa-
radigmatischen Formen der politischen Rhetorik, der Sophistik, des
Materialismus, des Skeptizismus, des Kynismus und des Nihilismus ent-
stehen. Das negativ-kritische Potential wie auch der existentiell-prakti-
sche Sinn der verschiedenen von Platon entwickelten Formen der
Ideenlehre versuchen, diesen epochalen Umbruch vernünftig zu re-
flektieren. Diese Intention setzt sich auch in Aristoteles’ Tugendlehre
fort. Im Zentrum steht hier die Rückbindung dessen, was Tugenden –
Gerechtigkeit, Freundschaft, Beratung, Orientierungen an Selbstzwe-
cken – eigentlich sind, an die einsichtsbezogene, offene, nicht festgelegte
Klugheit. Sie, die phronesis, ist an die Vernunft, den nous, zurückgebunden.
Für eine kluge Entscheidung lassen sich daher nicht von irgendwoher
abstrakt oder schematisch Regeln ableiten, keine äußeren Gesetzmä-
ßigkeiten angeben. Vielmehr gilt es stets, mit sich selbst zu Rate zu gehen
(euboulia), um dann eine wohlbegründete, einsichtsbezogene Wahl
(prohairesis) im rechten Augenblick (kairos) zu treffen. Alle Tugenden, alle
kommunikativen praktischen Lebensformen bilden zusammen die Basis
der Klugheit – die Vernunft hat ein praktisches Fundament.
Es gilt im Ansatz für Sokrates, Platon und Aristoteles: mit der Ver-
nunftperspektive ist ein Freiheitsraum der kommunikativen Selbster-
kenntnis eröffnet, der die differenzierten Bereiche der ethisch zu quali-
fizierenden Alltagspraxis, die Bereiche der Wissenschaften mit einer
komplexen Bandbreite von Sinnkriterien sowie die Bereiche von Recht,
Staat und Politik freisetzt. Entscheidend ist, dass die Vernunftperspektive
im Ansatz universal und egalitr ist – sie schließt alle Menschen ein. Diese
Urstiftung der vernünftigen Selbsterkenntnis enthält das Potential für den
technischen, den wissenschaftlichen und den ethisch-praktischen Fort-
schritt, der sich – bei allen Retardationen und angesichts aller katastro-
phalen Fehlentwicklungen und Zivilisationsbrüche des letzten Jahr-
hunderts – dennoch in normativ-rekonstruktiver Perspektive für die
18 Teil 1. Religionsphilosophie

europäische Geschichte behaupten lässt. Im Zentrum dieser Urstiftung


der Vernunft stehen aber keine Allmachtsphantasien des hochpotenten
Menschenwesens, sondern im Zentrum stehen negativ-praktische und
kritische Einsichten in die Grenzen unserer Erkenntnis, in das Nichtwissen,
das stets größer ist als das Wissen, in die technische Unverfgbarkeit der
Ideen, die gleichwohl das Fundament unserer Orientierungspraxis bilden,
in die schematische Unverfgbarkeit unserer einsichtsbezogenen Orien-
tierungen, an der sich zeigt, dass Klugheit eigentlich an Weisheit zu-
rückgebunden sein müsste, soweit irgend möglich. Dass ein solcher
voraussetzungsreicher Ansatz die griechische Urstiftung charakterisiert,
wird auch daran deutlich, dass Aristoteles zwei Bereiche aus der theo-
retisch oder praktisch zu bewältigenden Vernunftdimension ausgrenzt,
freilich, ohne sie aus der Vernunftreflexion zu verdrängen: Es ist zum
einen der Bereich unlösbarer Konflikte und ethisch inkommensurabler
Schuld. Dieser Bereich kann dennoch dem kommunikativen Selbstbe-
wusstsein zugänglich gemacht werden, und zwar durch die ästhetischen
Gestaltungspotentiale der Tragçdie. Durch die öffentliche Aufführung der
Tragödien werden die unlösbaren Konflikte vergegenwärtigt und dienen
so einer gemeinsamen, reinigenden Selbsterkenntnis, der Katharsis. Der
zweite Bereich, der besonders ausgegrenzt wird, ist der der Lyrik, in der
sich die individuelle Subjektivität zum Beispiel der Liebeserfahrung äs-
thetisch artikuliert, wie in den Gedichten der Sappho. Die Bereiche der
Tragödie und der Lyrik sind somit nicht als irrational ausgegrenzt, son-
dern durch ihre ästhetischen Vergegenwärtigungsweisen als transrational
freigesetzt.
Neben diesem antiken, für die europäische Kultur und Anthropo-
logie konstitutiven Paradigma ist das Christentum als zweite Quelle
auszuzeichnen. Auch hier will ich nur die Aspekte herausstellen, die nach
meinem Urteil systematisch spezifisch und irreduzibel sind für Vergan-
genheit, Gegenwart und Zukunft einer tragfähigen Kultur der Vernunft.
Auch in der biblisch christlichen Tradition werden Negativitt, Trans-
zendenz, Sinnkonstitution und Universalismus verbunden. Die christliche
Botschaft wendet sich an alle Menschen. Das biblische Bilderverbot besagt,
dass die Gottesebenbildlichkeit des Menschen darin besteht, dass Gott
bildlos und unverfügbar bleibt und begründet so die universale Men-
schenwürde. Der praktische Sinn der konstitutiven Verbindung von
Negativität und Transzendenz artikuliert sich christlich in der Botschaft
von der Menschwerdung Gottes, vom Tod Gottes und vom Bleiben der Ge-
meinde in der Liebe. Mit diesen Urstiftungen ist die definitive Nichtobjek-
tivierbarkeit Gottes und des Menschen religiös artikuliert. Das praktische
Rationalität, Negativität, Transkulturalität 19

Geltungspotential dieser religiösen Ausdrucksformen, der unendliche Wert


des einzelnen Menschen als eines einmaligen Individuums, dieses Potential
wirkt weiter in der europäischen Geschichte, auch über die christliche
Tradition hinaus. Das Christentum enthält, kurz gesagt, transreligiöse
Vernunftpotentiale, die auch über die Religion im engeren Sinn hin-
auswirken, und die zu Neuzeit und Aufklärung führen – Menschwer-
dung, Diesseitigkeit, Transzendenz in der Immanenz. Die Geltung des
unendlichen Werts des Individuums eröffnet eine transreligiöse, poli-
tisch-praktische und ethische Dimension, die letztlich mit zur Abschaf-
fung der Sklaverei und zu den bürgerlichen Revolutionen führt. Ebenso
enthält die Botschaft vom Tod Gottes (aus Liebe) ein Element religi-
onstranszendierender Religiosität, das in seiner Wirkung weit in die
Wirklichkeit der Profanität, der Immanenz und der Säkularisierung weist.
Bilderverbot, Nichtwissen und Tod Gottes aus Liebe lassen sich ebenfalls
als Urstiftungen der okzidentalen Rationalität auszeichnen. Sie konsti-
tutieren sinnkriterial die okzidentale Rationalität, die Kompatibilität von
Wissenschaft, Ethik und Religion, ihre wechselseitige Verwiesenheit und
die Potentiale ihrer Ausdifferenzierung. Von Sokrates, Platon und Ari-
stoteles bis zu Kant und Hegel besteht hier ein klarer faktischer und
normativer systematischer Zusammenhang von Wahrheits- und Gel-
tungsansprüchen. Die Orientierung an Gott wird als praktische, uni-
versale Lebensform verstanden. Die revolutionäre Entwicklung des
Abendlandes ist ohne den philosophischen, wie auch später den religiösen
ethischen Monotheismus unmöglich und unverständlich, alle Fehlformen
und Instrumentalisierungen eingeschlossen. Drei Beispiele sollen dies
noch verdeutlichen. So entfaltet sich im okzidentalen Paradigma eine
reiche und radikal sinnkritische negative Theologie, deren große Entwürfe im
Verbund mit der rationalen Mystik in Aufklärung und Moderne weisen,
ohne den Gedanken absoluter Transzendenz preiszugeben, so bei Meister
Eckhart und Cusanus. Bei Cusanus präfiguriert die ars coniecturalis, die
Kunst der Vermutung, als diskursive Erkenntnisleistung der wissen-
schaftlichen Rationalität die transzendentale Analytik Kants, während die
docta ignorantia, die gelehrte Unwissenheit, die transzendentale Dialektik
antizipiert. Das rationale, erkenntniskritische Potential dieser Tradition
besteht in der Einsicht, dass die Sinnbedingungen aller Theorie und Praxis
gerade aufgrund ihrer instrumentellen Unverfügbarkeit sinnkonstitutiv
fungieren. Der Geltungssinn des Wahren und Guten kann letztlich nur
transfunktional, transsubjektiv und transempirisch bestimmt werden. Der
Neuplatonismus (Proklos, Plotin) hatte in diesem Zusammenhang bei der
20 Teil 1. Religionsphilosophie

Vermittlung der antiken mit der christlichen Tradition eine zentrale


Bedeutung.
Das universalistische und revolutionäre Potential der philosophisch-
theologischen Tradition wird zweitens auch in der Naturrechtskonzeption
deutlich, wie sie in der spanischen Barockscholastik vor allem von de
Vitoria und Suárez entwickelt wurde. Sie bereitet der Sache nach die
bürgerlichen Revolutionen vor. Suárez bestreitet das göttliche Recht der
Könige. Er legitimiert das Widerstandsrecht, den Tyrannenmord und die
Volkssouveränität. Das revolutionäre Naturrecht enthält die Kerngehalte,
die zu den Transformationsprozessen von Aufklärung und französischer
Revolution führen. Die Grundidee des Naturrechts ist ein göttliches
Schöpfungsrecht: Gott der Gesetzgeber (deus legislator) verteilt das Recht
völlig gleich auf alle Völker und Nationen. Dabei sind ausdrücklich die
nichtchristlichen Völker eingeschlossen. Es braucht nicht viel ethische
Phantasie, um sich die Aktualität dieses universalistisch-egalitären
Schöpfungsdenkens für die gegenwärtige und unsere Zukunft bestim-
mende ökologische Problematik der Nutzung der endlichen natürlichen
Ressourcen auf unserem Planeten klarzumachen – insbesondere im Blick
auf die arme Weltbevölkerung.
Ein drittes Beispiel für die spezifisch europäische Anthropologie und
ihre Verbindung von Negativität und Sinnkonstitution bilden die Phi-
losophien Kants und Hegels. In der Tradition Platons unterscheidet Kant
die noumenale Welt, mundus intelligibilis, von der phänomenalen Welt,
mundus sensibilis. Unerkennbar ist die intelligible Welt, unbegründbar die
ihr entstammende menschliche Freiheit, unbegründbar auch die eben
unbedingte Geltung der Moral, der kategorische Imperativ. Kants
Grundeinsicht hinsichtlich der Grenzen der Vernunft besagt: Unbe-
dingter Sinn ist nicht weiter erklärbar, sondern selbst – in seiner Ter-
minologie: transzendental-praktisch – Bedingung der Möglichkeit aller
weiteren Erklärungen und Zielsetzungen. Die Grenzen der theoretischen
Vernunft führen bei Kant zu ihrem Fundament, der praktischen Philo-
sophie der Freiheit. Seine Philosophie mündet in die Konzeption einer
Weltrechtsgemeinschaft und eines Weltfriedens (in seiner Schrift Vom ewigen
Frieden). Diese Konzeption weist vor bereits 200 Jahren voraus auf die
Entwicklungen des Völkerbundes, der UNO und der EU. Auch für
Hegel ist entscheidend, dass die Vernunftentwicklung sich zeitlich-ge-
schichtlich, kulturell und institutionell, auch durch Rückschläge und
Brüche hindurch, entfalten und entwickeln muss. Er betont am stärksten
die geschichtliche, rechtliche und praktische Bedeutung des Prinzips der
Individualität für die europäische Entwicklung. Die Basis für Freiheit und
Rationalität, Negativität, Transkulturalität 21

Recht, Sittlichkeit und Moralität ist der unendliche Wert des einzelnen,
einzigartigen Individuums. Die Geschichte des Individuationsprinzips
mit dem von Goethe reformulierten Grundsatz individuum est ineffabile –
was das Individuum ist, ist unsagbar – zeigt wiederum, wie die euro-
päische Reflexion von Beginn an sowohl in der antiken Philosophie als
auch in der christlichen Tradition die praktische Bedeutung dieses
Fundamentalprinzips theoretisch-erkenntniskritisch reflektiert hat.
Es ist nun meine weiterführende These, dass die aufgewiesene Grenz-
und Negativitätsreflexion auch die Entwicklung der Moderne noch er-
möglichte und bestimmte, dass sie wesentliche Quelle auch der Bewäl-
tigung und Klärung der gegenwärtigen und zukünftigen Weltsituation
bilden muss. Im Kern der aufgewiesenen Urkonstitution lassen sich
Selbsterkenntnis, Selbstbewusstsein, unendlich konkret individuierte
Freiheit und ein praktisches Bewusstsein des Nichtwissens, der Grenzen
der Vernunft und der Erkenntnis freilegen. Nur mit diesem Bewusstsein
der Negativität verklammert, also kritisch, ist der Vernunftbezug trag-
fähig. Wenn in der klassischen Moderne Theoretiker wie Marx, Nietz-
sche und Freud Vernunftansprüche und die Perspektive von Ideen als
theoretische und praktische Wahrheits- und Geltungsansprüche in
Zweifel ziehen und mit weitreichender Ideologiekritik destruktiv zu
analysieren beanspruchen, sind sie de facto Gesprächspartner von Sokrates
und Platon, Kant und Hegel, Gesprächspartner auch der normativen
Ansprüche der christlichen Tradition. Und genau das waren Marx,
Nietzsche und Freud. Das bedeutet: Die europäische Tradition ist von
Beginn an eine Tradition kritischer Selbstreflexivitt, die sich nicht mit ihren
erreichten institutionalisierten Formen begnügt, sondern die produktive
Potentiale der Transformation entwickelt. Immer neu kann die Frage
gestellt werden: Ist der gegenwärtige Umgang mit den normativen
Geltungsansprüchen in der Tat begründet und glaubwürdig? So konnte –
nur ein Beispiel – schon Hegel in seiner Rechtsphilosophie in der sich
emanzipierenden Wirtschaftsgesellschaft gemeinschaftssprengende Fol-
gen sehen. Hegel sieht schon vor 180 Jahren:
Zwar muß Gewerbefreiheit und freie Berufswahl herrschen. Aber die Krisen
des Marktes verschärfen den Gegensatz von Armen und Reichen und stürzen
den Einzelnen in unverschuldete Katastrophen. Dann gehen die materiellen
Bedingungen der Ausübung seiner Rechte verloren. Es schwindet auch seine
Loyalität zu Staat und Recht. Daher muß für Hegel der Markt durch
22 Teil 1. Religionsphilosophie

staatliche und berufsständische Maßnahmen gegen starke Schwankungen


stabilisiert und die Einzelnen gegen Notlagen abgesichert werden.2
Man sieht: ein kritisches Krisenbewusstsein prägt bereits den sogenannten
Deutschen Idealismus. Diese Kritikpotentiale greift z. B. Marx auf. Die
Moralkritik der klassischen Moderne ist ohne die zweieinhalbtausend-
jährige europäische Vorgeschichte nicht denkbar. Von Nietzsche stammt
der Satz, der auch meine Ausführungen bündelt: Das Abendland beginnt
mit dem Tod zweier Männer: Sokrates und Jesus. Es wird deutlich: Die
kritische Selbstreflexivitt des Okzidents wird in der Moderne fortgesetzt.
Das gilt auch für Freud, wenn er in seinen tiefenhermeneutischen
Analysen weit zurückgreift und Motive des Alten Testaments und der
Gestalt des Mose untersucht, wenn er ferner Konflikte der griechischen
Tragödie (Ödipus, Medea) mit seinen Mitteln thematisiert. Die Moderne
erscheint so – und zwar unter Einschluss der Literatur, der Kunst und der
Musik – als Transfiguration sehr alter europäischer Kernbestände, denken
wir an Joyce, Proust, Musil und Kafka, an Schönberg, Berg und Nono,
um nur einige zu nennen.
Ich kann in diesem kurzen Beitrag nicht auf die Katastrophenge-
schichte Europas insbesondere im 20. Jahrhundert eingehen. Jedenfalls
zeigte sich auf unüberbietbare Weise, dass keine noch so ausdifferenzierte
Vernunftkultur vor extremen Fehlentwicklungen und katastrophalen
Rückfällen zu schützen vermag. Die humane Kultur der Vernunft ist
keine Selbstverständlichkeit, sondern muss immer wieder mit großen
Mühen gegen irrationale Kräfte und Tendenzen von allen Seiten er-
kämpft werden. Dass diese Kultur in hohem Maße gefährdet und bedroht
ist, das steht im Zentrum der kritischen Negativitätsreflexionen seit der
Antike und prägt sowohl die Analysen von Kant und Hegel als auch, in
noch stärkerem Maße, die Analysen von Marx, Nietzsche und Freud.
Die kritische Selbstreflexivität der europäischen Vernunftkultur hat
seit dem 18. und vor allem 19. Jahrhundert ein historisches Bewusstsein
befördert, das ebenfalls dazu geeignet ist, die katastrophalen Zivilisati-
onsbrüche zu analysieren und zu rekonstruieren, es nicht bei Verdrängen,
Vergessen und Tabuisierung zu belassen.
An zwei Beispielen aus der Gegenwartsdiskussion will ich die Be-
deutung der kritischen Vernunftperspektive noch kurz verdeutlichen.
Fundamental für die menschliche Weltorientierung ist die praktische
Vernunft; von ihr aus werden theoretische Vernunft und pragmatische

2 Ludwig Siep, Hegel und Europa, Paderborn 2003, 14 f.


Rationalität, Negativität, Transkulturalität 23

Verstandesorientierungen allererst sinnvoll möglich. Keine naturwis-


senschaftliche Forschungseinrichtung und keine technische Versuchs-
anordnung sagt von sich aus, wozu sie gut ist. Wie wir Teilchenbe-
schleuniger, Teleskope, Weltraumstationen, aber auch Autos und
Computer benutzen und einsetzen, das gibt uns keines der Geräte und
Apparate von sich aus an und vor. Wir müssen es selbst praktisch be-
stimmen und rechtlich normieren. Das gilt auch für die Wirtschaft und
die Börse, es gilt auch für den Umgang mit den ökologischen Ressourcen.
Alle diese Bereiche müssen zurückgebunden werden an die politischen
und rechtlichen, letztlich die moralischen praktisch-vernünftigen Zwe-
cke und Ziele einer sich selbst aufklärenden Zivilgesellschaft. Das nor-
mative Fundament von Wissenschaft, Wirtschaft und Ökologie darf nicht
ausgeschaltet, sondern es muss gestärkt werden durch Bildung und
Aufklärung. Wenn heutige neurobiologische Forschung im Rahmen
bestimmter empirischer Einzelbeobachtungen und Messergebnisse zu
dem Schluss gelangt, die menschliche Willensfreiheit zu leugnen, dann
muss (abgesehen von der Kritik an den logisch fehlerhaften Argumen-
tationen der Szientisten) darauf hingewiesen werden, dass naturwissen-
schaftliche Forschung ein Projekt neben vielen anderen gesellschaftlichen
Projekten ist. Aufgrund gesamtgesellschaftlicher Zwecke und Ziele
werden diese Projekte in der demokratischen Zivilgesellschaft und ihren
politischen Institutionen ermöglicht. Ihre Ziele und Zwecke müssen
begrndet und gerechtfertigt sein. Bis auf Weiteres ist es unbedingt angeraten,
diese Begründungen und Rechtfertigungen als freie Leistungen autonomer,
selbstverantwortlicher Individuen zu verstehen und zu beurteilen. Im
Kontext der komplex ausdifferenzierten Begründungs- und Rechtferti-
gungsdiskurse auf allen Ebenen der existentiellen, personalen Selbstver-
antwortung, der Moralität und Sittlichkeit, des Rechts und der Politik
müssen die Zielsetzungen der humanen Kultur bestimmt werden ent-
sprechend der Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir heute und
morgen leben? Naturwissenschaften sind gesellschaftliche Projekte auf
dem normativen Fundament von Moral, Recht und den lebensweltlichen
Formen der Sittlichkeit.
Ein zweiter Aspekt der gegenwärtigen weltgeschichtlichen Ent-
wicklung erhält ebenfalls aus der Perspektive der europäischen Ver-
nunftgeschichte spezifische Kontur. Die innere, geschichtlich-kulturelle
Vielfalt und interne Komplexität Europas seit den antiken Anfängen:
sprachlich, religiös, philosophisch, wissenschaftlich, künstlerisch, in den
alltäglichen Lebensformen lässt sich in der Perspektive irreduzibler Ei-
genart und Individualität und auf diese Weise der wechselseitigen Be-
24 Teil 1. Religionsphilosophie

reicherung, Anregung und produktiven Alteritt begreifen, auch wenn


gerade wiederum die destruktiven und kriegerischen Zeiten bis in die
jüngste Vergangenheit in Erinnerung bleiben müssen. Die innere Alte-
rität bei engster Nachbarschaft auf relativ kleinem Raum mit ihren rei-
chen Potentialen zeigt sich bereits in der griechischen Geschichte.
Wissenschaft, Kunst, Politik, Recht, Medizin und Philosophie konnten
sich dort nur so einzigartig entfalten, weil sich die Griechen das Wissen
der Anderen aneigneten. Die Bewältigung des Pluralismus mit all seinen
problematischen wie produktiven Potentialen ist Kennzeichen der eu-
ropäischen Geschichte seit Beginn. Wiederum gilt: Nehmen wir die
vernunftkritische Tragweite des Nichtwissens, des Bilderverbots, der
Menschenwürde, der Reflexion auf die Grenzen der Vernunft und der
negativen Theologie praktisch ernst, dann erschließt sich das Potential
transkultureller Selbstverständnisse, das Potential einer Kultur der Dif-
ferenz, die allerdings die wechselseitige Achtung und Anerkennung der
Anderen zur unbedingten Voraussetzung hat. Hannah Arendt weist
darauf hin, dass das Verzeihen und Vergeben allein in der Botschaft Jesu
im Zentrum steht, und in anderen Ethiken übersehen wird. Die antike
und die christliche Tradition verbinden sich, wenn die praktische Be-
deutung der Personalität, der irreduziblen Individualität als konstituiert
gedacht wird durch – mit Hegel formuliert – das „Andere ihrer Selbst“,
also durch den und die Anderen. Personen sind „Zwecke an sich selbst“
(so Kant) in ihrer jeweiligen Andersheit. Die Transzendenz des und der
Anderen, theoretisch-negativ ihre Unerkennbarkeit, praktisch-negativ ihre
Unverfgbarkeit, sie konstituiert erst vernünftige Gemeinsamkeit. Erst die
unersetzliche Singularität der Individuen ermöglicht höherstufige kul-
turelle Praxisformen in Wissenschaft, Politik, Kunst, Religion und All-
tagsleben. Diese Perspektive konstituiert letztlich Kern und Zentrum
einer demokratischen Zivilgesellschaft und ihrer diskursiven Öffent-
lichkeit, in der Konflikte offen ausgetragen werden können und müssen.
Demgegenüber kann keine Wissenschaft und keine Form von Dogma-
tismus über das Gemeinwohl und die Zwecke und Ziele von Gesellschaft
und Lebenspraxis abschließend befinden.
Ich habe bewusst pointiert folgende genuine Aspekte europäischer
Anthropologie seit der antiken Philosophie und der christlichen Tradi-
tion bis zu Aufklärung und Moderne herausgearbeitet:
Es ist erstens die Fundamentalunterscheidung von Verstand und Ver-
nunft, von Rationalität und selbstreflexivem Beurteilen, von kategorialem
Bestimmen und dem kritischen Denken und Nachdenken ber solche
Bestimmungen. Mit dieser Fundamentalunterscheidung sind Dialogizi-
Rationalität, Negativität, Transkulturalität 25

tät, Dialektik und die normative Perspektive der Selbsterkenntnis kon-


stitutiv verbunden. Sie bilden das Fundament eines theoretischen wie
praktischen Universalismus.
Es ist zweitens die fundamentale Einsicht in die Grenzen des Erken-
nens, die Grenzen der Vernunft, die Grenzen des Wissens – die Einsicht in
das Nichtwissen. Mit dieser Einsicht ist die Befreiung von allen Formen des
Dogmatismus und die Freisetzung aller theoretischen (wissenschaftli-
chen) und praktischen (politischen) Gestaltungsmöglichkeiten verbun-
den. Die Vernunft gehört niemandem – und nur so allen, die prinzipiell
an ihr teilnehmen können.
Die christliche Tradition akzentuiert den fundamentalanthropolo-
gischen Aspekt der Singularität und des unendlichen Werts jedes einzigartigen
menschlichen Individuums. Die kritische Tradition setzt sich in ihr mit dem
Bilderverbot und der negativen Theologie fort. In Renaissance, Hu-
manismus und Reformation, in Aufklärung und Moderne werden die
Perspektiven der Freiheit und Selbstbestimmung wie auch die der Ver-
nunftkritik und Selbstkritik weiter entfaltet und radikalisiert.
Was folgt aus meinen Überlegungen für die Gegenwart und Zu-
kunft? Heute muss der Bezug von Anthropologie, Ethik, Politik und
Ökonomie neu gedacht werden. Die Potentiale eines von der soziopo-
litischen und ökonomischen Realität des weltgeschichtlichen Prozesses
abgespaltenen bloßen Normativismus sind erschöpft und werden ideo-
logisch. Wir müssen daher die normativen Implikationen unserer eigenen
Vernunfttradition erneut begreifen und für unsere Gegenwart neu er-
schließen.
Die Wissenschaften müssen mit ihren Projekten und Zielen noch
weit mehr als heute üblich in gesamtgesellschaftlich klar gewordene Ziel-
und Zwecksetzungen eingebunden und auf die demokratischen Wil-
lensbildungsprozesse einer sich selbst aufklärenden Zivilgesellschaft be-
zogen werden. Schulen und Hochschulen müssen mehr denn je in die
Lage versetzt werden, mündige Bürger einer aktiv partizipierenden Zi-
vilgesellschaft zu erziehen und zu bilden. Die Rückgewinnung einer
solchen Vernunftperspektive muss durch philosophische, anthropolo-
gisch-praktische Grundlagenreflexion begleitet werden. Diese Perspek-
tive hat seit ihrem Beginn im antiken Europa eine wissenschafts- und
vernunftkritische, und gerade so eine transkulturelle, universale Di-
mension.
Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt.
Existentialanthropologische und ethische
Bemerkungen
Das ist aber alsdann nicht Auslegung
einer vernnftelnden (spekulativen), sondern
einer machthabenden praktischen Vernunft […]
und diese Auslegung können wir
eine authentische Theodicee nennen.
Kant

Wie steht es nach Metaphysikkritik, Transzendentalphilosophie, Exis-


tentialanthropologie und Sprachkritik mit der philosophischen Theo-
dizee? Die Befunde, an denen sich ihre Reflexionen einst entzündeten,
gelten weiterhin:
Das menschliche Leben ist geprägt durch das malum metaphysicum: die
Endlichkeit.
Es ist geprägt durch das malum naturale (malum physicum): das Leiden.
Es ist geprägt durch das malum morale: das Böse.

Ich möchte im Folgenden klassische Systemgedanken der Theodizee in


einem kritischen Rahmen aufgreifen. Es ist – Kants Kritik an der The-
odizee und sein Votum für Hiob sind hier einschlägig1 – dazu erfor-
derlich, diese Gedanken aus dem Kontext einer ,doktrinalen‘ Metaphysik
und einer ,rationalen‘ Onto-Theologie zu entnehmen und sie im Rah-
men der praktischen Philosophie zu reformulieren. Diese existential-
praktische Transformation der Theodizee lässt, so hoffe ich, deren ei-
gentlich transzendental- hermeneutischen Status sichtbar werden: Ihre
,Argumente‘ – oft theoretisch-metaphysisch missverstanden und auch in
einem solchen Gewand auftretend – formulieren, so meine ich, praktische
Einsichten einer Hermeneutik der Lebenswelt, und diese Einsichten können
wir zu den Bedingungen der Mçglichkeit von Ethik zählen, anders gesagt: zu
den Voraussetzungen einer moralischen Lebensform.

1 Immanuel Kant, ber das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee,
Akademie-Ausgabe Bd. VIII, 255 – 271.
Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt 27

Eine praktische Transformation der Theodizee hat zunächst trans-


zendente Rekurse auszuschließen und damit einhergehende ,Erklärun-
gen‘ lebensweltlicher Faktizität aus metaphysischen Prinzipien abzu-
weisen. Nicht unsere traditionellen und gegenwärtigen theoretischen
Konstruktionen ,tragen‘ unsere lebensweltliche Praxis, sondern diese – in
ihrer existentialen und sprachlichen Verfassung – ist letztlich auf Dauer
Rekurs und Beurteilungsinstanz der sie oft genug verlassenden
menschlichen Entwürfe. Das gilt auch für das malum metaphysicum: An-
gesichts unserer Endlichkeit sind Warum-Fragen und Erklärungsversuche
bereits philosophisch-grammatisch betrachtet falsch. Unsere Endlichkeit
gehört unumstößlich zur Verfassung unseres Lebens. Sie ist existential
konstitutiv und einer wie immer gearteten Erklärung weder fähig noch
bedürftig. Auch mythische Erzählungen, die davon handeln, wie z. B. der
Tod in die Welt kam, stellen im Kern schlicht narrative Vergegenwrtigungen
der hier gemeinten existentiellen Faktizität dar. Das gilt etwa für die
biblische Genesis mit ihrer Darstellung des urgeschichtlichen Paradies-
verlusts und der Gleichursprünglichkeit von Erkenntnis, Schuld, Scham,
Arbeit und Tod. Auch hier handelt es sich um die narrative Vergegen-
wärtigung von Grundzügen der condition humaine, und gerade der
Hinweis auf den Ursprung existentieller Grundgegebenheiten im uner-
forschlichen Ratschluss Gottes bedeutet den definitiven Abweis hier etwa
versuchter ,Erklärungen‘.
Die praktische Frage: Wie sollen wir leben? ist systematisch ver-
bunden mit dem Erfordernis, ein vernünftiges Verständnis unserer Le-
benssituation zu gewinnen. Insofern sind philosophische Anthropologie
und Ethik systematisch verklammert. Die Einsicht in unsere wahre Lage
gehört zu einer moralischen Lebensform. Versuchen wir, in einem
nächsten Schritt die traditionelle Theodizee-Reflexion angesichts des
malum metaphysicum in seiner faktischen Ausprägung als malum naturale
durch eine Hermeneutik der Lebenswelt in praktischer Absicht zu
reinterpretieren. Leibniz spricht hier auf den ersten Blick sehr konven-
tionell in der Terminologie der metaphysisch gefassten Schöpfungs-
theologie und in den Ausdrucksweisen einer Vollkommenheitskosmo-
logie. Die ontologische Fassung des Arguments von den abgestuften
Vollkommenheitsgraden des kreatürlichen Seins besagt demnach, dass
um der – ontologisch prästabiliert gedachten – Harmonie des Ganzen
willen gerade die mala, die ,weniger vollkommenen‘, negativen Aspekte
der Welt konstitutiv zu deren sinnvoller Einrichtung dazugehören.
Leiden und Tod, heißt das, gehören nicht lediglich als lästige Begleit-
erscheinungen zur Welt und zum Leben des Menschen. Sie sind Kon-
28 Teil 1. Religionsphilosophie

stituentien der ,Harmonie des Ganzen‘, sie tragen zu dessen ,Vollkom-


menheit‘ gerade wesentlich bei. Zunächst scheint ein solcher Barockzopf
harmonischer Ontologie – die Irreversibilität der Aufklärung einmal
unterstellt – unweigerlich unter das Messer zu gehören. Befreien wir
Leibnizens Ausführungen jedoch von der rezeptionshinderlichen Diktion
barockmetaphysischer Frömmigkeit, dann macht er in seinen – vor-
nehmlich gegen Bayles Skeptizismus gerichteten – Analysen zum malum
naturale auf das – so möchte ich reformulieren – Phänomen lebenssinn-
konstitutiver Negativitt aufmerksam. Die Reflexion auf diese lebens-
sinnkonstitutive Negativität nun lässt sich existentialanalytisch nicht nur
aufgreifen, sondern präzisieren, und zwar ohne transzendente Rekurse,
mithin allein im Blick auf die menschliche Lebenssituation und insofern
,immanent‘. Dazu stimmt, dass Leibniz das malum metaphysicum und das
malum naturale keineswegs harmonieontologisch zum Verschwinden zu
bringen sucht und ,hinweginterpretiert‘. Vielmehr bleibt es auch in seiner
Analyse de facto bei Leiden und Tod, und gerade deren unleugbare
Faktizität soll als vernünftig vereinbar mit einer sinnvollen Gesamtein-
richtung des menschlichen Lebens einsichtig gemacht werden. Sehe ich
recht, dann geht es in diesem Teil der ,Theodizee‘ um die hermeneutische
Explikation von bestimmten Voraussetzungen (Möglichkeitsbedingun-
gen) einer humanen Welt, und das heißt hier speziell um die Vermittlung
einer praktischen Einsicht in die lebenssinnkonstitutive Bedeutung von
Leiden und Tod.
Wie können wir das Faktum sinnkonstitutiver Negativität exem-
plarisch existential reformulieren? Das malum metaphysicum nennt die
Endlichkeit des Menschen. Physisch manifest wird es in Schmerzen,
Krankheit und Tod. Inwiefern ist – ich wähle dieses Exempel – der Tod
sinnkonstitutiv? Am Tod wird unüberbietbar die konstitutive Wider-
fahrnisstruktur des Lebens endlicher Vernunftwesen evident. Sie müssen
sterben, und sie wissen das. Am Sein zum Tode zeigt sich die Kontingenz
unserer Existenz: die Unverfügbarkeit der wesentlichen Bedingungen
und Möglichkeiten unseres ganzen Lebens. Inwiefern das Sein zum Tode
konstitutiv für ein eigentliches und vernünftiges praktisches Selbstver-
ständnis von Menschen ist, dieses Thema steht im Zentrum von Hei-
deggers Thanatologie.2 Der Tod ist authentiekonstitutiv: Er ist stndig

2 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 111967, v. a. § 62. Vgl. Karl-Otto
Apel, „Ist der Tod eine Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung? (Exis-
tentialismus. Platonismus oder transzendentale Sprachpragmatik?)“, in: Jürgen
Mittelstrass/Manfred Riedel (Hg.), Vernnftiges Denken. Studien zur praktischen
Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt 29

mçglich und erwartbar und bei seinem Eintritt das Ende aller menschlichen
Möglichkeiten. Er ist die eigenste Möglichkeit des Menschen und er-
schließt so die unvertretbare Einmaligkeit (Einzigartigkeit, Jemeinigkeit)
der Existenz. Als Sein zum Tode (permanentes Sterben) ist er Form des
ganzen Lebens. Als solche Form bezieht er sich nicht auf irgendein
Faktum in der Welt (im Leben) und ist insofern unbezüglich. Durch keine
unserer Handlungen können wir ,hinter‘ unseren Tod ,zurück‘ oder
,über‘ ihn ,hinaus‘: Er ist schlechthin unhintergehbar, unüberholbar. Er
ist schlechthin gewiss, ohne dass die praktische Todesgewissheit eine aus
der Erfahrung einzelner ,Todesfalle‘ ,errechenbare‘ Gewissheit wäre. Er
ist unbestimmt: Wir wissen nicht, wie er eintritt, und ein angemessenes
Todesverständnis kann sich somit nicht lediglich auf diese oder jene
empirischen Begleitumstände des Sterbens beziehen. Die unverfügbare
Endlichkeit in der Gestalt des Seins zum Tode ist eine wesentliche Form
unseres Lebens. Diese Form ist nun sinnkonstitutiv zu nennen, sinn-
konstitutiv für unser praktisch-vernünftiges In-der-Welt-sein: Die
Endlichkeit in der Gestalt der Sterblichkeit vereinzelt den Menschen auf
einmalige Weise und ist so eine existentiale Bedingung von Verant-
wortlichkeit und Schuld. Verantwortlich und schuldig sind wir als ein-
malige, unvertretbare personale Individuen, mit Bezug auf unsere Exis-
tenz. Die Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit, das Schwinden der
lebensweltlichen Zeit und die pragmatisch nicht mehr zu tilgende Schuld,
die Einzigartigkeit jeden Augenblicks und die ständige Entzogenheit und
Unsicherbarkeit der offenen Zukunft bilden als temporale Charaktere der
endlichen Existenz den konstitutiven Horizont der Irreversibilitt und
Endgltigkeit, ohne den ein ernsthaftes und authentisches Lebensver-
ständnis nicht denkbar und gewinnbar ist.
Malum metaphysicum und malum naturale erweisen sich mithin für eine
existentialanalytische Hermeneutik der Faktizität als Voraussetzungen
einer humanen Welt und als Konstitutiva eines ethischen Selbstver-
ständnisses. Gegen eine allfällige Verdrängung der Endlichkeit und gegen
autonomistische Subjekttheorien ist – mit der Theodizee – dafür zu ar-
gumentieren, dass Leiden und Tod in ihrer Bedeutung fr das Leben nicht als
,lästige Störungen‘ einer reibungslosen Selbstbehauptung anzusehen sind

Philosophie und Wissenschaftstheorie, Berlin 1978 (Festschrift Wilhelm Kamlah),


407 – 419. – Ferner Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und
Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003, 94 –
104, 216 ff., 279 f. sowie Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung.
Sprachanalytische Interpretationen. Frankfurt a.M. 1979, v. a. 235.
30 Teil 1. Religionsphilosophie

und insofern als das Andere der Vernunft konstitutiv zu dieser gehören.
Im Übrigen wäre auch durch eidetische Variationen und Fiktionen eines
leidlos und todlos gedachten Lebens die Leibnizsche These zu bestätigen,
daß eine Welt, in welcher das Übel einbegriffen ist, besser sein kann als eine
Welt ohne Übel […] da das Übel ja von einem größeren Gut begleitet sein
kann.3
Mit bestimmten interpretatorischen Mitteln vermag eine Hermeneutik
der existentiellen Faktizität in praktischer Absicht möglicherweise auch
die Reden von den privativen Modi einer primären ontologischen Po-
sitivität angesichts von Endlichkeit und Leiden aufzunehmen. Hierzu
müsste – ich deute dies hier nur an – versucht werden, die Grundsätze
einer harmonischen Ontologie und das System des metaphysischen
Äquilibrismus existentialanthropologisch zu interpretieren. Insbesondere
gälte es, das, was Leibniz ,harmonisch‘ oder ,ausgeglichen‘ nennt, zu-
nächst als gleichursprnglich zu verstehen. Eine existentiale (und sprach-
analytische) Interpretation der ,Theodizee‘ müsste dabei deren syste-
matischen Zusammenhang mit der ,Monadologie‘ besonders
berücksichtigen. Denn diese stellt den (freilich noch metaphysisch
überformten) Entwurf eines intersubjektiven existentialen Solipsismus dar,
der die Analysen Heideggers zur Jemeinigkeit des In-der-Welt-seins und
Wittgensteins zur Gleichursprünglichkeit von Leben (ethischem trans-
zendentalen Ich) und Welt antizipiert. Es ist jedenfalls bemerkenswert,
dass sich Leibniz in der ,Theodizee‘ gerade in dem ethisch so relevanten
Punkt der Einzigartigkeit des transzendentalperspektivischen Weltbezugs
der Personen („Seelen“) auf die ,Monadologie‘ beruft: „Ebenso muß
man zugeben, daß jede Seele das Universum nach ihrem Blickpunkt
vorstellt und daß sie in einzigartiger Beziehung zu ihm steht; allein immer
und immer liegt dem eine vollkommene Harmonie zugrunde.“ (Theo-
dizee § 357) 4
Wie steht es nun mit dem malum morale im Kontext der Theodizee?
Die traditionelle theologische Lehre, dass nicht Gott die Ursache des
Bösen ist, dass es nicht aus seinem Willen stammt, dass es – scholastisch
formuliert – keine wirkende Formalursache hat, Auffassungen, denen

3 Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee, übers. von Artur Buchenau, Hamburg
2
1968, 414 und 413. Nach dieser Ausgabe (PhB 71) wird im Folgenden im Text
zitiert.
4 Zum existentialen Solipsismus im Allgemeinen und bei Leibniz im Besonderen
vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein, a.a.O., 58 f., 127, 189, 232 –
242, 269 ff.
Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt 31

Leibniz folgt, auch diese Lehre lässt sich, so meine ich, modifiziert ver-
stehen. Böse können nur Menschen sein: Das Böse ist ein Existential des
Daseins. Anexistentiale Versuche, das Böse als Natur- oder Weltgesetz
(,Weltwille‘), als Eigenschaft oder Wesen ,der Geschichte‘ oder als ,Wille
Gottes‘ aufzufassen, sind transzendent, überschwenglich und von vor-
neherein verfehlt. Das gilt im Übrigen auch für eine in toto ,negative
Geschichtsphilosophie‘, wie sie einige Entwürfe der Kritischen Theorie
zu kennzeichnen scheint, ebenso für konservative Varianten eines glo-
balen ,Kulturpessimismus‘. Die Tradition und mit ihr Leibniz führen das
malum morale nicht auf den unmittelbaren Einfluss Gottes zurück, sondern
auf die Freiheit des Menschen. Gott wollte freien Geschöpfen das Leben
geben, und – so bereits Augustinus – musste mit dem Faktum der Freiheit
dieser Wesen und der Möglichkeit ihres guten Handelns auch die
Möglichkeit des bösen Handelns eröffnen. Freiheit ist conditio sine qua non
der Ethik und eines guten Lebens endlicher Vernunftwesen. Sie ist
Voraussetzung einer moralisch verfassten humanen Lebenswelt. Das
Faktum der Freiheit ist ein unerklrliches, auf keine Weise ,ableitbares‘
existentiales Konstituens. Insofern ist sie ,gottgeschaffen‘. Die Herme-
neutik der existentialen Faktizität zeigt, dass das Faktum der Freiheit
gleichursprünglich mit den Möglichkeiten des guten wie des bösen
Handelns und entsprechender Selbstverständnisse verbunden ist:
„Spontaneum est, cujus principium est in agente. Auf diese Weise hängen also
Handlungen und Willensentschlüsse ganz und gar von uns ab.“ (Theo-
dizee § 301) Diese Prinzipien können moralisch gerechtfertigt, ,gut‘ oder
moralisch ungerechtfertigt, ,böse‘, sein. Greifen wir die Theodizee-
Reflexion in der Gestalt einer eidetischen Variation auf, so können wir
fragen: Wie wäre eine ausschließlich moralisch gute Lebenswelt freier
Personen denkbar? Sie stellte den Grenzfall des Endes unserer ethischen
Unterscheidungsmöglichkeiten dar. Prälapsarische, eschatologische und
apokalyptische Fiktionen vergegenwärtigen in der Form der Ur- und
Endzeitmythen diese Situation. Solche Fiktionen lassen uns jedoch nur
die faktische, ,gemischte‘ Verfassung unserer realen Welt schärfer er-
kennen. Eine garantiert nur gute Lebenswelt lässt sich kaum anders denn
durch einen ,kausalen Determinismus der Moralität‘ vorstellen, und das
ist eine contradictio in adiecto. Ich denke, es ist nicht die Vorliebe des
Barock für die ,Fülle‘ und die ,Mannigfaltigkeit‘, ihr Votum gegen das
,Einerlei‘, die Leibniz auch hier im Kontext der Ethik dazu führen, die
Abstufungen und Differenzierungen für lebensweltlich sinnkonstitutiv zu
halten, mit seinen Worten: vereinbar mit der guten Schöpfung Gottes.
Denn die Möglichkeit des Bösen, der moralischen Verfehlung, ist der
32 Teil 1. Religionsphilosophie

,negative‘ Hintergrund, die Folie der Defizienz, auf der sich das ver-
nünftige moralische Leben und Handeln allererst geschichtlich zu bilden
und zu entwickeln vermag.
Das Faktum der Freiheit schließt dabei einen transzendenten theo-
logischen Determinismus aus. Bestimmte Teile der ,Monadologie‘, der
,Theodizee‘ (z. B. §§ 332 ff.) und insbesondere das Prädestinationsver-
ständnis Leibniz’ können wir dahingehend interpretieren, dass die gött-
liche Prädestination unter Einschluss des liberum arbitrium von ihm als eine
Erçffnung von Handlungsmçglichkeiten gesehen wird. Sie stellt sozusagen die
Bedingungen her bzw. dar, unter denen ein Leben endlicher moralischer
Wesen überhaupt möglich wird. Deswegen wendet sich Leibniz vehe-
ment gegen ein Prädestinationsverständnis im Sinne einer kausalen De-
termination menschlicher Handlungen: Die Prädestination ist „durchaus
keine Nezessitation“ (Theodizee, Anhänge, 418). Die Theodizee erklärt
mithin nicht auf metaphysische Weise die Gegebenheiten der Lebenswelt
durch eine theologische Kausalordnung, sondern beschreibt sie – im
Ansatz hermeneutisch und transzendental – als eine Konditionalordnung.
Deswegen tritt das jeweilige malum „als Bedingung“ (Theodizee § 336),
als „conditio sine qua non“ (Theodizee § 230) lebensweltlicher Orientie-
rung und Moralität in den Blick.
Der sinnkonstitutive Hintergrund der Negativität, den wir angesichts
des malum metaphysicum und des malum naturale bereits als lebensweltliches
Orientierungskonstituens einsichtig machen konnten, gilt auch für eine
moralische Lebensform. Insofern ist die Erörterung des malum morale im
Kontext der Theodizee gleichfalls hermeneutisch nachvollziehbar. Das
gilt nicht nur für den erörterten Zusammenhang von faktischer Freiheit
und Möglichkeit des Bösen. Es gilt auch für die interne Konstitution au-
thentischer personaler Beziehungen, für die innere Verfassung moralischer,
,transsubjektiver‘ Verhältnisse. Diese innere Verfassung ist konstitutiv
fragil. Das ,Negative‘ tritt hier in der Gestalt der permanenten Verletz-
lichkeit einer moralischen Lebensorientierung in Erscheinung. Das malum
morale ist als Zerbrechlichkeit authentischer Verhältnisse mit diesen
konstitutiv verbunden. Authentische Transsubjektivität, die sich allererst
mit der vernünftigen Abkehr von instrumentellen, strategischen Formen
intersubjektiven Handelns einstellt, ist ihrer Verfassung nach (im Un-
terschied zu extern sanktioniertem Recht) schutz- und garantielos. Eine
existentiale Analytik z. B. des Vertrauens und der moralischen Liebe kann
hier im Übrigen in die Analysen einer philosophischen Grammatik
Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt 33

überführt werden.5 Der nichtinstrumentelle Status bzw. die technische


Unsicherbarkeit der interpersonalen Verhältnisse ,Vertrauen‘ und ,Liebe‘
ist für diese ,wesenskonstitutiv‘. Da „das Wesen in der Grammatik aus-
gesprochen ist“,6 lässt sich die genuine Bedingungs-, Voraussetzungs- und
Garantielosigkeit, die wir mit diesen Existentialen zu Recht verbinden,
am angemessenen Verständnis des Gebrauchs aufweisen, den wir von den
genannten Worten machen. Mit Blick auf die Reinterpretation der
Theodizee können wir von den authentiekonstitutiven Unverfügbar-
keiten einer moralischen Lebensform sprechen. Verstehen wir diese als
Preisgabe der eigenmächtigen Selbstbefangenheit7, als praktische Auto-
nomie im Sinne der Freiheit von sich selbst8 und positiv als gelassene9 und
liebende Hinwendung zu den Mitmenschen, dann ist sie insbesondere
auch gekennzeichnet durch die Unmçglichkeit ihrer theoretischen und
technischen Sicherung. Anders gesagt: Die moralische Lebensform ist
darauf angewiesen, dass die Mitmenschen ebenfalls in sie eintreten, ohne
dass dies je irgend technisch bewirkt werden könnte. Die praktische
Einsicht in die Enttäuschbarkeit authentischer Verhältnisse bzw. das
Leiden daran, dass sie sich nicht einstellen, gehört zu diesen Verhältnissen
selbst. Freie Vernunftwesen sind in ihrer moralischen Lebensform dem
faktischen Scheitern ihrer Bemühungen, dem Leiden an diesem Scheitern
und mithin der Wirklichkeit des Bösen ausgesetzt. Von einer existenti-
ellen, praktisch gewordenen Einstellung der Moralität als Lebensform
sollte nicht die Rede sein, schlösse diese qua Lebensform nicht Gelas-
senheit angesichts des stets möglichen Scheiterns ein. Das malum morale
gehört zu einer moralischen Welt und somit findet es in der Gestalt dieses
Scheiterns moralrelevant Eingang in die authentischen Selbstverständ-
nisse von Personen und deren Leben. Leibniz sagt:
Dieu ne pouvoit pas à la créature donner tout (rien que bien), sans en faire un
Dieu; il falloit donc qu’il y eût des différens dégrés dans la perfection des

5 Zum Entwurf einer existentialanalytischen philosophischen Grammatik vgl.


Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein, a.a.O., 254 – 321.
6 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1971, § 371.
7 Wilhelm Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachliche Grundlegung und Ethik,
Mannheim/Wien/Zürich 1973, 145 – 192.
8 Friedrich Kambartel unterscheidet im Anschluss an die moralphilosophische
Tradition drei Stufen der Autonomie: die Freiheit von der Natur, die Freiheit
von Herrschaft und die Freiheit von sich selbst.
9 Vgl. Friedrich Kambartel, Gelassenheit, Manuskript. Konstanz 1979, und ders.,
Art. „Gelassenheit“, in: Jürgen Mittelstrass (Hg.), Enzyklopdie Philosophie und
Wissenschaftstheorie I, Mannheim/Wien/Zürich 1980.
34 Teil 1. Religionsphilosophie

choses, et qu’il y eût aussi des limitations de toute sorte. (Theodizee § 241;
vgl. §§ 243 und 31)
Diese Begrenztheit in der Gestalt der Gefährdung und des faktischen
Scheiterns gehört konstitutiv zu einer moralischen Lebensführung. Und
auch die ein wenig formal-farblose Rede von den Differenzierungen der
Vollkommenheit lässt sich etwas emphatischer so reformulieren: Besteht
der Reichtum eines moralischen Lebens in dem Maß der liebenden
Hinwendung zu den Mitmenschen, dann gehören die derart entste-
henden Gefährdungen, die Schmerzen und das Leid, Scheitern und
Vergeblichkeit zu diesem Reichtum dazu. Da eine moralische und
praktisch-autonome Lebensform die tätige Selbstannahme und die lie-
bende Bejahung der Anderen einschließt, schließt sie die Annahme des
Scheiterns und auch die Vergebung des Bösen mit ein. Das gilt, so meine
ich, auch für die moralische Enttäuschung durch sich selbst. Die Einsicht in
eigenes Versagen ist ebenfalls moralkonstitutiv. Das malum morale tritt hier
als eigenes Scheitern auf. Auch hier ist ,das Negative‘, in der Gestalt der
Trauer über sich selbst und des moralischen Leidens an sich selbst kei-
neswegs unvernünftig und zu verdrängen. Insbesondere in Fällen tragi-
schen moralischen Leids, in dem unsere besten Intentionen schicksalhaft
und ausweglos kollidieren und unsere moralische Identität zu zerbrechen
droht, bleibt uns nichts als das bewusste, ernste und illusionslose Leiden.
In ihm gerade mag sich hier humane Dignität bewahren.
Entgegen den Idealen etwa stoischer Selbstmächtigkeit, den Strate-
gien apathischer Verhärtung und existentieller Ataraxie sollte eine exis-
tentialanthropologisch-ethische Reflexion des Leidens gerade im Blick
auf die Theodizee-Thematik auch die Rationalität des Weinens und des
Schreiens akzentuieren. Denn nicht nur die Freude, das Glück und das
Lachen sind die Kennzeichen einer moralischen Lebensform. Die antike
griechische Tragödie war keineswegs eine ,irrationale‘ Parallele zur
Ausbildung einer rationalen, diskursiven und universalistischen philo-
sophischen Ethik. Sie hielt vielmehr die solchermaßen nicht mehr be-
wältigbaren Ausweglosigkeiten des menschlichen Lebens in der dichte-
rischen Gestaltung sagbar und gegenwärtig, so dass auch das tragische
Zerbrechen des Individuums als ein Teil der gemeinsamen humanen
Welt nicht in die Sprachlosigkeit verdrängt wurde. Für unsere christliche
Tradition sei nur an den Gekreuzigten erinnert. Nach dem letzten von
Markus überlieferten Satz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich
verlassen?“ (Mk 15, 34) heißt es: „Aber Jesus schrie laut und verschied“
(Mk 15, 37). Karg aber treffend ist das Diktum Wittgensteins: „We are
Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt 35

not here in order to have a good time.“10 Für Kant war das Geschick
Hiobs und sein Verhalten das Paradigma einer „authentischen Theodi-
zee“.11 Diese schließt für ihn Theologie- und Metaphysikkritik ein. Zum
moralischen Leben gehört gemäß Kant das geduldige Leiden ohne me-
taphysische Ausflüchte und die getroste Verzweiflung ohne fatalistische
Resignation. Es gehört zu ihm ein Mut zur Trauer und das bewusste
Durchleiden des Leidens ohne Verdrängung und Beschönigung. Ich
versuchte zu zeigen, dass diese existentialpraktische Transformation der
Theodizee sich auf die Intentionen von Leibniz teilweise und modifiziert
zurückbeziehen lässt. Authentische Theodizee als Hermeneutik der Le-
benswelt heißt dann, dass wir – trotz aller erhofften praktischen Melio-
ration unserer Verhältnisse und unserer Selbstverständnisse – als Men-
schen Sinn, Authentie und moralische Identität nie außerhalb und fern
von Endlichkeit, Leiden, Tod und Schuld gewinnen können.

10 Mitgeteilt in: Maurice O’Conner Drury, „Some notes on conversations with


Wittgenstein“, in: Rush Rhess (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Personal Recollections,
Oxford 1984, 88.
11 I. Kant, ber das Mißlingen …, a.a.O., 264.
Die Rede von der Sünde – Sinnpotentiale eines
religiösen Zentralbegriffs aus philosophischer Sicht

Im Folgenden werde ich in einem ersten Schritt Bemerkungen zum


Thema Bçses und Snde heute machen. Um die Thematik aus philoso-
phischer Sicht grundlegend zu analysieren, werde ich im zweiten Schritt
den Zusammenhang von Snde und Freiheit in Kants Reflexion rekon-
struieren. Im dritten Schritt analysiere ich auf dieser Grundlage die
Geltung unbedingten Sinns trotz Fehlbarkeit und Schuld. In einem Fazit fasse
ich die Ergebnisse der Analyse der Sinnpotentiale der Rede von der
Sünde im Blick auf mein Verständnis von Religion als Tiefenaufklrung
zusammen.

1. Böses und Sünde heute


Das Thema des Bösen und der Sünde wurde in der Philosophie des
vergangenen Jahrhunderts erstaunlicherweise lange Zeit verdrängt und
tabuisiert. Erstaunlicherweise, denn nach zwei Weltkriegen, Holocaust
und Hiroshima hätte das Thema sich doch eigentlich aufdrängen müssen.
Den Gründen für diese auffällige Verdrängung kann ich heute nicht
weiter nachgehen. Aber sie scheinen mir bei näherer Betrachtung mit
einem oberflächlichen Aufklärungsverständnis und einer subkomplexen
Anthropologie zusammenzuhängen. Dazu noch eine Anekdote. Die
Verdrängung wurde mir unter anderem bewusst, als ich Mitarbeiter am
Historischen Wçrterbuch der Philosophie wurde. Bei der Arbeit an Band 5
Ende der 70er Jahre war den Herausgebern bewusst geworden, dass in
Band 1 der Artikel über das Böse vergessen worden war. Der Artikel
Malum musste dieses Vergessen kompensieren. In ihm formulierte der
humoristisch aktive Odo Marquard, dass der Teufel, der Malus, in der
Neuzeit zunehmend entwirklicht wird, so „als genius malignus – zum
Argumentationskniff im Kontext des methodischen Zweifels (Descar-
tes)“ oder der Teufel „entkommt ins Detail: dort bekanntlich, steckt er
auch noch heute und sorgt dafür, dass – etwa – im ,Historischen Wör-
terbuch der Philosophie‘ der Artikel ,Böse‘ ,vergessen‘ wird, obwohl
doch insgesamt für die modernen Menschen gilt: „den Bösen sind sie los,
Die Rede von der Sünde 37

die Bösen sind geblieben“, wie Marquard Goethes Faust (Vers 2509)
zitiert.1 Dieses Vergessen des Bösen in dominierenden Strömungen der
Gegenwartsphilosophie ist unterdessen weitgehend überwunden. Dazu
nur einige Beispiele. So fand im Wintersemester 1989/90 an der Freien
Universität Berlin eine Ringvorlesung über das Böse und seine „un-
fassliche Evidenz“ mit Beteiligten aus vielen Fächern statt.2 Bezeichnend
ist die Kehre von Jürgen Habermas in diesem Zusammenhang, die Kehre
vom von ihm so genannten postmetaphysischen zum nun von ihm dia-
gnostizierten postskularen Zeitalter. Die Verkündigung einer völlig sä-
kularisierten Welt ist nun selbst überholt. In seiner Friedenspreisrede über
Glauben und Wissen 2001 konstatiert Habermas aus Anlass des 11. Sep-
tembers 2001: „Wer einen Krieg der Kulturen vermeiden will, muss sich
die unabgeschlossene Dialektik des eigenen, abendländischen Säkulari-
sierungsprozesses in Erinnerung rufen“.3 Er erinnert an Kants Versuch,
das radikal Böse zu verstehen und stellt fest:
Wie der enthemmte Umgang mit diesem biblischen Erbe heute wieder
einmal zeigt, verfügen wir noch nicht über einen angemessenen Begriff für
die semantische Differenz zwischen dem, was moralisch falsch, und dem, was
zutiefst böse ist. Es gibt den Teufel nicht, aber der gefallene Erzengel treibt
nach wie vor sein Unwesen – im verkehrten Guten der monströsen Tat, aber
auch im ungezügelten Vergeltungsdrang, der ihr auf dem Fuße folgt.
Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren,
hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen
göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte,
ging etwas verloren […] Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hin-
terlässt eine spürbare Leere.4
Habermas setzt diese Reflexion auf die „Dialektik der Säkularisie-
rung“ in seinem Gespräch mit Kardinal Ratzinger 2004 fort.5 Als weiteres
Beispiel für die gegenwärtige Wende in der philosophischen Themati-
sierung von Bösem und Sünde nenne ich das vielbeachtete Buch von
2002: Das Bçse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie von Susan

1 Odo Marquard, Art. „Malum“, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 5,
Basel/Stuttgart 1980, Sp. 654.
2 Carsten Colpe/Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.), Das Bçse. Eine historische
Phnomenologie des Unerklrlichen, Frankfurt a.M. 1993.
3 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a.M. 2001, 11.
4 Ebd., 24 f.
5 Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, Dialektik der Skularisierung. ber Vernunft
und Religion, Freiburg 2005.
38 Teil 1. Religionsphilosophie

Neiman, der Direktorin des Einstein Forums in Potsdam.6 Umfassend


behandelt sie die Geschichte der Reflexion des Bösen von der Philoso-
phie der Aufklärung bis in die Gegenwart. Sie resümiert in meinem
Sinne: „Ethik und Metaphysik sind nicht zufllig miteinander verbunden.
Jeder Versuch, ein richtiges Leben zu führen, ist ein Versuch, in der Welt
zu leben.“7 Mittlerweile erscheinen Diskussionsbände, die Böses und
Sünde von vielen disziplinären Seiten aus neu thematisieren, philoso-
phisch, theologisch, ästhetisch, juristisch, kulturwissenschaftlich, sozial-
pädagogisch, medientheoretisch.8 Es wird sichtbar: die Tabuisierung und
Verdrängung des Themas ist zumindest seit Beginn des neuen Jahrhun-
derts überholt. Aber – wie gehen wir selbst philosophisch-systematisch
mit diesem Abgrund der menschlichen Existenz um?
Wenn wir die Sinnpotentiale des Begriffs der Sünde philosophisch
verstehen wollen, müssen wir zunächst den Begriff des Bösen themati-
sieren. Meine These lautet, dass wir das Böse angemessen nur begreifen
und bewältigen können, wenn wir es einerseits nicht mythisieren oder als
etwas Übermenschliches, Fremdes dämonisieren, andererseits, wenn wir
es nicht leugnen und wegerklären. Die Mythisierung ist sprachlich schon
dadurch angelegt, dass wir ein Substantiv „das Böse“ bilden. Wir neigen
dann dazu, hinter einem Komplex von Handlungs- und Verhaltens-
weisen von Menschen ein „Böses an sich“ als eine irgend geartete Sub-
stanz zu denken. Auch die verbreiteten Reden von Weltpolitikern von
einem „Reich des Bösen“ (so Reagan über die Sowjetunion) bzw. von
einer „Achse des Bösen“ (so Bush jr. über islamische und andere
„Schurkenstaaten“) bedienen sich dieser vordergründigen Ontologisie-
rung des Bösen.
Ich liebe sehr das Kasperletheater, ebenso Goethes Faust. In diesen
Inszenierungen tritt der Teufel, allerdings in spielerischer, kunstvoller
Vergegenwärtigung als souveräne und originelle Gestalt auf. Er betrat die
Bühne, als im Zuge von Neuzeit und Aufklärung die Abschaffung des
realen Teufels im 18. Jahrhundert schon weit vorangeschritten war. Aber
in diesen Inszenierungen ist gleichzeitig klar, dass es sich um künstlerische
Vergegenwärtigungen handelt, nicht um Realität an sich. Die Politik des
Bösen des vergangenen Jahrhunderts aber war (und ist noch) real. So, wie

6 Susan Neiman, Das Bçse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt
a.M. 2004.
7 Susan Neiman, a.a.O., 475.
8 Vgl. z. B. Werner Faulstich (Hg.), Das Bçse heute. Formen und Funktionen,
München 2008.
Die Rede von der Sünde 39

die amerikanischen Präsidenten ihr Reich des Bösen konkret verorteten,


so benennen die islamischen Fundamentalisten ihr extremes Feindbild: es
ist „der große Satan“ – die USA.
Ich will deutlich machen, dass ein solches Denken sozialethisch,
politisch und philosophisch auf jeden Fall in die Irre führt – was nichts
besagt über die konkrete Legitimität von pragmatisch-politischen, z. B.
auch militärischen Maßnahmen irgendwelcher Art. Wir müssen nämlich
die politische, die rechtliche, die moralische und die religiöse Ebene
unterscheiden. Die Mythisierung, Dämonisierung und Substanzialisie-
rung, kurz, die Ideologisierung des Bösen ist die eine große Gefahr. Die
andere Gefahr ist die, das Böse im Zuge der Aufklärung völlig zu „ent-
bösen“, zu verflüchtigen, es aufzulösen in Bedingungsverhältnisse öko-
nomischer, politischer, sozialer und psychologischer Natur. Man meint
dann, schließen zu können: die ökonomischen Verhältnisse, die politi-
schen Rahmenbedingungen erklären letztlich, wie es zu bösen Hand-
lungen kam. Die Psychopathologie des Triebverbrechers erklärt seine
Taten. Hier ist entscheidend, Schreckliches, Schlimmes, Entsetzliches,
Grauenhaftes vom Bçsen im eigentlichen Sinne zu unterscheiden.
Leiden jeder Art, Krankheit, Schmerzen unter Einschluss des Todes
gehören zum endlichen menschlichen Dasein wie das Glück, die Ge-
sundheit, die Freude und alles Schöne. Um das Böse zu begreifen, müssen
wir es vom faktischen Negativen und Schrecklichen unterscheiden.
Gerade in der Gegenwart unserer globalisierten Medienwelt wird ja
durch Fernsehbilder das Schreckliche, das Spektakuläre von Ereignissen
tagtäglich, ja stündlich übertragen, ohne dass die komplexen Hinter-
gründe der Ereignisse damit schon irgendwie klar würden. Die Bilder
vom 11. September 2001 spielten für das vergangene Jahrzehnt eine solch
prekäre Rolle. Um das Wesen des Bösen zu begreifen, müssen wir es mit
der menschlichen Freiheit zusammendenken. Wir müssen es ferner ein-
beziehen in den Gesamtkontext der menschlichen Praxis. Wir müssen
gemischte, graduelle Verhältnisse zwischen Gutem und Bösem denken
und begreifen – in uns selbst, und auch um uns herum.
Aus dem bisher Ausgeführten ergibt sich, dass wir das Böse nur in
einem umfassenden praktisch-anthropologischen Kontext begreifen kön-
nen. In unserer endlichen Existenz gibt es das Gute nur um den Preis
möglicher Verfehlung, um den Preis des möglichen Bösen. Das Böse
konstituiert uns somit auch, ebenso wie das Gute, dessen wir fähig sind.
Nur als freie Personen sind wir moralisch beurteilbar. Aber als freie sind wir
selbst auch schon fehlbar. In diesem Zusammenhang zeige ich Ihnen eine
Karikatur, die ich in Einführungsvorlesungen zum Thema verwende.
40 Teil 1. Religionsphilosophie

Auf der Suche nach den Wurzeln des Bösen

Warum ist die Karikatur so gut, auch philosophisch betrachtet? Jemand


grbt verbissen nach den Wurzeln des Bçsen, im Schweiße seines Angesichts –
und dabei merkt er nicht, dass es seine eigenen Wurzeln sind, die unter
ihm sind, und die zu ihm hinaufführen. Politischer Kampf gegen den
Terror, politischer Einsatz und Kampf gegen das Verbrechen – dies ist
eine Ebene. Aber das Böse erreicht man so nicht. Aus theologischer und
philosophischer Sicht müssen wir daher den Missbrauch der Kategorie des
Bçsen für politische Zwecke kritisieren und zurückweisen.
Gerade weil das existentiell verantwortliche Freiheitshandeln des
Einzelnen so tief verflochten ist in den gesamtgesellschaftlichen Kontext
einerseits, in den Kontext der naturhaften Abhängigkeiten von unseren
Bedürfnissen, Ängsten und Leidenschaften andererseits, ist das Urteil über
böses Handeln und böse Menschen so schwierig. Emotionale Aufge-
brachtheit und Entrstung, Abscheu und Entsetzen sind leicht, sie stellen
sich leicht ein. Schwerer ist es, einzugestehen, dass wir im radikalen Bösen
auch uns selbst begegnen, den Abgründen unserer Freiheitsnatur. Erst,
wenn wir dies mitbegreifen, gelangen wir auf eine Ebene, die der Hu-
manität und der Moralität eigentlich angemessen ist. Gerade die Ebene
des Bösen ist also vor- und außerhalb der Ebene freier praktischer Ein-
sichten nicht erreichbar. Hannah Arendt hat so in ihrem Buch „Eichmann
in Jerusalem“ diesen nicht als metaphysisches Monstrum negativ ver-
Die Rede von der Sünde 41

herrlicht, sondern sie hat eben deswegen, wegen dieser Kontextbe-


dingtheit bei aller Verantwortlichkeit, von der „Banalität des Bösen“
gesprochen.9 Hier wäre von der Dialektik des Bösen und von der
Nichtigkeit des Bösen zu reden. Thomas von Aquin lehrt den engen
Zusammenhang des Bösen mit der Dummheit. Das fürchterliche Böse
muss als solches, als Menschenwerk erkannt und anerkannt werden, vor allem
vom Täter selbst. Das Böse muss in der Selbsterkenntnis angesetzt wer-
den. Auch die das Böse Beurteilenden und Verurteilenden müssen das
Menschliche an den Tätern erkennen und anerkennen, so unmöglich das
auch scheinen mag.
Das fürchterliche Böse muss als solches erkannt, aber darf nicht
mythisch aufgeladen werden, sondern es muss – horribile dictu – als normal
menschlich erkannt werden.
Befreiung, Entgiftung vom Bçsen kann es nur aufgrund solcher Er-
kenntnis, Anerkenntnis und Selbsterkenntnis geben – alles andere bleibt
verdrängt, unbegriffen, im Untergrund weiteres Unheil fortzeugend –
wie z. B. im ehemaligen Jugoslawien. Es gibt hier keine Verrechnerei –
z. B. zwischen Holocaust und Hiroshima. Primo Levi schreibt in seinen
Erinnerungen an das Konzentrationslager über die Täter, dass sie aus dem
gleichen Stoff waren wie die Opfer. Jeshajahu Leibowitz berichtet im
gleichen Kontext von der Kläglichkeit und Erbärmlichkeit der Täter.
Da wir mit dem Bösen an Grund und Grenze unserer moralischen
Existenz als Menschen stoßen – und zwar von uns als normalen Menschen –
gibt es letztlich nur eine Ebene, die es mit dem Bösen aufnehmen kann:
das Verzeihen und das Vergeben auf Seiten der Opfer, auf Seiten der Täter
die Anerkennung der Schuld und die Kraft, an der Schuld nicht zu zer-
brechen.
Insofern gelangen wir von der Grenze der Ethik und der Moralität zur
genuin religiösen Dimension von Befreiung, Rechtfertigung und Gnade
und zum Wort Jesu:
„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ (Mt 7,1; Lk 6,37).
Um diese Sicht zu vertiefen und philosophisch-systematisch zu be-
gründen, gehe ich jetzt auf Kants konstitutive Analyse zu Sünde und
Freiheit ein. Ich beziehe mich dabei auf die Religionsschrift.

9 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, Reinbeck 1978.


42 Teil 1. Religionsphilosophie

2. Sünde und Freiheit in Kants Reflexion


Die Moral ist in ihrer Geltung unableitbar und eigenständig. Dennoch,
und das macht Kants Ansatz so aufschlussreich, geht der Mensch nicht in
Moralität auf. Seine Angewiesenheit auf ein sinnvolles Verständnis des
ganzen Lebens überschreitet deren Geltungsbereich. Die Idee Gottes ist
nach Kant verbunden mit der „Idee eines höchsten Guts in der Welt, zu
dessen Möglichkeit wir ein höheres, moralisches, heiligstes und allver-
mögendes Wesen annehmen müssen“ – ein Wesen, das Moral und Glück
„vereinigen kann“.10 Kant geht in seiner Grenzreflexion noch weiter.
Würde ein moralisches Freiheitswesen das Moralgesetz erkannt haben,
aber gleichsam noch „weltlos“ sein, so „würde [es] auch wollen, dass eine
Welt überhaupt existiere“ (5), und zwar auch um den Preis der Einbuße der
Glckseligkeit und der Gefahr des Scheiterns. Wir können diese kritische
Grenzreflexion Kants gleichsam als dialektische Umkehrung der Pas-
calschen Wette lesen. Während Pascal auf den allmächtigen Gott setzt
und diese Wette in ihrer funktionalen Rationalität erläutert, fingiert Kant
ein weltloses moralisches Vernunftwesen, das in der Konsequenz der
moralischen Geltung auch die Schöpfung im Interesse an der Existenz
einer Welt vollzieht, in der Moral – das Gute – allein wirklich werden
kann.
Es geht Kant keineswegs um eine theologische Begründung der
Moral. Es lässt sich zeigen: Indem Kant angesichts der Autonomie der
Moral seine theologische Reflexion bei ihr ansetzt, verortet er die
Gottesfrage im Zentrum der Frage des Menschen nach sich selbst. Ge-
nauer verortet er sie bei der Reflexion auf die transpragmatischen und
insbesondere transethischen Sinnbedingungen aller unserer Praxis: „Moral also
führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines
machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen er-
weitert, in dessen Willen derjenige Endzweck [der Weltschöpfung] ist,
was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (6). Hier
wird die schöpfungstheologische Dimension in Kants Ansatz sichtbar.
Ebenso, wie die sinnkriteriale Reflexion der Gottesfrage Kant zur
schöpfungstheologischen Dimension führt, so führt sie ihn auch zur in-
terexistentiell-praktisch gedachten eschatologischen Erfüllungsperspek-
tive. Denn nur so lässt sich seine Rede vom „höchste[n] in der Welt

10 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Kants
gesammelte Schriften, Akademie-Textausgabe Bd. VI, Berlin 1968, 1 – 202, dort 5.
Im Folgenden werden die Seiten im fortlaufenden Text angegeben.
Die Rede von der Sünde 43

mögliche[n] Gut“ verstehen, welches „jedermann sich […] zum End-


zwecke machen solle“ (7, FN). Wir können dies so reformulieren: In der
Grammatik unserer praktischen Orientierungssprache und unserer
Sinnentwürfe – ohne die wir uns selbst nicht angemessen verstehen
können – ist ein Vorgriff auf Gelingen eingearbeitet. Wenn wir handeln,
wenn wir überhaupt etwas anstreben, dann antizipieren und unterstellen
wir notwendig dessen Sinn und auch das Gelingen dieses Handelns und
Strebens. Alle zum Kernbereich humaner Praxis gehörenden Sinnent-
würfe: Freundschaft, wechselseitige Hilfe, Uneigennützigkeit, Aufrich-
tigkeit, Formen des Teilens und des Abgebens, der offenen Aussprache,
aber ebenso bereits der Anspruch, gute Arbeit zu leisten, einen guten
Unterricht zu machen, gut zu kochen, gut zu beraten, gut zu heilen – all
diese Sinnentwürfe sind, recht verstanden, auf Erfüllung ausgerichtet –
bereits bevor sie konkret begonnen werden. Diese immanent-eschato-
logische Erfüllungsperspektive ist handlungssinnkonstitutiv, weiter ge-
dacht: lebenssinnkonstitutiv. Kant spricht an dieser Stelle von der erhofften
Koinzidenz von Moral und Glück (Glückseligkeit). In dieser Dimension
– ebenso wie in der der Schöpfung, der Existenz der Welt überhaupt –
verortet er den Sinn der Rede von Gott.
Dass es Kant gerade um die Verortung eines wahrhaftigen Gottes-
verhältnisses im Kontext der transpragmatischen und transethischen,
transfunktionalen Sinnbedingungen der gemeinsamen humanen Existenz
geht, zeigt sich in seiner Analyse des „radikalen Bösen in der menschli-
chen Natur“. Kants Vernunftkritik ist gerade aufgrund ihres Realismus
und ihrer illusionslosen anthropologischen Prämissen allen rationalisti-
schen, idealistischen und in diesem Sinne moralistischen Ansätzen
überlegen. Er arbeitet nicht nur auf existentiell-realistische Weise gegen
den antiken Eudämonismus die grundlegende Differenz von Moral und
Glück heraus, er analysiert in der Religionsschrift die strukturelle Fragilitt,
Ambivalenz und Fehlbarkeit auch der besten menschlichen Absichten: die
„Schwäche“, die „Gebrechlichkeit“ des menschlichen „Herzens“ (als des
Zentrums der menschlichen Person) und dessen „Hang“ zur Pervertie-
rung des Guten in das Böse (29).
Ich halte diese Analysen für zutreffend, zumal sie keine dogmatische
Sündenontologie übernehmen, sondern für sich genommen die Kon-
stitution eines endlichen, freien, moralischen und eben fragilen, schwa-
chen, fehlbaren Wesens aufweisen. Geschichte, Praxis, Lebenserfahrung
und aller Alltag zeigen uns, dass die von Kant analysierten Pervertie-
rungen für die menschliche Wirklichkeit auch dann prägend sind, wenn
wir es nicht mit offen verbrecherischen Handlungen zu tun haben,
44 Teil 1. Religionsphilosophie

sondern mit „ganz normalem“ Verhalten und mit sinnvoller Praxis. Auch
das gute Handeln kann ich aus Eitelkeit, aus Eigennutz tun, „und der
Mensch ist bei lauter guten Handlungen dennoch böse“ (31). Ebenso
antizipiert Kant Befunde der Psychoanalyse, aber auch unserer alltägli-
chen Erfahrung, wenn er bemerkt, „es sei in dem Unglück unsrer besten
Freunde etwas, das uns nicht ganz missfällt“ (33).
Die gesamte Perversionsanalyse der Moralität, die Kant hier leistet,
bezeugt, dass und wie er die Dimension eines authentischen Gottesver-
ständnisses bei den transpragmatischen und transmoralischen Sinnbe-
dingungen eines gesamten, praktischen, selbstbewussten menschlichen
Lebensverständnisses ansetzt. Sie lässt sich wie folgt reformulieren: Wir
sind selbst mit unseren besten Intentionen und Sinnentwürfen von de-
finitivem Scheitern bedroht, faktisch und praktisch, und vor allem auch in
der Perspektive der Selbstreflexivität.
Es ist die erkenntniskritische Stärke Kants, das solchermaßen aufge-
wiesene Böse weder naturalistisch zu ontifizieren – dies käme in der
Konsequenz einer bloßen Animalisierung des Menschen gleich, noch es
gänzlich mit dem bewussten Willen gleichzusetzen. Der reine böse Wille
würde den Menschen schlechthin zu einem Teufel machen. Vielmehr
besteht die für ein tiefergehendes Religions- und Gottesverständnis
wesentliche Einsicht darin, dass die freie und reflexive moralische Lebenspraxis
von einer tiefgreifenden, strukturellen, konstitutiven Ambivalenz geprgt ist, so
dass wir der Authentizität unserer Orientierungen nie ganz gewiss sein
können. Anders formuliert: Wir können unser Inneres, unser „Herz“
nicht gänzlich durchschauen – wir sind uns nicht „durchsichtig“. Die
Transparenz unserer inneren Natur wie auch der mit ihr verwobenen
moralischen, personalen Identität ist erkenntniskritisch begrenzt: endlich,
fragil, ambivalent, materiell bedingt und partial verdeckt. Subtil unter-
scheidet Kant Stufen solcher Verdecktheit bis hin zur bewussten Pervertie-
rung. Seine durchgeführten Analysen zur Unredlichkeit, zur Selbstge-
rechtigkeit und zur Nichtswürdigkeit zeigen negativ-anthropologisch
und tiefenhermeneutisch eine radikale Problematik an der Basis und an
den Grenzen aller Moralität und aller authentischen menschlichen
Selbstverständnisse auf.
Genau an dieser Stelle erläutert Kant, worin ein wahrhaftiger Trans-
zendenzbezug in diesem Kontext radikaler Fragilität und Ambivalenz
besteht, und zwar gerade so, dass dieser Transzendenzbezug nicht auf die
Rolle einer bloß funktional dem Bedürfnis nach Bewältigung der be-
sagten existentiell-praktischen Problematik entsprechenden Instanz ein-
geschränkt werden kann. Vielmehr zeigt seine Konstitutions- und Gel-
Die Rede von der Sünde 45

tungsanalyse – vorgreifend mit Wittgenstein formuliert – den grammati-


schen Ort einer Hoffnungslogik, die zu den existenztragenden Sinnbedin-
gungen humaner Praxis gehört. Kant führt erkenntniskritisch aus, warum
der „Vernunftursprung“ des Moralisch-Bösen, der die nicht „zeitlich“ zu
denkende Freiheit voraussetzt, nicht weiter erklärbar, aus natürlichen
Anlagen nicht ableitbar, mithin kein empirisches Phänomen ist: „Diese
Unbegreiflichkeit […] drückt die Schrift […] dadurch aus, dass sie das
Böse zwar im Weltanfange, doch noch nicht im Menschen, sondern in
einem Geiste von ursprünglich erhabnerer Bestimmung voranschickt“
(43 f.). Die Grenzen der Moralität zeigen sich in dieser von Kant her-
ausgearbeiteten, tiefgreifenden Ambivalenz des menschlichen Selbst-
verständnisses und in der mit der Freiheit auf nicht weiter begreifliche
Weise verbundenen Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen.
Zu den transpragmatischen und transethischen Bedingungen eines
vernünftigen (moralisch-praktischen) menschlichen Selbstverständnisses
gehört nun Kant zufolge gerade angesichts der dauernden Fragilität,
Ambivalenz und der Radikalität des Bösen eine fundamentale, einsichts-
bezogene nderung dieses Verständnisses. Zum Menschen und seinen
authentischen Lebensmöglichkeiten gehört, dass er zu tiefgreifendem
Wandel der Sicht fähig ist. Ein solcher existentieller Perspektivenwechsel
gehört zu einem geklärten Gottesverständnis. Kant weist in diesem
Kontext „allmählige Reformen“ des Verhaltens im Sinne einer aristo-
telischen gewohnheitsmäßigen Einübung des Sittlichen zurück. Es geht
angesichts der dauerhaften Fehlbarkeit, die Grenze und auf unbegreifliche,
mit der Freiheit verbundene Weise Grund der Moralität ist, um eine
„Herzensnderung“: „Dass aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern
ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d. i. tugendhaft nach
dem intelligiblen Charakter (virtus Noumenon), werde, […] das kann
nicht durch allmählige Reform, so lange die Grundlage der Maximen
unlauter bleibt, sondern muss durch eine Revolution in der Gesinnung im
Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) be-
wirkt werden; und er kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von
Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung (Ev. Joh, III, 5;
verglichen mit 1. Mose I, 2) und Änderung des Herzens werden“ (47).
Auch hier wieder entwickelt Kant an den Grenzen der menschlichen
Lebenswirklichkeit und der menschlichen Mçglichkeiten die Dimension eines
Gottesverständnisses, das im Kern schöpfungstheologisch ist. Um ein
authentisches humanes Selbstverständnis zu gewinnen, ist eine grund-
sätzliche „Umwandlung der Denkungsart“ nötig, die kreative, innovative
„Gründung eines Charakters“. Kant radikalisiert nun neben der Dimension
46 Teil 1. Religionsphilosophie

der Neuschçpfung die in diesem Kontext sinnkonstitutive Hoffnungsperspek-


tive. Wir kçnnen uns den bergang und den Eintritt in ein authentisches
Selbstverstndnis angesichts unserer Fehlbarkeit, Bedingtheit und Ambivalenz
nicht selbst empirisch vorstellen und absichern. Wir können von diesem guten
Selbstverständnis weder ein „unmittelbares Bewusstsein“ haben, noch kçnnen
wir es durch einzelne Taten beweisen – alle diese pragmatischen Verfgbar-
keitsvorstellungen erweisen sich negativ-anthropologisch und erkenntnis-
kritisch als noch zu vordergrndig bzw. illusionr: „Weil die Tiefe des
Herzens (der subjective erste Grund seiner Maximen) ihm [sc. dem
Menschen, Th. R.] selbst unerforschlich ist“ (51). Mit diesen negativ-
anthropologischen Analysen nimmt Kant tiefenhermeneutische und
psychoanalytische Befunde des 20. Jahrhunderts vorweg. Aber er ver-
bindet sie mit der Perspektive eines authentischen Lebensverständnisses
und mit einer fundamental religiösen Orientierung. Angesichts seiner
Fragilität muss der Mensch „hoffen können“, dennoch eine sinnvolle und
gelingende Praxis zu vollbringen. Ein vernünftiges Verständnis der
Orientierung an Gott in einem auf Hoffnung gründenden Lebensentwurf
bedarf der entschiedenen und entschlossenen existentiellen Aneignung
der Hoffnungsperspektive. Diese Aneignung, dieser „Sprung“ lässt sich
empirisch nicht beobachten oder von außen feststellen, sondern er muss
selbst vollzogen werden. Und weder „Schwrmerei“, noch „Aberglaube“,
weder Erleuchtungsphantasien („Illuminatism“) noch magische Ersatz-
handlungen („Thaumaturgie“) können diese bewusste Lebensentschei-
dung ersetzen (53). Den systematischen Konnex von Negativität und
Selbsterkenntnis akzentuierend, kann Kant dialektisch pointiert formu-
lieren, „das erste wahre Gute, was der Mensch thun kann, [ist] vom Bçsen
auszugehen, welches nicht in den Neigungen, sondern in der verkehrten Maxime
und also in der Freiheit selbst zu suchen ist“ (58, FN, hervorgehoben von mir,
Th. R.).
Auf dieser Grundlage interpretiert Kant die christliche Botschaft von
der Menschwerdung Gottes als der „personificirte[n] Idee des guten
Princips“; der Sohn Gottes „ist sofern kein erschaffenes Ding, sondern
sein eingeborner Sohn, ,das Wort (das Werde!), durch welches alle andre
Dinge sind, und ohne das nichts existiert, was gemacht ist‘ (denn um
seinet-, d. i. des vernünftigen Wesens in der Welt, willen, so wie es seiner
moralischen Bestimmung nach gedacht werden kann, ist alles gemacht.)“
– „,Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit!‘ – ,In ihm hat Gott die Welt
geliebt‘, und nur in ihm und durch Annehmung seiner Gesinnung
können wir hoffen, ,Kinder Gottes zu werden‘“ (60 f.).
Die Rede von der Sünde 47

Es erfolgt bei Kant im Ansatz eine transzendental-praktische Re-


formulierung des Sinns der Botschaft von der Menschwerdung Gottes,
der „Erniedrigung des Sohnes Gottes“ (61) und des Sinns der in diesem
Zusammenhang fundamental dualistischen (gnostischen) Unterschei-
dungen von „Himmel“ und „Hölle“, Gut und Böse, Licht und Finsternis
(60, FN).
„Im praktischen Glauben an diesen Sohn Gottes […] kann nun der
Mensch hoffen, Gott wohlgefällig (dadurch auch selig) zu werden“ (62).
Die anthropologische Dimension der Theologie und der Gottesperspektive,
wie sie in Kants Deutung der Christologie zum Ausdruck kommt, ist
somit kein zufälliges historisches Phänomen der Religionsgeschichte;
angesichts der existentiell-praktischen Verortung des Gottesverständ-
nisses lässt sich diese anthropologische Dimension vielmehr als konstitutiv
für dessen Sinn explizieren.
Bisher ist klar, dass Kant ein authentisches Gottesverstndnis an den
Grenzen eines unbedingten moralischen Selbstverstndnisses und an der konsti-
tutiven Begrenztheit der menschlichen Selbsterkenntnis („Unerforschlichkeit“)
verortet. Weil diese negativ-kritischen, transzendental-anthropologischen
Grenzanalysen für ihn leitend sind, lässt sich Kants Theologie auch kei-
neswegs als rationalistisch oder als funktionales Anhängsel der Moral-
philosophie einordnen. Dazu hilfreich und wesentlich ist ein von Kant
selbst herausgearbeitetes Konstituens. Es geht beim authentischen reli-
giösen Selbstverständnis und Gottesverhältnis um Verstndnis und Aus-
richtung des ganzen Lebens: „Denn das […] Princip der Gesinnung, wonach
sein Leben beurteilt werden muss, ist (als etwas Übersinnliches) nicht von
der Art, dass sein Dasein in Zeitabschnitte theilbar, sondern nur als ab-
solute Einheit gedacht werden kann, und da wir auf die Gesinnung nur
aus den Handlungen (als Erscheinungen derselben) schließen können, so
wird das Leben zum Behuf dieser Schätzung nur als Zeiteinheit, d. i. als ein
Ganzes, in Betrachtung kommen“ (70, FN).
Die Analysen Kants zur Gottesfrage verbinden somit Negativität,
Praxis und Freiheit mit der anthropologischen Grundfrage nach einem
authentischen existentiellen Selbstverständnis, einem Verstndnis des
ganzen Lebens, des Lebens im Ganzen angesichts dessen unverfügbarer
Sinnbedingungen.
Eine weitere, nicht preiszugebende Einsicht der Kantschen Analyse
besteht in der prozessualen, dynamischen und kreativen Charakterisierung der
Ausbildung des authentischen Selbstverstndnisses. „Die Sinnesänderung ist
nämlich ein Ausgang vom Bçsen und ein Eintritt ins Gute, das Ablegen des
alten und das Anziehen des neuen Menschen“, aber in dieser Wandlung
48 Teil 1. Religionsphilosophie

„sind nicht zwei durch eine Zwischenzeit getrennte moralische Actus


enthalten, sondern sie ist nur ein einiger, weil die Verlassung des Bçsen nur
durch die gute Gesinnung, welche den Eingang ins Gute bewirkt, mçglich ist, und
so umgekehrt“ (74, hervorgehoben von mir, Th. R.; vgl. Röm. 7 und 8).
Anders gesagt: Einerseits ist der Schritt (bzw. Sprung) in ein – in einem
anspruchsvollen Sinne – existentiell-praktisches, moralisch authentisches
Lebensverständnis mit grundlegenden Erfahrungen und Einsichten ver-
bunden, die einmal und definitiv wirken und prägen (sonst hätte noch
keine Einsicht stattgefunden). Andererseits ist gerade so die existentielle An-
eignung und Praktizierung der Konsequenzen dieser Einsicht ein lebenslanger
Prozess mit vielen Aspekten und Facetten. Gerade wenn wir in kritischer
Selbsterkenntnis ein auf Hoffnung gegründetes Selbstverständnis im
Kantschen Sinne gewonnen haben, sind wir allererst in der Lage, uns auch
selbst (wiederum fehlbar) praktisch zu beurteilen und z. B. Verfehlungen
einzusehen und zu ihnen bewusst zu stehen. Ein „Gott wohlgefälliger
Mensch zu sein“, ist „bei uns im Erdenleben (vielleicht auch in allen
künftigen Zeiten und allen Welten) immer nur im bloßen Werden“ (75).
In negativ-kritischer Absicht weist Kant die Möglichkeit und Tendenz
einer Funktionalisierung der Gnade Gottes zur eigenen Selbstrechtfertigung
ab: „Opium fürs Gewissen zu geben, ist Verschuldigung an ihm selbst“
(78, FN).
Kants Zugriff gestattet eine existentiell-praktische Interpretation der Botschaft
des Neuen Testaments und seiner Christologie. Die Rede von praktischen (mo-
ralischen) Ideen hat in dieser Rekonstruktion mithin gerade keinen ,idealistischen‘
Status. Es handelt sich nicht um bloße Worte oder Begriffe, mit denen wir uns
prdikativ, unbeteiligt und von einer Beobachterposition aus auf vorhandene
empirische Gegebenheiten beziehen. Ein verdinglichtes und objektivistisches
Verstndnis von Ideen verkennt, dass diese auf praktische, existentielle Lebens-
formen nur hinweisen, ihr Leben also in konkreten Lebenssituationen und nur dort
haben.
Kant interpretiert das Johannes-Evangelium: Da das gute Prinzip „in
einem wirklichen Menschen als einem Beispiel für alle anderen erschien,
so kam er in sein Eigenthum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf, denen
aber, die ihn aufnahmen, hat er Macht gegeben, Gottes Kinder zu heißen,
die an seinen Namen glauben‘; d. i. durch das Beispiel desselben (in der
moralischen Idee) eröffnet er die Pforte der Freiheit für jedermann, die
eben so wie er Allem dem absterben wollen, was sie zum Nachtheil der
Sittlichkeit an das Erdenleben gefesselt hält“ (82). Der Geltungssinn der
„Idee“ ist die existentiell-praktische Freiheitserçffnung. Kant zufolge muss
authentischer, unentfremdeter, „seligmachender“ Glaube praktisch, und
Die Rede von der Sünde 49

das heißt vor allem „ein freier […] Glaube“ sein. Die Menschwerdung
Gottes eröffnet in Kants Sicht die existentiell-praktische Dimension
wahrer, authentischer Freiheit. Und diese Dimension impliziert in der
Konsequenz eine universale, weltgeschichtliche Hoffnungsperspektive
auf wahre Freiheit für alle Menschen.
Es ist daher nur konsequent, wenn Kant gegen faktische religiöse
Fehlentwicklungen, gegen Aberglaube und Unmündigkeit eine „alle
Menschen auf immer vereinigende[n] Kirche“ denkt, „die die sichtbare
Vorstellung […] eines unsichtbaren Reiches Gottes auf Erden ausmacht“
(131 f.). „ ,Wenn kommt nun also das Reich Gottes?‘ – ,Das Reich Gottes
kommt nicht in sichtbarer Gestalt. Man wird auch nicht sagen: siehe, hier
oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch!‘ (Luc. 17, 21
bis 22)“ (136). Es sei festgehalten: Gerade die existentiell-praktische Inter-
pretation dieser Rede vom Reich Gottes fhrt Kant weiter zu einer weltge-
schichtlichen Hoffnungsperspektive der Befreiung der Menschen. Diese Perspektive
wird durch die Rede von Gott notwendig erçffnet, ist in ihr geltungslogisch im-
pliziert. Sie wird in ihrer eigentlichen Stärke als radikale Sinngrenzreflexion
und Sinngrundreflexion auf die transpragmatischen und transethischen Bedin-
gungen humanen Lebens verstanden. Die Rede von Gott hat in genau
diesem Kontext ihren sinnvollen Sitz und Gebrauch. Dass dieser Zugriff
berechtigt ist, zeigt sich auch in Kants Thematisierung des Geheimnis-
begriffs. Während er eine (bis heute) verbreitete Vorstellung von reli-
giösen Geheimnissen, die mit vagen Intuitionen und diffusen Gefühlen
verbunden ist, als irrational zurückweist, kann er sinnkriterial ebenso
authentische Geheimnisse aufweisen.
Der Ansatz Kants ist hier insofern wegweisend, als der Zugang zum
eigentlichen Geheimnis die alltägliche lebensweltliche Praxis ist: „So ist
die Freiheit, eine Eigenschaft, die dem Menschen aus der Bestimmtheit
seiner Willkür durch das unbedingte moralische Gesetz kund wird, kein
Geheimniß, weil ihr Erkenntniß jedermann mitgetheilt werden kann; der
uns unerforschliche Grund dieser Eigenschaft aber ist ein Geheimniß, weil er
uns zur Erkenntniß nicht gegeben ist. Aber eben diese Freiheit ist auch allein
dasjenige, was, wenn sie auf das letzte Objekt der praktischen Vernunft,
die Realisierung der Idee des moralischen Endzwecks, angewandt wird,
uns unvermeidlich auf heilige Geheimnisse führt“ (138, hervorgehoben
von Th. R.). In der Linie Kants können wir demnach irrationale Schein-
bzw. Pseudogeheimnisse von wirklichen, transrationalen, absoluten
Geheimnissen unterscheiden, die sich als unerklärlich, unableitbar und
unerforschlich im Wesentlichen negativ charakterisieren lassen. Sich zu
absoluten, transrationalen Geheimnissen noch sinnvoll zu verhalten, das
50 Teil 1. Religionsphilosophie

lässt sich als authentischer Geltungssinn meditativer, kultischer, ritueller,


sakramentaler Praxis erweisen – auch über Kant hinaus.
Kant verbindet sein praktisches Gottesverständnis mit einem nega-
tiven Geheimnisbegriff. Wenn der Mensch im Entwurf seines authen-
tischen Lebens- und Weltverständnisses in die Hoffnungsperspektive
eintritt, so „eröffnet sich vor ihm der Abgrund eines Geheimnisses von
dem, was Gott hierbei thue“ (139).
Hier gilt erkenntniskritisch, dass wir Gott nicht „an sich“ erkennen
können, sondern nur in seiner Bedeutung für unser existentiell-prakti-
sches Selbstverständnis.
Eine konstitutive Sinnbedingung unseres authentischen Lebens ist die
Unbedingtheit (und Unableitbarkeit) von (insbesondere praktischen)
Geltungsansprüchen. Ohne sie gäbe es kein Gewissen, keine Verant-
wortung, keine ernsthaften und tragfähigen interexistentiellen Verhält-
nisse, ebenso kein authentisches (wahrhaftiges) Selbstverständnis.
Auf der Linie seiner praktischen Rekonstruktion würdigt Kant die
radikalisierte Ethik Jesu und setzt sie, wie dieser selbst, kirchen- und
kultkritisch ein: „Die enge Pforte und der schmale Weg, der zum Leben
führt, ist der des guten Lebenswandels; die weite Pforte und der breite Weg,
den viele wandeln, ist die Kirche“ (160, FN). Kant übernimmt die radi-
kalisierte Liebesbotschaft Jesu und richtet sie gegen den „Eigennutz“, den
„Gott dieser Welt“. Der Vernunftglaube ist jedermann zugänglich: „Von
dem Bösen, was im menschlichen Herzen liegt, und von dem Niemand
frei ist, von der Unmöglichkeit, durch seinen Lebenswandel sich jemals
vor Gott für gerechtfertigt zu halten, und gleichwohl der Nothwen-
digkeit einer solchen vor ihm gültigen Gerechtigkeit, von der Untaug-
lichkeit des Ersatzmittels für die ermangelnde Rechtschaffenheit durch
kirchliche Observanzen und fromme Frohndienste und dagegen der
unerläßlichen Verbindlichkeit, ein neuer Mensch zu werden, kann sich
ein jeder durch seine Vernunft überzeugen, und es gehört zur Religion,
sich davon zu überzeugen.“ (163).
Das innere, existentielle Selbstverständnis und die „Authenticität“ der
praktischen Aneignung der Einsichten der Vernunftreligion gehen nach
Kant allen statuarischen, doktrinalen, historischen und offenbarungsbe-
zogenen Religionsformen voraus. Systematisch für unsere Gegenwart
wieder besonders relevant ist in diesem Kontext seine Kritik des Religi-
onswahns. Eine Usurpation und Funktionalisierung des Gottesglaubens im
Sinne eines totalitären Fundamentalismus, im Sinne eines subjektiven
Anspruchs und eines Mittels zum Zweck wird „ein praktischer Wahn“
(168 ff.). Die negativ-kritische Theologie einer absoluten Transzendenz
Die Rede von der Sünde 51

steht gegen solche irrationalen Phantasien, die sich gewalttätig auswirken


und gegen den „Anthropomorphism“, „denn da machen wir uns einen
Gott“ (168). Der Ort des bersinnlichen ist unsere authentische Lebenspraxis
und unser freiheitliches Selbstverständnis, und wir können diese exis-
tentielle Dimension der Transzendenz nicht vergegenständlichen und
instrumentalisieren.
Im Zentrum von Kants Vernunfttheologie steht der Grundsatz, dass
Gott den Menschen zur Freiheit geschaffen hat, und dass somit Religion
selbst als existentielle Praxis der Freiheit verstanden werden muss, die
allein zur Moral und zur Liebe befähigt.

3. Unbedingter Sinn trotz Fehlbarkeit und Schuld

Der gesamte kritische Ansatz Kants ist darauf gerichtet, Religion und
Gottesglauben nicht als funktional, instrumentell, nicht als Substitut,
Surrogat und Ersatzhandlung für authentische Praxis zu verstehen. Das
unbedingte praktische Freiheitsverständnis begründet auch das Gottes-
verhältnis. Kants Rekonstruktion geht nicht auf in einem vordergrün-
digen moralistischen, rationalistischen Standardmodell. Vielmehr fragt er
zurück nach den transpragmatischen Sinnbedingungen aller unserer
Praxis. Wir können diese Ebene der Sinnkonstitution über seine Analysen
hinaus existential- und sprachanalytisch präzisieren und kritisch-herme-
neutisch wie auch kulturphilosophisch weiter entwickeln, ohne hinter
seine kritischen Einsichten zurückzufallen.
Wir sind als endliche, leid-, schuld- und todbedrohte Wesen auf Sinn
angelegt. Dies zeigt sich in aller menschlichen Praxis, somit auch in all
ihren uns bekannten früheren Formen. Natürliche Katastrophen wie
auch katastrophale moralische Übel prägen Geschichte und Gegenwart.
In gebrochener, fragiler, durch Scheitern bedrohter Form sind uns
Perspektiven der Vernunft, der Freiheit und des Guten eröffnet. In ihnen
zeigt sich der – in Wahrheit unerklärliche – Sinn des Seins und unserer
Existenz und ist uns real zugänglich. Dass dies für uns konkret nur in
endlicher Form geschieht und geschehen kann, dass die Formen des
Verlustes und des Scheiterns uns konkret drohen, gehört unlöslich zu
unserer leiblichen Natur und zu unserer Freiheitsgeschichte.
Eine eigenmächtige „Indienstnahme“ Gottes ist mit einem verfehlten
Transzendenzverständnis verbunden. Es ist vielmehr umgekehrt: Weil ich
unbedingten, mir unverfügbaren Sinn bereits erfahre, Sein des Sinns, der
mich ermöglicht, darum darf und kann ich auch hoffen, angesichts der
52 Teil 1. Religionsphilosophie

vielen Formen des Übels, des Bösen und der eigenen Fehlbarkeit, absolut
und definitiv betrachtet, zu bestehen. Ich muss aber begreifen, dass diese
transzendierende Hoffnung selbst Geschenkcharakter hat. Wir wissen,
dass in den konkreten Leidsituationen billiger Trost unredlich ist. Die
Formen der Solidarität, die uns möglich sind, eröffnen uns – wiederum
endliche und begrenzte, aber gleichwohl unbedingte und unbedingt
gebotene – Handlungsperspektiven. Eine „Rechtfertigung Gottes“ im
Sinn einer theoretischen Demonstration, die „beweist“, alles Geschehen
sei letztlich gut bzw. zu etwas gut, versucht, sich selbst missverstehende,
szientistische Metaphysik zu betreiben. Nur eine vernunftkritische,
selbstkritische Sinngrenzanalyse kann den Zusammenhang von Negati-
vität und Sinn angemessen einsichtig machen. Dann wird erkennbar: Die
ursprüngliche (unerklärliche) Eröffnung von Sinn in der – selbst uner-
klärlichen – Wirklichkeit der Freiheit in der humanen Welt ermöglicht
Leiderfahrung sowie alle Formen des moralischen Bösen. Die Wirk-
lichkeit von Leiden und Schuld lässt sich nicht nur nicht „erklären“ oder
gar „wegerklären“ oder auch beschwichtigend schönreden. Es lässt sich
erkennen: Wir leben letztlich von ungeschuldetem, unverfügbarem Sinn.
Die einzigartige, prozesshafte Existenz des Kosmos, des Universums
unter Einschluss der Existenz des Lebens der Menschheit und jedes
einzelnen Individuums wird sich in uns selbst bewusst. Dieses einzigartige
Wunder wird nicht geringer durch Leiden und Schuld. Nur eine ober-
flächliche Sicht kann das Böse „relativieren“ und so verharmlosen. Aber
eine dstere Sicht der Welt im Sinne eines tragischen Pessimismus – so nahe
sie aus verständlichen Gründen vielen Philosophen lag und liegt – ist der
Vernunft und der unbedingten Sinndimension humanen Lebens unan-
gemessen. Sie ist theoretisch unbegründbar, praktisch und existentiell
irreführend und falsch. Wenn wir die abgründige Fehlbarkeit der
Menschen und ihrer Leidensgeschichte – die niemand leugnen kann und
darf – bewusst wahrnehmen, ist der Schritt zu Mitleid und Solidarität,
wenn auch noch so schwach, schon vollzogen, und mithin eine – bereits
implizite – Antizipation von Hilfe, Leidensminderung und auch des
Lernens aus Verfehlung. Die urgeschichtliche Abkunft der menschlichen
Natur begleitet uns weiter. Die abgründige Boshaftigkeit ist tief in uns
angelegt, was immer wir tun und sagen, welche oberflächlichen Selbst-
bilder wir auch von uns entwerfen. Diese Tiefendimension wird in der
Leidensanalyse des Buddhismus und bei Schopenhauer sowie in der
christlichen Tradition und bei Kant – lange vor Freud – zu Recht ins
Zentrum gerückt und ausgelotet. Noch die formal-strukturelle Analyse
des jeweiligen „Verfallens“ in Heideggers Sein und Zeit zeigt etwas von
Die Rede von der Sünde 53

der bei allen menschlichen Vollzügen unumgänglichen Vergegenständ-


lichung in zeitlicher Endlichkeit, der wir eben nicht verhaftet bleiben
dürfen, wenn wir zu unseren eigentlichen Möglichkeiten des guten Lebens
finden und frei werden wollen. In der Bibel und in der Dichtung, vor
allem in der Tragödie wird durch Erzählungen und Dramatisierungen
vergegenwärtigt, was wir auch philosophisch begreifen müssen: die
zeitlich-endliche Augenblicklichkeit unseres Handelns (es ist immer
„jetzt“!), die unauslotbare Entzogenheit des eigenen Inneren bei aller
Selbstmächtigkeit, die leibliche und seelische Fragilität und Verletzlich-
keit des Menschen, die alle Menschen einende Kreatürlichkeit. Die le-
bendige personale Existenz eines Menschen bildet sich im Medium der
Irreversibilität und Unabsehbarkeit seines Handelns. Sinnkonstitutiv fr
personales Handeln ist gerade, dass es in seinem potentiellen Charakter keine
Sicherheit und Konstanz bietet. Es ist theoretisch unmöglich, sich handelnd
auf die Handlungen Anderer zu verlassen – ohne praktisches Vertrauen
aber gibt es schlechterdings keine humane Welt. Ein jeder, der handelt,
läuft faktisch notwendig Gefahr, zu scheitern oder Unrecht zu begehen.
Das Ergebnis können wir erst im Nachhinein wissen. Hannah Arendt hat
besonders deutlich herausgearbeitet, dass deshalb unsere ganze humane
Handlungswelt im Kern auf Versprechen und Vergeben beruht. Es gilt daher
für die Konstitution der Moralität: Unsere Fähigkeit, wechselseitig zu
vergeben, ermöglicht und eröffnet allererst unsere praktische Freiheit und
das menschliche Zusammenleben. Hannah Arendt weist in ihrem
Hauptwerk Vita activa darauf hin, dass das Vergeben kaum je theoretisch
untersucht wurde und nur in den Lehren Jesu eine zentrale Rolle ein-
nimmt.11
Die Realitt des Bçsen ist mit der Selbstbewusstwerdung des Menschen ur-
sprnglich verbunden; ohne diesen reflexiven Status des radikalen Bösen,
ohne die reale Dimension fundamentaler Fehlbarkeit lässt sich Moralität
nicht begreifen. Die Erfahrung von Schuld, Gewissensangst und Zweifel
gehört zur Konstitution personaler moralischer Identität. Deswegen ist
das böse Handeln, recht verstanden, selbst schon die Strafe, denn wir
büßen durch dieses Handeln die uns eröffnete unbedingte Sinnper-
spektive ein. In dieser Perspektive hat Thomas von Aquin formuliert: „Es
ist der Irrtum derer auszuschließen, die aus den Übeln in der Welt folgern,
dass Gott nicht ist. […] Sie fragen: Wenn Gott ist, woher dann das Übel?
(si deus est, unde malum?). Aber man muss sagen: Wenn es das Übel gibt,
dann gibt es Gott (si malum est, deus est). Denn das Übel wäre nicht,

11 Hannah Arendt, Vita activa oder von ttigen Leben, München 1981, §33, 231 – 238.
54 Teil 1. Religionsphilosophie

wenn die Ordnung des Guten nicht bestünde, dessen Beraubung das Übel
ist. Diese Ordnung aber wäre nicht, wenn Gott nicht wäre.“12
Betrachten wir die katastrophischen Ereignisse der Weltgeschichte
(nicht nur des 20. Jahrhunderts), so könnten wir auch zu der Einsicht
gelangen, dass das böse Tun über kurz oder lang an sich selbst zugrunde
geht. Dass es indirekt auch Gutes bewirkt (im Sinne von Hegels „Macht
der Negativität“ und „List der Vernunft“), stimmt zwar, sollte aber nicht
wie ein Funktionsmechanismus angesehen werden. Die Erfahrungen, die
mit Leid und Schuld verbunden sind, sind für uns unverzichtbar, gerade
weil das Schreckliche und Fürchterliche weder verkleinert noch relati-
viert werden kann und darf. Je größer unsere Erkenntnis und Einsicht in
die Natur des Bçsen wird, desto unumstößlicher und gewisser wird für uns
die Einsicht in den unbedingten, absoluten Wert des Guten werden
können. Kant spricht in Bezug auf die Hiob-Geschichte der Bibel von
einer „authentischen Theodizee“, gerade weil der leidende Hiob alle gut
gemeinten, aber oberflächlich bleibenden „Erklärungen“ seiner Freunde
zurückweist.13 Da Gutes und unbedingter Sinn uns in ihrer irreduziblen, le-
benstragenden und auch gewissmachenden, bergenden Bedeutung vernnftig zu-
gnglich und erschlossen sind – ebenso wie Freiheit und Wahrheit – ist das Bçse
bereits als nur scheinhaft mchtig durchschaubar, so zerstçrerisch-machtvoll es sich
auch in der Wirklichkeit der Welt aufspreizt. Es ist somit im Ansatz bereits
berwunden und weiter zu berwinden. Es wäre somit auch eine spekulativ-
irreführende und illusionäre Vorstellung von der Allmacht Gottes, als
bestünde sie in einem kausalistisch objektivierbaren „Eingreifen“ in
konkrete einzelne Geschehnisse und Handlungszusammenhänge. Ab-
solute Transzendenz in ihrer Totalität besagt, dass alles Gottes Sein aus-
macht, unter Einschluss unserer Freiheits- und Vernunftgeschichte. Die
Allmacht Gottes zeigt sich indirekt gerade im Scheitern des Guten und
der Liebe, die dennoch ihren unbedingten, absoluten Wert behalten. Das
gilt auch für die weltgeschichtliche Perspektive. Eine Gottesvorstellung,
die einen „Determinismus zum Guten“ denkt, würde die humane Welt
zerstören. Bezüglich künftiger Entwicklungen ist unser Handeln un-
überbietbar auf Hoffnung gestellt. Die Garantielosigkeit des Gelingens
betrifft nämlich gemäß klarer Analyse alle unsere Handlungen – in jedem
Augenblick.

12 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, Darmstadt 2001, III 71.
13 Immanuel Kant, ber das Mißlingen aller philosophischer Versuche in der Theodizee,
in: Kants gesammelte Schriften, Akademie-Textausgabe Bd. VIII, Berlin 1968,
255 – 271.
Die Rede von der Sünde 55

Dass es unbedingten Sinn gibt und dass wir von ihm, durch ihn und in
ihm leben, besagt eben nicht, dass „alles sinnvoll“, „alles gut“ ist auf eine
vordergründig evidente Weise. In den religiösen, jüdischen Weisheits-
traditionen wird die authentische Theodizee, der Hinweis auf die irre-
duzible Einzigartigkeit unbedingten Sinns positiv so artikuliert, dass das
göttliche Gericht dadurch noch aufgehalten wird, solange sich noch ei-
nige wenige Gerechte in der Stadt bzw. im Volk befinden. Auch auf die
Welt wird diese Weisheitslehre bezogen: Sie bleibt noch solange erhal-
ten, wie einige Gerechte in ihr leben. Das Unbedingte ist eben nicht
quantifizierbar. Im ganz profanen Blick auf die Gräuel des 20. Jahr-
hunderts kann die praktisch-vernünftige Urteilskraft nicht umhin, Trost
und Bestätigung aus dem Faktum der tätigen Hilfe, Solidarität und
Nächstenliebe auch unter den widerwärtigsten Bedingungen der Ver-
nichtungslager zu empfangen. Würde die Welt nicht existieren, so gäbe es
diese Wirklichkeit der Liebe nicht – Gott wäre, spekulativ gesprochen,
mit sich allein geblieben. Keinesfalls können wir diejenigen leichtfertig
verurteilen, die die Kraft zur Liebe nicht hatten – wir wissen nicht, wie
wir gehandelt hätten.
Auf karge, aber tragfähige Weise haben Kant und Wittgenstein diese
Gedanken formuliert. Kant sagt in seinen Vorlesungen zur Religions-
lehre: „Die Entsagung (Resignation) in Ansehung des göttlichen Willens
ist unsere Pflicht. Wir entsagen unserem Willen, und überlassen etwas
einem anderen, der es besser versteht und es mit uns gut meint. Folglich
haben wir Ursache, Gott alles zu übergeben, und den göttlichen Willen
schalten zu lassen; das heißt aber nicht: Wir sollen nichts tun und Gott
alles tun lassen, sondern wir sollten das, was nicht in unserer Gewalt steht,
Gott abgeben, und das unsrige, was in unserer Gewalt steht, tun. Und dies
ist die Ergebung in den göttlichen Willen.“14 Der frühe Wittgenstein
schreibt, dass Gott das ist, dass und wie alles geschieht und das, was wir tun
sollen – dies zusammengenommen. Zu Drury bemerkt er: „We are not
here in order to have a good time.“15
Dass die Sinngrenzanalyse auch bei dieser Thematik wieder zur
Sinngrundanalyse führt, kann noch mit einem Argument von Christian
Illies verdeutlicht werden. Er legt dar, dass die Erkenntnisgrenze im Blick
auf das Gute des Bösen, die Unversöhnlichkeit des Bösen mit seiner

14 Immanuel Kant, Vorlesungen ber Moralphilosophie, in: Kants gesammelte Schriften,


Akademie-Textausgabe Bd. 27.1, Berlin 1974, 320.
15 Maurice O’Connor Drury, „Some Notes on Conversations with Wittgenstein“,
in: Rush Rhees (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Personal Recollections, Oxford 1984,88.
56 Teil 1. Religionsphilosophie

Vorstellung als notwendiges Mittel zum Guten selbst etwas Positives ist.
Denn von uns muss das Böse stets als ein absolut zu Vermeidendes erkannt
werden. Es wäre nicht gut für uns, wenn wir – aus einer übergeordneten
Perspektive – wüssten, wozu das Böse (letztlich) doch gut sein mag. Das
Nichtwissen ist auch hier lebensermöglichend und lebenstragend. Des-
wegen ist es auch Mephisto, eine diabolische Gestalt, die sagen kann, er sei
„[e]in Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute
schafft.“16

4. Fazit: Religion als Tiefenaufklärung


Folgendes sollte deutlich werden:
Erstens: Angesichts der gegenwärtig zu konstatierenden, begrüßens-
werten Neubelebung der philosophischen Diskussion um Böses und
Sünde gilt es, sowohl ihrer Verdrängung und „Hinwegerklärung“ als
auch ihrer ideologischen Mythisierung und Funktionalisierung, ihrer
scheinhaften Aufblähung zu wehren.
Zweitens: Angesichts Kants kritischer Grenzreflexion lässt sich zeigen,
dass Böses und Sünde zu den notwendigen transethischen Möglichkeits-
und mithin Sinnbedingungen aller unserer Freiheitspraxis gehören.
Ambivalenz, Fragilität, kurz Negativität gehören ebenso sinnkonstitutiv
zu diesen Bedingungen wie Glaube, Liebe und Hoffnung. Diese Aspekte
müssen bei aller Unbedingtheit auch gradualistisch verstanden werden.
Daher muss einerseits ein tiefgreifender, grundlegender definitiver
Wandel des Selbstverständnisses erfolgen, der zum praktischen Glauben
führt: ein neuer Mensch werden – entsprechend der creatio ex nihilo.
Andererseits ist – taoistisch formuliert – der Weg das Ziel. Das heißt: Das
Leben als Ganzes muss immer wieder neu werden (creatio continua; Bezug auf
Röm. 7; 8). So wird die Freiheitsdimension in der Perspektive des
Reiches Gottes „inwendig in euch“ (Lk 17, 21 f.) trotz aller Fehlbarkeit
existentiell wie auch weltgeschichtlich eröffnet und erschlossen.
Drittens: Wenn die Analyse Kants (in unserer Interpretation) zutrifft,
dann ermöglicht unbedingter Sinn (religiös gesagt: Gott) trotz, ja gerade
angesichts von Fehlbarkeit und Schuld in Wahrheit all unsere Praxis.
Deswegen sind Versprechen, Vertrauen, Verzeihen und Vergeben an den

16 Christian Illies, „Theodizee der Theodizeelosigkeit. Erwiderung auf einen


vermeintlichen Einwand gegen jede Verteidigung des Welturhebers angesichts
des Bösen in der Welt“, in: Philosophisches Jahrbuch, 2000, Nr. 2, 410 – 428.
Die Rede von der Sünde 57

Grenzen unseres Handelns wesentlicher Grund (Ermöglichungsgrund)


dieses Handelns. Und ohne das Bewusstsein des stets möglichen prakti-
schen Scheiterns, der Fehlbarkeit, also des Bösen und der Sünde ist
Selbsterkenntnis hinsichtlich einer wesentlichen Tiefendimension un-
serer Existenz nicht möglich. Die religiöse Bewusstmachung des Bösen
und der Sünde lässt sich so als existentielle Aufklrung begreifen. Das betrifft
einen wesentlichen Kern der Botschaft Jesu und des Apostels Paulus.
Genauerhin lässt sich aus philosophischer Sicht Religion, in unserem
Kontext: die christliche Rede von der Sünde und Gnade in ihren au-
thentischen, irreduziblen und sowohl säkularisierungsermöglichenden
wie säkularisierungsresistenten Kerngehalten als eine radikale Form von
Aufklärung, in meiner Terminologie: als Tiefenaufklrung über die un-
verfügbaren Sinnbedingungen des menschlichen Welt- und Selbstver-
hältnisses hermeneutisch verstehen und existentiell begreifen. Somit sind
auch in meinem Ansatz Verstehen und Glauben eng verbunden.
Hegels Gott

Der anthropo-theo-logische Grundgedanke der Hegelschen Reflexion,


von dem her die metaphysischen und theologischen Systemelemente der
Wissenschaft der Logik verständlich werden, erschließt sich am deutlichsten
von der entfalteten Religionsphilosophie und deren konstitutionstheo-
retischen, anthropologischen und sprachphilosophischen Aspekten aus.
Was die Logik begriffsanalytisch als die konstitutive Form vernünftiger
Weltorientierung in der Vermitteltheit von Allgemeinem, Besonderem
und Einzelnem herausarbeitet, das ist Hegel zufolge auch der wahre Kern
der rational verstandenen christlichen Theologie, insbesondere der Tri-
nitätstheologie, der Sündentheologie und der Inkarnationstheologie.
Deren anthropologischer Sinn steht im Zentrum der Vorlesungen zur Phi-
losophie der Religion: Mit dem Christentum geschieht die „wahrhafte
Aufnahme der Endlichkeit in das Allgemeine“, „die von Seiten des Menschen
vollbracht werden musste“. Der jüdische Monotheismus besaß das „ori-
entalische Prinzip der reinen Abstraktion“, „die ganz abstrakte Anschauung
des Einen fr sich“. Es ist deshalb „die Religion des abstrakten Schmerzes,
des einen Herrn, gegen und in dessen Abstraktion sich deswegen die
Wirklichkeit des Lebens als der unendliche Eigensinn des Selbstbe-
wusstseins erhält und zugleich in die Abstraktion zusammengebunden ist“
(17, 183).1
Das „Eine“, das hier als das Prinzip der reinen Abstraktion erscheint,
können wir als die Einheit und Gesamtheit der sinnkonstitutiven Vor-
aussetzungen der menschlichen Lebenssituation, als die menschliche
Grundsituation verstehen.
Die Einsicht in die Binnendifferenziertheit von Sinnkonstitution
überhaupt wird mit Hegel religionsgeschichtlich eigentlich erst mit der
Trinitätstheologie erreicht:

1 Hegel wird zitiert nach der Theorie-Werkausgabe, 20 Bde., Frankfurt a.M. 1986,
hg. v. Eva Moldenhauer/ Karl Markus Michel. Die Zahlen in Klammern be-
ziehen sich auf Bandzahl und Seite. Zitiert wird aus den Bänden 6 (Wissenschaft
der Logik II), 10 (Enzyklopdie III), 12 (Philosophie der Geschichte) und 17 (Philo-
sophie der Religion II); vgl. zum Thema auch: Thomas Rentsch, „Negativität und
Vermittlung. Hegels Anthropo-Theo-Logik“, in: ders., Negativitt und praktische
Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 213 – 251.
Hegels Gott 59

Der abstrakte Gott, der Vater, ist das Allgemeine, die ewige, umfangende
totale Besonderheit. Wir sind auf der Stufe des Geistes: das Allgemeine schließt
hier alles in sich. Das Andere, der Sohn, ist die unendliche Besonderheit, die
Erscheinung; das Dritte, der Geist, ist die Einzelheit als solche, aber das
Allgemeine als Totalitt ist selbst Geist, – alle drei sind der Geist (17, 234).
Der „Geist“ ist bei Hegel der Titel für die begriffliche Form der ver-
nünftigen Sinnkonstitution für endliche und freie, menschliche Wesen:
Der Geist ist […] in den drei Formen […] zu betrachten, in die er sich setzt.
Diese drei […] Formen sind: das ewige In- und Bei-sichsein, die Form der
Allgemeinheit; die Form der Erscheinung, die der Partikularisation; das Sein für
Anderes; die Form der Rückkehr aus der Erscheinung in sich selbst, die
absolute Einzelheit. In diesen drei Formen expliziert sich die göttliche Idee.
Geist ist die göttliche Geschichte, der Prozess des Sichunterscheidens, Di-
rimierens und dies Insichzurücknehmens (17, 214).
Hegel analogisiert mithin die logische Struktur der zeitlich-endlich ge-
schehenden prädikativen Synthesis im Urteil mit der internen Diffe-
renziertheit der göttlichen Dreieinigkeit. Die interne Komplexität des
sprachlichen Handelns ist nach ihm das offenbare Geheimnis der trini-
tarischen Konstitution des „ewigen Logos“. Es ist daher möglich, der
Theologie Hegels einen anthropologisch-sprachpragmatischen Sinn zu geben.

Versuchen wir, seinen – in verschiedenen Varianten wiederkehrenden –


Grundgedanken zu reformulieren.
1. Gedachte, in der erinnernden, nachträglichen philosophischen
Reflexion fingierte Anfangssitutation möglicher menschlicher Orien-
tierung (möglicher Aktivität des „Geistes“) ist die noch unbestimmte
Totalitt, die Gesamtheit aller möglichen Unterscheidungen, der Inbegriff
alles Existierenden. Diese abstrakte, allgemeine Totalität ist der alles Be-
sondere und alles Einzelne umgreifende, selbst nicht zu vergegenständ-
lichende Horizont, in welchem die Differenzierung stattfindet und der
selbst über alle Differenzierung immer schon hinaus ist. Wir können sie
auch als die noch ungegliederte Welt verstehen. Als Grundsituation
möglicher menschlicher Orientierung können wir die Totalität als die
unendliche Gesamtheit möglicher Prädikationshandlungen interpretie-
ren, als den offenen Raum, in dem begriffliche Differenzierungen
überhaupt ermöglicht sind. Als Sinnkonstituens möglicher Orientie-
rungen gehört die Totalität zur Ebene des Geistes im Hegelschen Ver-
ständnis.
2. Mögliche menschliche Orientierung kann nur erfolgen, wenn
diese noch unbestimmte Totalität eine Besonderung ihre Aspekte, eine
60 Teil 1. Religionsphilosophie

interne Gliederung erfährt. Mit einer solchen Besonderung und Glie-


derung setzen sich Allgemeines und Besonderes, Subjekt und Objekt. Ich
und Nicht-Ich, Gesamtsituation und besondere Situation auseinander. In
diesen möglichen Gliederungen, Setzungen, Differenzierungen und
Negationen aktualisiert sich begrifflich die menschliche Freiheit. Durch
sie vermittelt erfolgt die Welt- und Selbstkonstitution. Sie geschieht ver-
mittels allgemeiner, aber notwendig auch besonderer Prädikate in beson-
deren Sprach- und Handlungssituationen. „Im Begriffe hat sich daher das
Reich der Freiheit eröffnet“ (6, 251).
3. Schließlich beziehen sich die Prädikations- und Gliederungs-
handlungen mit einzelnen Stzen auf einzelne Individuen in einzelnen Si-
tuationen. Indem sie dies tun, beziehen sie sich zugleich wiederum auf das
Ganze, das Gesamt möglicher Differenzierungen. Sie beziehen sich ho-
listisch auf die Totalitt der menschlichen Praxis und ihrer Geschichte
zurück.
Diese selbst ,allgemeine‘, universale Form möglicher Sinnkonstitu-
tion ermöglicht Wahrheit: sie ermöglicht Orientierungen durch wahre
und falsche Sätze. Die Form möglicher Sinnkonstitution, in Hegels
Terminologie der Geist, „ist ein logisches Wesen, ist denkende Tätigkeit“
(17, 201 f.). Auf der logischen Ebene, im Begriff, zeigt sich so die
menschliche Freiheit als die Freiheit zu prädikativen Differenzierungen,
Negationen und Synthesen. Die logischen Formaspekte sprachlicher Sinn-
konstitution, Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, die Hegel als
„Explikation der göttlichen Idee“ bezeichnet und mit den „Personen“
der Trinität gleichsetzt, werden von ihm ebenso zur Unterscheidung von
Formen des Urteils, syllogistischen Formen, aber auch der Formaspekte
der Subjektivität, des vernünftigen Selbstbewusstseins und seiner Re-
flexivität herangezogen. Systematisch bestimmend und rational nach-
vollziehbar sind an Hegels Interpretationsweise dabei die logisch-for-
malen Übersetzungen religiöser (biblischer) und theologischer Rede,
insbesondere dort, wo sie an die Johanneische Logos-Theologie an-
knüpft:
Gott ist […] der Geist. Dieser Begriff ist nun [sc. im Christentum, Th. R.]
realisiert, das Bewußtsein weiß diesen Inhalt, und in diesem Inhalt weiß es
sich schlechthin verflochten: in dem Begriff, der der Prozess Gottes ist, ist es
selbst Moment. […] Das ist die vollendete Religion, der sich objektiv ge-
wordene Begriff. Hier ist es offenbar, was Gott ist; er ist nicht mehr ein
Jenseits, ein Unbekanntes, denn er hat den Menschen kundgetan, was er ist,
und nicht bloß in einer äußerlichen Geschichte, sondern im Bewußtsein.
Hegels Gott 61

Wir haben also hier die Religion der Manifestation Gottes, indem Gott sich
im endlichen Geiste weiß (17, 187).
Gott ist Logos, Wort; er ist Begriff: das ist der Kern der Hegelschen
Anthropo-Theo-Logik. Gott ist insbesondere der sich im Menschen
allererst selbst begreifende Begriff. Wenn Hegel sagt:
Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition dessen gibt, was es
für das Wahre hält. Definition enthält alles, was zur Wesentlichkeit des
Gegenstandes gehört, worin seine Natur auf einfache Grundbestimmtheit
zurückgebracht ist als Spiegel für alle Bestimmtheit, die allgemeine Seele alles
Besonderen. Die Vorstellung von Gott macht somit die allgemeine
Grundlage eines Volkes aus (12, 70).
so impliziert seine Interpretation bereits die späteren linkshegelianischen
Projektions- und Depotenzierungstheorien. Allerdings impliziert er sie
nicht mit dem ideologiekritischen Pathos der Entlarvung, sondern mit der
Emphase der Freilegung authentischer Wahrheit, einer Wahrheit, die
partial bereits in den nichtchristlichen Vorgestalten des religiösen Be-
wusstseins erscheint. Die emphatische Bedeutung und Gewichtung, die
die logisch-strukturellen Übersetzungen religiöser oder theologischer
Rede gerade als Übersetzungen von Kernbeständen christlicher Rede
von Gott erhalten, wird erkenntnis- und sprachanthropologisch dadurch
von Hegel gedeckt, dass sie die Struktur des lebendigen Geistes wie-
dergeben. Was die Tradition als „Gott“ bezeichnete, das genau können
wir in der WdL als die vernünftige Grundform möglicher Sinnkonsti-
tution in ihrer begrifflichen Binnenstruktur selbst begreifen. Der so be-
griffene Geist ist der Ort möglicher Einheit (von Bedeutungen, Sätzen,
Urteilen), der Ort möglicher Wahrheit (von Aussagen, Behauptungen,
Schlüssen), schließlich die ausgezeichnete Weise freier, d. h. selbstbe-
stimmter und selber bestimmender Praxis.
Es bestätigt sich somit in Hegels Anthropo-Theo-Logik der Zu-
sammenhang von existentieller Negativität (Unbestimmtheit, unbe-
stimmter Totalität), Sprache (prädikativer Bestimmtheit) und Freiheit
(Möglichkeit von Prädikations- und Negationshandlungen). Der Mensch
ist „der existierende Begriff“ (6, 481); die logischen Formen des Begriffs:
Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit sind auch die möglichen
Formen seines Selbst- und Weltverständnisses. Die „Form Gottes“ wird
als die dreifaltige Form der sprachlichen Weltorientierung verstanden,
und so als die Form des lebendigen menschlichen Geistes. Hegel kann
deshalb seine Anthropo-Theo-Logik zusammenfassen, indem er sagt, dass
der Stoff, welcher den Inhalt des Begriffs von Gott ausmacht, „der Geist“
62 Teil 1. Religionsphilosophie

ist, „dessen absolute Bestimmung die wirksame Vernunft, d. i. der sich


bestimmende und realisierende Begriff selbst, – die Freiheit ist“ (10, 354).
Damit bestätigt sich die These Karl Löwiths, „der wesentliche Gedanke
Hegels“ in der Religionsphilosophie sei „die Explikation des logischen
Wesens Gottes“.2
Diese säkularisierte, entmythisierte Sichtweise des Kerngehaltes der
religiösen Überlieferung erstreckt Hegel sowohl auf die gesamte Reli-
gionsgeschichte als auch auf die christliche Dogmatik. Der logisch-fun-
damentalanthropologischen Interpretation der Trinität als der grundle-
genden Form der Sinnkonstitution und der Möglichkeitsbedingung der
voll entfalteten menschlichen Subjektivität entsprechen auch seine
Deutungen des Wunderverständnisses, des Sündenfalles und der Un-
sterblichkeit. Alle religiçsen Vorstellungen und mythischen Anschauungen sowie
die theologisch-transzendenten Aussagen der Dogmatik werden in philosophische
Analysen und Feststellungen ber die begriffliche Konstitution des menschlichen
Selbst- und Weltverstndnisses berfhrt bzw. selbst als solche gedeutet.
Das wahrhafte Wunder kann somit nur die Konstitution des Geistes
(das Gesamt der Möglichkeitsbedingungen von Freiheit und Wahrheit)
sein:
Das wahrhafte Wunder in der Natur ist die Erscheinung des Geistes, und die
wahrhafte Erscheinung des Geistes ist in gründlicher Weise der Geist des
Menschen und sein Bewußtsein von der Vernunft der Natur, daß in dieser
Zerstreuung und zufälligen Mannigfaltigkeit durchaus Gesetzmäßigkeit und
Vernunft ist (17, 63).
Dass die Wahrheit des Christentums als der absoluten Religion im Kern
die Wahrheit über die grundsätzliche Situation des Menschen ist, zeigt
auch Hegels Interpretation der Geschichte vom Sündenfall und seine
begriffliche Analyse der Theologie der Snde: „Es ist Adam oder der
Mensch überhaupt, der in dieser Geschichte erscheint; es betrifft, was hier
erzählt wird, die Natur des Menschen selbst, und es ist nicht ein formelles,
kindisches Gebot, das Gott ihm auferlegt, sondern es heißt der Baum, von
dem Adam nicht essen soll, der Baum der Erkenntnis des Guten und des
Bösen, – da fällt die Äußerlichkeit und die Form eines Baumes hinweg“
(17, 76).

2 Karl Löwith, „Diskussionsbeitrag zu: Reinhart Heede, Hegel-Bilanz: Hegels


Religionsphilosophie als Aufgabe und als Problem der Forschung“, in: Reinhart
Heede/Joachim Ritter (Hg.), Hegel-Bilanz. Zur Aktualitt und Inaktualitt der
Philosophie Hegels, Frankfurt a.M. 1973, 41 – 99, dort 92.
Hegels Gott 63

Der entmythisierte Sinn der Urgeschichte besteht in dem konstitu-


tiven Zusammenhang von Selbstbewusstsein, endlicher Freiheit und
Bösem:
Der Mensch isst davon, und er kommt zur Erkenntnis des Guten und des
Bösen. […] Die Erkenntnis, das Wissen ist dieses doppelseitig, gefährliche
Geschenk: der Geist ist frei; dieser Freiheit ist das Gute wie das Böse an-
heimgestellt: es liegt darin ebenso die Willkür, das Böse zu tun; dies ist die
negative Seite an jener affirmativen Seite der Freiheit. Der Mensch, heißt es,
sei im Zustande der Unschuld gewesen: dies ist überhaupt der Zustand des
natürlichen Bewußtseins: er muss aufgehoben werden, sobald das Be-
wußtsein des Geistes überhaupt eintritt. Das ist die ewige Geschichte und die
Natur des Menschen (17, 76).
Diese Transformation von Mythologie in anthropologische Konstitutionsanalyse
nimmt die Methode der existentialen Interpretation und der Entmy-
thologisierung vorweg, wie sie im 20. Jahrhundert von Rudolf Bultmann
und seiner Schule entwickelt wurde. Hegel sagt: „In der ganzen bildli-
chen Darstellung ist das, was innerlich ist, als äußerlich, was notwendig,
als zufällig ausgesprochen“ (17,76 f.). Was „innerlich“ ist, was also zu der
begrifflichen Konstitution der menschlichen Situation gehört und des-
halb „notwendig“ für das Menschsein ist, das wird als „äußerlich“, d. h.
narrativ, in Bildern objektiviert und deshalb als „zufällig“ dargestellt. Die
kommunikative Selbstkonstitution von Subjektivität durch sprachliche
Unterscheidungspraxis auf dem Grund existentieller Negativität (Frei-
heit) ist zugleich Möglichkeitsbedingung des Guten wie des Bösen. Die
mythische Sündenfallgeschichte ist „die auseinandergelegte Geschichte
dessen, was der Mensch ist“ (17, 256). Der Mythos muss narrativ ver-
anschaulichen, was als transzendentale Konstitutionsbedingung der
menschlichen Selbst- und Weltkonstitution gleichursprünglich mitein-
ander ist: die unableitbare Freiheit zur Selbst- und Weltkonstitution; die
Notwendigkeit zu handeln, sich zu entäußern und zu vergegenständli-
chen; die ständige Möglichkeit der Entfremdung und Selbstverfehlung
auf dem Grunde dieser Entzweiung. Damit ist die christliche Hamar-
tiologie philosophisch in die Konstitutionsanalyse von Möglichkeitsbe-
dingungen reflexiver Subjektivität transformiert. Der gesamte Komplex
der Reden von der „Menschwerdung Gottes“, vom „Tod Gottes“, von
der „Auferstehung“, von der „Unsterblichkeit“ und von der „Versöh-
nung“ wird von Hegel konsequent in die begrifflichen Analysen seiner
Anthropo-Theo-Logik einbezogen. Theologisch gesprochen entfaltet
Hegel eine integrale Pneumatologie, wobei der „Geist“ der Titel für die
Totalität der Sinnbedingungen menschlicher Orientierung gemäß Hegels
64 Teil 1. Religionsphilosophie

Analyse in der WdL ist: die absolute Vermittlung von Allgemeinem,


Besonderem und Einzelnem, „Vater“, „Sohn“ und (heiligem) „Geist“;
„und diese unendliche Vermittlung hat die objective Gestalt – Daseyn
Leiden und Sterben, und Erhöhung Christi“. Die entmythologisierte,
anthropologische Interpretationsweise Hegels tritt auch hier eindeutig
zutage:
Christus gehört dem menschlichen Geschlecht an; dieses ist sein Stamm.
Christus ist auch der Sohn Gottes; den wahren Sinn dieses Ausdrucks, die
Wahrheit der Idee […] kann man auch wegexegesieren, sagen: alle Men-
schenkinder seien Kinder Gottes oder sollen sich selbst zu Kindern Gottes
machen und dgl. (17, 285).
Der etwas harte Ausdruck „wegexegesieren“ artikuliert unmissver-
ständlich Hegels Bestreben, den rationalen, begrifflichen Kern der
christlichen Rede herauszuarbeiten. Die Christologie ist so „die Dar-
stellung der göttlichen Idee an seinem Leben und Schicksal; Was […]
Gott an und für sich ist, das haben wir [sc. In dieser Darstellung, Th. R.]
gesehen: er ist dieser Lebensverlauf, die Dreieinigkeit, worin das Allge-
meine sich sich selbst gegenüberstellt und darin identisch mit sich ist“ (17,
287).
Der für die philosophisch-begriffliche Analyse allererst zutage tre-
tende, überlegene Wahrheitsgehalt des Christentums besteht für Hegel
eben darin, dass „der ganze trinitarische Gott als Mensch da ist“. Der
„wirklich Daseiende trinitarische Sohn ist das menschliche Subjekt, weil es
als Geist nicht anders ist als die Gegenwärtigkeit jenes Ganzen“.3
Die Christologie ist für Hegel die religionsgeschichtlich radikale
Form der Wahrheit, die seine Anthropo-Theo-Logik philosophisch-
begrifflich zu artikulieren sucht: Das Allgemeine, Universale, das Un-
Endliche, die ,Idee‘ als ,Form‘ und damit die Totalität – sie können und
mssen daher einzig in der Besonderung, partikular, in der Endlichkeit und
so inhaltlich konkretisiert erscheinen.
Gott ist der Geist; er ist in abstrakter Bestimmung so bestimmt als der all-
gemeine Geist, der sich besondert; dies ist die absolute Wahrheit, und die
Religion ist die Wahre, die diesen Inhalt hat (17, 211).
Die Wahrheit ist die Enthüllung dessen, was der Geist an und für sich ist; der
Mensch ist selbst Geist (17, 222).

3 So zu Recht Herbert Huber, Idealismus und Trinitt, Pantheon und Gçtterdm-


merung. Grundlagen und Grundzge der Lehre von Gott nach dem Manuskript Hegels
zur Religionsphilosophie, Weinheim 1984, dort 145.
Hegels Gott 65

Mit drei Thesen will ich meinen Beitrag zu Hegels Gottesverständnis


abschließen. Sie sind historisch, systematisch und kritisch ausgerichtet.
Zunächst muss klar herausgestellt werden, dass es mir um den Kern
des Wahrheits- und Geltungsanspruchs von Hegels philosophischer
Theologie geht. Was ist das eigentlich Zukunftsweisende in Hegels
Ansatz? Was können wir heute noch bzw. wieder von Hegel lernen? Was
Hegel leistet, ist eine begriffliche Rekonstruktion des Gottseins Gottes,
eine logische Rekonstruktion des Absoluten und das heißt, eine be-
grifflich-logische Rekonstruktion des Grundes allen Sinns, des Grundes
aller Sinnkonstitution. Diese Rekonstruktion schließt als philosophische
(nicht religiöse!) die des Wesens des Absoluten als des Grundes der
Vernunft mit ein. Hegel leistet eine begriffliche Rekonstruktion des Seins
und des Wesens Gottes als des Grundes der Welt, des menschlichen
Geistes und der Vernunft, traditionell gesprochen: des Logos.
Mit diesem Ansatz – und das ist die historische These – steht Hegel in
der Tradition der (von ihm ja auch rekonstruierten) Genesis der okzi-
dentalen Rationalität von Platon und Aristoteles über Plotin und die
mittelalterliche Onto-Theo-Logik bis zu Kant. Sie bildet bei allen Di-
vergenzen und Differenzen eine vorgängige Einheit, einen übergrei-
fenden Geltungskontext. Metaphysik ist in diesem Geltungskontext,
modern formuliert, kein theoretisch-einzelwissenschaftliches, gleichsam
szientifisches Unternehmen – als ein solches wird sie ja von Kant kritisiert,
und ebenso von Hegel (als Verstandesmetaphysik geradezu in Grund und
Boden destruiert), und so wurde sie auch weder von Platon noch von z. B.
Thomas oder Duns Scotus begriffen. In diesem Geltungskontext ist
Metaphysik bzw. Onto-Theo-Logik vielmehr, modern formuliert,
Grammatik der humanen Welt und lebensformbezogene, sinnkriteriale
Konstitutionsanalyse einer solchen Welt. Diesen Geltungskontext ex-
pliziert Hegel mit und in seinen systematischen Hauptwerken. Daher
bezieht er sich wie in einem lebendigen Dialog ständig auf Platon und
Aristoteles, wie auch auf seine Zeitgenossen und Vorläufer Kant und
Fichte. Es ist der systematische Anspruch gerade auch seiner Gottesre-
flexion, diesen Kern, dieses Zentrum der Geschichte der europäischen
Philosophie systematisch zu rekonstruieren, seine Wahrheit zu expli-
zieren.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu unterstreichen, dass das
genuine Denken Gottes in der Philosophie bereits lange vor dem
Christentum in der philosophischen, ethisch-monotheistischen Gottes-
reflexion einsetzt, eben in der antiken griechischen Philosophie. Diese
Geltungsreflexion der philosophischen Theologie ist somit zunächst
66 Teil 1. Religionsphilosophie

einmal unabhängig vom Christentum, vom Judentum und vom Islam,


wenn auch diese Weltreligionen grandiose Verbindungen mit ihr ein-
gehen, um ihre Wahrheit begrifflich auf dem Niveau der Vernunft zu
erfassen. Das gilt, wenn Hegel auch im Christentum die tiefste Wahrheit
über Gott, die Trinitätstheologie, verortet.
Drei Aspekte sind für die geschichtliche Dimension des Hegelschen
Denkens Gottes noch ganz zentral. Es ist erstens die Bedeutung des
Neuplatonismus und hier insbesondere die des exitus-reditus-Schemas von
excessus und regressus. Dieses von Proklos und Plotin entwickelte
Grundschema von Einheit (moné), Hervorgang (prohodos, prodromos)
und Rückgang (epistrophé) ist das Modell der Bewegung des Geistes und
mithin der Grundform überhaupt möglicher Sinnkonstitution für Hegel.
Es ist auch das Modell der Rekonstruktion der Trinität. (Dazu gleich
systematisch mehr.) Historisch-systematisch ist zweitens von zentraler
Relevanz die Bedeutung der rationalen Mystik für Hegel. Der vor allem
mystische Grundgedanke der in sich differenzierten Einheit von Gott und
Mensch ist Hegel aus der großen deutschen Mystiktradition vertraut.
Explizit bezieht er sich auf Meister Eckhart, Seuse und Tauler. Baader
berichtet, dass Hegel angesichts der Grundgedanken von Meister Eckhart
in Berlin ausrief: „Da haben wir es ja, was wir wollen!“4 Aber es ist nicht
ein esoterisches Sonderwissen, auf das Hegel rekurriert, schon gar nicht
Sondererfahrungen von Entrückung und Verzückung. Vielmehr ist es die
augustinische Grundeinsicht aus den Confessiones, dass Gotteserkenntnis
und wahre Selbsterkenntnis zusammengehören, sich implizieren. Und
wie sollte auch wahre Selbsterkenntnis gelingen, wenn sie nicht prakti-
sche Einsicht in den Sinngrund der Welt und des Lebens einschlösse? Eine
solche Einsicht und Erkenntnis kann subjektivistisch, nur privat, nicht
gelingen, auch, wenn sie die innerste Dimension des Selbst betrifft. Und
schließlich ist drittens die ständige systematische Auseinandersetzung mit
Kant gerade in Fragen der Metaphysik zentral. Das wird vor allem in der
Enzyklopädie und in den Notizen dazu deutlich. Hegel unterstreicht hier,
vehement Kantianer, dessen Kritik der transzendenten Verstandesmeta-
physik. Allerdings kritisiert er ebenso vehement das Stehenbleiben Kants
bei dieser Kritik, während die positive praktische Sinnexplikation der
Vernunft bei Kant Hegel zufolge zu schwach bleibt. Das betrifft den
Status der Ideen.

4 Zit. nach Vittorio Hösle, Hegels System: der Idealismus der Subjektivitt und das
Problem der Intersubjektivitt Bd. 2, Philosophie der Natur und des Geistes, Hamburg
1988, 645, Anm. 116.
Hegels Gott 67

Betrachten wir nun Hegels Rekonstruktion der Idee Gottes noch


einmal. Das trinitarische Eine ist Geist, anders gesagt: die Struktur des
Selbstbewusstseins. Traditionell gesprochen ist der Mensch Ebenbild
Gottes durch seine Vernunft, seinen Geist. Zur Sinnkonstitution ver-
nünftiger Selbsterkenntnis gehören nun auch begrifflich die Momente
der Prdikation und der Negation: Ich muss etwas als etwas setzen, er-
kennen und damit muss ich es von anderem, ja von allem anderen un-
terscheiden. Diese Fundamentalstruktur von Identifizierung und Differen-
tialisierung, von Identität und Differenz ist die Form der
Selbstbewusstwerdung, und logisch betrachtet, ist sie die Grundform des
Satzes. Mit dieser Form vermögen wir, die Welt, d. h. seiendes Etwas als
etwas zu erkennen. Diese Form ermöglicht auch Selbsterkenntnis. Sie ist
unhintergehbar und für Erkenntnis unverzichtbar.
Es sind nun zwei weitere Aspekte, die Hegel mit dieser Form der
prädikativen Synthesis und der Negation systematisch verbindet:
gleichursprünglich mit diesen vom Geist ermöglichten Formen der
Sinnkonstitution sind die Urphänomene des freien Handelns und der
Vereinzelung, Freiheit und Individuation. Unter Freiheit ist hier das freie,
ungesicherte Fortsetzen nicht-festlegender Anfänge in der Form prädi-
kativer Synthesisleistungen zu verstehen, so, wie sie Wittgenstein in
seinen Untersuchungen zum Regelfolgen analysiert hat. Es gilt hier, dass
es keine Regel der Regel gibt. Dass wir etwas als etwas erkennen und
wiedererkennen können, dass wir eine prädikative Synthesis vollziehen
und wiederholen können, dadurch etwas als etwas erkennen und wie-
dererkennen können, das ist, anders gesagt, selbst unerklärlich.
Hegel insistiert an dieser Stelle seiner fundamentaltheologischen
Geist- und Vernunftanalyse immer wieder darauf, dass mit Prädikation
und Negation das freie Handeln eröffnet und ermöglicht wird, und dass
gleichursprünglich mit dieser Freisetzung der Freiheit die Perspektive der
Individuation, der Erkenntnis des Einzelnen als Einzigartigem erscheint.
Die je und je augenblicklich mögliche, ekstatische Sinnkonstitution mit
der synthetischen Differenzierung von prädikativem Allgemeinem,
prädiziertem einzelnem Individuum und besondernder Synthesis, diese
augenblickliche Sinnkonstitution ist horizontale Aktualisierung der Form
von Sinn überhaupt. Hegel erkennt das Elementare – den Satz – als das
schlechthin für eine humane Welt Fundamentale. Ohne begriffliche,
satzförmige Sinnkonstitution keine Selbstkonstitution, keine Freiheit,
keine Individuation, keine Individualität.
Was dies nun praktisch bedeutet, erschließt die fundamentaltheolo-
gische Dimension dieser Analyse auf ganz besondere Weise. Mit der
68 Teil 1. Religionsphilosophie

prädikativen Synthesis ist die Möglichkeit und Wirklichkeit der Wahrheit


eröffnet, die Möglichkeit und Wirklichkeit freier Urteile, die konstitutiv
ungesichert sind, die Möglichkeit und Wirklichkeit der Individuation – der
Erkenntnis des Einzelnen, des einzelnen Menschen und jedes Menschen
selbst als einzigartigem Individuum. Damit ist die Möglichkeit und Wirk-
lichkeit freier, einzigartiger, selbstbewusster und selbstverantwortlicher
menschlicher Individuen eröffnet, und zwar eröffnet durch die trinita-
rische Form der gleichursprünglichen Sinnkonstitution von Welt,
menschlichem Leben und Sprache. Gott als Ursprung der Menschwer-
dung und des trinitarischen Geistes ist als Ursprung, recht begriffen, Mitte
und Zentrum der humanen Welt. So sind Theologie, Christologische An-
thropologie und Pneumatologie in der Wirklichkeit des ständigen,
prozesshaften, dynamischen Schöpfungsgeschehens untrennbar (unse-
parierbar, aber unterscheidbar) verklammert. Zwei kritische und wei-
terführende systematische Aspekte können wir noch akzentuieren. Im
Kontext der praktischen Dimension der begrifflichen Rekonstruktion
der philosophischen Theologie durch Hegel ist – ich folge hier Hösle5 –
die Intersubjektivittsperspektive im Zentrum des trinitarisch ermöglichten
menschlichen Selbstbewusstwerdungsprozesses noch weit deutlicher
hervorzuheben als dies bei Hegel explizit geschieht. Kurz gesagt: Nur,
indem wir den und die Anderen als freie Individuen anerkennen, gibt es
auch uns als freie Individuen. Ansätze zu dieser Dimension gibt es bei
Hegel – so ist die freie Individualität in seiner Analyse Ermöglichungs-
grund von Moral, Recht und Staat und er wendet seine Individuali-
tätsanalyse ganz explizit gegen einen indifferenten Pantheismus wie den
Spinozas, dem er andererseits viel verdankt. Jedoch haftet der begriffli-
chen Rekonstruktion des Absoluten – wohl in beabsichtigter Absetzung
gegen Kant – auch etwas Monologisches, Theoretizistisches und
Transindividuelles an. Wenn wir mit Hegel Gott als Grund des ur-
sprünglichen und gegenwärtigen weltkonstitutiven und lebensermögli-
chenden kommunikativen Sinnereignisses, Grund der ekstatischen
Sinnkonstitution begreifen, dann können wir den intersubjektiven Status
von Gottes Wesen und Offenbarung noch viel deutlicher akzentuieren.
Er zeigt sich im Vertrauen, im Verzeihen und Vergeben – in der An-
erkennung des Anderen auf ausgezeichnete Weise, die Wahrheit und
Gutes erst ermöglicht.
Neben diesem Kritikpunkt lässt sich noch ein weiterer kritischer wie
konstruktiver Aspekt entwickeln. Hegels Ansatz ist auf eindrucksvolle

5 Vgl. Hösle, a.a.O. (Anm. 4), 646 – 666.


Hegels Gott 69

Weise philosophisch und stringent vernunftbezogen. Damit wirkt er aber


auch auf viele rationalistisch und reduktionistisch. Einer weiterreichen-
den Rekonstruktion in seinem Geist könnte, müsste und sollte es ge-
lingen, in diese philosophisch-theologische Ebene die Dimension der
genuin religiösen Praxis und ihrer Sprach- und Handlungsformen mit
einzubeziehen, unter Einschluss der liturgischen und sakramentalen ri-
tuellen Formen.
Dies kann gelingen, wenn in die Hegelsche Rekonstruktion eine
genuine Transzendenzperspektive wieder einbezogen wird. Wenn wir
mit Heidegger die ontologische Differenz in die Reflexion der uns er-
möglichenden, vorgängigen Sinnkonstitution einbeziehen, dann können
wir das Dass des Seins des Sinns, das Dass der Gleichursprünglichkeit von
Welt, Sprache und Leben als vernunftvorgängige, Vernunft (Wahrheit
und Gutes) ermöglichende Transzendenz begreifen, Transzendenz frei-
lich, die sich für uns nur in der Immanenz zeigt, aber dennoch Trans-
zendenz. Wir haben es hier in meiner Terminologie mit transrationalen
Wundern bzw. Geheimnissen zu tun, mit Wundern (oder mit einem
einzigen Wunder), zu denen wir ein genuin religiöses, thaumatisch-
auratisches, meditatives wie betendes, kongregatives, feierndes Verhältnis
einnehmen und kultivieren können, aber nicht müssen.6 Es ist (auch im
Sinne von Wittgensteins Verständnis des Mystischen im Tractatus)
schlechterdings unerklärlich und einzigartig, dass uns in der empirischen
Endlichkeit diese Wirklichkeit des Seins des Sinns konkret eröffnet und
erschlossen wird, und dies in jedem Augenblick. Gerade weil Hegel auch
die rationale Mystik in seine Rekonstruktion einbezieht, ist hier die
Brücke zu einer genuinen Transzendenz- und Wunderperspektive zu
schlagen, zu einer transrationalen, keineswegs aber irrationalen Dimen-
sion. In dieser Dimension erhielte der genuine Sinn des „veni creator
spiritus“ wieder sein authentisches Recht, ebenso die mit anderen Dis-
kursformen inkommensurable Verkündigungssprache.

6 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005, 66, 134, 165 f.
70 Teil 1. Religionsphilosophie

Hegels Gott
1. Es ist möglich, der Theologie Hegels einen anthropologisch-
sprachpragmatischen Sinn zu geben.
2. Die logischen Formaspekte sprachlicher Sinnkonstitution, Allgemein-
heit, Besonderheit und Einzelheit, die Hegel als „Explikation der
göttlichen Idee“ bezeichnet und mit den „Personen“ der Trinität
gleichsetzt, werden von ihm ebenso zur Unterscheidung von For-
men des Urteils, syllogistischen Formen, aber auch der Formaspekte
der Subjektivität, des vernünftigen Selbstbewusstseins und seiner
Reflexivität herangezogen.
3. Der so begriffene Geist ist der Ort möglicher Einheit (von Bedeu-
tungen, Sätzen, Urteilen), der Ort möglicher Wahrheit (von Aussa-
gen, Behauptungen, Schlüssen), schließlich die ausgezeichnete
Weise freier, d. h. selbstbestimmter und selber bestimmender Praxis.
4. Alle religiçsen Vorstellungen und mythischen Anschauungen sowie die
theologisch-transzendenten Aussagen der Dogmatik werden in philosophische
Analysen und Feststellungen ber die begriffliche Konstitution des mensch-
lichen Selbst- und Weltverstndnisses berfhrt bzw. selbst als solche ge-
deutet.
5. Diese Transformation von Mythologie in anthropologische Konstitutions-
analyse nimmt die Methode der existentialen Interpretation und der
Entmythologisierung vorweg, wie sie im 20. Jahrhundert von Ru-
dolf Bultmann und seiner Schule entwickelt wurde.
6. Theologisch gesprochen entfaltet Hegel eine integrale Pneumato-
logie, wobei der „Geist“ der Titel für die Totalität der Sinnbedin-
gungen menschlicher Orientierung gemäß Hegels Analyse in der
WdL ist: die absolute Vermittlung von Allgemeinem, Besonderem
und Einzelnem, „Vater“, „Sohn“ und (heiligem) „Geist“; „und diese
unendliche Vermittlung hat die objective Gestalt – Daseyn Leiden
und Sterben, und Erhöhung Christi“.
7. Die Christologie ist für Hegel die religionsgeschichtlich radikale
Form der Wahrheit, die seine Anthropo-Theo-Logik philosophisch-
begrifflich zu artikulieren sucht: Das Allgemeine, Universale, das
Un-Endliche, die ,Idee‘ als ,Form‘ und damit die Totalität – sie
können und mssen daher einzig in der Besonderung, partikular, in der
Endlichkeit und so inhaltlich konkretisiert erscheinen.
8. Mit diesem Ansatz steht Hegel in der Tradition der (von ihm ja auch
rekonstruierten) Genesis der okzidentalen Rationalität von Platon
und Aristoteles über Plotin und die mittelalterliche Onto-Theo-
Hegels Gott 71

Logik bis zu Kant. In diesem Geltungskontext ist Metaphysik


Grammatik der humanen Welt und lebensformbezogene, sinnkri-
teriale Konstitutionsanalyse einer solchen Welt. (Gleichursprüng-
lichkeit von Negation, Individuation, Wahrheit und Freiheit).
9. Im Kontext der praktischen Dimension der begrifflichen Rekon-
struktion der philosophischen Theologie durch Hegel ist die Inter-
subjektivittsperspektive im Zentrum des trinitarisch ermöglichten
menschlichen Selbstbewusstwerdungsprozesses noch weit deutlicher
hervorzuheben als dies bei Hegel explizit geschieht.
10. Einer weiterreichenden Rekonstruktion in Hegels Geist könnte,
müsste und sollte es gelingen, in diese philosophisch-theologische
Ebene die Dimension der genuin religiösen Praxis und ihrer Sprach-
und Handlungsformen mit einzubeziehen, unter Einschluss der li-
turgischen und sakramentalen rituellen Formen. Dies kann gelingen,
wenn in die Hegelsche Rekonstruktion eine genuine Trans-
zendenzperspektive wieder einbezogen wird.
Dialektik der Transzendenz bei Benjamin.
Eine Alternative zur Substitution des Absoluten
in Reflexion und Praxis der Moderne

Im ersten Teil meines Aufsatzes werde ich zunächst exemplarisch Sub-


stitute und Surrogate des Absoluten in Reflexion und Praxis der Moderne
aufweisen. Ich werde mich dazu auf Grundgedanken von Heidegger,
Wittgenstein, Adorno, Habermas und Derrida beziehen. Im zweiten Teil
werde ich das Denken Benjamins als auch heute noch systematisch dis-
kutables kritisches Gegenmodell gegen solche Substitute interpretieren.

1
Die Moderne ist auf komplexe Weise durch Entzweiungsprozesse cha-
rakterisiert, die sich, davon bin ich überzeugt, im Kern auf misslungene
Ersatzbildungen für ein wahrhaftes Absolutes zurückführen lassen. Solche
falschen Ersatzbildungen waren Rasse und Klasse, Volk und Nation,
Machtblöcke, der wissenschaftlich-technische Fortschritt, aber auch das
einzelne Individuum. Zu diesen Formen der prekären Moderne gehören
insbesondere die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Ist der Kapitalismus
allein der schon von Hobbes so genannte „übrig gebliebene Wolf“, so
kommt es zur Ersetzung von Gott durch Geld, wie Falk Wagner es
analysiert hat.1 Die Bankhäuser überbieten in ihrer Pracht die Sakral-
bauten. Den Ersetzungsprozessen entspricht auf der realpolitischen Ebene
oft das Totschlagen, auf der ideologischen Ebene vor allem das Totsagen,
das in der Moderne und Postmoderne spätestens seit Nietzsche zu einem
regelrechten Sport geworden ist: Dem „Tod Gottes“ folgte der Tod des
Subjekts, das Ende des Menschen, das Ende der Moderne, das Ende der
Postmoderne, das Ende der Geschichte. Ich plädiere daher seit längerem

1 Falk Wagner, Geld oder Gott? Zur Geldbestimmtheit der kulturellen und religiçsen
Lebenswelt, Stuttgart 1984.
Dialektik der Transzendenz bei Benjamin 73

schon für ein Ende des Endes bzw. für den Tod des Totsagens.2 Dem
tatsächlichen Weiterleben religiöser Bestände kommt in den Gesell-
schaften der Profanität ein eigentümlicher Status zu. Man benötigt keine
Psychoanalyse, um von einer variantenreichen Wiederkehr des Ver-
drängten zu sprechen. Allein der emphatische Gebrauch des mit fraglosen
Sinnansprüchen verbundenen Wortes „Kult“ in der Alltagssprache und
Jugendkultur, die Phänomene der Idolbildung in Sport- und Unterhal-
tungsindustrie, der Eventcharakter spektakulärer öffentlicher Inszenie-
rungen zeugen von solchen Prozessen. Substitute des Absoluten haben
sich aber allesamt als unzulänglich erwiesen. Die Untauglichkeit der
Surrogate zeigt sich auch in pseudo-theologischen und pseudo-meta-
physischen Ansprüchen von Wissenschaften auf der einen, von subjek-
tivistisch-irrationalen Strömungen auf der anderen Seite. Vom Urknall
bis zur schwarzen Messe, von Esoterik über Exotismen bis zum Ewigen
Leben durch Gentechnologie und Klonierung ist alles auf dem Markt.
Dem trotzen ein reduktionistischer Szientismus sowie ein religiöser
Fundamentalismus, sei er nun jüdisch, christlich oder islamisch. Insbe-
sondere dem kritischen Blick auf die Wissenschaften fallen seit langem
pseudo-wissenschaftliche Quasi-Metaphysiken auf. Sie bilden sich um
quasi-absolute Grundbegriffe, um Totalitätssurrogate wie „Funktion“,
„System“, „Struktur“, „Interpretation“, „Konstruktion“, aber auch
„Kontingenz“, „Risiko“ oder „Chaos“ – oder gar „Blase“. Solche alles
erklärenden Metaphysiksurrogate gibt es in der Physik, in der Kosmo-
logie, in der Biologie und in der Soziologie ebenso wie in der modischen
Kulturphilosophie. Was auf diesem Jahrmarkt herumgeboten wird, trägt
sein rasches Verfallsdatum allerdings schon auf der Stirn geschrieben. Für
die Gegenwart gilt: Die beiden Seiten einer ausgefransten Entwicklung –
hybrider Szientismus und Fundamentalismus, kapitalistische Weltöko-
nomie und irrationaler religiöser Dogmatismus – ergänzen sich derzeit zu
einer prekären negativen Dialektik. Ersichtlich führen die geschilderten
Prozesse nicht die besten Traditionen der okzidentalen Rationalitätsge-
schichte weiter.
Die geschilderten Verdinglichungs- und Irrationalisierungsprozesse
wurden von der kritischen Philosophie des 20. Jahrhunderts umfassend
analysiert und auf ihre Gründe befragt. Meine These ist nun aber darüber
hinaus, dass gerade die wichtigsten Autoren, die dies geleistet haben,
gleichzeitig auf ihrer Ebene der Reflexion die radikal-kritische Grund-

2 Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische
Einfhrung, München 1989.
74 Teil 1. Religionsphilosophie

lagenreflexion abbrachen und charakteristische Substitutionsbildungen


des Absoluten schufen. Dies gilt exemplarisch für Heidegger, Wittgen-
stein, Adorno, Habermas und Derrida. Systematisch bin ich der Auffas-
sung, dass wir heute in der Philosophie nicht hinter deren negativ-kri-
tische Analysen zurückfallen dürfen, dass aber ein anderer Weg philosophisch-
theologischer Grundsatzreflexion mit Benjamin über sie hinausführt.3 Die
kritischen Leistungen der Autoren will ich hier nicht thematisieren,
sondern nur kurz ihre charakteristischen Substitutionsbildungen ins
Bewusstsein rufen.
1. Heideggers Ersatzbildung ist das „Sein“. Wie eine göttliche Instanz
agiert es geschichts- und sprachschöpferisch, es ist verborgen und entbirgt
sich, es schickt Fug und Unfug, es lichtet und wohnt in der Sprache,
seinem Haus. Mit diesem Entwurf einer vielfach kritisierten Privatmy-
thologie wird der späte Heidegger aus Gründen seiner radikalen Meta-
physik- und Ontologiekritik schließlich zu einem katholischen Hesiod.4
Wichtige Züge dessen, was er im unverfügbaren Sein und mit der
ontologischen Differenz andeutet, lassen sich ohne die rationale theo-
logische und mystische Tradition des Abendlandes nicht begreifen. Auch
behält er in seinem großen Spiegel-Interview die religiöse Perspektive
antizipierend bei: „Nur noch ein Gott kann uns retten.“5 Aber die
Wende gegen die gesamte Genesis der okzidentalen Rationalität, gegen
die Traditionen der praktischen und politischen Vernunft hindert Hei-
degger an einer rationalen Rezeption der kritischen Transzendenzreflexion, die
in der europäischen Tradition z. B. bei Plotin und Dionysios Areopagita,
bei Thomas und Duns Scotus sehr wohl ein Bewusstsein der ontologi-
schen Differenz – bei gleichzeitiger Kritik an der Gnosis – einschloss. Im
Grunde mündet die das Kind mit dem Bade ausschüttende Radikalkritik
Heideggers wie schon die Nietzsches in eine neuheidnische Remythi-
sierung. Wenn alles nur Wille zur Macht ist, und nichts außerdem, dann
hilft wirklich nur noch die Bejahung der Ewigen Wiederkehr des
Gleichen. Wenn die Verfehlung der Wahrheit des Seins wirklich bereits
vor den Vorsokratikern einsetzte und bei Platon schon gipfelte, dann muss
allerdings die Welt- und die Seinsgeschichte insgesamt „verwunden“ und
ein „anderer Anfang“ erwartet werden. Denn bisherige Theologie und

3 Vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existenzial- und Sprachanalysen


zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003.
4 Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod, a.a.O..
5 Das Interview stammt vom 23. 9. 1966, veröffentlicht in: Der Spiegel (31. Mai
1976), 193 – 219.
Dialektik der Transzendenz bei Benjamin 75

Metaphysik sind an der Verfallsgeschichte wesentlich mit schuld. Sie


unterliegen selbst der Seinsvergessenheit, die zur Gottverlassenheit
führte. Das „Seyn“ wird als mit Attributen der Personalität versehene
wirkende Macht konzipiert; es „spricht an“ und „versagt sich“ den
wenigen „Zukünftigen“, „auf die als die rückwegig Er-Wartenden in
opfernder Verhaltenheit der Wink und Anfall der Fernung und Nahung
des letzten Gottes kommt.“6 Die Schreibung „Seyn“, dann noch die das
Geheimnishafte steigernde kreuzweise durchgestrichenen Variante von
„Sein“ sind typische Züge dieses Substituts des Absoluten bzw. Gottes.7
Dieser Befund gilt auch dann noch, wenn wir Heidegger darin folgen,
dass er mit dem seinsgeschichtlichen Denken bzw. „Andenken“ des Seins
nur dem „Fehl“, der Abwesenheit Gottes in der Gegenwart der mo-
dernen Welt entspricht.8
2. Beim frühen Wittgenstein wird der alles umfassende Bereich – dass
die Welt ist, Gott, der Sinn des Lebens – als „das Mystische“ und
„Unsagbare“ von innen her aus der wissenschaftlichen und logischen
Rationalität ausgegrenzt. Für den emphatisch ausgezeichneten Bereich
des Sinns bleibt nur das „Schweigen“. Wittgensteins Lebenspraxis, sein
Rückzug ins Kloster und als Dorfschullehrer, seine langjährige existen-
tielle Beschäftigung mit Kierkegaard – sie zeugen von einer religiösen
Ebene, die mit der philosophischen Reflexion nicht mehr explizit und
rational vermittelt wird, sondern Tagebüchern und persönlichen Ge-
sprächen vorbehalten bleibt. Auch hier gilt: Während die kritischen, v. a.
sprachkritischen Einsichten auch des späten Wittgenstein (wie die On-
tologiekritik Heideggers) für eine künftige philosophisch-theologische
Reflexion nicht verzichtbar sind, so ist seine eigene Position hier nur
indirekt, hinweisend-zeigend. Die Rede von „Gott“, vom „Sinn“ und
vom „Mystischen“ im Tractatus zehrt – wie die theologischen Implika-
tionen des Heideggerschen „Seins“ – von den irreduziblen Sinntradi-
tionen v. a. christlicher Theologie, ohne die sie gar nicht erst verständlich
wären. Aber sie bleiben gleichsam Leerstellen und Platzhalter eines
Gottes, der der Vernunft und der Sprache vollends entzogen scheint. Der

6 Martin Heidegger, Beitrge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA III/65, Frankfurt


a.M. 1989, 395.
7 Martin Heidegger, „Zur Seinsfrage“, in: ders., Wegmarken, Frankfurt a.M. 1967,
238 f.
8 Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod, a.a.O., v. a. 175 –
221.
76 Teil 1. Religionsphilosophie

Vergessenheit des Seins bei Heidegger entspricht die Unsagbarkeit des


Sinns bei Wittgenstein.
3. Eine weitere Spielart der Substitute des Absoluten neben Witt-
gensteins mystischem Dass des Weltsinns und Heideggers sich entber-
gend-verbergendem, abwesend-anwesendem Sein ist das „Nicht-Iden-
tische“ bei Adorno. Hier gilt: Da das Absolute nicht mehr positiv gedacht
oder gar expliziert werden kann, „wird es“ nach einer treffenden For-
mulierung Theunissens „immer kleiner“.9 Ebenso wie das Mystische und
das Sein ist auch das Nicht-Identische unsagbar bzw. vergessen. Denn
alles notwendigerweise identifizierende Denken verfehlt es von vorn-
herein. Eine eschatologische Utopie der Erkenntnis unverkürzter, nicht-
verdinglichter Individualität freilich leitet Adornos Denken untergrün-
dig. Er verschiebt seine Substitute des Absoluten angesichts des in der
Dialektik der Aufklärung analysierten universalen Verblendungszusam-
menhangs in den Bereich avantgardistischer Kunst. Versatzstücke einer
neuplatonisch inspirierten Ästhetik von Ekstasis, Pleroma und Plötzlich-
keit (exaiphnes) verbinden sich, so scheint es zumindest, mit einer keno-
tischen Christologie. Schönbergs Musik hat „alle Dunkelheit und Schuld der
Welt […] auf sich genommen“.10 Erst der eschatologische Zusammenfall
von ästhetischer Erfahrung und begrifflicher Diskursivität ergäbe nach
Adorno – er folgt hier Benjamin – die „wahre Sprache“, deren Idee „die
Gestalt des göttlichen Namens“ ist.11 Es wird sichtbar: Paradigmen der
Transzendenz werden in esoterischen Randbereichen angesiedelt, sie
werden marginalisiert bzw. werden in Stilformen rhetorisch aufgehoben.
Hier war – dies noch zur Verortung der klassischen kritischen Theorie –
der späte Horkheimer wiederum weniger kryptisch, wenn er von der
„Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ sprach und die Sätze schrieb:
„Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel.“ Und: „Zugleich
mit Gott stirbt auch die ewige Wahrheit“.12

9 Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in: Ludwig von Friedeburg/


Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a.M. 1983, 41 – 65,
dort 65.
10 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: ders., Gesammelte
Schriften Bd. 12, Frankfurt/M. 1975, 126.
11 Theodor W. Adorno, Fragment ber Musik und Sprache, in: ders., Gesammelte
Schriften Bd. 16, Frankfurt a.M. 1978, 252.
12 Vgl. dazu Jürgen Habermas, „Zu Max Horkheimers Satz ,Einen unbedingten
Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel‘“, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt a.M.
1991, 110 – 126.
Dialektik der Transzendenz bei Benjamin 77

4. Auch in Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns


erfolgt eine sprachliche Anverwandlung des Sakralen. Habermas geht es
darum, die Einheit der Vernunft in der kommunikativen Alltagspraxis
zurückzugewinnen, nachdem seiner Auffassung nach „alle substantiellen
Vernunftbegriffe kritizistisch aufgelöst worden sind“.13 Gegenüber kul-
tisch-rituellen Vergegenwärtigungsformen der emphatisch verstandenen
Heilswahrheit stelle die Versprachlichung eine approximative „kom-
munikative Verflüssigung des religiösen Grundkonsenses“14 dar. Dass die
transzendentale bzw. ideale Kommunikationsgemeinschaft sowohl in
ihrer Herkunft aus den Grundgedanken von Josiah Royce und Charles S.
Peirce als auch in der Konzeption von Karl-Otto Apel von theologischen
Modellen und religiösen Vorgestalten perfekter Transparenz und
Kommunikation geprägt bleibt, wurde schon früh z. B. in der kritisch-
rationalistischen Kritik an diesen in der Sicht von Hans Albert „trans-
zendentalen Träumereien“ deutlich. Der Untertitel des kritischen Buches
von Albert aus dem Jahr 1975 lautet dementsprechend „Karl-Otto Apels
Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott“.15 Und in der Tat erklärt
auch Habermas die Diskursgemeinschaft zum Substitut des Heiligen in
der Gegenwart:
Allein die zur Diskursethik entfaltete, kommunikativ verflüssigte Moral kann
[…] die Autorität des Heiligen substituieren. In ihr hat sich der archaische
Kern des Normativen aufgelöst, mit ihr entfaltet sich der rationale Sinn von
normativer Geltung.16
5. Noch ein letztes Beispiel eines Substituts des Absoluten sei kurz
beleuchtet. Es ist der Begriff der „Differenz“, wie er bei Deleuze, Lyotard
und v. a. bei Derrida in den letzten dreißig Jahren sehr wirksam entfaltet
wurde. Er meint die Instanz sprachlichen Sinns, deren Schwund und
Entzug, deren Abwesenheit man nie in Anwesenheit verwandeln kann.
Strukturell wiederum der traditionellen Konzeption der Ferne und Nähe,
der abwesenden Anwesenheit Gottes konform, entfaltet sich um die
Differenz, verfremdet wie das durchgestrichene „Sein“ Heideggers als
diffrance, im Frühwerk Derridas eine Gruppe von ehemals metaphysisch

13 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a.M.


1981, 340.
14 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a.M.
1988, 126, vgl. 140.
15 Hans Albert, Transzendentale Trumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein
hermeneutischer Gott, Hamburg 1975.
16 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 140.
78 Teil 1. Religionsphilosophie

aufgeladenen Begriffen, deren wichtigster der der „Spur“ ist. Den me-
taphysikgeschichtlichen Hintergrund bildet hier Plotins Uwmor-Begriff, der
im neuplatonischen Christentum als vestigium aufgenommen wird. Ins-
besondere, wenn Derrida das allen Unterscheidungen noch vorauslie-
gende Geschehen als archi-trace, als „Ur-Spur“ bezeichnet und es für älter
als das Sein erklärt, werden inmitten hermeneutischer Theoriebildung der
Postmoderne theologisch hochkomplexe und voraussetzungsreiche
Termini in andere Kontexte transferiert, ohne deren ursprüngliche Be-
deutung und Herkunft zu explizieren, um ihr suggestives Potential und
ihre theologisch-metaphysische Sinndimension durchaus erfolgreich zu
beerben. Anders gesagt: Die gesamte Reflexion der Moderne hat einen
verschwiegenen, oft verdrängten theologischen Subtext.
Den Substituten des Absoluten bzw. Gottes – dem Sein, dem Mys-
tischen, dem Nicht-Identischen, der Kommunikationsgemeinschaft, der
Differenz – eignen folgende Strukturmerkmale: Sie sind 1. nicht religiös,
metaphysisch oder theologisch im traditionellen Sinne verstehbar. Sie
sind 2. allerdings auch ohne den geschichtlichen Hintergrund und kul-
turellen Kontext von Mystik, Metaphysik, Christentum, Neuplatonismus
und Gnosis nicht angemessen verstehbar. Ihnen eignet 3. starke Nega-
tivität: Unsagbarkeit, Verborgenheit, Verdecktheit; deswegen werden sie
übersprungen, übersehen, vergessen, verkannt, und das hat unheilvolle
Folgen, denn ihnen kommt 4. in Wahrheit ein eminenter, erhabener,
emphatisch auszuzeichnender Status zu, ein Ausnahmestatus, der in
Wirklichkeit von herausragender praktischer Bedeutung für das wahre
menschliche Welt- und Selbstverständnis ist. Die mit den aufgezeigten
Substituten verbundene Dimension zu begreifen, das ist die eigentlich
wahre, rettende Einsicht der Philosophien von Heidegger, Wittgenstein,
Adorno, Habermas und Derrida. Welche Konsequenzen verbinde ich mit
der skizzierten Analyse? Meinem Urteil nach ist es in der systematischen
Gegenwartsphilosophie angesichts der Sonderbildungen und ihrer Wir-
kungsgeschichte verstärkt erforderlich und angeraten, viel expliziter an
Traditionen der Religion, der Theologie, der Metaphysik und (ratio-
nalen) Mystik anzuknüpfen und sich bewusst mit ihnen auseinander zu
setzen, anstatt diese parasitär zu beerben oder sie bloß indirekt voraus-
zusetzen, ohne sie zu klären. Im Rahmen einer kritischen philosophi-
schen Theologie und Metaphysik gilt es, sich wieder mit den Originalen,
mit den Vor- und Urbildern der genannten Sekundärbildung zu befassen,
ihren spezifischen Sinn und genuinen Wahrheitsanspruch erneut frei-
zulegen und ihre praktische Bedeutung für das Welt- und Selbstver-
ständnis des Menschen im Dialog von Philosophie, Theologie und
Dialektik der Transzendenz bei Benjamin 79

Religionen herauszuarbeiten. Ein allgemeines Verdikt über die meta-


physische Wahrheit und über die Fehlentwicklung der gesamten okzi-
dentalen Rationalitätsgeschichte – sie tragen dazu ebenso wenig bei wie
die Wettbewerbe im Totsagen und Für-Beendet-Erklären von theolo-
gischen, metaphysischen und religiösen Inhalten, Themen und ganzen
Epochen, die leider zur üblich gewordenen „Logik“ vieler gegenwärtiger
Diskurse gehören.

2
Als Kontrastfolie zu dieser Analyse dient mir im zweiten Teil meines
Vortrags das Werk Walter Benjamins. Die These von den Ersatzbil-
dungen für das Absolute in der Reflexion und Praxis der Moderne – in
der Ökonomie, im gesellschaftlichen Bewusstsein und in der Reflexion –
wird ergänzt durch die These, dass Benjamin eine solche Substitutions-
bildung konsequent vermeidet. Wie ist das möglich? Die Antwort ist
einfach und berührt doch alle zentralen Aspekte des Denkens von
Benjamin. Eben weil Benjamin ein irreduzibles Transzendenz- und
Eschatologieverstndnis hat, welches sich begrifflich völlig der Funktiona-
lisierung und der reflexiven, ethischen oder politischen Indienstnahme
verweigert, geradezu radikal sperrt, eben deswegen kann er unklare Sä-
kularisierungskategorien vermeiden, eben deswegen gelingt es ihm,
Profanität anders zu begreifen, und auf diese Weise auch eine andere
Perspektive von Materialismus und Praxis zu entwickeln. Zu fragen ist,
wie diese genuin theologische Dimension von Benjamin gedacht wird.
Entspricht sie strukturell den Entwürfen der Dialektischen Theologie? Es
muss gefragt werden, ob dieses radikale Transzendenzverständnis kryp-
tognostische Züge aufweist, ob es somit der Habermas‘schen Kritik
ausgesetzt ist: Benjamins Denken sei anti-evolutionistisch und zeige ei-
nen manichäischen Blick.17 Meine abschließende These weist diese Kritik
zurück und zeigt den Weg einer möglichen systematischen Rekon-
struktion für die Gegenwart auf.
1. Zunächst zeichnet sich Benjamins Ansatz durch den konsequent
durchgehaltenen historischen Materialismus und die dauernde Bezug-
nahme auf die konkrete Leidensgeschichte der Menschen aus. Mit dieser

17 Vgl. dazu Jürgen Habermas, „Bewußtmachende oder rettende Kritik. Die Ak-
tualität Walter Benjamins“, in: ders., Politik, Kunst, Religion, Stuttgart 1978, 60 f.,
76, 86 f.
80 Teil 1. Religionsphilosophie

konsequenten Rückbindung der Reflexion in praktischer Absicht ist bereits


eine anti-idealistische, ideologiekritische Korrektur quasi-mythischer,
nur erkenntniskritischer, in der Reflexion oder in der Subjektivität
mystischer Erfahrung verbleibender Surrogate der Transzendenz ganz
grundsätzlich verbunden. Ein bloß theoretisches, idealistisches Ver-
ständnis des Absoluten bzw. von Transzendenz ist für Benjamin – wie ja
auch für Kant – ausgeschlossen. Das Transzendenzverständnis muss sich
auf die konkrete Geschichte der wirklichen Menschen beziehen. Ge-
genüber der „Seinsgeschichte“, dem „Mystischen“, der „Nicht-Identi-
tät“, der idealen Kommunikation und der innertextuellen Differenz-
verkettung ist dieser materialistische Bezug eine deutliche, anti-
idealistische Alternative, die sich auch kritisch auf die Substitute der
Transzendenz im Kapitalismus zurückbeziehen lässt.
2. Mit dieser materialistischen Weichenstellung verbunden ist ferner
eine konsequente Kritik der politischen Theologie und mithin aller Ver-
suche, genuin religiöse Kategorien für weltliche, politische Zwecke und
Herrschaftsansprüche zu funktionalisieren. Deswegen analysiert Benjamin
im Trauerspielbuch die theokratischen Ansprüche der Gegenreformation
als Ausfall der Eschatologie und als Wegfall der Transzendenz. Weder
politische noch ökonomische innerweltliche Herrschaftsformen können
einen solchen Anspruch erheben. Benjamin argumentiert hier auf der Linie
der prophetischen, biblischen Götzenkritik und Götzenpolemik, auf der
Linie der religiösen Religionskritik, die sich in der Erzählung von der
Zerstörung des Goldenen Kalbes verdichtet. Damit sind auch irrige Vor-
stellungen von der Säkularisierung substantiell religiöser Sinngehalte in eine
weltlich-immanente Form der Kritik ausgesetzt. Solche latent substanz-
ontologischen, geschichtsphilosophischen Großmodelle verfehlen nach
Benjamin die authentische Transzendenzdimension ebenso wie die Ebene
der Weltlichkeit, der Profanität.
3. Es geht Benjamin also darum, aus sinnkriterialen Gründen die
Fundamentalunterscheidung von Gott und Welt, Transzendenz und
Profanität, Eschatologie und Geschichte, Erlösung und Befreiung kon-
sequent durchzuhalten, und das bedeutet für ihn, der Erfahrung des
Eingedenkens gerecht zu werden:
[…] im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die es uns verbietet, die
Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wie wir sie in
unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.18

18 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften V (künftig zitiert als


Dialektik der Transzendenz bei Benjamin 81

Die theologische Perspektive ist nicht Medium einer Gesamtinterpre-


tation der Geschichte, sondern kritische Instanz radikaler Infragestellung
aller Immanenz. Nur aus dieser Perspektive ist somit nach Benjamin
„rettende Kritik“ möglich – im Vergangenen, gerade auch im Ge-
scheiterten und Verlorenen, können wir deshalb eine Hoffnungsdi-
mension verorten. Die genuin religiöse Dimension der Hoffnung auf
Erlösung sprengt so alle Üblichkeit und lineare Kontinuität der Ge-
schichte und der Erfahrung. Die genuine Transzendenzperspektive der
Erlçsung ist auf einer anderen Ebene der existentiellen Erfahrung zu
verorten als die Perspektive innerweltlicher Befreiung und geschichtlicher,
emanzipatorischer Praxis. Erlösung bedingt einen existentiellen Welt-
wandel. Deswegen kann Benjamin gerade radikale Profanität als Wi-
derschein der Transzendenz denken, das Profane als Kategorie des „lei-
sesten Nahens“ des Reichs.19 Radikale Transzendenz und Eschatologie
ermöglichen gerade radikale Weltlichkeit und befreiende Praxis. Das
besagt ja auch: Menschliche Praxis wird fundamental davon befreit, Heil,
Absolutes, selbst zu bewirken. Nur so ist eine unbedingte Trans-
zendenzperspektive zu wahren, die nicht für das Diesseits zu verein-
nahmen ist. Diese Konzeption Benjamins scheint einerseits mit radikalen
Unterscheidungsintentionen von Kant (und auch Wittgenstein) kom-
patibel zu sein.20 Andererseits stellt sich die Frage nach einer Abgrenzung
zum gnostischen Dualismus. Jedenfalls denkt das Theologisch-politische
Fragment absolute Transzendenz in ihrer Bedeutung für Geschichte,
Immanenz, und Weltgeschichte, aber gleichzeitig konsequent als absolut
und daher inkommensurabel mit dem, was wir können und mit Politik.
Profanes und Messianisches, Ziel und Ende, Vorletztes und Letztes sind
streng irreduzibel aufeinander. Wohl jedoch hat Transzendenz einen
irreduziblen Bezug auf die Existenz des einzelnen Menschen. Nur die
Perspektive absoluter Transzendenz entbirgt ein anamnetisches Ver-
nunftpotential, das in keinem linearen Fortschrittsoptimismus aufgeho-
ben ist. Kurz: Die authentische Transzendenzperspektive allein eröffnet
die Tiefenstruktur der praktischen Vernunft und solche Dimensionen wie

GS V), hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt


a.M. 1991, N 8 1; 588 f.
19 Walter Benjamin, Theologisch-politisches Fragment, in: Gesammelte Schriften II,
hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1977,
203 f.
20 Vgl. dazu Rudolf Langthaler, „Benjamin und Kant oder: über den Versuch,
Geschichte philosophisch zu denken“, in: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 2
(2002), 203 – 225.
82 Teil 1. Religionsphilosophie

Gedächtnis, Erinnerung und Trauer über das Leiden der Unschuldigen,


die „Wahrnehmung des Unrettbaren“.21
4. Betrachten wir die eschatologisch-messianischen Trans-
zendenzkategorien Benjamins in einem letzten Schritt daraufhin, ob sie
sich einem quasi manichäischen Blick verdanken und so definitiv anti-
evolutionistisch sind, wie Habermas meint. Zunächst wurde deutlich,
dass die Konzeption radikaler Transzendenz bei Benjamin geradezu da-
durch definiert ist, dass keine weltlichen Substitute oder Surrogate für sie
denkbar und möglich sind. Mythisierungen weltlicher Instanzen, poli-
tische Hoffnungen als Hoffnungen auf endgültiges Heil, Herrschafts-
formen als göttlich legitimiert – das sind fundamentale Missverständnisse,
die sich in der Praxis verheerend auswirken. (Die Probleme des Funda-
mentalismus der Gegenwart auf islamischer wie christlicher Seite sind von
dieser Analyse betroffen.) Im Unterschied zu den vorgestellten Substi-
tuten des Absoluten enthält die Transzendenzdimension bei Benjamin
einen ständigen Rückbezug auf die materialistische Basis der gesell-
schaftlichen Praxis einerseits, auf die konkrete, singuläre Existenz der
einzelnen Menschen andererseits. Schließlich wird beim Aufweis der
anamnetischen Tiefendimension von Vernunft und Aufklärung diese
praktische Dimension ins Zentrum gerückt: Die Transzendenzdimension
der Hoffnung auf Erlösung wird als Sinnpotential auch vergangener,
verlorener Augenblicke konkreter menschlicher Existenz gedacht und
entfaltet. In Benjamins rettender Kritik soll für jeden Augenblick dessen
ekstatische Potentialität im Horizont von Hoffnung auf Erfüllung mit-
gedacht werden. Diese Transzendenzperspektive auf Rettung geht nicht
auf und kann nie aufgehen in fortschreitender, innergeschichtlicher
Emanzipation, auch nicht in Erfahrungen des Glücks einzelner Men-
schen. Auf diese Weise hält Benjamin einen irreduziblen theologischen
und eschatologischen Transzendenzüberschuss fest, der in seinem Den-
ken allererst die anderen Bereiche der menschlichen Geschichte und
Praxis freisetzt und angemessen erfahrbar macht. Er denkt Unverfüg-
barkeit und Negativität der konkreten Geschichte als Ort des Ereignisses
von Transzendenz, die inkommensurabel mit den Begebenheiten der
Profanität ist und bleibt. Es ist, in anderer systematischer Reformulierung,
gerade die „Grenze der Verfügbarkeit über die Bedingungen unseres

21 Langthaler, a.a.O., 222.


Dialektik der Transzendenz bei Benjamin 83

Handelns“22, die die Tiefendimension der praktischen Vernunft eröffnet:


das Sinnpotential einer genuinen Transzendenzperspektive, einer nicht
säkularisierbaren und nicht substituierbaren Hoffnung auf Rettung.
Systematisch bin ich der Auffassung, dass sich Benjamins Denken im
Kern auch unabhängig von dessen oft kryptischer, literarischer Form
aneignen lässt: Mit Kant und Wittgenstein im Sinne einer Topik
sprachlicher Vernunftpotentiale, deren spezifische Verortung sie in ihrem
Eigenwesen freisetzt, und die sich doch – auf eine nicht hierarchische,
konstellative Weise – sinnvoll ergänzen und erläutern. In dieser Topik
nimmt die religiös-eschatologische Transzendenzperspektive einen ver-
tikalen, synchronen, augenblicklichen, ekstatisch-pleromatischen Ort
ein, die materialistische Emanzipationsgeschichte einen diachronen, li-
nearen, horizontalen Ort. Aber mit Kant, Wittgenstein und Benjamin
gilt: Wir kennen die Grammatiken beider Sprachspiele, und um ihren
genuinen Geltungssinn zu bewahren, dürfen wir sie nicht durcheinander
bringen und damit die Sinnpotentiale beider verspielen.
Benjamins systematische Stärke sehe ich im Kontext einer neu zu
findenden Topik der Entbergung (Freisetzung) heterogener Vernunft-
potentiale, die nur kritisch-dialektisch aufeinander zu beziehen sind und
die anderenfalls der philosophischen Reflexion als Substitute oder Sur-
rogate verloren gingen. So hat Benjamin Materialismus und Messianismus
konsequent dialektisch gesehen, in seiner bildlichen Ausdrucksweise:
Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist
ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde
nichts was geschrieben ist, übrig bleiben […].23
Entscheidend ist, dass die Ebene der Transzendenz stets sowohl in ihrer
irreduziblen Authentizität als auch, paradoxal, in ihrer Bezogenheit auf
die materialistische Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse
gesehen wird.
Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks. […]
Wenn eine Pfeilrichtung das Ziel, in welchem die Dynamis des Profanen
wirkt, bezeichnet, eine andere die Richtung der messianischen Intensität, so
strebt freilich das Glückssuchen der freien Menschheit von jener messiani-
schen Richtung fort, aber wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf
entgegengesetzt gerichtetem Wege zu befördern vermag, so auch die profane

22 Andreas Arndt, „Dialektik und Hermeneutik. Perspektiven einer frühromanti-


schen Konzeption“, in: Thomas Rentsch (Hg.), Philosophie – Geschichte und
Reflexion, Dresden 2003, 65 – 85, dort 85.
23 Benjamin, Passagen-Werk, a.a.O., 588.
84 Teil 1. Religionsphilosophie

Ordnung des Profanen das Kommen des messianischen Reiches. […] Denn
im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm
der Untergang zu finden bestimmt […].24
Man könnte reformulieren: Nur im Widerschein absoluter Transzendenz
zeigen sich auch die transpragmatischen Sinnbedingungen aller Praxis
und Rationalität. Letztere aber müssen für sich stehen, für sich selbst
sorgen. Daher kann sich „nichts Historisches […] von sich aus sich auf
Messianisches beziehen wollen“.25 Ebenso konsequent unterscheidet
Benjamin in der Wahlverwandtschaften-Arbeit „scheinhafte“ von „wahrer
Versöhnung“. Wahre Versöhnung gibt es
in der Tat nur mit Gott. Während in ihr der Einzelne mit ihm sich versöhnt
und nur dadurch mit den Menschen sich aussöhnt, ist es der scheinhaften
Versöhnung eigen, jene untereinander aussöhnen und nur dadurch mit Gott
versöhnen zu wollen. [Dennoch hat] die Versöhnung, die ganz überweltlich
und kaum fürs Kunstwerk gegenständlich ist […], in der Aussöhnung der
Mitmenschen ihre weltliche Spiegelung.26
In diesen Passagen wird sehr gut die konsequent dialektische, und d. h.:
nicht dualistische, nicht gnostische Weise des Bezuges von profaner
Materialität und theologischer Transzendenzperspektive deutlich. Dieser
Bezug lässt sich eben weder natural noch supranatural reduzieren und
auflösen. Deswegen kann Benjamin im Passagen-Werk schreiben:
Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abge-
schlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen
machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfah-
rung, die es uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu
begreifen, so wenig wie wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu
schreiben versuchen dürfen.27
Nur so ist verstehbar, dass Benjamin im Festhalten eines echten Eschaton
schreiben kann: „Es schwingt […] in der Vorstellung des Glücks un-
veräußerlich die der Erlösung mit“28, sowie: „Die echte Konzeption der
historischen Zeit beruht ganz und gar auf dem Bild der Erlösung“.29
Wir berühren mit diesem Gedanken den Kernbereich der philoso-
phischen Reflexion absoluter Transzendenz bei Benjamin. Einerseits

24 Benjamin, Theologisch-politisches Fragment, a.a.O., 203 f.


25 Ebd.
26 Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, GS I, 184.
27 Benjamin, Passagen-Werk, a.a.O. (Anm. 18).
28 Benjamin, ber den Begriff der Geschichte, GS I, 693.
29 Benjamin, Passagen-Werk N 13 a, 1; GS V, 600.
Dialektik der Transzendenz bei Benjamin 85

denkt Benjamin Transzendenz als ekstatisch-plötzliches, augenblickliches


Erfüllungsgeschehen in seiner Blitzhaftigkeit.30 Die Dimensionen der
Apokatastasis und der Wiederbringung aller Dinge bei Origenes und
Irenäus bewegen sich auf dieser Ebene.31
Aber andererseits denkt Benjamin die ekstatische Aufsprengung selbst
dialektisch: als „dialektisches Bild“, d. h. reflexiv und erkenntnisbezogen,
und vor allem sprachkritisch.32 Es wird also nicht unkritisch eine Ebene
mystischer Unmittelbarkeit – gleichsam als letzte Lösung aller Probleme –
als scheinbar verfügbar angesetzt. Die so eröffnete „Rettung […] lässt
immer nur an dem, im nächsten Augenblick schon unrettbar verlorenen
sich vollziehen“.33 Die Gegenwart der Erlösung bleibt paradox, das In-
einander von Ekstasis und Transzendenz gestattet gerade keine mystische
Vereinigung, sie eröffnet in ihrer Negativität erneut den Blick auf die
Praxis der menschlichen Geschichte mit ihren Entstellungen und ihrer
Verlorenheit wie auch mit ihrem authentischen, vergänglichen Glück.

30 Vgl. ebd., 570.


31 Vgl. dazu Andreas Pangritz, Vom Kleiner- und Unsichtbarwerden der Theologie,
Tübingen 1996, 184 ff.
32 Benjamin, Passagen-Werk: N 10 a, 3; GS V, 595.
33 A.a.O., 591 f.
Negativität versus Metaphysik – mit Tillich gegen
Tillich. Kritische Bemerkungen zu seiner Religions-
und Kulturphilosophie der Zwanziger Jahre
1. Tillichs Entfremdungsanalysen der Zwanziger Jahre

Ich möchte zunächst auf einige grundlegende Voraussetzungen des


philosophischen und theologischen Denkens von Paul Tillich eingehen,
Voraussetzungen, ohne die die Eigenart seines Zugriffs nicht verständlich
ist. Sie lassen sich biographisch seit den Erschütterungen durch die Er-
lebnisse im Ersten Weltkrieg unter den Titel „Existentialismus“ ein-
ordnen. Ich werde dann kritisch die systematischen Konsequenzen
skizzieren, die Tillich aus diesen neuartigen Einsichten gezogen und die
er lebenslang beibehalten und weiter ausgearbeitet hat.
Tillich wurde zum modernen Theoretiker wie so viele andere auch
durch das konkrete Erlebnis des Ersten Weltkrieges, in dessen Stahlge-
wittern die Ideale des alten Europa, die tradierten und garantiert ge-
glaubten Ideale der humanistischen Bildungswelt des Vorkriegsbürger-
tums zertrümmert worden waren. An die Stelle gesicherter
Orientierungen war in Theorie und Politik, in Lebenswelt, Wissenschaft
und Kultur eine verwirrende Vielfalt eingekehrt, die als chaotische
Unübersichtlichkeit erfahren wurde. Die Sicherheiten der Vorkriegs-
ordnung mitsamt Kaiser und Kirche waren diskreditiert – an ihre Stelle
und auch aus ganz konkreten wirtschaftlichen Gründen war das Be-
wusstsein der Krise, einer tiefgreifenden „Krisis“ aller Orientierungen
getreten.
Heute wird beobachtet, dass das Klima der 20er Jahre in vielem dem
ähnelt, was seit geraumer Zeit als Postmoderne diagnostiziert wurde bzw.
noch wird. Auch ich denke, dass in Theorie, Politik und Kunst die
avantgardistischen Paradigmen der klassischen Moderne bereits außer-
gewöhnlich viel von dem geradezu kritisch enthalten und antizipieren,
was zu den Strukturmomenten postmodernen Denkens, Zeitgeistes und
Lebens gezählt wird. Die klassische Moderne arbeitet sich ja gerade an
Neuzeit, Aufklärung, Idealismus und ihren Prämissen kritisch ab. Und es
sind jene Prämissen, die auch der junge Paul Tillich in Zweifel zieht, um
Negativität versus Metaphysik – mit Tillich gegen Tillich 87

eine neue Grundlage zu erreichen. Welches sind diese Prämissen? Wie


werden sie kritisiert?
Die Prämissen, die Tillich in seinen frühen kritischen Theorieent-
würfen – ich gestatte mir hier Reformulierung und Konzentration –
negiert, lassen sich konzentriert so benennen:
1. Unhaltbar ist die Vorstellung eines autonomen, machtvoll sich seiner
selbst bewussten und die Welt souverän beherrschenden und gestal-
tenden Subjekts;
2. Unhaltbar ist die Vorstellung einer linearen technisch-wissenschaft-
lichen Fortschrittsgeschichte – d. h. eines Makrosubjektes solchen
Fortschritts;
3. Unhaltbar ist die Vorstellung einer linearen praktisch-politischen
Emanzipationsgeschichte – d. h. eines Makrosubjektes solchen Fort-
schritts;
4. Unhaltbar ist sowohl der Gedanke einer göttlich garantierten Seins-
ordnung, einer substrathaften Ontologie, als auch der Gedanke eines
statischen, rationalistisch-deduktiven Theorieparadigmas.
Wie sieht demgegenüber die Situation des Menschen nach Tillich aus?
Er hat nicht nur eine Reihe schwerer Katastrophen hinter sich, er lebt auch
weiterhin in einer Situation, die mit möglichen Katastrophen geladen ist.
Statt von Fortschritt spricht er von Krise. […] Er hat das Nichtsein erlebt, das
wie ein drohender Ozean alles Seiende umspült. Er hat sein Schicksal erlebt
mit seinen plötzlichen, unberechenbaren Einbrüchen in alles, was sicher
schien, in seinem Leben und in dem Leben der Völker. Er hat den Tod erlebt
als das Sterben Unzähliger, denen die Natur ein volles Leben versprochen
hatte, und er hat den Tod erlebt als stündliche Bedrohung seines eigenen
Seins. Er hat Schuld erlebt, unvorstellbar in ihren Ausmaßen für menschliche
Phantasie, und er hat erlebt, daß er unentschuldbar ist, wenn er auch nur
durch Schweigen schuldig geworden ist. […] Er hat gelernt zu zweifeln, auch
an dem, was ihm selbst das Sicherste war. Da ist keine Festung des Glaubens
geblieben, in die nicht Elemente des Zweifels eingedrungen sind. Und wenn
die Frage in ihm auftaucht, welches der Sinn seines Seins ist, dann tut sich ein
Abgrund vor ihm auf, in den zu blicken nur der Mutigste wagt, der Abgrund
der Sinnlosigkeit.1
Der moderne Ansatz Paul Tillichs besteht zunächst darin, den glau-
benslosen Menschen in der Profanität und ohne transzendenten Rück-
bezug ins Zentrum seiner Analysen zu rücken.

1 Paul Tillich, Gesammelte Werke, Bd. 3, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959,
182 f.
88 Teil 1. Religionsphilosophie

Zur Kennzeichnung dieses Vorgehens dient philosophiegeschichtlich


das allerdings missverständliche Rubrum Existentialismus. Man kann die
philosophische Eigenart der so benannten Tradition als eine radikal
vorurteilslose Analyse der rein immanenten Weltstellung des Menschen
umschreiben; als Analytik eines rein diesseitigen Welt- und Selbstver-
hältnisses des Menschen. Die Ahnenreihe einer solchen Analytik der
anthropologischen Prämissen der Moderne bilden – auch für Tillich –
Kierkegaard und Marx, Nietzsche und Freud. Je auf ihre Weise haben
diese Autoren – gegen die großen idealistischen Systeme v. a. Kants und
Hegels – den Primat existentieller Negativität und materieller Faktizität
herausgearbeitet. Es gibt keinen unabhängigen Geist und kein autonomes
Selbstbewusstsein, unabhängig von einer durchgängigen Endlichkeit,
Gebrochenheit und Gefährdetheit, Selbstverdecktheit und Selbstver-
fehlung, die Tillich mit Kierkegaard und Marx als strukturelle Selbst-
entfremdung beschreibt. Da es keine negativitätsfreie Selbsttransparenz
gibt, und keine ungebrochene, ungetrübte Erkenntnis der Wirklichkeit,
kann es auch keinen unproblematischen Bezug auf Ideale, auf das Gute
oder auf Gott geben. Solche Bezüge erscheinen vielmehr bei scho-
nungslos redlicher und genauer Betrachtung als menschlich-allzu-
menschliche Konstrukte und Projektionen. Sie entspringen letztlich der
Todesangst. Der frühe Existentialismus, die negative Anthropologie
Tillichs speisen ihre denkerische Energie wie viele Zeitgenossen aus der
Existenzdialektik Kierkegaards: allgemeine Wahrheiten, universelle
Rationalität, wissenschaftliche Objektivität – sie „gibt“ es nur in kon-
kreten Vollzügen der Aneignung, in geschichtlich begrenzten Konstel-
lationen, materiell bedingt und zufällig. Geschichtliche Bedingtheit denkt
Tillich nicht nur im Sinne subjektiver Kontingenz. Gleichermaßen
nimmt er die Analysen von Marx auf. Der bürgerliche Idealismus und
Humanismus ist auch insofern der Unwahrheit überführt, als er die
Dominanz der materiellen Produktions- und Reproduktionsbedingun-
gen für die konkreten Lebensvollzüge der Menschen illusionär miss-
achtet. Der recht verstandene Realismus der konkreten Existenz muss
somit an Marx ebenso anknüpfen wie an Kierkegaard (und später an
Freud). Diese Reflexion führt Tillich zum (religiös fundierten) Sozia-
lismus. Die Reflexion ist analytisch, sie deckt Endlichkeit, Negativität
und Bedingtheiten auf, sie führt nicht in eine idealistische, abgehobene
Ebene reinen Geistes, sondern sie führt in die konkrete soziale und po-
litische Notsituation der Gegenwart – hier die der Weimarer Republik.
Negativität versus Metaphysik – mit Tillich gegen Tillich 89

Mit Nietzsches Diktum: „Der reine Geist ist die reine Lüge.“2 Tillich
wurde Pfarrer im Arbeiterviertel Berlin-Moabit – es macht seine Stärke
aus, angesichts seiner Einsichten keinen Zweifel daran zu lassen, dass sich
der unterstellte Wahrheitsgehalt von Christentum, Humanismus und
bürgerlichem Idealismus hier bewähren muss, sonst nicht viel wert wäre.
Dies macht Tillich modern: die nach Karl Löwiths großer Darstellung
beiden Seiten des Zerfalls der Hegelschen Synthese – Kierkegaard und
Marx – aufeinander zu beziehen, „auf der Grenze“, wie er seine spätere
Selbstdeutung programmatisch betitelt.
Ein weiterer Schritt: Die Negativitätsanalysen Tillichs im apostro-
phierten Kontext verbleiben nicht im konstatierenden Aufweis bloßer
Defizite menschlicher Existenz und Praxis. Tillich versucht in seinen
frühen Jahren und auch in seiner Dresdner Zeit, die innere Feinstruktur
existentieller und sozialer Negativität genauer zu erfassen. Menschen sind
zur Selbstverwirklichung gezwungen. Die Akte der Selbstverwirklichung
vollziehen sich in der Endlichkeit: Sie sind der Fehlbarkeit, Irrtumsan-
fälligkeit, Ungesichertheit, der ständigen Gefährdetheit ausgesetzt. Ne-
gativität ist als Selbstentfremdung untilgbar, weil sie sich notwendig noch
auf sich selbst zurückbeziehen muss, um sich zu bewältigen. So steigert sie
sich zu scheinhaften Formen der Selbstmächtigkeit und der Selbsttrans-
parenz, die als Mythen, Ideale, undurchschaute Theoriekonstrukte und
Objektivitätsfetische und in imaginierten Selbstbildern ein gespenstisches
Eigenleben gewinnen, das seine Kraft letztlich nur aus der Angst und der
Einsamkeit der existierenden Subjekte bezieht. Existentielle Negativität
potenziert sich vielschichtig in der illusionären Verabsolutierung endli-
cher Konstrukte und Entwürfe.
Sie verschränkt sich mit der intersubjektiven Ebene der Negativität,
die Tillich in seinen vom Marxismus, der Soziologie Max Webers und
den Historismusstudien Ernst Troeltschs inspirierten sozialen Entfrem-
dungsanalysen thematisiert. Hier rückt – unter dem Eindruck der 20er
Jahre – das Phänomen der Macht ins Zentrum. Tillich stellt in ein-
drucksvoller realistischer Klarsicht die Unverzichtbarkeit von Macht-
strukturen heraus. Grundbedingungen sozialen Lebens sind Bedrohung,
Feindschaft, Ungesichtertheit, die Verstricktheit der Menschen in die
unüberwindliche Faktizität und Partikularität ihrer Praxis.
Es hat keinen Sinn, diese Bedingungen zu leugnen oder sie illusionär
zu beschönigen – politische Ordnungen müssen genau diesen Bedin-

2 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, in: ders., Smtliche Werke, hg. von Giorgio
Colli/Mazzino Montinari, Bd. 6, Berlin/New York 1980, 175.
90 Teil 1. Religionsphilosophie

gungen gerecht werden. Harmonistische Vorstellungen sind im Bereich


der Sozial- und Kulturphilosophie ebenso verfehlt wie im Bereich der
von Materialität und Kontingenz bestimmten Existenz des Einzelnen.

2. Neue Metaphysik als Lösung?


Um den Hintergrund für die kritischen Negativitäts- und Entfremdungs-
analysen des frühen Tillich zu begreifen, aber in weit höherem Maße, um
die eigentümlich positive Wendung zu verstehen, die er philosophisch-
theologisch auf diesem Hintergrund überraschenderweise durchführt,
genügt nicht der Hinweis auf seine Anknüpfung an Kierkegaard und
Marx, Nietzsche und Freud. Denn: Tillich weicht seine scharfen Ne-
gativitätsanalysen wieder auf; er weicht sie auf in einer Weise, die mit den
genannten Autoren unmöglich wäre. Untergründig wirkmächtig ist hier
das Erbe Schellings in Tillichs Denken, einer Rezeption v. a. auch von
dessen später positiver Philosophie der Offenbarung und der Mythologie,
die sich mit Systemgedanken des Neuplatonismus und der Gnosis ver-
bindet. Tillich promoviert in Philosophie mit der Arbeit „Die religi-
onsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre
Voraussetzungen und Prinzipien“ (Breslau 1910). Seine theologische
Lizentiatendissertation von 1912 behandelt „Mystik und Schuldbe-
wusstsein in Schellings philosophischer Entwicklung“. Die Rezeption
Schellings prädestiniert Tillichs Denken kurz gesagt dazu, alle Negativität
wieder in die Positivität einer unvermittelten Indifferenz zurückzuneh-
men – eine gedankliche Operation, die so weder mit Kant, noch mit
Hegel, und erst recht nicht mit den genannten Autoren der klassischen
Moderne möglich gewesen wäre. In einer Rede zum 100. Todestag
Schellings am 26. September 1954 bekennt Tillich: „Niemals in der
Entwicklung meines eigenen Denkens habe ich die Abhängigkeit von
Schelling vergessen.“3 Das bedeutet, knapp gesagt, die Prämisse einer
letztlichen absoluten Identität von Natur und Vernunft.
Ohne diese Beziehung philosophiehistorisch zu entfalten, möchte ich
ihre eigenartigen Konsequenzen im System Tillichs verdeutlichen. In
aller Kürze lässt sich sagen, dass Tillich seine modernen Negativitäts-
analysen aufweicht, zurücknimmt, ihrem kritischen Stachel undialektisch
zu entgehen sucht. Der philosophischen Analyse der Negativität werden
theologische Positivitäten entgegengehalten: Gott, Sein und Heil; den

3 Paul Tillich, Gesammelte Werke, Bd. 4, a.a.O., 133.


Negativität versus Metaphysik – mit Tillich gegen Tillich 91

Bedingtheiten der empirischen Kontingenz werden die Modi des Un-


bedingten entgegengestellt; der mannigfachen sozialen und existentiellen
Entfremdung werden in erstaunlicher Wendung die Perspektiven des
Ausgleichs, der Mitte, der Vollendung und des Absoluten gegenüber-
gestellt.
Charakteristisch für dieses kompensatorische Vorgehen – Tillich
nennt es später die Methode der Korrelation – ist z. B. folgende Passage:
Es ist wie ein Aufreißen der Finsternis, wenn der Blitz eine blendende Helle
über alle Dinge wirft, um sie im nächsten Augenblick in tiefster Dunkelheit
zurückzulassen. […] Wir werden in der Glaubenserfahrung durch das ent-
gegengestellt Unzugänglich-Heilige ergriffen, das […] in unsere Existenz
einbricht und uns richtet und heilt. Das ist Krisis und Gnade zugleich.4
Betrachten wir diesen charakteristischen Umschlag ins unvermittelt
Positive anhand einiger Themenschwerpunkte in Tillichs Werk; zu-
nächst zum Umschlag auf der sozialphilosophisch-gesellschaftstheoreti-
schen Ebene.
Ich hatte bereits die Machtanalysen hervorgehoben. In seinem Werk
„Masse und Geist“ von 1922 erfolgt der Rekurs auf ein machtvolles
Einheitsgefühl, das Entfremdung in Richtung auf das Unbedingte hin
überwindet:
Die mystische Masse trägt in ihrer Tiefe in unmittelbarer, ungebrochener
Weise ein einheitliches ,Prinzip‘, ein fundamentales Weltgefühl, eine
Grundstellung des Bewußtseins zu dem Unbedingt-Wirklichen, das selbst
unbewußt und ungeformt die Quelle aller Bewußtheit und Formung ist.5
Es gibt hier keine ideologiekritischen Vorbehalte hinsichtlich der Apo-
theose des – sozialistisch konzipierten – Gemeinschaftserlebnisses mehr.
Der Einzelne wird absorbiert – „wenn die Masse sich selbst als Masse
erlebt“, dann werden wir mitgerissen in eine Bewegung voll „Wucht und
Gewalt“, „die grundsätzlich ins Unendliche geht“.6 Im Erlebnisraum der
Masse zergeht die negativitätsbelastete Individualität, denn „Intuitionen
einfacher, großer Art, Hellsichtigkeiten […] können die Masse weit über
alle subjektive Intelligenz erheben.“ „Ist der Einzelne klüger, so ist die
Masse genialer. Ist der Einzelne weiser, so ist die Masse böser und besser“.7
Hier, im sozialphilosophischem Bereich, einem ausgezeichneten
Bereich der Bewährung konkreten Denkens menschlicher Existenz und

4 Paul Tillich, a.a.O. (Bd. 4), 101 f.


5 Paul Tillich, Gesammelte Werke, Bd. 2, 52.
6 Ebd., 58.
7 Ebd.
92 Teil 1. Religionsphilosophie

Praxis haben wir mithin ein erstes Beispiel verhängnisvoller mythischer


Kompensation der Negativität vor Augen, einer Kompensation, die
flagrant wird an Verherrlichungskategorien, die auf Realitäts- und
Faktizitätsphänomene angewandt werden. Steuernd hierbei ist, erst un-
tergründig, dann immer expliziter, die leitende Grundvorstellung einer
herrlichen und mächtigen Einheit des Seins, eines wahrhaft gewaltigen
unum verum, welches alle Gebrochenheit und Entfremdung hinweg-
nimmt.
Von solchen Hypotheken ist der religiöse Sozialismus Tillichs be-
lastet. Es ist selbstverständlich ein zeitbedingtes Stigma der 20er Jahre,
Existenzkategorien zu kollektivieren und zu mythisieren, bei Ernst Jünger
und Carl Schmitt, bei Heidegger und Lukács, in Gottfried Benns Essays
bis zur „Dorischen Welt“, bei Tillichs Freund Emanuel Hirsch. Das al-
lerdings entlastet nicht Tillichs eigentümlich umstandslose Remythisie-
rungsstrategien. In drei Kategorien spitzt er seine Konzeption des reli-
giösen Sozialismus zu: Dämonie, Kairos, Theonomie. Dmonie lautet die
Kategorie für die destruktive Wirtschaftsordnung des Kapitalismus. Dä-
monisch ist das Prinzip des Egoismus – nicht rein satanisch, weil es
gleichzeitig destruktiv und produktiv wirkt. Kairos ist der Titel für die
geschichtliche große Stunde, in der der massenhafte „Durchbruch“ zum
Unbedingten eines neuen, eigentlichen Seins geschieht, in der das Un-
bedingte „aufblitzt“. (Das Buch „Kairos und Logos“ entstand in der
Dresdner Zeit, erschien 1926). Theonomie meint, dass die ganze bürger-
liche Kultur und die praktische Gegenkultur letztlich transparent sind auf
das Unbedingte und Göttliche hin – in aller Profanität. Der Sozialismus
wird beschrieben mit den theologischen Grundkategorien von Krisis,
Gericht und Prophetie.
Was hier geschieht, ist eine Mythisierung sozialer und politischer
Vorgänge. Gesellschaftlich-geschichtliche Prozesse werden mit meta-
physischen Reizworten und Großetiketten versehen. Anders gesagt: Die
zutreffende Negativitäts- und Entfremdungsanalyse und Diagnose kippt
um in Hohlformen der Gewalt und in „Lösungen“, die bei näherer
Betrachtung eine prekäre Nähe zu archaischen Regressionen aufweisen.
Und vor allem: Während anfänglich – Faust 1. Teil – ideologiekritisches
Bewusstsein gerade angesichts der Gefahr illusionärer Projektionen wach
war bei Tillich, er die moderne Religionskritik wahrnahm und produktiv
aufnahm, so scheint er nun – Faust 2. Teil – erkennbare Fakten des
empirischen Bereichs auf eine inkommensurable Weise symbolisch zu
transzendieren und zu theologisieren. Solche Mystifikationen kennen wir
auch von Ernst Jünger, von Heidegger. Sie lassen sich allzu leicht als
Negativität versus Metaphysik – mit Tillich gegen Tillich 93

Selbstreflexe eines ideologischen Bewusstseins entlarven – ironischer-


weise mit eben denjenigen Mitteln, die in den anfänglichen kritischen
Analysen zum Einsatz kamen.
Auf diese Weise erlangt das Tillichsche Denken gnostisch-dualisti-
sche Züge, die wohl in einem von Schelling geprägten, in Grund und
Abgrund gespaltenen Gottesverständnis präformiert sind und sich auch in
die Christologie hinein fortsetzen.
Die sozialpolitischen Probleme erfahren „unrealisierbare und sozi-
alpsychologisch unglaubwürdige Überkonstruktionen“.8 In „Masse und
Geist“ radikalisiert sich Tillichs Sozialromantik zur erträumten Einheit
von Person und Gemeinschaft, Kirche und Gesellschaft – „Dem Wesen
nach sind Kirche und Gesellschaft eins“9 – mithin zu einem geradezu
mittelalterlichen Einheitsverständnis. Es herrscht ein großes Defizit an
pragmatischen und graduellen Kategorien.
Verfolgen wir diese Typik einer monistisch-identitätsphilosophi-
schen Absorption von Negativität noch auf den Gebieten der Ge-
schichtsphilosophie und der philosophischen Theologie selbst.
Tillichs Geschichtsphilosophie bezieht sich auf die Menschheit ins-
gesamt. Auch hier erfolgt die Kollektivierung der Existenzkategorien.10
Sie wird umgriffen und fundiert von einer Geschichtstheologie, die
ebenfalls letztlich alle Negativität und Entfremdung in sich aufsaugt –
gemäß einem triadischen Schema von Einheit, notwendiger Selbstent-
fremdung und Rückkehr, das aus dem Neuplatonismus von Plotin und
Proklos bekannt ist und dort mit den Grundbegriffen mon – prohodos –
epistroph benannt wurde. Dieses Schema kann von Tillich auch trini-
tätstheologisch besetzt werden. Es gibt demnach eine gleichsam onto-
logisch stabile Kontinuität von Offenbarung und Offenbarungsgewissheit
in der Geschichte. Es gibt nur dämonische Umwege dieser Kontinuität –
um es mit Klaus-Michael Kodalle zu sagen: Es gibt nur „kurzzeitige
Black-outs“ des Absoluten.11 Die neuplatonische Ontologie des exeilixen,
der Auswickelung, absorbiert alles Negative der Geschichte, ja, man hat

8 So zu Recht Matthias Kroeger, „Paul Tillich als Religiöser Sozialist“, in: Her-
mann Fischer (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt
a.M. 1989, 93 – 137, dort 106.
9 Paul Tillich, Gesammelte Werke, Bd. 9, a.a.O., 42.
10 Klaus-Michael Kodalle, „Auf der Grenze? Paul Tillichs Verhältnis zum Exis-
tentialismus“, in: Hermann Fischer (Hg.), Paul Tillich, a.a.O. (Anm. 8), 301 –
334, dort 321.
11 Ebd., 320.
94 Teil 1. Religionsphilosophie

den Eindruck, die christliche Dogmatik wird in der späteren systemati-


schen Theologie Tillichs zur Funktion einer solchen Ontologie.
Früh wurde diese Problematik gesehen. Kein geringerer als Karl Barth
hat Tillich in scharfer Polemik bereits 1923 ein allzu „großzügig geübtes
Generalisieren“, einen „allzu billigen Universalismus“ vorgeworfen.
Wenn er Tillichs Texte lese, so Barth, sehe er immer eine „breite
Glaubens- und Offenbarungswalze“ über alles dahingehen, über die
Häuser, die Menschen und die Tiere, als ob sich das alles von selbst
verstünde, dass überall Gericht und Gnade walte, als ob alles einfach
einbezogen sei in die Paradoxie der Christusoffenbarung. Das sei die
„Theologie des babylonischen Turmbaus“. Und noch der alte Karl Barth
wendet sich in seiner letzten Vorlesung in Basel gegen die philosophische
Theologie Tillichs als einen „reinen Wunschtraum, zu schön, um wahr
zu sein“.12 Eine solche universale Synthese sei zwar verhältnismäßig
einfach zu vollziehen, aber sie ergebe ein Einerlei, in dem die Differenzen
der Welt verschwänden. Und auch der skeptische Philosoph Wilhelm
Weischedel fragt in seinem „ehrerbietigen Widerspruch“: „Ver-
schwimmt damit nicht alles ins ungeschiedene Einerlei?“13
Tillich kann diese leichtfertigen Universalisierungen, Totalisierungen
und Analogisierungen von Religion und Kultur, Empirie und Trans-
zendenz, Endlichkeit und Ewigkeit, Profanem und Heiligem – und damit
die rigorose Konterkarierung und „camouflage“ (Kodalle) von Negati-
vität und Entfremdung – vollziehen, weil er letztlich philosophisch,
vermittelt über Schelling, einen vormodernen „metaphysischen Seinsposi-
tivismus“14 jenseits geschichtlicher Gebrochenheit zur Verfügung zu ha-
ben glaubt. Negativität ist nur das Prolegomenon der wahren Offenba-
rung der Identität von Gott und Sein, des Unbedingten ohne jedes
Spezifikum. Tiefer und durchgreifender als die Rezeption der modernen
Entfremdungsanalyse, tiefer und durchgreifender auch als die Rezeption
der biblischen Texte, die von einer praktischen kommunikativen Le-
bensform der Liebe, ich möchte sagen: hilflos inmitten untilgbaren Lei-
dens und Scheiterns zeugen, tiefer und durchgreifender wenigstens für
den systematischen Gesamtrahmen der Tillichschen Großsynthese
scheint mir daher die Rezeption einer neuplatonischen Stufenontologie
zu sein. Sie wird in ihrer vormodernen und auch nicht-antiken Eigenart

12 Karl Barth, Einfhrung in die evangelische Theologie, Zürich 21963, 125.


13 Wilhelm Weischedel, „Paul Tillichs philosophische Theologie. Ein ehrerbietiger
Widerspruch“, in: Karl Henning, Der Spannungsbogen, Stuttgart 1961/62, 32 f.
14 So zu Recht Kodalle, a.a.O., 319 ff.
Negativität versus Metaphysik – mit Tillich gegen Tillich 95

daran identifizierbar, dass sie die Möglichkeit kennt, das Wort „seiend“
im Komparativ und also als relationales Prädikat in Sätzen wie: „x ist
seiender als y“ zu verwenden, bzw., in Tillichs charakteristischer Ver-
bindung von Macht und Sein, in Wendungen wie „x ist seinsmächtiger als
y“. Durch eine solche sprachliche Operation kann Tillich eine quasi-
neuplatonische Seinshierarchie etablieren, die so nicht klassisch-antik,
sondern – nach dem Vorgang von Plotin und Proklos – christlich-mit-
telalterlich bzw. eher noch byzantinisch ist. Es ist hier die Rede von
„Seinshöhe“ und „Seinsrang“; es handelt sich um die ontologische
Substruktion, Substantialisierung und Objektivierung einer Axiologie,
die sich – ich komme an den Anfang meiner Überlegungen zurück – von
der faktischen, endlichen und negativen Existenzbewegung völlig los-
gelöst hat und eine positivistische Seinsmetaphysik wiederherstellt. In ihr
emaniert der namenlose Grund in unendlicher Fülle – es gibt schließlich
keine geschöpfliche Selbständigkeit mehr. Aber wenn alle Entfremdung
in letzter Einheit verschwindet – gerät dann nicht Gott in pure Indiffe-
renz? 15
Diese eigentümliche Indifferenz und Kompatibilität aller Ebenen auf
dem Hintergrund eines philosophischen Doketismus und Dualismus
vertritt auch der amerikanische Tillich. Ich kann diese Kontinuität in der
Entwicklung Tillichs hier nicht mehr thematisieren.

3. Negativität, Religion, Metaphysik – Kritische Thesen


Abschließend möchte ich einige kritische Thesen als kleinen systemati-
schen Ausblick formulieren.
1. Das Negative und die von Tillich anfänglich akzentuierten Ent-
fremdungsphänomene sind, wie sehr sie auch gemildert und erträglich
gestaltet werden mögen, nie gänzlich tilgbar, sondern bleiben auf
neuen Niveaus auch in veränderter Gestalt immer erhalten.
2. Nicht eine vorgängige, differenzlose, alles Widersprüchliche inte-
grierende Einheit ist konstitutiv für die europäische Vernunftge-
schichte, sondern das Bewusstsein von Differenzen, Gradualitäten und
pragmatischen Kategorien zur Bewältigung von Problemen in kom-

15 So Traugott Koch, „Gott: Die Macht des Seins im Mut zum Sein. Tillichs
Gottesverständnis in seiner Systematischen Theologie“, in: Hermann Fischer
(Hg.), Paul Tillich, a.a.O., 169 – 206, dort 191.
96 Teil 1. Religionsphilosophie

plexen Teilbereichen (z. B. der Wissenschaften, der Politik, des


Rechts, der Moral und der Religion).
3. Auch das ,Unbedingte‘ der Religion gibt es nicht „rein“ und „un-
mittelbar“, sondern nur in einem kulturellen, sozialen und ge-
schichtlichen Kontext, vor allem: in sprachlich vermittelter Form. Die
Rede vom Absoluten bedarf daher der Kontextualisierung und Re-
lationalisierung.
4. Das genuine ,Christliche‘ ist eine geschichtlich konkrete, bei aller
Weltgeltung partikulare, kommunikative Lebensform. Praktische
Frömmigkeit im Alltag sowie meditative und kongregative Hand-
lungsweisen im Kontext der Überlieferung gründen nicht in einer
Metaphysik des Absoluten. Deren Sinn lässt sich umgekehrt nur im
Rückgang auf die Lebenspraxis verständlich machen.
Die Macht der Negativität. Kritik und Rekonstruktion
philosophischer Anthropologie im Blick auf Gehlen

Dreimal haben die Götter versucht, den Menschen zu schaffen. Zum ersten
Mal schufen sie ihn aus Lehm; doch der Mensch aus Lehm war so dumm und
ungeschickt, daß die entrüsteten Götter ihn sogleich wieder vernichteten
und einen neuen Menschen aus Holz bildeten. Auch dieser Versuch miß-
lang, denn der Holzmensch war grob und bösartig, so daß man auch ihn
wieder vernichtete. Einige der Holzmenschen entgingen jedoch der Ver-
nichtung und flohen in die Wälder; sie bilden dort das Volk der Affen. – Die
Götter sagten: Laßt es uns doch noch einmal probieren! Und sie schufen
Menschen aus Teig. Die Teigmenschen waren klug, aber auch listig und
verschlagen. Die Götter jedoch waren müde geworden und sprachen: „Ach
– die lassen wir jetzt so.“ Sie ließen die Menschen trotz ihrer Unvollkom-
menheit am Leben. Nur vernebelten sie ihnen noch das Hirn, so daß sie trotz
ihrer Klugheit zu Irrtümern neigen und die letzten Geheimnisse dieser Welt
nicht ergründen können.
Inka-Mythos
Aber daß das von seinem Umfange getrennte Akzidentelle als solches, das
Gebundne und nur in seinem Zusammenhange mit anderm Wirkliche ein
eigenes Dasein und abgesonderte Freiheit gewinnt, ist die ungeheure Macht
des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs.
Hegel
Der folgende Beitrag entwickelt zunächst (1.) Überlegungen zur Tra-
dition negativer Anthropologie. Er thematisiert auf diesem Hintergrund
(2.) paradigmatisch und kritisch die philosophische Anthropologie Ar-
nold Gehlens.1 Im letzten Abschnitt werden (3.) systematische Per-
spektiven einer philosophischen Anthropologie für die Gegenwart und
ihr Verhältnis zur praktischen Philosophie entwickelt. Der Beitrag ak-
zentuiert insbesondere die Bedeutung struktureller Negativität für die
Anthropologie.

1 Vgl. die Hauptwerke: Arnold Gehlen, Urmensch und Sptkultur, Frankfurt a.M.
1956; ders., Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der
industriellen Gesellschaft, Reinbek 1957; ders., Der Mensch. Seine Natur und seine
Stellung in der Welt, Berlin 1940; ders., Moral und Hypermoral. Eine pluralistische
Ethik, Frankfurt a.M. 1969.
98 Teil 1. Religionsphilosophie

1. Zur Tradition negativer Anthropologie: Abwesenheit,


Unbestimmtheit und Fragilität des Menschen

Die philosophische Reflexion der Gegenwart bietet – mehr denn je – ein


unübersichtliches Bild. Nach dem Zerfall der großen Schulen, in einer
krisenhaften Phase epochaler Desorientierung, in der die einen in aka-
demischer Sterilität kanonische Autoren der Vergangenheit exegesieren,
andere formalistische Glasperlenspiele in kleinen Zirkeln zum Paradigma
erheben, noch andere Desorientierung und Sinndestruktion selbst auf
esoterische Weise zur letzten Auskunft philosophischer Reflexion er-
klären, in einer solchen Phase ist eine eindeutige und klare Sinnorien-
tierung der Philosophie an Vernunft und Aufklärung, an der Kooperation
mit den Wissenschaften sowie an der gesellschaftlichen und individuellen
Lebenspraxis ohne Alternative.
Zu dieser Sinnorientierung gehört konstitutiv die Frage danach, wer
wir sind – die Frage nach einem angemessenen Selbstverständnis des
Menschen. Sie kann aber nicht abstrakt und unmittelbar beantwortet
werden, sondern nur im gleichzeitigen Rekurs auf die gesellschaftlichen
Bedingungen menschlicher Praxis und Selbsterkenntnis. Insofern ist aus
systematischen Gründen eine langfristige und dauerhafte Kooperation
von Anthropologie, Soziologie und Philosophie unverzichtbar. Die
systemische Vernetzung aller Lebensbereiche, die Globalisierung und die
Prozesse der interkulturellen Konfrontation und Kooperation, aber z. B.
auch die gegenwärtig drängenden Fragen der Bioethik und der Gen-
technologie, der Bildungspolitik und der Altersentwicklung unserer
Gesellschaft verschärfen diese Notwendigkeit der Kooperation. Im
vergangenen Jahrhundert waren es in Deutschland wirkmächtige Au-
toren wie Gehlen und Plessner, mit anderer Akzentsetzung auch Adorno
und Habermas, die einen in diesem Sinne integrativen, holistischen und
auf gelingende Praxis abzielenden Ansatz der Reflexion gründlich und
breit entwickelt haben. Dem Paradigma philosophischer Anthropologie
kommt dabei besondere Bedeutung zu. Um deren Status auch archi-
tektonisch angemessen bestimmen zu können, muss zunächst auf ein
befremdliches Phänomen hingewiesen werden: auf die Abwesenheit des
Menschen in der philosophischen Reflexion, auf das Phänomen des homo
absconditus. 2 Statt vom Menschen ist seit Beginn der philosophischen
Traditionsbildung vom zoon logon echon, vom animal rationale – noch recht

2 Vgl. Thomas Rentsch, Artikel „Mensch“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.),
Enzyklopdie Philosophie Bd. 1, Hamburg 1999, 814 – 818.
Die Macht der Negativität 99

sinnvollen Bestimmungen –, dann aber vom „Geist“, von der „Seele“,


vom „Subjekt“, vom „Bewusstsein“, vom „Ich“, vom transzendentalen
Ego die Rede. Auf vielfältige Weise erfolgt eine systematische Aus-
klammerung des Menschen und des Menschlichen, ein Überspringen der
menschlichen Lebenswelt und Lebenspraxis, eine Verdrängung der
konkreten Lebenserfahrung mitsamt der Arbeitswelt, der Sinnlichkeit,
der Sexualität, der Triebsphäre, des Weiblichen und des Unbewussten.
Weite Teile der philosophischen Tradition marginalisierten diese zen-
tralen Lebensbereiche und überließen sie den Künsten mit ihren ebenfalls
ideologieanfälligen Vergegenwärtigungsweisen. Zwar zeigen sich in der
Genesis der okzidentalen Rationalität immer wieder Spuren funda-
mentalanthropologischer Reflexion, aber sie sind ontologisch bzw. ka-
tegorientheoretisch betrachtet stark verzerrt z. B. durch einen vorgän-
gigen christlich-theologischen oder einen reduktionistisch-
materialistischen Rahmen. Entweder, es erfolgten metaphysische
Überbestimmungen des Menschen – exemplarisch im christlichen Pla-
tonismus und mit der Kernbestimmung der Unsterblichkeit der Seele;
oder es erfolgten z. B. mechanisch-materialistische Unterbestimmungen
des Menschen als Maschine. An der Geschichte der Anatomie des
Menschen wird dieser prekäre, von Missverständnissen gepflasterte Weg
zur Selbsterkenntnis besonders deutlich.
Bis auf einige allerdings rare und exzellente Ausnahmen – Pico della
Mirandola, Montaigne, die französischen Moralisten – führen funda-
mentalanthropologische Reflexionen in der Philosophie eher ein
Schattendasein. Nach ambivalenten Vorarbeiten durch Kant und im
Deutschen Idealismus wandelt sich dies grundlegend erst durch akade-
mische Außenseiter: durch Kierkegaard und Marx, durch Nietzsche und
Freud. Erst im vergangenen Jahrhundert erlebt die philosophische An-
thropologie als eigenständige Disziplin v. a. im deutschsprachigen Raum
durch Scheler, Plessner und Gehlen eine gewisse Blüte. Auch Existen-
zialismus und westlicher Marxismus, Psychoanalyse und Strukturalismus
sowie die damit verbundenen Traditionen der Soziologie führen die
explizit-anthropologische Reflexionen in der Tradition der erwähnten
akademischen Außenseiter im kontinental- europäischen Raum pro-
duktiv weiter.
Zwei systematische Probleme sollen im Blick auf die gegenwärtige
Aufgabe der Entfaltung einer philosophischen Anthropologie im Allge-
meinen und im Blick auf die kritische Auseinandersetzung mit Arnold
Gehlen im Besonderen im Folgenden im Zentrum der Betrachtung
stehen. Es ist zum einen das Grundproblem der Negativität, zum anderen
100 Teil 1. Religionsphilosophie

das Problem des ambivalenten Status der philosophischen Anthropologie


zwischen Normativität bzw. Sinnexplikation und Faktizität bzw. De-
skription, zwischen Naturwissenschaft und Existenzdeutung.
Das Grundproblem der Negativität stellt sich sowohl auf der ob-
jektsprachlichen, inhaltlichen Ebene der Frage nach einer möglichen
Definition und „Wesensbestimmung“ des Menschen, als auch auf der
metasprachlichen Ebene der Frage nach dem methodischen Wie, nach
dem methodischen Status einer philosophischen Anthropologie. Beide
Probleme sind systematisch auf das Engste verklammert, weil Methode und
Selbsterkenntnis 3 in diesem Bereich – anders als z. B. in der Mathematik
oder der Botanik – untrennbar sind. Hermeneutik und Trans-
zendentalphilosophie, die man auch mit einigem Recht als Vorläufer
philosophischer Anthropologie betrachten kann, haben dies immer
wieder eingeschärft: Wir sind selbst Gegenstand der Untersuchung und
deren Subjekt. Die Probleme der Zirkularität, der trans-
zendentalphilosophischen Zwei-Welten-Ontologie, der Dialektik und
der hermeneutischen „Spiralbewegung“ der Selbstauslegung entspringen
hier.
Schon früh ist diese negative Grundstruktur der menschlichen
Selbsterkenntnis eindrücklich artikuliert worden. Sie gehört zum
Kernbestand der für die Genesis der okzidentalen Rationalität konsti-
tutiven Sinntraditionen. In der jüdisch-christlich-islamischen Schicht
steht das Bilderverbot im Zentrum: der Mensch ist nach dem Bilde Gottes
geschaffen, Gott selbst aber ist unsichtbar und bleibt bildlos: „Du sollst dir
kein Gottesbild machen noch irgend ein Gleichnis“ (Ex 2, 20). Auf der
Ebene der objektiven Wesensbestimmung ist der Mythos vom Sündenfall
das Pendant dieser strukturellen Negativität, der erkenntnismäßigen und
seine Praxis fundamental prägenden Mangelhaftigkeit und Fehlbarkeit
des Menschen. Vertreter der sieben Weisen des antiken Griechenland
lehrten zwar den Weisheitsspruch: „Erkenne dich selbst.“ (gnothi seauton,
Chilon von Sparta), aber mit dem wesentlichen Zusatz: „Nicht zu sehr!“
(meden agan, Solon von Athen).4 Bei Pindar – vergegenwärtigt unlängst
wieder in der beeindruckenden Interpretation Theunissens – ist der
Mensch „eines Schattens Traum.“5 Das Sokratische Nichtwissen bezieht

3 Vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt. Transzendentale Anthropologie


und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999, I-L.
4 Vgl. Wilhelm Capelle (Hg.), Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968.
5 Michael Theunissen, Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000,
53 ff.
Die Macht der Negativität 101

sich auch auf die Selbsterkenntnis. Die Fehlbarkeit und konstitutive


Gestörtheit des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses steht im
Zentrum des Höhlengleichnisses Platons. Auch im Kosmosmodell des
Aristoteles ist die sublunare Sphäre, der Lebensbereich der Menschen, der
Bereich der Wandelbarkeit, der Gefährdung, der Bedrohtheit und der
Zeit als der Bewegung zum Entstehen und zum Untergang.
Erst zu Beginn der Neuzeit löst sich eine eigenständige anthropo-
logische Reflexion aus dem Verband der Schulphilosophie, der theolo-
gischen Metaphysik, heraus. In dieser Zeit, der Renaissance, schwindet
die Verbindlichkeit metaphysischer Wesensbestimmungen des Men-
schen. Andererseits stehen noch nicht, wie dann später – die mathema-
tisch-physikalischen, experimentellen Naturwissenschaften bereit, um
ihrerseits an der Stelle und gegen die metaphysische Theologie eine
solche Wesensbestimmung des Menschen zu leisten. Anthropologiege-
schichtlich erfolgt hier erstmals der explizite Versuch, den Menschen
nicht mehr über transhumane Ordnungen, z. B. eine vorgegebene
Schöpfungs- und Heilsordnung, aber auch noch nicht über subhumane
Ordnungen – Natur, Evolutionsbiologie, Genetik – zu bestimmen. In der
berühmten Oratio de dignitate hominis des Giovanni Pico della Mirandola
von 1486 erfolgt – rhetorisch noch im Gewand eines theistischen,
neuplatonisch strukturierten Schöpfungsmythos – der Entwurf einer
negativen Anthropologie der Freiheit. Die oben kurz skizzierten nega-
tivistischen Traditionen der Antike werden damit ebenso fortgeführt wie
aus vorgegebenen Ordostrukturen emanzipiert.
Gott, der Baumeister der Welt (Pater architectus) denkt nach allen
schon vollbrachten Schöpfungsaktivitäten
zuletzt erst an die Erschaffung der Menschen. Es war aber unter den Ar-
chetypen keiner mehr, woraus er ein neues Geschöpf hätte bilden, in seinen
Kammern nichts mehr, was er dem neuen Sohn als Erbgut hätte schenken
können, und es war in aller Welt kein Ort mehr, den jener Betrachter des
Universums hätte einnehmen können. Es war schon alles gefüllt (Iam plena
omnia); alles unter die oberen, mittleren und unteren Ordnungen verteilt.
Nun konnte aber doch die Macht des Vaters nicht aus sozusagen erlahmender
Kraft bei seinem letzten Geschöpf versagen, seine Weisheit konnte nicht bei
so notwendiger Tat in Ratlosigkeit sich verlieren, und seine wohltätige Liebe
konnte nicht zulassen, dass der, der an den anderen Gottes Freigiebigkeit
preisen sollte, sie im Blick auf sich selbst verurteilen müsste. So beschloss der
Werkmeister in seiner Güte, dass der, dem er nichts Eigenes mehr geben
konnte (nihil proprium), an allem zugleich teilhätte, was den einzelnen sonst je
für sich zugeteilt war. Also ließ er sich auf den Entwurf vom Menschen als
einem Gebilde ohne unterscheidende Züge ein; er stellte ihn in den Mit-
telpunkt der Welt und sprach zu ihm: ,Keinen festen Ort habe ich dir zu-
102 Teil 1. Religionsphilosophie

gewiesen und kein eigenes Aussehen (nec certam sedem, nec propriam faciem), ich
habe dir keine dich allein auszeichnende Gabe verliehen, da du, Adam, den
Ort, das Aussehen, die Gaben, die du dir wünschst, nach eigenem Willen und
Ermessen erhalten und besitzen sollst. Die beschränkte Natur der übrigen
Wesen wird von Gesetzen eingegrenzt, die ich gegeben habe (natura intra
praescriptas […] leges). Du sollst deine Natur ohne Beschränkung nach deinem
freien Ermessen, dem ich dich überlassen habe, selbst bestimmen (tibi illam
praefinies). Ich habe dich in die Weltmitte gestellt, damit du umso leichter
alles erkennen kannst, was ringsum in der Welt ist. Ich habe dich nicht
himmlisch noch irdisch, nicht sterblich noch unsterblich geschaffen, damit
du dich frei, aus eigener Macht, selbst modellierend und bearbeitend zu der
von dir gewollten Form ausbilden kannst. Du kannst ins Untere, zum
Tierischen, entarten; du kannst, wenn du es willst, ins Göttliche wieder-
geboren werden.6
Pico fragt dann angesichts der vielfältigen Möglichkeiten und Lebens-
formen, die der Mensch annehmen kann: „Wer sollte so ein Chamäleon
nicht bewundern?“7
Er unternimmt eine strikt negative Bestimmung des Menschen im
kritischen Gegenzug zu traditionellen anthropologischen Wesensbe-
stimmungen. Gott hatte keinen Archetypus mehr in seinen Vorräten,
kein Wesensbild, kein Grundmuster, kein Paradigma. Das Wesen des
Menschen besteht, knapp gesagt, darin, dass er kein Wesen hat. Er ist das
Wesen ohne Eigenschaften.8
Die Tradition vor Pico, die scholastische Schulmetaphysik, hatte den
Grundsatz: operari sequitur esse, das Handeln folgt dem Sein. Gemäß
dem von Gott bereits festgesetzten wesenhaften Sein, der essentia, gestaltet
sich dann auch das menschliche Handeln, das operari. Demgegenüber lehrt
Pico: Die Besonderheit des Menschen besteht nicht in seiner vorgege-
benen Natur, in irgend einem wesenhaften Sein, sondern diese Beson-
derheit besteht in der Tatsache, dass er über keine Natur, über keine
essentia verfügt, die sein Handeln im vorhinein determiniert. Er muss sich
selbst schaffen: esse sequitur operari. Das lehrt Pico 500 Jahre vor Heidegger
und Sartre. Diese negative Wesensbestimmung erhält zudem eine ethi-
sche Wendung: Da der Mensch keine Natur hat, so ist es seine Aufgabe in

6 Giovanni Pico della Mirandola, De dignitate hominis, lat. und dt., Bad Homburg/
Berlin/Zürich 1968, 26 – 29.
7 Ebd., 30 f.
8 Vgl. zur Kategorie der Eigenschaftslosigkeit in ihrer bleibenden Bedeutung bis
zur Genese der Moderne in Literatur und Philosophie: Thomas Rentsch, „Wie
ist ein Mann ohne Eigenschaften überhaupt möglich? Philosophische Bemer-
kungen zu Musil“ in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O., 292 – 321.
Die Macht der Negativität 103

der Welt, Friede durch Einigung und Aussöhnung aller vorfindlichen


natürlichen und geschöpflichen Weltbewohner zu stiften. Die negative
Anthropologie führt zur Ethik.9
Die Rede des Pico della Mirandola De dignitate hominis ist 500 Jahre
alt. Wenn man die anthropologischen Thesen und Themen betrachtet,
die im 20. Jahrhundert aufgestellt und diskutiert werden, sieht man, dass
die Kernbestimmung dieses Renaissancephilosophen nicht verkehrt ge-
legen hat. Die anthropologische Reflexion in Aufklärung und Moderne
kann in dieser Tradition des Denkens gesehen werden. Ich möchte das an
einigen prominenten Beispielen verdeutlichen.
Pico trifft negative anthropologische Feststellungen:
1. Kein Archetypus ist mehr vorrätig für den Menschen.
2. Kein Ort ist mehr in der Welt für ihn, alles ist schon besetzt.
3. Der Mensch wird entworfen als Gebilde ohne unterscheidende Züge,
ohne positive Eigenschaften.
4. Er ist daher genötigt, sich handelnd selbst ein Wesen zu schaffen.
Der Mensch erscheint somit als leere Stelle in der Welt. Heidegger spricht
später vom „Platzhalter des Nichts.“10 Nietzsche sieht den Menschen
„zwischen zwei Nichtse eingekrümmt, – ein Fragezeichen.“11 Bereits
Pascal denkt so. Er sieht den Menschen zwischen Nichts und All – und
beidem fremd.12
Bereits an dieser Skizze der Genese der negativen Anthropologie der
Freiheit wird deutlich, dass die Tradition eine der Freiheit von sub-
stanziellen Wesensbestimmungen ist. Gegner und Kritiker philosophi-
scher Anthropologie wiederholen und kolportieren bis in die Gegenwart
das irreführende Gerücht von den in ihr substanzontologisch festge-
schriebenen, „ahistorischen“ „anthropologischen Konstanten“. Selbst-
verständlich gibt es – zum Beispiel in der leiblichen Konstitution, dem
aufrechten Gang, der menschlichen Hand, in der Sprach- und Ver-
nunftfähigkeit und im Sozialverhalten des Menschen solche strukturell
stabilen Gegebenheiten. Aber sie sind so elementar und fundamental, dass
sie ihre spezifisch geschichtlich-kulturellen Überformungen nicht anders
als an deren Basisontologie betreffen. „Ableitbar“ aus diesen Konstanten
sind konkrete kulturelle und soziale Praxisformen – in Ägypten, Rom,

9 Pico della Mirandola, De dignitate hominis, a.a.O., 38 – 41.


10 Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, Frankfurt a.M. 1975, 38.
11 Friedrich Nietzsche, Dionysios-Dithyramben, Sämtliche Werke, KSA Bd. 6,
München 1980, 375 – 410, dort 392.
12 Blaise Pascal, Penses, hg. von Ewald Wasmuth, Heidelberg 1978, 43, Nr. 72.
104 Teil 1. Religionsphilosophie

oder in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2010 – mitnichten.


Aber mehr noch: Die anthropologische Reflexion in der aufgewiesenen
Tradition ist eine Analyse der ständigen Wandelbarkeit und Neukon-
stitution des Menschen durch seine spezifische, auch kulturelle Ent-
wurfspraxis. „Konstant“ ist in diesem Sinne der negativen Anthropologie
nur die Wesenlosigkeit und die Möglichkeit, sich neu zu entwerfen.
„Konstant“ sind Endlichkeit und Freiheit. Bereits Picos Bild vom
„Chamäleon“ Mensch hat diese Pointe.
Ähnlich steht es mit weiteren prominenten Befunden der philoso-
phischen Anthropologie. Nach Johann Gottfried Herder ist der Mensch
organisch mittellos, ein Mängelwesen. Jedes Tier hat seine Sphäre, der es
von Natur aus zugehört und die es instinktsicher bewohnt. Demge-
genüber erscheint der Mensch als konstitutiv orientierungslos.
Und wie bei Pico die Kehrseite der Mängel und Unspezialisiertheit
des Menschen die Möglichkeit war, sich in Freiheit eine eigene Natur
und eine eigene Welt allererst selbst zu modellieren, ohne dabei spezifisch
festgelegt zu sein, so nennt auch Herder die Weltoffenheit, die aus der
konstitutiven Instinktarmut des Menschen herrührt, „den aus der Mitte
seiner Mängel dem Menschen entstehenden Ersatz.“13 Diese Analyse
wird in der philosophischen Anthropologie der Moderne fortentwickelt.
Dabei wird die Wesenlosigkeit, die Instinktarmut, die Unspezialisiertheit,
die konstitutive Orientierungslosigkeit und Bedürftigkeit des Menschen
immer deutlicher bereits in seiner biologischen Natur angesetzt. Die
Ergebnisse der empirischen Forschung schließen sich so mit bestimmten
Deutungsversuchen der philosophischen Anthropologie zusammen; sie
widersprechen einander nicht, sondern ergänzen sich. Ich erwähne einige
Punkte, die Herders Beobachtung später bestätigt haben:
1. Der Mensch hat keine besonderen Angriffs-, Schutz- oder Flucht-
organe.
2. Seine Sinne sind sämtlich unspezialisiert; jeder Sinn ist im Tierreich
jeweils viel besser ausgeprägt.
3. Der Mensch hat kein Haarkleid und ist ohne natürliche Anpassung an
die Witterung.
4. Anatomen sprechen von bestimmten menschlichen Organbesonder-
heiten als von archaischen, primitiven Merkmalen: das lückenlose
Gebiss, die fünfgliedrige Hand. Diese Merkmale sind entwicklungs-

13 Johann Gottfried Herder, Abhandlung ber den Ursprung der Sprache, in: Werke
Bd. 5, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1891, 27.
Die Macht der Negativität 105

geschichtlich sehr alt; sie wurden bei allen Weiterentwicklungen im


Tierreich Ausgangspunkt von Spezialisierungen (in Gestalt von
Eckzähnen, verkürzten Daumen usf.).
5. Neben diesen archaischen Merkmalen stellt man dauerhaft gewordene
Fötalzustände am Menschen fest: den nach Bolk sogenannten em-
bryonischen Habitus – die Schädelwölbung mit untergesetztem Ge-
biss, die Struktur der Beckenregion, die lange Hilflosigkeit der
Kleinkindphase, die späte Geschlechtsreife.
In all diesen Fällen spricht man zusammenfassend auch von Unspeziali-
siertheit.

2. Die philosophische Anthropologie Arnold Gehlens –


kritische Rekonstruktion

Arnold Gehlen knüpft mit seinem Hauptwerk Der Mensch. Seine Natur
und seine Stellung in der Welt (1940) an Herder und die aufgewiesene
Tradition negativer Anthropologie explizit an. Aus seiner philosophi-
schen Anthropologie, die Ergebnisse der empirischen Anthropologie von
vorne herein mit berücksichtigt, entwickelt er eine eigene Kultur- und
Institutionentheorie. Nach Nietzsche ist der Mensch „das noch nicht
festgestellte Tier.“14 Bereits Kant sieht den Menschen als ein Wesen, das
von Natur aus Kultur hat, der Kultur bedürftig ist. Auch für Gehlen und
unter dem Eindruck der nicht zu leugnenden, soeben erwähnten bio-
logischen Befunde gilt, dass der Mensch biologisch zur Kultur und zur
Naturbeherrschung gezwungen ist.
Dem biologischen Invaliden und konstitutiv hilflosen Wesen Mensch
dienen die Institutionen und kulturellen Organisationen, seine Mängel zu
kompensieren. Das führt zu recht deutlicher konservativer Kulturkritik,
denn wer angesichts der Kostbarkeit der Institutionen diese antastet und
unbedacht umstürzt, der zerschlägt diejenigen unverzichtbaren Krücken,
an denen sich das Mängelwesen überhaupt aufrecht halten kann.
Mit Bezug auf die von Karl-Siegbert Rehberg entwickelte These von
einem durchgängig das Werk Gehlens prägenden „existentiellen Mo-
tiv“15 will ich im Folgenden untersuchen, ob und wie die von mir

14 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, Sämtliche Werke, KSA Bd. 5,
München 1980, 9 – 243, dort 81.
15 Karl-Siegbert Rehberg, „Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens. ,Per-
sönlichkeit‘ als Schlüsselkategorie der Gehlenschen Anthropologie und Sozial-
106 Teil 1. Religionsphilosophie

skizzierte Tradition konstitutiver Negativität in der Anthropologie ma-


terial – zur inhaltlichen Bestimmung des Menschen – sowie methodisch –
mit Blick auf die Frage nach dem Status philosophisch-anthropologischer
Reflexion und Analyse – aufgenommen und weiterentwickelt wird. Es
wird sich zeigen, dass die Antwort auf diese Fragen mit der Klärung des
Verhältnisses der deskriptiven zur normativen Ebene der anthropologi-
schen Reflexion – mit der Klärung ihrer Konsequenzen für das Ver-
ständnis unserer Praxis eng verbunden ist.
Rehbergs These sieht „das zentrale Motiv“ aller Arbeiten Gehlens in
der Problematik des existentiellen Verhältnisses von „,Personwerdung‘
und ,Ordnung‘“.16 Die Gehlenschen „Schlüssel-Kategorien“ „Mängel-
wesen“, „Antriebsüberschuss“, „Entlastung“, „Handlung“, „Zucht“ und
„Reizüberflutung“ „sind existentielle Problemmetaphern, dramatisie-
rende Merkzeichen für die Bedrohtheit des Menschen.“ Die Basis des
existentiellen Zentralmotivs Gehlens bildet in der Rekonstruktion
Rehbergs eindeutig ein Komplex von Kategorien einer negativen An-
thropologie. Auch Gehlens Ansatz dokumentiert so das Fortwirken der
traditionellen Formation negativer Anthropologie in der Moderne. Er
steht hier neben Heidegger und Freud, die die Todesangst zum Kon-
stituens der menschlichen Kultur erklären – ebenso wie Adorno und
Horkheimer in der Dialektik der Aufklrung, neben Plessner, der in seinem
Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch von 1928 die
konstitutive „Ortlosigkeit“ des Menschen und dessen Außer-sich-sein,
dessen „exzentrische Position“ zur Grundlage seiner Analyse macht.
Wie formt sich die Analyse der komplexen anthropologischen Ne-
gativität bei Gehlen näherhin aus? Rehberg weist nach, dass existentielle
Negativität schon in den frühesten Texten des Studenten Gehlen im
Zentrum steht: als Formwerdung „kreativer Potentialität“ im Sinne der
Lebensphilosophie.17 Während Georg Simmel den Gegensatz von Leben
und Form als „Tragödie der Kultur“ beschreibt, akzentuiert Gehlen im
Sinne eines frühen Pragmatismus die aktivische Seite des Prozesses der
Formwerdung als konstitutiv für die Identitätsausbildung der Subjekte. In
seiner Habilitationsschrift Wirklicher und unwirklicher Geist von 1931 bildet
das „problematische Leben“ des Menschen, das „,Ungenügende‘, das

theorie“, in: Helmut Klages/Helmut Quaritsch (Hg.), Zur geisteswissenschaftlichen


Bedeutung Arnold Gehlens. Vortrge und Diskussionsbeitrge des Sonderseminars 1989
der Hochschule fr Verwaltungswissenschaft Speyer, Berlin 1994, 491 – 530.
16 Ebd., 491.
17 Ebd., 493.
Die Macht der Negativität 107

Negative, das Partielle, Bedrohung und Ohnmacht“ die Grundlage der


Analyse. Rehberg weist nach, dass die Zielperspektive der „Feststellung“
des problematischen Lebens bei Gehlen auf Nietzsches negativ-anthro-
pologische Grundbestimmung des Menschen als des „noch nicht fest-
gestellten Tiers“ zurückgeht18, dass ferner „die Grundstimmung einer
(allerdings säkularisierten) protestantischen Anthropologie, einer puri-
tanischen Sünden- und Verlorenheits-Selbstgewissheit (ähnlich wie bei
Sartre)“ deutlich vernehmbar ist: „essentielle Fraglichkeit“, „Gefährdung
und „Einsamkeit“ konstituieren das empirische Dasein. Der konsequent
empirische Ansatz Gehlens, der sich zu einer „empirischen Philosophie“
ausformt, führt dazu, die elementare Anthropologie im ontogenetischen
Prozess „als Verlaufsschema der grundlegenden Existenzkrise eines jeden
jungen Menschen“ zu entwickeln.19 Der ständig gefährdete Selbstwer-
dungsprozess gelingt nur in der Überwindung schmerzhafter Bedro-
hungen auf all seinen Stufen. Der Selbstverlust durch Phantasievorstel-
lungen und durch die grundlegende Erfahrung der Fremdheit der Welt
und der Anderen, die „Krankheit des Negativen“ bedroht auch in Form
von Krankheit und Melancholie alle gelingenden Schritte der ontoge-
netischen Entwicklung. Dass die „Macht der Negativität“ im Anschluss
an Hegel für Gehlens Konzeption grundlegend ist, zeigt auch das Motto
des ersten Kapitels der Habilitationsschrift, der Kernstelle aus der Ph-
nomenologie des Geistes: „Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode
scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und
in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.“20
Die Freiheit des Willens und die Ermöglichung gelingender Selbst-
werdung sieht Gehlen in der Überwindung des „Triebhanges“ und aller
Formen der „Unwirklichkeit“, und somit in der Tradition von Kant und
Hegel. Freiheit ist nicht „Beliebigkeit, Willkür und Subjektivität“,
sondern bildet sich nur im Modus der freiwilligen Unterwerfung unter
ein als vernünftig erkanntes Gesetz. Sie ist – mit Spinoza und Marx –
erkannte Notwendigkeit.
In Rehbergs Analyse wird deutlich, dass die existentielle Grund-
problematik des Menschen als „Mängelwesen“, seine „chronische

18 Ebd., 495.
19 Ebd., 497.
20 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Phnomenologie des Geistes, hg. von Johannes
Hoffmeister, Hamburg 1952, 39; vgl. Thomas Rentsch, „Negativität und
Vermittlung. Hegels Anthropo-Theo-Logik“, in: ders., Negativitt und praktische
Vernunft, a.a.O., 213 – 251, dort 228 f.
108 Teil 1. Religionsphilosophie

Chance, zu verunglücken“ mitsamt der Notwendigkeit, diese existen-


tielle Negativität in Formen objektiver Stabilisierung zu überwinden,
auch für die weitere Entwicklung Gehlens leitend bleibt. Gehlen setzt
sich zwar seit 1935 explizit von seinem frühen Existentialismus ab.
Dennoch bleibt die Bestimmung „Mängelwesen“ „Negativfolie der
,Persönlichkeit‘.“21
Die gesamte Konstruktion Gehlens wirft schwerwiegende systema-
tische Probleme und Rückfragen auf. Und zwar nicht erst, wenn wir auf
die politischen Konsequenzen seines Denkens sowohl im Nationalso-
zialismus wie auch auf seine konservative, aggressive, gelegentlich re-
aktionäre Kultur- und Intellektuellenkritik in der Bundesrepublik der
Nachkriegszeit blicken. Äußerliche Ideologiekritik wäre ebenso wohlfeil
wie philosophisch oberflächlich. Darin ähnelt Gehlens Problematik der
des Heideggerschen Werkes.22 Diese Problematik reicht viel tiefer: in die
Frage nach dem Verhältnis von Genesis und Geltung, von Konstitution
und Fundierung, Grund und Ursprung, Empirie und normativer Re-
flexion. Auf eigentümliche Weise berührt sich die tief sitzende
Schwachstelle des Gehlenschen Denkens mit einem seiner Antipoden:
mit Adorno. Dass die „rechte“ und die „linke“ Kultur- und auch Ge-
sellschaftskritik lange Zeit eine frappierende Nähe aufwies, ist bekannt.
Aber das ist nur eine Konsequenz grundsätzlicher kategorialer Affinitäten,
die ich als Ersetzung und Verdrängung von Dialektik durch Dualismus
charakterisiere.23 Der Fortschritt von Kant zu Hegel bestand in aller Kürze
gesagt darin, dass Hegel Kants statisch-dualistisch angelegte Erkenntnis-
kritik, in der noch zwei Welten, die noumenale und die phänomenale,
angesetzt werden, in ein dynamisches Modell transformiert. Dies gelingt
ihm, indem er die transzendentale Dialektik und die mit ihr verbundenen
Antinomien auf die gesamten Erkenntnismöglichkeiten des Menschen
ausweitet, anstatt sie lediglich im Bereich der „großen Themen“ der
Metaphysik – Gott, Freiheit und Unsterblichkeit – zu verorten. Damit
werden Subjekt und Objekt, Geltung und Genesis, Vernunft und Natur,
Vernunft und Geschichte, Natur und Kultur in ein dialektisches Ver-
hältnis gesetzt.

21 Karl-Siegbert Rehberg, „Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens“,


a.a.O., 503 f.
22 Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische
Einfhrung, München/Zürich 1989.
23 Thomas Rentsch, „Vermittlung als permanente Negativität. Der Wahrheitsan-
spruch der „Negativen Dialektik“ auf der Folie von Adornos Hegelkritik“, in:
ders., Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O., 252 – 270.
Die Macht der Negativität 109

Gehlens kategoriale Basis wird demgegenüber von dualistisch-di-


chotomischen Strukturen beherrscht, die kontradiktorisch gegeneinan-
der gesetzt werden. Auf der einen Seite steht das Mängelwesen mit seinem
Nicht-festgestellt-sein, seiner „Entartungsbereitschaft“, seiner Selbst-
verfallenheit und seinem Antriebsüberschuss, auf der anderen Seite stehen
alle Medien und Modi der Kompensation des Mangels: Handlung, Be-
wusstsein, Sprache, Zucht, Charakter und Institution.
Diese – wenn auch biologistisch gewendete – fundamentalontolo-
gische Weichenstellung, die Negativität als Mangel und die Modi ihrer
Kompensation dualistisch auseinanderreißt, ist nicht negativ genug und
daher führt sie auch zu einer verzerrten, abgespaltenen Bestimmung des
„Positiven“ der menschlichen Praxis. Die biologische, genetische und für
die Sinnkonstitution somit fundierend gedachte Negativität wird zu-
nächst abstrakt isoliert. Erst dann erfolgt in einer zweiten Urstiftung die
Kompensation. Rehberg diagnostiziert auch hier den „Sündenfall-My-
thos in säkularisierter Form“: „Kultur ist der aus der (Ur-) Schuld ent-
standene Zwang zum Selbstzwang – man findet vergleichbare Motive
auch bei Sigmund Freud oder Max Weber.“24 Die Gegenbegriffe werden
durch diese Konstruktion tendenziell von Negativität frei und von ihr
befreiend gedacht, insbesondere das aktive Handeln, das sich durch
Selbstdisziplinierung institutionell verfestigt und die weichen, vagabun-
dierenden, ins Chaos zurückziehenden Trieb-, Phantasie- und Refle-
xionsmächte bändigt.
Demgegenüber muss philosophische Anthropologie, die einen fun-
damentalontologischen Dualismus zugunsten der Einheit des Menschen
und seiner Welt überwinden will, darauf insistieren, dass es in dieser Welt
keinen negativitätsfreien Raum oder Bereich gibt; dass vielmehr Nega-
tivität auf allen Ebenen des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses,
bei allen Transformationsprozessen kultureller Disziplinierung und In-
stitutionalisierung stets erhalten bleibt. So erst erreichen wir systematisch
und anthropologisch den normativen Geltungssinn, den Hegel in der
Vorrede zur Phnomenologie als „die ungeheure Macht des Negativen“
bezeichnet.25 Sonst bleibt es bei einer funktionalistisch depotenzierten,
halbierten, und dann „kompensierten“ Negativität.

24 Karl-Siegbert Rehberg, „Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens“,


a.a.O., 504.
25 Hegel, Phnomenologie des Geistes, a.a.O., 29; vgl. Michael Theunissen, Sein und
Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a.M. 1980, 175 ff.;
Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O., 213 – 251.
110 Teil 1. Religionsphilosophie

Die Modi der anthropologischen Negativität – Endlichkeit, Fragilität,


Bedrohtheit – treten sowohl faktisch als auch praktisch und begrifflich –
in der Reflexion – auf. Die Modi der Kompensation unterliegen den
Strukturen der Negativität allesamt ebenfalls. Während aber Gehlen auf
seiner dualistischen Basis Reflexion und Praxis (Handeln) fälschlicher-
weise kompensationsanthropologisch-kontradiktorisch gegeneinander-
setzt („Solange ich handle, kann ich nicht reflektieren, und solange ich
reflektiere, kann ich nicht handeln.“26), muss einem dialektischen Ver-
hältnis sowohl von Reflexion und Praxis als auch von negativer An-
thropologie und praktischer Sinnkonstitution der Vorzug gegeben
werden. Denn in die Modi der anthropologischen Negativität ist – von
der elementaren Bedürftigkeit über das sexuelle Begehren bis hin zu
höheren Orientierungs- und Erkenntniszwecken – die Sinnperspektive
immer schon tief und von Anfang an eingearbeitet. Nicht „Mangel“ und
darauf folgende „Kompensation“ bieten daher ein angemessenes Modell
elementarer Anthropologie, sondern von vornherein eine Sinn- und
Erfüllungsperspektive, die den Menschen nicht äußerlich ist und ihnen
extern angefügt werden muss, sondern durch die sie sich überhaupt erst
wahrnehmen können und die für sie welterschließend und weltkonsti-
tutiv ist.27 Ihre „Natur“ ist ja schon sprachlich und kulturell verfasst, ihre
Kultur und ihre Institutionen verlassen nie den Bereich der Endlichkeit
und der strukturellen Negativität.
Entwickelt man wie Gehlen ein dualistisches Kompensationsmodell
der Kultur, dann hat das weitreichende Konsequenzen für die Rekon-
struktion der menschlichen Praxis. Es ergibt sich ein funktionalistisches,
tendenziell depotenzierendes Ableitungsmodell für alle höherstufigen
menschlichen Leistungen. Gerade an Gehlens Sprachtheorie ließe sich das
genau zeigen.28 Die „biologische Metaphysik“29 gestattet dabei ver-
meintlich leichte, unvermittelte Übergänge zwischen Faktizität und
Normativität.

26 Karl-Siegbert Rehberg, „Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens“,


a.a.O., 507, Fn. 48.
27 Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O., 115 ff.
28 Wilhelm Kamlah, „Probleme der Anthropologie. Eine Auseinandersetzung mit
Arnold Gehlen“, in: ders., Von der Sprache zur Vernunft. Philosophie und Wis-
senschaft in der neuzeitlichen Profanitt, Mannheim/Wien/Zürich 1975, 123 – 152.;
Achim Lohmar, Anthropologie und Vernunftkritik. Hegels Philosophie der menschlichen
Welt, Paderborn/München/Wien/Zürich 1997, 150 ff.
29 Walter Schulz, Philosophie in der vernderten Welt, Pfullingen 1984, 443.
Die Macht der Negativität 111

Die dualistische Konstruktion von existentieller Mangel- und kul-


tureller Kompensationsebene, existentieller Trieb- und kulturell-insti-
tutioneller Zuchtebene verfehlt die durchgängig konstitutive Negativität
auf allen Ebenen menschlicher Faktizität und Praxis, und sie erklärt durch
die strukturell funktionalistisch depotenzierte Frage nach normativen
Beurteilungskriterien individueller und institutioneller Praxis faktische
Verhältnisse zur Lösung für Probleme, die diese Verhältnisse häufig genug
selbst erzeugen. Rehberg bemerkt zu Recht: „Die Schwächen seiner
[Gehlens; Anm. Th.R.] Institutionentheorie liegen darin, dass er die
Ordnungsbedeutung durch Ordnung, dass er die Dysfunktionalität der
Ordnungshypertrophie zu wenig beachtet, ja – aus politischen Wer-
tungen heraus – eher verdeckt hat.“30
Der funktionalistische Dualismus liegt auch der Gehlenschen Kul-
turkritik insbesondere der Spätwerke Urmensch und Sptkultur (1956) und
Moral und Hypermoral (1969) zugrunde, er prägt auch seine Analysen in
Die Seele im technischen Zeitalter (1957). Rehberg konstatiert, dass ein
„schwerwiegender Mangel“ der Gehlenschen Institutionentheorie „die
normative Projektion der Institutionen in eine Frühzeit und deren un-
vermittelte Konfrontation mit der Moderne“ ist. „Es fehlt jede Veran-
kerung der Entstehung und Veränderung von Institutionen in einer
Geschichte hochkultureller ,Lebenswelt‘-Stabilisierungen durch Herr-
schaft (der Titel Urmensch und Sptkultur steht für diesen Kurzschluss).“31
Der Rehbergsche Kritikpunkt der Unmittelbarkeit und Unvermitteltheit
entspricht meinem Dualismusvorwurf – die gesamte anthropologische
Konstruktion Gehlens ist undialektisch und anti-dialektisch strukturiert.
Dem entspricht es, wenn Rehberg den „neuen Dualismus“ Gehlens
zurückweist, der „in sachlich ganz uneinsichtiger Weise“ das Handeln
„der Reflexion“ entgegensetzt.32 Das dualistische Modell von Negativität
und Kompensation wird unkritisch. Es kann nicht erkennen und re-
konstruieren, dass und wie Negativität und Praxis, Reflexion und Praxis,
Faktizität und Normativität konkret ineinandergearbeitet sind. Die
Projektion der Normativität in die archaische Frühe bestätigt besonders
eindrücklich die reflexionsfeindliche, ontologisch-funktionale Abspal-
tung des Normativen im Sinne einer geradezu neoromantischen Ideo-
logie, mit Rehberg die „Trauer um eine verloren geglaubte Welt“, die

30 Karl-Siegbert Rehberg, „Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens“,


a.a.O., 831 [Diskussionsbeitrag].
31 Ebd., 513.
32 Ebd., 506.
112 Teil 1. Religionsphilosophie

„Ordo-Sehnsüchte“ Gehlens.33 Bei aller Kritik sei grundsätzlich ange-


merkt, dass die Werke Gehlens weiterhin mit großem Gewinn studiert
werden können. Ihr zupackender Stil ist originell und erfrischend, und
aus großen Grundfehlern philosophischer Köpfe lernt man in der Phi-
losophie oft mehr als aus den etablierten, approbierten Korrektheiten des
mainstream.

3. Negativität, Reflexion und Praxis. Systematische


Perspektiven philosophischer Anthropologie

Abschließend sollen auf dem Hintergrund der skizzierten Traditionen


negativer Anthropologie sowie der Kritik an Gehlen einige systematische
Anforderungen an die philosophisch-anthropologische Arbeit der Ge-
genwart thesenhaft expliziert werden.
Philosophische Anthropologie ist keine Spezialdisziplin der Philo-
sophie. Vielmehr führen mit Kant alle philosophischen Grundfragen
letztlich zur Frage: Was ist der Mensch?, das heißt welches menschliche
Welt- und Selbstverständnis ist gültig und wahr, gerechtfertigt und be-
gründet? Ohne anthropologische Grundbegriffe kommt keine Wissen-
schaft, keine Theoriebildung und keine Praxis aus. Es gilt deswegen, den
Status derjenigen Grundbegriffe, Sätze und Feststellungen methodisch zu
rekonstruieren, mit denen wir uns über uns selbst verständigen. Dabei
zeigt sich, dass der Ausgang von einem einzelnen Bedürfnis- und Män-
gelwesen in der Anthropologie verfehlt und abstrakt ist.34 Vielmehr
müssen wir von vornherein von sozialen, kommunikativen Bedingungen
der interaktiven Sinnkonstitution ausgehen, ohne die sich weder ein
einzelnes Individuum orientieren kann, noch eine philosophische oder
„empirische“, theoretische Rekonstruktion menschlicher Praxis zu ge-
lingen vermag. Anders gesagt: Wir können auch die „biologische Natur“
unserer selbst, unsere Leiblichkeit zumal, nicht anders als im Kontext
sozialer, kultureller und geschichtlicher Sinntraditionen und Sprachpra-
xen erfassen. Die primär soziale und sprachliche Sinnkonstitution ist
bereits institutionell verfasst. Sie impliziert normative, asymmetrische
oder egalitäre Achtungs- und Anerkennungsverhältnisse, ohne die wir zu
unseren „Mängeln“ oder „Trieben“ gar keinen Zugang haben – weder
theoretisch noch praktisch.

33 Ebd., 515 und 517.


34 Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O., I-L.
Die Macht der Negativität 113

Diese primär sprachliche, praktische und normative Ebene der


Konstitution der menschlichen Welt schließt für die philosophische
Anthropologie einen bloß „empirischen“, nicht reflexiv-sinnkriterialen,
vermeintlich „unmittelbaren“, deskriptiven Zugriff methodisch ebenso
aus wie die Rekonstruktion der Basis der menschlichen Welt aus der
Mangel- und Notsituation des Einzelwesens Mensch. Erst die sinnkri-
teriale Reflexion auf die holistisch begriffene Gesamtpraxis menschlicher
Kulturen und ihre normativen Grundlagen erreicht die Ebene, auf der wir
ein angemessenes Verständnis unserer selbst verorten und rekonstruktiv
erreichen können.
Insbesondere gilt, dass die moralische Semantik für normative per-
sonale Identitätskonstitution, für Wahrheits- und Geltungsansprüche, für
Rechtfertigungs- und Begründungsverpflichtungen von vornherein tief
eingearbeitet ist in die lebensweltliche soziale Praxis und Interaktion.35
Bereits mit der Sprache lernen wir faktisch normative Geltungsansprüche
in der Ontogenese. So sind z. B. Dank, Versprechen, Vertrauen, Be-
haupten, Bestreiten etc. sprachliche, normative Institutionen, ohne die
die Konstitution des Menschen nicht denkbar ist. Sinnkriterial sind in
diesen Institutionen die negativen Modi ihres Missbrauchs wie ihres
Misslingens eingearbeitet. Ohne die normative Grammatik sozialer In-
teraktion lässt sich bereits faktische Negativität – als Mangel, Leidbe-
drohtheit oder Angst – nicht begreifen. Erst recht wird gesellschaftliche
Praxis als Ort praktischer Negativität von der Lüge bis zum Mord ohne
ihre normativen Implikationen, die zur Konstitution einer menschlichen
Welt gehören, keiner philosophischen Reflexion zugänglich.36
Neben der Berücksichtigung der universalen faktischen und prakti-
schen Negativität ist es die Einsicht in die begriffliche, sprachliche, ka-
tegoriale und reflexive, dritte Stufe der Negativität, die uns in der phi-
losophischen Anthropologie vor biologistischen, naturalistischen,
dualistischen und funktionalistischen Irrwegen und Reduktionismen
bewahren kann. Wir müssen erkennen, dass ein unmittelbarer metho-
discher Zugriff auf uns selbst, auf unser „Wesen“, unsere „Natur“ er-
kenntniskritisch nicht möglich ist, dass unsere Selbsterkenntnis auch bei
noch so viel Einbezug interdisziplinärer, auch empirischer, historischer
und sozialwissenschaftlicher Ergebnisse partial, perspektivisch, normativ
voraussetzungsreich, letztlich diskursiv-endlich und vorläufig bleibt und
bleiben muss. Insofern sind wir in einem viel radikaleren Sinne „Män-

35 Ebd., 195 ff.


36 Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O., 9 – 12.
114 Teil 1. Religionsphilosophie

gelwesen“, als Gehlen dies methodisch berücksichtigt und gelangen bei


hinreichend konsequenter Grundlagenreflexion stärker zurück zur
Tradition negativer Anthropologie, zum Sokratischen Nichtwissen und
zu Pico della Mirandola als er. Statt der bloßen Kompensation der Ne-
gativität ist die angemessene Vergegenwärtigung, Analyse und Reflexion
der Tiefenstruktur ihrer Konstitution auf allen Ebenen erforderlich.37 Um
die sinnkriterialen Voraussetzungen philosophisch-anthropologischer
Analyse zu klären, muss ihr sonst ambivalent bleibender Status zwischen
Faktizität und Normativität, zwischen Sein und Sollen, zwischen Na-
turwissenschaft und Existenzdeutung, zwischen Deskription und Sinn-
explikation geklärt werden. Weder eine dualistische Aufspaltung der
menschlichen Welt in Fakten und Normen im Sinne einer metaphysi-
schen oder idealistischen Zwei-Welten-Lehre noch ihre naturalistische,
empirische Reduktion auf biologische – gegenwärtig neurowissen-
schaftliche – Forschungsergebnisse erreicht überhaupt die Ebene le-
bensweltlicher Sinnkonstitution.38 Das gilt auch für Computermodelle
des menschlichen Geistes. In der begrifflichen Grammatik unserer ge-
wöhnlichen Alltagssprache ist die normative Dimension bereits fest
verankert, so dass ein Verstehen unserer Lebenspraxis ohne die Ein-
sichtsfähigkeit in praktische, ethische Bedeutungen ganz unmöglich ist.39
Unsere Rede von uns selbst, unserem Wollen, unseren Zielen, von dem,
was vernünftig, was „menschlich“ oder „unmenschlich“ ist, was es
„einzusehen“ gilt, worüber wir uns verständigen müssen, unter Ein-
schluss der damit verbundenen Praxis- und Lebensformen und „Proto-
Institutionen“ eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit des „Neinsagens“
(Scheler), der Ablehnung, der Infragestellung einer üblichen Praxis, der
Innovation, der Revision, der Reformation und der Revolution insti-
tutioneller Praxen. Diese kreativen Potentiale sind in die soziale und
kommunikative Handlungswelt so tief eingearbeitet, dass Negativität und
Sinnkonstitution – aktive und reflexive Distanznahme von einer Sprach-
oder Handlungsregel, von „Zucht“- und „Ordnungs“-Konventionen

37 Ebd., 9 – 29.
38 Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O.; Theda Rehbock,
„Warum und wozu Anthropologie in der Ethik?“, in: Jean-Pierre Wils (Hg.),
Anthropologie und Ethik. Biologische, sozialwissenschaftliche und philosophische ber-
legungen, Tübingen/Basel 1997, 64 – 109.; Reiner Wimmer, „Zum Verhältnis
von Anthropologie und Ethik“, in: Adrian Holderegger/Jean-Pierre Wils (Hg.),
Interdisziplinre Ethik, Freiburg i.Ue./Freiburg i.B. 2001, 32 – 52.
39 Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O., 195 ff., 270 ff.
Die Macht der Negativität 115

und Regulativen – untrennbar zu einander gehören.40 Auch die „Freiheit


als erkannte Notwendigkeit“ kann im Kantschen oder Hegelschen Sinne
nicht als Unterwerfung unter ein selbstgeschaffenes Zwangssystem be-
griffen werden. Praktische Einsichten in Pflichten, Normen und rezi-
proke Anerkennungsverhältnisse setzen gleichermaßen Distanznahme,
Kritik, Interpretationsspielräume und Fähigkeiten der Urteilskraft voraus
und frei. Insofern ist eine kontradiktorische Entgegensetzung des chao-
tischen, isolierten Trieb- und Mängelwesens Mensch – gleichsam des
„nackten Affen“ der Gehlenschen Anthropologie – auf der einen und den
formierenden, institutionellen Zuchtanstalten auf der anderen Seite
verfehlt. Sie wiederholt die Unterbestimmung des Menschen durch
subhumane Bereiche, durch das, was er nicht ist, und ineins seine
Überbestimmung durch das, was er auch nicht ist, durch transhumane
Ordnungen. Die Entgegensetzung von Handeln und Reflexion ist die
Spitze dieser jeden lebensweltlichen Sinn depotenzierenden dualistischen
Ontologie. Sie bahnt sich bei Gehlen in der biologistisch-funktionalis-
tischen Theorie der Sprache an, die Genesis und Geltung einebnet.
Eine negativ-kritische philosophische Anthropologie richtet sich
gegen die immer neuen Versuche, sich das eigene Selbstverständnis auf
zirkuläre und dogmatische Weise von den Einzelwissenschaften – z. B.
von den Bio-, Verhaltens- oder Kognitionswissenschaften – vorgeben zu
lassen. Wissenschaften, auch Naturwissenschaften und Aufklärung sind
zweierlei. Auch defiziente Modi menschlichen Lebens – „Mängel“ –
lassen sich nur auf der Basis eines normativen Vorverständnisses gelun-
gener menschlicher Praxis theoretisch überhaupt konstatieren. Metho-
disch ist eine philosophische Anthropologie ohne den Horizont prakti-
scher Philosophie gerade dann unmöglich, wenn sie die anthropologische
Negativität wirklich ernst nimmt.
Das gilt auch für die kultur- und gesellschaftskritischen Weiterungen
einer solchen Anthropologie. Gehlen behandelt die „Kolonialisierung
der Lebenswelt“ (Habermas) als „Entsinnlichung“ und konfundiert sie

40 Vgl. dazu Karl-Siegbert Rehberg, „Institutionen als symbolische Ordnungen.


Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Me-
chanismen“, in: Gerhard Göhler (Hg.), Die Eigenart der Institutionen: Zum Profil
politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, 47 – 84, dort 63 – 65 („Trans-
zendenzen“) sowie ders., „Weltumspannender Synkretismus? Kulturelle Pro-
zesse und Kommunikative Vernetzungen im Zeitalter der ,Globalisierung‘“, in:
Wiss. Zeitschrift der Technischen Universitt Dresden, 50, Heft 5/6 2001, 22 – 28,
dort 25.
116 Teil 1. Religionsphilosophie

mit einer steigenden „Intellektualisierung“.41 Zweifellos sind die sich


steigernden Schübe medialer Vermittlung in der Gegenwart zu Recht
Anlass für kritische Reflexion. Die existentielle Leiblichkeit ist – trotz
aller apparativen Vermittlung – die Mitte der menschlichen Welt, in der
deren naturaler Grund und deren kommunikatives Wesen sich vereinen
und durchdringen. Wir besitzen ein normatives Vorverständnis der sta-
bilisierten Spannung zwischen kommunikativen Lebensformen und ih-
ren negativen Konstitutionsbedingungen. Wir können daher, ohne
neoromantische Larmoyanz und ohne elitäre Ideologie bemühen zu
müssen, zum Beispiel Stärken und Vorzüge des Lesens, der lebendigen
Diskussionskultur, der aktiven Sinnaneignung und der eigenständigen,
kritischen Sinnentwürfe vor Formen der semantischen Nivellierung, der
reflexionslosen Eindimensionalität und des Konsums seriellen fast foods
argumentativ begründen und präzise darlegen. Es bedarf der Kritik an der
medialen Verhinderung kommunikativer Selbsttranszendierung durch
hypertrophe Formen enteigneter Vermittlung. Diese Kritik setzt ein
normatives, nicht abschließend bestimmbares, offenes, revidierbares
Vorverständnis der humanen Welt voraus, ohne das eine philosophische
Anthropologie nicht möglich ist. Sie muss daher sinnkriterial, dialektisch
und hermeneutisch in praktischer Absicht weiter entwickelt werden. So
kann sie die Traditionen der negativen Anthropologie wie die der Ge-
sellschafts- und Kulturkritik methodisch explizit und transformiert auf-
greifen und fortführen, die im Werk Gehlens so dezidiert und anregend
wie systematisch verzerrt präsent sind.

41 Karl-Siegbert Rehberg, „Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens“,


a.a.O., 519.
Das Prinzip Hoffnung – in
philosophiehistorisch-systematischer Perspektive

Die These meines Vortrags bezieht sich auf die systematischen Grund-
lagen der lebenslangen Hoffnungs- und Utopieanalysen Ernst Blochs. Ich
bin der Auffassung, dass diese Analysen in der Tat ein prinzipientheo-
retisches Fundament haben, das Bloch schon früh erkennt, das er dann –
wie bekannt – äußerst materialreich, literarisch und essayistisch entfaltet,
das er aber schließlich in seinem letzten Hauptwerk, Experimentum Mundi,
noch einmal systematisch expliziert und präzisiert. Mit dieser im Fol-
genden zu begründenden These verbinden sich zwei weitere Interpre-
tationsaspekte im Blick auf das Werk und die Wirkung Blochs. Erstens
wird sich zeigen, dass die materialen Untersuchungen Blochs zur Hoff-
nungsperspektive, seien sie religionsphilosophisch, ästhetisch oder mar-
xistisch ausgerichtet, in ihrer Geltung von der zugrundeliegenden prin-
zipientheoretischen, näherhin fundamentalanthropologischen
Systematik abhängig sind, während das breite, konventionelle Ver-
ständnis der Philosophie Blochs und ihre Rezeption mit seinem Ansatz
einer Immanentisierung der christlichen Transzendenz und Eschatologie
sowie mit deren Konkretisierung in einer marxistischen Utopie der be-
freiten Gesellschaft gleichgesetzt wird. Während aber letztere Perspektive
unserer Gegenwartssituation politisch – ich formuliere vorsichtig –
wieder etwas ferner gerückt ist als in der Zeit der großen Wirkung Blochs
im vorigen Jahrhundert, sind die systematischen Voraussetzungen seiner
Hoffnungsanalyse von bestimmten politischen Formationen unabhängig
und daher auch in einer veränderten weltgeschichtlichen Situation auf
neue Weise zu rezipieren. Zweitens lässt sich zeigen, dass Blochs Vor-
aussetzungen viel stärker in Verbindung zu anderen bedeutenden An-
sätzen seiner Zeit stehen, als dies bisher bewusst wurde. Es sind Ver-
bindungen, die sich erst auf der systematisch grundlegenden Ebene
zeigen: Verbindungen zur Zeitanalyse Heideggers, Verbindungen zur
Sprachanalyse Wittgensteins und zur Konzeption des Nichtidentischen in
der Negativen Dialektik Adornos.
118 Teil 1. Religionsphilosophie

1
Die Hoffnungsanalysen Blochs in seinen Hauptwerken haben ein an-
thropologisches Fundament: einerseits in einer Reflexion auf die trieb-
haften, unbewussten Potentiale des Noch-Nicht-Bewussten in der Natur
des Menschen, die sich zum Beispiel in Hunger, Begehren und Traum
zeigen und aktualisieren; sodann im reflexiv werdenden Bewusstsein des
Noch-Nicht-Gewordenen, das Bloch in seiner Ontologie des Noch-
Nicht analysiert. Bereits hier wird die zeitanalytische Basis des Prinzips
Hoffnung sichtbar: So, wie in Heideggers Sein und Zeit das Sich-vorweg-
sein als ekstatisch-zukünftige Zeitdimension qualifizierend und sinn-
konstitutiv für alle anderen Zeitdimensionen fungiert, so auch bei Bloch
alle Modi der Zukünftigkeit: das Erwarten, das Fürchten, die Phantasie.
So analysiert Heidegger existential-anthropologisch die Furcht und das
Vorlaufen in den Tod als reflexiv-werdendes Bewusstsein der Sterb-
lichkeit und Endlichkeit. Das Sich-vorweg-sein ermöglicht allererst das
Zurück-auf, das heißt: Zukunft ermöglicht in eins Vergangenheit und
Gegenwart, erschließt diese allererst und ermöglicht ihre Sinngebung und
ihr Verstehen.
Bereits an dieser Stelle sei bemerkt, dass das große Paradigma solcher
spezifisch zeitlichen Sinnkonstitutionsanalysen Kants Analysen der trans-
zendentalen Einbildungskraft und des transzendentalen Schematismus in
der Kritik der reinen Vernunft ist. Heidegger bearbeitete diesen Hinter-
grund seiner Zeitanalyse in gründlicher Form in seinem kurz nach Sein
und Zeit veröffentlichten Buch über Kant und das Problem der Metaphysik.
Sein systematischer Hintergrund war wesentlich der innovative Neu-
kantianismus vor allem von Heinrich Rickert und Emil Lask, wie er später
immer betonte. Er promovierte 1913 bei Rickert mit der Dissertation Die
Lehre vom Urteil im Psychologismus. Bereits 1908 hatte Bloch nach sechs
Semestern Studium bei Oswald Külpe mit der Dissertation Kritische Er-
çrterungen ber Rickert und das Problem der modernen Erkenntnistheorie pro-
moviert. Külpe hatte auch Einfluss auf Heidegger. Lask wiederum be-
einflusst mit seinen innovativen Ansätzen zur Kategorienlehre, zur
Kategorienlehre insbesondere der Philosophie selbst, zur Kategorie der
Kategorie und zur Form der Form seine Freunde, Kollegen und Schüler
Lukács, Heidegger und Max Weber. Er entwickelte eine sich selbst an der
Grenze der Reflexion in materiale Modi transformierende Trans-
zendentalphilosophie, so dass Bloch im Blick auf den Materialismus und
Das Prinzip Hoffnung 119

den Marxismus prägnant von ihm sagte: „Er war der Nikolaus, aber noch
nicht der Weihnachtsmann.“1 Neukantianische Transformation der
Kategorienlehre und im Zentrum Kants transzendentale Zeitanalytik
bilden den systematischen Hintergrund des zum Philosophen werdenden
jungen Bloch. Im Zentrum seiner Dissertation steht eine Zeitanalytik. Er
versucht näherhin, das Wesen des Augenblicks phänomenologisch zu
erfassen und zu begreifen. Diese erkenntniskritische Augenblicksanalyse
enthält in nuce alle kategorialen Konstituentien, die später material, kul-
tur- und sozialphilosophisch entfaltet und eingesetzt werden. Einerseits
nämlich ist der jeweilige Augenblick, der gerade gelebte Augenblick in
seiner Präsenz und vollen Intensität schlechthin unverfügbar, unfassbar,
nicht objektivierbar. Dieses Urphänomen bezeichnet Bloch dann auch
später als das „Dunkel des gelebten Augenblicks“. Dieses Dunkel stellt
nach Blochs Dissertation ein ständig sich Entziehendes, eine Bruchstelle
der Erfahrung, ein „Nie“ dar. Denn nie ist der Augenblick fassbar, ver-
suche ich es, habe ich ihn schon als entzogenen objektiviert und re-
flektiert. Andererseits, und dies ist das Entscheidende, im gelebten Au-
genblick entspringt und wird aller Sinn ermöglicht bzw. eröffnet, der als
Noch-Nicht zukünftig möglich wird. Das Noch-Nicht zukünftigen Sinnes
ist die Tendenzkategorie, die dem Augenblick in seiner Unverfügbarkeit
und Entzogenheit gerecht wird. In der abschließenden kategorientheo-
retischen systematischen Summe des Experimentum Mundi werden daher
im Zentrum die Modalkategorien, vor allem die der Möglichkeit the-
matisiert. In der Augenblicksanalyse der Dissertation finden wir somit
Blochs Uridee, die zur Grundlage aller seiner materialen Studien wird
und die er abschließend noch einmal fundamentalanthropologisch wie
kategorientheoretisch expliziert. Diese Uridee ist eine Konzeption der
Struktur existentieller Zeitlichkeit und Sinnkonstitution, in der der
Negativität, der Entzogenheit und Unverfügbarkeit des gleichwohl
sinneröffnenden Augenblicks der Gegenwart zentrale Bedeutung zu-
kommt. Spätere apodiktische Kernformulierungen: „Ich bin. Aber ich
habe mich nicht. Darum werden wir erst.“2 weisen immer wieder auf
diesen Anfang der Blochschen Systematik zurück. Die Struktur der sich
ursprünglich entziehenden Sinneröffnung bildet und formt fundamen-
talanthropologisch und zeitanalytisch den Konstitutionsgrund aller ma-
terialen, kulturellen Modi der offenen Sinnantizipation, seien sie sinnli-

1 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Artikel „Lask, Emil“, in: Metzler Philosophen Le-
xikon, Stuttgart / Weimar 2 1995, 488 – 491.
2 GA Bd. XIII, Tbinger Einleitung in die Philosophie, 13.
120 Teil 1. Religionsphilosophie

cher, triebhafter, sozial-kommunikativer, politischer, ästhetischer, mo-


ralischer oder religiöser Art in all ihren geschichtlichen Ausprägungen.
Und in der Tat bestätigen die kategorientheoretischen Spätstudien des
Experimentum Mundi diesen Befund: Die Analysen der Dissertation von
1908 werden der Sache nach aufgegriffen und systematisch reformuliert.
Es gibt demnach vor dem praktisch vollzogenen Denken, Handeln und
Prädizieren, also vor den Akten der Synthesis, ein suchendes Meinen, das
Bloch deshalb vorbegrifflich als „Ergriff“3 bezeichnet. Ontologisch be-
zeichnet Bloch diese Differenz im Experimentum Mundi als die Differenz
zwischen Dass und Was; diese Differenz hat eine große Nähe zu der
Heideggerschen ontologischen Differenz. Bloch bezeichnet seinen
Denkansatz selbst als „Metaphysik der Nähe“4. In seinen Untersuchun-
gen zur Rezeption des logos spermatikos bei Bloch führt H. H. Holz aus,
dass dieser zeugende Logos in Blochs Konzeption des Dass jeden Au-
genblicks als verdeckter Ursprung künftigen Sinns eingeht.5 Meiner
Auffassung nach lässt sich der Ansatz auch mit der der protē ousia bei
Aristoteles und mit dem späteren principium individuationis zusammenfü-
gen, insbesondere im Blick auf die Ineffabilität, die Unsagbarkeit des
Individuellen.
Das dynamisch-prozessuale, auf Möglichkeiten der Erfüllung bezo-
gene Lebens- und Weltverständnis des Prinzips Hoffnung wird im Expe-
rimentum Mundi erkennntnistheoretisch als „Brücke“ bezeichnet: „Erst
durch gemeinsames Bezogensein, Orientiertsein eines Subjekts und eines
Objekts des Erkennens auf die Sache selber […] besteht dieser Art kein
Riss zwischen Subjekt und Objekt, sondern eine Brücke“ (XV, 54). Es
wird also kein Dualismus konzipiert, sondern ein relationales, dialekti-
sches Verhältnis von Subjekt und Objekt. Sinn entsteht praktisch im
Vollzug, im Gebrauch, nicht etwa abbildtheoretisch. Auch dieser Ansatz
hat Nähe zu Heideggers Kritik und Destruktion der Subjekt-Objekt-
Dichotomie und seine Transformation dieser Dichotomie in das exis-
tentiell-zeitliche, ekstatische In-der-Welt-sein des Daseins; er hat
ebenfalls Nähe zu Wittgensteins Destruktion der Abbildtheorie der Be-
deutung und zu seinen Sprach-Gebrauchsanalysen. Es lässt sich zeigen,
dass die systematischen Grundbegriffe Blochs: Utopie, Noch-Nicht,
Experiment strukturell dem Entwurfscharakter des Daseins bei Heidegger

3 GA Bd. XV, Experimentum Mundi, 39.


4 GA Bd. V, Das Prinzip Hoffnung, 1200.
5 Hans Heinz Holz, Logos spermatikos. Ernst Blochs Philosophie der unfertigen Welt,
Darmstadt/Neuwied 1975.
Das Prinzip Hoffnung 121

und der Offenheit der Sprachgebrauchspraxis beim späten Wittgenstein


entsprechen. Und entscheidend ist bei dieser Praxisanalyse wiederum der
Aspekt der Negativität: zentral ist die Unabgesichertheit, die Offenheit
der Praxis. Treffend arbeitet Dietschy diesen Punkt heraus und formuliert
ihn prädikationstheoretisch.6 Die Kategorien werden bei Bloch „grup-
penweise zu stets substantielleren Prädikationen ihres unerschienen set-
zenden Dass-Grundes gebracht. Sie sind also keine Bewußtseinsbilder
äußerer Objekte, sondern Beziehungen des geschichtlich versuchten
Herausgangs der Sache selber. In Bewegung durch den noch nicht
,entsprungenen‘ springenden Punkt, der als innerer Motor zum Subjekt
des Prädizierens erst wird, indem er sich noch in der Vor-Geschichte
seiner selbst befindet. So hat sich die Kernintensität des Verwirklichens
selber noch keineswegs erfasst und verwirklicht, liegt daher noch ,ex-
territorial‘ zu seinem Weg, den die kategorialen Drehungen/Hebungen
beschreiben“ (Dietschy 173 f.). Diese Entwurfspraxis kann dabei
„gänzlich entfremdet und verdinglicht werden“ (XV, 14). Das heißt: Der
Uneinholbarkeit des Augenblicks der Sinnkonstitution entspricht die
Ungarantiertheit der Zukunft. Wie bei Heidegger kommt der Modal-
kategorie der Möglichkeit daher zentrale Bedeutung zu, und dies gerade
auch im existentiellen Verständnis. So sind die Kategorien selbst „noch
ungelungene, offen fortlaufende Versuche, die Daseinsweisen und Da-
seinsformen herauszubringen“ (XV, 242). Das Offene, das Noch-Nicht
ist auch mit Bezug auf die Kategorien „das einzig Unveränderliche in der
Geschichte“ (V, 1627; vgl. dazu Dietschy 175). Daher kann auch ein
philosophisches Kategoriensystem nur ein offenes System sein (ebd. 176):
„Das Subjekt ist noch nirgends adäquat prädiziert.“7

2
Ich will nun auf der Basis des bisher Ausgeführten, des seit der Dissertation
bis zum Spätwerk systematischen Kerns des Blochschen Denkens, Be-
ziehungen zu anderen philosophischen Ansätzen aufzeigen, die bisher
wenig beachtet wurden. Dieser Kern ist die Zeit- und Augenblicksana-
lyse, verbunden mit den Aspekten der Negativität und der Sinnkonsti-

6 Beat Dietschy, „,Experimentum Mundi‘: Prinzip und System gelingender Pra-


xis“, in: Burghart Schmidt (Hg.), Seminar: Zur Philosophie Ernst Blochs, Frankfurt
a.M. 1983, 163 – 183.
7 GA Bd.X, Philosophische Aufstze zur objektiven Phantasie, 155.
122 Teil 1. Religionsphilosophie

tution. Diese Analyse enthält alle fundamentalen anthropologischen und


bedeutungstheoretischen Grundeinsichten, die später im Gesamtwerk
Blochs entfaltet werden. Die triebanalytische, die ästhetische, die mar-
xistische, die religiöse Ausformung – sie sind nicht die Grundlage der
Analyse, wenn auch die marxistische Perspektive material eine ganz große
Bedeutung erhält.
Ich will nun eine komparatistische Reflexion in systematischer Ab-
sicht skizzieren. Zum Schluss werde ich versuchen, ein hermeneutisches
Fazit der systematischen Komparatistik zu ziehen.
(1) Den Hintergrund von Kants Zeitanalysen im transzendentalen
Schematismus der Kritik der reinen Vernunft und ihre enge Verbindung
mit der Funktion der transzendentalen Einbildungskraft habe ich schon
erwähnt. Insbesondere Heidegger hat nach Sein und Zeit diesen Ansatz
Kants im Zentrum als eine Analyse der Form und Konstitution des
menschlichen Transzendierens interpretiert. Wenn diese Interpretation
auch oft gewaltsam vorgeht, so lässt sich doch im Blick zum Beispiel auf
die Analysen der comprehensio aesthetica in der Kritik der Urteilskraft
zeigen, dass Kant diese comprehensio als die Koinzidenz des Mannig-
faltigen, der Vielfalt, in der Einheit des Augenblicks und als solche als das
Wesen der Schönheit begreift. Die Einbildungskraft fasst in dieser
comprehensio das Mannigfaltige nicht in einem Begriff, sondern in ein
Bild, das Kant das Urbild, Archetypon oder ästhetische Idee nennt. Diese
Idee entspringt, indem die produktive Einbildungskraft die Sukzessivität
der reproduktiven Einbildungskraft aufhebt und so Simultaneität an-
schaulich macht. Somit ermöglicht sie die comprehensio aesthetica: die
Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einem Augenblick. Ne-
gativität und Potentialität in dieser Konzeption Kants formuliert Schiller
prägnant so: „darin liegt das Anziehende solcher ästhetischen Ideen, daß
wir in den Inhalt derselben wie in eine grundlose Tiefe blicken.“ Denn ihr
„möglicher Gehalt“ ist „eine unendliche Größe.“8 Durch diese Ver-
schränkung von Augenblick, Negativität und Sinnkonstitution antizi-
pieren die ästhetischen Formqualitäten der Gestaltung (in Musik, Lite-
ratur und Malerei) die Sinnbedingungen einer menschlichen Welt:
Totalität und Simultaneität, Nichtinstrumentalität, Singularität, kom-
munikative Selbsttranszendenz der Subjekte, Genuss- und Erfüllungs-
charakter. Kant spricht hier vom „übersinnlichen Substrat der Mensch-
heit“, das von den ästhetischen Ideen vergegenwärtigt wird.9 Diese

8 Friedrich Schiller, ber Matthissons Gedichte, NA Bd. 22, Weimar 1958, 273 f.
9 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Paragraph 57, 5. Absatz.
Das Prinzip Hoffnung 123

Analyse entspricht dem Grundansatz Blochs. Dies ließe sich auch noch an
den religionsphilosophischen Hoffnungsanalysen Kants zeigen.
In der Geschichte der Metaphysik findet sich ein entsprechender
Ansatz bereits bei Plotin. In seiner Schrift Peri Tou Kalou spricht er von
Ekstasis und Pleroma der Seele. Die Struktur der Antizipation formuliert
er so, dass das Schöne das ist, was der Seele ihr Heimkommen zu sich selbst
eröffnet. „Es gibt nämlich etwas Schönes, das schon beim ersten Hin-
blicken wahrgenommen wird; dessen wird die Seele gewissermaßen inne
und spricht es an; indem sie es wiedererkennt, billigt sie es und passt sich
ihm sozusagen an […]. Wir behaupten nun, wenn die Seele das ist was ihr
wahres Wesen ist, […] so ist es das Verwandte oder auch nur die Spur des
Verwandten, dessen Anblick sie erfreut und erschüttert; sie bezieht das auf
sich selbst und erinnert sich ihres eigensten Wesen, dessen was sie in sich
trägt.“10 Das Innewerden der Spur des Verwandten im Augenblick
versammelt bei Plotin schon die systematischen Kernaspekte von Kants
und Blochs Analysen. Insbesondere artikuliert der Begriff der Spur die
Entzogenheit des Grundes der Sinnkonstitution.
(2) Ich gehe jetzt auf eine Betrachtung zu Hegel nicht weiter ein, da
dieser Hintergrund von Bloch selbst umfassend dargestellt wurde. So viel
sei gesagt: Der Geist in Hegels Verständnis hat eine ekstatisch-antizi-
pierende Form, die Allgemeines, Besonderes und Einzelnes je gegen-
wärtig im Selbstbewusstsein vermittelt. Die systematische Verklamme-
rung von Negativität und Sinn steht zudem im Zentrum von Hegels
Gesamtwerk.11
(3) Eine interessante Parallele in der modernen Philosophie der Zeit
Blochs findet sich bei Husserl und seinen Analysen zur Phänomenologie
des inneren Zeitbewusstseins, auch in denen zu Phantasie und Bildbe-
wusstsein. Auch hier ist die Analyse im Kern auf die zeitliche Sinnkon-
stitution bezogen. Der Primat der Sinnkonstitution gebührt ebenfalls der
Zukunft. Husserl nennt die bewusstseins- und sinnkonstitutive Gerich-
tetheit auf die Zukunft Protention, der die Retention, das Bewusstsein
von Vergangenem, wie ein Nachklang folgt. Inmitten der Protention und
der Retention konstituiert sich die Intention, der auch die Aspekte der
Unmittelbarkeit und Entzogenheit eignen. Husserl arbeitet diese eksta-

10 Plotin, Ennēade I. 6 (Über das Schöne), in: Plotins Schriften Bd. 1, hg. von R.
Harder, Hamburg 1956, 1 – 25, dort 7.
11 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Negativität und Vermittlung. Hegels Anthropo-
Theo-Logik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000,
213 – 251.
124 Teil 1. Religionsphilosophie

tische Struktur der erkenntniskonstitutiven Sinnantizipation insbeson-


dere in seinen Analysen zur passiven Synthesis im inneren Zeitbe-
wusstsein heraus. Es sei bemerkt, dass dieser frühe phänomenologische
Ansatz in Halle unter dem Einfluss der Musikpsychologie von Carl
Stumpf entstand. Wenn wir eine Melodie hören, dann antizipieren wir
die zukünftigen Töne, das ist die Protention Husserls, – während die
vergangenen Töne noch nachhallen wie ein Schweif, das ist die Re-
tention. Und nur so ereignet sich das tatsächliche, gegenwärtige, inten-
tional bewusste, augenblickliche Hören der Melodie. Ich weise nur
darauf hin, dass die holistische Sinnkonstitutionstheorie der Gestaltpsy-
chologie Christian von Ehrenfels’ zu dieser Zeit analoge Analysen zur
ganzheitlichen Wahrnehmung entwickelt. Husserls Ansatz, der auch in
vielen anderen seiner phänomenologischen Studien, so in denen zur
Intersubjektivität, fortgeführt wird, wird ausgeformt in seiner zentralen
Konzeption der Horizontbildung, näherhin der erkenntniskonstitutiven
Horizontvorzeichnung. In jeder Wahrnehmungs- und Erkenntnissitua-
tion bilden wir zunächst einen sinnantizipierenden Horizont aus, in
dessen Kontext die eben vergangene Wahrnehmung einbezogen wird –
und so kommt die sich allerdings je entziehende, unverfügbare augen-
blickliche Wahrnehmung und Erkenntnis zustande. Husserl spricht von
der – horribile dictu – Horizontvorzeichnungsvollzugsnotwendigkeit.
Das heißt: wir können gar nicht anders, als in passiver Synthesis die
Horizontbildung zu vollziehen. Diese unverfügbare Notwendigkeit er-
öffnet so aber allererst eigenständige Sinnbildung in Form von so er-
möglichten aktiven Synthesen. Somit können wir resümieren: Auch bei
Husserl findet sich an der erkenntnistheoretischen Basis der Phänome-
nologie eine Kernanalyse von Sinnkonstitution, die fundamental die sich
entziehende Negativität des Augenblicks und die antizipatorische Ho-
rizontbildung mit einander verklammert. Augenblick, Negativität und
Sinnkonstitution sind mit Husserls Terminologie äquiprimordial – also
gleichursprünglich.
(4) Im Folgenden will ich die Komparatistik auf Heidegger, Witt-
genstein und Adorno ausdehnen. Im Blick auf Adorno werde ich noch
Benjamin einbeziehen. Die Trias Heidegger, Wittgenstein und Adorno
hat dabei eine Gemeinsamkeit, die bislang auch wenig bewusst ist. Für alle
drei nämlich ist Kierkegaard von besonderer Bedeutung. Für Heidegger
ist dies lange schon evident – Kierkegaard ist der eigentliche Begründer
der Existenzanalyse. Dass Wittgenstein sich jahrelang intensiv mit Kier-
kegaard befasste, wurde erst in den letzten Jahren durch die Veröffent-
lichung seiner bislang unbekannten Tagebücher bekannt. In diesen ringt
Das Prinzip Hoffnung 125

er geradezu mit äußerster Intensität mit Kierkegaards Grundthesen.


Adorno verfasste ein wichtiges frühes Buch über Kierkegaard, und ich
vertrete die These, dass diese frühe Befassung bis in die systematische
Tiefenstruktur der Negativen Dialektik (und ihrer Hegel-Kritik) reicht.
Die zentrale Analyse Kierkegaards, die ich in unserem Kontext
meine, ist seine Wiederholungs- und Sprunganalyse. Sie führt sowohl zu
Heideggers Existentialanalyse der ekstatisch-temporalen Konstitution des
Daseins und der Wiederholung (dessen, was er Zurück-auf nennt), als
auch zu Wittgensteins Analyse der sprachlichen Wiederholung, des
Regelfolgens und des sprachlichen Sprunges. Ich denke, dass auch
Adornos negative Dialektik der Nichtidentität hier ihr Vorbild bzw. ihren
Ursprung hat. Kierkegaard analysiert: Der erste Ausdruck einer frei-
heitlichen Tat ist das Abbrechen des Zusammenhangs mit dem Früheren
durch einen „Sprung“. In der Wiederholung fängt „das ganze Dasein […]
von vorne an, nicht durch eine immanente Kontinuität mit dem Vor-
hergehenden hindurch, welches ein Widerspruch ist, sondern vermöge
einer Transzendenz, welche die Wiederholung durch eine Kluft von dem
ersten Dasein scheidet.“12 Zur Wiederholung gehört der Sprung. Auch
Heidegger hat später den sprachlichen Satz als Sprung beschrieben – so in
dem zentralen Vortrag Der Satz der Identität.13 Wir müssen – auch in der
Zeitkonstitution – gliedern und Brüche, Einschnitte machen, sie aber
ebenfalls überbrücken, überspringen. Erinnern wir uns des Blochschen
Grundbegriffs der Brücke. Der Augenblick – oft auch Moment genannt –
des Zäsurvollzuges bleibt dem Transzendieren – wie bei Bloch – im-
manent und transzendent zugleich. Ebenso können wir das aktuelle Jetzt,
den „Urquellpunkt“ im Husserlschen Sinne, nicht direkt erreichen,
sondern nur indirekt. „Nur im Sprung auf eine Reflexion höherer Stufe
[…] können wir dem Urquellpunkt, dem aktuellen Jetzt, näher kommen,
aber dann verbirgt er sich wiederum ,hinter‘ dieser Reflexion selbst.“14
Wir sehen: Dies ist genau die Blochsche Kernanalyse. Und sie ist zentral
für alle behandelten Autoren, denn sie markiert bei allen den Ursprung
von Freiheit und Sinn, Zeitlichkeit und Sprachlichkeit.

12 Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, in: Werkausgabe Bd. 1, Düsseldorf 1971,
195.
13 Martin Heidegger, „Der Satz der Identität“, in: ders., Identitt und Differenz,
Pfullingen 51976, 9 – 30.
14 So Thomas M. Seebohm, „Über die vierfache Abwesenheit im Jetzt. Warum ist
Husserl bereits dort, wo ihn Derrida nicht vermutet?“, in: Das Rtsel der Zeit:
Philosophische Analysen, hg. von Hans M. Baumgartner, München 1993, 75 – 108,
dort 91.
126 Teil 1. Religionsphilosophie

Dies gilt nun auch für Wittgenstein. Kierkegaard lehrt: Der konsti-
tutionsanalytisch stets nötige Sprung ist der freie, nicht vergegenständ-
lichbare Akt, der aus der offenen Unbestimmtheit der Schwebe –
Kierkegaard sagt: zwischen entweder-oder – zur innovativ vereindeu-
tigenden Fortsetzung der Praxis führt. Wittgenstein schreibt: „In der
Sprache gibt es stets eine Brücke zwischen dem Zeichen und seiner
Anwendung. Wir müssen die Kluft selbst überbrücken; das kann uns
niemand abnehmen. Keine Erklärung erspart den Sprung, denn jede
weitere Erklärung wird ihrerseits einen Sprung benötigen.“15 Strukturell
nimmt Wittgenstein Kierkegaards Analyse genau auf. Die Bruch- und
Sprung-Kategorie wird, wie bei Bloch, mit der Brückenmetapher ver-
bunden. Sie gilt auch für den Übergang von einem Sprachspiel mit seinen
internen Sinn-Kriterien zu einem anderen, so wie bei Kierkegaard für den
Übergang von dem einen Stadium auf des Lebens Weg zum anderen:
vom ästhetischen zum ethischen und zum religiösen.
Bevor ich Adorno thematisiere, will ich mich kurz Benjamin zu-
wenden. Die Transzendenzdimension der Hoffnung auf Erlösung wird
von ihm konsequent als Sinnpotential auch und gerade vergangener,
verlorener Augenblicke konkreter menschlicher Existenz gedacht und
entfaltet. In seiner rettenden Kritik ist die Verklammerung von Augen-
blick, in der Vergangenheit verborgener und verdeckter Sinnantizipation
und freizulegender Hoffnungspotentiale systematisch konstitutiv. In
dieser rettenden Kritik soll für jeden Augenblick dessen ekstatische Po-
tentialität im Horizont der Hoffnung auf Erfüllung mitgedacht werden.
Diese Transzendenzperspektive auf Rettung geht nicht auf und kann
nicht aufgehen in fortschreitender, innergeschichtlicher Emanzipation,
auch nicht in Erfahrungen des Glücks einzelner Menschen. Auf diese
Weise hält Benjamin einen irreduziblen theologischen, eschatologischen
Transzendenzüberschuss in jedem Augenblick fest. Näherhin konstruiert
Benjamin die Form der zeitlichen Sinnkonstitution in Form eines
Kreuzes: die religiös-eschatologische Transzendenzperspektive nimmt
hier einen vertikalen, synchronen, augenblicklichen, ekstatisch-plero-
matischen Ort in der Zeit ein, die materialistische Emanzipationsge-
schichte einen diachronen, linearen, horizontalen Zeitort. Einerseits
denkt Benjamin Transzendenz als ekstatisch-plötzliches, augenblickliches
Erfüllungsgeschehen in seiner Blitzhaftigkeit. Andererseits denkt er dieses
Geschehen selbst dialektisch, reflexiv, erkenntnisbezogen und sprach-

15 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen 1930 – 1935, hg. von Desmond Lee, Frankfurt
a.M. 1989, 88.
Das Prinzip Hoffnung 127

kritisch. Das heißt, die so eröffnete „Rettung […] läßt […] immer nur an
dem, im nächsten Augenblick schon unrettbar verlorenen sich vollzie-
hen.“16 Diese Kernstelle aus dem Passagen-Werk zeigt: Die Gegenwart
der Erlösung bleibt paradox, das Ineinander von Ekstasis und Trans-
zendenz gestattet keine mystische Vereinigung, sie eröffnet in ihrer
Negativität erneut den Blick auf die Praxis der menschlichen Geschichte
mit ihren Entstellungen und ihrer Verlorenheit wie auch mit ihrem
authentischen vergänglichen Glück. Dieser Ansatz ist dem Blochs gerade
mit seiner dialektischen Verklammerung von Messianismus und Mar-
xismus besonders nahe; aber eben auch mit der von mir akzentuierten
konstitutionsanalytischen Basisanalyse.17
Bei Adorno ist die Basis der unverfügbaren Sinnkonstitution die des
Nicht-Identischen in seiner abwesenden Anwesenheit. Da die Sinnper-
spektive nicht mehr positiv gedacht werden kann, wird sie ständig mi-
nimalisiert.18 Das eigentlich sinnkonstitutive Nicht-Identische ist un-
sagbar bzw. vergessen, verdrängt oder verdinglicht. Denn alles
notwendigerweise identifizierende Denken verfehlt es von vorneherein.
Aber gleichwohl leitet eine sinnantizipierende, eschatologische Utopie
der Erkenntnis unverkürzter, nichtverdinglichter Individualität, also des
Nicht-Identischen, Adornos Denken untergründig. Am Paradigma
avantgardistischer Kunst versucht er, die Kernanalyse von augenblickli-
cher Erfahrung, Negativität und Sinnantizipation ästhetisch zu entfalten.
In seinen Ansatz gehen dabei aufschlussreich wiederum Elemente des
Neuplatonismus von Ekstasis, Pleroma und Plötzlichkeit (exaiphnes) ein.
Das Nicht-Identische ist bei Adorno zudem der Ort, den bei Heidegger
die ontologische Differenz einnimmt, und bei Bloch der des unverfüg-
baren Dass des Augenblicks und des daraus erst entspringenden, durch es
ermöglichten Was in seinem frühen Denken. Wiederum sei bemerkt, dass
diese ontologische Differenz zum Beginn der Philosophie zurückweist:
zu Aristoteles’ Konzeption der protē ousia, der unsagbaren Individualität.
Mit dem Nicht-Identischen ist die systematische Verklammerung von
unsagbar augenblicklicher Individualität, Negativität und Sinnantizipa-

16 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk N 10 a, 3; Gesammelte Schriften V, hg. von


Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1983, 591 f.
17 Vgl. dazu: Christina Ujma, Ernst Blochs Konstruktion der Moderne aus Messianismus
und Marxismus. Erçrterungen mit Bercksichtigungen von Lukcs und Benjamin,
Stuttgart 1995.
18 Vgl. dazu Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in: Ludwig v. Frie-
deburg /Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a.M. 1983,
41 – 65, dort 65.
128 Teil 1. Religionsphilosophie

tion als Basis aller weiteren Analysen Adornos benannt, als Basis sowohl
der Minima Moralia als auch der Ästhetischen Theorie.
(5) Abschließend will ich die freigelegte Tiefenstruktur noch an ei-
nem weiteren Autor der Moderne, an Derrida, aufweisen. Es ist klar, dass
er den Grundgedanken der ontologischen Differenz Heideggers aufgreift
und sprachphilosophisch modifiziert. Der Grundbegriff der Differenz
meint hier in den frühen Arbeiten Derridas die Instanz sich augenblicklich
eröffnenden, gleichzeitig sich konstitutiv entziehenden sprachlichen
Sinns, deren Schwund und Entzug, deren Abwesenheit man nie in
Anwesenheit verwandeln kann.19 Um die Differenz, verfremdet wie das
durchgestrichene Sein bei Heidegger als différance, entfaltet sich im
Frühwerk Derridas eine Gruppe von traditionell metaphysischen Be-
griffen, deren wichtigster der der „Spur“ ist. Dieser Begriff ist, wie wir
wissen, auch für Bloch zentral. Den metaphysikgeschichtlichen Hinter-
grund bildet hier Plotins ichnos-Begriff, der im neuplatonischen Chris-
tentum als vestigium aufgenommen wird. Insbesondere, wenn Derrida
das allen Unterscheidungen noch vorausliegende Geschehen als archi-
trace, als „Ur-Spur“ bezeichnet, erreicht er die von mir gemeinte, zu-
grundeliegende Konstitutionsanalyse. Wenn wir Sinn lesend aufnehmen,
kommen wir immer schon zu spät, denn dieser Sinn entzieht sich auf
unfassbare und unverfügbare Weise. Dennoch ist dieser Entzug die Basis
allen Bedeutungsverstehens und all unserer Sinnantizipation, was ins-
besondere die späteren praktisch-philosophischen und politischen Texte
Derridas bezeugen.

3
Nach diesem komparatistischen Durchgang möchte ich ein systemati-
sches Fazit ziehen, einmal gegen, und einmal mit Wittgenstein. Wenn die
Analyse zutrifft, dann ließe sich eine systematische Komparatistik der
Philosophiegeschichte entwickeln, eine kritische Metaphilosophie oder
auch Philosophie der Philosophie, die sich auch als kritische Hermeneutik
entfalten müsste. Gegen Wittgenstein kann so gezeigt werden, dass die
Philosophie eigenständige Sprachspiele ausbildet, die intern insofern
autonom sind, als sie in durchaus jahrhundertelanger Kontinuität para-
digmatische Kernanalysen bzw. Grundeinsichten artikulieren, die in
keinem anderen Sprachspiel auf diese Weise reflexiv gegenwärtig sind –

19 Vgl. v. a. Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972.
Das Prinzip Hoffnung 129

so in unserem Beispiel der Blick auf das menschliche Selbsttranszendieren


in Sprache und Handeln. Dieses Selbsttranszendieren ist in allen the-
matisierten Ansätzen sinnkonstitutiv mit Negativität – mit dem „nicht
mehr“ und dem „noch nicht“ – verklammert. Ebenso ist allen Ansätzen
gemeinsam, dass dieses Transzendieren auf einen nicht-objektivierbaren
Grund verweist. Und gerade dieser unverfügbare Grund in Augen-
blicklichkeit und Individualität birgt die Potentiale neuen, möglichen,
zukünftigen Sinns. Wir sind in unserer Praxis nicht-objektivierbarer
Grund all unserer ekstatischen Horizontvorzeichnungen und all unserer
prädikativen Leistungen. Aus unserer Zukunftsorientierung erwächst
unser Verständnis der Gegenwart. Alles menschliche Transzendieren – in
lebensweltlicher Praxis, in Ethik und Politik, Kunst und Religion voll-
zieht sich im Horizont dieser gleichursprünglichen Sinnbedingungen.
Wir stellten fest, dass dieser nucleus der philosophischen Reflexion
ein Zentrum der Analyse moderner Ansätze ausmacht, keineswegs am
Rande steht. Andererseits machen sie unterschiedlichen Gebrauch von
diesem Kern. Es gilt auch metaphilosophisch: Die Bedeutung ist oft der
Gebrauch, den wir von sprachlichen Unterscheidungen machen. Gerade
so lässt sich – auf der Basis eines Kernsprachspiels – die spezifische Dif-
ferenz der Ansätze bei gleichzeitig sehr ähnlicher bis gleicher Basis her-
ausarbeiten. Wir kommen so auch auf der Ebene der systematischen
Komparatistik zum Phänomen der Familienähnlichkeit. Ein erster Schritt
zur kritischen Hermeneutik besteht darin, auf der Basis des nucleus zu
fragen, was die Autoren jeweils aus ihm machen, um sie aus eigener
Perspektive neu zu thematisieren und neu zu verstehen. Die meta-
sprachliche Analyse der genuin philosophischen Sprachspiele bleibt also
sprachkritisch. Auf diese Weise können literarische Überakzentuierun-
gen von Konstitutionsaspekten herausgearbeitet werden, die mögli-
cherweise bis ins Ideologische reichen. So sind die Analysen des the-
matisierten Konstitutionskerns bei Kant, Husserl und Wittgenstein stark
formal-strukturell und eben transzendental bzw. phänomenologisch
gehalten und bleiben auch so, während sie bei Benjamin einen empha-
tischen, bei Bloch ebenfalls einen spekulativ-evokativen Duktus erhalten.
Heidegger schwankt zwischen diesen beiden Sprachmöglichkeiten.
Adornos Duktus wird stark negativistisch, Derrida tendiert ebenfalls zu
spekulativen Überhöhungen der grundsätzlichen Einsicht. Das heißt: wir
stoßen mit unserer Analyse auf die Fragen nach der Literarizität der
Philosophie und nach dem jeweiligen Stil der Philosophierenden, die
lange vernachlässigt wurden. Das eine sind Grundeinsichten in die
130 Teil 1. Religionsphilosophie

Konstitution der menschlichen Praxis, das andere, was man daraus selbst
macht bzw. folgert.
Somit lässt sich gegen Wittgenstein Philosophie als genuines kom-
plexes Sprachspiel eigenen Rechts betrachten, und dies seit mindestens
2500 Jahren.
Zum Schluss will ich aber Wittgenstein gerade aufgrund der vorge-
stellten Analysen wiederum Recht geben: Die Basis und Rekursinstanz
aller behandelten Ansätze ist und bleibt die lebensweltliche Praxis und
Sprachpraxis. Es bedarf daher einer kritischen Tiefenhermeneutik, um
den Status der Ansätze zu beurteilen. Die ganze humane Praxis und die
ganze Alltagssprache, sie bilden den Hintergrund allen philosophischen
Denkens. Diese Ganzheiten aber stehen auf keine Weise zur Verfügung.
Somit gilt es, im Rekurs auf Paradigmen und Modelle aus der Alltags-
sprache und -praxis die philosophischen Sprachentwürfe zu beurteilen.
Diese sinnkriteriale Tiefenhermeneutik steht selbst keinesfalls in Form
einer analytischen Standardmethodologie zur Verfügung, sondern muss
immer wieder neu geleistet werden – entsprechend den aufgezeigten
Grundeinsichten in Negativität und zeitliche Sinnkonstitution.
Und noch in einer zweiten Hinsicht will ich ein letztlich positives
Fazit meiner Überlegungen ziehen. Ich denke, es führt gerade zu einer
Aufwertung der Philosophie Ernst Blochs, wenn die tiefe systematische
Verbundenheit seines Ansatzes mit den wichtigsten anderen Philosophen
des 20. Jahrhunderts deutlich wird, nachdem die seinerzeitigen Kon-
frontationen und Schulbildungen für den intersubjektiven philosophi-
schen Diskurs des 21. Jahrhunderts nicht mehr prägend sind. Wenn wir
ferner die Reflexion auf die Literarizität der Philosophie sowie ihren
Rückbezug auf die lebensweltliche Praxis auf Bloch beziehen, so lässt sich
mit Bezug auf den freigelegten schulunabhängigen systematischen nuc-
leus und mit Blick auf Blochs Gesamtwerk feststellen: Der nucleus be-
zieht sich auf (transzendentale) Möglichkeitsbedingungen der lebens-
weltlichen Praxis und Sprachpraxis. Blochs Gesamtwerk zeigt auf seine
Weise, dass diese Bedingungen für die menschliche Kultur in all ihren
Ausprägungen, materiell, ökonomisch, politisch, ästhetisch und religiös
konstitutiv waren und sind und gibt damit der grundlegenden Konsti-
tutionsanalyse recht, die Blochs Werk mit so vielen anderen Ansätzen in
der Tiefe verbindet.
Gnosis und philosophische Moderne:
Heidegger, Wittgenstein, Adorno
1
Meine Thesen sind, erstens, dass das Gnostische als komplexer Über-
zeugungszusammenhang systematisch-philosophisch verständlich re-
konstruierbar und praktisch-anthropologisch in jeweils veränderte Ge-
stalt bleibend relevant bzw. unverzichtbar ist; zweitens, dass aus diesem
Grund das Gnostische auch ein notwendiges Element wichtiger syste-
matischer Entwürfe der Philosophie des 20. Jahrhunderts bildet, so z. B.
der Entwürfe von Heidegger, Wittgenstein und Adorno; drittens aber,
dass man systematisch bei der Gnosis nicht stehenbleiben darf, man sie
überwinden muss, und dass sie auch überwunden wird.
Zunächst will ich das gnostische Element möglichst formal und
strukturell erfassen, um dann zu erläutern, wie es sich in den modernen
Ansätzen jeweils spezifischer ausbildet. In der historischen Gnosis und im
Gnostizismus artikulieren sich nach einhelligem Verständnis zumindest
folgende Auffassungen von der Stellung des Menschen in der Welt, oder,
von der Lebens- und Grundsituation des Menschen – unabhängig von
bestimmten geschichtlichen Konstellationen:
1. die absolute Weltfremdheit des Menschen bei gleichzeitiger Welt-
verfallenheit,
2. die völlige Weltjenseitigkeit des Heils, einer möglichen sinnvollen
Ganzheit und Getragenheit des menschlichen Lebens,
3. schließlich die Auffassung davon, dass die Erkenntnis dieser absoluten
Inkommensurabilität von Diesseits und Jenseits, Welt und Gott, Le-
ben und Heil, dass diese Erkenntnis selbst die rettende Erlösung nicht
nur bringt, sondern diese selber ist.
Es handelt sich also um eine Deutung der menschlichen Grundsituation,
die Nihilismus, Transzendenz und das Erreichen eines wahren Lebens-
und Weltverständnisses aufs engste verknüpft. Formal lässt sich dieses
absolut-dualistische Welt- und Selbstverständnis mit folgender Formel
bzw. Aussage, artikulieren: Wenn du dich richtig verstehen willst – wie
du auch seist, – dann musst du alles was du bist, alles was du hast, alles was
du warst und werden kannst, alles, was du jemals erreichen kannst, sowohl
132 Teil 1. Religionsphilosophie

mit deinem Handeln wie in deinen Gedanken und Vorstellungen, dann


musst du das alles – die ganze Welt mithin – aufgeben, preisgeben und für
nichtig erkennen. Denn das alles ist, richtig gesehen, nichts wert. Und,
falsch verstanden, wird dir der Umgang mit diesen Weltbeständen ein-
schließlich der Menschen und deiner selbst, ein richtiges Verständnis – das
einzig richtige – immer wieder nur verstellen.
Wenn diese Grundformel den Kern der gnostischen Botschaft an-
gemessen wiedergibt, dann wird auch verständlich, dass diese Botschaft
aufgenommen werden konnte sowohl in Religionen und Mythologien,
als auch in philosophischen Konzeptionen: christlich, jüdisch und isla-
misch, platonistisch, mystisch und modern.
Systematisch tritt mit dieser Grundformel ein Strukturproblem aller
Religionen in den Blick, das man als die strukturelle Negativität aller
Offenbarung und allen Heils, positiv als die Untilgbarkeit bzw. die
Permanenz der Alltäglichkeit beschreiben kann. Religiöse Wahrheits-
ansprüche auf Transzendenz – welcher Art auch immer – können nur
konkret in der weltlichen Wirklichkeit verlautbart und erhoben werden.
Was unterscheidet sie dann aber von den üblichen, gewöhnlichen? Die
Grundformel artikuliert auch ein Strukturproblem aller Metaphysik bzw.
allen faktizitätsüberschreitenden philosophischen Denkens: Denn, was im-
mer wir über das Ganze bzw. über den Grund des Ganzen von Welt und
Leben sagen mögen – wir können das nur mittels konkreter Worte in
empirischen Kontexten. Die Worte über den Sinn oder Grund des
Ganzen (des Seins) oder auch nur unseres eigenen ganzen Lebens, die
Rede über diese Totalitäten und ihren Grund scheint unlöslich mit
unserer partikularen, jeweiligen Situation verknüpft, sie scheint abhängig
vom Endlichen, Relativen und Kontingenten zu sein. Eine alles Parti-
kulare und Kontingente überschreitende Perspektive von Sinn (bzw. des
Sinnes von Sein) scheint sich zunächst nur negativ artikulieren zu kön-
nen: als nicht-bedingt, als ab-solut, als un-verfügbar, als trans-zendent, als
unsagbar.
Ich bezeichne dieses strukturelle Problem als die absolute Negativität
der Sinnganzheitsperspektive bzw. als die absolute Negativität der
Sinngrundperspektive. Was ist der Sinn von allem, was soll das Ganze?
Was ist der Grund von allem – auch von uns selbst – das lässt sich durch
kein Faktum kommensurabler Art artikulieren.
Auch Erfahrungen partikularen Sinnes geben zunächst nicht den Sinn
des Ganzen an und her. Solche Erfahrungen sind endlich und vergänglich
wie alles, was wir haben und sind und sein können. Letzter Sinn kann
nicht von dieser Welt sein – aber dann ist er unsagbar. Mit Novalis
Gnosis und philosophische Moderne 133

können wir ausrufen: „Wir suchen überall das Absolute, und finden
immer nur Dinge.“1
Dieser strukturelle Befund der absoluten Inkommensurabilität un-
bedingten, nicht-relativierbaren und totalen Sinnes – des Seins, der Welt
bzw. auch des einzelnen Lebens im Ganzen – wird in den Zeugnissen der
historischen Gnosis reich entfaltet und illustriert.
Damit geht eine Entweltlichungskonzeption notwendig einher. Be-
zeichnend ist, dass bereits die Zeugnisse der historischen Gnosis stark von
negativen Phänomenen ausgehen: von der Angst, vom Irren, vom
Grauen in endlosen Angstzuständen, von Vertriebenheit und Heimat-
losigkeit – allesamt sehr konkrete Schicksale damaliger und auch heutiger
Menschen.
Die Radikalität strukturell gnostischer „Lösungen“ bzw. Problem-
vergegenwärtigungen lebt in krisenhaften Epochen erneut auf.
Weil die philosophische Spekulation nur einen begrenzten Set
wirklich triftiger Gesamtkonzeptionen zur Verfügung hat, die m. E.
letztlich anthropologisch fundiert sind, kehren auch gnostische Kon-
zeptionen schlicht wieder – ebenso, wie z. B. der antike Materialismus
oder die Skepsis, über deren häufige Wiederkehr sich niemand wundert.
(In der Politik gibt es auch nur ca. fünf Grundmodelle von Herrschaft, die
sich abwechseln – so endlich ist der Mensch.)

2
Wie sieht nun die Wiederkehr der gnostischen Systemelemente, deren
Struktur klar ist, im 20. Jahrhundert bei Heidegger, Wittgenstein und
Adorno, aus? Dazu sei vorbemerkt, dass Philosophie keine zeitlose Ak-
tivität im luftleeren Raum der Argumente ist, sondern von konkreten
Individuen unter konkreten Lebensbedingungen entwickelt wird. So
auch bei den genannten Autoren. Und ich zögere nicht, gleichsam in
einer Betrachtung „von außen“, ihre Philosophien auch als Ausdrucks-
formen radikaler Lebens- und Zeiterfahrungen zu sehen.
Kurz: Angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts: 1. Welt-
krieg, 2. Weltkrieg, 70 Millionen Todesopfer Hitlers und Stalins, Ho-
locaust, Hiroshima – verbot sich ein beruhigtes Denken in akademischer
Unberührtheit vom lauten Lärm des Tages.

1 Novalis, „Blütenstaub Nr. 1“, in: ders., Werke und Briefe, München 1968, 340.
134 Teil 1. Religionsphilosophie

Verbunden mit philosophischen Grundfragen – nach dem Sinn von


Sein, nach dem Sinn der Sprache, nach dem Sinn des gesellschaftlich-
geschichtlichen Lebens – gelangen alle drei Autoren ganz früh zu sehr
negativistischen Antwort-Konzeptionen. Heidegger arbeitet unmittelbar
im Kriegsnotsemester für Kriegsfreiwillige von 1918/19 seine grundle-
genden Verfallenheitsanalysen aus, die intensive Rezeption von Paulus,
Augustinus, Pascal, Luther und Kierkegaard, Dostojewski, Tolstoi und
van Gogh tritt hinzu. Wie wird unendliches Leid und wie wird eine
Weltkatastrophe philosophisch artikulierbar? Der literarische Stil der
Philosophie muss sich hier anpassen, dem Klima gerecht zu werden. Weit
davon entfernt, hier etwas „ableiten“ zu wollen, konstatiere ich, dass die
Autoren selbst ihr Philosophieren ständig und explizit auf die Katastro-
phen des Jahrhunderts bezogen und zurückbezogen haben. Philosophie
ist ihre Zeit in Gedanken erfasst. Katastrophische Umstände erzwingen –
unabhängig von der inneren methodologischen Verfassung einer Phi-
losophie – der Situation angemessene, und das heißt hier: angemessen
radikale – philosophische Antworten. Auf diesem Hintergrund zeichnet
sich bei den drei Autoren der Moderne der Umriss einer fundamental-
ontologischen, einer sprachontologischen und einer sozialontologischen
bzw. geschichtsontologischen negativen Metaphysik mit gnostischen
Strukturelementen ab.
Meine These zu Heidegger, Wittgenstein und Adorno ist, dass sie
erstens alle ohne gnostische Systemelemente nicht auskommen und nicht
verstehbar sind, dass sie aber zweitens alle auch systematische Über-
windungen des gnostischen Nihilismus entwickeln. Und diese Über-
windungsansätze sind zukunftsweisend.
Heideggers Affinität zur Gnosis wurde u. a. bereits von Hans Jonas,
Barbara Merker und Wolfgang Baum umfassend herausgearbeitet.2 Auf
den geschichtlichen Hintergrund katastrophischer Erfahrungen des
Weltkrieges für die Ausarbeitung der Verfallenheitsanalysen im Vorfeld
von „Sein und Zeit“ habe ich bereits hingewiesen. Verstehen wir unter
Gnosis auch eine Eliminierung der Vermittlungen und einer humanen
Mittellage durch Weltnegativierung und Entweltlichung, durch Pneu-

2 Vgl. Hans Jonas, „Gnosis, Existentialismus und Nihilismus“, in: ders., Zwischen
Nichts und Ewigkeit. Drei Aufstze zur Lehre vom Menschen, Göttingen 21987, 5 –
25; Barbara Merker, Selbsttuschung und Selbsterkenntis. Zu Heideggers Transfor-
mation der Phnomenologie Husserls, Frankfurt a.M. 1988; Wolfgang Baum,
Gnostische Elemente im Denken Martin Heideggers? Eine Studie auf der Grundlage der
Religionsphilosophie von Hans Jonas, Neuried 1997.
Gnosis und philosophische Moderne 135

matisierung des Wissenden, dann stellen die existenzialistisch verstan-


denen Dualismen der existenzialen Analytik und insbesondere die
Existenzialien der Geworfenheit und des Rufs „aus der Ferne in die
Ferne“3 ein Strukturmodell des gnostischen Mythos dar. Mit dem fun-
damentalen Dualismus von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit ist ein
Punkt der Scheidung und Entscheidung, ein Punkt des Alles oder Nichts
gegeben, ein Punkt der destruktiven Annihilierung alles verfallenen
Bestehenden. Radikale Weltnegativierung als Verfallenheit, radikale
Nicht-Weltlichkeit des Heils im Sinne des eigentlichen Selbstverständ-
nisses, Punktualisierung des Umschlags im Sinne eines vulgärzeittrans-
zendenten Augenblicks der Entscheidung auf der schwarzen Folie der
Todesangst um das In-der-Welt-sein, der Ruf „aus der Ferne in die
Ferne“, um „zurückgeholt“4 zu werden – das gnostische Syndrom scheint
strukturell in perfekter Geschlossenheit vorzuliegen.
Und doch, so meine These, sprengt Heidegger das gnostische Modell
bereits in „Sein und Zeit“ grundsätzlich und systematisch. Zwei Argu-
mente für diese These und gegen Hans Jonas biete ich an. Erstens müssen
wir den formal-anzeigenden, strukturellen Status der Analysen von „Sein
und Zeit“ methodologisch ernst nehmen: Es handelt sich um begriffliche
Konstitutionsanalysen zu den Bedingungen der Möglichkeit bestimmter
existentiell-ontischer Selbstverständnisse. Diese Konstitutionsanalysen
sind diskutierbar und revidierbar, und mithin keine Gnosis. Und Hei-
degger hat viele dieser Analysen später ja auch modifiziert und revidiert,
z. B. die Analysen der Räumlichkeit im Verhältnis zur Zeitlichkeit. Es
geht also nur darum, konstitutionsanalytisch und sinnkriterial zu beur-
teilen, ob die Gewissensanalyse triftig ist bzw. ohne die genannten
,gnostischen‘ Elemente durchgeführt werden kann. Letzteres wiederum
scheint mir sehr schwierig zu sein. Wesentlich an diesem methodologi-
schen Argument aber ist mir folgendes: Eine existenzialistische Lesart der
Analysen von „Sein und Zeit“ verkennt deren Status von Grund auf: die
Fundamentalontologie ist kein Existenzialismus – auch kein gnostischer.
Das zweite Argument besagt, dass eine gnostische Konzeption von Ei-
gentlichkeit in den Einzelanalysen von „Sein und Zeit“ obsiegt hätte,
wenn Hans Jonas Recht hätte: Wenn nämlich die Gegenwart strukturell
mit dem Verfallen so verklammert wäre, dass nur der zeitsprengende
Augenblick in unverfügbarer Plötzlichkeit als Konstituens der Eigent-
lichkeit übrig bliebe. Die Sorgestruktur wäre die Struktur flächende-

3 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 111967, 271.


4 Ebd.
136 Teil 1. Religionsphilosophie

ckender Weltverfallenheit mit ihren vollständigen und unzerreißbaren


Ekstasen der Existenz, der Faktizität und des Verfallens. So sieht es Jonas,
aber diese Interpretation ist falsch. In Wahrheit, und das bezeugen
Heideggers Analysen zu Zeitlichkeit und Alltäglichkeit, führt er zur
Sorgestruktur neben den drei Ekstasen ein systemsprengendes viertes
Element ein, welches die ekstatischen Vollzugscharaktere sowohl zu
distanzieren als auch explizit zu thematisieren gestattet: nämlich die Rede.
Mit der Rede als dem Ort expliziter und diskursiver Artikulationsmög-
lichkeit sowohl von Verfallenheit als auch von Eigentlichkeit ist
gleichsam der stumme Kosmos der Angst aufgesprengt worden; ein
Bereich humaner Sinnvermittlung ist in der Analyse gewiesen, der die
Strukturen der Faktizität natürlich nicht außer Kraft setzt, der sie aber der
diskursiven Reflexion zugänglich macht – bis hin zu innerweltlich-
ethischen Konsequenzen. Allerdings führt Heidegger diese Möglich-
keiten in „Sein und Zeit“ nicht weiter aus.5
Diese Sprachkehre wirkt sich in noch weit höherem Maße in der
Spätphilosophie Heideggers aus. Diese Spätphilosophie ist nicht nur
Neognosis strukturell Schellingschen Typs, sondern im Denken der
Sprache als Haus des Seins und im Denken der dichtenden Vermittlung
wird sie Hermeneutik der Überlieferungsgeschichte. Das Denken ge-
schieht im Spielraum der Überlieferung und kennt eine innerweltliche
Sinngeschichte, die bei Hesiod, Parmenides und Heraklit als Sprachge-
schehen beginnt und bis zu Hölderlin und Trakl führt – sicher keine
Gnosis.

3
Auch für Wittgenstein ist der katastrophische Hintergrund des Welt-
krieges zu konstatieren. Zu dieser Zeit wurde er von seinen Kameraden
„der Mann mit dem Evangelium“ genannt, weil er immer eine Reclam-
Ausgabe von Tolstois Evangelienbuch bei sich hatte. Die Tagebuch-
aufzeichnungen, die zum „Tractatus“ führten, hat er an der galizischen
Gebirgsfront und teilweise im Schützengraben gemacht, unmittelbar
konfrontiert mit dem Schlimmsten. Später noch sagte er in Gesprächen in
seiner brüskierenden Art, das Hämmern der schweren Artillerie sei das
schönste Geräusch gewesen, das er je in seinem Leben gehört habe. In den

5 Vgl. dazu auch: Andreas Luckner, Martin Heidegger: „Sein und Zeit“, Paderborn/
München/Wien/Zürich 1997,142 – 148.
Gnosis und philosophische Moderne 137

Tagebuchaufzeichnungen des „Prototractatus“ besitzen wir ein klares


Zeugnis der Gesamtweltsinnkonzeption des jungen Wittgenstein.6 Die
„Welt“, das ist diese Welt. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die
Grenzen meiner Welt. […] Schon lange war es mir bewußt, daß ich ein
Buch schreiben könnte, ,Was für eine Welt ich vorfand‘“ (23.5. 1915).
Diese Welt, die Wittgenstein vorfindet, ist „alles was der Fall ist“. Es
ist die Welt aller Tatsachen ohne jeden „höheren“ Sinn, wie er sich
traditionell in Ästhetik, Ethik und Religion artikulierte. In dieser Welt ist
alles zufällig. „In dem Buch ,Die Welt, welche ich vorfand‘ wäre auch
über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem
Willen unterstehen etc. Dies ist nämlich eine Methode, das Subjekt zu
isolieren, oder vielmehr zu zeigen, dass es in einem wichtigen Sinne kein
Subjekt gibt. Von ihm allein nämlich könnte in diesem Buche nicht die
Rede sein“ (23. 5. 1915). Gnostisch ist diese frühe Gesamtweltsinnkon-
zeption Wittgensteins, wenn er die gesamte Weltwirklichkeit mitsamt
seinem Leib und aller Empirie auf die Seite der sinnlosen Faktizität
schiebt, einer Faktizität, in der es keinen Wert und nichts Höheres gibt. Ja,
wir dürfen noch nicht einmal sagen: auf die Seite – denn es gibt keine
andere Seite. 11. 6. 1916: „Gott und den Zweck des Lebens? / Ich weiß,
das diese Welt ist. / Daß ich in ihr stehe, wie mein Auge in seinem
Gesichtsfeld. / Daß etwas an ihr problematisch ist, was wir ihren Sinn
nennen. / Daß dieser Sinn nicht in ihr liegt, sondern außer ihr. […] Ich
kann die Geschehnisse der Welt nicht nach meinem Willen lenken,
sondern bin vollkommen machtlos. Nur so kann ich mich unabhängig
von der Welt machen – und sie also doch in gewissem Sinne beherrschen
– indem ich auf einen Einfluß auf die Geschehnisse verzichte.“ Der erste
Schritt des Gnostikers Wittgenstein ist die Weltnegativierung im Sinne
ihrer durchgängigen und flächendeckenden Faktifizierung ohne jeden
höheren Sinn. Diese Welt, von der es unabhängig zu werden gilt, wäre
gnostisch das Werk des Demiurgen. Erlösung heißt für den Welt-
kriegsteilnehmer Wittgenstein Erlösung von dieser Welt, zu einem Gott,
der mit dieser Welt nichts zu tun hat. 8.7. 1916: „An einen Gott glauben
heißt, die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. / An einen Gott
glauben heißt sehen, daß es mit den Tatsachen der Welt noch nicht
abgetan ist.“
Im „Tractatus“ heißt es demgemäß häretisch:

6 Ludwig Wittgenstein, Tagebcher 1914 – 1916, in: ders., Schriften 1, Frankfurt


a.M. 1969, 140. Im Folgenden zitiere ich die Eintragungen unter ihrem Datum
im laufenden Text.
138 Teil 1. Religionsphilosophie

„Gott offenbart sich nicht in der Welt“ (T 6.432). Und vorher: „Wie
die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig“ (ebd.).7
Wittgenstein denkt also eine völlige Vermittlungslosigkeit von
„Höherem“ und „Welt“. Auf drei Wegen radikalisiert er diesen Ge-
danken: durch seine Konzeption des weltjenseitigen einzigen bzw.
einzigartigen Ich – das entspricht dem pneumatischen Wesenskern des
Gnostikers, – dann durch seine Unsagbarkeitslehre – das Höhere lässt sich
überhaupt nicht sagen, weder ethisch noch religiös, es bleibt einzig das
Schweigen, – dies ist der klassische Topos des Arreton, das Ineffabile der
negativen Theologie, – und schließlich drittens durch den siebenstufigen
Aufstieg, den Anhodos des „Tractatus“. Der fertige „Tractatus“ führt in
sieben Sätzen und Stufen zur obersten Erkenntnis: zur Erkenntnis der
Nichtigkeit der Weltwirklichkeit für das Höhere, das nur im Schweigen
nahe ist. Derjenige, der die siebenstufige Leiter mit hinaufgestiegen ist,
kann sie dann wegwerfen. Er sieht jetzt die Welt richtig. Der Bezug zu
den Styliten ist m. E. bewusst gestaltet, Wittgensteins Leben im Kloster
und später in der Einsamkeit „allein nur mit Gott“ wird in seiner Be-
deutung für sein Denken durch die kürzlich erschienenen neuen Tage-
bücher eindrucksvoll bestätigt.8 All dies lässt sich zunächst so zusam-
menfassen: Das Jenseits bzw. das Höhere ist von der Welt her betrachtet
nur das Nichts des Diesseits, und so heißt es auch am 15. 10. 1916: „[…]
auf der einen Seite bleibt also nichts übrig, auf der anderen als unik die
Welt.“ Einzig, wenn ich dies – und die definitive Unsagbarkeit des
Höheren – erkenne, werde ich der Erlösung inne. Diese Erkenntnis ist
identisch mit meiner wahren Selbsterkenntnis – nämlich mit der Er-
kenntnis, dass einzig mein einziges Ich nicht zu dieser verfallenen Welt
gehört. Traditionell reformuliert: Der pneumatische Wesenskern meines
Selbst erkennt sich in seinem transmundanen, göttlichen Ursprung.
Genau dies ist der Sinn der Ausführungen Wittgensteins. Salvator sal-
vandus.
Den Höhepunkt gnostisierender Grundgedanken bieten die Tage-
buchaufzeichnungen von Juli/August 1916, in denen Wittgenstein ex-
plizit die Lehre von den zwei Gottheiten entwickelt. Der eine Gott ist der
Gott dieser Welt, bzw. mit ihr und ihrem gesamten Wirklichkeits- und
Tatsachenzusammenhang identisch. Der andere Gott ist der absolut

7 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: ders., Schriften 1,


a.a.O., 81.
8 Ludwig Wittgenstein, Denkbewegungen. Tagebücher 1930 – 1932/1936 – 1937
(MS 183), hg. von Ilse Somavilla, Innsbruck 1997.
Gnosis und philosophische Moderne 139

Weltjenseitige; und er ist identisch mit mir selbst in meiner absoluten


Einzigkeit. 8. 7. 1916:
Wir haben das Gefühl, „daß wir von einem fremden Willen abhängig
sind. / Wie dem auch sei, jedenfalls sind wir […] abhängig und das, wovon
wir abhängig sind, können wir Gott nennen. Gott wäre in diesem Sinne
einfach das Schicksal oder, was dasselbe ist: die – von unserem Willen
unabhängige – Welt. / Vom Schicksal kann ich mich unabhängig ma-
chen. / Es gibt zwei Gottheiten: die Welt und mein unabhngiges Ich“ (
hervorgehoben von mir, Th. R.). Und Wittgenstein fährt in gnostischen
Dualismen fort: „Ich bin entweder glücklich oder unglücklich, das ist
alles. Man kann sagen: gut oder böse gibt es nicht.“ Die gnostische
Konzeption mündet klassisch in Tautologien, so am 30. 7. 1916: „Immer
wieder komme ich darauf zurück, daß einfach das glückliche Leben gut,
das unglückliche schlecht ist. Und wenn ich mich jetzt frage: aber warum
soll ich gerade glücklich leben, so erscheint mir das von selbst als eine
tautologische Fragestellung; es scheint, daß sich das glückliche Leben von
selbst rechtfertigt, daß es das einzig richtige Leben ist. [Diese Tautologie
ist im Bild der gnostischen Schlange vergegenwärtigt, Th. R.] Alles dies
ist […] tief geheimnisvoll! Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen
lßt!“ Unter dem 1. und 2. 8. 1916 notiert Wittgenstein dann: „Nur aus
dem Bewußtsein der Einzigkeit meines Lebens entspringt Religion […].
Und dieses Bewußtsein ist das Leben selber.“ In beschwörenden Ein-
trägen bezieht sich Wittgenstein auf das pneumatische Ich, eins mit der
wahren Gottheit:
„Das Ich ist kein Gegenstand.“ (7. 8. 1916),
„Das Ich, das Ich ist das tief Geheimnisvolle“ (4. 8. 1916).
Und schließlich erfolgt am 13. 8. 1916 das Bekenntnis zur rettenden
Erkenntnis. Immer muss man sich dabei bewusst halten, dass Wittgenstein
zu dieser Zeit einen ganz emphatischen Glücksbegriff verwendet, syn-
onym mit Erlösung.
„Wie kann der Mensch überhaupt glücklich sein, da er doch die Not
dieser Welt nicht abwehren kann? / Eben durch das Leben der Er-
kenntnis. / Das gute Gewissen ist das Glück, welches das Leben der
Erkenntnis gewährt. / Das Leben der Erkenntnis ist das Leben, welches
glücklich ist, der Not der Welt zum Trotz.“
Diese Erkenntnis ist nur dem weltjenseitigen Ich zugänglich. Dem-
gegenüber gehört das empirische, psychologische Ich, gehört die Seele
mitsamt dem Körper zur Welt: Sie ist nur „ein Teil der Welt unter an-
deren Teilen der Welt, unter Tieren, Pflanzen, Steinen etc. etc.“ (2. 9.
1916).
140 Teil 1. Religionsphilosophie

Der totale Dualismus dieser gnostischen Konzeption strukturiert den


„Tractatus“ und insbesondere die welttranszendente Ebene des Höheren,
des Unsagbaren unter Einschluss der paradoxalen Selbstaufhebung des
gesamten Textes am Schluss. Wittgensteins Überwindung der Gnosis
beginnt im Abschied von der „Tractatus“-Philosophie Ende der 20er,
Anfang der 30er Jahre. Sie besteht in der Einsicht in die unendliche
Komplexität der tatsächlichen sprachlichen und praktischen Wirklichkeit
des Menschen. Man hat hier von einer Rehegelianisierung gesprochen,
und dies scheint mir in gewisser Hinsicht angemessen. Insbesondere
treten Formen der Vermittlung, v. a. der sprachlichen Vermittlung in viel-
fältigster Ausprägung ins Zentrum der philosophischen Betrachtung.
Vorher hieß es: „Die Worte sind wie die Haut auf einem tiefen Wasser“
(30. 5. 1915). Jetzt gilt: Bestimmte Sprachspiele in konkreten, kulturell
vermittelten Lebensformen sind einziger Bezugspunkt der Analysen der
Spätphilosophie. Auf diese Weise müssen auch z. B. Reden vom Hö-
heren, von Gott oder vom Unsagbaren konkret situiert werden und
können gerade nicht abgehoben vom „rauhen Boden“9 der Wirklichkeit
verwendet und verstanden werden. Dass diese Zuwendung zur humanen
Wirklichkeit bei Wittgenstein mit einer denkbar intensiven Aufnahme
christlicher Theologoumena und Kierkegaards einher geht, belegen noch
einmal die neu publizierten Tagebücher.10 Die Überwindung der Gnosis
und ihres Fundamentalismus vollzieht sich auf allen Ebenen der Spät-
philosophie: die Weltnegativierung ist weder methodisch noch inhaltlich
überhaupt möglich, religiöse und ethische Transzendenzansprche sind nur
sprachlich vermittelt und kulturell situiert überhaupt zugänglich, und
unsere Erkenntnismöglichkeiten sind außergewöhnlich stark begrenzt,
viel mehr noch als vormalige kritische Philosophie annahm. Somit ist für
eine überschwängliche philosophische oder religiöse Erlçsungserkenntnis
kein Raum mehr in der Spätphilosophie Wittgensteins, wohl jedoch für
die ganze Bandbreite religiöser Lebensformen. Die tiefste Überwindung
der Gnosis aber stellt eindeutig Wittgensteins Privatsprachenargument
dar. Durch dieses Argument wird einem pneumatischen, unsagbaren
Wesenskern im Inneren des Ich endgültig kritisch der Boden entzogen.
Denn ein solches Inneres des Ich kann jenseits der öffentlichen, ge-
schichtlichen und kulturellen, kommunikativen Lebensformen und ihrer

9 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Nr. 107, in: ders., Schriften


1, a.a.O., 341.
10 Vgl. Anm. (8).
Gnosis und philosophische Moderne 141

intersubjektiv vermittelten Verstehenspraxis privat weder gedacht noch


erfahren werden.

4
Die Frage nach Adornos Gnosisverwandtschaft lässt sich so zuspitzen:
Lassen sich in seinen beiden Hauptwerken, „Negative Dialektik“ und
„sthetische Theorie“, gnostische Elemente freilegen? Antwort: Ja. Bleibt
es dabei? Ja und Nein. Ich will dies kurz erläutern. Die beiden Haupt-
werke muten heute in vielem wie Werke der 20er Jahre an, was ihre
Radikalität, Dezidiertheit und Unduldsamkeit, ja auch, was ihre speku-
lative Ungeschütztheit anbetrifft. Dies mag sich aus der zeitlichen Ver-
schiebung durch die Emigration erklären. Denn schließlich hatte Adorno
ja bereits Ende der 20er Jahre seine Konzeption einer von ihm soge-
nannten „Logik des Zerfalls“11 entwickelt.
Was ist gnostisch an der „Negativen Dialektik“? Erstens das Grund-
motiv der Nichtidentität, das jegliche Form von Vermittlung als eine
Form von „repressiver Identität“ erscheinen lässt; zweitens die dualisti-
schen Begriffskonstruktionen, schließlich drittens eine erkenntnis-
kritische Festschreibung von Schuld und Verdinglichung.12 Das Motiv
bzw. Axiom der Nichtidentität wird von Adorno so forciert, dass alle
Formen von Vermittlung als „zwanghafter Schein“ entlarvbar werden.
Sie stehen gleichsam auf der Stufe des Scheinleibes des Erlösers in der
Gnosis. Dabei wird der verhängnisvolle Zwang zur begrifflichen Iden-
tifizierung von Adorno an den Imperativen der Reproduktion und
Selbsterhaltung der Gattung Mensch festgemacht. Der den täuschenden
Schein bedingende Zwang ist notwendig für die Selbstkonstitution der
Subjekte, die sich selbstbehauptend und beharrend ihrer Weltbemäch-
tigung, der Natur- und Selbstbeherrschung vergewissern müssen – in
einem universalen Schuld-, Leidens- und Verblendungszusammenhang.
Was philosophisch als Apriori erscheint, ist demnach nur scheinhaft einer
autonomen Gesetzgebungsebene zugehörig; in Wahrheit enthüllt es sich
als Aspekt der Naturgeschichte der Gattung ,Mensch‘. Hier kann Adorno

11 Vgl. zum Thema: Joseph F. Schmucker, Adorno – Logik des Zerfalls, Stuttgart/Bad
Cannstatt 1977.
12 Vgl. dazu meinen Aufsatz: „Vermittlung als permanente Negativität. Der
Wahrheitsanspruch der „Negativen Dialektik“ auf der Folie von Adornos He-
gelkritik“, in: Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M.
2000, 252 – 270.
142 Teil 1. Religionsphilosophie

die Marxsche Analyse des Äquivalententausches, des Zur-Ware-Werdens


der Menschen und des Warenfetischismus – zugegeben holzschnittartig –
einrücken: Die flächendeckende Reproduktionsmaschinerie produziert
den Schein einer entqualifizierten Gleichheit, leerer Identität des A=A,
der letztlich im Geld seine abstrakte und anschaulich-greifbare Form
gewinnt.
Die Tendenz Adornos zu einem extremen Dualismus hat bereits
Wellmer kritisch so charakterisiert: „Die Perspektive einer negativen
Theologie in Adornos Werk ist ebenso wie seine Idee der Philosophie in
seiner Kritik des ,identifizierenden Denkens‘ begründet […]. Adorno hat
diese Kritik […] so tief angesetzt, dass vom Ansatzpunkt der Kritik her
eine andere als eine ,schlechte‘ Vernunft eigentlich nicht mehr sich denken
läßt; in dieser Schwierigkeit sind alle Paradoxen und Aporien von
Adornos Philosophie beschlossen.“13 „Bei Adorno ist es so, als hätte er ein
dreidimensionales System von Grundkategorien auf eine zweidimen-
sionale Fläche projiziert […].“14 In der Tat lebt die flächendeckende
Weltnegativierung der „Negativen Dialektik“ von sinnkonstitutiven
dualistischen Fundamentalunterscheidungen, die in ihrer Ausschließ-
lichkeit der aporetisch-paradoxalen Konstruktion des „Tractatus“ in
nichts nachstehen. So sieht die Grundform der dichotomischen Syste-
matik aus:

Subjekt Objekt
Begriff Nichtbegriffliches
Allgemeines Besonderes
Identität Nichtidentisches
Momente begrifflicher Vermittlung, wie sie Hegel zwischen Allgemei-
nem, Besonderem und Einzelnem entwirft und durchführt, werden von
Adorno auf zwei unvermittelbare Positionen der Negativität zusam-
mengestrichen: auf Allgemeines und Einzelnes. Das Allgemeine kann das
Einzelne nie erfassen, nur vergewaltigen; das Nichtbegriffliche ist per se
unsagbar, unerreichbar. Eine Mitte aber gibt es nicht. Wohl jedoch gibt es
eine erkenntniskritische Festschreibung und mithin Ontologisierung von
Negativität bei Adorno. „Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von

13 Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach
Adorno, Frankfurt a.M. 1985, 156.
14 Ebd., 157.
Gnosis und philosophische Moderne 143

Nichtidentität. […] Zu ihr treibt den Gedanken seine unvermeidliche


Insuffizienz, seine Schuld an dem, was er denkt.“15
Auch bei Adorno ist der Hintergrund der Erfahrungen des Natio-
nalsozialismus, der Emigration, der Katastrophen des 20. Jahrhunderts in
Form eines extremen Krisenbewusstseins in der Philosophie präsent. In
diesem Zusammenhang reicht er sogar seinem Erzrivalen Heidegger die
Hand, wenn er schreibt: es gibt das, „was man heute Existentialien nennt,
nur sind es Herrschaft, Unfreiheit, Leiden, die Allgegenwart der Kata-
strophe“.16 (Hätten Heidegger oder Gehlen so formuliert, so hätte man
ihnen die reaktionäre ontologisierende Festschreibung gesellschaftlicher
Unrechtsverhältnisse vorgeworfen.)
Der Ursprung der gnostisierenden Weltnegativierung und Er-
kenntniskritik Adornos liegt in einer nicht zuletzt freudianisch inspi-
rierten Sündentheologie ohne Erlösung, wie sie paradigmatisch ge-
meinsam mit Horkheimer in der „Dialektik der Aufklrung“ entfaltet wird.
Eine Katastrophe in den Anfängen der Menschheitsgeschichte, ein An-
fang der Geschichte in namenlosem Grauen und Entsetzen werden un-
terstellt. Dem Urtrauma der Katastrophentheorie (sozusagen dem Abfall
der Sophia am Rand des Pleroma gleich) entsprechen die vielen Modi der
Täuschung und Verdeckung der pervertierten Ratio, der Bann, die
Verdrängung und das Vergessen; die sprachliche Verfehlung; Herrschaft
und Mord auf der instrumentellen Basis des Werkzeuggebrauchs.
Dieter Henrich hat in seiner Rezension der „Negativen Dialektik“
vom 10. 10. 1967 bemerkt, in diesem Werk sei es nur noch ein winziger
Schritt bis zur „spes pura in purissimum deum“.17 Und so fasst Henrich
Adornos Grundgedanken zusammen: „Die Negation bleibt stets die
Aufhebung dessen, dem sie gilt, sie wird niemals zum Medium seiner
Restitution durch Vermittlung. Dennoch ist solche Negation universal
zu vollziehen. Kein Moment, das nicht durch sie zu bestimmen wäre als
ein solches, das aufzuheben ist. […] Sie steht dafür, daß nichts ist, auf das
als ein Bestehendes zurückzukommen wäre.“18 Die Weltnegatitivierung
durch Radikalkritik an allem Bestehenden erfolgt bei Adorno auf der
Basis des bereits beschriebenen dualistischen Systems von Fundamen-

15 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1969, 15.


16 Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 8: Soziologische Schriften 1,
Frankfurt a.M. 1972, 234.
17 Dieter Henrich, „Diagnose der Gegenwart. Definition der kritischen Theorie –
Th.W. Adorno: ,Negative Dialektik‘“, in: Frankfurter Allgemeiner Zeitung, 10.
10. 1967, 7 L.
18 Ebd.
144 Teil 1. Religionsphilosophie

talunterscheidungen. Das ist keine Dialektik mehr, sondern ein kontra-


diktorischer Dualismus. Schließlich nimmt Adorno konkrete politische
und gesellschaftliche Zukunftsperspektiven auf diesem Hintergrund mit
den Worten Theunissens in „Eschatologie“ zurück, „und zwar in eine
platonisierte“.19
Vollends bestätigt sich diese Diagnose in der Negativitätsästhetik
Adornos. Das moderne Kunstwerk erhält in ihr die Funktion einer ke-
notischen Christologie. Da das Absolute auch hier nicht positiv gedacht
und vergegenständlicht werden darf, wird es „immer kleiner“.20 Über
Schönbergs Musik heißt es: „Alle Dunkelheit und Schuld der Welt hat sie
auf sich genommen.“21 Nur in Erscheinungen blitzartig wahrnehmbarer
und schon vergehender Schönheit – wie Sternschnuppen und Feuer-
werke mit ihren bunt verglühenden Sternen sie darbieten – findet
Adorno in Anlehnung an Valérys Begriff der „apparition“ ein ästhetisches
Paradigma, das hinreichend genug nicht ist, um als dem universalen Trug
unverdächtiges Relikt eines ästhetisierten Eschaton in der Immanenz
gelten zu können. Allein, dass die Systemstelle der Vermittlung bzw.
emphatisch sogar der Versöhnung nur noch in einer dogmatisch als
unüberbietbar gesetzten avantgardistischen Negativitätsästhetik besetzt
werden darf – auf dem Hintergrund des gesamtgesellschaftlich-ge-
schichtlichen Schuld- und Verblendungszusammenhang – allein diese
gedankliche Operation zeigt bereits eine bis zur Schlachtreife gediehene
gnostische Häresie. In das ästhetisierte Eschaton wandern zwar christo-
logische Kennzeichnungen ein, aber ebenso neuplatonische, v. a. das
exaiphnes, die Plötzlichkeit, sowie Strukturmomente der visio beatifica. 22
Dieses patchwork aus diversen Theologoumena just an dieser Stelle ist
eine eigenartige Konstruktion, die man auch als theologischen Kitsch
bezeichnen könnte. Gnostisch ist jedenfalls das forciert parusitische Ele-
ment in der „sthetischen Theorie“ – ich verwende bewusst die Formel
Voegelins. Parusitisch ist die Botschaft, nur in wenigen Avantgarde-
Werken werde der universale Schuld- und Verblendungszusammenhang
momenthaft aufgebrochen, um sich sofort wieder zu schließen. Gnostisch

19 Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in: Ludwig von Friedeburg/


Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a.M. 1983, 41 – 65,
dort 61.
20 Ebd., 65.
21 Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 12: Philosophie der neuen
Musik, Frankfurt a.M. 1975, 126.
22 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und
Geschichte der ästhetischen Idee“ in diesem Band.
Gnosis und philosophische Moderne 145

ist auch der mit dieser Botschaft unlösbar gekoppelte Elitarismus einer
winzigen Schar von electi, die überhaupt Zugang zur so minimalisierten
und solitären, eigentlichen Erkenntnis haben. Die Masse, die Massen-
kultur, die Kulturindustrie – sie gehören zur unheilvollen Welt, sind
Hyliker und Psychiker, massa perditionis. In den Kunstwerken sieht
Adorno, wie Wellmer zusammenfasst, den Vorschein von Versöhnung,
die „gewaltlose Synthesis des Zerstreuten“, die „gewaltlose Einheit des
Vielen in einem versöhnten Zusammenhang alles Lebendigen“, „die
gewaltlose Überbrückung der Kluft zwischen Anschauung und Begriff,
zwischen Besonderem und Allgemeinen, zwischen Teil und Ganzem.
Und nur dieser, den versöhnten Zustand in sich vorbildenden Gestalt
kann berhaupt Erkenntnis zufallen; in diesem Sinn ist der Satz aus den
Minima Moralia zu verstehen, dass ,Erkenntnis kein Licht (hat), als das von
Erlösung her auf die Welt scheint.‘“23
Soweit die gnostische Substruktur des Adornoschen Denkens. Auch
er aber überwindet sie von Zeit zu Zeit: erstens in seinen mehr sozial-
philosophischen, exoterischen Arbeiten, zweitens, damit verbunden, in
seinen materialen Einzelanalysen, auch in den Einzelanalysen zur Musik.
Hier siegt oft ein vermittelnderes Denken, die Kategorien werden ab-
gemildert, sie kennen Pragmatik, Übergänge, Kommensurabilität und
konkrete Verortung.

5
Auf dem Hintergrund der Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts
weisen alle drei Philosophen starke gnostische Systemelemente auf, die im
innersten Bereich ihrer Systematiken verankert sind, sei es, dass sie sich auf
die Nichtigkeit des Seins (Heidegger), auf das Unsagbare (Wittgenstein)
oder auf das Nichtidentische (Adorno) beziehen. Anders formuliert:
Hält man nach dem Untergang der neuzeitlichen, szientifischen
Metaphysik die Totalitätsperspektive der Metaphysik fragend in der
Philosophie aufrecht, so hat man es auch mit systematischen Problemen
der radikalen Sinngrundreflexion zu tun, mit Problemen der Trans-
zendenz, des Absoluten und des Nihilismus. Gerade bei einer radikalen
Verendlichung und Immanentisierung der philosophischen Sinngrund-

23 Albrecht Wellmer, „Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Ret-


tung der Modernität“, in: Adorno-Konferenz 1983 (Anm. 19), 138 – 176,
dort 142.
146 Teil 1. Religionsphilosophie

Reflexion, wie sie für die drei behandelten Philosophen charakteristisch


ist, treten strukturell diejenigen Problemstellungen erneut auf, die bereits
für gnostisches Denken typisch sind. Ich bin der Überzeugung, dass man
diese Problemstellungen auch gegenwärtig systematisch selbständig re-
formulieren kann und sogar muss: im Kontext einer transzendentalen
Anthropologie bzw. Weltkonstitutionsanalyse. Andererseits zeigen uns
die drei Autoren je auf ihre Weise auch, dass man bei dem gnostischen
Problemsyndrom nicht stehen bleiben darf. Man muss vielmehr vor-
dringen zu den unendlich vielen komplexen und geschichtlichen,
sprachlichen und institutionellen Vermittlungen, die eine humane Welt
auf all ihren Ebenen ausmachen. Adorno selbst hat in seinem Kierke-
gaard-Buch dessen Gnosis hellsichtig kritisiert. Das ist für uns von Belang,
weil alle drei Autoren von Kierkegaard tief beeinflusst sind: Heidegger
wie, ganz tiefgreifend, Wittgenstein, und auch Adorno. Kierkegaard hat
ihre Hegel-Rezeption verdorben bzw. verunmöglicht. „Tatsächlich
bildet seine Philosophie den Opferkult so beharrlich aus, bis er in eine
Gnosis übergeht, der der Protestant Kierkegaard leidenschaftlich sonst
opponiert. Im späten Idealismus bricht Gnosis dort hervor, wo durch
Spiritualismus mythisches Denken übers christliche Macht gewinnt und
trotz aller Rede von Gnade das Christentum in die gnadenlose Ge-
schlossenheit des Naturverlaufs hineinzieht.[…] Im Bilde der Trauer
Gottes […] geht der Schöpfer unter und wird ohnmächtig, von Natur im
Opfer verschlungen. Das ist als offene und gnostische Heterodoxie gesetzt
in Kierkegaards Lehre von der Gefangenschaft Gottes im eigenen ,In-
kognito‘ […].“24 Adorno zitiert an dieser Stelle Kierkegaard, der schreibt:
„[…] seine [sc. Gottes, Th. R.] Unkenntlichkeit wurde so allmächtig
festgehalten, daß er selbst gewissermaßen in der Macht seines Inkognitos
ist […].“25 Adorno kritisiert: Der gnostischen Verstrickung „kann
Kierkegaards Theologie nicht entgehen, weil die Konzeption der Para-
doxie und absoluten Verschiedenheit Gottes selber an den autonomen
Geist, als dessen systematische Negation, gebunden ist, der schließlich die
göttliche Transzendenz aufhebt, indem er Gott dialektisch aus sich und
seiner Notwendigkeit konstruiert. Wie in der Tiefe der Verdammnis die
Dialektik bloßen Geistes zur Rettung sich wendet, so stürzt sie auf der
Höhe des Opfers ab in Mythologie, die ihren Gott unters abstrakte

24 Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des sthetischen, in: ders., Ge-


sammelte Schriften Bd. 2, Frankfurt a.M. 21990, 159 f.
25 Søren Kierkegaard, Einbung im Christentum, Gesammelte Werke, Bd. IX, Jena
1912, 118; Adorno, a.a.O., 161.
Gnosis und philosophische Moderne 147

Schicksal zwingt […].“26„Wenn Haecker gegen den Kierkegaardschen


Spiritualismus sagt: ,Der Mensch soll Geist werden, als der er angelegt ist,
wenn möglich reiner Geist, ein […] gnostischer Irrtum Kierkegaards‘:
dann setzt Gnosis von der Bestimmung des Menschen als eines bloß
Geistigen sich fort in einer Theologie, die Gott in die Kategorien des
reinen Geistes einordnet, als der ihm der Mensch erscheint; damit aber
Gott in jene Natur auflöst, welche in Wahrheit gerade die absolute
Spiritualität des Menschen ist. Mythische Dialektik verschlingt den Gott
Kierkegaards wie Kronos seine Kinder.“27 Oder wie die gnostische
Schlange, die sich selbst verschlingt. Hier erkennt Adorno die präten-
dierte Reinheit des Pneumatischen, die Purifizierung durch Weltnega-
tivierung als die mythische Maskierung der blinden Regression in die
bloße Naturhaftigkeit, gegen die die christliche Lehre von der
Menschwerdung und die philosophischen Konzeptionen geschichtlicher
Vermittlung eigentlich entwickelt wurden, um die Gnosis zu überwin-
den.

26 Adorno, ebd.
27 Ebd.
Spuren Gottes? Substitute des Absoluten
in der Reflexion der Moderne
1
In einem grundsätzlichen Beitrag zur Frage nach Gott in der Gegen-
wartsphilosophie stellt Klaus-Michael Kodalle fest, dass sich mit der
„Epochenschwelle zur Neuzeit“ das „grundsätzliche Einverständnis
zwischen Vernunft und Glauben tendenziell aufgelöst [hat]“, dass das
religiöse Bedürfnis sich vielfach „in exzentrischen Kostümierungen be-
friedigt“, dass schließlich die „Philosophie, im Banne der Religionskritik
des 19. und 20. Jahrhunderts“ „eine tiefe Scheu ausgebildet [hat], die
Thematik aufzugreifen, die einmal ihre Mitte und ihren Ursprung bil-
dete.“1
Ich teile diese Diagnose. Im Folgenden will ich sie im Dialog mit
Kodalle weiter entwickeln und dazu eine kurze Analyse von Substituten
des Absoluten in der Reflexion der Moderne durchführen. Moderne
(und Postmoderne) sind – so meine These – reich an solchen Substituten;
vielleicht lassen sie sich mit Hilfe von Ersatzbildungsphänomenen sogar
wesentlich charakterisieren. Der Beitrag zu dieser Festschrift gibt mir die
Gelegenheit, einmal kurz, tentativ und ungeschützt eine skizzenhafte
Analyse von solchen Substituten vorzustellen. Ohne das Eigenrecht und
die „Legitimität“ von Neuzeit und Aufklärung zu bezweifeln, wie sie
eindrucksvoll von Hans Blumenberg gegen die Säkularisierungsthese Karl
Löwiths herausgearbeitet wurde2, so kommt dem tatsächlichen Weiter-
leben theologischer, religiöser Bestände in den Gesellschaften der Pro-
fanität, in ihrer Reflexion und Praxis doch ein eigentümlicher, zu wenig
explizit beachteter und analysierter Status zu. Man benötigt keine Psy-
choanalyse, um von einer variantenreichen Wiederkehr des Verdrängten
zu sprechen. Allein der emphatische Gebrauch des mit fraglosen Sinn-
ansprüchen verbundenen Wortes „Kult“ in der Alltagssprache und Ju-

1 Klaus-Michael Kodalle, „Gott“, in: Ekkehard Martens/Herbert Schnädelbach


(Hg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Reinbek 1985, 395 – 439, dort 369 f.
2 Hans Blumenberg, Skularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt a.M. 1974; vgl.
Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der
Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953.
Spuren Gottes? Substitute des Absoluten in der Reflexion der Moderne 149

gendkultur, die Phänomene der Idolbildung in Sport und Unterhal-


tungsindustrie, der Eventcharakter spektakulärer öffentlicher Inszenie-
rungen zeugen von solchen Prozessen.
Die Hochkultur und die philosophische Reflexion weisen auf ihrem
Ausdrucksniveau ähnliche Substitute des Absoluten auf. Kodalle analy-
siert in diesem Zusammenhang die existentielle Glückskonzeption von
Albert Camus, das Tasten nach Transzendenz in Adornos Negativer
Dialektik, die paradoxale Hoffnungskonzeption Walter Benjamins und
die desillusionierte Mythoshermeneutik Hans Blumenbergs.3 Auch in
Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns zeichnet Kodalle
die „Versprachlichung des Sakralen“ nach. Habermas zufolge geht es
darum, die Einheit der Vernunft in der kommunikativen Alltagspraxis
zurückzugewinnen, nachdem „alle substantiellen Vernunftbegriffe kri-
tizistisch aufgelöst worden sind.“4 Gegenüber kultisch-rituellen Verge-
genwärtigungsformen der emphatisch verstandenen Wahrheit stelle die
Versprachlichung eine approximative „kommunikative Verflüssigung
des religiösen Grundkonsenses“ dar.5
Moderne und Postmoderne sind ohne den philosophisch-theologi-
schen und religiösen Rahmen, den sie auf mannigfache Weise beerben,
nicht verstehbar. Die Formen der Beerbung, der Transformation, der
Umbesetzung, der Substitution, der Surrogatbildung und der versuchten
Annihilierung lassen sich in der Geschichtsphilosophie, in der Ästhetik
und in der Erkenntniskritik aufweisen. Ein sich überbietendes, in sein
Gegenteil umschlagendes Grundmodell stellt sicher die extreme Reli-
gionskritik Nietzsches dar, die in Formen der Remythisierung ein-
mündet. Es geht darum, eine Ebene existentieller Authentizität zu-
rückzugewinnen, die – das ist entscheidend – verloren ging. Das Dogma
vom Ende substantieller Vernunftansprüche, vom Ende philosophischer
Theologie und Metaphysik, der „Tod Gottes“ ist daher die nicht weiter
befragte Voraussetzung der kryptotheologischen Neu- und Ersatzbil-
dungen moderner Philosophie. Lassen sich an diesen Bildungen cha-
rakteristische Züge phänomenologisch und analytisch feststellen, die zu
einer kritischen Aufklärung und Durchbrechung der mit ihnen ver-

3 Kodalle, „Gott“, a.a.O., 410 – 416.


4 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a.M.
1981, 340.
5 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a.M.
1988, 126; vgl. 140 und Kodalle, a.a.O., 417.
150 Teil 1. Religionsphilosophie

bundenen Meinungen und Vorurteile beitragen können? Ich meine in


der Tat, dass dies möglich ist.

2
Die Substitutionsformen des Absoluten weisen Elemente der Anthro-
pologisierung, der Ästhetisierung und der Formalisierung auf. Die An-
thropologisierung in ihrer klassischen Gestalt liegt in der Religionskritik
Feuerbachs vor. Sie liefert mit der Projektionsthese eine einfache Er-
klärung für die Legitimität der Wiederaneignung der entfremdeten
Sinngehalte der Transzendenz. Das ebenso einfache Modell einer ge-
schichtsphilosophisch-emanzipationstheoretischen Säkularisierung der
Eschatologie lässt sich anschließen. Subtiler sind Formen ästhetischer
Transformation und Anverwandlung des Absoluten. So wird die Struktur
ästhetischer Erfahrung durch ihre konstitutiven Eigenschaften der To-
talität und Simultaneität, der Nichtinstrumentalität, der Singularität, der
kommunikativen Selbsttransparenz der Subjekte und des ungeschuldeten
Glückscharakters in Kontinuität mit den erkenntnistheoretisch-logischen
Bestimmungen der visio beatifica, der seligen Schau Gottes bestimmt, wie
sie die hochmittelalterliche Theologie ausgearbeitet hatte.6 Eine analoge
formale Kontinuität weist die rationale begriffslogische Reinterpretation
der göttlichen Trinität in Hegels Anthropo-Theo-Logik auf: Vater, Sohn
und Geist verhalten sich zueinander wie das Allgemeine, das Besondere
und das Einzelne, sie repräsentieren die innere Struktur der sich welt-
geschichtlich entfaltenden Vernunft.7 Es zeigt sich, dass eine tiefenher-
meneutische Erfassung der Entwicklung der okzidentalen Rationalität
ohne deren metaphysisch-theologische Substruktur unmöglich ist. Bei
den erwähnten Prozessen der Ästhetisierung und Logisierung handelt es
sich gleichermaßen um solche der Immanentisierung und Anthropolo-
gisierung, die letztlich ihren geschichtlichen Ermöglichungsgrund wohl
in der Botschaft von der Menschwerdung Gottes und der Gotteben-
bildlichkeit des Menschen haben.
Mit zunehmender Entfernung und Entfremdung vom christlichen
Traditionskontext wandeln sich auch die Rezeptionen und Transfor-

6 Vgl. dazu Thomas Rentsch, „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und
Geschichte der ästhetischen Idee“, in diesem Band.
7 Vgl. dazu Thomas Rentsch, „Negativität und Vermittlung. Hegels Anthropo-
Theo-Logik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000,
213 – 251.
Spuren Gottes? Substitute des Absoluten in der Reflexion der Moderne 151

mationen des Absoluten auf charakteristische Weise. Ihre strukturelle


Eigenart soll im Folgenden erfasst werden. Bereits bei Kant führt die
kritische Gesamtarchitektonik zu einer negativen Ausgrenzung des
Noumenalen, des Dings an sich, des „Übersinnlichen“ „in uns“ und
„außer uns“8 als eines unvordenklichen, unerkennbaren Bereichs. Das
Verhältnis dieses Bereichs zur Ebene der rational rekonstruierten Meta-
physik der Postulatenlehre bleibt unklar und unvermittelt. Die man-
nigfachen Restitutionsversuche eines metaphysisch-ontologischen Ho-
lismus im Rahmen des Deutschen Idealismus, namentlich bei Schelling
und Hegel, konnten hier ebenso anknüpfen wie die Schopenhauersche
Identifikation des „Dings an sich“ mit dem Weltwillen im Rahmen seiner
Willensmetaphysik und unter Einschluss von deren naturalistischer und
darwinistischer Depotenzierung bei Nietzsche.
Die Transformation und Umbesetzung des Absoluten in großen
Entwürfen der Philosophie des 20. Jahrhunderts lässt sich in konzen-
trierter Form an Wittgenstein, Heidegger, Adorno und Derrida unter-
suchen. Beim frühen Wittgenstein wird der allumfassende, ontologische
Bereich: dass die Welt (unter Einschluss des Lebens) ist, als „das Mysti-
sche“ und Unsagbare von innen her ausgegrenzt. Es ist die Ebene des Sinns
der Welt und ineins des Lebens, das „außerhalb“ ihrer liegt und sich nur
„zeigt“.9 Es ist bezeichnend, dass der Aufweis dieses emphatisch ausge-
zeichneten Bereichs bzw. dieser genuinen Sinn-Ebene mit denkbar
weitreichenden Verboten, Tabuisierungen und einer Art Arkandisziplin
einhergeht, mit denen Wittgenstein auch seine Zeitgenossen irritierte.
Dass der gesamte indirekte Aufweis der Sinn-Dimension zwar existen-
tiell, und nicht theoretisch-wissenschaftlich verstanden werden muss, dass
er aber mitsamt den geläufigen Wortbedeutungen von „Gott“, „Sinn“
und „Mystischem“ nur im Kontext der metaphysischen und insbesondere
christlich-theologischen Überlieferung überhaupt verstehbar ist – diese
notwendige Sinnbedingung seines Verstehens expliziert der Tractatus
nicht. An die Stelle einer solchen Explikation tritt ein offenbar beredt
gemeintes „Schweigen“ ber das Unsagbare.10 Die Lebenspraxis Witt-
gensteins, sein Rückzug ins Kloster und dann als Dorfschullehrer in die
niederösterreichische Provinz gehören ebenso zu dieser Sinnexplikation
wie die lebenslange, existentielle Beschäftigung mit dem Werk Kierke-
gaards, wie sie erst wieder durch die neuerlichen Tagebuch-Veröffent-

8 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 91.


9 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M. 1968, 6.41 – 7.
10 Wittgenstein, a.a.O., 6.5 – 7.
152 Teil 1. Religionsphilosophie

lichungen in ihrer ganzen Komplexität und Intensität unzweifelhaft


dokumentiert wird.11 Aber diese religiös-existentielle Ebene des Privat-
lebens wird mit der philosophischen Reflexion nicht mehr explizit und
rational vermittelt.
Eine Entsprechung dieser mystischen Tabuzone, um die andererseits
alles Denken kreist, findet sich in Heideggers Grund- bzw. Urwort des
Seins. Heidegger wie Wittgenstein denken die ontisch-ontologische
Differenz: das Dass der Welt bzw. des Seins im Unterschied zu allem
Seienden, und damit denken sie, ob bewusst oder nicht, in der Tradition
der ontologischen Ursprungsmetaphysik und der von Leibniz und
Schelling formulierten Frage: „Warum ist überhaupt etwas und nicht
nichts?“ So, wie Wittgenstein statisch-ungeschichtlich die Wissen-
schaften und alles logisch Sagbare für konstitutiv unfähig erklärt, vom
„Sinn“, vom „Mystischen“ bzw. von „Gott“ zu handeln, so erklärt
Heidegger seinsgeschichtlich alle bisherige Metaphysik und Onto-
Theologie für konstitutiv unfähig, von der ontologischen Differenz her
zu denken und so das „Sein“ – das Sein des Seienden – zu thematisieren.
Beide – Heidegger wie Wittgenstein – liefern mit dem Aufweis des
(unsagbaren, unerkannten) Absoluten mithin gleichzeitig den Grund
seiner Unsagbarkeit und Unerkennbarkeit. Der Unsagbarkeit bei Witt-
genstein entspricht die Vergessenheit bei Heidegger. Beiden gemeinsam ist
die Diagnose der konstitutiven Verdecktheit des absoluten Sinns durch
die moderne wissenschaftlich-technische Zivilisation und ihre Denk-
und Lebensweise. Was Habermas gerne als kulturkritische Zutat des
Denkens von Heidegger und Wittgenstein abtut, das führt wohl eher ins
Zentrum ihrer Reflexion – in ein Zentrum freilich, das Habermas be-
wusst meidet. Dass das „Sein“ im Heideggerschen Verständnis eine
kryptotheologische, mythische, machtvolle und rätselhafte Dimension
anzeigt, dokumentiert sein gesamtes späteres Denken.12 Hierzu gehören
sowohl die Attribute bzw. Aktivitäten das Sich-Verbergens und des Sich-
Entbergens als auch das Geschickhafte dieses Geschehens, dem der
Mensch ausgesetzt ist, ob er will oder nicht, und das die Epochen
durchwaltet. In den Beitrgen will Heidegger der Seinsvergessenheit mit
einer „Sigetik“ (Schweigelehre) entsprechen, da man „das Seyn selbst
[…] nie unmittelbar sagen“ kann, da es nur „west“ in der „Erschwei-

11 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Denkbewegungen. Tagebcher 1930 – 1932/1936 –


1937, hg. v. Ilse Somavilla, Innsbruck 1997.
12 Vgl. insbesondere Martin Heidegger, Beitrge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA
III/65, Frankfurt a.M. 1989.
Spuren Gottes? Substitute des Absoluten in der Reflexion der Moderne 153

gung“.13 Das „Seyn“ wird als mit Attributen der Personalität versehene
wirkende Macht konzipiert; es „spricht an“ und „versagt sich“ den
wenigen „Zukünftigen“, „auf die als die rückwegig Er-Wartenden in
opfernder Verhaltenheit der Wink und Anfall der Fernung und Nahung
des letzten Gottes kommt.“14 Die Schreibung „Seyn“, dann noch die das
Geheimnishafte steigernde kreuzweise durchgestrichenen Variante von
„Sein“ sind typische Züge dieses Substituts des Absoluten bzw. Gottes.15
Dieser Befund gilt auch dann noch, wenn wir Heidegger darin folgen,
dass er mit dem seinsgeschichtlichen Denken bzw. „Andenken“ des Seins
nur dem „Fehl“, der Abwesenheit Gottes in der Gegenwart der mo-
dernen Welt entspricht.16
Heideggers und Wittgensteins Substitutions- und Transformations-
strategien, die an die Stelle konventioneller Auseinandersetzung mit
traditionellen Formen der Metaphysik, Theologie und religiösen Praxis
treten, sind auch noch in einem weiteren Punkt ähnlich. Wittgenstein
hält die Artikulation des Eigentlichen oder Wesentlichen für sehr schwer,
sehr missverständlich und zunächst für unmöglich und gebietet daher das
Schweigen. Später hält er poetische, dichtende Sprachformen für der
Philosophie eigentlich angemessen. Auch Heidegger rückt das eigentli-
che Denken später in die Nähe des Dichtens. Beiden geht es darum, im
sprachlichen Medium bereits eine spezifische Form der Artikulations-
weise zu verorten, die das Außergewöhnliche und Besondere, ja Ein-
zigartige des Gemeinten anzeigt.
Eine weitere Variante der Substitute des Absoluten neben Witt-
gensteins mystischem Dass der Welt und seiner Unsagbarkeit und Hei-
deggers sich entbergend-verbergendem Sein und seiner Vergessenheit ist
das Nicht-Identische, wie es in Theodor W. Adornos Theorie der Negativen
Dialektik eingeführt wird.17 Es ist die Dimension des begrifflich Unfass-
baren an allen Dingen, eines Unfassbaren, das dennoch gleichsam den
Nerv und das Zentrum aller Wirklichkeit bildet. Auch es ist somit un-

13 Heidegger, Beitrge zur Philosophie, 78 f.


14 Ebd., 395.
15 Martin Heidegger, „Zur Seinsfrage“, in: ders., Wegmarken, Frankfurt a.M. 1967,
238 f.
16 Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische
Einfhrung, München 1989, v. a. 175 – 221.
17 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1970, v. a. 135 – 205.
Vgl. dazu: Traugott Koch/Klaus-Michael Kodalle/Herrmann Schweppenhäuser
Negative Dialektik und die Idee der Versçhnung. Eine Kontroverse ber Theodor W.
Adorno, Stuttgart 1973.
154 Teil 1. Religionsphilosophie

sagbar und wird – notwendig – vergessen. Alles notwendigerweise


identifizierende Denken nämlich vergegenständlicht bereits Etwas als
etwas und macht gleich, was eigentlich anders wäre und „schneidet das
Inkommensurable weg“.18 Der Kantsche Hintergrund der Reflexion
Adornos ist fast überall präsent, insbesondere, wenn er die konstitutiv
diskursive, endliche, identifizierende Synthesisleistung der Subjekte ins
Zentrum rückt. Den negativ ausgegrenzten Bezugsrahmen dieser Er-
kenntniskritik bildet sowohl ein emphatisches Verständnis von unver-
kürzter, nichtverdinglichter individueller Identität als auch die Dimen-
sion endgültiger, nämlich göttlicher Erkenntnis. Diese würde die
Individuen zur Gänze erkennen und lieben. Dass eine solche eschato-
logische Utopie der Erkenntnis Adornos Denken untergründig leitet,
davon zeugen viele seiner, auch ästhetik-theoretischen, Arbeiten.
Einerseits entzieht sich das Nicht-Identische per definitionem jeglicher
begrifflichen Thematisierung; andererseits soll es der Ort des Eigentli-
chen und Telos des wahren Lebens sein. Dieser negativen Dialektik
entspricht auch Adornos ästhetische Theorie. Sie trägt eschatologische
Züge und lebt von hintergründig wirksamen Theologoumena, die
ständig dementiert und verboten werden. In der Form der Kunstwerke
sieht Adorno die „gewaltlose Synthesis des Zerstreuten“, die „gewaltlose
Einheit des Vielen in einem versöhnten Zusammenhang alles Lebendi-
gen“, „die gewaltlose Überbrückung der Kluft zwischen Anschauung
und Begriff. Und nur dieser, den versöhnten Zustand in sich vorbil-
denden Gestalt kann berhaupt Erkenntnis zufallen; in diesem Sinn ist der
Satz aus den Minima Moralia zu verstehen, dass ,Erkenntnis kein Licht
[hat], als das von Erlösung her auf die Welt scheint‘“.19 Erst der escha-
tologische Zusammenfall von ästhetischer Erfahrung und begrifflicher
Diskursivität ergäbe nach Adorno die „wahre Sprache“, deren Idee ihm

18 So bereits Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklrung.


Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, 19. Vgl. dazu: Thomas Rentsch,
„Vermittlung als permanente Negativität. Der Wahrheitsanspruch der „Nega-
tiven Dialektik“ auf der Folie von Adornos Hegelkritik“, in: ders., Negativitt und
praktische Vernunft (Anm. 7), 252 – 270.
19 So zu Recht Albrecht Wellmer, „Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos äs-
thetische Rettung der Modernität“, in: Ludwig v. Friedeburg/Jürgen Habermas
(Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a.M. 1983, 138 – 176, dort 142; vgl.
Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschdigten Leben, in:
ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1980, 281.
Spuren Gottes? Substitute des Absoluten in der Reflexion der Moderne 155

zufolge „die Gestalt des göttlichen Namens“ ist.20 Nach Michael


Theunissen bleibt Adornos ästhetische Eschatologie einer metaphysi-
schen Theologie bei aller Negativität verhaftet. Da das Absolute jedoch
nicht positiv gedacht und vergegenständlicht werden darf – welche
Tradition hatte dies im Übrigen jemals beansprucht? – „wird es immer
kleiner“.21 Es schnurrt zusammen zum blitzartigen Aufschei-
nen–und–schon–Verlöschen von Sternschnuppen oder Feuerwerken,
wie Adorno z. B. in seiner Rezeption des Valeryschen Begriffs der Ap-
parition ausführt.22 Versatzstücke einer neuplatonisch inspirierten Äs-
thetik von Plötzlichkeit, Ekstasis und Pleroma verbinden sich mit einer
kenotischen Christologie: in den Kunstwerken geschieht „das Ver-
dampfen der Transzendenz“, und Schönbergs Musik hat „alle Dunkelheit
und Schuld der Welt […] auf sich genommen.“23 Auch Kodalle weist auf
die für Adornos Denken unverzichtbare Ebene der Transzendenz, des
Absoluten und des „Sinns jenseits allen Machens“ hin.24
Noch eine vierte Variante der von mir gemeinten Substitutionsbil-
dung will ich erläutern. Sie vereint in sich viele Eigenschaften der schon
behandelten Formen. Wittgensteins sprachkritische Variante der Un-
sagbarkeit, Heideggers fundamental-ontologische Differenz und Adornos
Nichtidentisches tragen Züge, die auch im numinosen Grundbegriff der
französischen Poststrukturalisten und der postmodernen Dekonstruktion,
in dem der Differenz, mitschwingen. In den für die genannten Traditionen
grundlegenden Arbeiten von Jacques Derrida, Gilles Deleuze und
Francois Lyotard fungiert die Differenz als die Instanz sich eröffnenden
wie sich entziehenden sprachlichen Sinns, deren Schwund und Entzug,
deren Abwesenheit man nie in Anwesenheit verwandeln kann.25
Strukturell wiederum der traditionellen Konzeption der Ferne und Nähe,

20 Theodor W. Adorno, Fragment ber Musik und Sprache, in: ders., Gesammelte
Schriften, Bd. 16, 252.
21 Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in: Adorno-Konferenz
1983(Anm. 19), 41 – 65, dort 65.
22 Theodor W. Adorno, sthetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, 131. Vgl. dazu
Rentsch, Der Augenblick des Schçnen, in diesem Band.
23 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: Gesammelte Schriften
Bd. 12, Frankfurt a.M. 1975, 126; vgl. dazu Theunissen, a.a.O. (Anm. 20), 60.
24 Kodalle, „Gott“, a.a.O., 412 f.
25 Jacques Derrida, , L’criture et la diffrence, Paris 1967 (dt. Die Schrift und die Dif-
ferenz, Frankfurt a.M. 1972); ders., Marges de la philosophie, Paris 1972 (dt.
Randgnge der Philosophie, Frankfurt a.M. 1976; dt. vollständig Wien 1988); Vgl.
auch Gilles Deleuze, , Diffrence et rptition, Paris 1968 (dt. München 1992); Jean-
Francois Lyotard, Le diffrend, Paris 1983 (dt. Der Widerstreit, München 1987).
156 Teil 1. Religionsphilosophie

der Abwesenheit und Anwesenheit Gottes konform, entfaltet sich um die


Differenz, verfremdet wie das durchgestrichene „Sein“ Heideggers als
„différance“, im Frühwerk Derridas eine Gruppe von ehemals meta-
physisch aufgeladenen Begriffen, deren wichtigster der der „Spur“ ist.
Den metaphysik-geschichtlichen Hintergrund bildet hier Plotins Uwmor-
Begriff, der im neuplatonischen Christentum als vestigium aufgenommen
wird. Insbesondere, wenn Derrida das allen Unterscheidungen noch
vorausliegende Geschehen als „archi-trace“, als „Ur-spur“, bezeichnet
und für die „Differenz“, die noch älter als das Sein ist, die abweichende
Schreibung „différance“ einführt, begibt er sich auf den Weg einer
Substitution des Absoluten im erörterten Sinne.26 Inmitten sprachphi-
losophischer Reflexion der Postmoderne werden so theologisch hoch-
komplexe und voraussetzungsreiche Termini in profane Kontexte der
Hermeneutik und Interpretationstheorie transferiert, ohne deren ur-
sprüngliche Bedeutung und Herkunft noch deutlich zu explizieren. Ihr
suggestives Potential und ihre theologisch-metaphysische Sinndimension
behalten die Grundbegriffe in veränderten Kontexten auf eigentümlich
verfremdete Weise. Insbesondere, wenn „Differenz“ und „Spur“ theo-
retisch verselbständigt werden, ergeben sich Metatheorien bzw. meta-
theoretische Untersuchungen, die zu eigentümlichen Quasi-Metaphy-
siken tendieren.

3
Abschließend will ich einige Strukturelemente der vorgestellten Substi-
tute des Absoluten hervorheben und mögliche Konsequenzen meiner
kurzen Diagnose formulieren. Sicher ließen sich in modernen Theo-
riebildungen auch weitere Substitute des Absoluten aufzeigen. Es sind
vornehmlich flächendeckend verwendete Grundbegriffe wie „Struktur“
und „System“, aber auch solche wie „Kontingenz“ oder „Chaos“, die so
formal und neutral verwendet werden, dass die mit ihnen formulierten
Großtheorien zu Quasi- bzw. Ersatzmetaphysiken tendieren. Auch die
Rede von „Zeichen“ und „Interpretation“ kann solche Tendenzen
befördern. Bei den von mir thematisierten Substitutionsformen lassen
sich insbesondere folgende Strukturmerkmale herausstellen.

26 Vgl. Jacques Derrida, „Die différence“, in: ders., Randgnge der Philosophie, Wien
1988, 29 – 52.
Spuren Gottes? Substitute des Absoluten in der Reflexion der Moderne 157

Die Ersatzbildungen (das „Mystische“, das „Sein“, das „Nichtiden-


tische“, die „Differenz“) sind nicht religiös, metaphysisch oder theolo-
gisch im traditionellen, üblichen Sinne verstehbar.
Sie sind allerdings auch ohne den geschichtlichen Hintergrund und
kulturellen Kontext von Mystik, Metaphysik, Religion und Christentum
(bzw. Neuplatonismus und Gnosis) nicht angemessen verstehbar.
Ihnen eignet starke Negativität: Unsagbarkeit, Verborgenheit, Ver-
decktheit; deswegen werden sie übersprungen, übersehen, verkannt, und
das hat unheilvolle Folgen, denn ihnen kommt in Wahrheit ein emi-
nenter, erhabener, emphatisch auszuzeichnender Status zu; ein Aus-
nahmestatus, der in Wirklichkeit von herausragender praktischer Be-
deutung für das wahre menschliche Selbstverständnis ist. Die mit den
genannten Bildungen verbundene Dimension zu begreifen, das ist ei-
gentlich die wahre, rettende Einsicht. Denn von jeweils ihr aus zeigen
sich die eigene Existenz, die Welt und die Geschichte ganz anders als
üblicherweise in Alltag und Theorie.
Welche Konsequenzen verbinde ich mit der skizzierten Analyse?
Meinem Urteil nach ist es in der systematischen Gegenwartsphilo-
sophie angesichts der Sonderbildungen und ihrer Wirkungsgeschichte
verstärkt erforderlich und angeraten, viel expliziter an Traditionen der
Religion, der Theologie, der Metaphysik und (rationalen) Mystik an-
zuknüpfen und sich bewusst mit ihnen auseinanderzusetzen, anstatt diese
parasitär zu beerben oder sie bloß indirekt vorauszusetzen, ohne sie zu
klären. Im Rahmen einer kritischen philosophischen Theologie und
Metaphysik gilt es, sich wieder mit den Originalen, mit den Vor- und
Urbildern der genannten Sekundärbildungen zu befassen, ihren spezifi-
schen Sinn und genuinen Wahrheitsanspruch erneut freizulegen und ihre
praktische Bedeutung für das Welt- und Selbstverständnis des Menschen
im Dialog von Philosophie, Theologien und Religionen herauszuar-
beiten. Ein allgemeines Verdikt über die Unsagbarkeit authentischer
absoluter Sinnansprüche, über die Unmöglichkeit metaphysischer
Wahrheit und über die Fehlentwicklung der gesamten okzidentalen
Rationalitätsgeschichte – sie tragen dazu ebensowenig bei wie die
Wettbewerbe im Totsagen und Für-Beendet-Erklären von theologi-
schen, metaphysischen und religiösen Inhalten, Themen und ganzen
Epochen, die leider zur üblich gewordenen „Logik“ vieler gegenwärtiger
Diskurse gehören.
Eine weitere Vermutung sei im Blick auf Untersuchungen Kodalles
abschließend angefügt. Bei den Prozessen der Substitution des Absoluten
im skizzierten Sinne und für die mit diesen Prozessen verbundenen
158 Teil 1. Religionsphilosophie

Phänomene der Existenzialisierung, der Formalisierung und der Logi-


sierung (Versprachlichung) ist ein Autor wesentlich, der in Absetzung
von Hegel und in der Absicht der ursprünglichen Aneignung der
christlichen Botschaft eine eigene, moderne Sprache des Absoluten
entwickelt: Kierkegaard. Die weitreichende Bedeutung Kierkegaards
sowohl für Wittgenstein, als auch für Heidegger, Adorno und Autoren
der Dekonstruktion wird in der Forschung immer deutlicher. Vielleicht,
weil er zu Beginn der Moderne am radikalsten die Form eines nicht-
instrumentellen, nicht-vergegenständlichenden Denkens und Lebens, die
„Eroberung des Nutzlosen“ entwarf, ohne die auch keine Spur Gottes
erkennbar werden wird.27 Die explizite Aufklärung des Verhältnisses
philosophischer Theologie zur modernen Reflexion hat daher auch die
weichenstellende Bedeutung der Kierkegaardschen Analysen erneut in
den Blick zu nehmen. Vielleicht lassen sich so Minimalbedingungen einer
philosophischen Theologie ohne Surrogatcharakter reformulieren.

27 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Die Eroberung des Nutzlosen. Kritik des Wunschdenkens
und der Zweckrationalitt im Anschluß an Kierkegaard, Paderborn u. a. 1988; vgl.
Thomas Rentsch, „Anrennen gegen das Paradox: Wittgenstein, Heidegger und
Kierkegaard“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O., 322 – 334;
sowie ders., „Gnosis und philosophische Moderne: Heidegger, Wittgenstein,
Adorno“, in diesem Band; Stephen Mulhall, Inheritance and Originality. Witt-
genstein, Heidegger, Kierkegaard, Oxford 2001; Mariele Nientied, Kierkegaard und
Wittgenstein. „Hineintuschen in das Wahre“, Berlin/New York 2002.
1.II Systematische Perspektiven
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken
1. Zum Status der Philosophie

Um in der Gegenwart die Einheit der Vernunft erneut zu denken, müssen


wir – das ist die These dieses Beitrags – ihre Grenzen neu begreifen. Diese
Einheit wurde ehemals ontologisch, metaphysisch, bewusstseinsphilo-
sophisch und transzendentalphilosophisch gedacht. Die Geschichte der
Philosophie wie auch die der menschlichen Kultur lässt sich auch als ein
Prozess des Reflexivwerdens, der Steigerung der Selbstreflexivität be-
greifen. So können wir heute die ehemals entworfenen Einheitsmodelle
im Rückblick kritisch beurteilen und kulturell, gesellschaftlich und ge-
schichtlich hinsichtlich ihrer Voraussetzungen kontextualisieren. Ent-
gegen einem oberflächlichen Eindruck des Fortschritts der wissen-
schaftlich-technischen Zivilisation im Sinne der Universalisierung
allgemeiner Rationalitätsstandards muss Philosophie als kritische Her-
meneutik verstärkt auf mit diesem Prozess verbundene Fehlentwick-
lungen und kategoriale Irrtümer aufmerksam machen. Die Ontologie-
und Sprachkritik der Philosophie des vergangenen Jahrhunderts hat mit
Heidegger und Wittgenstein und auch mit bestimmten Analysen von
Adorno und Derrida tiefsitzende Missverständnisse in traditionellen
Welt- und Selbstverständnissen freigelegt: ein repräsentationalistisches
Verständnis unserer Sprachpraxis wie auch unserer wissenschaftlichen
Theoriebildung ist verfehlt. Weder eine vorgängige Vorhandenheit-
sontologie noch eine technisch-formal bereits verfügbare Vorhanden-
heitssemantik ermöglicht uns einen genauen Weltzugang und ein
glaubwürdiges Wirklichkeitsverständnis. Mit dieser negativ-kritischen
Grundeinsicht der modernen Philosophie – darauf hat Friedrich Kam-
bartel immer wieder hingewiesen1 – ist eine Vertiefung und Präzisierung
der Kantischen Vernunftkritik verbunden. Das heißt zunächst: Wer die
Intentionen Kants teilt, der muss die systematische Weiterentwicklung
der Vernunftkritik verarbeiten, die mit den großen Leistungen des 20.
Jahrhunderts, vielfach noch unabgegolten, vorliegt. Insbesondere muss

1 Friedrich Kambartel, „Wittgensteins späte Philosophie. Zur Vollendung von


Kants Kritik der wissenschaftlichen Aufklärung“, in: ders., Philosophie der hu-
manen Welt. Abhandlungen, Frankfurt a.M. 1989, 146 – 159.
162 Teil 1. Religionsphilosophie

herausgearbeitet werden, welche Konsequenzen die Sprachkritik und die


sowohl von Heidegger wie von Wittgenstein entwickelte Kritik an allen
Formen cartesianischer Bewusstseinsphilosophie für die kritische Trans-
zendentalphilosophie Kants hat.2
Der Weg zu dieser erneuten Transformation der Trans-
zendentalphilosophie und Vernunftkritik lässt sich allgemein als ein
Rückgang in die (unüberschaubar komplexen) Formen der lebenswelt-
lichen Praxis und der Alltagssprache bezeichnen. Es handelt sich dabei um
ein erinnerndes Vergegenwärtigen derjenigen Verstehensbedingungen
und Sinnkriterien, die uns bereits im alltäglichen Handeln und Sprechen,
oft implizit, leiten und die meist gar nicht bewusst sind. So ist, wie
Wittgenstein musterhaft zeigt, die Regelhaftigkeit unserer Verwendung
der Alltagssprache, zum Beispiel der Farbwörter, von subtiler interner
Komplexität und Differenziertheit. Kein normaler Sprecher könnte diese
Regeln explizieren – alle Sprecher jedoch können die Farbsprache ge-
brauchen.
Der Weg zu einer erneuerten Vernunftkritik besteht in einem zu
klärenden Rückgang in die lebensweltliche Praxis. Avenarius, der späte
Husserl mit seiner Krisis-Arbeit sowie die zentralen Analysen des frühen
Heidegger von Sein und Zeit und des späten Wittgenstein der Philoso-
phischen Untersuchungen unternehmen diesen methodischen Rückgang.
Auf differenzierte Weise wird dabei deutlich, dass ein selbst wieder
theoretisch fixiertes, ontologisch statisches, in diesem Sinne positivisti-
sches Verständnis „der Lebenswelt“ verfehlt ist. Die Lebenswelt ist nicht
Gegebenes, sondern diejenige Praxis, an der wir jeweils selbst noch in
ihrer Entstehung und Weiterentwicklung tätig beteiligt sind. Bereits hier
wird sichtbar, dass der reflexive Rückgang in die Sinnbedingungen der
eigenen Praxis als eine freie, auf Gründe, Argumente und Einsichten
bezogene Tätigkeit begriffen werden muss. Die lebensweltliche Sinn-
konstitution ist in ihrer Struktur verborgen, verdeckt und vielfach un-
bzw. vorbewusst. Ein klärendes Verständnis ist somit nur durch das Ab-
und Wegarbeiten von Missverständnissen und Verdeckungen möglich.
So ist zum Beispiel ein Denken in den Fundamentalunterscheidungen
von „Subjekt“ und „Objekt“, „Geist“ und „Materie“, „Seele“ und
„Leib“, „Bewusstsein“ und „Sein“, „Innen“ und „Außen“ für unsere
Kultur und ihre theoretischen Grundlagen nicht nur auf den ersten Blick

2 Thomas Rentsch, „Heidegger und Wittgenstein. Ein Rückblick auf zwanzig


Jahre Forschung“, in: ders., Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprach-
analysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003, 9 – 74.
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken 163

leitend. Dennoch gibt die Alltagssprachpraxis bei genauerem Hinsehen


eine solche dualistische Ontologie nicht her. Nicht eine solche Ontologie
ist sinnkonstitutiv, so dass wir schon wüssten, was der Sinn der Rede von
einem „Inneren“ des „Bewusstseins“ ist. Bedeutungsverleihend ist nicht
ein wahrnehmbarer Bezug solcher Rede auf innere, geistige Entitäten,
sondern der gesamte situative Kontext oder Hintergrund des konkreten
Gebrauchs der Rede über Geistiges und Inneres. Weder ist dabei das
Geistige auf äußerliche Kriterien reduzibel, noch ist es ohne solche Kri-
terien verstehbar. Es ergibt sich also durch ein solches Vorgehen des
Rückgangs nicht noch einmal eine neue Ontologie, die mit anderen
metaphysischen, bewusstseinsphilosophischen oder naturwissenschaftli-
chen Theorien auf gleicher Ebene in Konkurrenz stünde. Vielmehr er-
geben sich im Wege des Abbaus falscher, irreführender Vorstellungen
befreiende Einsichten in ein tragfähiges und angemessenes Praxisver-
ständnis. Gerade angesichts der gegenwärtigen Debatten im Themen-
bereich von Neurobiologie und Willensfreiheit lässt sich zeigen, wie
weitreichend der hier geschilderte kritische Rückgang ist.
Philosophiegeschichtlich ist der kritisch-hermeneutische Rückgang
in die vielfach unbewusste lebensweltliche Praxis eine Fortsetzung der
sokratisch-platonischen Hebammenkunst der Erinnerung an das le-
benstragende, vergessene Selbstverständliche, die Wiedererweckung, die
Anamnesis des Sinns. Im Kontext der Alltagssprachanalyse lässt sich der
eigentümliche Status philosophischer Entdeckungen im Rahmen einer
solchen Erinnerungsarbeit an die eigene Praxis erläutern. Die Grundfrage
ließe sich so formulieren: Was tun wir eigentlich, wenn wir auf die Weise
x handeln? Was meinen wir eigentlich, wenn wir diese Weise so und so
nennen? Wie lässt sie sich von anderen Weisen, zu handeln, unter-
scheiden? Bei der erläuterten Praxis des Rückgangs ist es immer wieder
erforderlich, negativ-kritisch falsche Verständnisse zurückzuweisen, und
ebenso wichtig, zu erfassen, was wir eigentlich tun, wenn wir sprechen
und handeln. In die kritisch-hermeneutische Methode der Erinne-
rungsarbeit gehen Elemente der Common-sense-Philosophie ein. Neue
Deutungen unserer Praxis aus bestimmten Teilbereichen der Natur-
wissenschaft haben sich vor normativen Verständnissen unserer Kultur zu
legitimieren bzw. einzuordnen, die sich als tragfähig für unser Zusam-
menleben erwiesen haben. Common sense, begriffen als qualifizierte
Lebenserfahrung, hat im Zweifelsfall Vorrang vor einzelnen wissen-
schaftlichen Hypothesen oder vor technisch-apparativ gewonnenen
einzelnen Forschungsergebnissen. Grundsätzlich gilt: Wissenschaftliche
164 Teil 1. Religionsphilosophie

Forschung hat selbst ein normatives Fundament in der lebensweltlich-


gesellschaftlichen Praxis und ist von diesem Fundament aus zu beurteilen.
Die Aspekte des Common sense und des Pragmatismus, die in die
kritische Rekonstruktion der lebensweltlichen Sinnbedingungen ein-
gehen, verbinden sich aufgrund der nötigen Destruktion falscher Ver-
ständnisse mit Aufgaben einer Ideologiekritik. Sie wurden in der antiken
Philosophie als Notwendigkeit der Überwindung bloßes Meinens, der
doxa, gefasst. Von Kant und Hegel wurde diese kritische Aufgabe als
Abarbeitung täuschenden Scheins begriffen, der sich immer erneut auf-
drängt und einstellen will, wenn wir uns selbst und unser Tun zu be-
greifen versuchen. Grundformen des Scheins sind Formen der Reduktion
und Formen der Verdopplung. Der destruktiv-kritische Teil der her-
meneutischen Aufgabe muss auch Elemente der Ideologiekritik des 19.
und 20. Jahrhunderts aufnehmen und weiterentwickeln, die exemplarisch
in den Analysen von Marx zur Kritik der politischen Ökonomie, von
Nietzsche zur vergessenen Lebensbasis des Denkens, von Freud zur
leiblich-sinnlichen Verfasstheit des Alltagslebens vorgelegt wurden. Der
täuschende Schein von Meinungen kann sich wirksam vor ein ange-
messenes Verständnis von Phänomenen schieben. Die täuschenden
Verständnisse, das sah schon Kant, lassen sich nicht ein für allemal aus-
räumen, sondern sie treten immer wieder erneut in veränderter Gestalt in
Erscheinung.
Die Grundstruktur ideologischer Scheinbildungen lässt sich so fassen,
dass wir unsere eigene Praxis missverstehen, indem wir deren Erzeug-
nisse, die wir selbst sprechend und handelnd hervorbringen, als eine
Wirklichkeit an sich denken, die uns bestimmt. Eine solche strukturelle
Entfremdung und Verdinglichung begleitet alle menschlichen Kulturen.
Sie kann in religiöser, in wissenschaftlicher, in alltäglicher, in individuell-
pathologischer Form auftreten. Ebenso, wie unerkannte, ideologische
Scheinbildungen auf die Praxis real zurückwirken und sie verschlechtern,
wirkt die Aufklärung über ihre tatsächlichen Sinnbedingungen befreiend
auf sie zurück. Mit Bezug auf die Kritik der politischen Ökonomie und
mit Bezug auf Grundfragen einer Kritik der religiösen Vernunft werde
ich diesen Zusammenhang weiter unter noch exemplarisch verdeutli-
chen.
Um die Einheit der Vernunft neu zu denken, ist es erforderlich, die
Idee einer Topik und Architektonik der menschlichen Sprach- und Le-
bensformen zurückzugewinnen, eine Übersicht zur Orientierung, die
wir auch eine Grammatik der lebensweltlichen Praxis nennen können.
Wittgenstein benutzt an einschlägiger Stelle das Bild einer Landkarte.
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken 165

Auch das Bild von der alten Stadt, das er für die Sprache in ihrer ge-
schichtlichen Entwicklung verwendet, kann hilfreich sein. In der antiken
Philosophie wurde der Mensch mit zwei wesentlichen Bestimmungen
versehen: Er ist das sprach- bzw. vernunftbegabte und das in der Stadt
lebende Wesen. Eine Landkarte der orientierungsrelevanten Gramma-
tiken muss die unterschiedlichen Vernunftpotentiale der theoretischen,
der praktischen, der sittlichen, der ästhetischen und der religiösen Rede
erschließen und kritisch auf einander beziehen. Eine sprachphilosophi-
sche Grundeinsicht kritischer Hermeneutik kann im Blick auf den le-
bensweltlichen Kontextholismus so formuliert werden: Beachtet werden
muss gerade das – gelingende oder misslingende – Zusammenspiel der
ausdifferenzierten Grammatiken. Ein sektorieller Ausgrenzungsplan der
menschlichen Vernunftvermögen würde deren wechselseitiges Ergän-
zungs- und Durchdringungsverhältnis verkennen. So sind wir zum
Beispiel bei allen Sprach- und Handlungsformen auf bestimmte Tech-
niken angewiesen: Bei der Verfassung von Texten zu bestimmten
Zwecken ebenso wie beim Brückenbau, in der Landwirtschaft oder in der
chirurgischen Eingriffspraxis. Deswegen gilt in einem Kontextholismus
der humanen Vernunft ganz besonders der Grundsatz Heideggers, dass
Techniken nichts bloß Technisches sind. Auch Wittgenstein hebt in
seinen Analysen die „technischen“ Gebrauchsgrundlagen unseres
Sprachhandelns ständig hervor. Es kommt hinzu: Wir müssen lernen, zu
denken und zu sprechen. Die dazu nötigen Einübungsformen sind nichts
„bloß Didaktisches“, bloße Pädagogik in einem ephemer vermittelnden
Sinne, sondern die Formen der Vermittlung sind selbst vernunftkonstitutiv.
Wenn Gesellschaften dazu tendieren, Techniken, die ehemals zu Recht
als Knste begriffen wurden, an Apparate und Maschinen abzugeben,
deren mechanischer Produktion und Reproduktion einstmals autonome
menschliche Tätigkeiten überantwortet werden, dann sind Formen der
entfremdeten und enteigneten Vermittlung zu kritisieren. Demgegen-
über erscheinen zum Beispiel die traditionelle Rhetorik und auch die
Stilistik als Versuche, für bestimmte Kontexte angemessene Sprachfor-
men zu finden und Techniken bewusst anzueignen.
Ebenso ist es verfehlt, die Wissenschaftssprachen und die Sprachen
der Kunst so zu separieren, als seien ästhetische Erfahrung und sinnliche,
bildliche Vermittlung und literarische Form der Darstellung nur äußer-
liche Faktoren. Es gehört zu einer Wiedergewinnung der Komplexität
der Vernunftperspektive, deren bildliche, sinnliche Dimension erneut zu
erschließen und zu begreifen. Vernunft ist auf sinnliche, bildliche und
beispielbezogene Vermittlung bleibend und dauernd angewiesen.
166 Teil 1. Religionsphilosophie

Kambartel hat dies immer wieder auf sehr grundsätzliche Weise erläutert.3
Das paradigmatische Fundament unseres Erkennens bleibt stets erhalten;
theoretische Konstruktionen können es nur zum Schein gänzlich ent-
behren, weil elementare Beispiele und Gegenbeispiele für unser Ver-
stehen unverzichtbar bleiben. Die Möglichkeit, allgemeine, abstrakte und
universale Sätze und Geltungsansprüche auf besondere Situationen und
einzelne Individuen zurück zu beziehen, macht einen wesentlichen Teil
unseres Denkvermögens schon im Alltag aus und bildet dessen elementare
dialektische Struktur.
Auf diesem Hintergrund lässt sich der Status der philosophischen
Reflexion näher bestimmen. Die Geschichte der Philosophie zeigt uns,
dass sie eine große Bandbreite literarischer Formen verwendet und aus-
gebildet hat. Innerhalb einer komplexen Reflexionssituation, einer
Kommunikation, die die ganze Vielfalt sprachlicher Möglichkeiten bei
Bedarf nutzen kann, lässt sich die dialektische Struktur unserer Orien-
tierungspraxis am besten vergegenwärtigen. Die Dialoge Platons bilden
das klassische Beispiel solcher, ganze Beurteilungsperspektiven in Beziehung
setzender Sprachereignisse.4 Deswegen sind auch die schriftlichen For-
men der Philosophie seit Platons Schriftkritik als behelfsmäßige Formen
bewusst, die das eigene Denken und das gemeinsame Gespräch nie er-
setzen können. Im konventionellen Philosophiestudium wurde diese
dialogisch-diskursive Grundform philosophischer Reflexion lange Zeit
zu wenig beachtet. Stattdessen wurde die Aneignung eines Wissens über
die Theorien und Auffassungen von Philosophen an die Stelle lebendigen
Philosophierens gesetzt. Philosophiegeschichtsschreibung ersetzte viel-
fach eigenes Denken. Demgegenüber ist die Einübung in das selbständige
Philosophieren und auch in das Schreiben philosophischer Texte ver-
nachlässigt worden. Gerade im Kontext der Ausbildung der Ethik- und
Philosophielehrer und -lehrerinnen für das Gymnasium, aber auch für die
Mittel- und Grundschule wurde in den letzten Jahren deutlich, dass und
wie eine Einübung in das Verfassen von philosophischen Texten ver-
schiedener literarischer Form produktiv eingesetzt werden kann.5 Auf

3 Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empi-
rismus und Formalismus, Frankfurt a.M. 1968, 21976. Vgl. zum paradigmatischen
Fundament auch: Achim Hahn, Erfahrung und Begriff. Zur Konzeption einer so-
ziologischen Erfahrungswissenschaft als Beispielhermeneutik, Frankfurt a.M. 1994.
4 Vgl. dazu grundlegend: Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens,
Göttingen 1982.
5 Vgl. dazu Johannes Rohbeck (Hg.), Philosophische Denkrichtungen, Dresden 2001;
ders. (Hg.), Denkstile der Philosophie, Dresden 2002, darin: Thomas Rentsch,
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken 167

diese Weise erfolgt geradezu eine Bestätigung, aber auch Weiterführung


von Grundauffassungen der Spätphilosophie Wittgensteins. Es lässt sich
zeigen, dass die philosophischen Methoden z. B. der Phänomenologie,
der Sprachanalyse, der Hermeneutik und Dialektik selbst in elementaren
Formen der Alltagssprache wurzeln und gründen: im Beschreiben, im
Zerlegen, im Interpretieren von Äußerungen und im Streiten und Be-
streiten. Philosophische Schulrichtungen, die sich gegeneinander ver-
einseitigt ausdifferenziert haben, lassen sich somit als partiale Stilisie-
rungen von bestimmten Sprachspielgrundformen der Alltagssprache
begreifen. Eine Aufgabe der Rückgewinnung der Einheit der Vernunft
besteht in der systematisch zu erneuernden Einsicht in die wechselseitige
Bezogenheit und Interkorrelation dieser Formen.
Der Status der Philosophie wird dadurch auch im Verhältnis zu den
Wissenschaften klarer bestimmbar. Wenn es zutrifft, dass wir bei all
unseren wissenschaftlichen und normativen Orientierungen wie auch bei
all unseren kritischen Reflexionsbemühungen auf Alltagssprache und
konkrete Lebenserfahrung angewiesen sind und bleiben, dann ist das
Philosophieren als Einüben in die kritische Beurteilung unserer eigenen
(und anderer) Beurteilungsperspektiven zu bestimmen. Auf diese Weise
wird auch schon deutlich, dass alle theoretischen Überhöhungen im
Sinne einer „Metatheorie“, einer Superwissenschaft, einer Letztbe-
gründungsdisziplin das eigentlich spannende und wesentliche am Phi-
losophieren gerade verfehlen. Denn die negativ-kritische Erkenntnis
dessen, was wir nicht wissen und begründen können, reicht unter
Umständen viel weiter als die positiv zu sichernde Erkenntnis. Es gilt, die
Grenzen der jeweiligen Erkenntnismöglichkeiten selbst kritisch beurtei-
len zu können. Welche Antworten sind eigentlich auf welche wissen-
schaftlichen Fragen und Forschungen zu erwarten, und welche nicht?
Auf welche Ergebnisse warten wir, wenn wir bestimmte Untersuchun-
gen anstellen? Um die Grenzen von Beurteilungsperspektiven selbst
beurteilen zu können, bedarf es der Ausbildung interdisziplinärer und
transdisziplinärer Diskurse, die auf gesellschaftliche Fragen und Probleme
und so auf die lebensweltliche Praxis bezogen sind. Wie wollen und sollen
wir morgen leben? Wie sollen wir Erziehung und Altern planen und
organisieren? Wie sollen wir bauen? Zur Beantwortung solcher Fragen

„Phänomenologie als methodische Praxis. Didaktische Potentiale der phäno-


menologischen Methode“, 11 – 28; Johannes Rohbeck (Hg.), Didaktische
Transformationen, Dresden 2003, darin: „Thomas Rentsch, Einführung in den
Konstruktivismus. Proto-Ethik und didaktische Transformation“, 139 – 149.
168 Teil 1. Religionsphilosophie

können einzelne Disziplinen und einzelne gesellschaftliche Gruppen,


auch Experten und sogenannte Funktionseliten, nur Aspekte beitragen.
Um tragfähige Orientierungen und Entscheidungen zu erreichen, gibt es
keine verfügbaren Instanzen, die den an der konkreten gesellschaftlichen
Praxis beteiligten Menschen ihre eigene Urteilsbildung abnehmen
können – weder Wissenschaft noch Philosophie.
Die philosophische Reflexionskultur dient daher zunächst der ne-
gativ-kritischen Herausarbeitung der Grenzen der menschlichen Er-
kenntnis und Praxis. Als grundsätzliche Formen der Verfehlung ver-
nünftiger Orientierungen haben sich Formen des Reduktionismus
erwiesen, die stets dazu tendieren, komplexe, unterschiedliche Gram-
matiken und sprachliche Möglichkeiten nach der Formel: x ist nichts
anderes als y auf eine solche Möglichkeit zurückzuführen bzw. sie von
einer solchen Möglichkeit abzuleiten. Der mechanische Materialismus
des 17. und 18. Jahrhunderts erlag dieser Verlockung, alle Erscheinungen
– auch die der kulturellen Praxis – als kausal determinierte gesetzliche
Abläufe zu interpretieren und zu erklären. Zu Recht kritisierte bereits der
skeptische Empirismus die theoretische Uneinlösbarkeit einer solchen
reduktionistischen, alles erklärenden Perspektive. Man muss Kant Recht
geben, wenn er auf die immer wieder neu zu leistende Aufgabe der
Vernunftkritik hinweist. In der Gegenwart sind Formen eines neuro-
biologischen Reduktionismus der humanen Welt und der uns vertrauten
lebensweltlichen Praxis im Schwange. Wenn wir in der alltäglichen
Handlungswelt fragen: „Warum bist du nicht gekommen?“, „Warum
hast du deinem Freund nicht geholfen?“, dann erwarten wir im Regelfall
Grnde, wenn nicht andere Ereignisse Ursachen des fraglichen Verhaltens
waren. Die konkrete Welt der Gründe ermöglicht und trägt unsere
praktischen, normativen Lebensorientierungen. Nicht diese fordern al-
lererst eine theoretische Begründung im Rahmen einzelner wissen-
schaftlicher Untersuchungen, sondern es ist umgekehrt: wissenschaftli-
che Projekte müssen ihre Ziele, ihre normativen Grundlagen und ihre
Kosten begründen. Bereits Kant sah, dass ein halbierter Rationalismus die
Vernunft ums Ganze bringt, wenn dieser Primat der praktischen Ver-
nunft nicht länger im Blick ist. Wenn wir heute eine Einheitsperspektive
der Vernunft kritisch zurückgewinnen wollen, müssen wir die traditio-
nellen Unterscheidungen von Verstand und Vernunft, von ratio und in-
tellectus, von nous und episteme neu verstehen. Keine empirische Unter-
suchung und keine Computersimulation wird uns eine eigenständige
Begründungsleistung jemals abnehmen oder auch „beweisen“, dass es
eine solche Leistung auf naturwissenschaftlich-empirisch feststellbare
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken 169

Weise „gibt“. Sie wird, worauf auch Kant bereits aufmerksam machte,
aber auch niemals beweisen können, dass es sie nicht gibt. Eine analoge
Kategorienverwechslung finden wir seit langem im Bereich der Part-
nerschaft und der Liebe. Populärwissenschaftliche Darstellungen be-
schreiben kommunikative Lebensformen – mit all ihren kulturellen,
sozialen und ethischen Aspekten – als Wirkungen bestimmter chemischer
Prozesse, in der die Stoffe „Serotonin“, „Dopamin“ und andere die Rolle
von Quasi-Subjekten übernehmen. Entsprechend könnten wir die
menschliche Kochkunst in ihrem ganzen Reichtum durch leere Mägen
und Hungergefühle zu „erklären“ versuchen. Materielle Lebensbedin-
gungen sind bereits immer schon in unsere kommunikative Lebenspraxis
eingebettet und einbezogen und können nur künstlich aus diesem kul-
turellen Kontext isoliert werden. Ein kausaler Determinismus und ein
neurobiologischer Materialismus sind gegenwärtige Formen einer szi-
entistischen Quasi-Metaphysik. Ihr gegenüber sind die traditionellen
Ansätze einer Metaphysik der Freiheit, der Personalität und der Men-
schenwürde im Recht. Sie lassen sich heute undogmatisch als Explika-
tionen der Sinnbedingungen einer menschlichen Welt verstehen und
rekonstruieren.
Die kritisch-hermeneutische Rekonstruktion einer umfassenden
Vernunftperspektive muss von der Grundeinsicht ausgehen, dass wir die
konkreten Sinnbedingungen unserer Praxis, unseres Denkens, Sprechens
und Handelns nicht erreichen können, wenn wir unterhalb ihrer kom-
plexen, intern begrifflich strukturierten Konstitution mit unseren Ana-
lysen ansetzen und von einem subhumanen, subkomplexen oder partialen
Bereich aus diese Konstitutionsebene wieder einholen wollen. Diese
Grundeinsicht artikuliert Kant mit seiner Rede vom Faktum der Ver-
nunft. Wittgenstein bemerkt einmal: „Ein lächelnder Mund lchelt nur in
einem menschlichen Gesicht.“6 Anders formuliert: Wir müssen von der
Irreduzibilität authentischer humaner Phänomene ausgehen, deren ge-
nuinen Geltungssinn es freizulegen und zu erfassen gilt.
Das ist im Blick auf die praktische Seite der Vernunft von besonderer
Bedeutung, da Konstitutionsanalysen, Analysen der Grammatik von
Sinnbedingungen und Geltungsansprüchen, die diese Irreduzibilität zum
Ausgangspunkt nehmen, in der Perspektive falscher, weil illusionärer
Begründungs- und Ableitungsvorstellungen immer wieder mit dem
Vorwurf des „naturalistischen Fehlschlusses“ bzw. mit dem Vorwurf des
logisch falschen Schlusses „vom Sein auf das Sollen“ konfrontiert wer-

6 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M.1971, I, 583.


170 Teil 1. Religionsphilosophie

den.7 Diese Kritiker haben ein theoretizistisches Philosophieverständnis


und ein damit oft verbundenes naturalistisches Missverständnis von
Feststellungen über die Konstitution der Lebenswelt und die Grammatik
von Geltungsansprüchen. „Irreduzibilität“ von Geltungsansprüchen und
Sinnbedingungen besagt gerade, dass diese von nichts anderem ableitbar
sind. So können wir die interne Konstitution der Lebensform der
Freundschaft mitsamt ihren charakteristischen Regeln, mit ihrer Gram-
matik, gegenwärtig explizieren und so auch Heranwachsende in diese
Grammatik einführen. Eine dualistische Aufspaltung des authentischen
Freundschaftsphänomens in bloß faktische und bloß normative „Teile“
oder „Ebenen“ ist völlig unangemessen. Wir lernen auch die „idealen“,
die besonders anspruchsvollen Aspekte der Freundschaft an und in
konkreten Lebensformen. Mit Kant und Hegel, Heidegger und Witt-
genstein können wir Platon und Aristoteles Recht geben: Platon ist im
Recht, wenn er darauf insistiert, dass ohne normativ-ideative Perspek-
tiven, Paradigmen, „Urbilder“ und Modelle keine Orientierung und
Beurteilung faktischer, realer Praxis möglich ist, wir in der Höhle ohne
Einsicht und Aufklärung gefangen bleiben müssten. Aristoteles ist im
Recht, wenn er herausarbeitet, dass alle „höhere“ Einsicht in die Ideen
kraftlos und abstrakt bleiben würde, wenn sie nicht in gelebte, tradierte
Formen der Sittlichkeit konstitutiv Eingang fände.8
Es ist daher auch ein tiefgreifendes Missverständnis, wenn wir den
kritisch-hermeneutischen Rückgang in die alltagssprachliche Praxis mit
einem Rekurs auf Positivität, auf bloßes „Gegebenes“ verwechseln. Der
reflexive Rückgang in die Sinnbedingungen, das anamnetische Re-
konstruieren von normativen Grundlagen unseres Sprechens und Han-
delns ist eine nicht abschließbare, offene und nicht schematisierbare
Tätigkeit, die für jeden Phänomen- und Problembereich in seiner in-
ternen Komplexität auf angemessene Weise durchgeführt werden muss.
Zu den Voraussetzungen einer kritisch-hermeneutischen Rekon-
struktion der Grenze und der Einheit der Vernunft gehört also der sprach-
, ontologie- und wissenschaftskritische Rückgang auf die Alltagssprache
und die lebensweltliche Praxis. Es gehört dazu die Ideologiekritik an
entfremdeten Selbst- und Weltverständnissen. Es gehört dazu die Ge-

7 Vgl. zu solchen Kritikansätzen Thomas Rentsch, „Methode und Selbster-


kenntnis“, in: ders., Die Konstitution der Moralitt. Transzendentale Anthropologie
und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999, I–L.
8 „Rückblick auf Aristoteles und Kant“, in: Rentsch, Die Konstitution der Moralitt,
a.a.O., 288 – 338.
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken 171

winnung einer übersichtlichen Ordnung (Topik, Architektonik) der


Orte unserer Lebenspraxis und ihrer Grammatik. Die philosophische
Reflexion kann, um diese Ordnung zu beschreiben, kein besonderes
„Metawissen“ in Anspruch nehmen, sondern ist nur ein auf Beispiele
angewiesenes, Formen der Vermittlung und Interkorrelation erproben-
des Hilfsmittel der Orientierung. Als solches aber ist sie reflexiv auf das
Ganze (die Totalität) des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses
ausgerichtet. Die sinnkritische Grenzreflexion der Philosophie soll die
Beurteilung von Beurteilungsperspektiven ermöglichen. Sie richtet sich
gegen Reduktionismus und Dogmatismus auf allen Ebenen und muss
versuchen, die Vernunftpotentiale zur retten, zu bewahren, und wei-
terzudenken, die in der bisherigen kulturellen Entwicklung angelegt sind.

2. Aufgaben gegenwärtiger Vernunftkritik


An drei Bereichen philosophischer Reflexion will ich Aufgaben einer
kritischen Hermeneutik in vernünftiger Absicht im Folgenden noch
verdeutlichen:
1. theoretisch – im Blick auf unser Sprachverständnis,
2. praktisch – mit Bezug auf das Verhältnis von Anthropologie, Ethik,
Politik und Ökonomie,
3. religionsphilosophisch – bezogen auf das Ganze unseres Welt- und
Selbstverständnisses.

1. Da ein Vernunftverständnis nicht auf einen Teilbereich der Praxis


eingeschränkt werden kann – etwa auf Formen wissenschaftlicher Ra-
tionalität –, muss ein solches Verständnis sich der ganzen intrakulturellen
und interkulturellen Komplexität und Ausdifferenziertheit menschlicher
Sprachmöglichkeiten öffnen und stellen. Aus der negativ-kritischen
Einsicht, dass es keinen archimedischen Punkt der Konstitution ver-
nünftiger Verhältnisse „an sich“ gibt, folgern in der Gegenwart viele
Philosophen, Soziologen und zum Beispiel auch Medientheoretiker ei-
nen Relativismus der Beliebigkeit unserer Orientierungen – anything
goes.
Diese Folgerung ist gerade die falsche Konsequenz aus einer nicht
begriffenen sprachphilosophischen Reflexion im Anschluss an Witt-
genstein. Dass es – um es in der Terminologie Wittgensteins zu sagen –
kein „Sprachspiel aller Sprachspiele“ gibt, keine „transzendentale“
172 Teil 1. Religionsphilosophie

Sprache, keine „Metasprache“ die der Sinnexplikation aller übrigen


Sprachen mächtig wäre – dies ist gerade die sprachkritische Reformu-
lierung der Einsicht Kants in die Grenzen der menschlichen Vernunft. Die
Einsicht in die Grenzen der sprachlichen Möglichkeiten ist verbunden
mit der Freisetzung der unüberschaubar komplexen sprachlichen Welt-
bezüge und Sinnentwürfe, die in ihrem jeweils eigenen Recht begriffen
werden müssen. So, wie kein Spiel – Halma, Schach, Hockey, Fußball –
von einem anderen ableitbar oder auf ein anderes Spiel reduzierbar ist, so
lassen sich die vielen Sprachpraxen zunächst nur aus sich selbst und ihrer
internen Grammatik, ihrer genuinen Konstitution, erfassen und verste-
hen. In der antiken Philosophie wurde erstmals bewusst, dass die logisch-
wissenschaftliche Diskursivität nur einen Aspekt des sinnvollen
menschlichen Weltbezuges bildet. Neben diesem selbst intern ausdiffe-
renzierten Formenbereich werden als genuine sprachliche Sinnentwürfe
z. B. Tragödie und Lyrik freigesetzt. In der Tragödie werden unlösbare
Konflikte in ihrer Abgründigkeit vergegenwärtigt, die sich einer ratio-
nalen, diskursiven Lösung oder Auflösung aufgrund ihres Wesens wi-
dersetzen. Auch diese Konflikte gilt es zu begreifen, es gilt, sie gestaltend
einsichtig zu machen und so sozial kommunizierbar zu halten. Die Ka-
tharsis ist die soziale Kategorie der Identitätsstiftung, die Aristoteles für
diese Dimension der menschlichen Sprachpraxis herausarbeitet. Die
Dimension tragisch-kathartischer Vergegenwärtigung ist ein bleibend
unverzichtbares Konstituens umfassender vernünftiger Weltorientierung.
Entgegen mancher geschichtsphilosophischen Spekulationen vom „Ende
des Tragischen“ prägen tragische Konflikte in vielen Formen weiter unser
Leben. Eine entsprechende Vergegenwärtigungskultur ist daher uner-
setzlich, welche moderne künstlerische und mediale Form sie auch immer
annehmen mag. Ebenso wurde in der Antike der logisch-argumentativen
Grundform der Diskursivität neben der Tragödie die Lyrik zur Seite
gestellt. In den Gedichten des Archilochos und der Sappho wird auf für
lange Zeit kaum überbietbare Weise die existentiell-emotionale Di-
mension sprachlicher Vergegenwärtigung des Lebens gestaltet. Ersicht-
lich ist bereits an der antiken Selbstreflexion des Reichtums der
sprachlichen Formen, dass diese sich keineswegs in dualistische Entge-
gensetzungen z. B. von „Intersubjektivität“ und „Subjektivismus“ bzw.
von wissenschaftlicher Objektivität und bloß dichterischem Ausdruck
bringen lassen. Rhetorische Formen und Stilmittel, der Einsatz bildlicher,
metaphorischer und paradigmatischer Sprache gehören vielmehr kon-
stitutiv auch zur wissenschaftlichen Rede und Kommunikation. Für die
praktische Vernunft sind sie unverzichtbar, um konkrete Lebenssitua-
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken 173

tionen zu vergegenwärtigen, auf die sich unsere normativen Sätze und


Begriffe stets müssen zurückbeziehen lassen. Das gilt auch für die gesamte
rechtliche Sphäre, deren paradigmatisches Fundament im Bezug auf zu
beurteilende „Fälle“ unzweifelhaft ist. Andererseits sind die literarischen
Formen der Subjektivität wie die Lyrik und spätere narrative Formen in
hohem Maße intersubjektiv, besser noch: transsubjektiv zu nennen.
Ebenso wie die Stilmittel der Rhetorik und auch Kompositionstechniken
in der Musik haben wir es gerade in diesem Bereich menschlicher
Sinnentwürfe mit objektiven, einsichtig zu machenden, anspruchsvollen
Gestaltungsformen gemäß intersubjektiven Regeln zu tun. Sie gehören so
zur Vernunft in ihrer internen Komplexität und dürfen nicht unbegriffen
als irrational oder subjektiv, beliebig oder ornamental ausgegrenzt wer-
den. Um ein ganzheitliches Vernunftverständnis kritisch zurückzuge-
winnen, muss daher die ganze Komplexität der Sprache in Geschichte
und Gegenwart in die Reflexion eingeholt werden. Das Historische
Wçrterbuch der Philosophie bietet mittlerweile einen gründlichen Einblick
in die Geschichtlichkeit der Sprache der Philosophie selbst. Sie erscheint
als ein lebendiger Prozess der Sinnbildung, an dem jede Epoche auf ihre
Weise beteiligt war und die nicht statisch zu fixieren ist. Immer deutlicher
wird in dieser Forschung, dass schematische Oppositionen von „histo-
rischen“ und „systematischen“ Fragen wie auch von theoretischer Dis-
kursivität und ästhetischer Form viel zu kurz greifen. Weitreichender in
kritisch-hermeneutischer Perspektive sind gerade Fragen nach dem Wie
der konstruktiven Aneignungsweise der klassischen Texte der Philoso-
phie von Platon und Aristoteles, Kant und Hegel sowie Fragen nach der
Bedeutung und Funktion literarischer Formen in Wissenschaft und Philo-
sophie.9 Weil Philosophie kritische Sinngrenzreflexion war und ist, weil
sie die kritische Analyse der Grenzen der Vernunft immer neu zu leisten
hat, muss sie sich über wissenschaftliche Diskursivität hinaus literarischer
Formen und genuiner Bildlichkeit bedienen.10 Denn die denkende

9 Vgl. dazu Gottfried Gabriel/Christiane Schildknecht (Hg.), Literarische Formen der


Philosophie, Stuttgart 1990; Gottfried Gabriel, Zwischen Logik und Literatur. Er-
kenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991; Chris-
tiane Schildknecht/Dieter Teichert (Hg.), Philosophie in Literatur, Frankfurt a.M.
1996.
10 Ich betreute ein Forschungsprojekt der Thyssen-Stiftung zum Thema „Sprache
und Bildlichkeit. An den Grenzen der Sprache. Zur Aktualität von Bildlichkeit in
Philosophie, Theologie und Kulturwissenschaft“. In diesem Projekt wurden
Ansätze einer philosophischen Metaphorologie, wie sie u. a. von Hans Blu-
174 Teil 1. Religionsphilosophie

Sinnvermittlung und Sinnerschließung durch Philosophie ist verwandt


mit Formen der Dichtung, obwohl sie etwas anderes ist. Kritische Re-
flexion auf Grenze und Problematik der vernünftigen Selbsterkenntnis
des Menschen muss diese sprachphilosophische Dimension explizit und
umfassend thematisieren. Zwei Irrwege sind dabei zu vermeiden. Erstens
kann die Sprachgrenzproblematik nicht durch Rekurs auf Einzelwis-
senschaften oder durch bloß formale Satzanalysen vermieden oder eli-
miniert werden. Das gelingt nur scheinhaft, wie schon der frühe Witt-
genstein sah. Zweitens führt aber auch der Weg bloßer Hermeneutik
oder, in „postmodernem“ Gewand, der „Dekonstruktion“ nicht weiter,
wenn die Texthermeneutik immanent und, wie subtil auch immer,
philologisch bleibt. Die Interpretationen müssen vielmehr in praktischer
Absicht auf konkrete Lebensfragen und gesellschaftliche Probleme der
Gegenwart und der Zukunft bezogen bleiben. Im Blick auf die innere
Komplexität der Sprachpraxis geht es nicht darum, Grenzen und Diffe-
renzen von argumentativer und vergegenwärtigender, sagender und
zeigender Rede11 zu verwischen und einzuebnen, sondern im Gegenteil:
diese gerade deutlich zu machen und auf diese Weise die Sprachpraxis
durchlässig und transparent zu gestalten. Das gilt für analytische und
hermeneutische Methoden, die nicht gegeneinander zu vereinseitigen
sind.12 Auch hier ist die Übersicht, sind Topik und Architektonik der in
sich differenzierten Entwürfe ein unverzichtbares Desiderat. Erst so
werden sich auch die interkulturellen Formen eines hermeneutischen
Differentialismus kritisch weiterentwickeln lassen.

2. Es wurde bereits deutlich, dass die kritisch-hermeneutische Sprach-


grenzreflexion auf ihre praktische, lebensweltliche Fundierung dauerhaft
angewiesen bleibt. Um Grenze und Einheit der Vernunft philosophisch
zurückzugewinnen, muss im Bereich ihrer praktischen Dimension der
Bezug von Anthropologie, Ethik, Politik und Ökonomie neu gedacht
werden. Die Potentiale eines von der soziopolitischen und ökonomi-
schen Realität des weltgeschichtlichen Prozesses abgespaltenen bloßen
Normativismus scheinen erschöpft zu sein und tendieren dazu, ideolo-

menberg vorgelegt wurden, systematisch und praktisch-philosophisch weiter-


entwickelt.
11 Vgl. Thomas Rentsch/Morris Vollmann, Artikel „Zeigen“ in: Joachim Ritter/
Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie,
Bd. 12, Basel 2005, 1182 – 1186.
12 Vgl. dazu Christoph Demmerling, Sinn, Bedeutung, Verstehen. Untersuchungen zu
Sprachphilosophie und Hermeneutik, Paderborn 2002.
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken 175

gisch zu werden. Demgegenüber werden Marx’ klassische Analysen der


Verdinglichungs- und Quantifizierungsprozesse der kapitalistischen
Ökonomie erneut bestätigt. Der vage Titel der „Globalisierung“ über-
schreibt einen planetarischen Vorgang, dessen politische Bedeutung und
Konsequenzen noch wenig begriffen wird und der einstweilen durch
prekäre Konfrontationen nur scheinbar religiös-kultureller Art und durch
den spektakulären Terrorismus überdeckt wird. Um die normative
Perspektive der praktischen Vernunft in ihrer universalen und ebenso
konkreten, auf materiale Probleme bezogenen Bedeutung zurückzuge-
winnen, muss die Kontextualität der ethischen Fragen neu begriffen
werden. Die alten Fragen nach der menschlichen Selbsterkenntnis und
nach dem Sinn des Lebens stellen sich angesichts der Entwicklungen der
Gentechnologie, angesichts der technischen Möglichkeiten der Le-
bensverlängerung und angesichts der Entwicklung des menschlichen
Alterungsprozesses neu. In diesen Kontexten gilt es, die ethischen und
praktischen Grundbegriffe und Grundsätze neu zu reflektieren und neu
zu begreifen. Die Kontexte weisen einerseits zurück auf das unver-
zichtbare Erfordernis, ein tragfähiges, verbindliches, normatives Ver-
ständnis humanen Lebens zu explizieren. Sie weisen darauf hin, dass
anspruchsvolle Formen lebenstragender Selbsterkenntnis, die einmal im
Zentrum von Philosophie, Religion und humanistischer Kultur standen,
durch keine neue naturwissenschaftliche Entwicklung und durch keine
neue technisch-apparative Erfindung ersetzt oder abgelöst werden
können. Wir müssen daher die normativen Implikationen unserer ei-
genen Vernunfttradition erneut begreifen und für unsere Gegenwart
angemessen verdeutlichen. Die Kontexte weisen andererseits auf die
grundsätzliche Tatsache der Vernetzung und Verflochtenheit der ethi-
schen mit politischen und ökonomischen Fragen auf der lokalen wie auf
der internationalen Ebene. Kambartel weist in seinen Bemerkungen zur
Kultur der humanen Welt bereits prägnant darauf hin, dass das gute Leben
mittlerweile ein Menschheitsprojekt geworden sei.13
Wählen wir zur Veranschaulichung zunächst einen konkreten Bei-
spielbereich. Angesichts solcher Grundfragen wie der nach dem humanen
Umgang der Menschen mit Alter, Pflege, Sterben und Tod wird mitt-
lerweile deutlich, dass nur ein gesamtwissenschaftlicher Diskurs unter
Einbezug aller damit befassten Disziplinen Aufklärung und Orientierung
liefern kann. Die Wissenschaften müssen mit ihren Projekten und Zielen
noch weit mehr als heute üblich in gesamtgesellschaftlich klar gewordene

13 Kambartel, Philosophie der humanen Welt, a.a.O., 24.


176 Teil 1. Religionsphilosophie

Ziel- und Zwecksetzungen eingebunden und auf die demokratischen


Willensbildungsprozesse einer sich selbst aufklärenden Zivilgesellschaft
bezogen werden.14 Schulen und Hochschulen müssen dazu mehr denn je
in die Lage versetzt werden, mündige Bürger einer aktiv partizipierenden
Zivilgesellschaft zu erziehen und zu bilden. So besteht ein Aufklä-
rungsbedarf elementarer Art im Blick auf die menschliche Lebenswirk-
lichkeit des Alterns. Während es allgemein akzeptiert und vertraut ist, dass
Menschen bis zum Erwachsensein der Erziehung und Bildung bedürfen,
wird erst gegenwärtig deutlicher bewusst, dass die Aufgabe der Vorbe-
reitung und der sinnvollen Gestaltung einer langen späteren Lebenszeit
eine ebenso große, für die Individuen wie für die Gesamtgesellschaft
zentrale Erziehungs- und Bildungsaufgabe ist. Insbesondere, weil die
ungenutzten Potentiale dieser späteren Lebenszeit mittlerweile bewusst
werden, muss eine erneuerte philosophische Vernunftperspektive diese
Dimension von Grund auf einbeziehen.15
An diesem Beispiel wird bereits deutlich, dass die Rückgewinnung
einer Vernunftperspektive durch anthropologisch-praktische Grundla-
genreflexion begleitet werden muss. In vielen Diskussionen der Ge-
genwart rücken Fragen einer philosophischen Anthropologie wieder ins
Zentrum, nachdem solche Fragen während langer Zeit an den Rand
gedrängt wurden. In der Wahrnehmung einer durchschnittlich-ober-
flächlichen Variante von Aufklärung und Moderne wurde die Frage nach
dem Menschen als überholt abgetan. Philosophischer Anthropologie
wurde pauschal unterstellt, sie schreibe auf ontologisch-unkritische
Weise „anthropologische Konstanten“ fest. Zur Unterstellung einer
naiven Substanzontologie des menschlichen Wesens trat der stereotype
Vorwurf, aus einem „Sein“ ein „Sollen“ ebenso unkritisch abzuleiten und
so den „naturalistischen Fehlschluss“ zu begehen. Diese schematischen

14 Vgl. dazu den instruktiven Band von Helga Nowotny/Peter Scott/Michael


Gibbons, Wissenschaft neu denken. Wissen und ffentlichkeit in einem Zeitalter der
Ungewissheit, Weilerswist 2004.
15 Vgl. Thomas Rentsch, „Philosophische Anthropologie und Ethik der späten
Lebenszeit“, in: Paul B. Baltes/Jürgen Mittelstraß (Hg.), Zukunft des Alterns und
gesellschaftliche Entwicklung (Akademie der Wissenschaften zu Berlin, For-
schungsbericht 5), 283 – 304, Berlin/New York 1992; ders. „Altern als Werden
zu sich selbst,“ in: Peter Borscheid (Hg.), Alter und Gesellschaft, Stuttgart
1995,53 – 62; ders. „Aging as Becoming Oneself: A Philosophical Ethics of Late
Life“, in: Journal of Aging Studies Vol 11, Nr. 4, 1997, 263 – 271; ders./ Eva
Birkenstock, „Ethische Herausforderungen des Alters“, in: Andreas Kruse/Mike
Martin (Hg.), Enzyklopdie der Gerontologie, Bern 2004, 613 – 626.
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken 177

Einwände, die gegen bestimmte Traditionen philosophischer Anthro-


pologie berechtigt waren, wurden auch gegen kritische Ansätze wie-
derholt. Sie konnten durch diese selbst unkritische Kritik das Defizit
philosophisch-anthropologischer, sprachkritischer Grundlagenreflexion
nicht auf Dauer verdrängen. Es wurde klar: In kritischer Reflexion auf
die bereits alltägliche anthropologische Grundbegrifflichkeit – wie reden
wir im Alltag von uns selbst, vom Menschen, vom Menschlichen? –
werden schon basale, fundamentale normative Implikationen und Gel-
tungsansprüche erkennbar, die konstitutiv für die Grammatik dieser Rede
fungieren. Ein bloß „naturalistisches“, objektivierend-naturwissen-
schaftliches Reden von uns selbst ist daher eine voraussetzungsreiche
methodische Reduktion. Demgegenüber ist die kritisch-hermeneutische
Sinnexplikation der normativen Implikationen unserer alltäglichen Rede
von uns selbst, vom Menschen, von Achtung und Würde, Freiheit und
Sinn des Lebens – auch im unbedingten, absoluten Verständnis – der
unserer Lebenserfahrung und der Komplexität unserer Praxis entspre-
chende und angemessene Weg.16
Im Blick auf die erforderliche normative, selbstreflexive Kontex-
tualisierung der Ethik, der Anthropologie und aller Wissenschaftspraxen
kommt der Kritik der politischen Ökonomie erneut großes Gewicht zu.
Fern von vergangenen ideologischen Vorurteilen, nach der Ost-West-
Blockbildung können wir auf unbefangene Weise kapitalismuskritische
Argumente prüfen. Die marktwirtschaftliche Ordnung und ihre welt-
weite Dominanz macht unter demokratischen Bedingungen gründliche
Selbstkritik dieser Ordnung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln
erforderlich. Inwieweit ist diese Ordnung politisch und normativ in der
Lage, ihre inhumanen Effekte und ihre irrationalen Seiten zu bekämpfen
und zu zähmen? Auf welche Weise lassen sich wirtschaftsethische Ge-

16 Vgl. dazu Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O.; ders.; „Wie ist
eine menschliche Welt überhaupt möglich? Philosophische Anthropologie als
Konstitutionsanalyse der humanen Welt“, in: Christoph Demmerling/Gottfried
Gabriel/ders. (Hg.), Vernunft und Lebenspraxis. Philosophische Studien zu den Be-
dingungen einer rationalen Kultur. Fr Friedrich Kambartel, Frankfurt a.M. 1995,
192 – 214; Reiner Wimmer, „Anthropologie und Ethik. Erkundungen in un-
übersichtlichem Gelände“, in: Demmerling u. a. (Hg.), Vernunft und Lebenspraxis,
a.a.O., 215 – 245; Theda Rehbock, „Warum und wozu Anthropologie in der
Ethik?“, in: Jean-Pierre Wils (Hg.), Anthropologie und Ethik. Biologische, sozial-
wissenschaftliche und philosophische berlegungen, Tübingen/Basel 1997, 64 – 109;
dies., Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns,
Paderborn 2005; Christoph Demmerling, Gefhle und Moral. Eine philosophische
Analyse, Bonn 2004 (Bonner Philosophische Vorträge und Studien 22).
178 Teil 1. Religionsphilosophie

sichtspunkte wirksam institutionalisieren? Lassen sich neue gesellschaft-


liche Organisations- und Lebensformen z. B. intergenerationeller Soli-
darität denken, die genügend Tragfähigkeit und Überzeugungskraft
besitzen, um vernünftige Identitätskonstitution über Marktmechanismen
und formal-juristische Prozeduralität hinaus zu ermöglichen?
Friedrich Kambartel hat die Perspektive der Kritik der politischen
Ökonomie nicht aus den Augen verloren.17 Er hat begriffliche Klärungen
zu den Termini „Eigentum“, „Kapital“ und „Kapitalismus“ vorge-
schlagen, die die kapitalistische Organisation von Märkten als nicht
notwendig erscheinen lässt. Spekulative Verwertung und gesellschaftli-
che Umverteilung zugunsten weniger, eine Systemrente für Kapitaleig-
ner sind deutlich negative Auswirkungen des Kapitalismus, ebenso die
Schuldenprobleme der armen Länder und der rücksichtslose Umgang mit
deren Ressourcen und Lebensbedingungen. Kambartel unterscheidet mit
Aristoteles qualitative von quantitativer Produktivität. Die quantitative
Denkweise der Ökonomie verdeckt ihre normativen Grundlagen und die
sie leitenden Werturteile. So ist die normative Beurteilung von Märkten
nicht an die Kapitalverwertung gebunden. In dieser Perspektive könnte
auch die öffentliche Funktion des Bankensystems neu konzipiert werden.
Allerdings – und das weist wiederum auf die planetarische Dimension der
Vernunftthematik in unserer Gegenwart – wäre eine wirklich soziale
Marktwirtschaft nur in Form einer anderen Weltwirtschaft möglich. Die
vernünftige Kritik der kapitalistischen politischen Ökonomie bleibt eine
zentrale Aufgabe der Philosophie der Gegenwart. „Nach dem linguistic
turn der Philosophie ist der economic turn der Philosophie noch zu
leisten; durchherrschen doch die çkonomischen Verhältnisse unser Leben
in der gleichen allgegenwärtigen Weise wie die sprachlichen Verhältnis-
se.“18

3. Neben den sich neu stellenden Aufgaben im Bezug auf die theoretische
und die praktische Seite der philosophischen Vernunftkritik ist in der

17 Friedrich Kambartel, „Bemerkungen zur Politischen Ökonomie“, in: ders.;


Philosophie und politische konomie, Essen 1998 (Essener Kulturwissenschaftliche
Vorträge 1), 11 – 39; auch in: Thomas Rentsch (Hg.), Anthropologie, Ethik, Po-
litik. Grundfragen der praktischen Philosophie der Gegenwart, Dresden 2004, 166 –
185.
18 Kambartel a.a.O., 185. Eine umfassende Untersuchung zur Marx-Rezeption
und zur Kritik der politischen Ökonomie in der Gegenwartsphilosophie hat
Christoph Henning vorgelegt: Philosophie nach Marx. 100 Jahre Marxrezeption und
die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik, Bielefeld 2005.
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken 179

Gegenwart die Aufgabe einer erneuerten Religionsphilosophie und


philosophischen Theologie nicht länger abzuweisen. Ebenso, wie phi-
losophisch-anthropologische Grundlagenreflexion eine Zeit lang als eine
Art Randbereich der Philosophie angesehen werden konnte, wurden die
Fragen nach Religion und Gott als für Aufklärung und modernes
Selbstbewusstsein ephemer angesehen. Seit längerem wird nun – auch
unter dem Eindruck weltgeschichtlicher Prozesse – zweierlei deutlich:
Erstens ist weder der Tod Gottes noch das Ende (das „Absterben“) der
Religionen eingetreten, die beide von Vertretern bestimmter Traditio-
nen der Aufklärung und Moderne prognostiziert wurden. Vielmehr kam
es auf weltgeschichtlicher Ebene zu einem Erstarken der Bedeutung von
Religion sowohl im Westen, v. a. in den USA, als auch im Bereich der
islamischen Welt. Ebenso wurde die Bedeutung des Papstamtes in
weltkirchlicher wie auch weltpolitischer Hinsicht eindeutig stärker. Als
Terminus a quo dieser Prozesse können die Jahre 1978 (Wahl Karol
Woytilas zum Papst), 1979 (Machtübernahme Ajatollah Chomeinis im
Iran) und 1980 (Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten der USA) gelten.
Dieser weltgeschichtliche Prozess wurde durch den Zusammenbruch des
Ostblocks und des Sowjetimperiums noch verstärkt. Mittlerweile ist aus
philosophischer Sicht eine durch die genannten Entwicklungen initiierte
mehrfache Gefährdung und Bedrohung vernünftiger – auch religiöser –
Perspektiven zu diagnostizieren. Im christlichen wie im islamischen
Bereich bildeten sich dogmatisch-fundamentalistische Positionen heraus,
die sich beide auf denkbar unkritische und im wahren Sinne des Wortes
voraufgeklärte Weise mit machtpolitischen Herrschaftsansprüchen im-
perialer Art verbanden. Angriffskriege wie auch weltweiter Terrorismus
mit religiöser „Begründung“ sind das bisherige Fazit dieses weltge-
schichtlichen Rückfalls hinter den erreichten Stand auch nur im Ansatz
vernünftiger Selbst- und Weltverständnisse. Diesen tiefgreifend irratio-
nalen Tendenzen der weltgeschichtlichen Entwicklung entspricht auf der
Seite der westlich-säkularisierten Moderne (und „Postmoderne“) eine
unbefriedigende Mischung von oberflächlicher Religionskritik und
Szientismus einerseits, von Ersatzformen authentischer Religiosität in
zum Beispiel esoterischen und fantastischen Spielarten andererseits. Das
Paradigma eines – betrachten wir allein die wirtschaftliche Effektivität –
erfolgreichen Modells dieser unbefriedigenden Mischung ist die Scien-
tology-Sekte. Die skizzierten Entwicklungen bedeuten eine mehrfache
Verfehlung und Unterbestimmung der Formen religiöser Vernunft und
Aufklärung, die in den besten Traditionen Europas in der Antike, in der
kritischen Synthese von Philosophie und Theologie, während des Mit-
180 Teil 1. Religionsphilosophie

telalters, in Renaissance, Humanismus und Reformation, in der katho-


lischen Aufklärung und auch in zentralen Ansätzen der Moderne angelegt
sind und konkret ausgearbeitet wurden. Noch bis in die Mitte der 20.
Jahrhunderts war die Diskussion zwischen Philosophie und Theologie
international wie auch in Deutschland lebendig und intensiv. Philoso-
phen und Theologen wie Karl Jaspers und Rudolf Bultmann, Ernst
Bloch, Paul Tillich und Karl Rahner haben diesen Diskurs auf hohem
Niveau geführt. Religionsphilosophische Gespräche wurden im Kreis um
Friedrich Kambartel auch an der Universität Konstanz unter Beteiligung
von Hermann Lübbe, Robert Spaemann und vielen Interessierten re-
gelmäßig während der 70er und 80er Jahre organisiert („Meersburger
Gespräche“). Kambartel formulierte eigene theologische und religions-
philosophische Kernthesen.19
Mittlerweile wird durch einen geklärten Rückblick auch auf die
innerphilosophische Entwicklung des 20. Jahrhunderts immer deutlicher,
dass es an diese Diskussionskultur verstärkt anzuknüpfen gilt. Fergus Kerr
hat in einer sehr instruktiven Untersuchung herausgearbeitet, dass die
moderne Philosophie entgegen weit verbreiteter Meinung in säkulari-
sierter Form tief von religiösen Motiven geprägt ist. Er analysiert die
theologische Tiefendimension der Philosophien von Martha Nussbaum,
Iris Murdoch, Luce Irigaray, Stanley Cavell und Charles Taylor. Es lässt
sich zeigen, dass in allen diesen Ansätzen Wege des Transzendierens des
Menschlichen um des Menschen Willen leitend sind. Theologische
Vorbegriffe spielen in der modernen Philosophie selbst eine viel größere
Rolle als bisher angenommen.20 Auch in eigenen Untersuchungen zur
Gottesfrage und zur Wiederbelebung des philosophisch-theologischen
Gesprächs habe ich die theologischen und religiösen Hintergründe und
Kontexte einiger wichtiger Philosophien des 20. Jahrhunderts: Hei-
degger, Wittgenstein, Benjamin, Adorno und Horkheimer, Habermas
und Derrida herausgearbeitet. Ohne diese Hintergründe und Kontexte ist
die moderne Philosophie und sind ihre Grundbegriffe – das Sein, das

19 Friedrich Kambartel, „Theo-logisches. Definitorische Vorschläge zu einigen


Grundtermini im Zusammenhang christlicher Rede von Gott“, in: Zeitschrift fr
Evangelische Ethik 151971, 32 – 35; ders., „Bemerkungen zu Verständnis und
Wahrheit religiöser Rede und Praxis, in: ders., Philosophie der humanen Welt,
a.a.O., 100 – 102.
20 Fergus Kerr, Immortal Longings. Versions of Transcending Humanity, Notre Dame
(Indiana) 1997.
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken 181

Ereignis, das Mystische, das ganz Andere, das Nichtidentische, die ideale
Kommunikationsgemeinschaft, die Differenz – nicht verstehbar.21
Es gibt also nicht nur drängende weltgeschichtliche, sondern auch
triftige innerphilosophische Gründe, die Fragen nach Gott, nach unbe-
dingtem Sinn, nach dem Absoluten und nach dem Verhältnis von Im-
manenz und Transzendenz neu zu reflektieren. Systematisch bin ich der
Überzeugung, dass ein vertieftes Verständnis von Vernunft und ihren
Grenzen die religiöse Perspektive und ein geklärtes Gottesverständnis
nicht aus- sondern notwendig einschließt. Ohne diese Perspektive der
Transzendenz lässt sich die europäische Vernunftgeschichte weder in
ihrer theoretischen noch in ihrer praktischen Dimension begreifen. Das
biblische Bilderverbot und die sich im christlichen Platonismus entfal-
tende negative Theologie führen ebenso zu kritischen Grenzbestim-
mungen der menschlichen Vernunft wie das Sokratische Nichtwissen
und die Erkenntniskritik Kants. Und sie sind praktisch konstitutiv mit der
Perspektive der nichtobjektivierbaren Personalität und Würde des
Menschen verbunden.22 Insofern lässt sich von einer religiösen Aufklä-
rung als einer Aufklärung über praktisch lebenssinnkonstitutive Unver-
fügbarkeit sprechen.23 Über Genesis und Geltung der Konzeptionen der
Einheit und der Grenzen der Vernunft lässt sich daher nur unter Ein-
beziehung der religiösen und theologischen Perspektive begründet re-
flektieren. Angesichts der aufgewiesenen irrationalen Entwicklungen ist
dieser Befund insbesondere auch für den interkulturellen und interreli-
giösen Dialog zu berücksichtigen.

3. Fazit und Ausblick

Um die Arbeit an einer geklärten Vernunftperspektive fortzusetzen,


ließen sich näherhin drei selbst umfassende Problembereiche und Auf-
gabenfelder vorstellen.
Erstens: Es geht (weiterhin) darum, falsche und reduktionistische
Sprachverständnisse und die damit verbundenen Dogmatismen, Funda-

21 Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005.


22 Vgl. dazu Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M.
2000.
23 Thomas Rentsch, „Die Entdeckung der Unverfügbarkeit. Zum Zusammenhang
von Negativität und Sinnkonstitution im Horizont der biblischen Überliefe-
rung“, in diesem Band.
182 Teil 1. Religionsphilosophie

mentalismen und Formalismen begründet aufzubrechen und in kritischer


Selbstreflexion die ganze innere Komplexität und Binnendifferenziert-
heit der sprachlichen Kultur bewusst zu machen und ihre kreativen
Potentiale zu erschließen. In der sprachkritischen Wende wurde mit
Recht eine nach Ontologie und Bewusstseinsphilosophie dritte große
philosophische Wende gesehen. Aber was sie genau und im Einzelnen
bedeutet, das ist noch nicht hinreichend bewusst und noch unabgegolten.
Die Erträge und die Tragweite dieser Wende stehen uns in Wahrheit
noch bevor.24
Zweitens: Wir benötigen ein anthropologisches, Ethik, Politik und
Ökonomie kritisch aufeinander beziehendes Normativitätsverständnis.
Theoretischer Kontextualismus und theoretischer Holismus im Rahmen
der Vernunftkritik müssen praktisch verstanden und ausbuchstabiert
werden. Wir müssen fragen, ob und wie unter gegenwärtigen Bedin-
gungen Vernunft existentiell und politisch, sozial und ökonomisch
praktisch zu werden vermag. Gesellschaft, Wissenschaft und Philosophie
müssen ihr normatives Fundament weiter aufklären und verbinden im
Sinne einer demokratischen Vernunftkultur: „Wo wie derzeit alles nur
noch am wirtschaftlichen Nutzen gemessen wird, selbst Wissen zur Ware
wird, verliert auch dieser Nutzen seinen Sinn, zumindest seine Basis in
einem Orientierungssystem, das selbst kein primär wirtschaftliches ist und
sein kann.“25
Drittens: Eine erneuerte, vertiefte Vernunftperspektive muss auch die
Fragen nach dem Verhältnis von Vernunft und Religion, Aufklärung und
Gottesverständnis, säkularisierter Moderne und Transzendenz auf neue
Weise thematisieren und kritisch reflektieren – innerphilosophisch, im
Dialog zwischen Philosophie, Theologie und Religion und auch inter-
kulturell.
Mit diesen drei Problembereichen werden auch die Grenzen der
Vernunft neu thematisiert: als Grenzen der Sprache, als Grenzen der
menschlichen Praxis – der wissenschaftlichen wie der Lebenspraxis –,
schließlich als Grenzen des Welt- und Selbstverständnisses im Ganzen.

24 Das bedeutet auch, neu zu bestimmen, was philosophisches Denken eigentlich


ist; vgl. dazu Pirmin Stekeler-Weithofer, Was heißt Denken? Von Heidegger ber
Hçlderlin zu Derrida (Bonner Philosophische Vorträge und Studien 21), Bonn
2004.
25 Jürgen Mittelstraß, „Europa erfinden. Über die europäische Idee, die europäische
Kultur und die Geisteswissenschaften“, in: Merkur 1 (2005) 28 – 37.
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken 183

Ersichtlich weisen alle drei Aufgabenkomplexe auch in die Richtung


der durch die Globalisierung eröffneten weltgeschichtlichen Perspektive.
Vielleicht gelingt es in Europa zunächst auf einer „mittleren“ Ebene,
tragfähige Modelle einer lebbaren demokratischen Kultur der Aufklärung
sprachlichen, praktischen und religiösen Sinns weiterzuentwickeln, die
die von Platon und Aristoteles, Kant und Hegel der Moderne vermachte
Perspektive der Vernunft, sie erneuernd, retten – gegen den Verlust ihrer
Orientierungsfunktion und gegen die Monopolisierung fundamentalis-
tischer wie reduktionistischer Denk- und Lebensformen.
Zeit, Sprache, Transzendenz – phänomenologische
Analysen zu den Grenzen und zum Sinngrund
menschlicher Praxis

Im Folgenden will ich in drei Abschnitten phänomenologische Analysen


zu Zeit, Sprache und Transzendenz durchführen. Meine Leitfrage lautet:
Wer sind wir?, in etwas anderer Formulierung: Wie ist eine menschliche Welt
berhaupt mçglich? 1 Philosophische Reflexion muss sich solchen Grund-
fragen stellen oder gelangt nach wenigen Schritten wieder zu ihnen. In
einem kurzen einleitenden Abschnitt will ich den Status der Phänome-
nologie aus meiner Sicht erläutern. Im zweiten Abschnitt werde ich
Konstitutionsanalysen zum Zusammenhang von Zeit, Sprache und
Transzendenz entwickeln. Diese Analysen werde ich im dritten Abschnitt
in Richtung auf den Sinngrund menschlicher Praxis zu vertiefen ver-
suchen. Dabei wird die Beziehung von Negativität und Sinn wichtig.2

1
Zunächst zum Status phänomenologischer Analysen. Ihr Ziel war und ist
die „Rettung der Phänomene“ gegen szientistische, naturalistische Re-
duktionen einerseits, gegen scheinhafte, theoretische Verdopplungen
andererseits. Aber das Wegarbeiten dieser Reduktionen und Verdopp-
lungen allein genügt nicht. Da die Phänomene in ihrer Nähe und All-
täglichkeit verdeckt und verborgen sind – wir sehen sie nicht, weil sie uns
zu nahe sind – gilt es, sie aus den mannigfachen Verdeckungstendenzen
freizulegen und in ihrer genuinen Konstitution zu durchleuchten. In-
sofern ist Phänomenologie sinnexplikative Tiefenhermeneutik: Klärende
Freilegung und Auslegung der Phänomene der menschlichen Welt gegen
deren Verzerrung und Verdeckung. Wenn Phänomenologie sich in ei-
nem solchen methodischen Sinn als Aufklärung versteht, wird auch ihre

1 Vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt. Transzendentale Anthropologie


und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999, 60 – 65.
2 Vgl. Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000.
Zeit, Sprache, Transzendenz 185

praktische Zielrichtung und ihr emanzipatorisches Erkenntnisinteresse


von vornherein klar.3
Drei systematische Grundeinsichten sind es, die eine innovative,
moderne Phänomenologie (oder sagen wir einfach: Philosophie) ge-
genüber deren traditionellen Gestalten nach meiner Auffassung nicht
mehr preisgeben darf:
1. Gegenüber allen ontologischen, bewusstseinsphilosophischen und
transzendentalphilosophischen Prämissen gilt noch verstärkt, dass in
Konstitutionsanalysen keine solchen philosophischen Vormeinungen
eingehen dürfen. Das gilt vor allem für Vorstellungen von einer Fun-
dierungsordnung, für die ein Bewusstsein und seine „innere“ Ausstattung
selbst als konstitutiv gedacht bzw. als der transzendentale „Weltmittel-
punkt“ betrachtet wird. Die Tradition hatte fast insgesamt – insbesondere
seit Descartes – den Menschen vergessen und verdrängt oder durch
Konstruktionen übersprungen. Statt vom Menschen war vom Subjekt,
vom Bewusstsein, vom transzendentalen Subjekt, vom Ich, vom Ego die
Rede. Stattdessen müssen wir von uns als leiblichen, sozialen und kommu-
nikativen Lebewesen handeln, die in einer konkreten Orientierungspraxis
– und nur so – zu sich selbst werden.
2. Damit einher geht die Transformation der Bewusstseinsphiloso-
phie in eine Philosophie primärer Intersubjektivität, oder, wie ich auch
sage, der Interexistenzialität. Apriori und konstitutiv für unsere Praxis, für
Methode und Selbsterkenntnis, sind nicht und können nicht sein private,
subjektive Orientierungen. Sondern wir werden zu uns selbst in einem
Netzwerk sozialer und kommunikativer Akte, die vorgängig intersub-
jektiv konstituiert und erschlossen sind. Die Regeln dieser Akte – seien es
Handlungen oder Sprachhandlungen – sind öffentlich; sie erst konstitu-
ieren und ermöglichen auch alle Privatheit und Subjektivität, Intimität
und Individualität. (Dies wollte auch Kant artikulieren; und die Phä-
nomenologie tastete seit Halle und Göttingen immer in diese Richtung;
aber erst Heidegger und Wittgenstein haben diese Analyse grundsätzlich
ins Ziel gebracht.4)

3 Vgl. Thomas Rentsch, „Phänomenologie als methodische Praxis. Didaktische


Potentiale der phänomenologischen Methode“, in: Johannes Rohbeck (Hg.),
Denkstile der Philosophie, Dresden 2002, 11 – 28.
4 Vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O. 155 ff. und 218 ff.;
sowie ders., Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den
Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003.
186 Teil 1. Religionsphilosophie

3. Angesichts des soeben erläuterten Primats kommunikativer Le-


bensformen ist ein weiterer systematischer Schritt erforderlich. Die
Aufspaltung der Philosophie in Phnomenologie und (bzw. sogar: versus)
Sprachanalyse ist methodisch unmöglich und zu überwinden. Die Sprache
gehört zu unserer alltäglichen Lebenspraxis, ist sinnkonstitutiv für le-
bensweltliche Orientierung und für alles, was darauf aufbaut oder davon
abweicht. Methodisch ist sie Ort und Medium philosophischer Refle-
xion. Deswegen muss die moderne Sprachanalyse und Sprachkritik seit
Frege und Wittgenstein ungeschmälert in die Konstitutionsanalyse in-
tegriert werden, soweit sie sinnkriterial greift. Der späte Wittgenstein ist
Phänomenologe, der die Konstitution nicht nur in der Grammatik der
Sprachspiele aufzeigt – auch dies wäre schon viel – sondern dies ebenfalls
anhand der spezifischen Struktur von Lebensformen tut. Phänomenologie
nach Heidegger und Wittgenstein lässt sich somit als sinnkriteriale Tiefen-
hermeneutik von Lebensformen bestimmen. Ich spreche im Anschluss an
Heideggers Existentiale Analytik auch von Existentialer Grammatik. 5

2
Ich will mit einem einfachen, allen noch gegenwärtigen Beispiel be-
ginnen. In meiner zweiten Heimat, Dresden, stehe ich im Regen am Ufer
der Elbe und beobachte die steigende Flut. Der gesamte Kontext mit
seinen pragmatischen Implikationen wird durch die Wahrnehmung
bereits evoziert: die zukünftige Bedrohung, die Möglichkeit der Über-
flutung und Vernichtung, die Ungewissheit der Entwicklung, die so-
zialen Konsequenzen.
Betrachten wir auf diesem Hintergrund die Konstitution unserer
alltäglichen Praxis. Wer sind wir? Leiblich und sprachlich orientieren wir
uns konkret in Raum und Zeit. Die primäre Weltkonstitution ist irre-
duzibel holistisch, ganzheitlich, auf ganze Gestalten bezogen. Ein holis-
tisches Situationsverständnis geht allen individuierenden Akten schon
voraus.
Würde ich auch nur den sinnkonstitutiven und unthematischen
Hintergrund einer solchen konkreten Lebenssituation vollständig zu ex-
plizieren versuchen, ich würde nie an ein Ende kommen. Auch Ge-
genstände und Vorgänge der alltäglichen Wahrnehmung weisen eine
innere, interne Unendlichkeit von Aspekten und Implikationen auf. Ich

5 Vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein, a.a.O.


Zeit, Sprache, Transzendenz 187

weise bereits hier auf die Entsprechung dieses situativen, sinnkonstitu-


tiven Hintergrundes in der Sprachpraxis hin: So, wie die ganze Le-
benssituation einen verborgenen, verdeckten, gleichwohl für sie sinn-
konstitutiven, unendlich komplexen Hintergrund hat, so gehört der
Hintergrund der gesamten Sprache und ihrer Geschichte zum konkreten
Gebrauch einzelner Sätze in einer bestimmten Verwendungssituation.
Einzelne Sätze im konkreten Gebrauch sind nur zusammen mit ihrem
nicht-expliziten Hintergrund verständlich – z.B. „Das Wasser steigt.“
Der Hintergrund lässt sich mit einer Kette von Implikationen freilegen,
die unabschließbar offen ist. Diese offene Fortsetzbarkeit ermöglicht
Rückfragen. Somit ist die soziale und kommunikative Konstitution der
Praxis mit dem unthematischen Hintergrund mitgegeben.
Die irreduziblen Füllequalitäten der Alltäglichkeit lassen sich somit
sinnlich-leibbezogen, in der Wahrnehmung, wie auch sprachlich und
begrifflich aufweisen. Um die Struktur der Konstitution unserer Welt
genauer herauszuarbeiten, können wir (wie z. B. Husserl und Frege,
Heidegger, Wittgenstein und Merleau-Ponty) sinnkriteriale Analysen
durchführen, die sich vor allem der Methode der Variation, der Um-
fiktion bzw. des Gedankenexperiments bedienen, im Falle der Sprach-
phänomenologie der Methode der Ersetzung eines Wortes oder Satzes
oder des gesamten Kontexts durch andere Worte, Sätze oder Kontexte.
Wir gelangen so zu Grundformen der Horizontbildung, die für unsere
Lebenspraxis sinnkonstitutiv sind. Zum einen ist eine menschliche Welt
unmöglich ohne die leiblich-zeitlich-räumliche, sinnliche Horizontbildung,
die einen gleichursprünglich-ekstatischen Charakter besitzt. Zum an-
deren ist die konkrete Orientierungspraxis unmöglich ohne ganze Stze,
mit denen wir Gedanken im Fregeschen Sinne artikulieren können. Diese
Sätze haben die elementare Struktur der prädikativen Synthesis und der
Referenz auf Individuen. Erst beide Aspekte der Horizontbildung, ich
nenne sie abgekürzt Ekstasis und Prdikation, ermöglichen elementare
Weltorientierung, weil sie Gegenständlichkeit und Freiheit zu verbinden
und zu differenzieren gestatten.
Betrachten wir zunächst die ekstatische Horizontbildung in zeitlicher
und räumlicher Hinsicht. Entscheidend ist, dass wir die leibapriorische
Basis der lebensweltlichen Räumlichkeit sowie die öffentliche, inter-
subjektive Konstitution unserer raumzeitlichen Orientierungspraxis
herausarbeiten, ohne die eine menschliche Welt nicht möglich ist.
Husserl hat in diesem Kontext sehr berechtigt auf die Passivitt des
Konstitutionsgeschehens hingewiesen. Es ist eben nicht so, dass ich als
aktiv handelndes, intendierendes Einzelsubjekt meine Wahrnehmungen
188 Teil 1. Religionsphilosophie

ins Werk setze. Die sinnlich-wahrnehmende Weltkonstitution vollzieht


sich vielmehr in vorgezeichneten Wegen, Verläufen und Gleisen, die sich
viel eher als „automatisch“, besser als „passiv“ charakterisieren lassen.
Nicht „ich“ konstituiere alles und Gegenstände überhaupt, sondern es gilt
viel eher, dass die Konstitution mich ermöglicht. Und das gilt auch
hinsichtlich der grammatischen Konstitution der Sprachspiele beim
späten Wittgenstein. Ich sehe hier Verbindungen sowohl zur Seinsge-
schichte Heideggers als auch zur Hermeneutik Gadamers – übrigens ohne
traditionalistische, historistische, „konservative“ Konsequenzen oder gar
den Gedanken an mythische Quasi-Subjekte. Alle kritischen, innovati-
ven und revolutionären Entwurfsmöglichkeiten entspringen ebenfalls der
faktischen Konstitution, naturphilosophisch: der faktischen Evolution,
und nicht einer idealen Kommunikation.
Es lässt sich somit zu Recht von einer schon vorkonstituierten Not-
wendigkeit der Horizontbildung sprechen, die sich paradigmatisch an der
ekstatischen Zeitlichkeit aufzeigen lässt.6
Immer, wenn wir uns orientieren, etwas wahrnehmen oder ge-
danklich erfassen, bildet sich ein Horizont zukünftiger Möglichkeiten der
Fortsetzung, der inhaltlich seine Bedeutung aus der Vergangenheit
empfängt. Beide, zukünftige Möglichkeit und vergangene faktische Er-
fahrung, bilden die Wirklichkeit der Gegenwart. Drei Aspekte dieses
Konstitutionsgeschehens sind mir wichtig. Erstens müssen wir mit
Husserl die Passivität der Horizontvorzeichnung akzentuieren. Nur so, in
diskursiv-ekstatischer zeitlicher Form, können wir überhaupt etwas er-
fahren, wahrnehmen, etwas tun und uns orientieren. Die Ekstasen sind
unableitbar von einander, irreduzibel auf einander, nur wechselseitig
durch und mit einander verstehbar, und sie sind nicht noch einmal von
etwas anderem ableitbar, in etwas anderem fundiert. Das ist der syste-
matische Sinn von Gleichursprnglichkeit. So fundiert auch nicht etwa –
gegen Heidegger – die ekstatische Zeitlichkeit andere Bereiche der
Konstitution, wie z. B. die ekstatische Räumlichkeit, oder gar die Rede.

6 Ich beziehe mich dabei auf die einschlägigen Analysen von Husserl zur Zeiter-
fahrung und zur passiven Synthesis und von Heidegger in Sein und Zeit (Edmund
Husserl, Zur Phnomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893 – 1917), hg. von
Rudolf Boehm, Den Haag 1966 (Husserliana X); ders., Analysen zur passiven
Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1818 – 1926, hg. von
Margot Fleischer, Den Haag 1966 (Husserliana XI), Martin Heidegger, Sein und
Zeit, Tübingen 141977; vgl. Thomas Rentsch (Hg.), Martin Heidegger, Sein und
Zeit, Reihe Klassiker Auslegen Bd. 25, Berlin 2001.
Zeit, Sprache, Transzendenz 189

Sie stehen nebeneinander.7 (Die ekstatische Gleichursprünglichkeit der


Zeitaspekte zeigt sich in unserer konkreten Orientierungspraxis in der
Notwendigkeit, die Horizontvorzeichnung ihr gemäß zu vollziehen.)
Zweitens gebe ich Heidegger im Blick auf den Primat der futurischen
Ekstase Recht. Nur, indem wir uns bereits uns-vorweg zukünftig ori-
entieren müssen, können wir, im Rückgang auf die Erfahrungen der
Vergangenheit, unsere konkrete Gegenwart erkennen, qualifizieren und
uns in ihr orientieren. Dieses strukturelle Sich-Vorweg-sein bezeichne ich
(mit Husserl und Heidegger) als strukturelles Transzendieren bzw. als
strukturelle Transzendenz in der Immanenz.
Drittens dürfen wir uns die ekstatische Konstitution natürlich nicht
linear-sukzessiv vorstellen. Vielmehr ist die ekstatische, komprehensive,
traditionell zu Recht als bewusstseins- und selbstbewusstseinskonstitutiv
angesetzte Zeitlichkeit auch Bedingung der Möglichkeit anderer, z. B.
sukzessiver, linearer Konzeptionen und Modelle von Zeit. Insofern ist die
lebensweltliche Zeit, die interexistentielle Zeit unhintergehbares Fun-
dament aller Messungen und Quantifizierungen. Insbesondere ergibt sich
daraus für die Ekstase der Gegenwart, dass sie isoliert nicht betrachtet und
thematisiert werden kann, dass es sie so nicht gibt, dass sie als Punkt oder
selbst als für sich isoliertes „Zwischen“ undenkbar und unvorstellbar ist,
dass ein Isolationismus der Ekstasen zu einem temporalontologischen Ni-
hilismus führen muss. Anders gesagt: Unterhalb der irreduziblen, gleich-
ursprünglichen Minimalkomplexität der Ekstasen kann die lebenswelt-
liche Sinnkonstitution nicht angesetzt werden. (Denken wir zurück an
die Wahrnehmungssituation des steigenden Elbewassers.) In meinen
Analysen zur Existentialen Grammatik habe ich gezeigt, dass eine ent-
sprechende Gleichursprünglichkeit die Raumkonstitution, die modale
Konstitution sowie die interpersonale Konstitution kennzeichnet. Dies
zeigt sich auch an den grammatischen Gruppen der lokalen, modalen und
personalen Indikatoren: hier – dort, oben – unten, hinten – vorne, fern –
nah, möglich – wirklich – notwendig, ich – du – er – sie – es, wir – ihr – sie
– allesamt intersubjektiv – öffentlich im Gebrauch.8
Wer sind wir? Wir können nicht isoliert nach der Gegenwart fragen,
ohne dass sie sich uns ins Nichts entzieht. Ebenso können wir nicht
isoliert nach uns selbst als vorhandenen Subjekten, als besonderen Enti-
täten fragen, ohne dass sich ein solches Subjekt wie ein Loch der Welt ins
Nichts entzieht oder zu etwas Nicht-Menschlichem wird. Und ebenso

7 Vgl. Thomas Rentsch (Hg.), Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., 199 – 228.
8 Vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein, a.a.O., Kapitel 5.
190 Teil 1. Religionsphilosophie

können wir nicht isoliert nach Sinn und Bedeutung fragen, ohne dass sich
diese in einen semantischen Nihilismus oder technischen Formalismus
entziehen. Zu all diesen Nihilismen gab und gibt es prominente Beispiele
der Philosophie in Geschichte und Gegenwart.
Wenn wir aber die orientierungsermöglichende lebensweltliche
Sinnkonstitution, die existentiale Grammatik nicht überspringen oder
durch Reduktionismen und Isolationismen verzerren, dann erkennen wir
im Kontext eines primären interexistentialen und grammatischen Ho-
lismus: Wir sind es, die – auf der Basis der gesamten Orientierungs- und
Sprachpraxis – dann auch von jeweiliger „Gegenwart“ bzw. von einem
„Ich“, einem einzelnen Subjekt sprechen können. Aber diese abstrakten
Begriffe verdanken sich unserer komplexen Unterscheidungspraxis – ihnen
entsprechen keine „Dinge an sich“. Und diese erkenntniskritische Be-
merkung lässt sich auch auf andere theoretische Verzerrungen und
Verstellungen lebensweltlicher Sinnkonstitution ausweiten; so, wenn bei
bestimmten ungeklärten Grundbegriffen wie „Natur“, „Nutzen“ oder
„Funktion“, „System“, „Chaos“ oder „Kontingenz“ haltgemacht und
von diesen her die humane Welt rekonstruiert werden soll – ein sinn-
kriterialer Kategorienfehler, der eine verkehrte Welt und verkehrte
Weltsichten hervorbringt. Entweder wir fragen radikal zurück in die
lebensweltliche Sinnkonstitution, oder wir machen theoretisch halt bei
solchen ungeklärten Grundbegriffen – gegenwärtig z. B. der Neuro-
physiologie oder der Computertechnologie – um uns von defizitären
Konstrukten her auszulegen, wer wir eigentlich sind. Ich verweise auf die
ideologiekritischen Potentiale der Phänomenologie, die keineswegs ab-
gegolten sind, sondern sich auf gegenwärtige Forschungspolitik, die
Stellung der Philosophie und der Geisteswissenschaften in der Gesell-
schaft, auf kulturelle Identität und das Selbstverständnis unserer Zivili-
sation beziehen lassen.
Im Folgenden will ich die systematische Verbindung der Zeit- mit der
Sprachanalyse vertiefen und die Struktur des lebensweltlichen Trans-
zendierens genauer herausarbeiten. Die gesamte menschliche Orientie-
rungspraxis ist ekstatisch-zeitlich konstituiert, ebenso die Sprachpraxis.
Die Diskursivität unserer Erkenntnis bleibt somit für die Rede so gültig,
wie sie schon für die nichtsprachliche sinnliche Wahrnehmung und
Erfahrung gültig ist. Es war der späte Wittgenstein, der in seiner Analyse
des Regelfolgens in den Philosophischen Untersuchungen 9 die apriorische

9 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Schriften 1, Frankfurt


a.M.1969, 279 – 544.
Zeit, Sprache, Transzendenz 191

zeitliche Struktur der Sprachpraxis besonders deutlich erfasst hat. Be-


deutungskonstitution gibt es nur durch Wiederholung, indem ich ein
Wort, einen Satz mehrfach verwenden und sie so in verschiedenen Si-
tuationen gebrauchen lerne. Dass wir sprachliche Unterscheidungen und
Sätze wiederholen können, das ist ein unhintergehbares Können, dessen
versuchte „Erklärungen“ allesamt in Paradoxien und Antinomien führen.
Es ist deswegen ein tiefgreifendes Missverständnis bestimmter Deutungen
der Regelfolgenanalyse im Anschluss an Kripke, sie als Dokument eines
Skeptizismus, Relativismus oder Subjektivismus zu sehen.10 Das genaue
Gegenteil trifft zu. Wie schon Kant in der Kritik der reinen Vernunft sah,
gibt es keine Regel der Regel. Anders gesagt: Lebensweltliches, le-
benspraktisches Basiskçnnen ist unableitbar von weiteren ontischen oder
ontologischen Bereichen oder Instanzen. Weder kann ich die jeweilig
verwendete Regel von der vorherigen Praxis, diese verdoppelnd, ablesen,
noch kann ich sie im Blick auf innere, subjektive Evidenzen monologisch
kontrollieren, ohne sie selbst bereits zu verwenden. Weder Bedeutungs-
subjektivismus noch objektivistischer Bedeutungsplatonismus können die
lebensweltliche Sinnkonstitution klären oder gar erklären. Sie wollen
beide etwas theoretisch gründen und explanatorisch sagen, was sich in der
lebensweltlichen Praxis nur zeigt und an ihr zeigen lässt. Das scheint mir
im Übrigen auch die systematische Zielrichtung der These von Wal-
denfels zu sein, die er im Rahmen einer Interpretation der Sprachphi-
losophie Merleau-Pontys formuliert: „Das Wunder der Sprache liegt
darin, dass die Sprache selbst mehr ist als die bestehende Sprache“.11 Er
entwickelt vier Kategorien, um Merleau-Pontys Charakterisierung des
sprachlichen Ausdrucksgeschehens zu charakterisieren: die Kategorien
der Abweichung, der Übersetzung (ohne „Urtext“), der Nachträglichkeit
und des Überschusses.12
An dieser Stelle kann ich eine weitere Erläuterung zur Methode der
Phänomenologie einfügen. Heideggers Formulierung, „das was sich
zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen
lassen“13 wurde vielfach als nichtssagend kritisiert. Entsprechend wurde
Wittgensteins phänomenologische Grammatik des Deskriptivismus be-
zichtigt: „Die Philosophie stellt eben alles bloß hin, und erklärt und

10 Vgl. Saul Kripke, Wittgenstein on Rules and Private Language, Oxford 1982.
11 Bernhard Waldenfels, Deutsch-Franzçsische Gedankengnge, Frankfurt a.M. 1995,
117.
12 Ebd., 114 – 117.
13 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., 34.
192 Teil 1. Religionsphilosophie

folgert nichts“;14 „Sie läßt alles, wie es ist“.15 Aber diese methodischen
Zugriffe sind der Sache nach völlig berechtigt. Sinnkriteriale Konstitu-
tionsanalysen untersuchen noch die normativen Grundlagen unserer
Praxis und unseres Sprachhandelns, die Bedingungen der Möglichkeit
unserer Beschreibungs- und Urteilspraxis. Diese Analysen müssen daher
selbst deskriptiv sein; sie haben den Status „formaler Anzeigen“, den
Status eines aufweisenden, hinweisenden Denkens. Die dazu geeignete
Sprache ist eine erläuternde Parasprache, keine Metasprache, die eine
Metatheorie oder Ontologie neben der humanen Welt und der lebens-
weltlichen Praxis errichtet. Die formal-anzeigende Parasprache arbeitet
mit erhellenden Beispielen, sie benötigt ein paradigmatisches Fundament
aus Lebenssituationen und Sprachgebräuchen.
Zurück zum Konnex von ekstatischer Zeitlichkeit und prädikativem
Sprachhandeln. Die Basisfähigkeit des Wiederholenkönnens sprachlicher
Gebilde, insbesondere ganzer Sätze erst konstituiert mögliche mensch-
liche Orientierung. Auch hier ist durch die Struktur möglicher Fort-
setzbarkeit prädikativer Praxis in anderen Situationen und mit Bezug auf
andere Fälle ganz elementar eine Offenheit und Unbestimmtheit sinnkon-
stitutiv, die formal bereits die ekstatische Zeitlichkeit aufweist. Durch den
Primat der Zukünftigkeit in der zeitlichen Horizontbildung, durch das
Sich-vorweg-Sein werden Vergangenheit und Gegenwart erst qualifi-
zierbar. Beim sprachlichen Regelfolgen ist es die mçgliche, auch abwei-
chende Wiederholbarkeit prädikativer Praxis mit Bezug auf unterschied-
liche Individuen, die für diese Praxis sinnkonstitutiv ist. Das sprachliche
Handeln lässt sich somit als freies Fortsetzen nicht-festlegender Anfnge be-
schreiben.16 Nur so ist schon an der Basis die Möglichkeit des Verstehens
und Missverstehens, des Interpretierens, des Abweichens oder des
Konventionellen, des Wahren oder Falschen strukturell in der Konsti-
tution der Praxis angelegt.
Wer sind wir? Eine menschliche Welt ist nur möglich in der situa-
tiven Erschlossenheit ekstatischer Zeitlichkeit sowie der zeitlichen
Wiederholbarkeit prädikativen Sprachhandelns. Horizontbildung wie
auch Wahrnehmung einzelner Phänomene sind nur möglich in einem
zur Zukunft offenen, nicht vollständig bestimmten sprachlich-zeitlichen
Raum. Dieser Raum eröffnet die sinnhafte Lebenswelt. Die existentielle

14 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 126.


15 Ebd., § 124.
16 Vgl. Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000,
351 – 364.
Zeit, Sprache, Transzendenz 193

Leiblichkeit zentriert die Lebenswelt, weil sich in ihr deren naturaler


Grund und deren kommunikatives Wesen vereinen und durchdringen.
Nur in einem holistischen Modell der irreduziblen Möglichkeitsbedin-
gungen der menschlichen Welt können wir methodisch einen sinnkri-
terial zuverlässigen Weg zur Selbsterkenntnis finden. Zu ihr gehören
bereits normative interexistentielle Möglichkeitsbedingungen – die
Konstitution der Moralität ist in sie mit eingearbeitet.17
Bereits in Ekstasis und Prädikation als Modi der Horizontverzeich-
nung und Horizontbildung wird sichtbar, dass wir uns als uns je und je
überschreitende, transzendierende Wesen begreifen müssen. Die Nicht-
Festgelegtheit der Wiederholungsmöglichkeit, unsere Handlungsfähig-
keit in einem Spielraum offener Möglichkeiten, das ekstatische Sich-
vorweg-sein – diese Basisphänomene unserer Praxis lassen sich im Sinne
einer negativen Anthropologie der Freiheit analysieren. Bereits leiblich-
sinnlich, inkorporiert im aufrechten Gang und in der greifend-gestaltend-
formenden Hand kann und muss der Mensch stets über seine augen-
blickliche Gegenwart hinaus sein. Er muss voranschreiten, um
vorwärtszukommen, sich, seine Gegenwart wie auch die jeweilige
Orientierungssituation bereits transzendieren. Dabei ist der Gang des
Menschen bei genauerer Analyse der Motorik nach Erwin Straus ei-
gentlich ein aufgehaltener Absturz. Während Vierbeiner immer mit zwei
Beinen fest auf dem Boden stehen, muss der Mensch stets in einem
Moment schwebend fallen und sich fangen, um voranzukommen. Und so
wurde auch der menschliche Gesang, das Urphänomen der Musikalität,
als aufgehaltener Absturz ins Weinen oder aufgehaltener Aufschwung ins
Lachen analysiert. Das ekstatische temporale und prädikative Trans-
zendieren haben wir schon analysiert. Das Transzendieren im Raum und
im Zeitbewusstsein wird durch die menschliche Sprachfähigkeit noch
einmal auf einzigartige Weise selbst transzendiert und gesteigert. Sprache
ist Ort und Medium des spezifisch humanen Transzendierens. Sie ge-
stattet es nicht nur, durch Referentialisierung und prädikative Synthesis
Wirklichkeit gedanklich festzuhalten und zu überschreiten, abstrakt zu
fixieren und sozial zu kommunizieren. Sie gestattet die intersubjektive
Fortsetzung der Bedeutungsbildung und ermöglicht so die Kontinuität
von Sinn, die Rückfrage und die innovative Sinnstiftung.
Das handelnde und sprachliche Überschreiten des Gegebenen, ein-
zelner Kontexte und Situationen, ihr Verneinen und Negieren ist für
unsere Welt- und Selbstverständnis konstitutiv. Hier gründen die genuin

17 Vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt. a.a.O.


194 Teil 1. Religionsphilosophie

menschlichen Möglichkeiten des Behauptens von Wahrheitsansprüchen,


der Technik und Wissenschaft, der Ethik, Ästhetik und Religion, die alle
ohne die sinnkonstitutive, kommunikative Selbsttranszendenz der
Menschen unmöglich wären. Wie beim Gehen ein Moment schwe-
benden Fallens zu konstatieren ist, so ist auch beim Regelfolgen, beim
sprachlichen Wiederholen ein regelfreier Moment sinnkonstitutiv, den wir
nicht mehr sprachlich oder gedanklich erfassen können. Strukturell gibt es
bei aller humanen Sinnkonstitution im innersten Kernbereich einen
blinden Fleck, der weder dem vergangenen Sinn, noch dem als neu, als
innovativ verstehbaren Sinn zugehört. Bei der – mit Kleist formuliert –
allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden18 praktizieren wir
ständig Brche und Sprnge, die wir selbst mit den verwendeten sprach-
lichen Mitteln aber nicht mehr thematisieren oder erfassen können.
Kierkegaards Wiederholungs- und Sprunganalyse19 führt sowohl zu
Heideggers Existentialanalytik der ekstatischen Konstitution und der
Wiederholung, als auch zu Wittgensteins Analyse der sprachlichen
Wiederholung, des Regelfolgens und des sprachlichen Sprunges. Der
formal-strukturell stets nötige Sprung ist der freie, d. h. nicht vergegen-
ständlichbare Akt, der aus der offenen Unbestimmtheit der Schwebe –
mit Kierkegaard: zwischen entweder-oder – zur innovativ-vereindeu-
tigenden Fortsetzung der Praxis führt. Wittgenstein schreibt: „In der
Sprache gibt es stets eine Brücke zwischen dem Zeichen und seiner
Anwendung. Wir müssen die Kluft selbst überbrücken; das kann uns
niemand abnehmen. Keine Erklärung erspart den Sprung, denn jede
weitere Erklärung wird ihrerseits einen Sprung benötigen“.20 Strukturell
nimmt Wittgenstein Kierkegaards Analyse genau auf. Die Bruch- und
Sprung-Kategorie gilt auch für den Übergang von einem Sprachspiel zu
einem anderen, so wie bei Kierkegaard für den Übergang von dem einen
Stadium auf des Lebens Weg zum anderen: vom ästhetischen zum
ethischen und zum religiösen. Kierkegaard analysiert: Der erste Ausdruck
einer freiheitlichen Tat ist das Abbrechen des Zusammenhangs mit dem
Früheren durch einen „Sprung“. In der Wiederholung fängt „das ganze
Dasein[..] von vorne an, nicht durch eine immanente Kontinuität mit

18 Heinrich von Kleist, ber die allmhliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in:
Werke, hg. H. Sembdner, München 1966, 810 – 814.
19 Vgl. Christa Kühnhold, Der Begriff des Sprunges und der Weg des Sprachdenkens. Eine
Einfhrung in Kierkegaard, Berlin/New York 1975.
20 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen 1930 – 1935, hg. v. Desmond Lee, Frankfurt
a.M. 1989, 88.
Zeit, Sprache, Transzendenz 195

dem Vorhergehenden hindurch, welches ein Widerspruch ist, sondern


vermöge einer Transzendenz, welche die Wiederholung durch eine Kluft
von dem ersten Dasein scheidet“.21 Zur Wiederholung gehört der
Sprung. Auch Heidegger hat später den sprachlichen Satz als Sprung
beschrieben – so in dem Vortrag: „Der Satz der Identität“.22 Wir müssen
– auch in der Zeitkonstitution – gliedern und Brüche, Einschnitte ma-
chen, um uns überhaupt selbst zu konstituieren und zu orientieren. Mit
Erwin Straus: „Die Zäsur ist das erste Problem“.23 Und der Moment des
Zäsurvollzuges bleibt dem Transzendieren immanent und transzendent
zugleich. Ebenso können wir das aktuale Jetzt, den „Urquellpunkt“ im
Husserlschen Sinne, nicht direkt erreichen, sondern nur formal und in-
direkt. „Nur im Sprung auf eine Reflexion höherer Stufe […] können
wir dem Urquellpunkt, dem aktuellen Jetzt, näher kommen, aber dann
verbirgt er sich wiederum ,hinter‘ dieser Reflexion selbst“.24
Wir erreichen mit diesen Analysen den Ursprung von Freiheit und
Sinn, Zeitlichkeit, Sprache und Vernunft. Und es ist bezeichnend, dass
Autoren aus heterogenen Ansätzen und Kontexten – Kant und Kier-
kegaard, Husserl, Heidegger und Wittgenstein – in diesen Bereich vor-
gestoßen sind.
Ich komme zum dritten und letzten Abschnitt. Wer sind wir?

3
Um die Analyse der Konstitution der menschlichen Welt in Richtung auf
Grenze und Sinngrund menschlicher Praxis zu vertiefen, müssen wir die
Reflexion der strukturellen Endlichkeit dieser Praxis noch ausweiten. Das
menschliche Selbsttranszendieren in Sprache und Handeln kann sich nur
zeitlich und endlich, leiblich-räumlich situiert und diskursiv vollziehen.
All unser Erkennen, Handeln und Sprechen ist begrenzt. Diese End-

21 Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, in: Werkausgabe Bd. 1, Düsseldorf 1971,
175 – 382, 195.
22 Martin Heidegger, Identitt und Differenz, Pfullingen 51976, 9 – 30.
23 Erwin Straus, Vom Sinn der Sinne, Berlin/New York/Heidelberg 21956., 21; vgl.
Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phnomenologie des Leibes,
Frankfurt a.M. 2000, 131.
24 Thomas M. Seebohm, „Über die vierfache Abwesenheit im Jetzt. Warum ist
Husserl bereits dort, wo ihn Derrida nicht vermutet?“, in: Hans Michael
Baumgartner (Hg.), Das Rtsel der Zeit. Philosophische Analysen, München 1993,
75 – 108, 91.
196 Teil 1. Religionsphilosophie

lichkeit und Begrenztheit allen Transzendierens ist der Praxis nicht äu-
ßerlich, sondern konstituiert deren Sinn intern und durchgängig. Das
menschliche Transzendieren ist sinnkonstitutiv mit Negativitt – mit
„nicht mehr“ und „noch nicht“ – verklammert. Nur partiale Aspekte
jeder Situation und jedes Gegenstandes sind uns, selbst nur diskursiv-
zeitlich, perspektivisch-räumlich, durch und durch endlich und zeitlich
begrenzt zugänglich. In allem Denken, Erkennen und Handeln zeigt und
entzieht sich uns die Welt zugleich auf uns unverfügbare Weise. Diese
Begrenztheit unseres Transzendierens verweist auf einen nicht-objekti-
vierbaren Grund. Wir können uns selbst, unser Wesen, ebenso wie das
Wesen unserer Mitmenschen nicht wie etwas Vorhandenes vergegen-
ständlichen, objektivieren und zur Gänze erkennen. Diese negative
Einsicht gehört notwendig zu Methode wie Selbsterkenntnis. Auf diese
Weise werden Kantische Grundeinsichten in der radikalisierten Sinn-
kritik nach Heidegger und Wittgenstein bewahrt.25 Wir sind nämlich,
anders gesagt, nicht-objektivierbarer Grund aller unserer ekstatischen
Horizontvorzeichnungen und all unserer prädikativen Leistungen. We-
der uns selbst und unsere Individualität noch die der Anderen können wir
anders als partial und gebrochen transparent machen. Phänomenologisch
betrachtet gilt dies, recht verstanden, schon von jedem noch so einfachen
Gegenstand in seiner inneren Unendlichkeit. Sprachphänomenologisch
gilt es von jeder Wortbedeutung, von jedem Satz im konkreten
Sprachgebrauch. Sie sind unabschließbar offen und in ihren möglichen
innovativen Verwendungen sinnkonstitutiv unbestimmt. Das Ganze der
Gebräuche können wir nicht überschauen. Jedes Wort ist in gewisser
Hinsicht eine eigene Wortart.
Mit dieser strukturellen Negativitätsanalyse schließt die Phänome-
nologie als sinnkriteriale Tiefenhermeneutik an Kants Erkenntniskritik
an. Es gibt aber nicht zwei Welten – eine noumenale und eine phäno-
menale – falls Kant dies gemeint haben sollte – sondern nur eine Welt, in
der im Modus der Negativität und internen Unendlichkeit die „andere“,
die noumenale Welt konkret und sinnkonstitutiv gegenwärtig ist. Mit
Paul Eluard: „Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in dieser.“ Ich bin der
Überzeugung, dass gerade die nochmalige Radikalisierung der Sinnkritik
über Kants transzendentale Kritik hinaus, wie sie durch Husserl und
Frege, Heidegger, Wittgenstein und Merleau-Ponty als Leistung des 20.
Jahrhunderts erreicht wurde, diese neuerliche Vertiefung unserer Einsicht
in die Weltkonstitution (und in die Einheit der Welt) begründet.

25 Vgl. Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O.


Zeit, Sprache, Transzendenz 197

Die negativen Sinnbedingungen der Weltkonstitution, der eigenen


und fremden Existenz sowie der Sprache treten in der zeitlichen End-
lichkeit unserer Lebenspraxis stets in einem Zusammenspiel auf. Sie
verweisen auf einander, sind gleichursprünglich und ermöglichen so in
ihrer irreduziblen Unhintergehbarkeit und Unableitbarkeit endliches
Leben und Erkennen sowie die eigenen endlichen und freien Sinnent-
würfe der Menschen. Es sind also die unhintergehbaren Sinnbedingungen
unserer endlichen, zeitlichen und sprachlichen Praxis, die Grenze und
Grund der menschlichen Welt bilden. Alles menschliche Transzendieren
vollzieht sich im Horizont dieser gleichursprünglichen Sinnbedingungen.
Auf der Basis unvordenklicher leiblicher Getragenheit und im Me-
dium bereits geschichtlich sedimentierten sprachlichen Sinns eröffnet sich
uns die Möglichkeit, ein Welt- und Selbstverständnis zu entwickeln und
praktisch zu gestalten. Entscheidend für die philosophische Reflexion der
Sinnbedingungen der humanen Welt ist die Gleichursprünglichkeit der
faktischen, der praktischen und der sprachlichen Grenzen der Welt und
des Lebens in ihrem Zusammenspiel. Grenzen sind sinnkonstitutiv, weil
gerade Negativitt und Entzogenheit, Unverfgbarkeit und Unbestimmtheit auf
allen Ebenen berhaupt erst den endlichen Freiheitsspielraum menschlicher Praxis
bilden und erçffnen.
An dieser Stelle der Sinnkonstitutionsanalyse enden bestimmte auf-
weisende philosophische Sprachmöglichkeiten. Jede weitere Sinnexpli-
kation erfolgt bereits im Horizont der aufgewiesenen Sinnbedingungen.
Wir stoßen hier, bildlich gesprochen, auf eine unvordenkliche Schicht in
der Konstitution, in der wir auch keine vorgegebenen Fundierungsver-
hältnisse ausmachen können. Die negative und formale Charakterisierung
dieser Ursprungsebene der Sinnkonstitution als Unbestimmtheit, Of-
fenheit, Sinneröffnung, Ungesichertheit und Fortsetzungsmöglichkeit
weist auf die Dimension, die Kant mit seinen Grundbegriffen Spontaneitt
und Freiheit beschrieben hat.
Nach den bisherigen Analysen zur Weltkonstitution müssen wir auch
das transzendentalphilosophische Freiheitsverständnis aus dem Paradigma
des isolierten Orientierungssubjekts und einer noumenalen Ursprungs-
welt lösen, um die genuinen Intentionen Kants zu bewahren und zu
retten. Inmitten der einen Welt, in der wir als leibliche Lebewesen
materiell bedingt existieren und in der die passiven ekstatischen Kon-
stitutionsbedingungen unsere Horizontbildung vorstrukturieren, sind wir
in der Lage, selbst Sätze zu bilden, zu referentialisieren und zu prädizieren,
und so Wirklichkeit zu erkennen, zu denken und zu beurteilen. Damit
eröffnet sich die gemeinsame Welt im Modus interexistentieller Kom-
198 Teil 1. Religionsphilosophie

munikation. Wir sind in der Lage, die leiblichen, zeitlichen und räum-
lichen, die interexistentiellen und existentiellen, die modalen und die
sprachlich-grammatischen Sinnbedingungen unserer Praxis und unseres
Transzendierens selbst zu erkennen und zu thematisieren.
Weder Sprache noch räumlich-zeitlich-leibliche, interexistentielle
Horizonteröffnung lassen sich einseitig als ontologisches bzw. apriori-
sches Fundament der humanen Welt auszeichnen. Vielmehr müssen wir
die Gleichursprnglichkeit der Sinnbedingungen mit ihrer Unerklrlichkeit
zusammendenken. Das ist in vielen philosophischen Ansätzen aufgrund
ihrer quasi-szientifischen, verzerrten oder ungeklärten Methodologie
leider gerade nicht möglich. Innerhalb der ekstatischen und prädikativen
Weltkonstitution lassen sich keine vorgegebenen Ableitungs- oder
Fundierungsverhältnisse darstellen. Daher ist ein sprachanalytischer lin-
guistischer Idealismus so verfehlt wie empiristische oder auch bewusst-
seinsphilosophische Vorstellungen von der Unmittelbarkeit eines Welt-
zugangs. Auch die Auszeichnung bestimmter Sinnbedingungen zu
Ursprungsereignissen lebt bereits von der in Wahrheit irreduzibel
komplexen, holistischen Konstitution der humanen Welt. In der philo-
sophischen Rekonstruktion kann es so zu theoretischen Stilisierungen
und Hypostasierungen kommen. Der Heidegger von Sein und Zeit hat in
dieser Linie die Zeitigung der Zeitlichkeit geradezu in ein quasi-my-
thisches Großsubjekt transformiert. Der späte Heidegger denkt die
Sprache gleichermaßen als solch eine sinnstiftende Mega-Instanz. Die
Husserlsche bewusstseinsphilosophische Engführung der Konstitutions-
analyse habe ich bereits kritisiert. Eine andere Variante dieser theoreti-
schen Verzerrung der Konstitution stellt der Existenzialismus dar, inso-
weit er die isolierte Existenz des Einzelnen zum Mittelpunkt der Welt
macht und die Negativität der Sinnkonstitution als Nichtigkeit und
Sinnlosigkeit theoretisch fixiert. Eine theoretisch verzerrte Sicht der
Weltkonstitution wird auch in Derridas Husserl-Kritik und im Paradigma
des Dekonstruktivismus mit Bezug auf die Sprache entwickelt. Anstatt die
– selbst unerklärlichen – Sinnbedingungen in ihrer praktischen Bedeutung
für die Konstitution einer humanen Welt zu analysieren, verharrt der
Zugriff in einem schlecht-idealistischen Sinne in der Sprache und kon-
struiert einen semantischen Verkettungsimmanentismus, der nicht mehr
zur Welt und zur Praxis hinausfindet. Und auch die Analyse der Welt-
sinnkonstitution durch den Anderen und sein „Antlitz“ bei Lévinas stellt
die einseitige Überakzentuierung einer wenn auch zentralen interexis-
tentiellen Sinnbedingung der menschlichen Welt dar.
Zeit, Sprache, Transzendenz 199

Die aufgezeigten Sinnbedingungen der humanen Welt sind uner-


klärlich, weil sie notwendige Möglichkeitsbedingungen auch aller Er-
klärungen sind. Ekstasis und Prädikation ermöglichen gleichzeitig, dass
wir uns zu den Sinnbedingungen selbst noch einmal praktisch einstellen
und handelnd verhalten können. Sie sind gleichzeitig Bedingungen der
Möglichkeit sinnvoller Weltgestaltung und eines authentischen Selbst-
verständnisses. Der Fehler bestimmter naturalistischer, szientistischer
Weltverständnisse besteht im Überspringen oder Wegerklären dieser
unerklärlichen Bedingungen. Der Fehler vieler philosophischer Theorien
besteht in der partialen Auszeichnung eines Konstitutionsaspekts. In
Wahrheit ist das Unerklrliche, die Grundlosigkeit der Sinnbedingungen
durchgängig und flächendeckend zu beachten.26 Deswegen ist es so
wichtig, zu wissen, wann man in der Analyse halt machen muss. (Witt-
genstein ist hier oft vorbildlich.) Vielleicht ist es der grundlegende Ka-
tegorienfehler unserer westlichen Kultur und Zivilisation, für diese
Unerklärlichkeit und Unableitbarkeit kein Bewusstsein mehr zu haben –
das Wunderbare des Selbstverständlichen lediglich noch als das Banale
wahrzunehmen. Für die Praxis, für Ethik, Ästhetik und Religion ist al-
lerdings das Bewusstsein der Zurückbezogenheit auf die unverfügbaren
Sinnbedingungen unseres zeitlich-endlichen Transzendierens gerade das
Spezifikum – Voraussetzung authentischer Selbsterkenntnis wie Praxis.
Wenn Phänomenologie zur Einsicht in diese Bedingungen beitragen
kann, ist ihre Renaissance an der Zeit, denn wir sind darauf angewiesen,
zu wissen, wer wir sind.
Ich fasse zusammen. Phänomenologie ist sinnexplikative Tiefen-
hermeneutik der in der Alltäglichkeit und Nähe verborgenen und ver-
deckten menschlichen Welt. Sie geht nicht vom transzendentalen Be-
wusstsein, sondern vom leiblichen, sozialen und kommunikativen
Lebewesen Mensch und seiner Orientierungspraxis aus und thematisiert
die primär intersubjektive und sprachliche Ebene der Sinnkonstitution.
Diese Ebene der lebensweltlichen Sinnkonstitution kann nur in einem
holistischen Modell angemessen thematisiert werden. Dann zeigt sich: die
ekstatische, weitgehend passive Horizontvorzeichnung und die prädi-
kative Horizontbildung sind gleichursprünglich. Für die menschliche
Welt ist sinnkonstitutiv, dass wir uns und unsere jeweilige Situation
ständig transzendieren. Sprachlich zeigt sich dieses Transzendieren im
innovativen Wiederholenkönnen von Sätzen in der alltäglichen Rede, im
freien Fortsetzen nicht festlegender Anfänge des Sprachhandelns und

26 Vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein, a.a.O., Kapitel 6.


200 Teil 1. Religionsphilosophie

Regelfolgens. In der Tiefenstruktur des zeitlich-sprachlichen Trans-


zendierens zeigt sich ein regelfreier Moment, ein Bruch, der jeweils mit
einem Sprung überwunden werden muss.
Alles Transzendieren ist endlich. Die negativen Sinnbedingungen der
Weltkonstitution – die Ferne und unsagbare Nhe der Welt, die Entzo-
genheit und Fremdheit der Anderen, die Begrenztheit der Selbsterkenntnis,
die Unerkennbarkeit der Gegenwart und die Unbestimmtheit und Offenheit
des sprachlichen Sinns – diese negativen Sinnbedingungen sind Grenze
und Grund unserer Praxis, deren endlichen Freiheitsspielraum sie er-
öffnen. Wir müssen die Gleichursprünglichkeit der Sinnbedingungen mit
ihrer Unerklärlichkeit zusammendenken, um sie als Bedingungen au-
thentischer Selbsterkenntnis und Praxis zu begreifen.
Transzendenz und Sprache. Der Mensch im Verhältnis
zu Grenze und Sinngrund der Welt

Für über 2000 Jahre bildete das Fragen nach der Transzendenz mitsamt
den verschiedenen Antworten den gemeinsamen Bezugsrahmen der
europäischen Religions- und Vernunftgeschichte. Dieser Bezugsrahmen
ist von Beginn an nicht der theoretischer Wissenschaft im modernen
Verständnis, sondern der Kontext eines emphatischen Wahrheitsan-
spruchs; eines Wahrheitsanspruchs, der primär praktisch auf das lebens-
ermöglichende und lebenstragende Gute und seine wahre Erkenntnis
sowie auf die gerechte Ordnung des Miteinanderlebens gerichtet ist. Es
geht um die Lebenspraxis und deren Sinn, und in diesem Zusammenhang
um das rettende Göttliche. Zu dieser Lebenspraxis führt nach Sokrates
wahre Erkenntnis, auf sie zielt die Verklammerung von Metaphysik und
Politik bei Platon, auf sie zielt die systematische Verbindung von Me-
taphysik, Ethik, Politik und Ökonomie bei Aristoteles. Wahre Erkenntnis
zielt auf den praktischen Sinn des guten und gerechten Lebens. Das gilt
auch für die religiösen, z. B. christlichen Traditionen. Aber welchen
Status hat diese Erkenntnis? Wie ist sie sprachlich zugänglich? Wie lässt sie
sich vermitteln?
Ich will diesen Fragen im Folgenden in vier Schritten nachgehen.
Zunächst will ich erläutern, warum ich Transzendenz als mehrfache
Schnittstelle von Reflexion und Praxis ansehe.
Dann werde ich einen strukturellen Transzendenzbegriff herausar-
beiten.
Drittens werde ich die Dialektik der Transzendenz sowie ihre
sprachkritische Radikalisierung durch die Entwicklung der modernen Phi-
losophie betrachten. Auf diesem Hintergrund werde ich viertens Kern-
thesen zum Verhältnis von Transzendenz und Sprache im Kontext der ge-
genwrtigen Religionsphilosophie entwickeln.
202 Teil 1. Religionsphilosophie

1. Transzendenz – Schnittstelle von Reflexion und Praxis


Die Thematik des Verhältnisses von Transzendenz und Sprache bewegt
sich in mehrfacher Hinsicht auf einer Grenze, auf einer Schnittstelle
unseres gegenwärtigen Denkens und unserer gegenwärtigen Praxis zu
Beginn des 21. Jahrhunderts. Zum einen bewegen wir uns mit dieser
Thematik philosophieintern an der Grenze zwischen einer modernen
Philosophie auf der einen Seite, die bewusst und in der Tradition von
Aufklärung und Kritik von den Traditionen der Transzendenz, von Gott,
Sinn von Sein und Absolutem Abschied genommen hat, die konsequent
mit den Naturwissenschaften kooperiert und das „Höhere“ ironisch und
kontingenzbejahend privaten Vorlieben sowie der Kunst und der Lite-
raturkritik überlässt, und andererseits einer Philosophie, die, wie modern
und kritisch auch immer, sich in der Kontinuitt von Grundfragen begreift,
die seit Platon und Aristoteles in der Metaphysik verhandelt werden. Auf
der einen Seite stehen Philosophierende in der Tradition Carnaps und
Quines, aber auch Rorty, auf der anderen Seite der späte Heidegger. Auf
der Grenze denken der frühe Wittgenstein und z. B. auch der späte
Adorno. Paradigma der philosophieinternen Grenzziehung ist der Tra-
ctatus Wittgensteins. Die zivilen und noblen Hermeneutiker und Ra-
tionalisten, allen voran Gadamer und Habermas, lassen uns auf kultivierte
Art und Weise mit der Frage nach der Transzendenz allein, nicht ohne
freilich ihren unersetzlichen Rang zu unterstreichen, aber ohne explizite
Konzeptualisierung von Transzendenz. Wir bewegen uns somit auch
diachron, im Blick auf die gesamte Geschichte der okzidentalen Philo-
sophie, auf einer Grenze zwischen Herkunft und Zukunft. Es gilt aber:
Ohne Metaphysik der Transzendenz keine okzidentale Rationalitt – weder im
Abschied, in der Destruktion und Metaphysikkritik, noch in der Kon-
tinuität und Transformation von Transzendenz in immanente Formen
des Überschreitens – vernunftkritisch, geschichtsphilosophisch, politisch
und existentiell. Und auch nicht in den vielen surrogathaften Formen von
Transzendenz, die eine oberflächliche Spaß- und Konsumgesellschaft mit
schneller Bildersequenz zum Kauf anbietet.
Mit der Thematik bewegen wir uns ebenfalls auf der Schnittstelle
zwischen Philosophie und Theologie. Gibt es heute wieder und in erneuerter
Verantwortung einen gemeinsamen Bezugspunkt für philosophische
Reflexion und ihrer Herkunft verpflichtete Theologie? Kommt die
Genesis der okzidentalen Rationalität auch mit ihren Trans-
zendenzbezügen erneut auf uns zu? Ich erinnere nur an Habermas‘
Thesen zur postsäkularen Gesellschaft und an die gegenwärtigen religi-
Transzendenz und Sprache 203

onsphilosophischen Ansätze von Derrida, Vattimo, Žižek und Taylor,


um nur einige zu nennen. Diese Ansätze zeigen zumindest eines: Dass die
Frage nach der Transzendenz wieder eine offene Frage ist. Das hat mit
einem weiteren zentralen Gesichtspunkt zu tun: Wir bewegen uns mit
der Thematik nämlich zudem im Zentrum interkultureller Konflikte und
Differenzen: Wie verhalten sich Kulturen und Gesellschaften der west-
lichen Profanität und Säkularisierung zu stark theistisch orientierten
Kulturen? Wir bewegen uns im Spannungsfeld der Gleichzeitigkeit sehr
heterogener Lebensformen, im Konfliktbereich kultureller Alteritt, deren
Modelle vom „clash of civilisations“ bis zum „Projekt Weltethos“ rei-
chen.
Schließlich steigert sich die Bündelung der dialektischen Spannungs-
und Konfliktpotentiale unserer Thematik noch durch die Bezugnahme
auf die Relation von Transzendenz und Sprache. Warum? Die philoso-
phische Reflexion selbst durchlief seit ihrem Beginn eine zunehmende
sinnkritische Radikalisierung. Sie wurde seit der antiken Entstehung der
Philosophie bis zum Beginn der Neuzeit im Wesentlichen ontologisch, im
Rekurs auf Strukturen des Seins also, beantwortet. Die Neuzeit beginnt,
wo ein ontologisches „Schema der garantierten Realität“ 1, wie es die
Ordo-Metaphysik im Paradigma der klassischen Transzendentalienlehre
entfaltet hatte, zerbricht und die Möglichkeitsbedingungen einer
menschlichen Welt bewusstseinsphilosophisch bestimmt werden – gipfelnd
in der Transzendentalphilosophie Kants. In einer dritten Radikalisierung
werden noch die Voraussetzungen von Ontologie wie Trans-
zendentalphilosophie selbst auf innovative Weise reflexiv thematisiert:
nämlich in der Sprache selbst. Es war Ludwig Wittgenstein, der schrieb,
„dass jede Art des Verständlichmachens einer Sprache schon eine Sprache
voraussetzt. Und die Benützung der Sprache in einem gewissen Sinne
nicht zu lehren ist. D.h. nicht durch die Sprache zu lehren, wie man etwa
Klavierspielen durch die Sprache lernen kann. – D.h. ja nichts anderes als:
Ich kann mit der Sprache nicht aus der Sprache heraus.“2 Und Witt-
genstein präzisiert mit explizitem Kant-Bezug: „Die Grenze der Sprache
zeigt sich in der Unmöglichkeit, die Tatsache zu beschreiben, die einem
Satz korrespondiert (seine Übersetzung ist), ohne eben den Satz zu

1 Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in:


Poetik und Hermeneutik 1. Nachahmung und Illusion, hg. von Hans Robert Jauß,
München 1983, 9 – 27.
2 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen, Frankfurt a.M. 1981, 54.
204 Teil 1. Religionsphilosophie

wiederholen. (Wir haben es hier mit der Kantischen Lösung des Problems
der Philosophie zu tun.)“3
Die Problemstellung von Transzendenz und Sprache führt uns somit
auf mehrfache Weise an die Grenze und Schnittstelle von Herkunft und
Zukunft, von Moderne und Metaphysik, von Philosophie und Theo-
logie, von westlicher Profanität und religiöser Lebensform, schließlich zur
Sprache als dem Ort und zugleich dem Medium von Transzendenz. An
diesem Problemaufriss wird deutlich, dass die Frage nach der Trans-
zendenz in der Moderne sowie gerade in unserer gegenwärtigen ge-
schichtlichen Situation faktisch unvermeidlich ist, dass diese Frage ferner
praktisch und auch politisch außergewöhnlich bedrängend ist, dass ihr
ferner auch methodisch-systematisch für das Selbstverständnis der modernen
Philosophie weiterhin zentrale Bedeutung zukommt.

2. Die Struktur der Transzendenz

Um in dieses Problembündel von Transzendenz und Sprache Übersicht


und ein wenig Klarheit zu bringen, möchte ich zunächst ein formal-
strukturelles Transzendenzverständnis entwickeln. Es soll uns ermögli-
chen, ohne direkten Rekurs auf religiöse oder philosophische Traditio-
nen und ihre Sprache ein rationales, intersubjektiv nachvollziehbares
Vorverstndnis von Transzendenz zu explizieren. Der Terminus „Trans-
zendenz“ gehört selbst zu einem solchen philosophischen, erläuternden
Vorverständnis. Er hat die Funktion eines sinnexplikativen Reflexions-
begriffs, eines erläuternden Hilfsmittels.
Den strukturellen Transzendenzbegriff können wir zunächst im
Rahmen einer (nicht nur) von mir vertretenen negativen Anthropologie der
Freiheit entwickeln. In ihr lässt sich das Wesen des Menschen über seine
natürliche Bedürftigkeit hinaus als Nicht-Festgelegtheit, als Handlungs-
fähigkeit im Rahmen eines Spielraums offener Möglichkeiten, zeitlich als
Sich-vorweg-sein bestimmen. Leiblich-sinnlich schon, inkorporiert im
aufrechten Gang und in der greifend-gestaltend-formenden Hand, kann
und muss der Mensch stets über seine augenblickliche Gegenwart hinaus
sein. Er muss voranschreiten, um vorwärtszukommen. Er muss sich, seine
Gegenwart und die jeweilige Situation überschreiten. Der Mensch muss
transzendieren. Dabei ist sein Gang bei genauerer Analyse der Motorik
nach Erwin Straus eigentlich ein aufgehaltener Absturz. Während

3 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Frankfurt a.M. 1977, 27.


Transzendenz und Sprache 205

Vierbeiner immer mit zwei Beinen fest auf dem Boden stehen, muss der
Mensch stets in einem Moment schwebend fallen und sich fangen, um
voranzukommen. Die Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins
Husserls analysiert die Struktur des Transzendierens als passive, not-
wendige Horizontbildung durch das transzendentale Bewusstsein, als
passive Aktivität der zeitlichen Horizontvorzeichnung, als Horizont-
vorzeichnungsvollzugsnotwendigkeit. Dieses Transzendieren im Raum
und im Zeitbewusstsein wird durch die menschliche Sprachfähigkeit auf
einzigartige Weise noch einmal transzendiert und qualitativ gesteigert.
Wir können nun durch Referentialisierung und prädikative Synthesis
Wirklichkeit nicht nur konkret, sondern auch gedanklich festhalten und
überschreiten, abstrakt fixieren und sozial kommunizieren. Denken heißt
überschreiten. Die Sprache ist sowohl Ort als auch Medium des spezifisch
humanen Transzendierens. Sie gestattet die Fortsetzung der Bedeu-
tungspraxis und ermöglicht so die Kontinuität von Sinn, ebenso gestattet
sie die Rückfrage und ermöglicht innovative Sinnstiftung. Mit der Frage
nach dem Verhltnis von Transzendenz und Sprache ist die Philosophie somit im
Zentrum der Frage nach der menschlichen Selbsterkenntnis angelangt. Das
handelnde und sprachliche Überschreiten des Gegebenen, einzelner
Kontexte und Situationen, ihr Verneinen und Negieren ist für unser
Welt- und Selbstverständnis konstitutiv. Es gründet die genuin
menschlichen Möglichkeiten der Wissenschaft und Technik, der Ethik,
der Ästhetik und der Religion, die alle ohne sprachliche Selbsttrans-
zendenz unmöglich wären. Insofern ist weder ein Sinn von Sein noch
eine menschliche Welt ohne kommunikative Selbsttranszendenz auch nur
denkbar. Die Frage nach dem Verhältnis von Transzendenz und Sprache
ist daher ersichtlich fundamental: Sie berührt die Möglichkeitsbedin-
gungen einer menschlichen Welt. Damit bildet die Frage auch einen
zentralen Bezugspunkt von Religion und Philosophie in Geschichte und
Gegenwart.
Das menschliche Selbsttranszendieren in Sprache und Praxis kann
sich nur zeitlich und endlich, diskursiv vollziehen. Alles Erkennen,
Handeln und Sprechen ist begrenzt. Diese Endlichkeit und Begrenztheit
allen Transzendierens können wir selbst erfahren, erkennen und the-
matisieren. Die menschliche Selbstreflexion führte und führt nach we-
nigen Schritten zur Frage nach der Eigenart der Grenze und des Grundes
bzw. des Sinns dieses endlichen Seins – man denke z. B. an die klassischen
Gottesbeweise. Wir können diesen Zusammenhang von Transzendenz
bzw. Transzendieren und Endlichkeit, von Grenze und Grund unseres
Seins, unseres Bewusstseins und unserer Sprache strukturell mit folgenden
206 Teil 1. Religionsphilosophie

im Wesentlichen negativ-praktischen Einsichten fassen. Es ist erstens die


Einsicht, dass wir das Ganze der Welt und ihre Wirklichkeit, ihren Anfang
und ihr Ende nicht erkennen können, und dennoch in ihr sind. Nur
partiale Aspekte der Welt sind uns, selbst nur diskursiv-zeitlich, per-
spektivisch-räumlich, durch und durch endlich und zeitlich begrenzt
zugänglich. In allem Denken, Erkennen und Handeln zeigt und entzieht
sich die Welt zugleich auf uns unverfügbare Weise. Unser Trans-
zendieren findet seine Grenze und seinen Grund darin, dass die Welt
überhaupt ist. Bereits hier wird sichtbar, dass Negativität – als Uner-
kennbarkeit und Unverfügbarkeit – und Sinn konstitutiv verbunden sind.
Die Welt ist handelnd und sprachlich nicht-objektivierbarer Grund
unseres Transzendierens. Ich nenne dies die mundane Transzendenz. Es ist
ferner die Einsicht, dass wir uns selbst, unser Wesen, ebenso wie das
Wesen unserer Mitmenschen nicht erkennen und nicht zur Gänze ob-
jektivieren können. Wenn wir dies, zeitlich-endlich, sprachlich und
handelnd versuchen, so sind es doch wieder wir selbst, die handelnd nicht-
objektivierbarer Grund dieser Objektivationsleistungen sind. Weder uns
selbst und unsere Individualität noch die der anderen können wir anders
denn partial und gebrochen transparent machen. Dass wir und die An-
deren sind, und so sind wie sie sind, bleibt unvordenklicher Grund un-
serer gesamten Lebenspraxis. Ich nenne dies die existentiell-interexistentielle
Transzendenz.
Es ist schließlich die negativ-praktische Einsicht, dass wir auch über
die sprachlichen Sinnbedingungen unserer Praxis nicht pragmatisch und
technisch verfügen, sondern dass sie uns geschichtlich, sozial und kulturell
überkommen sind. Wir werden zu uns selbst im Medium sozialer und
kommunikativer Praxis, die uns entzogen und vorgängig ist. Das ist die
Transzendenz der Sprache.
Unser Transzendieren gründet somit in unhintergehbaren Sinnbe-
dingungen, die ihrerseits uns transzendieren. Diese Sinnbedingungen der
Welt, der eigenen Existenz und der Sprache treten in der zeitlichen
Endlichkeit unserer Lebenspraxis stets in einem Zusammenspiel auf, sie
verweisen aufeinander. Sie sind gleichursprnglich und ermöglichen so in
ihrer irreduziblen Unhintergehbarkeit und Unableitbarkeit endliches
Leben und Erkennen sowie die eigenen endlichen und freien Sinnent-
würfe der Menschen. Die unhintergehbaren Sinnbedingungen, die
Grenze und Grund unserer endlichen Orientierungspraxis bilden, will ich
als strukturelle Transzendenz bezeichnen. Alles menschliche Trans-
zendieren vollzieht sich im Horizont dieser gleich-ursprünglichen,
weltlichen, existentiellen und sprachlichen, strukturellen Transzendenz.
Transzendenz und Sprache 207

Diese kurz umrissene strukturelle Transzendenz der Sinnbedingun-


gen der humanen Welt bildet einen zentralen gemeinsamen Bezugspunkt
von Religion und Philosophie. Ich will dies im Blick auf die Genesis der
okzidentalen Rationalität kurz verdeutlichen. Dabei ist mir die syste-
matische Verbindung von Negativität und Sinn besonders wichtig. Die
Grenzen unseres Erkennens, Denkens und Handelns sind es, die in unserer
Vernunftgeschichte ihrerseits als konstitutiv für Sinn erkannt werden.

3. Die Dialektik der Transzendenz und ihre sprachkritische


Radikalisierung in der Moderne

Auf dem erläuterten Hintergrund entfaltet sich das strukturelle Problem


der Transzendenz als Dialektik der Transzendenz. Diese Dialektik ist es
bei näherer Betrachtung, die die systematische Schnittstelle von Religion,
Theologie und Philosophie bildet. Das gilt für die Antike, für die
1000jährige Geschichte der christlichen Metaphysik, für die Philosophie
bis zu Kant und Hegel, aber gleichfalls für die dezidierten Entwürfe der
Transzendenzleugner- und Kritiker Marx, Nietzsche und Freud, die
Transzendenzverlagerer sind, wenn sie nur den Ort der Transzendenz
anders besetzen: in die Geschichte der Emanzipation, in den Über-
menschen und die Ewige Wiederkehr, in das Unbewusste – Bereiche,
denen das Stigma ihrer Herkunft oft nur allzu deutlich anhaftet. Es gilt
auch noch für große Entwürfe des vergangenen Jahrhunderts, die ohne
Transzendenzbezug undenkbar sind: für das spätere Denken Heideggers,
für den Tractatus Wittgensteins wie auch für dessen spätere Religions-
philosophie, für Adornos Negative Dialektik, die sich „solidarisch mit
Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“4 erklärt, für Derridas Anleihen
bei Neuplatonismus und negativer Theologie. Aber auch alle Absetz-
bewegungen von der okzidentalen Transzendenzgeschichte arbeiten sich
explizit oder implizit an dieser Geschichte ab: Im Paradigma des Mate-
rialismus, des Positivismus, des Szientismus, des Atheismus, des Exis-
tenzialismus, des Historismus. Kurz: Die Depotenzierung der Trans-
zendenz zehrt noch von dieser, entfaltet ihre innerweltlich-immanente
Energie aus der Negation der Transzendenz und nur radikalisierte
Transzendenzreflexion setzt, so scheint es mir, Immanenz wirklich frei.

4 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 51988, 399 f.


208 Teil 1. Religionsphilosophie

In diesem Kontext tritt ein Strukturproblem aller Religionen in den


Blick, das man als die strukturelle Negativität aller Offenbarung und allen
Heils, aller Transzendenz, positiv aber als die Untilgbarkeit bzw. die
Permanenz der Endlichkeit und Alltäglichkeit beschreiben kann. Men-
schen sprechen und hören, auch wenn Büsche brennen, wenn Gott
spricht; ein Licht leuchtet, aber je nur kata to dynaton, wie Sokrates und
Platon sagen – so wie es eben den Menschen möglich ist. Religiöse
Wahrheitsansprüche auf Transzendenz – welcher Art auch immer –
können nur konkret in der weltlichen Wirklichkeit verlautbart und er-
hoben werden. Was unterscheidet sie dann aber von den üblichen, ge-
wöhnlichen? Diese Negativität artikuliert auch ein Strukturproblem aller
Metaphysik bzw. allen faktizitätsüberschreitenden philosophischen Den-
kens: Denn, was immer wir über das Ganze bzw. über Grenze, Grund
und Sinn des Ganzen von Welt und Leben sagen mögen – wir können das
nur mittels konkreter Worte in empirischen Kontexten. Die Worte über
den Sinn oder Grund des Ganzen (des Seins) oder auch nur unseres ei-
genen ganzen Lebens, die Rede über diese Totalitäten und ihren Grund,
sie sind unlöslich mit einer partikularen, jeweiligen Situation verknüpft,
sie sind und bleiben damit abhngig vom Endlichen, Relativen und
Kontingenten. Eine alles Partikulare und Kontingente überschreitende
Perspektive von Sinn (bzw. des Sinnes von Sein) scheint sich daher nur
negativ artikulieren zu können: als nicht-bedingt, als ab-solut, als un-
verfügbar, als un-sagbar.
Ich bezeichne dieses strukturelle Problem als die absolute Negativität
der Sinnganzheitsperspektive bzw. als die absolute Negativität der
Sinngrundperspektive.
Auch Erfahrungen partikularen Sinns geben zunächst nicht den Sinn
des Ganzen an und her. Solche Erfahrungen sind endlich und vergänglich
wie alles, was wir haben und sind und sein können. Mit Novalis können
wir ausrufen: „Wir suchen überall das Absolute, und finden immer nur
Dinge.“5
Dieser strukturelle Befund der absoluten Inkommensurabilität un-
bedingten, nicht-relativierbaren Sinnes – des Seins, der Welt bzw. auch
des einzelnen Lebens im Ganzen eint in gewisser Hinsicht die Geschichte
der okzidentalen Rationalität von Platon bis Wittgenstein.
So ist der Transzendenzbezug in Emphase wie Negation der explizite
oder implizite Horizont der Genesis der okzidentalen Rationalität.
Wichtig ist mir systematisch dabei dreierlei. Erstens, dass das Funda-

5 Novalis, „Blütenstaub Nr. 1“, in: ders., Werke und Briefe, München 1968, 340.
Transzendenz und Sprache 209

mentalproblem des emphatischen Sinnes, betrachten wir es theoretisch,


wissenschaftlich, verständig oder aus der Beobachterperspektive, prinzi-
piell unlçsbar ist. Zweitens, dass dieses Problem existentiell und praktisch
unabweisbar und irreduzibel ist. Das meinte Kant mit der Rede von
Fragen, die einerseits unbeantwortbar sind, die sich andererseits nicht
abstellen lassen. Er hat damit die Struktur genau erfasst. Noch die para-
doxe Selbstaufhebung des Tractatus vollzieht diese Bewegung, die
Wittgenstein explizit mit Kierkegaards „Anrennen gegen das Paradoxon“
analogisiert. In genau diesem Kontext äußert Wittgenstein völlig passend
sein tiefes Verständnis von Heideggers Sein und Zeit, und er bezieht sein
eigenes Denken und Anrennen gegen die Grenze der Sprache und das
Heideggers nicht nur auf den gemeinsamen Ahnherrn Kierkegaard,
sondern noch weiter zurück auf Augustinus, der schrieb: Wehe denen die
von Dir – von Gott – schweigen, wo schon die Redenden wie Stumme
sind. Bei Wittgenstein heißt das: „Was du Mistviech du willst keinen
Unsinn reden? Rede nur einen Unsinn, es macht nichts!“6 Drittens,
neben der Unlösbarkeit des Transzendenzproblems und seiner prakti-
schen Unabweisbarkeit ist wichtig, dass mit den Fundamentalunter-
scheidungen im Kontext des Transzendenzproblems seine Konstanz und
Permanenz konstitutiv verklammert ist und bleibt. Je rigoroser wir den
Dualismus von Transzendenz und Immanenz fassen, antithetisch, kon-
tradiktorisch, desto unlöslicher wird der wechselseitige Bezug der un-
terschiedenen Ebenen. Hegel hat dies so formuliert: Eine Grenze denken
heißt, sie überschreiten. Heidegger spricht vom Walten der Differenz.
Wir können sagen: Auch bei Negation des Transzendenzbezugs bleibt
der Bezug erhalten; formal-strukturell betrachtet bewegt sich die
Leugnung absoluten Sinns, z. B. als emphatischer Nihilismus, auf der-
selben Ebene wie dessen emphatische Affirmation. Ja noch das Konsta-
tieren der völlig profanen, säkularen Alltäglichkeit und Banalität der
Spaß- und Konsumgesellschaft setzt untergründig etwas Anderes, das
Andere, als heimlichen Bezug voraus, und wenn auch nur in der Ne-
gation, in der Abwesenheit. Die Spuren des Anderen sind überall – das
Auslangen nach Transzendenz – in der Kindheit, in den Augen der Tiere,
in der Natur, im Urlaub, in der Liebe, in der Kunst, in unfassbaren

6 Ludwig Wittgenstein, „Zu Heidegger“, in: Ludwig Wittgenstein und der Wiener
Kreis: Gesprche, hg. v. Brian F. Mc Guinness, Frankfurt a.M. 1967, 68 f. Vgl.
dazu: Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existenzial- und Sprachanalysen
zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 1985, 22002 sowie ders.,
Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, v. a. 322 – 334.
210 Teil 1. Religionsphilosophie

Augenblicken plötzlicher Sinneröffnung, aber vielfach in Langeweile,


Resignation, stummer Melancholie oder Aggressivität.
Wir werden also angesichts des Transzendenzbezugs vom Dualismus
unweigerlich zur Dialektik der Transzendenz weitergetrieben. Ferner,
durch die empirische, innerweltliche Kontextualität allen Trans-
zendenzbezugs, sind wir mit den Kulturen der Transzendenz konfrontiert.
Ohne diese kulturelle Kontextualität gibt es keinen solchen Bezug, und
sei er noch so absolut und strukturell unmittelbar gedacht oder erfahren.
Menschliche Kulturen bilden Paradigmen der Transzendenz aus, in denen
sich die Dialektik der Transzendenz – mit Heidegger: das Walten der
Differenz – geschichtlich entfaltet. Die Dialektik der Transzendenz führt
mithin zur Hermeneutik dieser kulturellen Paradigmen. Bedeutende Pa-
radigmen der Transzendenz sind z. B.: der ethische Monotheismus, der
platonische Chorismos, der gnostische Dualismus, die christliche Tra-
dition unter Einschluss der negativen Theologie und Mystik, ebenso
Islam und Buddhismus. An diesen Paradigmen wird die konstitutive
Verbindung von Negativität und Sinn auf mannigfache Weise deutlich.
Ich sehe eine tiefgreifende Verbindung der Genese der okzidentalen
Rationalität insbesondere mit den großen Traditionen der Negativität,
die bei der Negation eines falschen Transzendenzverständnisses ja nicht
stehen bleiben, sondern diese Negation unlöslich mit einer universalen,
alle Menschen einschließenden praktischen, ethischen Sinneröffnung
verklammern. Das Bilderverbot des ethischen Monotheismus erschließt auf
erstmalige und einmalige Weise einen alles Innerweltliche trans-
zendierenden Standpunkt. Die Rationalitätspotentiale dieses Trans-
zendenzparadigmas erstrecken sich bis in die Moderne und unsere eigene
Zukunft: angelegt ist hier die Perspektive der Einheit der Natur wie auch
die der Einheit der theoretischen und praktischen Vernunft unter uni-
versalistischem Einschluss der gesamten Menschheit. Der egalitäre Uni-
versalismus ist Konsequenz eines radikalen und ineins praktisch ver-
standenen Transzendenzmodells. Ihm zur Seite steht auch das nach
meinem Urteil religiös begründete Nichtwissen des Sokrates, des sowohl
zur Freisetzung wissenschaftlicher Rationalität und Diskursivität als auch
zur uneingeschränkten ethischen Achtung des Mitmenschen führt. Das
Transzendenzmodell des Christentums mit Menschwerdung und Tod Gottes
aus Liebe lehrt, die negativen Einsichten nicht resignativ oder nihilistisch
zu verstehen, sondern in ihnen selbst Rettung und Befreiung konkret und
definitiv gemeinsam zu erfahren und zu leben. Es sind diese Traditionen,
die an der Basis der produktiven, längst nicht ausgeschöpften und im
Übrigen auch nicht ausschöpfbaren Potentiale des ethischen Universa-
Transzendenz und Sprache 211

lismus, der universellen Personalität und Menschenwürde, eines ver-


tieften Freiheitsverständnisses und auch eines freigesetzten Verständnisses
wissenschaftlicher Rationalität und humaner Weltgestaltung liegen.
Warum, das lässt sich genau sagen: weil diese Traditionen recht ver-
standen, alle dogmatischen Wahrheitsansprüche unterminieren; weil sie
es nicht gestatten, etwas anderes an die Stelle des kritisch-negativen
Transzendenzmodells zu setzen, weil sie so kritisches Bewusstsein und
Selbstbewusstsein allererst ermöglichen und geschichtlich – als Gestalten
objektiven Geistes – erst ermöglicht haben.
Die sprachkritische Reflexion auf Transzendenz führt zunächst zu
negativen Sinnkriterien. Wir können und dürfen die Perspektive der
Transzendenz, des Sinngrundes, nicht auf der Ebene üblicher Erfah-
rungen in der Welt, im Leben oder in der Sprache ansetzen.
Entscheidend für das Verständnis des Bezuges von Transzendenz und
Sprache ist daher die praktische Einsicht darin, dass das Missverstndnis und
das Missverstndliche zum sprachlichen Vergegenwärtigen von Trans-
zendenzaspekten unseres Welt- und Selbstverständnisses sinnkonstitutiv
dazugehört. Zum authentischen sprachlichen Transzendenzbezug gehört
also das Mitvergegenwärtigen der Missverständnisse.
Derjenige sieht, um es mit Wittgenstein zu formulieren, die ,Welt‘
richtig, der ihren Sinn nicht auf einzelne Erfahrungen oder Eigenschaften
bezieht, sondern sie als Einstellung, als Haltung zum Leben im Ganzen
versteht, als Einstellung zur Welt im Ganzen, als Lebensform. Diese
Wirklichkeit der existentiellen Gesamtorientierung ist eine Haltung zur
Unverfügbarkeit der Welt, zur personalen Integrität, zum ganzen Leben
der Anderen, zur eigenen und zur fremden individuellen Transzendenz.
An den Paradigmen der Transzendenz wird deren Dialektik sichtbar.
Sie sind umgeben von falschen Verständnissen, in gewisser Weise un-
sagbar, und die Sprachpraxis ist untrennbar und bedeutungskonstitutiv
verbunden mit der gesamten Lebenspraxis. Das Irreduzible im empha-
tischen Wahrheitsanspruch religiöser Rede kann daher als praktischer
Wahrheitsanspruch im Verbund mit einem transpragmatischen Lebensbezug
bestimmt werden. Das heißt: die Sprache mit Transzendenzbezug bezieht
sich so auf das ganze Leben der sie Sprechenden zurück, dass ihr Ver-
ständnis sich nicht auf theoretische Erkenntnis eingrenzen lässt. Ihr
Verständnis ist konstitutiv mit der Lebenspraxis verbunden.
Dieser holistische Bezug auf das Gesamtverständnis des Lebens und
der Praxis, auf Grenze, Grund und Sinn der Welt ist andererseits dadurch
gekennzeichnet, dass er noch die transpragmatischen Sinnbedingungen
des Lebens in das Lebensverständnis einbezieht.
212 Teil 1. Religionsphilosophie

Entscheidend für die philosophische Reflexion der strukturellen


Transzendenz ist die Gleichursprünglichkeit der faktischen, der prakti-
schen und der sprachlichen Grenzen der Welt und des Lebens in ihrem
Zusammenspiel. Die Grenzen sind in ihrer faktischen Gegebenheit wie
auch in ihrer Negativität und Entzogenheit sinnkonstitutiv – ohne sie gibt
es kein menschliches Leben und ohne ihr Verständnis keine humane
Welt.
Der Ort der religiösen Praxis wie auch der philosophischen Sinn-
grenzreflexion lässt sich mithin als die gleichursprngliche Transzendenz der
Welt, der Anderen, unserer Selbst und des eigenen Lebenssinnes sowie als
die Transzendenz der Wahrheit und des Guten im emphatischen Sinn
bezeichnen. Dass wir in diesen Transzendenzbezügen leben, ist uns ei-
nerseits völlig unverfügbar und entzogen, andererseits ist es auf unvor-
denkliche Weise für unser gesamtes Sein sinnkonstitutiv. Die Schnittstelle
der Transzendenz für Religion, Theologie und Philosophie bildet sich
aufgrund des systematischen Konnexes, der unlösbaren Verklammerung
von Negativität und Sinnkonstitution. Was uns entzogen ist, bildet und
eröffnet – das ist nämlich die negativ-praktische Grundeinsicht – allererst
den endlichen Freiheitsspielraum praktischer Anerkennungsvollzüge der
Transzendenz-Aspekte in der Immanenz einer humanen Welt.

4. Transzendenz und Sprache in der Religion


Diejenige religiöse Sprache wird der Dialektik der Transzendenz gerecht,
die die Einsicht in die unvordenkliche Gleichursprünglichkeit von Ne-
gativität und Sinn eröffnet. Religiöse Vernunft lässt sich somit bestimmen
als ekstatische Vernunft angesichts der gleichursprünglichen Trans-
zendenz-Aspekte. Die religiöse Lebenspraxis transformiert Transzendenz
meditativ und kongregativ in bestimmte Formen praktischer Anerken-
nung. Die religiöse Sprache artikuliert paradigmatisch die unverfügbaren
Sinnbedingungen unseres Lebens z. B. als Gnade und Heil. Sie will die
unbestimmte Negativität der Sinnbedingungen kreativ in lebbare Praxis
transformieren, z. B. in Glaube, Liebe, Hoffnung und Dankbarkeit.
Religion, als ekstatische Vernunft begriffen, eröffnet so ein Leben im
Bewusstsein der Unerklärlichkeit der Welt, der Unerkennbarkeit des
Grundes unserer Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten, im Be-
wusstsein der unableitbaren Sinnbedingungen von Ethik, endlicher
Freiheit und Autonomie und im Bewusstsein der kommunikativen
Transzendenz von Sprache als Möglichkeitsbedingung von Sinn. Ein
Transzendenz und Sprache 213

solches Leben ist sich nicht entfremdet, sondern im Medium ekstatischer


Vernunft vertraut mit den Sinnbedingungen seiner selbst.
Aber: Die Dialektik der Transzendenz, ihre Negativität, bleibt stets er-
halten. Hier eröffnet sich die ganze Dramatik des Bezuges von Trans-
zendenz und Sprache. Wenn die Dialektik strukturell gegeben ist, dann
besteht nicht nur die ständige Möglichkeit des Missverstndnisses religiöser
Sprache, sondern es besteht die noch viel gefährlichere ständige Mög-
lichkeit des pervertierenden Missbrauchs einer Rede, die eigentlich der
Eröffnung des Sinns eines authentischen Transzendenzbezugs wie auch
entsprechender Praxis dienen soll. („Gott hat es mir befohlen.“ – ge-
sprochen von einem fundamentalistischen Terroristen nach einem An-
schlag.)
An dieser Stelle will ich auf meine These von der Sprache als Ort und
Medium der Transzendenz zurückkommen. Ich will sie mit einem, so
hoffe ich, erhellenden Gedankenexperiment verbinden, das die Philo-
sophie Wittgensteins betrifft und letztlich auch auf ihn selbst zurückgeht.
Wittgenstein hat in seiner frühen Sinnkritik eine radikale Grenzziehung
vollzogen zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren, zwischen dem,
was sich sagen lässt – v. a. empirische Tatsachenbehauptungen – und dem,
was sich nur zeigt. Aber der Tractatus vollzieht eine paradoxe Selbstauf-
hebung – seine eigene sprachkritische Grenzziehung ist nach den eigenen
Sinnkriterien selbst unmöglich. Auf diese Weise aber – gleichsam mit
einem mentalen Stockschlag – soll das Werk die richtige Sicht der Welt
eröffnen. Hier, im Modell des Tractatus, ist in gewisser Hinsicht die
Dialektik der Transzendenz auf eine letzte Spitze getrieben. Dadurch
kommt sie, so scheint es, gewissermaßen „rein“, pur, kathartisch, in den
Blick. So dachte der Verfasser.
Wenden wir nun – und darin besteht mein Gedankenexperiment –
die sinnkriteriale Betrachtung der Sptphilosophie Wittgensteins auf den
Tractatus und einige seiner Kernsätze an. Im Tractatus heißt es: „Die
Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (5.6) „Dass
die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, dass die Grenzen der Sprache
[…] die Grenzen meiner Welt bedeuten. Die Welt und das Leben sind
eins.“ (5.62 f.) „Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen.“ (6.41)
„Gott offenbart sich nicht in der Welt.“ „Nicht wie die Welt ist, ist das
Mystische, sondern dass sie ist.“ (6.44) „Es gibt allerdings Unaussprech-
liches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ (6.522)
In diesen Sätzen spricht Wittgenstein von dem, was wir als struktu-
relle Transzendenz bezeichnet haben. Diese Sätze waren und sind –
entgegen dem Sinnkriterium des Tractatus – verständlich. Wittgenstein
214 Teil 1. Religionsphilosophie

kann über Gott, den Sinn der Welt und die Grenzen des Lebens sowie
über das Mystische und Unaussprechliche selbst sprechen und wurde
verstanden, gerade mit diesen Passagen seines frühen Hauptwerkes.
Denn: Diese Sätze haben und hatten einen Gebrauch. Sie haben ihre
Kontexte, ihre – selbst voraussetzungsreichen, komplexen – Sinnbedin-
gungen und Verwendungsregeln. Diese sind geschichtlich situiert und auf
Lebensformen und Lebenspraxis bezogen. Das ist es also, wohin uns ein
durch Sprachkritik nochmals radikalisiertes Transzendenzverständnis
führt. Zurück auf den rauhen Boden der religiösen Praxis, in die alte Stadt
der religiösen Traditionen mit einigen neu angebauten Stadtteilen und
Gebäuden.7 Letztlich führt uns gerade die nochmalige Radikalisierung
der Sinnkritik, das ist meine Abschlussthese, recht verstanden, zur
berwindung eines transzendenten Transzendenzverstndnisses: Die sprach-
kritisch radikalisierte Dialektik der Transzendenz lenkt unseren Blick
gerade auf die Formen der sprachlichen Vermittlung religiöser Einsichten mit
ihrer irreduziblen Grammatik, damit auf die Formen der mit ihnen
verbundenen intersubjektiven Vermittlung, die pragmatisch und lebens-
praktisch eingebettet sein muss, und damit auch auf die zeitliche, ge-
schichtliche und kulturelle Vermittlung. Die Radikalisierung Kants gibt mit
Wittgenstein Hegel recht. Mit dieser sinnkritischen Bewegung beginnt
für die Philosophie erneut die hermeneutisch-reflexive Aneignung der Ra-
tionalitätspotentiale der gesamten religiösen Tradition.
Die These lautet also: Gerade die sprachkritisch radikalisierte Dia-
lektik der Transzendenz führt religionsphilosophisch zu einer kritischen
Hermeneutik religiöser Rede und Praxis. Sie führt zur Rückbindung an
und Einbettung dieser Rede und Praxis in kommunikative Lebensfor-
men. Eine analoge, spätwittgensteinsche Transformation radikalisierter
Dialektik der Transzendenz betrifft nach dem Gesagten im Übrigen auch
Kierkegaards Existenzdialektik und die Dialektische Theologie: Selbst
die radikalisierteste Artikulation des Transzendenzbezuges und seiner
gleichzeitigen Unmöglichkeit und unbedingten Notwendigkeit führt
zurück in die sozialen, kommunikativen und lebenspraktischen Kon-
texte, in denen dieser Bezug seinen Sitz hat. Kurz: Auch das Unsagbare,
das Paradoxon, hat seinen spezifischen Praxiskontext und seine unver-
zichtbaren Sinnbedingungen. Das gilt im Übrigen auch für die großen
neuplatonischen, mystischen und negativ-theologischen Paradigmen der
Unsagbarkeit z. B. von Plotin und Pseudo-Dionysios. Und es ist sehr
bezeichnend, dass für Proklos gerade aus der Unsagbarkeit des Einen die

7 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §§ 18 und 107.


Transzendenz und Sprache 215

Notwendigkeit von Sprache folgt: dass nämlich Sprache im Schweigen, in


der Unsagbarkeit des Einen, gründet.
Aufgrund dieser Einsicht können wir heute sprachkritisch die in-
trinsische Authentizität religiöser Sprache deutlicher erfassen und so er-
kennen, dass und wie sie die transpragmatischen Sinnbedingungen un-
serer Praxis artikuliert. Wir können erkennen, dass und wie die religiöse
Rede gerade durch ihre Form, durch ihre Grammatik und ihren Sitz in der
Praxis direkt oder indirekt die Dialektik der Transzendenz wie auch ihr
eigenes „Anrennen gegen die Grenzen“ mit artikuliert. Dies geschieht
christlich z. B. liturgisch, sakramental, meditativ oder kongregativ in der
Praxis von Bekenntnis und Gebet. Der authentische Gebrauch der
Sprache im Kernbereich von Religionen ist daher durch einen genuinen,
irreduziblen Wahrheits- und Geltungsanspruch konstituiert. Sätze wie
„Jesus lebt“, „Christus ist für uns gestorben“ – ich nehme mir vertraute
Beispiele – setzen einerseits ein komplexes, geschichtliches Überliefe-
rungsgeschehen voraus. Andererseits ist ihre ernsthafte, einsichtige
Verwendung mit praktischen Einsichten dessen verwoben, der die Sätze
verwendet, mit Einsichten, die sich letztlich auf seine Lebensform ins-
gesamt beziehen. Eine Verwechslung des Status solcher Sätze wie „Jesus
lebt“ oder „Christus ist auferstanden“ mit Sätzen der Art: „Herr Schulze
lebt“ oder „Herr Meier ist gerade aufgestanden“ wäre naiv; ebenso, wie
wenn auf den Satz „Gottes Auge sieht alles“ die Frage käme, ob Gott auch
Augenbrauen hat (Wittgenstein). Ein simples empirisches Verständnis im
Sinn von trivialen Tatsachenfeststellungen ist hier völlig verfehlt. Den-
noch bleibt der Wahrheitsanspruch solcher Sätze zweifellos erhalten. Man
hat ihn deshalb subjektiv, psychologisch, emotiv, einstellungsbezogen, zu
rekonstruieren versucht. Auch diese Rekonstruktion bleibt zutiefst un-
befriedigend. Der sie Äußernde artikuliert zwar seine existentielle Ein-
stellung, seine religiöse Überzeugung mit solchen Sätzen, aber er würde
nicht der Analyse zustimmen, dass ihre Wahrheit auf die Wahrhaftigkeit
seiner Einstellung reduzierbar oder auf sie zurückführbar sei. Die Le-
bensbedeutung der Sätze, die Tatsache, dass sie zur Lebensorientierung
dienen, gründet in ihrer von subjektiven Existenzhaltungen unabhngigen
und so objektiven Wahrheit. Ebenso sind fiktional-bildhafte, hypothetische
bzw. postulatorische Rekonstruktionen in ihren vielerlei Gestalten seit
Kant m. E. unangemessen. Wenn Christen vom Rettungs- und Erlö-
sungswerk Gottes durch Jesus Christus sprechen, wenn sie von Gott als
dem Schöpfer sprechen, dann tun sie nicht so, als ob es Gott gäbe, und sie
stellen sich nicht ein Erlösungsmodell bloß vor. Eher trifft auf den Status
solcher Rede der Terminus ens realissimum zu, und die Glaubenssprache
216 Teil 1. Religionsphilosophie

und -praxis geht von der Wirklichkeit des Heils, von dem wirklichen
Heilshandeln aus. Bezogen auf geläufige funktionale Rekonstruktionen
der religiösen Lebensformen etwa im Bereich der Soziologie heißt das:
Für die Glaubenden sind ihre religiösen Orientierungen nicht wahr, weil
sie funktionieren, sondern sie funktionieren, weil sie wahr sind.
Die kritisch-hermeneutische, philosophische Rekonstruktion der
intrinsischen Authentizität religiöser Sprache konfrontiert uns daher er-
neut mit dem, was ich die Dialektik der Transzendenz genannt habe, und
zwar auf zweierlei Weise: Einerseits so, dass sich die Frage nach der
Angemessenheit der philosophischen Metasprache zur Rekonstruktion
der religiösen Sprache stellt. Wie steht der geschichtliche religiöse Diskurs
mit seinen Wahrheitsansprüchen zu allgemeinen Wahrheitsansprüchen
philosophischer Rationalität? Und ferner, da es viele Religionen gibt –
wie verhalten sich deren divergierende Wahrheitsansprche ihrerseits zu-
einander? Lässt sich philosophisch eine ekstatische Vernunft konzipieren,
die die religiösen Sinntraditionen in ihrem authentischen Wahrheitsan-
spruch ernstnimmt, ohne sie von außen zu usurpieren, ohne sie aber auch
einem ratlosen postmodernen Relativismus zu überlassen? Das eine große
Modell ist das Hegels, das weltgeschichtlich euro- und christozentrisch,
auf grandiose Weise monologisch bleibt. Das andere Modell ist das eines
verschärften Sprachspielrelativismus, einer Dogmatisierung kultureller
Differenzen – Modell eines Subjektivismus und Monologismus mit eben
mehreren Groß-Subjekten und Monologen – das des sogenannten Fide-
ismus. Beide Wege sind falsch, weil sie die Offenheit der Sprache, die
Offenheit der Religionsgeschichte und die Offenheit der Vernunftge-
schichte verkennen und verfehlen. Wenn aber Sprache Ort und Medium
von Transzendenz ist, Ort unseres Transzendierens, dann ist sie konsti-
tutiv verklammert mit Freiheit, mit der befreienden Überwindung der
Monologe und Subjektivismen. Es gilt daher für die Philosophie des 21.
Jahrhunderts, sich die Rationalitätspotentiale der religiösen Sinntradi-
tionen aktiv neu zu erschließen und anzueignen, ebenso für die Reli-
gionen, sich der philosophischen Sinngrenzreflexion mit ihrer Dialektik
und Aporetik zu stellen. Ziel muss eine umfassende Neubestimmung von
Transzendenz sein. In der Perspektive eines solchen Projekts läge die
Freilegung der Tiefenstruktur religiöser, ekstatischer Vernunft und der
für sie unverzichtbaren Sprache. Auf diese Weise können wir uns selbst
besser erkennen als Ort und Medium der Transzendenz und vielleicht
besser heimisch werden in der Dialektik der Transzendenz – philoso-
phisch, religiös und in aller Alltäglichkeit.
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution.
Aspekte einer negativen Existentialpragmatik
1
Um das Urphänomen der lebensweltlichen Sinnkonstitution zu erreichen
und zu erhellen und um die mit ihm verbundenen Einzelphänomene in
ihrer inneren Komplexität genau zu erfassen, ist der Blick auf das Un-
mögliche zentral und unverzichtbar – das ist die These. Kant fragt: Was
kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der
Mensch? Betrachtet man die kritische Transzendentalphilosophie näher,
so lässt sie sich viel besser als Versuch der Beantwortung der folgenden
Fragen verstehen: Was kann ich definitiv nicht wissen? Was kann und soll
ich nicht tun? Was kann ich nicht hoffen? Was ist der Mensch jedenfalls
nicht? Denn die kritische Philosophie Kants ist das Unternehmen einer
Grenzziehung. Das Hauptwerk heißt nicht „Die reine Vernunft“, son-
dern bekanntlich „Kritik der reinen Vernunft“. Es enthält Sinngrenz-
analysen, die in der transzendentalen Dialektik gipfeln. Die Struktur der
Negativität, die die transzendentale Dialektik konstituiert, weist auf die
Einsicht Hegels, eine Grenze zu denken, heiße, diese zu überschreiten.
Sie weist auf die Einsicht, die Heidegger dem griechischen Ursprung der
Philosophie zuschreibt: Eine Grenze sei nicht das, wobei etwas aufhört,
sondern das, von woher etwas sein Wesen beginnt.
Im Zentrum der okzidentalen Rationalität lässt sich die Einsicht in
uns, endlich-freien Vernunft- und Naturwesen, Unmögliches, verorten.
Das Sokratische Nichtwissen, das Bilderverbot des ethischen Monothe-
ismus und die negative Theologie des Neuplatonismus sind die Urstif-
tungen der europäischen Vernunftgeschichte, die nous und episteme,
intellectus und ratio, Vernunft und Verstand unterscheiden und nur so
zusammen denken können. Auf diese Weise lässt sich das Verhältnis von
Metaphysik und Wissenschaft, von Transzendenz und Immanenz kritisch
und dialektisch denken. Die je eine Perspektive ist undenkbar und un-
erkennbar ohne die andere; ohne die andere ihrer selbst. Mit Cusanus
formuliert: Die horizontale Gerichtetheit der diskursiven Rationalität
wird sichtbar von der intellektuellen docta ignorantia aus; die vertikale
Gerichtetheit des gelehrten Nichtwissens wird sichtbar von der Dis-
218 Teil 1. Religionsphilosophie

kursivität her. Der Mensch ist die ekstatische Schnittstelle dieser Rich-
tungen.
Der Fortschritt in der Philosophie der Moderne sieht genau deswegen
größer aus als er eigentlich ist, wie Wittgenstein Nestroy zitiert, als er in
keiner quantitativen oder iterativen Größe, in keiner Zunahme an em-
pirischem Wissen welcher Art auch immer bestehen kann. Er kann, recht
verstanden, nur in einer Vertiefung kritischer Sinngrenzanalysen und der
mit ihnen verbundenen, vor allem negativ-praktischen Einsichten be-
stehen. Darum sagt Wittgenstein, der Geist seiner Texte sei ein anderer als
der der heute herrschenden westlichen Zivilisation: Während diese
immer größere äußerliche und letztlich oberflächliche Strukturen auf
allen Ebenen errichtet, will dieser immer nur dableiben und immer
dasselbe – immer tiefer – erkennen.
Es wäre auf diesem Hintergrund daher gänzlich verfehlt, die ge-
schichtliche Entwicklung der Aufklärung und der Moderne in der Phi-
losophie einseitig, eindimensional und undialektisch in einer Linie von
Marx, Nietzsche und Freud allein anzusetzen. In der Konsequenz der
okzidentalen Rationalitätsgeschichte vertiefen und radikalisieren diese
die – für die humane Vernunftkultur unverzichtbare – kritische Einsicht
in die menschliche Naturabhängigkeit und die mannigfache Bedingtheit
der menschlichen Praxis. Politische Ökonomie, Anthropologie der
Leiblichkeit und Psychoanalyse entwickeln als kritische Tiefenherme-
neutik negativ-praktische Einsichten weiter, die nur zu Unrecht als
Kränkungen bezeichnet werden. Vielmehr sind Einsichten in konstitu-
tive Abhängigkeiten, in Entfremdungsprozesse von Menschen als leib-
lich-endlichen Naturwesen, die mit Liebe, Angst und Tod konfrontiert
sind, in ihrem Kern befreiend. Desillusionierung ist keine Kränkung,
sondern lebenssinnkonstitutiv. Erst der Umschlag der Ansätze von Marx,
Nietzsche und Freud in positivistische, quasi-szientifische Theorien
machte und macht sie selbst zu zerstörenden Ideologien.
Gleichwohl ist diese Aufklärungstradition der Moderne für sich ge-
nommen einseitig, wenn wir nicht die Linie mit- und weiterdenken, die
durch die Namen Heidegger, Wittgenstein, Benjamin, Adorno, Hork-
heimer und Derrida angezeigt werden kann. Denn hier vollzieht sich eine
Radikalisierung der philosophischen Sinngrenzanalysen, die ganz eng mit
der Erkenntnis von Unmöglichkeit verbunden ist, mit der Erfahrung der
Grenzen des endlichen, sterblichen Lebens, der Grenzen der gesell-
schaftlich vermittelten Form der Erkenntnis sowie der Grenzen der
Sprache und des Verstehens. Dieser Prozess der Moderne lässt sich als
Vertiefung und Radikalisierung der Vernunftkritik begreifen. Diese
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution 219

Vertiefung vollzieht sich als Ontologiekritik und Sprachkritik bei Hei-


degger, als Gesellschafts- und Ideologiekritik in der klassischen kritischen
Theorie, als Sprachkritik bei Wittgenstein und Derrida. Die Vertiefung
vollzieht sich als immer genauere Freilegung von Irrtümern, Verde-
ckungen und Verstellungen, in die uns das Verkennen dessen, was wir
nicht können, im Denken und Handeln, theoretisch wie praktisch,
ideologisch, theoriegeschichtlich wie politisch führt.

2
Ich möchte im Folgenden zeigen, wie sich die genannten Ansätze heute
in der Form einer negativen Existentialpragmatik bzw. Interexistential-
pragmatik sowie einer negativ-sprachkritischen Hermeneutik fortführen
lassen, in einer negativen Anthropologie und Sprachphilosophie.1 Bei
dieser methodischen Zugangsweise wird erneut sichtbar, dass Strukturen
der Negativität, der Nichtigkeit für die lebensweltliche Sinnkonstitution
viel wichtiger sind, als vielfach bislang angenommen. (Das gilt nicht für
die Traditionen der negativen Philosophie, die ich anfangs erwähnte.
Daher ergibt sich für die späte, vertiefte Moderne, die man auch Ultra-
moderne nennen könnte, weil sie über ihre eigenen Grenzen und Be-
dingungen aufgeklärt ist, eine erneute Verbindungsmöglichkeit mit Pa-
radigmen der Metaphysik, der Theologie, der Mystik und der kritischen
Transzendenzreflexion.)
Wesentliche Formen der menschlichen Selbstverfehlung entspringen
dem Verkennen der Grenzen des Lebens und der Praxis. Sie entspringen
dem Verkennen des Unmöglichen. Das Unmögliche, das hier gemeint
ist, ist prinzipieller Natur. Es betrifft und konstituiert (ex negativo) alle
menschlichen Handlungsmöglichkeiten. Wir müssen unterscheiden
zwischen relativen pragmatischen Unmöglichkeiten (Ich kann nicht Ja-
panisch; Ich kann kein Flugzeug steuern) und unbedingten, absoluten
Handlungsunmöglichkeiten, die gleichzeitig, als Bedingungen der Un-
möglichkeit, auch Sinnkonstitutionsbedingungen einer menschlichen
Welt sind.

1 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt. Transzendentale An-
thropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999; ders.: Negativitt und
praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000.
220 Teil 1. Religionsphilosophie

Ich kann nicht an zwei Orten zugleich sein.


Ich kann in der Zeit nicht zurückgehen.
Ich muss immer in der Gegenwart sein.
Ich muss immer in einer räumlich-konkreten Wirklichkeit sein.
Die Wirklichkeit ist unumstößlich.
Ich kann meinen Leib nicht verlassen.
Ich kann nicht in der Zukunft leben.
Ich muss schließlich (unbegründet) handeln.
Ich muss immer etwas tun.
Ich bin ich.
Ich bin nicht du.
Ich kann nicht an der Stelle des Anderen sein.

Diese Beispielsätze einer von mir so genannten Existentialen Grammatik


sind zum einen grammatische Sätze im Sinne Wittgensteins. Sie artiku-
lieren Bedingungen der Möglichkeit unserer Sprach- und Lebenspraxis.
Sie beziehen sich somit zum anderen auf die Form unseres Lebens, mit
Heidegger, auf die existentiale Konstitution. Es sind synthetisch-aprio-
rische Sätze einer transzendentalen Anthropologie. Man hat meine
Untersuchungen zur transzendentalen Anthropologie auf eine ober-
flächliche Weise kritisiert, denn sie würden ja die befürchteten „an-
thropologischen Konstanten“ zugrunde legen. Das Gegenteil ist der Fall.
Diese existentiale Grammatik ist in hohem Maße kulturabhängig und
sprachgebunden und dennoch in höchstem Maße kulturinvariant. (Man
könnte sagen: Es bedurfte vieler Jahrtausende, zu begreifen, was es heißt,
dass ich ich bin.) Kulturen, die magische Bilokationen annehmen, folgen
z. B. einer anderen Grammatik, ebenso solche, die eine Verwandlung von
Menschen in Tiergestalt denken und praktizieren. Die synthetisch-
apriorische Konstitution hat weder eine naturalistische noch eine idea-
listische Basis, sondern ist eine Kulturleistung, die aus der Dialektik von
sprachlichem und nicht-sprachlichem Handeln in unserer konkreten
geschichtlichen Praxis erwächst. Eine vorhandenheitsontologische oder
vorhandenheitssemantische Vorstellung von der synthetisch-apriorischen
bzw. existential-grammatischen Konstitution der humanen Welt ist daher
hochgradig verfehlt. (Historisch bin ich der Auffassung, dass Hegel Kant
in diesem Punkt am besten verstanden und die transzendentale Dialektik
deswegen von der statischen Vertikale in die genetisch-horizontale
Prozessualität transformiert und genau deswegen auch als Fortschritt im
Bewusstsein der Freiheit begriffen hat.)
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution 221

Wenn wir diese Analyse einer negativen Interexistentialpragmatik


zum Ausgangspunkt nehmen, so lassen sich weitere Konstitutionsfest-
stellungen treffen, die die Unmçglichkeitsbedingungen lebensweltlicher Sinn-
konstitution aufzeigen. Sie betreffen die Form bzw. die Grammatik unseres
Lebens (unserer Praxis).
Die erste Unmöglichkeitsbedingung ist durch den Satz von der
Grundlosigkeit unseres Handelns formulierbar. Dieser Satz besagt keines-
wegs etwas Irrationales, Subjektivistisches oder Beliebiges. Im Gegenteil!
Er besagt, dass wir letztlich hinter unser Handeln nicht zurückgehen
können. Dass wir handeln, sprechen und denken können, das können wir
nicht noch einmal erklären oder begründen – weder naturalistisch noch
idealistisch. Denn alles Erklären und Begründen setzt bereits voraus, dass
wir sinnvoll und verständig handeln können. Es lässt sich kein vorhan-
dener, vergegenständlichbarer „Grund“ unseres Handelns feststellen,
keine positivierbare Basis, auch kein „Kern des Ich“. Hinter unser
Handeln können wir weder pragmatisch noch reflexiv zurückgehen in
einen ontologisch separaten Bereich. Diese Unmöglichkeit weist auf das,
was Kant als Spontaneität bezeichnet. Sie weist auch auf das, was Pothast
die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise genannt hat.2 Im Rahmen
einer negativen Anthropologie der Freiheit können wir sagen, dass wir
uns nicht noch einmal gegenständlich-prädikativ einholen können. Diese
Uneinholbarkeit unserer selbst analysiert Heidegger formal-temporal als
ekstatisches Sich-vor-weg-sein, Ryle spricht von der „systematic elu-
siveness of I“.3 Die Analyse des Regelfolgens bei Wittgenstein zeigt
ebenfalls diese sinnkonstitutive Uneinholbarkeit auf, die schon Kant
meint, wenn er bemerkt, es gäbe keine Regel der Regel. Diese Einsicht –
eine negativ-praktische Einsicht – ist in Wahrheit befreiend: Wir stehen
unter dem Schutz der Negativitt, den aus prinzipiellen Gründen kein
Modell der Neurobiologie und kein Computermodell des Geistes
durchbrechen kann.
Die zweite Unmöglichkeitsbedingung nennt der Satz von der Un-
mçglichkeit, die einzigartige Ganzheit unseres Lebens zu vergegenstndlichen.
Dies schließt die traditionelle negativ-praktische Einsicht von der Un-
sagbarkeit des Individuellen ein: Individuum est ineffabile. Unser Leben ist
eine einzigartige Ganzheit. Aber worin diese besteht, lässt sich durch
keine weitere Eigenschaft oder eine Summe von Eigenschaften positiv
bestimmen. Wir selbst sind keine gegenständliche Realität. Identifizieren

2 Vgl. Ulrich Pothast, Die Unzulnglichkeit der Freiheitsbeweise, Frankfurt a.M. 1980.
3 Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969, 264 – 269.
222 Teil 1. Religionsphilosophie

wir uns mit etwas in der Welt ganz und gar, so haben wir es mit patho-
logischen Phänomenen zu tun. Die Tradition isolierte substanz-onto-
logisch ein Ich als separate Entität, different von aller Welt. Die negativ-
kritische Analyse muss es vermeiden, ein Ich als welttranszendentales
Quasi-Ding vorzustellen. Sprachkritisch können wir sagen: Hinter die
Möglichkeit, in einzigartigen Lebenssituationen zu sprechen und zu
handeln, das Wort „ich“ verständlich zu gebrauchen, können wir nicht
zurückgehen. Die einzigartige Ganzheit jedes Augenblicks der Gegen-
wart ist unfassbar, unvorstellbar. Dass die Welt meine Welt ist – in jedem
unsagbaren Augenblick – gehört zum Sinn unseres Menschseins. Aber
diese Dimension ist durch nichts in der Welt charakterisierbar, und auch
durch nichts außerhalb der Welt. Die Entzogenheit und Eigenschaftslosigkeit
unserer selbst erscheint von der empirischen, vergegenständlichten
Realität aus, die prädikativ erfassbar ist, wie nichts.
Wir berühren mit diesem zweiten Grundsatz eine Thematik, die
ebenso unter dem Titel der transzendentalen Subjektivitt, als auch unter
den Titeln Personalitt und Individualitt behandelt wurde. Die Negativität
des Grundes im Bewusstsein zu begreifen, hat ebenso Anschluss an
Traditionen der rationalen Mystik. Die Negativität dieser Dimension, die
Unmöglichkeit, sie positiv zu erfassen, war stets mehr oder weniger
bewusst. Sie hat Anschluss an die Thematik der Freiheit und der Würde,
deren positive Explikation stets problematisch blieb.
In einem dritten Grundsatz können wir die sinnkonstitutive Entzo-
genheit der Mitmenschen bzw. die interexistentielle Unverfgbarkeit feststellen.
Die Uneinholbarkeit darf nicht subjektivistisch enggeführt werden,
sondern konstituiert allererst in Sprache und Praxis unser gemeinsames
Leben. Der Schutz der Negativität ermöglicht wechselseitige normale
und authentische Verhältnisse. Wenn wir uns etwas versprechen, so wird
dies dadurch ermöglicht, dass keine instrumentelle Beherrschbarkeit des
Verhältnisses besteht. Ohne sich auf Andere verlassen zu können, ohne ein
Sich-Einlassen auf garantielose Praxis kommt auf Dauer keine gemein-
same Praxis zustande. Die Tradition unterschied die securitas im Sinne
technisch-instrumenteller Gesichertheit von der für kommunikative
Verhältnisse zentralen certitudo, der gewissmachenden Gewissheit. Sie ist
konstitutiv für Glaube, Liebe und Hoffnung, für konstitutive Interexis-
tentiale der menschlichen Welt. Der Grundsatz von der interexistenti-
ellen Unverfügbarkeit lässt sich auch als Satz von der Unmöglichkeit der
technischen Sicherung interpersonaler Verhältnisse formulieren. Wieder
zeigt sich: Was wir nicht kçnnen, ermçglicht gerade lebensweltlichen Sinn – auch
und gerade in aller Alltglichkeit. Hannah Arendt hat in ihrem Hauptwerk
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution 223

„Vita activa“ (§33) darauf hingewiesen, dass unsere ganze moralische


Welt auf Verzeihen und Vergeben beruhe und dass diese Einsicht einzig
in den Lehren Jesu eine zentrale Stellung einnehme, in der Philosophie
hingegen kaum bewusst sei.
In der Gegenwart und unter dem Eindruck des interkulturellen
Globalisierungsprozesses wird die interexistentielle Unverfügbarkeit oft
auf oberflächliche Weise im Blick auf fremde Kulturen und andersartige
Lebensformen festgestellt und lediglich im Sinne eines kulturellen Re-
lativismus behauptet. Alterität wird positiv als sozialpsychologisches
Phänomen gefasst. Auf diese Weise begeht man, recht verstanden, einen
zweifachen Kategorienfehler. Erstens entwickelt man nur einen ver-
fehlten Subjektivismus großen Stils, einen Makrosubjektivismus der
Kulturen, die dann wie Käfige erscheinen, was sie nicht sind. Sie sind
durchlässig – in jeder Hinsicht. Zweitens verfehlt man die interexisten-
tielle Ferne, Fremdheit und Entzogenheit, die in Wirklichkeit bereits
unsere nächsten Verhältnisse in ihrer Tiefe konstituiert, ermöglicht und
prägt, ja sogar unser eigenes Selbstverhältnis. Denn: Wer war ich als
Dreijähriger, wer als Zehnjähriger, wer als Abiturient? Wenige Spuren
können mir ein wenig von der damaligen Zeit indirekt erschließen – aber
die unendlich konkrete Erfahrung der Gegenwart ist als solche unver-
fügbar und unwiederbringlich und gerade so gegenwärtig.
Mehr noch: Interexistentiell gilt die negativ praktische Einsicht: Die
Meisten sind immer abwesend. Entweder sind sie nicht da, oder schon
gestorben, oder noch nicht geboren. Die Existenzform der meisten
Menschen ist daher nicht das Da-Sein, wie Heidegger sagt, sondern das
Weg-Sein. Dieses Weg-Sein hat die Form der Abwesenheit. Die Toten und
die noch nicht Geborenen können nichts mehr bzw. noch nichts sagen. Sie
können sich nicht wehren. Sie gehören als Horizont der Unmöglichkeit
auf eminente Weise zur Sinnkonstitution: denn in diesem Horizont
konstituiert sich die Menschheit.
Die drei bisher entwickelten Grundsätze von der Grundlosigkeit des
Handelns, von der Unmöglichkeit der Vergegenständlichung des ein-
zigartigen Lebens sowie von der interexistentiellen Unverfügbarkeit und
der Abwesenheit der Meisten nennen in einem ersten Schritt Unmög-
lichkeitsbedingungen lebensweltlicher Sinnkonstitution, wie sie eine
negative Interexistentialpragmatik aufweisen kann.
224 Teil 1. Religionsphilosophie

3
In einem zweiten Schritt will ich die Unmöglichkeitsanalyse phänome-
nologisch, dialektisch, hermeneutisch und sprachkritisch vertiefen und
radikalisieren. Strukturell entspricht dieser Schritt dem von Kant zu
Hegel. Wir wiederholen diese systematische Prozessualisierung der sta-
tisch-synchronen Konstitutionsanalyse und ihre Transformation in eine
dynamisch-diachrone Perspektive nach den Leistungen der Philosophie
des 20. Jahrhunderts. Eine umfassende Unmöglichkeitsanalyse muss
neben der Naturabhängigkeit der menschlichen Kultur die Grundzüge
der Unwiederbringlichkeit in der Interexistenz, der Unumkehrbarkeit der
sterblichen Lebensbewegung, der Unvermeidlichkeit der zukünftigen Si-
tuationen, der Endgltigkeit, der Irreversibilitt des Geschehens der Wirk-
lichkeit, der Unvordenklichkeit der Anfänge sinnhaften und bewussten
Lebens und der Unvorhersehbarkeit seines Endens einbeziehen und inter-
korrelieren. Diese Interkorrelation ist nötig, weil die genannten
Grundzüge alle gleichursprünglich sind, so, wie auch die drei Grundsätze
gleichermaßen gelten. Gleichursprünglichkeit besagt methodisch: Die
lebensweltlich sinnkonstitutiven Grundzüge, Aspekte sind unableitbar
von einander, sie sind irreduzibel auf einander, und sie sind nur ge-
meinsam mit einander und durcheinander verstehbar. Die Analysen
weisen daher in die Richtung eines qualitativen Holismus der kulturellen
Lebenswelt, den wir paradigmatisch ebenso wie strukturell-modellhaft
entfalten können. Als Sinngrenzanalyse hat diese Betrachtungsweise den
Status traditioneller Philosophie und Metaphysik, weil sie ihre Grenzen
negativ-kritisch in die Reflexion einbezieht. Um die Perspektive des
qualitativen Holismus in unserer Analyse zu erreichen, genügt ein Blick
auf unsere räumlich-zeitliche, leiblich-soziale und kommunikative Le-
benssituation, auf unsere konkrete Gegenwart. Ich verstehe diese Si-
tuation als ganze, als Vortragssituation hier in Zürich. Dieses Verstehen ist
irreduzibel ganzheitlich, holistisch, konstituiert durch einen unthemati-
schen Hintergrund, der meine Erfahrung mit Hilfe passiver Synthesen
gleichsam stiftet, lenkt und trägt. Der Hintergrund, wie ihn Husserl und
gegenwärtig z. B. Taylor analysieren, ist unthematisch wie sinnkonstitutiv
und auch kulturell, sozial, geschichtlich vorkonstituiert, im Übrigen auch
individuell: da ich z. B. von 1979 bis 1982 in Zürich und auch hier in
diesem Raum studiert habe, gehen in die Verstehenssituation auch
persönliche Aspekte auf besondere Weise ein. Entscheidend ist nun für
unsere Frage nach der lebensweltlichen Sinnkonstitution: Es erfolgt eine
Horizontbildung, so Husserl, im Medium vorgängiger Erschlossenheit, so
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution 225

Heidegger, und diese Horizontbildung ist passiv und unthematisch, sie hat
die Struktur einer Vollzugsnotwendigkeit. Ich komme nicht umhin –
anders gesagt: Es ist mir unmçglich – die Horizontbildung nicht gemäß
dem mir Bekannten und von mir Gelernten zu vollziehen. Die Hori-
zontvorzeichnungsvollzugsnotwendigkeit ist passiv, hat mithin viele
unbewusste Aspekte. (Mir scheint es von Bedeutung, dass Husserl und
Freud zur selben Zeit in Wien die Vorlesungen Franz Brentanos hörten,
der solche Analysen als erster exemplarisch subtil durchführte.) 4
Wir brauchen nicht bei der bewusstseinsphilosophischen Fassung der
Analyse von der passiven Horizontvorzeichnung stehen zu bleiben; es ist
klar, dass diese mit der sprachlichen Erschlossenheit lebensweltlicher Si-
tuationen aufs Engste verwoben ist – übrigens auch mit der leiblichen
Erschlossenheit, auf die ich aus Zeitgründen nicht eingehen kann. Bereits,
wenn ich einen Gegenstand thematisiere, bildet sich unweigerlich ein
unthematisches Feld von Bedeutungen, ein Hof, würde Husserl sagen,
eine Umgebung, die praktisch vorgängig erschlossen ist.
Für unsere Analyse ist wichtig, dass die situative Horizontvorzeich-
nung einen unabschließbaren, offenen Charakter hat. Würde ich auch
nur versuchen, den sinnkonstitutiven und unthematischen Hintergrund
einer konkreten Lebenssituation zu explizieren, ich würde nie an ein Ende
kommen. Es ist unmçglich, auch nur einen Aspekt der Wirklichkeit, nur
einen Apfel, nur einen Augenblick, zur Gänze zu erfassen, zu beschrei-
ben, zu erkennen. Individuum est ineffabile. (Inwieweit dies schon für die
ousia-Konzeption der Aristotelischen Metaphysik gilt, wäre spannend zu
erforschen und zu diskutieren.) Die Wirklichkeit ist, mit Hegel gespro-
chen, intern unendlich, sie gibt sich in jedem Augenblick in unendlicher
Konkretion. Die Unmöglichkeit, diese innere, wahre Unendlichkeit zu
objektivieren, zu erfassen, zu erschöpfen, ist im Übrigen Anschlussbe-
dingung für ästhetische, ethische, religiöse und mystische Erfahrung und
Gestaltung. Das Unmögliche hat auch hier wieder sinnkonstitutive,
sinneröffnende Bedeutung. Seine Kehrseite ist die freie Eröffnung von
Sinnpotentialen, von Fortsetzungsmöglichkeiten, von Perspektiven.
Denken wir an die vielen Möglichkeiten, einen Apfel zu malen; an den
vielen Weisen, auf die Monet Seerosen malte, an die Weisen, auf die
Vermeer das Licht malte.

4 Vgl. zum Folgenden: Thomas Rentsch, „Zeit, Sprache, Transzendenz – phä-


nomenologische Analysen zu den Grenzen und zum Sinngrund menschlicher
Praxis“, in diesem Band.
226 Teil 1. Religionsphilosophie

Die Unerschöpflichkeit des unthematischen Hintergrunds der pas-


siven Horizonteröffnung – die sich im Übrigen im Traum und in Ge-
dankenbewegungen, in Einfällen und Anamnesen fortsetzt – ist die ir-
reduzible Füllequalität der konkreten Alltäglichkeit der Lebenswelt.
Zentral ist nun für die passive Horizontbildung ihre ekstatisch-temporale
Form, über deren Vorzeichnungsvollzugsnotwendigkeit wir nicht ver-
fügen. Ohne die passive, ekstatische Horizonteröffnung wäre Erfahrung
nicht möglich. Es ist uns unmöglich, etwas zu erfahren, ohne dass die
Zeitekstasen der Zukünftigkeit, der Gewesenheit und des Gegenwärtigen
gleichursprünglich horizontkonstitutiv fungierten. Ebenso ist konkrete
Erfahrung unmöglich ohne futurische Sinnantizipation, ohne die vor-
gängige passive Intentionalität. Ferner ist die ganze, ekstatisch-gleichur-
sprüngliche Zeitform der lebensweltlichen Zeitigung der Zeitlichkeit für
uns unhintergehbar – im Übrigen gleichursprünglich mit der leiblichen
Verräumlichung und der interexistentiellen Vergemeinschaftung, die
sprechend und handelnd erfolgt.
Wenn wir die Zeitanalyse mit der Sprachanalyse (und mit der
Leibanalyse) verbinden, dann lässt sich die Struktur lebensweltlicher
Sinnkonstitution noch genauer herausarbeiten. Die gesamte menschliche
Orientierungspraxis ist ekstatisch-zeitlich konstituiert, ebenso die
Sprachpraxis. Der späte Wittgenstein hat in seinen Analysen zum Re-
gelfolgen die zeitliche Struktur der Sprachpraxis besonders deutlich er-
fasst.5 Bedeutungskonstitution gibt es nur durch Wiederholung: Indem ich
ein Wort, einen Satz mehrfach verwenden und sie so in verschiedenen
Situationen gebrauchen lerne. Dass wir sprachliche Unterscheidungen
und Sätze gebrauchen und wiederholen können, ist ein unhintergehbares
Können, dessen versuchte „Erklärungen“ in Paradoxien und Antinomien
führen. Es ist ein tiefgreifendes Missverständnis, die Regelfolgenanalyse
als Dokument eines Skeptizismus, Relativismus oder Subjektivismus zu
sehen. Das Gegenteil trifft zu: Lebensweltliches Basiskönnen ist unab-
leitbar von weiteren ontischen oder ontologischen Bereichen. Ferner
gilt: Weder kann ich die jeweils verwendete Regel von der vorherigen
Praxis, diese verdoppelnd, ablesen, noch kann ich sie im Blick auf innere,
subjektive Evidenzen monologisch kontrollieren, ohne sie selbst bereits
zu verwenden. Wir können die lebensweltliche Sinnkonstitution weder

5 Vgl. zum Folgenden: Thomas Rentsch, „Praktische Gewissheit jenseits von


Dogmatismus und Relativismus. Bemerkungen zu Negativität und Autonomie
der Sprache bei Wittgenstein“, in: ders.: Negativitt und Praktische Vernunft, s.
Anm. 1, 351 – 364.
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution 227

durch einen Bedeutungssubjektivismus noch durch einen objektivisti-


schen Bedeutungsplatonismus klären oder gar erklären. In unserem
Kontext einer negativen Hermeneutik können wir sagen: Es ist un-
möglich, zu erklären, was sich nur zeigt.
Für die Fortsetzbarkeit prädikativer Praxis in neuen Situationen ist
eine Offenheit und Unbestimmtheit, eine Unerwartbarkeit sinnkonstitutiv, die
als Abweichung vom bisher Üblichen, als abweichende Wiederholbarkeit
gefasst werden kann. Es ist, anders formuliert, unmçglich, die künftigen
Verwendungen zu antizipieren, zu überschauen oder von irgendetwas
abzuleiten. Das gilt für Worte wie „Tisch“ oder „rot“ wie für solche wie
„Liebe“ oder „Gott“. (An dieser Stelle scheitert jedes Computermodell
des Geistes.)
Die Nicht-Festgelegtheit der Wiederholungsmöglichkeit weist als
Basisphänomen auf eine negative Anthropologie der Freiheit, die letztlich von
der Unbestimmtheit unseres Wesens handelt: von der Unmöglichkeit
einer positiven Wesensbestimmung des Menschen.
Wir sahen bereits im Blick auf Ektasis und Prädikation: Wir müssen
uns immer schon voraus, uns-vorweg sein, um uns zu orientieren. Wir
sind noch nicht da und immer schon weg. Wenn wir nun das menschliche
Sprechen und Handeln genauer analysieren, dann können wir den
konstitutiven Zusammenhang von Unmöglichkeit, Negativität und le-
bensweltlicher Orientierung und Sinnbildung noch genauer fassen. Mit
einer einprägsamen Formulierung können wir sagen: Denn sie wissen
nicht was sie tun. Mit dieser allerdings missverständlichen Formel meine
ich ein Phänomen, das wir als den regelfreien Moment bezeichnen können.
Das handelnde und sprachliche Überschreiten des Gegebenen, einzelner
Kontexte und Situationen, ihr Verneinen und Negieren, Nicht-Mehr
und Noch-Nicht, ist für unser Welt- und Selbstverständnis konstitutiv.
Bei dieser jeweils transzendierenden Bewegung ist stets ein regelfreier
Moment sinnkonstitutiv, den wir weder sprachlich noch handelnd er-
fassen können, den wir aber philosophisch denken können. Das Denken
dieses nur negativ, in eins mit der Unmöglichkeiten seiner empirischen
Objektivierbarkeit fassbaren blinden Flecks im innersten Kernbereich der
lebensweltlichen Sinnkonstitution, dieses Denken führt uns an die
Grenze des Sinns, und dies im ekstatischen Prozess der Sinnbildung. Der
blinde Fleck gehört weder dem vergangenen Sinn, noch dem als neu
verstehbaren Sinn zu.
Die Unmöglichkeit, den blinden Fleck bzw. den regelfreien Moment
zu fassen, führt in der Tradition dazu, an dieser Stelle eine – mit Blu-
menberg gesprochen – absolute Metaphorik der Brche und Sprnge, des
228 Teil 1. Religionsphilosophie

chorismos, des hiatus zu entwickeln. Der Urstifter dieser Analyse ist für
die Moderne Kierkegaard, der gleichermaßen auf Heidegger, Wittgen-
stein und – was noch wenig bewusst und erforscht ist – auf Adorno
wirkte. Die zentrale Einsicht findet sich aber auch in dem wunderbaren
Aufsatz von Heinrich von Kleist „Über die allmähliche Verfertigung der
Gedanken beim Reden“, der philosophisch zu wenig beachtet wird. Bei
der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden praktizieren
wir ständig Brüche und Sprünge, die wir selbst mit den verwendeten
sprachlichen Mitteln aber nicht mehr thematisieren können. Kleist
schreibt: „Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand
unsrer, welcher weiß.“6 Kierkegaard unterscheidet in seiner Wieder-
holungsanalyse einen Schritt, einen Satz und einen Sprung.7 Diese Analyse
denkt Dialektik als Ineinander von Vermittlung und Unmittelbarkeit.
Der formal, strukturell stets nötige Sprung ist der freie, d. h. nicht ver-
gegenständlichbare Akt, der aus der offenen Unbestimmtheit der Schwebe
– mit Kierkegaard: zwischen entweder-oder – zur innovativ-verein-
deutigenden Fortsetzung der Praxis führt. Wittgenstein schreibt: „In der
Sprache gibt es stets eine Brücke zwischen dem Zeichen und seiner
Anwendung. Wir müssen die Kluft selbst überbrücken; das kann uns
niemand abnehmen, keine Erklärung erspart den Sprung, denn jede
weitere Erklärung wird ihrerseits einen Sprung benötigen.“8 Der
Übergang von einer (auch nur scheinbar) bloßen Wiederholung zu einer
neuen, selbständigen Anwendung der Regel ist selbst nicht regelhaft
fassbar. Auch beim Übergang vom Reden zum Handeln gibt es diesen
regelfreien Punkt. So heißt es in den „Philosophischen Untersuchun-
gen“: „Muß ich einen Befehl verstehen, ehe ich nach ihm handeln kann?
– Gewiß! Sonst wüßtest du ja nicht, was du zu tun hast. – Aber vom
Wissen zum Tun ist ja wieder ein Sprung! –“.9 Die Analysen, die
Wittgenstein in diesem Kontext in seiner Spätphilosophie entfaltet – vor
allem in den Texten „Über Gewissheit“ – konzentrieren sich auf die
Grundlosigkeit unseres Glaubens, auf die Unerklrlichkeit der Sprache (der
Sprachspiele) und auf die Unableitbarkeit unseres Sprachhandelns und der

6 Heinrich v.Kleist, Werke, hg. v. Helmut Sembdner, München 1966, 813.


7 Vgl. dazu: Christa Kühnhold, Der Begriff des Sprunges und der Weg des Sprach-
denkens. Eine Einfhrung in Kierkegaard, Berlin/New York 1975.
8 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen 1930 – 1935, hg. v. Desmond Lee/ Alice
Ambrose, Frankfurt a.M. 1984, 88.
9 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 505.
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution 229

damit verbundenen Lebensform.10 Recht verstanden, handelt es sich bei


dieser negativ-kritischen Sprachphilosophie um eine Radikalisierung des
Existentialismus und der Dialektik. Diese unternehmen es noch – wie die
Transzendentalphilosophie – im Rahmen eines theoretischen, meta-
sprachlichen Modells, die endliche, freie lebensweltliche Sinnbildung zu
erfassen. Selbst dies ist nach Wittgenstein nicht möglich. Vielmehr
können wir nur in deskriptiven, genauen Einzelanalysen paradigmatisch
den intern unendlich komplexen Sprachgebrauch begreifen. Viele phi-
losophisch-systematisch als geltend gesetzte Überzeugungen werden auf
diese Weise noch einmal einer methodisch-systematischen Kritik un-
terzogen. Das Ergebnis dieser Analysen lässt sich negativ mit folgenden
Befunden zusammenfassen.
1. der Befund der Unentscheidbarkeit der Differenz „empirisch/ begriff-
lich“ bzw. „Erfahrung“ und „Regel“;
2. der Befund der Unbestimmtheit der Referenz;
3. der Befund der Wahrheitsindefinitheit von Wissen;
4. der Befund der Internalitt von Existenzsätzen;
5. der Befund der theoretischen, wissenschaftlichen, „transzendenten“
Unsicherbarkeit unseres Wissens;
6. der Befund der Unvordenklichkeit bzw. Grundlosigkeit, der Nichtletzt-
begrndbarkeit von Gewissheit;
7. der Befund der Unvorhersehbarkeit von Sprachhandlungen;
8. der Befund der Angewiesenheit auf gewisse kontingente, empirische wie
auch grammatische Basisstze (hinge propositions) als Fundament aller
unserer sprachlichen Orientierungen.
Dieses Bndel von Unmçglichkeiten, wie es uns in der Spätphilosophie
Wittgensteins begegnet, wird allerdings völlig missverstanden, wenn wir
es als theoretische Fundierung eines Skeptizismus, Relativismus, Dezi-
sionismus und Irrationalismus interpretieren, wie vielfach geschehen. Es
handelt sich bei den Unmöglichkeitsanalysen vielmehr um einen befrei-
enden Abbau von falschen, uns tief verwirrenden und verunsichernden
Bildern und Objektivitätsvorstellungen, die unserem angemessenen
Welt- und Selbstverständnis gerade im Wege stehen. Transzendenter
Szientismus und theoretischer Dogmatismus sind unmöglich. Ein big
picture – welches uns unser Inneres abbildet, das Innere des Anderen,
welches uns das Verhältnis von Bewusstsein und Sein bzw. das Abbild-

10 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Praktische Gewissheit jenseits von Dogmatismus


und Relativismus“, s. Anm. 5.
230 Teil 1. Religionsphilosophie

verhältnis von Sprache und an sich seiender Wirklichkeit liefern könnte –


ist unmçglich. God’s eyes point of view können wir nicht einnehmen.
Jeglicher Skeptizismus und Relativismus geht noch von falschen meta-
physischen Abbildvorstellungen aus, die dann bedauernd, als „leider“
nicht erreichbar, verabschiedet werden. Sie aber wären, diese Illusion
bleibt so erhalten, das eigentlich Wünschbare. Die Bilder einer falschen
Metaphysik halten uns, auch und gerade in aller Alltäglichkeit, auf prekäre
Weise gefangen. Vorhandenheitssemantik – so Wittgenstein –, Vor-
handenheitsontologie – so Heidegger – Verdinglichung des Nicht-
Identischen – so Adorno, verstellen uns auf tiefgreifende Weise die au-
thentischen Dimensionen eines wahrhaft humanen Welt-, Selbst- und
Sprachverständnisses.

Es sind drei Thesen, die ich abschließend im Blick auf die systematisch
freigelegte Verklammerung von Unmöglichkeit und lebensweltlicher
Sinnkonstitution noch ausblickhaft aufstellen will.
1. Die Entwicklung der negativ-kritischen Philosophie im 20. Jahr-
hundert weist wissenschaftskritisch, metaphysikkritisch wie auch prak-
tisch vor auf ein verändertes Welt- und Selbstverständnis, das die sinn-
konstitutiven Grenzen der menschlichen Vernunft wieder viel deutlicher
erkennt und ernstnimmt, als dies in bestimmten Standardmodellen von
Neuzeit, Aufklärung und Moderne geschah. Diese Erneuerung einer
Tiefenaufklrung – einer Aufklärung, die noch ihre eigene Begrenztheit
und Endlichkeit mitzudenken versucht, ihre eigenen unverfügbaren
Bedingungen – weist eine religiöse und theologische Dimension auf, die
weit mehr als bisher gesehen, das moderne Denken bestimmt und un-
tergründig leitet. Und es ist, wenn einmal begriffen, klar: Eine radika-
lisierte Sinngrenzreflexion gelangt an die Grenzen der Vernunft, an die
Grenzen der Welt und des Lebens, an die Grenzen der Sprache, und damit
zum Ort des niemals als vorhanden denkbaren Absoluten. Im Zentrum
der modernen Philosophie stehen mit dem sich entziehenden Sein bei
Heidegger, mit dem sich zeigenden Unsagbaren, Mystischen bei Witt-
genstein, mit dem ebenso jeder Vereinnahmung unverfügbaren Nicht-
Identischen bei Adorno, mit der Entzogenheit der Spur der Schrift bei
Derrida – im Zentrum der modernen Philosophie stehen Paradigmen eines
negativen Absoluten, die auf einen religiösen, oft mystischen Glutkern
verweisen. Kurz: Am Fundament der modernen Philosophie ist ein
heiliger Rest in der Reflexion zu erkennen. Er weist zurück – das könnte
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution 231

ausführlich gezeigt werden – auf die von mir so genannte negativitäts-


theoretische Tiefenstruktur der okzidentalen Rationalität.11
2. Das führt mich zur zweiten ausblickhaften These. Die radikalisierte
negativ-kritische Sinngrenzreflexion der modernen Philosophie mit ih-
rem zentralen Akzent auf Unsagbarkeit, Unverfügbarkeit, Entzogenheit
und Unmöglichkeit bietet auf erstaunliche und überraschende Weise
Anschlüsse an die in der Tiefenstruktur der Genesis der okzidentalen
Rationalität angelegte Reflexion von Negativität und Unmöglichkeit:
Das Sokratische Nichtwissen, das biblische Bilderverbot, Menschwer-
dung und Tod Gottes, die negative Theologie des Neuplatonismus sowie
die rationale Mystik von Proklos und Plotin über Dionysios Areopagita
bis zu Meister Eckhart und Cusanus – diese Paradigmen weisen bei nä-
herer Betrachtung in ihrer Radikalität in die Moderne. Die genannten
Paradigmen waren in gewisser Hinsicht bisher immer randständig. Sie
waren teilweise häretisch, sie waren untergründig und latent wirksam, sie
liefen als Subtexte und Kontexte mit, sie konnten zu Zeiten aktualisiert
werden. (Parallelentwicklungen in der jüdischen und islamischen Re-
flexion, z. B. Maimonides und Al Ghazali, bezeugen die universalistische
Tendenz der negativ-kritischen Sinngrenzreflexion.) Die Paradigmen
sind mit dem Mainstream indirekt verflochten. Das ließe sich z. B. sehr
gut an der frühen Kritik der Kausalitätskategorie zeigen, die von Al
Ghazali über Hume und Kant bis zu Wittgensteins „Tractatus“ reicht.
Erst durch die Entwicklung der modernen Negativitätsanalysen, die
Unmöglichkeit und Sinnkonstitution auf neuartige Weise systematisch
zusammendenken, können wir auch die negative Theologie des Dio-
nysios, die Reflexionen zum Nichts bei Meister Eckhart und die docta
ignorantia des Cusanus wieder neu und besser verstehen.
3. Diese kreative Neuerschließung der negativ-kritischen Tiefendi-
mension der europäischen Vernunftgeschichte erhält nun – das ist die
dritte Ausblicksthese – auch weltgeschichtliche Anschlussmöglichkeiten
an außereuropäische Denktraditionen. Wir können hier von der ver-
deckten asianischen Tiefenstruktur der okzidentalen Rationalität spre-
chen. Das Denken Heideggers findet aufgrund dieser innovativen An-
schlussmöglichkeit z. B. in Japan unerhörte Rezeption. Buddhistische
und taoistische Denkweisen und Selbstverständnisse treten von Hei-
degger aus neu in den Blick, weil sein Denken die Grenzen der euro-
päischen Geschichte des Seins zu thematisieren versucht und somit auch
überschreitet. Das gilt auch für Wittgenstein und sein Denken der

11 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005, insb. 119 – 211.
232 Teil 1. Religionsphilosophie

Grenzen der Sprache. Beide, Heidegger wie Wittgenstein, denken jen-


seits bzw. diesseits von Objektivismus und Subjektivismus. Sie denken
daher etwas, das von der Vorhandenheitsontologie aus nur als Nichts bzw.
als bloße Negativität erscheint, von der Vorhandenheitssemantik her als
bloße Bedeutungslosigkeit. Untersuchungen zu Wittgenstein und Na-
garjuna zeigen z. B., dass das Unsagbare nicht ist (das wäre aristotelisch),
noch nicht ist (das wäre skeptisch), noch sowohl ist als auch nicht ist (das
wäre im Sinne Hegels), noch weder ist noch nicht ist (das wäre im Sinne
Plotins).12 Dies Unsagbare selbst aber ist die Wirklichkeit unseres all-
täglichen Lebens. Nur, wenn wir die Unmöglichkeit der Vergegen-
ständlichung oder prädikativen Erfassung unserer Selbst, der konkreten
Mitmenschen, jedes Individuums und jedes Augenblicks denkend be-
greifen, geraten wir auf eine Weise in die Dimension der lebensweltlichen
Sinneröffnung, die nicht selbst schon verfallen und verstellend ist. Weit
entfernt davon, diese Sinneröffnung nur in spekulativer Ferne anzusiedeln
geht es darum, neu zu begreifen, dass sie, unbemerkt, in jeder lebendigen
Gegenwart geschieht.

12 Vgl. dazu: Chris Gudmunsen, Wittgenstein and Buddhism, New York 1977; Tyson
Anderson, „Wittgenstein and Nagarjuna’s paradox“, in: Philosophy East and West
2/1985, 157 – 169.
Negativität und Rationalität. Gibt es aus
philosophischer Sicht irreduzible Wahrheitsansprüche
religiöser Vernunft?

Meine Antwort ist: ja, es gibt solche irreduziblen Wahrheitsansprüche.


Um diese Wahrheitsansprüche zu klären, werde ich in einem ersten
Schritt ex negativo erläutern, wie sich diese Ansprüche nicht verstehen
lassen. In einem zweiten Schritt werde ich versuchen, zu präzisieren, wie
sich die Eigenart dieser Wahrheitsansprüche näherhin verstehen lässt.
Eine besondere Bedeutung kommt dabei nach Neuzeit, Aufklärung und
Moderne meines Erachtens einem konstitutiven Zusammenhang von
Negativität und Vernunft zu. Es ist dieser Zusammenhang, der mich auch
im Blick auf unabgegoltene Rationalitätspotentiale von Religion be-
schäftigen wird.

l
Beginnen wir mit einer negativen Ausgrenzung religiöser Wahrheits-
ansprüche. Meine erste These betrifft eine vermeintliche Konkurrenz von
religiösen und theoretischen oder empirischen wissenschaftlichen
Wahrheitsansprüchen. Genuin religiöse Geltungsansprüche stehen, recht
verstanden, nicht in Konkurrenz zu naturwissenschaftlichen, empirischen
Theorien welcher Art auch immer. Sie bewegen sich überhaupt nicht auf
der Ebene empirischer Sätze über etwas, das in der Welt naturwissen-
schaftlicher Tatsachen verifiziert oder falsifiziert werden könnte. Sie sind
keine theoretischen Orientierungen und sie sind in ihrer Geltung nicht
von bestimmten empirischen Behauptungen über die Welt abhängig.
Analysieren wir Sprachgebräuche im Kernbereich religiöser Praxis, so
wird sichtbar: Die Sätze „Jesus lebt“, „Christus ist für uns gestorben“ sind
keine schlichten Tatsachenmitteilungen wie „Herr Schulze lebt“ oder
„Herr Müller ist gestern gestorben“. Mit den religiösen Bekenntnissätzen
wird eine auf das ganze Leben bezogene Orientierung, eine grundsätz-
liche Lebenseinstellung artikuliert. Was der Satz „Gott ist der Schöpfer“,
„Jesus lebt“ oder „Allah ist groß“ für die Glaubenden bedeutet, das lässt
234 Teil 1. Religionsphilosophie

sich nur durch deren Lebensverständnis erläutern, nicht jedoch durch den
Blick auf empirische Tatsachen außerhalb dieser Lebenszusammenhänge
beweisen oder widerlegen. Es gibt also außerhalb der komplexen
Glaubens- und Bekenntnispraxis zunächst einmal keine externen wis-
senschaftlichen Überprüfungsinstanzen für solche religiösen Wahrheits-
ansprüche.
Vorkopernikanische Lebensformen artikulierten ihre religiösen
Überzeugungen im Rahmen von mythischen Bildern vom „Aufbau der
Welt“. Nachdem diese Weltbilder kosmologisch zerfielen, konnte und
musste die neuzeitliche Religionskritik dogmatische Ansprüche ver-
werfen, die Gott und Welt, Himmel und Hölle, Diesseits und Jenseits
objektivistisch auf verschiedene kosmologisch verortbare „Räume“
projizierte, etwa: Raum I – diese Welt, Raum II – das Jenseits. Wären
religiöse Wahrheitsansprüche von solchen Modellen fehlgeleiteter Spe-
kulation abhängig, dann wäre es schlecht um sie bestellt. So beruht z. B.
der anti-evolutionäre Kreationismus in manchen christlich-fundamen-
talistisch beeinflussten schulischen Lehrplänen Nordamerikas auf einer
Konfusion des genuinen Wahrheitsanspruches des religiösen Satzes „Alle
Menschen sind Geschöpfe Gottes“ mit evolutionsbiologischen empiri-
schen Forschungen zur Menschheitsentwicklung. Von solchen For-
schungen handeln Religionen nicht. Deswegen reproduzieren auch
gegenwärtig neu eröffnete Diskussionsrunden hinsichtlich der möglichen
Bedeutung der theoretischen Erkenntnisse der Quantenmechanik oder
der gegenwärtigen Kosmologie für religiöse Wahrheit auf immer neue
Weise und im großen Maßstab alte Missverständnisse. Würde man die
Ebenendifferenz von Religion und Naturwissenschaft selbst kriterial
vernünftig begreifen, so hätte eine aufgeklärte Gesellschaft es nicht nötig,
diffuse Grauzonen aus unbegriffener Physik und Esoterik zu kultivieren –
zum Schaden beider: der wissenschaftlichen wie der religiösen Vernunft.
Für die Beurteilung der Wahrheitsansprüche von Religionen gilt aber
umgekehrt auch: dass ihre Entfaltung mit vormodernen Weltbildern
verbunden war, das allein genügt nicht, sie für falsch oder illusionär zu
erklären. Es genügt dann nicht, wenn es gelingt, die tatsächlich haltbare
religiöse Wahrheit, von wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen unab-
hängig, zu entwickeln und anzueignen und letztlich von schlechter
Metaphysik zu befreien. Kurz: kein Galilei oder Darwin bedroht ir-
gendeine relevante religiöse Wahrheit. Das gilt auch für die vermeintliche
Abhängigkeit religiöser Wahrheit, von empirischen historischen Tatsa-
chen, z. B. über das Leben Jesu, Buddhas oder über die Entstehungsge-
schichte des Korans. Die Wahrheitsansprüche der Lehren der Religi-
Negativität und Rationalität 235

onsstifter sind das Entscheidende. Diese Lehren betreffen ein sinnvolles


menschliches Welt- und Selbstverständnis, das weder durch eine Physik
noch durch historische Forschung allein begründet oder auch als unwahr
erwiesen werden kann.
Dass religiöse Wahrheitsansprüche mit diesen Lehren verbunden
waren und sind, zeigt sich im Übrigen an den vielen religionsinternen
Kontroversen und Argumentationstraditionen. Missverständnisse und
falsche Verständnisse zu kritisieren und auszuräumen, war und ist ein
wesentlicher Bestandteil religiöser Sprach- und Lebenspraxis selbst. Ein
Beispiel ist die Frage nach der Lokalisierung der Hölle. Während noch in
der spanischen Barockscholastik von Suárez die These vertreten wurde:
„Veritas certa est infernum esse sub terra“1, hatte bereits etwa 1200 Jahre
vor ihm Johannes Chrysostomus auf diese Frage geantwortet: „Ne ergo
quaeramus ubinam sit, sed quomodo eam fugiamus.“2 Mit Wittgenstein
können wir die traditionellen Reden von der Hölle als bildlichen Aus-
druck für die praktische Einsicht in die reale Möglichkeit definitiven
moralischen Scheiterns verstehen. So hat Wittgenstein auch die Rede
vom Jüngsten Gericht als Ausdruck einer ethisch unbedingt ernsthaften
Lebensform interpretiert. Religiöse Wahrheitsansprüche hängen hier
nicht an einer Kosmologie oder an bestimmten Bildern, sondern an der
Wahrheit praktischer Einsichten in die Wirklichkeit der Tiefe der
möglichen menschlichen Fehlbarkeit und Selbstverfehlung. Der Sinn der
Bilder hängt an diesen Einsichten, nicht die Einsichten an den Bildern.
Auch eine isolierbare, theoretisch verstandene Existenzbehauptung der
Form „Gott existiert“ ohne kontextuelle und lebensbezogene, praxis-
bezogene Kriterien hat keinen Sinn – ebenso wenig wie die Behauptung
„Gott ist tot“ bzw. „Gott existiert nicht“ außerhalb solcher Kontexte und
Kriterien. Demgegenüber stellen naturwissenschaftliche und historische
Aufklärung keine „Kränkungen“ und „Depotenzierungen“ religiöser
Wahrheit dar, wie vielfach fälschlich angenommen wird. Sie sind im
Gegenteil als Befreiung von Unkenntnis und Aberglaube zu begrüßen
und können ernsthaften religiösen Wahrheitsansprüchen daher nur
Recht sein.
Eine zweite sinnkriteriale These weist die Auffassung von religiösen
Wahrheitsansprüchen als Vermutungen und als Hypothesen ab. So hat
man wiederum szientistisch-verifikationistische Deutungen religiöser
Sätze gegeben bzw. von der „Nichterwiesenheit des Gegenteils“ z. B.

1 Francisco Suárez, De ang. 1.8, c. 16, n. 17.


2 Johannes Chrysostomus, In Rom. Hom. 31, n. 5 (Migne PG 60, S. 674).
236 Teil 1. Religionsphilosophie

eines eschatologischen Satzes auf die zu erhoffende künftige „Verifika-


tion“ solcher vermeintlichen religiösen Annahmen geschlossen. Reli-
giöse Sätze sind jedoch auch als schwache Annahmen über Tatsachen, die
der Fall sein könnten bzw. deren prognostische Kraft derzeit noch in
Frage steht, missverstanden. Wiederum wäre es eine transzendente
Objektivität, die letztlich Garant für die Wahrheit der religiösen An-
sprüche wäre. Damit wird ihr Geltungssinn gerade verfehlt. „Mögli-
cherweise ist Gott ja die Liebe“ – „Vielleicht hat Gott ja die Welt er-
schaffen“ sind kategoriale Irrtümer. Insofern vertragen religiöse
Orientierungen auch keinen augenzwinkernden Agnostizismus nach
dem Motto „Schaden kann es ja nicht“.
Demgegenüber ist die Verlässlichkeit religiöser Wahrheitsansprüche
zu Recht in Analogie und Entsprechung zu interpersonalen Gewissheits-,
Vertrauens- und Verlässlichkeitsverhältnissen gedeutet worden, nach der
Form der ernsthaften Zusicherung: „Du kannst dich auf mich verlassen.“
Dementsprechend lassen sich Verheißungen und Versprechungen reli-
giöser Wahrheit auf folgende Grundform bringen: „Wenn du dich auf die
Lebensorientierung x ernsthaft verlässt, dann wird dein Leben gelingen.“
bzw. „Wenn du auf diese Weise lebst und dein Leben so verstehst, dann
wirst du letztlich nicht verzweifeln müssen.“ Praktische Einsichten in
sinnvolle Lebensorientierungen sind konkret; sie haben den Status der
Wahrhaftigkeit, nicht den der Wahrscheinlichkeit.
Drittens möchte ich den religiösen Wahrheitsansprüchen bei all ihrer
existentiellen Ernsthaftigkeit keinen emotiven Status zuerkennen. Sie
gründen nicht in Gefühlen, unterliegen einer Psychologismuskritik wie
andere Wahrheitsansprüche auch. So können mathematische Entde-
ckungen wie z. B. der Beweis von Fermats letztem Satz oder auch na-
turwissenschaftliche Theorieentwicklungen von großen Leidenschaften
und Erregungen begleitet sein – aber sinnkriterial fällt die subjektive
Befindlichkeit für die Beurteilung der Wahrheit der Beweise und Ent-
deckungen nicht ins Gewicht. Der lebensbezogene Wahrheitsanspruch
von Religion ist nicht abhängig von den Gefühlen, die diesen Anspruch
begleiten können. Im Übrigen: Wie für den transzendenten Objekti-
vismus, so gilt auch für den religiösen Subjektivismus: Die Missverstnd-
nisse kçnnen auf der Ebene religiçser Praxis ebenso auftreten wie auf der Ebene
ihrer theoretischen Reflexion. Auf der Ebene theoretischer Reflexion wiederum
kçnnen die Missverstndnisse sowohl in theologischen Theorien wie auch in Form
von Religionskritiken auftreten. Der Subjektivismus und Emotivismus kann
sich auf der Ebene religiöser Praxis z. B. als extremer Pietismus und
Mystizismus, als Beanspruchung eines besonderen esoterischen Wissens
Negativität und Rationalität 237

oder jeglicher Kritik und Reflexion entzogener Offenbarungsquellen


ausprägen – in der Annahme von „Medien“ z. B. Ebenso kann der
Subjektivismus sich theologisch in einem irrationalen Dogmatismus und
Offenbarungspositivismus, in Vorstellungen von Inspiration und Er-
leuchtung artikulieren – irrational aber eben nur dann, wenn unwichtig
ist, worin sachlich und geltungsbezogen die Erleuchtung oder Inspi-
riertheit denn genau besteht. Entsprechend können psychologische und
psychoanalytische Theorien diese subjektive Ebene zum Gegenstand von
Pathogenesen machen.
Aber die religiösen Grundaussagen haben nicht die Form „Ich habe
das Gefühl, dass Christus auferstanden ist“, oder „Ich spüre, dass die Lehre
Buddhas wahr ist.“ In der Religionsgeschichte nicht nur des Westens
können wir eine deutliche Rationalisierung, Verbalisierung, Individua-
lisierung und Ethisierung feststellen. Mit Kant, Hegel (und anderen) sehe
ich darin eine klare Tendenz, die authentischen Wahrheitsgehalte von
Religion hinter den vielen Verdeckungen und Missverständnissen her-
vorzuholen und zu retten, von denen jede menschliche Vernunftori-
entierung ständig umgeben ist – in besonderem Maße aber die Reli-
gionen mit ihren weitreichenden Ansprüchen. So schreibt Luther: „Die
da den Geist rühmen und suchen sonderliche Offenbarung und Träume,
die sind ungläubig und Verächter Gottes, denn sie lassen sich an Gottes
Wort nicht begnügen, wollen damit nicht zufrieden seyn. In geistlichen
Sachen suche noch begehre ich keine Offenbarung noch Träume. Ich hab
ein klar Wort, dabey allein bleib ich. Wie auch S. Paulus vermahnet, dass
wir uns dran sollen halten und hängen, wenn gleich auch ein Engel vom
Himmel anders lehrete.“3 Subjektivismus und Psychologismus wurde
und wird in vielen Traditionen religiöser Vernunft als die Kehrseite eines
(transzendenten) Dogmatismus und Fundamentalismus erkannt und ab-
gelehnt. Die Schuldifferenzen des Buddhismus haben hier einen Ur-
sprung, und im Islam lehrt eine Tradition: „Sprich zu uns nicht von
Visionen und Mirakeln, denn solche Dinge haben wir lange hinter uns.
Wir erkannten sie alle als Illusionen und Träume, und tapfer gingen wir an
ihnen vorbei.“4 Ich fasse die anti-emotivistische These zusammen.
Sinnvoll verstehbare und ernsthaft diskutable religiöse Haltungen und
Grundaussagen sind (1.) keine Gefühle und auch nicht Ausdruck von

3 Martin Luther, „Tischreden aus Anton Lauterbachs Sammlung B“, in: ders.,
Weimarer Ausgabe, Bd V, Köln/Wien 2002, 6211.
4 Javed Nurbakhsh, In the Tavern of Ruin. Seven Essays on Sufism, New York 1978,
96 (übersetzt von Thomas Rentsch).
238 Teil 1. Religionsphilosophie

Gefühlen; (2.) handeln sie auch nicht von Gefühlen (gegen die These von
einem emotiven Gehalt); (3.) sind sie auch nicht durch Gefühle beweisbar
(nicht emotiv verifizierbar).
Viertens kommt religiösen Wahrheitsansprüchen auch nicht der Status
von Fiktionen zu. Es schien sinnvoll, angesichts einer „entzauberten“
Außenwelt die spezifisch religiösen Reden von „Schöpfung“, „Gericht“
und „Erlösung“, „tao“ oder „Dharma“ als praktische, lebensdienliche
Illusionen zu betrachten. Bereits Kants Metasprache zur Rekonstruktion
religiöser Wahrheit, die Postulatenlehre, baut auf der Rekonstruktions-
ebene authentischer religiöser (bzw. schlicht humaner) Praxis ein un-
angemessenes sprachliches Element ein, welches bei falschem Verständnis
subjektiv, beliebig oder voluntaristisch interpretiert werden kann –
nämlich die Rede vom Postulat. Unter dem Einfluss von Nietzsche und
dem Positivismus konnte z. B. Vaihinger im Neukantianismus eine solche
fiktionalistische Rekonstruktion vertreten. Solche Rekonstruktionen
verfehlen das Rationalitätspotential religiöser Orientierungen gleich
mehrfach. Die praktischen Einsichten, die sich in diesen Orientierungen
artikulieren, haben ihren Sitz in kulturellen Lebensformen, die sich nicht
in eine pure Faktizität einerseits, in subjektive Sinnkonstruktionen an-
dererseits, aufspalten lassen. Ähnlich wie in der normativ und sozial
konstituierten Praxis der Moralität und Ethik wissen wir in der Regel
bereits viel über lebenstragende Einsichten und ihre institutionelle und
kulturelle Vermittlung. Eine Tabula-rasa-Situation, deren sinnfreier
Faktizität noch eine subjektiv projizierte Sinn-Fiktion wie eine illusio-
näre Sahnehaube hinzugefügt wird, ist daher eine irreführende, abstrakte
Vorstellung. Dementsprechend wird man folgende Formulierungen
ablehnen müssen: „Ich lebe als Buddhist so, als ob es eine Befreiung aus
Weltbefangenheit gäbe.“ Oder „Ich lebe als Christ so, als gäbe es Gott,
Gnade und Vergebung.“ Oder „Muslime tun so, als ob Mohammed der
Prophet sei.“ Religiöse Sprechakte im Kernbereich der Bekenntnisse und
Lehren sind konstitutive Akte, mit denen unbedingte normative Ver-
pflichtungen und grundlegende Sichtweisen hinsichtlich des eigenen
Lebensverständnisses artikuliert werden, z. B. Glaube, Hoffnung und
Liebe.
Fnftens werden religiöse Wahrheitsansprüche im Kern nicht ange-
messen begriffen, wenn wir sie auf ihre sozialen oder auch individual
psychologischen Funktionen reduzieren, z. B. auf die sogenannte
„Kontingenzbewältigungspraxis“. Religiöse Sprache und Praxis folgt
nicht der Logik von Erklärungen, sie bewegt sich nicht auf der Ebene
instrumenteller Rationalität. Natürlich sind religiöse Orientierungen als
Negativität und Rationalität 239

sinnvolle menschliche Handlungen zu etwas gut. Aber die Geltungs- und


Sinnebene der religiösen Praxis kann durch eine objektivierende, z. B.
religionssoziologische Analyse allein nicht in den Blick treten. Anders
gesagt: Dass eine religiöse Praxis bestimmte erfreuliche Folgen hat, be-
deutet nicht, dass diese Folgen der Zweck und die Praxis das Mittel dazu ist.
Religiöse Vernunft ist unterschieden von magischen Praktiken, Aber-
glaube und Zauberei. Solche Orientierungen sind in modernen Gesell-
schaften leider weit verbreitet, gehören nicht nur zu vergangenen ar-
chaischen Kulturen. Aber auch Religionen selbst können sich magisch,
quasi-technisch, missverstehen. Drei Beispiele. In den ätiologischen In-
terpretationen der Riten südamerikanischer Völker vor Sonnenaufgang
konnten diese Riten als instrumentelle Versuche der magischen Her-
beiführung des Tages gedeutet werden. In der Sichtweise westlicher
Religionsethnologen freuen sich die „Primitiven“ schließlich, dass sie es
wieder einmal geschafft haben, den Sonnenaufgang durch Gebet, Gesang
und Zeremonien zu bewirken. Wenn ein Religionsethnologe unsere
Neujahrsbräuche auf diese Weise beobachtete, so könnte er sagen: Diese
Primitiven veranstalten alljährlich große Riten, gießen Blei, führen
sonderbare Tänze auf und setzen den Himmel mit großem Lärm in bunte
Flammen, damit das Neue Jahr auch kommt. Dabei wird ein Millio-
nenvermögen in die Luft gejagt, und es sterben immer auch Menschen
dabei. Wenn die Zeit bzw. die Welt dann tatsächlich weitergeht, bricht
unbeschreiblicher Jubel aus. Kurz – eine rituelle Freudenfeier braucht mit
magischem Instrumentalismus nichts zu tun zu haben.5 Ein zweites
Beispiel. Die Bestattung der Sioux-Indianer versieht den Verstorbenen
mit Speise und Trank. Sie wurden von den weißen Einwanderern ge-
fragt: Bildet ihr euch ein, dass der Tote heraufkommt und das Essen
verzehrt? Die Indianer antworteten: Ebenso wie ihr euch einbildet, dass
ein Toter an den Blumen riecht, die ihr auf sein Grab pflanzt! So kann
auch – ein drittes Beispiel – das Beten als magische Herbeiführungs-
technik missverstanden, aber ebenso auch als bewusste meditative Praxis
sui generis begriffen werden. Das heißt auch: Die Doppelseitigkeit von
Authentizität und missverstandenem, defizientem, instrumentellem

5 Vgl. Hubertus Halbfas, Das Welthaus, Stuttgart 1983, 214. (Die authentischen
Beschreibungen des Sonnenfestes der Inka, die wir besitzen, bestätigen die
nichtinstrumentelle Deutung: Garcilaso de la Vega – seine Mutter war Inka-
Prinzessin – schreibt, dieses höchste Fest glich „einem Bankett, dass die Sonne
ihren Kindern gab.“) (Im Übrigen wissen wir ja auch nach Hume nicht, ob die
Sonne aufgehen wird.)
240 Teil 1. Religionsphilosophie

Modus beherrscht alle religiösen Praxisformen, Kulte, Riten, Sakramente


und Sprachhandlungen. Aber auch dies ist in den Religionen selbst be-
wusst, und die Abwehr instrumenteller Verständnisse ist selbst einer ihrer
wesentlichen Züge. So heißt es im Islam: „O Lord! If I worship you from
fear of hell, cast me into hell. If I worship you from desire for paradise,
deny me paradise.“6 Diese sinnkonstitutive Ambivalenz von authenti-
schem und instrumentellem Modus beherrscht ja auch alle ethisch-mo-
ralischen personalen Verhältnisse.
Sechstens wende ich mich gegen ein generell entfremdungstheoreti-
sches und insofern reduktionistisches Verständnis von Religion als Reflex
ökonomischer Verhältnisse (Marx), als Inversion von Hass und Grau-
samkeit seitens ressentimentgeleiteter zu kurz Gekommener (Nietzsche),
als Wunschbildung und Projektion auf der Basis einer Triebgeschichte des
Unbewussten (Freud), als Machtdispositiv (Foucault) bzw. als kollektive,
mimetische Gewalttätigkeit nach René Girard. Die entfremdungstheo-
retischen Genealogien akzentuieren zunächst etwas sehr Wichtiges,
Positives: Religionen hatten und haben es stets auch mit den letzten und
tiefsten menschlichen Ängsten und Kümmernissen zu tun. Aber ihre
depotenzierende Erklärung als deren bloß illusionäre Kompensation
greift zu kurz. Gerade weil sie Ort der Artikulation von Angst und
Hoffnung, Leid und Freude waren und sind, konnten Religionen
Normen institutionalisieren, die emanzipatorisch und befreiend über die
faktische gesellschaftliche Situation hinauswiesen und dauernd hinaus-
weisen. Die reduktionistischen Deutungen verkennen dieses Potential
und brechen ihr so die Sinnspitze ab – wie im Übrigen auch reaktionäre
Theologen dies tun. Damit verkennen sie auch das, was Ricoeur als
Epigenesis bezeichnet hat: nämlich die authentische, oft mehrtausend-
jährige Nachgeschichte derjenigen Orientierungen, die möglicherweise
entfremdungstheoretisch oder triebgeschichtlich so entstanden sind – aus
und inmitten von Angst, Gewalt und Schrecken. In der Nachgeschichte
wurden religiöse Orientierungen in die gesellschaftliche Konstruktion
des kulturellen und zivilisatorischen, rechtlichen und normativ urtei-
lenden Bewusstseins reflexiv aufgenommen und unabhängig von ihrer
Entstehungsgeschichte produktiv weiterentwickelt. Eine flächende-
ckende religionstheoretische Reduktion von Geltung auf Genesis un-
terbestimmt daher bereits die faktischen Rationalitätspotentiale von
Religionen.

6 Rabia, zit. nach Idries Shah, The Way of the Sufi, Harmondsworth/New York
1982, 239.
Negativität und Rationalität 241

Ebenso wende ich mich siebtens gegen einen religionsphilosophischen


Relativismus der Wahrheitsansprüche. Gerade, wenn man mit Wittgen-
stein, Winch, Phillips und anderen zunächst die intrinsische Authentizität
religiöser Lebensformen angemessen rekonstruieren will, tendieren sol-
che Zugriffe scheinbar zu einem „Subjektivismus“ im großen Stil –
nämlich bezogen auf ganze Kulturen. Methodologisch muss aber bereits
bei der angemessenen Rekonstruktion der internen Wahrheitsansprüche
religiöser Praxis ein theoretischer Relativismus als unmçglich behauptbar
und nicht begründbar ausgeschlossen werden. Bereits die Thematisierung
entwickelter fremder religiöser Praxen kann diese nicht als hermetische
Systeme, gleichsam als geschlossene Veranstaltungen, begreifen – als seien
wir Touristen der sittlichen Welt. Denn auch jedes ernsthafte Verständnis
der tiefgreifenden Differenzen im Selbst- und Weltverständnis fremder
kultureller Praxen setzt bereits ein Stück Teilnahme, Nachvollzug und
grundbegriffliche Gemeinsamkeiten voraus. Der allzu schnelle Verweis
religiöser Riten in ein geschlossenes System irrationaler Handlungsregeln
verkennt deren interne Authentizität und Bedeutung. So erscheint die
indische Witwenselbstverbrennung Suttee (Sati) als horribler, barbari-
scher Akt, in dem sich hinduistische Vorstellungen von der Frau des
Gottes Schiwa mit der Unterdrückung von Frauen in grausam rituali-
sierter Form verbinden. Und so erschien Suttee auch der englischen
Kolonialregierung, die den Ritus 1829 verbot. Allerdings wurde und
wird er weiter praktiziert. Je mehr man sich mit dem sozio-kulturellen
Kontext des Ritus befasst, desto deutlicher wird aber seine interne Au-
thentizität.7 Entstanden in der Kriegerkaste, wurde er praktiziert, wenn
der Mann im Kampf gefallen war. Es ist also eine letzte Bestätigung von
ehelicher Treue als Nachfolge in den Tod. Die administrative Verhin-
derung der Nachfolge stellt also unter Umständen eine gewaltsame
Verhinderung menschlicher Sinnerfüllung dar. In der Tat schildern
Berichte die große psychische Not von Frauen, die am Ritual gehindert
wurden. Der vollzogene Akt der Selbstverbrennung führt auch zur Er-
richtung eines Lokalheiligtums, das für ein kleines Dorf Ehre, Ansehen
und Pilgerscharen bedeutete. Denken wir an unsere eigene Kultur, er-
innern daran, dass der Opfer- und Kreuzestod Jesu und die Nachfolge
Jesu, das Martyrium der Heiligen für sie mit prägend war, so wird
sichtbar: Wer vorschnell die Barbarei verurteilt, versteht nicht nur die
fremde Kultur, sondern auch die eigene nicht. Aber auch praktisch ist ein

7 Vgl. dazu: Jörg Fisch, „Jenseitsglaube, Ungleichheit und Tod. Zu einigen As-
pekten der Totenfolge“, in: Saeculum Bd. 44 (1993), 265 – 299.
242 Teil 1. Religionsphilosophie

oberflächlicher Kulturrelativismus zu kurz gedacht. Denn wollten wir die


Verhältnisse in den indischen Dörfern nach unseren westlich-aufge-
klärten Maßstäben verändern, so müssten wir zu allererst die Überzeu-
gungen und Gründe explizit machen und ernst nehmen, die ihnen zu-
grunde liegen. Nur so nämlich können wir die Menschen aus unserer
Perspektive als Personen in ihrer Würde achten, und brauchen dennoch
nicht einen bequemen Fetischismus der Differenz zu vertreten, wie er
postmodernem Irrationalismus nahe lag.
In einem achten Schritt weise ich die Auffassung zurück, dass Religion
Moral sei und ihre Wahrheitsansprüche sich im Kern auf ethische Gel-
tungsansprüche reduzieren lassen. Das entspricht in gewisser Hinsicht der
ersten These, dass sie keine theoretischen Geltungsansprüche im wis-
senschaftlichen Sinne erhebt. Denn mit den Grenzen unserer theoreti-
schen und praktischen Erkenntnis, mit den Grenzen unserer Theorie und
Praxis hat Religion gerade zu tun. Der Kern religiöser Einstellungen,
Sprachspiele und Rituale ist jedoch nicht-ethischer Art, und nicht etwa
ethische Ideale, Imperative, Präskriptionen und Sollenssätze sind ihre
Konstituentien, sondern z. B. Berichte von außergewöhnlicher Bedeu-
tung, Bekenntnisse, Verheißungen, Weisheitslehren und Heilszusagen.
Sie betreffen im Kern praktische Einsichten über unser Leben und diese
sind dann allerdings mit ethischen Konsequenzen sehr eng verbunden.
Religionen fragen: Wie gehen wir mit den Grenzen unseres Lebens
und unserer Welt um, wenn wissenschaftliche Fragen geklärt und ethi-
sche Einsichten schon gewonnen sind. In Theorie und Praxis geraten wir
an Grenzen unserer Vernunft, mit denen wir es gleichwohl ständig zu tun
haben. Nachdem ich wissenschaftliche, hypothetische, emotivistische,
fiktionalistische, funktionalistische, entfremdungstheoretische, relativis-
tische und ethische Verständnisse des irreduziblen Kerns religiöser
Wahrheitsansprüche kritisch ausgeschlossen habe, möchte ich in einem
zweiten Abschnitt die Eigenart dieser Wahrheitsansprüche näher expli-
zieren.

2
Diese Explikation erfolgt aus philosophischer Sicht. Da nur Philosophie
eine explizite Theorie der Vernunft entwickelt hat, kann gerade sie auch
ein spezifisches Verständnis religiöser Wahrheitsansprüche zu rekon-
struieren versuchen, und zwar mit Blick auf eines ihrer Dauerthemen: die
Grenzen der Vernunft. In der Linie von Kant und Wittgenstein können
Negativität und Rationalität 243

wir sagen: Wenn alle wissenschaftlichen und praktischen Fragen beant-


wortet sind, d. h. philosophisch-sinnkriterial v. a.: Wenn die Grenzen
und die Reichweite von Wissenschaft und Praxis bestimmt sind, dann
bleiben irreduzible Fragen, die das Ganze unseres Welt- und Selbstver-
ständnisses betreffen. Solche Fragen und ihre theoretische Reflexion
wurden im europäischen Kontext klassisch der Metaphysik zugewiesen.
Solchen Fragen und ihrer möglichen Beantwortung einen angemessenen
Ort im System unserer Vernunftorientierungen zuzuweisen, das kann
philosophisch gesehen also auch bedeuten, mögliche Rationalitätspo-
tentiale der Metaphysik bzw. der metaphysischen Grundfragen zurück-
zugewinnen. In der Tat ist meine These, dass die Suche nach einer
Bestimmung genuiner, irreduzibler Wahrheitsansprüche von Religionen
mit einem strukturellen Problem philosophischer Vernunftkritik syste-
matisch verwandt ist. Dieses strukturelle Problem fasse ich als den sys-
tematischen Zusammenhang von Negativität und Rationalität. Meine
These ist die folgende: Rationalität und Moralität konstituieren sich in
der Tiefe nicht gegen die und neben der Negativität, sondern im Kern in,
mit und durch sie. Negativität lässt sich dabei auf allen Ebenen der
Faktizität, der Praxis und der Reflexion differenziert verorten: als Natur,
als Tod, als Unbedingtheit und Endlichkeit, als Grenze unserer Sprache,
als Grenze unserer Begründungs- und Reflexionsmöglichkeiten. Des-
wegen der formale, an Hegel orientierte Titel. Philosophisch gesprochen:
Wir dürfen die Grenzen unserer Vernunft nicht ausgrenzen, sondern
müssen sie begreifen und in unser Vernunftverständnis konstitutiv und
produktiv mit einbeziehen. Das geht nicht in einem selbstzufriedenen
Rationalismus, dessen Vernunftbegriff daher auch als zu eng kritisiert
werden muss. Dazu ist nämlich eine dauernde Erinnerung an die Grenzen
und das heißt an die Endlichkeit unserer Vernunft nötig. Konstitutiv für
unsere vernünftige Lebenspraxis ist, anders gesagt, der bewusste Einbezug
der transpragmatischen Sinnbedingungen unserer Vernunft. Eben darin,
an den lebenssinnkonstitutiven Zusammenhang von Negativität und
Vernunft nicht nur zu erinnern, sondern diesen Zusammenhang in
kulturelle Lebensformen aktiv zu transformieren, normativ zu institu-
tionalisieren und so bewusst zu gestalten, bestehen im Kern die irredu-
ziblen Wahrheitsansprüche von Religion.
Ich möchte diese These im Blick auf einige transpragmatische
Sinnbedingungen unseres Denkens und Handelns paradigmatisch kurz
erläutern. Dann wird auch noch einmal deutlich, dass und wie die kri-
tische Abwehr der falschen bzw. reduktionistischen Verständnisse von
244 Teil 1. Religionsphilosophie

Religion mit dem Konnex von Negativität und vernünftig einsehbarem


Sinn zusammenhängt.
Negativ-kritische, praktische Einsichten, die nach meiner Auffassung
für Vernunft konstitutiv sind, sind im alteuropäisch-abendländischen
kulturellen Kontext z. B. zentral vorgeprägt im biblischen Bilderverbot, im
Sokratischen Nichtwissen und in der christlichen Theologie der Mensch-
werdung und des Todes Gottes. Diese Traditionen beruhen im Kern gerade
auf der Einsicht in die dauerhafte Entzogenheit absoluter Wahrheitsan-
sprüche. Wir können über die Grenzen unserer endlichen Vernunft
hinaus theoretisch weder die Welt, noch uns selbst, noch die Wahrheit an
sich oder Gott erkennen. Weit entfernt aber davon, diese negativen
praktischen Einsichten resignativ und nihilistisch zu verstehen, werden sie
in den religiösen Traditionen zu produktiven, befreienden, ja sogar re-
volutionären Potentialen des ethischen Universalismus, der universellen
Personalität und Menschenwürde, eines vertieften Freiheitsverständnis-
ses, eines Verständnisses wissenschaftlicher Rationalität und humaner
Weltgestaltung transformiert. Und zwar deshalb, weil gerade die prak-
tische Einsicht in die Grenzen unserer Erkenntnis dogmatische Wahr-
heitsansprüche ausschließt und in eins damit prinzipiell keinen Menschen
mehr zu bevorrechtigen gestattet, andererseits diese Begrenztheit aber für
alle Menschen gilt. Negative, kritische Metaphysik und negative Theo-
logie haben diesen Zusammenhang je auf ihre Weise herausgestellt. Sie
entfalten die Einsicht, dass wir das Ganze der Welt, uns selbst sowie die
idealen Sinnbedingungen unserer Praxis: theoretische und praktische
Vernunftansprüche nicht abschließend erkennen, objektivieren und
bestimmen können. Religiöse Vernunft setzt da ein, wo diese Negativität
bewusst und in universale Achtungs- und Anerkennungsverhältnisse
unserer Begrenztheit transformiert wird, in Formen des bewussten
Umgangs mit der eigenen Begrenztheit und der daraus sich ergebenden
interpersonalen Angewiesenheit und wechselseitigen Achtung.
Ein wesentliches Beispiel ist die praktische Anerkennung der le-
bensermöglichenden Sinnbedingungen unserer Existenz im Verständnis
der Welt als Schçpfung unter Einschluss der eigenen Existenz als Mitge-
schöpflichkeit. Das Prinzip Verantwortung hat hier einen Ursprung.
Ebenso entzieht sich unser Leben als Ganzes einer Vergegenständlichung
und Instrumentalisierung. Die praktische Einsicht in diese intrapersonale
und interpersonale Negativität der Selbsterkenntnis, die praktische Be-
deutung des Bilderverbots für die menschliche Lebenspraxis ist es, die in
diesem Zusammenhang genuin religiöse Rationalität artikuliert – als
Achtung der irreduziblen Ferne und Fremdheit des Anderen – noch
Negativität und Rationalität 245

jenseits der unaufhörlichen philosophischen und wissenschaftlichen


Selbstvergewisserungsversuche der Subjekte in Neuzeit und Moderne.
Ebenso können und müssen wir uns zu unseren Vernunftansprchen selbst
noch einmal verhalten, zu ihrer Endlichkeit, zu ihrer Begrenztheit, zu
ihrem nur allzu oft katastrophalem Scheitern in Geschichte und Ge-
genwart, zur Offenheit, Fragilität und Verletzlichkeit dieser Ansprüche in
einer unsicherbaren Zukunft. Eine vernünftige religiöse Kultur ist eine
Kultur des bewussten Umgangs mit diesen transpragmatischen Aspekten
unseres – im Übrigen bereits beliebig weit aufgeklärten, autonomen und
säkularisierten – Lebens. Dieser Umgang kann viele – nicht vorab fest-
gelegte – ästhetische, symbolische, sprachliche Formen haben.
Angesichts der hier nur angedeuteten, vernünftige Praxis selbst erst
noch ermöglichenden Aspekte unseres Lebens: dass unser Leben mit
seinen Sinnansprüchen berhaupt wirklich ist, dass wir inmitten unserer
naturhaften Endlichkeit, materiellen Begrenztheit und Kontingenz die
Freiheit zu autonomer Weltgestaltung haben und verantwortlich über-
nehmen können, dass wir trotz eigener Sterblichkeit an einer Perspektive
humanen Sinns festhalten können, die durch die Vergänglichkeit nicht
entwertet oder vergleichgültigt wird, – angesichts dieser Aspekte lassen
sich religiöse Wahrheitsansprüche als solche Ansprüche auf eine irredu-
zible Sinnhaftigkeit unserer endlichen Praxis begreifen – christlich z. B. als
Glaube, Liebe und Hoffnung. Diese religiösen Ansprüche auf praktische
Wahrheit angesichts unserer Endlichkeit und Begrenztheit sind also, recht
verstanden, im Kern eine Erweiterung und Vertiefung unseres ver-
nünftigen Welt- und Selbstverständnisses im Bewusstsein unserer na-
turhaften Endlichkeit und nicht die Eröffnung eines Spielplatzes des Ir-
rationalen. Auch die Praxis der Erinnerung des Leidens und des Opfers in
der Geschichte ist Erweiterung humaner Vernunftansprüche ebenso wie
die gemeinsame Antizipation gelingender humaner Praxis in der für alle
ungesicherten, offenen Zukunft. So hat z. B. Hegel die Bestattungspraxis
als ehrende Fürsorge der Lebenden gegenüber den Toten interpretiert.
Diese kulturelle Praxis entzieht den Toten der unvernünftigen Macht der
bloßen Natur und der ihn entehrenden Verwesung, damit auch sein
letztes Sein nicht allein der Natur angehöre und etwas Unvernünftiges
bleibe, sondern dass es ein Getanes, und das Recht des Bewusstseins im
Toten behauptet sei.8 Die Bestattungspraxis und die ehrende Fürsorge
sind ersichtlich nichts Irrationales, sondern sie sind gerade die Ausdeh-

8 Vgl. dazu: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phnomenologie des Geistes, Hamburg
6
1952, 322 f..
246 Teil 1. Religionsphilosophie

nung praktischer Vernunft im Sinne der Achtung und Anerkennung der


personalen Würde des Toten über seine physische Vernichtung hinaus.
Was religiös und theologisch nun über Unbedingtheit, Ewigkeit, All-
macht, Gnade und Rettung gesagt wird, das hat in solchen praktischen
Kontexten seine Basis. Im praktischen Verständnis ist humaner Lebens-
sinn unbedingt und daher auf nichts reduzierbar und von nichts dedu-
zierbar.
Wir können also von einer Glaubens- und Vertrauensbasis der
Vernunft sprechen, die wir selbst nicht mehr garantieren können. Die
praktische Einsicht in diese Garantielosigkeit können wir aus philoso-
phischer Sicht als religiöse Grundeinsicht bezeichnen. Sie hat sich in den
geschichtlichen Religionen kulturell ausgeformt, institutionalisiert und
stabilisiert, unter Einschluss aller misslungenen oder verzerrten Formen.
Ich halte es für angeraten, die philosophische Metasprache hier bewusst
möglichst karg zu halten, denn sie würde andernfalls authentische
Sinntraditionen sprachlich unangemessen wiedergeben und usurpieren.
Ich weise aber darauf hin, dass mein Verständnis der authentischen
Wahrheitsansprüche von Religionen: dieser Anspruch bestehe in der
Vergegenwärtigung des konstitutiven Konnexes von Negativität und Sinn,
Negativität und Vernunft, Negativität und Moralität, dass dieses Ver-
ständnis z. B. auch alle sogenannten Naturreligionen einschließt, insofern
sie eine kultische und rituelle Vergegenwärtigung der Naturphänomene
eben als Grundlage ihrer spezifischen humanen kulturellen Praxis und
Vernunftorientierung unternehmen. Keinesfalls darf also der Eindruck
entstehen, als würde ich eine enge, wiederum reduktionistische, ratio-
nalistische Unterbestimmung von Religion anstreben. Vernunft und
Unvernunft sind in der Geschichte nicht nach einem primitiven Schema
verteilt. Wie vernünftig eine Praxis jeweils war oder ist, das lässt sich nicht
leicht von außen oder von oben beurteilen.
Auf die erörterte Weise und im Blick auf die Grenzen der Vernunft
lässt sich religiöse Praxis jenseits von Irrationalismus, Dogmatismus und
Fundamentalismus als Vergegenwärtigungspraxis humanen Sinns ange-
sichts und inmitten seiner konstitutiven, strukturellen Naturhaftigkeit,
Endlichkeit, Begrenztheit und Fragilität verstehen, unter Einschluss der
praktischen Einsicht in seine ständige Gefährdetheit und dauerhafte
Entzogenheit und angesichts faktischen Scheiterns. Das Bilderverbot, der
bildlose ethische Monotheismus, die Rede vom Tod Gottes, die Rede
vom deus absconditus, die negative Theologie – sie sind in der griechisch-
christlichen Tradition große Ausprägungen dieser Vernunfteinsicht, die
noch deren strukturelle Negativität mit einbegreift. (In diesem Sinne
Negativität und Rationalität 247

sagte Luther, Glauben heiße auf dem Nichts stehen.) Aber auch wenn wir
den Buddhismus betrachten, begegnen wir diesem konstitutiven Zu-
sammenhang von Negativität und Sinn. Die Intensität der Vergegen-
wärtigungspraxis dieses Zusammenhangs lässt westliche Interpreten rasch
mit dem missverständlichen Etikett des „Nihilismus“ operieren, wo es in
Wirklichkeit um vernünftige praktische Einsichten geht.
Wir können angesichts der Vernunftansprüche der Religionen von
einer Kultur praktischer Einsichten z. B. in die unvordenkliche Existenz
der Welt und der Natur, in die Transzendenz, d. h. die erkenntnismäßige
Unerreichbarkeit unseres eigenen Wesens und in unsere sowohl unga-
rantierbare als auch lebenssinnkonstitutive Orientierung an Vernunft,
Wahrheit und Moral sprechen. Eine grundlegende systematische Reli-
gionsphilosophie kann zeigen, dass die Verbundenheit der religiösen
Wahrheit mit negativen praktischen Einsichten gerade in klassischen
Ansätzen prägnant herausgearbeitet wurde: z. B. in der Analyse des
„Anrennens gegen das Paradoxon“ bei Kierkegaard und Wittgenstein
oder, anders, in der Praxis des Zen-Koans im Buddhismus. Bei näherer
Betrachtung ließe sich zeigen, dass das credo quia absurdum auf der gleichen
Ebene wie das credo ut intelligam liegt, wenn es um die negative Einsicht in
die sinnkonstitutiven Grenzen unserer Vernunft geht und um das be-
freiende Selbstverständnis, das eine solche Grundeinsicht bewirken kann.
Befreiend deswegen, weil diese Einsicht von illusionären Selbstmiss-
verständnissen der Vernunft befreit.
Die kulturellen Modi der Vergegenwärtigung und lebenspraktischen
Transformation dieser Einsicht sind so komplex, weil alle Phänomene und
Probleme im Leben zum Paradigma ihrer Bedeutung und ihrer Verge-
genwärtigung werden können – auf der faktischen, auf der praktischen
und auf der begrifflich-sprachlichen Ebene. Als spezifisch religiöse Pra-
xisformen lassen sich auszeichnen: die meditative Vergegenwärtigung des
Konnexes von Negativität und Sinn im Blick auf die Totalität unseres
Lebens, die kongregativen Modi der Vergegenwärtigung im kultischen,
rituellen Rahmen, aber auch in der konkreten Lebenspraxis, schließlich
auch spekulative, theoretisch-reflexive und didaktische Modi wie die
theologische Sinnexplikation und die religiösen Lehr- und Lerntradi-
tionen in den großen Weltreligionen. Der ästhetische, sprachliche,
künstlerische und sinnliche Vergegenwärtigungsreichtum religiöser
Vernunft braucht nicht als überflüssiger Zierrat abgetan zu werden, denn
die angemessene Form der Vermittlung praktischer Einsichten gehört
konstitutiv zu ihrer Rationalität. Da sich ferner praktische Einsichten auf
unsere gesamte Praxis beziehen, kann religiöse Rationalität nicht allein im
248 Teil 1. Religionsphilosophie

Blick auf spezifisch religionsinterne Praxen (religiöse Sprache, Kulte,


Riten, Sakramente) thematisiert und beurteilt werden, sondern ebenso in
ihrer Bedeutung für den Alltag, die Sittlichkeit, für die moralische, soziale
und politische Entwicklung vernünftiger Lebensformen.
Nach dem Gesagten gibt es keine falschen Konkurrenzverhältnisse
zwischen philosophischen, wissenschaftlichen und religiösen Vernunft-
ansprüchen, sondern recht verstanden ein produktives Ergänzungs-,
Erweiterungs- und Vertiefungsverhältnis. Ich meine, dass sich dieses
produktive Ergänzungsverhältnis gerade im Paradigma einer Vernunft-
kritik und Negativitätsreflexion im Anschluss an Kant und Hegel, Hei-
degger und Wittgenstein entwickeln lässt. Glaubwürdige religiöse
Wahrheitsansprüche stehen nicht zuletzt für einen humanen Sinn, der
sich nicht in Geldwert ausdrücken lässt. Sie sind daher bleibend unver-
zichtbar. Entwickelt sich religiöse Vernunft nicht weiter, so stellen sich
jedenfalls bald schlechte Surrogate ein. Deswegen sollte Philosophie am
religiös-theologischen Diskurs produktiv teilnehmen.
Sie muss sich dann aber auch kritisch gegen repressive und dogma-
tische Formen von Religion wenden und die im ersten Teil des Vortrages
erläuterten Missverständnisse aufklären helfen.

Postskriptum:
Einige Bemerkungen im Anschluss an die Diskussion meines Beitrags
auf der Frankfurter Konferenz:
Im Folgenden möchte ich einige weiterführende Anschlussüberle-
gungen kurz skizzieren, die sich aus den Diskussionen auf der Frankfurter
Konferenz für mich ergeben haben. Die Rückfragen und Anregungen
waren so vielfältig, dass eine gründliche und umfassende Ausführung
meiner Antworten eine neue, größere Abhandlung erforderlich machte.9

1. Um den von mehreren trotz meiner Abgrenzung religiöser Wahr-


heitsansprüche von Ansprüchen der Ethik und Moral erhobenen Vor-
wurf der Reduktion von Religion auf Ethik/Moral bzw. des „Kultur-
protestantismus“ (Habermas) zurückzuweisen, unterstreiche ich zunächst
noch einmal meine grundsätzliche Unterscheidung von
(1) theoretischer Intersubjektivitt (in Alltag und Wissenschaft),
(2) praktischer Transsubjektivitt (in Alltag, Moral, Recht und Politik)
und

9 Vgl. Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005.


Negativität und Rationalität 249

(3) religiöser und ästhetischer Konsubjektivitt (in Alltag, Kunst und


Religion).
In der Konsubjektivität ( jüdisch, christlich und moslemisch z. B. in
der Gemeinde) bleiben wir die konkreten, bedürftigen Individuen, die
wir sind, als Ganze und können diese konkrete Individualität dennoch in
einen Raum gemeinsamer Sinnorientierung einbeziehen, der anders und
umfassender ist als der durch theoretische Begründungen und praktische
Rechtfertigungen eröffnete Raum. Geburt und Tod, Scheitern und Sinn,
Liebe und Vergeblichkeit sind hier einbegriffen in kommunikativer
Praxis.
In rational-rekonstruktiver Perspektive können wir mit Hegel von
einer Aufhebung der Moralitt in der Religion sprechen: (I) im Sinne einer
Überwindung und Befreiung von Moral, von Normen, von Ge- und
Verboten, von Schuld und schlechtem Gewissen; (2) im Sinne eines
durch diese Befreiung erst eröffneten und ermöglichten auch moralisch
gelingenden Lebens; (3) im Sinne eines auf diese Weise eröffneten bes-
seren, umfassenderen Verständnisses der Moral und damit des ganzen
Lebens, das die „correctness“ hinter sich lässt und die gesamte Kritik der
philosophischen Moralanalysen (Marx, Nietzsche, Freud) integrieren
kann.

2. Eine zweite weitreichende Rückfrage ( Jürgen Habermas, Otto Kall-


scheuer, Ludwig Nagl, Thomas M. Schmidt) betrifft das Verhältnis
meiner rationalen philosophischen Rekonstruktion religiöser Wahrheits-
und Geltungsansprüche zu den faktischen Religionen und den Selbst-
verständnissen religiöser Menschen, die in der Regel ja nicht philoso-
phieren, und sie betrifft somit auch den Status von Religionsphilosophie.
So fragte J. Habermas: „Soll sich ein Christ darin wiederfinden können?“
Auf meine bejahende Antwort bemerkte O. Kallscheuer: „Dann ist es
unvollständig.“ In der Tat! Meine Analyse ist im Wesentlichen negativ-
kritisch und, was die „positiven“ Inhalte von Religion anbetrifft, zu-
nächst formal-strukturell angelegt. Das negativ-kritische Verfahren
grenzt die falschen und irrationalen Verständnisse aus, und lässt damit den
Platz für die richtigen Verständnisse frei bzw. eröffnet ihn. Das „Positive“
der richtigen Verständnisse kann so zunächst nur formal-strukturell
aufgewiesen werden. Es kann demgegenüber in der Philosophie keine
allgemeine Theorie der Religion in Analogie zu empirischen und ex-
planatorischen religionswissenschaftlichen, religionstheologischen oder
religionssoziologischen Theorien geben. (Zu einer möglichen ,positiven‘
Metaphysik s. unter 3.) Es geht vielmehr zunächst darum, die Konsti-
250 Teil 1. Religionsphilosophie

tution (bzw. die Grammatik) spezifisch religiöser Vernunft mitsamt deren


genuinen Praxisformen paradigmatisch zu verdeutlichen. Die Praxis selbst
ist konkret und wird immer geschichtlich-kulturell, existentiell und in-
terexistentiell ausgeformt und situiert sein. Es ist nicht sinnvoll, deduktiv
und von außen an solche Praxis heranzugehen, auch nicht schematisch
mit einem geschichtsphilosophischen Modell „vom Mythos zum Logos“,
vom Aberglauben zur Aufklärung, von Entfremdung zu Säkularisierung,
ohne genau die Kontexte zu erfassen. Durch europäische Rationalisie-
rungsprozesse und westliche Aufklärung, der im Wesentlichen auch
religionsphilosophische Reflexion entstammt, kann eine die Authenti-
zität fremder und alter Praxisformen verzerrende oder verfehlende me-
tasprachliche Thematisierung konkreter Religionen nahegelegt werden.
Sinnkriterial und in hermeneutischer Selbstreflexivität gilt es, solche
falschen metasprachlichen Zugriffe zu vermeiden. Die angemessenen
Formen, religiöse Verständnisse und Selbstverständnisse zu klären (ein-
schließlich des eigenen religiösen Selbstverständnisses), sind konkrete
Kommunikation und, soweit möglich, sogar aktive Partizipation an der
religiösen Praxis. Diese konsubjektive kommunikative Praxis kann kaum,
schwer oder gar nicht durch theoretische, objektivierende Zugangs-
weisen allein ersetzt werden.
Man könnte sagen: Wie der Glaubende sich zu philosophischen
Rekonstruktionen seiner Religion stellt, das kann nicht vorab antizipiert
werden. Jedenfalls ist die philosophische Reflexion nicht selbst eine – nur
besonders vernünftige – Form von Religion, sondern eine kritische
Klärungsbemühung.
Religiöse, aber auch areligiöse Menschen sollten sich mit dem, was an
ihrer Sprach- und Lebenspraxis sinnvoll und vernünftig ist, in der phi-
losophischen Rekonstruktion wiederfinden können – bei hinreichender
Einübung und Vertrautheit mit Philosophie. Ansonsten aber gilt: Phi-
losophie ist zwar auch eine existentielle Sonderpraxis, aber die Religio-
nen sind jahrtausendealte kulturelle Lebensformen, an denen Milliarden
Menschen in konkreten Vollzügen partizipieren. Ohne diese praktische
Realitt gäbe es kein Material religionsphilosophischer Reflexion.
Das Verhältnis Religionsphilosophie – Religionen darf man sich
daher nicht zu einfach, zu schematisch vorstellen. Behelfsmäßig können
folgende Ebenen unterschieden werden:
(1) Faktische religiöse Sprachspiele und Lebensformen in Geschichte
und Gegenwart (einschließlich ihrer eigenen Reflexionskultur, ihrer
Theologien, Erläuterungstraditionen);
Negativität und Rationalität 251

(2) ,Interne‘ hermeneutische Rekonstruktion der intrinsischen Au-


thentizität dieser Praxen unter Berücksichtigung aller konkreten Kon-
texte; damit verbunden
(3) Religionsphilosophische rational-sinnkriteriale, ,externe‘ Beur-
teilung der Rationalität der jeweiligen religiösen Praxis.
Ich gebe allen Kritikern Recht, die das Desiderat einer weiterge-
henden Klärung des Verhältnisses dieser Ebenen einklagten. Auf diesem
Hintergrund ist aber die vorgängige Zielbestimmung von Religions-
philosophie als Religionskritik einerseits, als hermeneutischer Rekonstruk-
tion des vernünftigen Wahrheits- und Geltungssinnes von Religion an-
dererseits zu unterscheiden. Religionsphilosophie soll Sinn wie Unsinn der
Religion klären helfen – so, wie politische Philosophie zu Politik,
Rechtsphilosophie zum Recht, Wissenschaftsphilosophie zur Theorie
und Praxis der Wissenschaften steht. Deswegen bedarf es hier wie dort der
gründlichen Kenntnis der internen Verfasstheit der thematischen Sinn-
traditionen. Gerade angesichts der religionsphilosophischen Thematik
und ihrer fundamentalen und universalen Problematik kündigt sich im
Hintergrund im Übrigen ein dringliches weiteres Desiderat an: das einer
erneuerten Architektonik bzw. Topologie der Vernunft.

3. Dies führt auf einen dritten Fokus der Diskussion; in ihm bündeln sich
Fragen (v. a. von Nagl, Kaufmann, Honnefelder) nach einer möglichen
positiven Sinnexplikation genuin religiçser Vernunft insbesondere in ihrer trans-
ethischen Dimension. Mein Vortrag akzentuiert die Differenz von Religion
und Moral bei deren gleichzeitiger enger Verklammerung. Ludwig Nagl
macht in seinem Kommentar auf die Linie Kant – Peirce – James –
Putnam aufmerksam und kritisiert meine Distanzierung von Kants Me-
tasprache der Postulatenlehre. Ich stimme mit ihm darin überein, dass eine
„Hoffnungslogik“ im Kontext der unverfügbaren, unsicherbaren Sinn-
bedingungen unseres praktisch-vernünftigen gemeinsamen Lebens zum
Kernbereich religiöser Vernunft gehört. Ob im Messianismus, ob in den
Eschatologien und Soteriologien, ob in der Befreiungstheologie oder
auch in den Konzeptionen anamnetischer Solidarität – die Unverzicht-
barkeit der Hoffnungsdimension ist einer der „harten“ Gründe und
Fundamente der Religionen. Deswegen ist die These, an der „Schnitt-
stelle von Praxisende und Hoffnung“ zeige sich so etwas wie religiöse
Tiefe, ganz in meinem Sinne. Die Nachfrage nach der positiven Expli-
kation der Grundzüge der emphatischen, ekstatischen Vernunft reicht
aber noch weiter. „Wie verhalten sich metaphysikkritische Negativität
und emphatische Vernunft („ekstatisches Denken“) zueinander?“ – so
252 Teil 1. Religionsphilosophie

fragt Nagl zu Recht. Und ich stimme ihm auch darin zu, dass meine
Prätention, über Kant hinauszudenken, „erst dann stimmig (würde),
wenn wir im Optionenkatalog diversifizierter Analysen humaner Gel-
tungsansprüche ein differenzierteres Instrumentarium besäßen als das
einer – nicht nur theoretizismuskritischen, sondern auch transethisch
verfassten – Kantischen Hoffnungslogik“.
Hier berührt sich die Aufgabe der Religionsphilosophie mit einer
systematischen Rekonstruktion, Rehabilitierung und Fehlentwicklung
der Metaphysik bzw. näherhin der philosophischen Theologie. Von der
traditionellen metaphysica specialis scheint ja vielerorts nur noch der
Freiheitstraktat in modernen Varianten ,detranszendentalisiert‘ zu über-
leben. In der religionsphilosophischen Reflexion auf die transpragmati-
schen Sinnbedingungen unserer Praxis stoßen wir allenthalben auf
Transzendenzbezüge, die den Rahmen der Immanenz überschreiten,
durchbrechen und sprengen. Gerade die genuin religiösen Praxen: Z.B.
supererogatorische Opfer, Riten, Kulte, Gebet, Gesang, Meditation,
Vergebung, Beichte – eröffnen der Vernunft einen Bereich, der ohne sie
tendenziell der Sprachlosigkeit, der Trostlosigkeit und Sinnlosigkeit, der
bloßen Negativität, der Banalität oder kruder Faktizität anheimfiele und
überantwortet bliebe. Insofern wird Vernunft hier ekstatisch. Wird sie
damit im Kantischen Sinne „überschwänglich“ und „entfremdet“ sie sich
ihrem eigenen Bereich – oder kommt sie so zu sich selbst? Über eine
Hoffnungslogik hinaus setzen hier Fragen ein, die zum Projekt einer
Rehabilitation der Metaphysik und auch philosophischer Theologie nach Kant
und Hegel, nach Marx, Nietzsche und Freud sowie (in meiner Sicht)
nicht ohne Heidegger, Wittgenstein und Adorno führen müssen. Im
Gegensatz zu vielen Gegenwartsphilosophen, die wie Rorty und Ha-
bermas im Konsensus mit Reduktionisten, Positivisten und Szientisten
vom „Ende der Metaphysik“, vom „nachmetaphysischen Denken“, vom
„Abschied vom Prinzipiellen“ (O. Marquard) bzw. Absoluten sprechen,
halte ich eine kritische Rezeption der solchermaßen flächendeckend allzu
leichtfertig abgetanen Traditionen für philosophisch viel wichtiger und
interessanter als die zu Gemeinplätzen gewordenen Formeln des Totsa-
gens (Tod Gottes, Tod des Subjekts, Ende der Geschichte, usw.). Es gilt
demgegenüber, die Rationalitätspotentiale der metaphysischen Sinn-
grenzreflexion und Sinngrundreflexion wieder neu zu erschließen und
weiterzuentwickeln, ohne deren Vorarbeit ja auch die Kantische Re-
volution gar nicht erst verstehbar wäre. Eine kritische Rehabilitation der
metaphysischen und philosophisch-theologischen Reflexion hätte eine
umfassende Neubestimmung von Transzendenz wie auch des Verhält-
Negativität und Rationalität 253

nisses von Transzendenz und Immanenz zu unternehmen. In der Per-


spektive einer solchen philosophischen Grenz- und Grundreflexion läge
dann auch die Freilegung der Tiefenstruktur religiöser Vernunft an der
Basis aller kulturellen und geschichtlichen Ausformungen von Religion
einschließlich areligiöser, völlig säkularisierter oder ,nihilistischer‘ Le-
bensformen.
Erst, wenn diese Grundfragen zumindest im Ansatz einer systema-
tischen Lösung zugeführt werden: die präzise Verhältnisbestimmung der
religionsphilosophischen Rekonstruktion zu den konkreten historischen
Religionen (unter Einschluss der Relativismus-Universalismus-Proble-
matik) einerseits, die ,positive‘ sinnkritische Explikation des genuinen
Kerngehaltes religiöser Sinn- und Wahrheitsansprüche im Kontext einer
Bestimmung des möglichen vernünftigen Sinns der Rede von Trans-
zendenz, vom Absoluten und von Gott andererseits, erst dann wird auch
das genuin transethische Potential religiöser Vernunft voll erfasst werden
können.

Die Fragestellung meines Beitrages nach den spezifischen, irreduziblen


Wahrheitsansprüchen religiöser Vernunft führte somit in der Diskussion
auf zwei weitreichende Anschlussprobleme: auf die Frage nach dem
Verhältnis von Philosophie und Religionen einerseits, auf die Frage nach
dem Verhältnis gegenwärtiger kritischer Philosophie zu ihrer eigenen
Herkunft und Geschichte, zu Metaphysik und philosophischer Theologie
andererseits. Diese Fragen, davon bin ich überzeugt, kommen neu auf uns
zu.10

10 Vgl. Thomas Rentsch, „Religiöse Vernunft. Kritik und Rekonstruktion. Sys-


tematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik“, in: ders., Negati-
vitt und praktische Vernunft. Frankfurt a.M. 2000, 180 – 209; ders., „Worin be-
steht die Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche? Religion und negative
Metaphysik“, in diesem Band; ders., „Transzendenz und Sprache. Der Mensch
in Verhältnis zu Grenze und Sinngrund der Welt“, in diesem Band; ders.,
„Wieder nach Gott fragen?, Thesen und Analysen zur Rehabilitation philoso-
phischer Theologie“, in diesem Band; ders., Gott, A.a.O.
Worin besteht die Irreduzibilität religiöser
Wahrheitsansprüche? Religion und negative
Metaphysik
1. Die hermeneutische Irreduzibilität

Religion ist die Tiefendimension von Rationalität. Diese Behauptung


möchte ich im Folgenden begründen.
Wahr sind Sätze, die sich im Zweifelsfall oder bei Nachfrage argu-
mentativ begründen lassen. Sinnvoll sind praktische Orientierungen, die
sich einsichtig machen und rechtfertigen lassen. Solche Sätze und Ori-
entierungen beziehen sich auf die im Prinzip allen vernünftigen Men-
schen vertraute Wirklichkeit einer gemeinsamen, sprachlich erschlosse-
nen Welt. Die allen gemeinsame Welt, die im Prinzip vernünftig
zugänglich ist, ist nichts Statisches, sondern ständig im Wandel begriffen
und sehr unterschiedlichen Perspektiven und Interpretationen zugäng-
lich. Alle Dissense und Relativismen, so spannungsvoll sie auch sein
mögen, haben nur auf dem Hintergrund dieser gemeinsamen Welt-
Wirklichkeit einen Sinn, lassen sich nur auf diesem Hintergrund ver-
stehen.
Auch religiöse Wahrheitsansprüche und Orientierungen beziehen
sich auf diese gemeinsame menschliche Welt und bewahrheiten sich in ihr
oder sie stellen sich als letztlich falsch, als illusionär oder autoritär heraus.
Bereits innerhalb der Fülle und Komplexität geschichtlicher Religions-
formen lassen sich deshalb im Prinzip authentische und mit anderen
Formen von Rationalität vereinbare von defizienten Formen unter-
scheiden: so steht Glaube neben Irrglaube und Aberglaube, Funda-
mentalismus und Dogmatismus stehen neben befreienden und deshalb
humanen Formen religiöser Praxis, Gott stand und steht gegen viele
Götzen, authentische Wunder stehen neben spektakulären Mirakeln,
politisch funktionalisierter religiöser Fanatismus steht gegen eine Reli-
gion, die in den Anderen in universaler Perspektive Freunde, Brüder und
Schwestern sieht.
Die Kriterien vernünftiger Religiosität und ihrer Wahrheits- und
Geltungsansprüche sind dabei zunächst einmal keine anderen als dieje-
nigen sonstiger Lebensorientierung in der Wirklichkeit einer gemein-
Religion und negative Metaphysik 255

samen Welt. Kurz: Es ging und es geht überall mit rechten Dingen zu,
auch wenn z. B. alte Traditionen andere sprachliche Weisen der Ver-
gegenwärtigung ihres Welt- und Selbstverständnisses und andere kulti-
sche und rituelle Übungen praktizierten. Dass es mit rechten Dingen
zuging, ist auch der Grund dafür, dass wir ferne wie auch fremde religiöse
Zeugnisse in ihrem internen Wahrheits- und Authentizitätsanspruch
verstehen können, ohne diesen Anspruch noch selbst in ihrer Form zu
übernehmen und zu vertreten. Wir leben weiß Gott nicht mehr unter
dem altgriechischen Götterhimmel. Dennoch wissen wir, je nach Bil-
dungshorizont, etwas anzufangen mit Zeus, Apollon und Dionysos, mit
Aphrodite, mit Pan und Poseidon. Diese Götter beziehen sich auf in-
tensive Lebenserfahrung und Lebenswirklichkeit, und wir verstehen den
Sinn dieser Gestalten, ihre existentielle Bedeutung, die ganz unabhängig
ist von ihrer nur vermeintlich von dieser Bedeutung separierbaren,
bloßen „Existenz“. Wir können sagen: Die alten Griechen haben sich so
ausgedrückt, um das ihnen Wichtige im Leben auf anspruchsvolle Weise
zu artikulieren. Auch der scheinbar oft bizarre Götterhimmel des alten
Ägypten besetzt ganz verständlich die Stellen existentieller Lebenswirk-
lichkeit; so steht Bastet mit dem Katzenkopf für Fröhlichkeit, Festlich-
keit, Liebe und Freude; die Göttin Maat ist die Inkarnation der Wahrheit
und Gerechtigkeit – mit ihr wird das Herz der Verstorbenen gewogen;
selbst Toeris, dargestellt als aufrecht stehendes trächtiges Nilpferd mit
gehörntem Krokodilskopf und Sonnenscheibe, Schwanz und Löwen-
beinen, sie ist die Göttin der Frauen, der Wochenstube und der
Wöchnerinnen. Als gutmütige Beschützerin hält sie das Lebenszeichen in
der Hand und stützt sich auf das Zeichen für Schutz und Beistand. All dies
ist eminent vernünftig, verstehbar und sinnvoll als intensiver Ausdruck
letzter, grundlegender Lebenswirklichkeiten: Liebe und Freude, Wahr-
heit und Gerechtigkeit, Fruchtbarkeit und schutzbedürftiges Men-
schenleben. Die religiöse Sprache bildet somit keine noch über oder unter
der normalen Welt I vorhandene Welt II repräsentationalistisch ab. Dies
wäre eine vorhandenheitsontologische bzw. vorhandenheitssemantische,
metasprachliche Fehldeutung religiöser Rede und Praxis, die leider sehr
verbreitet ist. Vernünftig ließe sich sagen: die Rede und die Darstel-
lungsformen von Toeris artikulieren auf emphatische Weise die Wahrheit
über die Schwangerschaft, das Wochenbett und die Geburt im alten
Ägypten, und damit eingeschlossen die Wahrheit über den angemessenen
praktischen Umgang mit diesen Lebenswirklichkeiten par excellence.
Auf emphatische Weise; das heißt auch: es wird eine hçhere Wahrheit
artikuliert, die in ihrem ganzheitlichen Anspruch Faktizität, Normativität
256 Teil 1. Religionsphilosophie

und Praxis auf sinnvolle Weise umgreift. Gerade deswegen wird dieser
höheren Wahrheit ja auch eine ganz besondere Ausdrucksform und ri-
tuelle Sonderpraxis zugeordnet. Denn die Schutzgöttin verdichtet die
menschliche Lebenswirklichkeit von Schwangerschaft, Empfängnis und
Geburt, in der das Faktische, das Normative und das Praktische, kurz: das,
was geschieht und das, was wir tun können und tun müssen, untrennbar
verbunden sind. Die Ebene der hçheren Wahrheit ist deshalb nicht un-
vernünftig oder gar widervernünftig. Sie übersteigt zunächst einmal die
bloß verstandesmäßig objektivierbare Ebene. Es wäre ein Fall von her-
meneutischer Blindheit, würde man der Rede und der Praxis, die diese
Lebensschutzgöttin Toeris konstituiert und umgibt, vorwerfen, sie
stimme ja nicht mit unseren zoologischen Kenntnissen über Krokodile
und Nilpferde überein. Das wäre eine grundsätzliche Ebenenverwechs-
lung, denn Wahrheitsansprüche über das konkrete Tierleben im Nil der
damaligen Zeit werden mit dieser Rede und Praxis nicht erhoben, wohl
jedoch lebenspraktische Wahrheitsansprüche hinsichtlich dessen, was gut
ist im Hinblick auf Schwangerschaft, werdende Mütter, Empfängnis und
des Berufsethos der altägyptischen Hebammen.
Ich nenne diesen Aspekt des Wahrheitsanspruches religiöser Rede
mitsamt ihrer sinnkonstitutiven Praxisverwobenheit ihre hermeneutische
Irreduzibilitt. Das heißt auch: wenn wir diese Rede und Praxis berhaupt
verstehen wollen, so müssen wir zunächst einmal ihre interne Logik, mit
Wittgenstein, das Sprachspiel begreifen. Gerade deswegen habe ich ein so
entlegenes Beispiel gewählt. Ersichtlich ist das Verstehen und Begreifen
der internen Logik hier nicht notwendig mit der Übernahme der kon-
kreten kultischen und rituellen Verehrungspraxis einer solchen Gottheit
verbunden. Hier ist es anders als mit geläufigen z. B. arithmetischen oder
empirischen, z. B. medizinischen Wahrheitsansprüchen, die viel stärker,
wenn auch nicht gänzlich kulturunabhängig sind. Es gilt: Je mehr
Wahrheitsansprüche mit der gesamten inneren Komplexität einer kul-
turellen menschlichen Lebensform verbunden sind, desto vorausset-
zungsreicher ist ihr Verständnis, desto unverzichtbarer ist die Kenntnis
ihres praktischen Kontexts.
In unserer westlichen Zivilisation werden viele ältere religiöse Le-
bensformen durch modische, industriell vermarktbare Kulte und Praxen
ersetzt. Eine große Gottheit heißt hier „Leben“: Leben, life, fitness,
wellness, fun, Spaß. Diese Gottheit des unbeschwerten Lebensgenusses,
mit den kleineren Göttern der Jugend, des Konsums, der Freizeit, des
Urlaubs, der Reisen und der sportlichen Aktivitäten ist zwar sehr mächtig.
Sie bestimmt das Lebenssinnverständnis vieler Menschen, und wer würde
Religion und negative Metaphysik 257

sich über einen solchen faktischen Polytheismus bzw. Hedonismus


ernstlich wundern. (Woran jemand sein Herz hängt, das ist sein Gott, sagt
Luther.) Trotzdem vermag die Hedonē letztlich leider nichts gegen Alter,
Krankheit und Tod. Dementsprechend erhalten sich auch bei den sehr
diesseitig polytheistischen Menschen traditionelle Formen der Toten-
bestattung und der Grabpflege. Deren praktischer Wahrheitsanspruch ist
evident. Er wird an folgender Anekdote indirekt greifbar. Bei den Sioux-
Indianern wird der Verstorbene mit Speise und Trank versehen, als ob er
noch lebte. Ein weißer Amerikaner, vermeintlich besonders aufgeklärt,
fragte einmal einen Sioux, den er bei solch frommem Tun beobachtete:
„Bildest du dir ein, dass der Tote heraufkommt und dein Essen verzehrt?“
Antwort des Indianers: „Ebenso wie du dir einbildest, dass dein Toter an
den Blumen riecht, die du auf sein Grab pflanzt!“ Der aufgeklärte
Amerikaner hatte das religiöse Tun schlicht nicht verstanden. Schlimmer
noch: Er sah nicht die Nhe seiner eigenen Praxis zu der von ihm als illu-
sionär missverstandenen Handlungsweise des Indianers. Angesichts der
Totenbestattung und der Grabpflege lässt sich etwas vom irreduziblen
Sinn religiöser Einstellungen verdeutlichen. Wo wir, wie man so sagt,
eigentlich nichts mehr machen können, handelt es sich (mit Hegel ge-
sprochen) um eine ehrende Fürsorge der Lebenden gegenüber den
Toten. Diese ehrende Fürsorge als kulturelle Praxis – Hegel spricht von
ihr als der „Bewegung des Bewusstseins“ der Familie – diese Fürsorge
entzieht den Toten der unvernnftigen Macht der bloßen Natur und der
ihn entehrenden Verwesung, damit auch sein letztes Sein, dies allgemeine
Sein, nicht allein der Natur angehöre und etwas Unvernnftiges bleibe,
sondern dass es ein getanes, und das Recht des Bewusstseins im Toten
behauptet sei:
Die Blutsverwandtschaft ergänzt also die abstrakte natürliche Bewegung
dadurch, daß sie die Bewegung des Bewusstseins hinzufügt, das Werk der
Natur unterbricht, und den Blutsverwandten der Zerstörung entreißt, oder
besser, weil die Zerstörung, sein Werden zum reinen Sein, notwendig ist,
selbst die Tat der Zerstörung über sich nimmt. – Es kommt hierdurch zu
Stande, daß auch das tote, das allgemeine Sein ein in sich zurückgekehrtes, ein
Frsichsein, oder die kraftlose reine einzelne Einzelheit zur allgemeinen Indi-
vidualitt erhoben wird. Der Tote, da er sein Sein von seinem Tun oder
negativen Eins freigelassen, ist die leere Einzelheit, nur ein passives Sein fr
anderes, aller niedrigen vernunftlosen Individualität und den Kräften ab-
strakter Stoffe preisgegeben, wovon jene um des Lebens willen, das sie hat,
diese um ihrer negativen Natur willen jetzt mächtiger sind als er. Dies ihn
entehrende Tun bewußtloser Begierde und abstrakter Wesen hält die Familie
von ihm ab, setzt das Ihrige an die Stelle, und vermählt den Verwandten dem
258 Teil 1. Religionsphilosophie

Schoße der Erde, der elementarischen unvergänglichen Individualität; sie


macht ihn hierdurch zum Genossen eines Gemeinwesens, welches vielmehr
die Kräfte der einzelnen Stoffe und die niedrigen Lebendigkeiten, die gegen
ihn frei werden und ihn zerstören wollten, überwältigt und gebunden hält.
Diese letzte Pflicht macht also das vollkommene gçttliche Gesetz, oder die
positive sittliche Handlung gegen den Einzelnen aus.1
Die Praxis der Bestattung und der ehrenden Fürsorge ist ersichtlich nichts
Irrationales, sondern gerade die Ausdehnung praktischer Vernunft im
Sinne der Achtung und Anerkennung der personalen Würde des Toten
über seine physische Vernichtung hinaus. Wir könnten die Reste ja auch
schlicht „entsorgen“, uns viel Arbeit ersparen! So, wie der irreduzible
Sinn der Schutzgöttin Toeris im Blick auf die jedem Menschen unver-
fügbare Geburt und die sie umgebende Praxis verständlich wird, so er-
halten Bestattung und Grabpflege mit ihren vielen praktischen Weite-
rungen des ehrenden Gedenkens und der liebevollen Erinnerung ihren
Sinn mit Bezug auf unsere Sterblichkeit.
Das Irreduzible im emphatischen Wahrheitsanspruch religiöser Rede
und Praxis kann philosophisch zunächst als ihr praktischer Wahrheitsan-
spruch im Verbund mit einem transpragmatischen Lebensbezug bestimmt
werden. Das verbindet sie, wie wir noch sehen werden, mit Traditionen
europäischer Metaphysik. Es handelt sich darum, dass Vernunftansprüche
über unsere technisch-pragmatischen und instrumentellen Handlungs-
möglichkeiten hinaus vertieft und erweitert werden. Eine solche ekstatische
Vernunft bezieht auch noch ihre eigenen transpragmatischen Sinnbedingungen in
das Selbstbewusstsein ihrer kulturellen Praxis mit ein. Die transpragmatischen,
unsere Handlungsmöglichkeiten nicht nur übersteigenden, sondern auch
ermöglichenden und bestimmenden Aspekte unseres Lebens, z. B. Ge-
burt und Tod – noch formaler: die zeitliche Endlichkeit unseres Daseins –
sind kulturinvariant, die Art und Weise des Umgangs mit ihnen ist in
hohem Maße kulturkovariant. In diesem kulturkovarianten Umgang mit
den transpragmatischen Sinnbedingungen vernünftigen Lebens zeigt sich
der kreative Entwurfscharakter ekstatischer Vernunft. Dieser kreative Ent-
wurfscharakter verbindet die ekstatische religiöse Vernunft seit den
Zeiten des Mythos mit Dichtung, Poesie, mit ästhetischen Ausdrucks-
und Vergegenwärtigungsformen, von den altägyptischen Sonnenhym-
nen bis zur islamischen, bildlosen Architektur und bis zur Gestaltungs-
praxis der Zen-Gärten, um nur einige Beispiele zu nennen. In diesen

1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phnomenologie des Geistes, Hamburg 61952,


322 f.
Religion und negative Metaphysik 259

kulturkovarianten Vergegenwärtigungsformen der transpragmatischen


Sinnbedingungen einer menschlichen Welt zeigen sich der ganze
Reichtum und die komplexe Binnendifferenziertheit ekstatischer Ver-
nunft.
So gliedert sich die endliche Zeitlichkeit des Lebens in die wei-
chenstellenden Phasen der Geburt, der Namengebung, der Reife, der
Ehe und Empfängnis, des Umgangs mit dem Altern und den Alten, in
Sterben und Tod. Diese weitgehend invarianten Lebensbedingungen
verlangen gleichwohl einen Umgang mit ihnen, einen praktisch ver-
nünftigen Umgang, um es mit Hegel zu sagen. Denn: Verhalten müssen
wir uns zu diesen unverfügbaren Bedingungen unseres Lebens, es fragt
sich nur, wie. Zu diesen Bedingungen gehören nicht nur die faktischen,
sondern auch die praktischen Bedingungen, die z. B. in unserer Tradition
als Individualität, moralische Verantwortung und personale Würde be-
zeichnet werden. Auch zu ihnen können und müssen wir uns noch
einmal verhalten: zu unserer Schuld, zu unserer Vergangenheit, zu dem,
was wir in unserer endlichen Zeit als unseren Lebenssinn entwerfen.
Geburt und Tod, Tag und Nacht, die Sexualität sind „natürliche“ Phä-
nomene unseres Lebens. Aber auch sie gibt es nicht „an sich“, sondern nur
so, wie wir uns, kulturell und sprachlich vermittelt, zu ihnen verhalten. In
traditionellen Kulturen war dieses Verhalten in hohem Maße verbindlich
institutionalisiert. So verehrten die Kelten spezifische Übergangsphä-
nomene und Doppelaspekte der Wirklichkeit: die blutige Placenta,
Morgen- und Abenddämmerung, zweigeschlechtliche, janusköpfige
Gottheiten. Ein staunendes, meditatives, verehrendes Verhältnis zu
grundlegenden Lebenswirklichkeiten zu kultivieren, zu Wirklichkeiten,
die unserem vernünftigen Handeln ermöglichend vorausliegen: Sensi-
bilität für das Unerklärliche unseres Lebens wachzurufen: dass wir ge-
boren wurden, als Frau oder Mann, in eine Welt hinein, in der es Morgen
und Abend gibt – auch darin besteht die irreduzible Authentizität vieler
religiöser Traditionen und Zeugnisse. Ihre auf solche Wirklichkeiten
bezogenen internen Wahrheitsansprüche machen sie hermeneutisch ir-
reduzibel als Zeugnisse ekstatischer Vernunft.
Die hermeneutische Irreduzibilität gilt auch dann, wenn die Zeug-
nisse aus alten oder aus uns ferneren Kulturen stammen und nicht unsere
eigenen sind. Ihrer humanen Dignität tut dies keinen Abbruch, wo sie
Ausdruck des nicht weiter Erklärlichen, religiös: des Wunders der
Existenz sind. Die kulturelle Variabilität religiöser Sprach- und Lebens-
formen ist groß; die Form und das Gewicht, die jeweilige geschichtliche
Lebensformen dem Umgang mit lebenssinnkonstitutiver Wirklichkeit
260 Teil 1. Religionsphilosophie

geben, kann sehr unterschiedlich sein. Das hängt von sehr vielen sons-
tigen Faktoren ab, tangiert aber nicht den Wahrheitsanspruch sich viel-
fach wandelnder religiöser, ekstatischer, sich für ihre eigenen transprag-
matischen Sinnbedingungen öffnender Vernunft.
Die bisherige Analyse führte zu folgendem Ergebnis. In religiöser
Praxis, in religiösen Sprach- und Lebensformen bekundet sich die Ein-
sicht in transpragmatische Sinnbedingungen menschlichen Lebens und
auch menschlicher Vernunft. Ihr Wahrheitsanspruch besteht also, recht
verstanden, nicht in etwas Irrationalem, Nichtvernünftigem oder Un-
vernünftigem oder gar Widervernünftigem, sondern – in der Perspektive
der Sinnbedingungen von Vernunft selbst – in etwas Transrationalem,
Übervernünftigem, das keineswegs unvernünftig ist. Wenn die religiöse
Rede und Praxis bekennend, bezeugend und betend, rituell und sakra-
mental, meditativ und kongregativ den ungeschuldeten Geschenkcha-
rakter aller Wirklichkeit artikuliert und kultiviert – und zwar unter
Einschluss der ethischen und moralischen Wirklichkeit – dann lässt sich
solche Praxis als kulturell gestaltete, gelebte Einsicht in die transpragmatischen
Sinnbedingungen einer humanen Welt verstehen. Wo sie dies nicht ist – in
Fanatismus, Dogmatismus und den vielen Irrationalismen, von denen alle
menschliche Praxis durchsetzt ist, wo sie politisch funktionalisiert oder
zur Aufrechterhaltung ethisch und politisch verurteilenswerter Verhält-
nisse instrumentalisiert wird –, da kommt es zu Perversionsformen, die
der Kritik um willen des genuinen Wahrheitsanspruchs von Religion zu
unterziehen sind.

2. Negative Metaphysik: Die anthropologisch-praktische


Irreduzibilität

Wir können uns diesem Wahrheitsanspruch auch von einer nicht-reli-


giösen Perspektive aus annähern, nämlich aus der Perspektive der Phi-
losophie. Diese lässt sich seit ihrer antiken Entstehung im Kern und im
Wesen durch die Jahrhunderte hindurch als kritische Sinngrenzreflexion und
damit als Sinngrundreflexion verstehen. Theologisch redet die Philosophie
bei Platon und Aristoteles bekanntlich lange vor der Entfaltung einer
spezifisch christlichen Metaphysik; und weder Kants transzendentale
Kritik noch Hegels Dialektik, weder Heideggers Fundamentalontologie
noch Wittgensteins sprachkritisch-mystische Grenzziehung sind ohne
theologische Kontexte und religiöse Quellen, Hintergründe und Bezüge
Religion und negative Metaphysik 261

verstehbar. Philosophie und Religion, Metaphysik und Theologie ge-


hören zusammen zur Einheit der europäischen Vernunftgeschichte.
Worin besteht diese Einheit und wie lässt sie sich – möglichst kurz –
charakterisieren? Ich sehe diese Einheit zentral in negativen praktischen
Einsichten angelegt, deren praktische, ethische Bedeutung für unser ver-
nünftiges Welt- und Selbstverständnis, insbesondere auch für unser
Freiheitsverständnis entscheidend ist. Dramatisch ließe sich für diesen
Zusammenhang an das Diktum Nietzsches anknüpfen, am Beginn des
Abendlandes stehe der Tod zweier Männer: Sokrates und Jesus. Die
negativ-kritischen praktischen Einsichten, die nach meiner Auffassung
für die europäische Vernunftgeschichte konstitutiv sind, sind zentral
vorgeprägt im biblischen Bilderverbot, im sokratischen Nichtwissen und
in der Verkündigung des Kreuzestodes des menschgewordenen Gottes.
Das Bilderverbot entfaltet eine insbesondere im Verbund mit der Ethik
ungeheure rationalitätskonstitutive, freisetzende und kritische Dynamik.
Das sokratische Nichtwissen erst setzt den freien, gemeinsamen und dialo-
gischen Entwurf kommunikativer Rationalitätsformen in Wissenschaft,
Recht, Technik und Politik frei. Der Zusammenhang von Metaphysik
und Politik bildet sich hier aus. Der Kreuzestod Jesu und das Bleiben der
Gemeinde in der Liebe stellt ein einzigartiges religions- und kultur-
gründendes Ereignis (auch der Befreiung) dar.
Auch ohne direkten Religionsbezug geht es in der Philosophie mit
Kant um die „Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft“, die er
als anthropologia transcendentalis2 bezeichnet: das heißt, es geht um die
selbstreflexiv-kritische Analyse der Sinnbedingungen und Grenzen un-
seres Denkens, Erkennens und Handelns. Diese Reflexion auf die
sinnkonstitutiven Grenzen der menschlichen Welt berührt sich aber
immer wieder mit religiösen Erfahrungen und Einsichten. Solche Be-
rührungspunkte lassen sich nach meiner Auffassung systematisch neutral
zunächst in Form folgender negativ-praktischer Einsichten fassen:

(1.) Es ist zunächst die Einsicht, dass wir das Ganze der Welt nicht
erkennen können. Erst recht steht uns das Ganze der Welt handelnd nicht
zur Verfügung. Nur partiale Aspekte der Welt sind uns, selbst wiederum
nur sehr partial, diskursiv-zeitlich, perspektivisch-räumlich, kurz: durch
und durch endlich und zeitlich begrenzt zugänglich. Kantisch und als

2 Immanuel Kant, Kants Opus Postumum, hg. von Artur Buchenau, Berlin 1936,
Nr. 9132.
262 Teil 1. Religionsphilosophie

negative Metaphysik formuliert: Die Welt ist kein Objekt möglicher


Erfahrung.
(2.) Es ist ferner die Einsicht, dass wir auch uns selbst, unser Wesen,
nicht erkennen und nicht zur Gänze objektivieren können. Würden wir es
versuchen – und wir tun es auf diskursiv-endliche Weise immer wieder –,
so wären es doch wieder wir selbst, die handelnd unobjektivierbarer
Grund dieser Objektivationsleistungen sind. Weder uns selbst, noch die
Anderen können wir anders denn gebrochen kommunikativ transparent
machen. Kantisch und als negative Metaphysik bzw. negative Anthro-
pologie formuliert: Wir selbst und auch unser moralisch-praktisches
Wesen sind keine Gegenstände möglicher Erfahrung.
(3.) Es ist schließlich die negativ-praktische Einsicht, dass wir auch die
praktischen Sinnbedingungen unserer Orientierungspraxis, und das ist
insbesondere die Sprache, mit der wir „Höheres“ (Wittgenstein), die
Ideen bzw. die Transzendentalien, das „Wahre“, das „Gute“ zumal, zu
artikulieren suchen, dass wir über diese idealen Sinnbedingungen unserer
Weltorientierung nicht pragmatisch und technisch verfügen, obwohl wir
sie ständig in Anspruch nehmen und auch in Anspruch nehmen müssen.
Wir sind auf vorbildlose Sinnentwürfe angewiesen, obwohl unsere Mittel
dazu durch und durch endlich, begrenzt, empirisch und geschichtlich
bedingt sind.

Diese Negativitt der menschlichen Selbst- und Welterkenntnis, ihrer fakti-


schen wie praktischen Sinnbedingungen ist ein zentrales systematisches
Verbindungsglied von philosophischer und religiöser Vernunft. Aber erst
dann, wenn wir den Zusammenhang von Endlichkeit und Ethik, von
Negativitt und praktischer Vernunft noch deutlicher herausstellen, erst dann
können wir auch die praktisch-vernünftige Irreduzibilität religiöser
Wahrheitsansprüche noch präziser fassen, ihr den Anschein von Relati-
vität und Beliebigkeit nehmen.3
Was wir theoretisch nicht erkennen können und worüber wir
pragmatisch nicht verfügen, dazu können und müssen wir uns dennoch
praktisch, in freien Entwrfen, verhalten. Das gilt insbesondere angesichts
der genannten drei Bereiche negativ-praktischer Einsichten. In einer
negativen Metaphysik können wir die hier ganz formal aufgewiesenen
Aspekte auch als die Transzendenz der Welt, die Transzendenz der An-
deren, die Transzendenz unserer selbst und des eigenen Lebenssinnes
sowie als die Transzendenz des Guten und des Wahren im emphatischen

3 Vgl. Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000.
Religion und negative Metaphysik 263

Sinne bezeichnen. Diese Transzendenzen, die eine negative Metaphysik


(bzw. anthropologia transcendentalis) formal auszeichnen kann, sind
gleichzeitig Möglichkeitsbedingungen einer menschlichen Welt und
Praxis. Dass sich historisch gerade die europäische Philosophie- und
Theologiegeschichte im Bereich einer negativen bzw. transzendentalen
Metaphysik und negativen Theologie tiefgreifend berührt haben und in
den großen Entwürfen dieses Jahrhunderts weiter berühren, hat syste-
matisch seinen entscheidenden Grund in diesem Zusammenhang von
Negativität und Sinnkonstitution. (Ausführlich wäre dies im europäi-
schen Kontext an der Rezeption der Platonischen Ideenlehre, an der
Geschichte der negativen Theologie und der Trinitätstheologie sowie an
der Herausbildung der Transzendentalienlehre zu zeigen. Ein früher
exemplarischer Autor ist in diesem Zusammenhang z. B. Pseudo-Dio-
nysios Areopagita, weil bei ihm die philosophische, die ontologische und
die theologische Thematisierung der Transzendenz-Aspekte bereits
charakteristisch aufeinander bezogen wird.)
Bringen wir diese Überlegungen auf den Punkt: Gerade das, was
erkenntnismäßig theoretisch unerkennbar, pragmatisch entzogen und
unverfügbar ist, was wir nicht können und nicht wissen, bildet und erçffnet
den endlichen Freiheitsspielraum praktischer Anerkennungsvollzge der Trans-
zendenz-Aspekte in der Immanenz einer humanen Welt.
Dieser Freiheitsspielraum praktischer Anerkennung von Trans-
zendenz (inmitten der Immanenz – wo sonst?) ist der Spielraum, in dem
sich religiöse Vernunft (und auch Unvernunft) entfalten kann. Sie setzt,
recht verstanden, die negativ-praktischen Einsichten in die sinnkonsti-
tutive Endlichkeit unseres Denkens, Erkennens und Handelns voraus.
Trotzdem ist es sinnvoll, religiöse Vernunft auch nach-Kantisch über
Kant hinaus als ekstatische zu bestimmen. Denn sie eröffnet sich in
praktischer Anerkennung den unverfügbaren Sinnbedingungen unserer
Existenz, erweitert und vertieft ein vernünftiges Welt- und Selbstver-
ständnis. Keineswegs ist mit der Erweiterung und Vertiefung der Ver-
nunftperspektive im praktischen Anerkennen des Unerklärlichen ein
,Überschwänglichwerden‘ im Sinne von Aberglaube und Irrationalismus,
Dogmatismus und Fundamentalismus notwendigerweise verbunden.
Kants Rekonstruktion scheint mir hier zu restriktiv, zu moralistisch
enggeführt zu sein. Entscheidend ist, dass die mit den negativ-praktischen
Einsichten aufgezeigten Transzendenz-Aspekte im Sinne einer negativen
Metaphysik durch religiöse Traditionen meditativ und kongregativ in be-
stimmte Formen praktischer Anerkennung transformiert werden. Das
heißt, sie bilden sich kulturell als kommunikative Lebensformen aus. In
264 Teil 1. Religionsphilosophie

diesen kommunikativen Lebensformen werden z. B. in allen Weltreli-


gionen Einstellungen zum Ganzen der Welt als Schöpfung, als nicht
weiter erklärbares Wunder aller Wunder, dass überhaupt etwas ist, kul-
tiviert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das ökologische
Bewusstsein unserer dauerhaften Angewiesenheit auf die natürlichen
Lebensgrundlagen auf einem kleinen Planeten als Errungenschaft mo-
derner Wissenschaft gefeiert. Mit Erstaunen nimmt man aber wahr, dass
die religiöse Vernunft dieses Wissen schon seit mythischen Zeiten arti-
kuliert, dass sie eine praktische Anerkennung der Erde als großem Le-
bewesen einschließlich ihrer Achtung und Schonung eben ekstatisch
einschließt und als Weisheitstradition überliefert hat.
Die Kultur der praktischen Anerkennung der Transzendenz der Welt,
wie sie in den Schöpfungslehren ihren Ausdruck fand, steht dabei, recht
verstanden nicht in Konkurrenz zu naturwissenschaftlichen, verstan-
desmäßigen und technischen Weltzugängen des Menschen. Es geht dieser
Kultur nicht um die theoretische Welterklärung einzelner innerweltli-
cher Phänomene – um das, was Verstand und Empirie sinnvoll zu er-
reichen vermögen. Es geht darum, dass das Ganze der Wirklichkeit – auch
in ihrer unumstößlichen Faktizität und mitsamt allen Erklärungen un-
erklärlich und ein einziges Wunder bleibt. Als Luther gefragt wurde, was
Gott vor der Schöpfung getan habe, antwortete er deshalb, Gott sei an die
Elbe gegangen, Ruten zu pflücken, um diejenigen damit zu verprügeln,
die solche Fragen stellen.
Jedenfalls ermöglicht und eröffnet der Aspekt der Transzendenz der
Welt und der Unumstößlichkeit der Wirklichkeit sowie der Angewie-
senheit allen Lebens auf seine natürlichen Grundlagen ekstatisch ver-
nünftige Formen des Schöpfungsverständnisses, des Pantheismus, der
Naturmystik und der Weltfrömmigkeit. Als authentische Haltung un-
terliegt vernünftige Liebe zur Natur keinen entfremdungstheoretischen
oder funktionalistischen Depotenzierungen.
Ebenso steht es mit der praktischen Anerkennung der unverfügbaren
Sinnbedingungen unserer Existenz im Bereich der Mitmenschlichkeit und
in unserem Verhältnis zu uns selbst, zur vernünftigen Selbsterkenntnis.
Recht verstanden, sind uns die Mitmenschen in ihrer Freundlichkeit und
Hilfe, in ihrer Solidarität, Treue, Liebe und Freundschaft pragmatisch
nicht verfügbar. Und das macht gerade den transfunktionalen Sinn hu-
maner Gemeinschaft aus. In existentiellen Notsituationen, in Schmerz
und Schuld, in Leiden, Sterben und Tod wird dieser interpersonale
Transzendenz-Aspekt trotz aller Verrechtlichungen und sozialen Siche-
rungssysteme auch in den reichsten Gesellschaften des Westens andau-
Religion und negative Metaphysik 265

ernd neu und unüberbietbar evident. Kern ekstatischer Vernunft war und
ist hier die Kategorie des Opfers, ihre negativ-praktische Grundeinsicht
die, dass ungeschuldete Opfer die humane Welt wesentlich ausmachen – und
tragen. Die Opfer mitsamt ihrer Leidensgeschichte tragen mithin das, was
trotz der heillosen Menschengeschichte der Weltkriege, von Holocaust
und Hiroshima, trotz Kosovo und Ost-Timor im vernünftigen Be-
wusstsein zu behalten ist. Dass es Opfer, Solidarität und die Achtung und
Rettung des Anderen als des einzelnen, konkreten Mitmenschen doch
inmitten unvorstellbarer Verhältnisse gab und gibt, davon leben auch alle
sinnvollen Weiterentwicklungen einer humanen Welt. Dass es solche
Weiterentwicklungen geben wird, das ist nicht garantiert und das können
wir nicht wissen, sondern das ist unüberbietbar auf Hoffnung gestellt.
Ekstatische Vernunft entfaltet sich zeitlich und endlich somit in den
Formen des Eingedenkens und der Hoffnung inmitten einer praktisch be-
griffenen Gegenwart. Ein Leben in der gemeinsamen Hoffnung auf
Frieden gehört zu ihrem Kernbereich.
Hier wird auch sichtbar, dass angesichts der Negativität der Trans-
zendenz-Aspekte auch Haltungen des Nihilismus, der Resignation und
der Verzweiflung verständlich und verbreitet sind. Sie gehören zur Frei-
heitsdimension religiöser Vernunft.
Die einmalige, endliche Ganzheit menschlichen Lebens ist irredu-
zibel auf technisch herstellbare Verhältnisse und instrumentell erreichbare
Formen von Wissen. Die Unwiederbringlichkeit und Irreversibilität der
Vergangenheit, der schwindende Augenblick und die Offenheit und
Unbestimmtheit der Zukunft ermöglichen Verantwortung und Schuld,
Verfehlung und moralisches Scheitern, das nicht zu tilgen ist. Diese
Verschränktheit von Endlichkeit, Unbedingtheit und (moralischem) Sinn
bewusst zu machen und kulturell in Formen gelebter kommunikativer
Praxis meditativ und kongregativ bewusst zu halten, ist eine spezifische
Leistung religiöser Vernunft. Sie vermag für die ethischen Aspekte so-
zialer Transzendenz zu sensibilisieren. Die Traditionen des ethischen
Monotheismus in Judentum, Christentum und Islam stehen auch für
diese Kultivierungsleistung, die eine Daueraufgabe der werdenden
multikulturellen Weltgesellschaft ist und bleiben wird. Dazu braucht es
mehr denn je ein Bewusstsein von der Ferne, der Entzogenheit und der
Würde des Anderen und der Achtung des Fremden in seiner Alterität. Die
universalistischen Potentiale der religiösen, ekstatischen Vernunft spre-
chen von den Anderen als Geschöpfen Gottes, als Brüder und Schwes-
tern. Der praktische Wahrheitsanspruch dieser Sprache ist funktionalis-
tischen Depotenzierungen vollends inkommensurabel.
266 Teil 1. Religionsphilosophie

Ekstatische religiöse Vernunft öffnet sich schließlich und macht


sensibel für die Transzendenz des Augenblicks und für gegenwärtige
Tiefe und Fülle der Wirklichkeit, für die Unerschöpflichkeit aller Ge-
genwart, wie sie in den mystischen Traditionen artikuliert und meditativ
kultiviert wurde und wird. Hier hat die religiöse, vernehmende Vernunft
auch Verbindung mit ästhetischer Erfahrung. Die meditative religiöse
Vernunft öffnet sich ekstatisch der Tiefe und Ferne, der Nähe und der
Fülle der unendlichen Gegenwart, wie sie in der Stille und im Innehalten
erfahrbar wird, in einer Stille, in der wir davon befreit werden, noch etwas
machen zu müssen, und in der trotzdem alles da ist.
Ekstatische religiöse Vernunft öffnet der diskursiven Vernunft eine
Tiefendimension, die sie nicht zerstört, sondern, recht verstanden, in-
tensiviert, und ohne die sie auf Dauer arm und formal bliebe. Sie macht
nämlich empfänglich für die zeitliche Endlichkeit und Fragilität allen
Lebens, für die Ferne und Fremdheit der Anderen als Voraussetzung jeder
Nähe, für die uneinholbare Tiefe jedes Individuums und für die Fülle des
Augenblicks. Sie hält damit ein Bewusstsein von Unendlichkeit und
Ewigkeit inmitten der Zeit fest, das zur Vernunftperspektive dazugehört
und zur Kritik am Verfehlen humanen Sinns befähigt.

3. Vernunft und Zukunft der Religion

Ich fasse zusammen. Religiöse Wahrheitsansprüche lassen sich im Kern als


praktische Einsichten in die transpragmatischen Sinnbedingungen einer
humanen Welt verstehen. Diese Einsichten betreffen die kosmologi-
schen, die natürlichen, die existentiellen und die ethischen Möglich-
keitsbedingungen einer humanen Lebenspraxis. Ein Verhalten zu diesen
Bedingungen, zu diesen Transzendenz-Aspekten kann kulturell vor allem
meditativ und kongregativ entwickelt werden, in einer eigenen Sprache
zumal. Die unbestimmte Negativität der Sinnbedingungen wird auf diese
Weise kreativ in eine lebbare Praxis transformiert. Insofern ist Religion
auch nicht nur ein Beispiel kultureller Sinngebung, sondern deren aus-
gezeichnetes Paradigma. Der Entwurf von Sprachen und Bildern für die
unverfügbaren Sinnbedingungen entspringt letztlich der endlichen
Freiheit des Menschen. Die Formen religiöser Vernunft, die sich so
kulturell entfalten konnten, stehen nicht in einem Konkurrenz und
Depotenzierungsverhältnis zu anderen Modi einer komplex binnendif-
ferenzierten Vernunft, sondern in einem Ergänzungs-, Vertiefungs- und
ekstatischen Erweiterungsverhältnis. Religion ist die Tiefendimension von
Religion und negative Metaphysik 267

Rationalitt, einer Tiefendimension, die von funktionalistischen oder


entfremdungstheoretischen Depotenzierungen ebenso wenig eingeholt
wird wie, auf anderer Ebene, große Kunst, Metaphysik und Philosophie.
Ein Leben im Bewusstsein der Unerklärlichkeit der Welt, der Uner-
klärlichkeit des Grundes unserer Erkenntnis- und Handlungsmöglich-
keiten, im Bewusstsein der unableitbaren Sinnbedingungen von Ethik,
endlicher Freiheit und Autonomie und im Bewusstsein der kommuni-
kativen Transzendenz von Sprache als Möglichkeitsbedingung von Sinn
– ein solches Leben ist nicht seiner selbst entfremdet, sondern im Ge-
genteil noch vertraut mit den Sinnbedingungen seiner selbst.
Zwei abschließende Fragen: Wie steht es mit argumentativen Ver-
hältnissen innerhalb religiöser Vernunft und mit Blick auf andere Ver-
nunftformen? Und, zweitens, wie steht es, wenn das Gesagte zutrifft, mit
der Zukunft der Religion?
Zum ersten. Es gibt sowohl vernünftige Kriterien für die religionsin-
terne, z. B. christliche Verständigung über Wahrheitsansprüche, als auch
für die interreligiöse Diskussion. Um dies nur anzudeuten: Zum Beispiel
müssen sich vermeintlich privilegierte Zugänge zu dieser Wahrheit,
Autoritätsansprüche, kritisieren lassen. Auch der Appell an eine Ge-
fühlsbasis oder die Beanspruchung einer besonderen Eingebung sowie
Auslegungsmonopole sind kritikbedürftig. Interreligiçse Diskussionen
können z. B. die Gewichtung meditativ-kontemplativer Kultivierung
von Transzendenz-Aspekten (Wege der Selbstbefreiung) im Vergleich
mit den ethischen Aspekten der Transzendenz (Wege der Liebe) be-
treffen. Um es interreligiös zu sagen: Es gibt mehrere Wege, der Weg ist
das Ziel und alles hat seine Zeit. Schließlich können und müssen sich die
religiösen Vernunftaspekte gegen Formen einer Verabsolutierung des
Vorläufigen wenden, gegen totalitäre Ideologien, gegen Politik als Re-
ligionsersatz. Die negativen praktischen Einsichten setzen, recht ver-
standen, Politik in der säkularisierten Welt frei; aber sie verbieten
grundsätzlich, etwas Innerweltliches, Empirisches als ein Absolutes zu
setzen. Verschiedentlich wurde deswegen neuerlich zu Recht auf den
Zusammenhang von negativer Theologie und Politik hingewiesen (im
Sinne einer „leeren Stelle des Sakralen“ bei Claude Lefort, bei M.
Gauchet und Agnes Heller).4 Religiöse Sinnkritik kann und muss sich

4 Vgl. dazu Agnes Heller, „Politik nach dem Tode Gottes“, in: Jörg Huber/Alois
M. Müller (Hg.), Instanzen/Perspektiven/Imaginationen, Frankfurt a.M./Basel
1995, 75 – 94; und Thomas Rentsch, Art. „Theologie, negative“, in: Joachim
268 Teil 1. Religionsphilosophie

gegen überzogene Ansprüche an die begrenzten Möglichkeiten von


Politik, Ethik, Recht und Kunst wenden. Sie kann lehren, mit Enttäu-
schung, Schuld und Leiden, mit unserer unüberwindbaren Begrenztheit
zu leben, ohne Zynismus, Resignation oder Verzweiflung das letzte Wort
zu lassen. Auch das ist vernünftig.
Wie steht es nun, wenn meine These zutrifft, mit der Zukunft der
Religion?
Nach dem Gesagten gilt, dass der irreduzible Wahrheitsanspruch
religiöser Rede und Praxis auch und gerade angesichts von Neuzeit,
Aufklärung und Moderne bestehen bleibt. Religiöse Einsichten folgen
einer anderen Entwicklungslogik als die Prozesse quantitativer Steige-
rung; ebenso wird keine Wissenschaft und keine Technik jemals die
aufgezeigten transpragmatischen Sinnbedingungen einer humanen Welt
ersetzen können. Vor allem gilt es, primitive Bilder von der Weltge-
schichte ebenso wie auch zu simple Vernunftkonzeptionen hinter sich zu
lassen. Epochen sind keine Großbehälter, in die eine geschichtliche
Menschheit auf einer Zeitgeraden hinein- und dann wieder heraustritt.
„Vernunft“ und „Aufklärung“ auch „Fortschritt“ sind ja keine Eigen-
namen von Epochen, sondern Reflexionsbegriffe, die mit unserer Frei-
heitsgeschichte zu tun haben. Ein Titel wie „Religion nach der Aufklärung“
ist daher irreführend. Hier ist nichts „zu Ende“, sondern immer alles, was
authentische Geltung beanspruchen kann, von jeder Generation und auch
von jedem Einzelnen in seiner konkreten Lebenssituation neu zu entdecken und
zu gewinnen oder zu verlieren, und zwar weltweit. Die Vertiefung der
Vernunft durch Religion gehört sicher dazu. Sie lässt sich nicht vor-
wegnehmen, denn die Geschichte unserer vernünftigen Orientierungen
ist, Gott sei Dank, nicht abgeschlossen und unabschließbar.

Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Hist. Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel
1998, Sp. 1102 – 1105.
Negative Theologie, Transzendenz
und Existenz Gottes

1. Philosophische Theologie I: Negative Theologie


2. Philosophische Theologie II: Transzendenz
2.1. Die Transzendenz des Seins (der Welt) (Die ontologisch-kosmologi-
sche Transzendenz)
2.2. Die Transzendenz der Sprache (des Logos)
2.3. Die anthropologisch-praktische Transzendenz (Existentiell-interexis-
tentielle Transzendenz)
3. Philosophische Theologie III: Die absolute Transzendenz und die Existenz
Gottes und der Status des Wortes „Gott“.

Lange Zeit schien die Frage nach Gott aus dem Zentrum des philoso-
phischen Diskurses an den Rand gewichen zu sein. Religionsphilosophie
und das Gespräch zwischen Philosophie und Theologie waren bis in die
Mitte des vergangenen Jahrhunderts intensiv entwickelt. Dafür stehen
Namen wie Karl Barth, Rudolf Bultmann, Karl Rahner, Ernst Bloch,
Paul Tillich und Karl Jaspers. Nachdem aus vielen Gründen seit Mitte der
60er Jahre andere Themen in den Vordergrund rückten, ist mittlerweile
die Wiederholung der expliziten systematischen Reflexion auf die Frage
nach Gott in der Philosophie und im Blick auf gesellschaftliche und
interkulturelle Diskurse nötig, ja unverzichtbar geworden.1 Die Gründe
für diese Unverzichtbarkeit sind, ganz kurz gefasst: Erstens das immense
weltpolitisch bedeutsame Erstarken religiöser Fundamentalismen auf
christlicher wie islamischer Seite, zweitens das von Habermas so genannte
Phänomen des Postsäkularismus. Bei letzterem Phänomen handelt es sich
um ein treffendes Schlagwort für die Tatsache, dass sich auf Dauer die
existentiellen, ehemals metaphysischen Grundfragen nach dem Sinn des
Lebens und nach Gott nicht abweisen und verdrängen lassen. Vor we-
nigen Jahren noch hatte derselbe Habermas das „nachmetaphysische“
Zeitalter angekündigt, verkennend, dass es von den metaphysischen
Grundfragen und ihrer Bedeutung für die Praxis keinen Abschied in der
Reflexion geben kann, werden sie nun ontologisch, bewusstseinsphilo-

1 Die im Folgenden entwickelten Grundgedanken finden sich umfassend ausge-


führt in: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005.
270 Teil 1. Religionsphilosophie

sophisch oder sprachanalytisch behandelt, versuchsweise gelöst oder


theoretisch für unsinnig erklärt.
Für die Beantwortung unserer Frage muss in Erinnerung gerufen
werden, dass philosophische Theologie seit weit über 2000 Jahren im
Zentrum philosophischen Denkens steht: von Platon und Aristoteles bis
zu Kant und Hegel. Und: weder weltgeschichtlich noch ideologiepoli-
tisch haben sich säkulare Gesamtdeutungssysteme im 20. Jahrhundert
dauerhaft an die Stelle von Weltreligionen setzen können, obwohl sie dies
mit allen Mitteln versucht haben. Aber auch in befriedeten rechtsstaat-
lichen Demokratien blieb bei vielen Menschen ein Bewusstsein davon
erhalten, dass über letzte Fragen des Sinns und des Lebensverständnisses
auch nach wissenschaftlicher und politischer Aufklärung noch eigener
Klärungsbedarf besteht. Aus verdinglichungskritischer und entfrem-
dungstheoretischer Perspektive ist viel eher zu konstatieren, dass die sä-
kulare Moderne mannigfaltige Formen von Ersatzreligionen, von Kulten
und quasi-mythischen Projektionen auf alle Ebenen: der Kulturindustrie,
des Konsums, des Sports und der Lebensführung hervorgebracht hat,
deren irrationale Tendenz religiösen Fetischismen und Entfremdungs-
phänomenen nicht nachsteht. Auf dem blühenden Markt der Esoterik
und Magie berühren sich diese postsäkularen Phänomene denkbar
konkret.
Zu den Prolegomena einer Erneuerung kritischer philosophisch-
theologischer Reflexion zähle ich auch Substitute und Surrogate des
Absoluten, wie sie in der Philosophie an entscheidenden Orten der
Systematik bei den wichtigsten Philosophen der Moderne auftreten. Im
Rückblick ist dies nicht weiter überraschend, wenn man sich die Struktur
genuin philosophischer Sinngrenz- und Sinngrundreflexion vergegen-
wärtigt. Man könnte nach dem – mit Heidegger formuliert – modernen
„Schwund“ und „Fehl“ Gottes, nach den prominenten Anti-Theologien
von Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud von einem latenten Sys-
temzwang sprechen, den Ort des Absoluten, Gottes, dennoch zu beset-
zen. Solche Substitute des Absoluten in der modernen Reflexion sind das
„Sein“ Heideggers, das „Mystische“ und Unsagbare Wittgensteins, das
„Nichtidentische“ Adornos, die „ideale Kommunikationsgemeinschaft“
bei Apel und Habermas, die „Differenz“ und die „Spur“ bei Derrida. Es
lässt sich an diesen je eigentümlichen Basisbegriffen der philosophischen
Reflexion bei näherer Betrachtung genau zeigen, dass und wie sie
theologische, metaphysische Traditionen beerben und produktiv wei-
terdenken, oft, ohne diese Kontinuität selbst kritisch in ihre Reflexion
einzuholen. Das gilt im Kern für drei von mir transrational genannte
Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes 271

unhintergehbare Aspekte der Sinnkonstitution einer menschlichen Welt,


die ich auch als Transzendenz-Aspekte bezeichne: Dass überhaupt etwas
ist, dass wir sprachlich Sinn artikulieren können, dass wir in Strukturen
der Einmaligkeit existieren und selbst einmalige Individuen sind. Die
Substitute des Absoluten in der Reflexion der Moderne artikulieren je-
weils bestimmte Phänomene der Sinnkonstitution, die mit diesen
Transzendenz-Aspekten verbunden sind. Sie gelangen jedoch nicht zu
einer Perspektive, die die vorgängige Einheit und Ganzheit der Trans-
zendenz (ihre Gleichursprünglichkeit) und die damit ermöglichte Einheit
und Ganzheit einer menschlichen Welt denkt. Entweder wird die on-
tologische Differenz isoliert gedacht, oder die Transzendenz des Logos,
oder die begrifflich unerfassbare Individualität. Aber: die Sinnkonstitu-
tion einer menschlichen Welt lässt sich nur dann begreifen und begrifflich
erfassen, wenn die irreduzible Einheit und Gleichursprünglichkeit der
genannten Transzendenz-Aspekte begriffen wird. Das bedeutet für die
Philosophie auch: Grenzen und Einheit der Vernunft neu, in einer
Transzendenz-Perspektive zu denken.

1. Philosophische Theologie I: Negative Theologie


Auf diesem Hintergrund kann die Erneuerung philosophischer Theo-
logie in einem ersten grundlegenden Teil, einem pars destruens, als ein
kritisches Unternehmen systematisch präzisiert werden. In diesem kri-
tischen Teil werden alle sinnvollen religionskritischen Potentiale syste-
matisch konzentriert und rekonstruiert, um eine neue negative Theologie
zu entwickeln. Diese negative Theologie bereitet eine vernünftig er-
neuerte philosophische Theologie vor und enthält sie indirekt bereits.
Denn wenn wir falsche, partiale und irreführende Formen, Gott zu
denken, abweisen, dann erschließt sich im Ansatz bereits ein sinnvolles
Gottesverständnis. Negative Theologie ist philosophisch „mehr als die
halbe Miete“.
Die in der Tradition und Moderne verbreiteten Missverständnisse
lassen sich auf der Ebene der religiösen Praxis, auf der Ebene der
Theologien wie auf der philosophischen Ebene ausmachen. Sie gehören
so in gewisser Weise zum Verständnis der Gottesfrage hinzu. Ein erstes
Missverständnis ist das theoretisch-wissenschaftliche Verständnis der
Rede von Gott z. B. auf der Ebene der Physik und der physikalischen
Kosmologie. Die Rede von Gott und die Orientierung an Gott lassen sich
nicht als fundiert in empirisch verifizierbarem oder falsifizierbarem
272 Teil 1. Religionsphilosophie

wissenschaftlichem Tatsachenwissen verstehen. Die gegenwärtigen Be-


mühungen, die jüdisch-christliche Schöpfungstheologie wieder mit den
Ergebnissen der physikalischen Kosmologie zu verbinden, sind irrefüh-
rend und beruhen auf begrifflichen Konfusionen. Kurz: Jede Engführung
Gottes und der Rede von Gott auf naturwissenschaftlich messbare Fakten
in der Welt ist kategorial verfehlt. Ebenso verfehlt ist daher z. B. die
biblizistisch-fundamentalistische Meinung, es sei religiös geboten, gegen
die Ergebnisse der Evolutionstheorien zu Felde zu ziehen. Die philoso-
phisch sinnvolle Orientierung an Gott steht gleichermaßen gegen bloß
mythisch „fundierten“ Aberglauben als auch gegen Pseudo-Naturwis-
senschaften, die als Mythenersatz auftreten. Naive und primitive Got-
tesbilder bestimmen allerdings vielfach die Vorstellungen von Theisten
wie Atheisten. Eine neue religiöse Aufklärung wäre erforderlich, um sie
zu überwinden. Dabei muss bewusst sein, dass der Zustand der religiösen
Kultur und Bildung vielfach aus verschiedenen Gründen (kulturelle
Brüche, Traditionsverlust) sehr rückständig ist.
Daher überrascht es auch nicht, dass neben den oberflächlich-theo-
retischen, objektivistischen Gottesvorstellungen ebenso subjektivistische
Vorstellungen verbreitet sind. Während die einen Gott für wissen-
schaftlich beweisbar halten, pochen die anderen auf Wunder, Mirakel,
Visionen, besondere Eingebungen und exzeptionelle Erfahrungen. Die
Gotteserkenntnis hat es in der Tat, so lehrt die Tradition, z. B. Augustinus,
mit vertiefter menschlicher Selbsterkenntnis zu tun. Ferner bewegen sich
religiöse Orientierungen in der Tat auf der Ebene von Einsichten von
denkbar fundamentaler Tragweite und Lebensbedeutsamkeit. Aber
existentielle Ernsthaftigkeit und persönliche Glaubensgewissheit lassen
sich gerade nicht auf der Ebene des Subjektiven begreifen. „Ich glaube an
Gott.“ – Religiöser Subjektivismus ist außerstande, den Wahrheitsan-
spruch, den Wahrhaftigkeitsanspruch und den Geltungsanspruch solcher
Sätze und ihres Lebensbezugs verständlich zu machen. „Ich habe das
Gefühl, dass Gott die Welt erschaffen hat.“ „Ich spüre, dass es Gott gibt.“
– solche Sätze artikulieren nicht den in religiösen Bekenntnissen ge-
meinten Sinn. In modernen westlichen Demokratien ist die Meinung
verbreitet, Religion sei Privatsache. Die damit verbundenen Konnota-
tionen der Beliebigkeit verfehlen die eigentlich gemeinte Sache, die eine
Sache existentieller, persönlicher Ernsthaftigkeit, eine Sache freier Wahl
der Lebens- und Sinnorientierung ist. Es geht um höchst anspruchsvolle
Lebensorientierungen, die nicht in subjektiven Gefühlen und privaten
Vorlieben oder Gleichgültigkeiten gründen können, sondern nur in
Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes 273

transsubjektiven Wahrheitsansprüchen, die recht verstanden eine tiefe


Subjektivität erst ermöglichen.
Dieser Punkt lässt sich religionskritisch ebenfalls gegen Formen eines
Offenbarungspositivismus oder die Beanspruchung privater Zugänge zu
Gott durch besondere Erkenntniskräfte wenden. Vernunftkritisch be-
trachtet ist es genau umgekehrt: Um bestimmte Erfahrungen und Ge-
fühle als relevant im Blick auf die Gottesfrage und die Erkenntnis Gottes
überhaupt einschätzen, artikulieren und beurteilen zu können, sind be-
reits Gedanken über Gott mit Wahrheitsanspruch unbedingt nötig, die
sich nur in ganzen Sätzen artikulieren können. Diese Sätze müssen all-
gemein verständlich und selbst beurteilbar sein. Die großen mono-
theistischen Buchreligionen bestätigen dies auf die denkbar eindrück-
lichste Weise. In den Texten der Propheten Israels, in den Predigten Jesu,
in den Theologien des Paulus und Johannes, in den Suren des Koran wird
eine komplexe Rede von Gott mit Wahrheits- und Geltungsanspruch auf
höchstem kulturellem Niveau entwickelt. Diese Rede und der mit ihr
praktisch und grammatisch verbundene Sinn ist die Basis für mit ihr
verbundene religiöse Erfahrungen, und nicht etwa die Besonderheit oder
die bloß subjektive Evidenz dieser Erfahrungen. Die intersubjektiv
verständliche und mit der Alltagserfahrung verbundene religiöse Rede
von Gott beansprucht intersubjektive Wahrheit und Gewissheit.
Es ist in diesem Zusammenhang besonders bezeichnend, dass gerade
in Traditionen der Mystik, in denen außergewöhnliche Einsichten und
Durchbruchserfahrungen zentral sind, eine öffentlich zugängliche, in-
tersubjektive Sprache der Vermittlung solcher Einsichten verwendet wird
– sogar, um den Sinn des Schweigens begreiflich zu machen. Das gilt für
einen christlichen Mystiker wie Meister Eckhart, es gilt aber z. B. auch für
islamische Mystiker der Sufi-Tradition. Sie lehren: „Sprich zu uns nicht
von Visionen und Mirakeln, Denn solche Dinge haben wir lange hinter
uns. Wir erkannten sie alle als Illusionen und Träume, Und tapfer, un-
entwegt, gingen wir an ihnen vorbei.“2 Bedenken wir, was eine solche
inmitten einer großen Religion formulierte Religionskritik im Blick auf
heute auch im Westen verbreitetes modisches Verlangen nach spiritu-
ellen, esoterischen, ekstatischen Sondererfahrungen bedeutet. Um den
Gottesgedanken auf glaubwürdige Weise zurückzugewinnen, muss es aus
philosophischer Sicht möglich sein, Aberglauben und Scharlatanerie der
Sinnvermittlung von einem authentischen Gottesverhältnis zu unter-

2 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Gott, a.a.O., 25 ff.


274 Teil 1. Religionsphilosophie

scheiden. Das aber ist auf einer bloßen Gefühlsebene, im Medium des
Subjektivismus, unmöglich.
Ein weiteres Missverständnis im Blick auf die Gottesfrage besteht in
einem kulturellen Relativismus. Dieser liegt einem aufgeklärten und li-
beralen Selbstverständnis mit geschichtlicher Bildung und in einer Welt
der Globalisierung natürlich besonders nahe. Und ist es nicht gerade zu
von überwältigender Evidenz, dass die Gottesvorstellungen der Reli-
gionen einer diachronen wie synchronen Relativität unterliegen, dass sie
Produkt und Teil geschichtlicher Gesellschaftssysteme sind, ebenso wie
aufgeklärter Atheismus oder profane Gleichgültigkeit in religiösen
Dingen im modernen säkularen Staat? Aber diese Perspektive ist aus
philosophischer Sicht unbefriedigend, unzulänglich und oberflächlich. In
der Frage nach Gott und nach lebenstragender Wahrheit kann ich als
Philosophierender nicht, wie der Ethnologe, der Soziologe, der Histo-
riker, eine bloße Beobachterposition einnehmen. Relativismus ist nur ein
Subjektivismus im großen Stil, ein Bild, das sich aus der Beobachter-
perspektive ergibt. In lebensbezogenen, praktischen Belangen – auch z. B.
im Bereich der Ethik und der Moral – müssen wir in der philosophischen,
kritisch-hermeneutischen Reflexion eine Teilnehmerperspektive, eine
Perspektive persönlicher Betroffenheit und gerade darum eine Per-
spektive der Orientierung an Wahrheitsansprüchen, an allgemeiner
Vernunft und Geltung einnehmen. Gottesverständnisse wie überhaupt
religiöse Lebensformen lassen sich relativistisch nicht begreifen. Es ist
unmöglich, sie von außen und objektivistisch zu rekonstruieren.
Ebenso letztlich abzuweisen sind entfremdungstheoretische Analysen
des menschlichen Gottesverständnisses, wie sie in den schon klassischen
Ansätzen von Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud ausgearbeitet
wurden. Der Glaube und die Orientierung an Gott lassen sich nicht
einseitig als Wunschvorstellung, Symptom von Todesangst, Schuld-
komplexen und Projektionen des Unbewussten, als Reflex ökonomi-
scher Verhältnisse verstehen. Selbst, wenn solche Aspekte bei der Reli-
gionsentstehung eine Rolle spielten, selbst, wenn gegenwärtige
Religionen starke Entfremdungstendenzen aufweisen – auf sie ist das
Gottesverständnis nicht reduzibel. In diesem Zusammenhang ist es zu-
nächst wichtig, grundsätzlich festzustellen, dass es Religion und Got-
tesglaube in der Tat von Beginn an auch mit den tiefsten Ängsten und
Kümmernissen und mit der Todesangst zu tun haben – mit der End-
lichkeit des Menschen, mit den unumstößlichen Gegebenheiten seiner
Wirklichkeit: mit Schuld und Scheitern, mit irreversiblem Versagen, mit
den Grenzen des Lebens. Die entfremdungstheoretischen Deutungen
Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes 275

bezeugen wider Willen die Dignität der Gottesperspektive, wenn sie


deren Verbindung mit Angst, Verfehlung und Tod hervorheben.
Die Geschichte der Abschaffung der Sklaverei, die Geschichte der
modernen Emanzipationsbewegungen und z. B. der Befreiungstheologie
in den armen Ländern der modernen Welt zeigen, wie stark Formen der
Überwindung von Unterdruckung und Armut und Formen der Soli-
darität mit den Schwachen in den religiösen Traditionen selbst angelegt
sind. Die Perspektive der Gleichheit aller vor Gott und die praktischen
Konsequenzen des Gottesglaubens wurden in der Geschichte des
Abendlandes in die gesellschaftliche Gestaltung des kulturellen und zi-
vilisatorischen, rechtlichen und normativ urteilenden Bewusstseins auf-
genommen und unabhängig von ihrer Entwicklungsgeschichte pro-
duktiv, ja revolutionär weiterentwickelt. Das biblische Bilderverbot und
die Schöpfungslehre – der Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen –
begründen ineins mit der Botschaft von der Menschwerdung Gottes den
unendlichen Wert der einzelnen, einzigartigen Personalität und Indivi-
dualität jedes Menschen. Die irreversible weltgeschichtliche Bedeutung
dieses universalistischen Prozesses steht im Zentrum der europäischen
und mittlerweile globalen Entwicklung. Die Entfremdungstheorien der
Moderne ignorieren diese Freiheitsgeschichte der Sinntraditionen auf
holzschnittartige Weise.
Ein weiteres Missverständnis der Frage nach Gott und der damit
gemeinten Lebensorientierung besteht in einer funktionalen Sicht. Reli-
gionen haben aus soziologischer Sicht stabilisierende Funktionen für die
gesellschaftliche Praxis und das individuelle Leben. Insbesondere werden
große Lebensereignisse: Geburt, Taufe, Erwachsenwerden, Heirat und
Tod in ihnen rituell begangen und so bewältigt. Diese funktionale Sicht
ist wiederum als äußerlich und oberflächlich zu bezeichnen. Die Di-
mension, auf die die Gottesfrage weist, lässt sich nicht funktional ein-
holen. Die Überwindung eines instrumentalistischen Gottesverständ-
nisses gehört zum Kern einer glaubwürdigen religiösen Praxis. Man
könnte paradox formulieren: Authentischer Sinn „funktioniert“ erst
dann, wenn er eben nicht um seiner Funktion willen, sondern um seiner
selbst willen gesucht und begriffen wird. Bereits authentische interperso-
nale Verhältnisse – Freundschaft, Liebe, wechselseitige Achtung und
Anerkennung – gelingen nur so. Auch tragfähige moralische Lebens- und
Praxisformen sind ihrem Wesen nach nur nichtinstrumentalistisch zu
verstehen. Um so mehr gilt für ein Gottesverständnis, dass in seinem
Zentrum nicht-funktionale Welt- und Selbstverständnisse stehen. Die
Gottesperspektive hat es demgegenüber mit unerklärlichem und unge-
276 Teil 1. Religionsphilosophie

schuldetem Sinn zu tun, mit der Wahrnehmung des Unerklärlichen, das


Geschenkcharakter besitzt.
Ein weiterer zu kritisierender Ansatz, Gott zu denken, denkt ihn in
der Form einer Hypothese, einer Vermutung, einer Fiktion oder eines so
genannten Postulats. Solche Ansätze konzentrieren sich in einer Reli-
gionsphilosophie des Als-ob, die im Anschluss an Kant entwickelt wurde.
Insbesondere in Verbindung mit einer Kritik an der Leistungsfähigkeit
der Gottesbeweise – nach Kant können wir weder Gottes Existenz
theoretisch beweisen, noch sie widerlegen – lässt sich die Gottesper-
spektive als eine Art lebensdienliche, hilfreiche Annahme verstehen.
Auch ein augenzwinkernder Agnostizismus: „Ich probiere es doch ein-
mal, schaden kann es ja nicht“ wird von Manchen vertreten. Es gibt in der
zeitgenössischen Religionsphilosophie sogar wahrscheinlichkeitstheore-
tische Ansätze, so den von Swinburne. Er gelangt bei seinen Untersu-
chungen zu dem Ergebnis, dass bei Würdigung aller bekannten Tatsachen
hinsichtlich Schöpferkraft, Allmacht und Güte der Existenz Gottes eine
Wahrscheinlichkeit von über 50 % zukommt. Das genügt, um definitiv
an ihn zu glauben. Auch solche Denkweisen halte ich für tiefgreifend
verfehlt. Ich kann als Christ nicht sagen: „Ich lebe so, als gäbe es Gott,
seine Liebe und Gnade.“ Oder als Moslem: „Ich vermute einmal, Allah
sei der Allerbarmer.“ Es ist demgegenüber eindeutig, dass wir es bei der
wahrhaftigen Orientierung an Gott mit letzter Wirklichkeit zu tun haben,
dass die konkret mit dieser Orientierung verbundenen Geltungsansprü-
che unbedingt sind und sich weder als Fiktionen noch als Hypothesen
verstehen lassen. Und es ist auch ganz klar, dass eine philosophische
Theologie es im Zentrum mit unserem Wirklichkeitsverständnis zu tun
haben muss. Sie muss auf die Frage antworten, wie sich unsere Wirk-
lichkeit letztlich begreifen lässt.
Ebenso ist es verfehlt, der Rede von Gott einen nur praktischen,
ethischen Sinn zu geben. Dies ist so rational wie verlockend. Können wir
das Gottesverständnis auf vernünftige Praxis beziehen, dann können wir
alles Übrige – Mythologie, Metaphysik, transzendente Illusionen – eli-
minieren. Aufklärung, Vernunft und praktische Frömmigkeit wären
vereinbar bis zur Identität. Offenbarungspositivismus, Exklusivansprüche
einzelner Religionen, theologischer Dogmatismus und klerikale Herr-
schaft wären überwindbar. Es ist für unsere Thematik zentral, dass dieses
Wunschkind westlicher Zivilisation und Säkularisierung, wenn es auch
Wahrheitsmomente enthält, dennoch verfehlt ist. Vielmehr ist im Fol-
genden zu zeigen, dass eine grundlegende Differenz von philosophischer
Theologie und praktischer Philosophie, von Gott und dem Guten, Gott
Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes 277

und dem Gerechten, Gott und dem Glück besteht. Mehr noch: Erst,
wenn diese Differenz wirklich präzise deutlich wird, tritt die genuine
Ebene des Transzendenzbezugs, des Absoluten und einer spezifisch
philosophisch-theologischen Dimension von Wahrheit und Geltung in
den Blick. Denn der Kern religiöser Sprache besteht nicht in ethischen
Forderungen, sondern in transethischen, das Sein betreffenden Kategorien,
die die ethische Dimension aber freisetzen. Die Frage nach Gott hat es mit
Grenze, Grund und Sinn unseres Seins und mit unserem Welt- und
Selbstverständnis im Ganzen zu tun.
Mit diesen sieben Schritten einer zeitgemäßen modernen negativen
Theologie sind zunächst objektivistische, quasi-naturwissenschaftliche,
subjektivistische, psychologische, relativistische, entfremdungstheoreti-
sche, funktionalistische, fiktionalistische und moralistische Zugänge zur
Gottesfrage zurückgewiesen. Entscheidend ist, dass wir neben der Zu-
rückweisung Vertreter dieser Verständnisse mit ihren Gründen und
Motiven zugleich rekonstruieren und ihrerseits verstehen können sollten.
Die zurückgewiesenen Auffassungen führen Wahrheitsaspekte mit sich, die
in späteren Schritten im Hegelschen Sinne aufgehoben werden müssen,
ohne dass man bei ihnen stehen bleibt. Es handelt sich um Partialaspekte.
Um sie angemessen zu verstehen, benötigen wir eine philosophische
Theologie, eine Theologie, die eine begründete Antwort auf die Frage
nach Gott für die Gegenwart gibt.

2. Philosophische Theologie II: Transzendenz


In der philosophischen Theologie muss eine völlige Drehung und
Umkehrung funktionaler und instrumenteller Sichtweisen erfolgen. Eine
Orientierung an Gott im authentischen Sinne kann auch weder als ein
Fürwahrhalten absurder Tatsachen begriffen werden, noch als ein bloßes
Vermuten, es könne ja vielleicht so sein. Eine solche Orientierung kann
nur eine lebenstragende Grundgewissheit sein, ein sinneröffnendes und
Hoffnung gewährendes Grundvertrauen. Die Tradition unterschied hier
sehr präzise zwischen der Sicherheit, der securitas in weltlich-empirischen,
und der gewissmachenden Grundgewissheit, der certitudo in existentiellen,
personalen, geistlichen Dingen.
Meine zentrale These lautet: An der Grenze der philosophischen Ver-
nunfterkenntnis beginnt das Verstehen der Rede von Gott. Da, wie Hegel lehrt,
eine Grenze zu denken, heißt, sie zu überschreiten, gelangen wir so
zunächst zu einem Transzendenzverständnis inmitten der humanen Welt
278 Teil 1. Religionsphilosophie

und ihrer Sinndimensionen. Dieses Transzendenzverständnis ist konsti-


tutiv mit unseren Möglichkeiten des Transzendierens, des Überschreitens
und somit auch des Vorgreifens auf Sinn verbunden.

2.1. Die Transzendenz des Seins (der Welt)


(Die ontologisch-kosmologische Transzendenz)

Ein erster, grundlegender Transzendenzaspekt, der sich uns bei solchem


selbstreflexivem Transzendieren zeigen mag, ist die Existenz der Welt. Der
Transzendenz-Aspekt ist keine Erfahrung, er kann sich nur an und in
unseren alltäglichen Erfahrungen ,indirekt’ zeigen – wenn man auf ihn
überhaupt jemals aufmerksam wird. Dass die Welt überhaupt ist, dass es
überhaupt etwas gibt und nicht nichts – das kann man nicht direkt er-
fahren und nicht als normale Tatsachenbehauptung mitteilen. Direkt
erfahren und mitteilen kann man Erlebnisse und Tatsachen in der Welt.
Die Ebene des Dass der Welt ist auch nur behelfsmäßig als „Ebene“ zu
bezeichnen. „Ebenen“ im wörtlichen Sinne lassen sich räumlich lokali-
sieren und einander zuordnen. Die Ebene des Dass der Welt, ontologisch
die des Seins des Seienden, übersteigt, überschreitet alle solchen Ebenen.
Das Sein der Welt, das Dass des Seins, übersteigt und überschreitet unsere
Erkenntnis und Erfahrung völlig und grundsätzlich. Dass die Welt ist,
können wir weder erklären noch von irgendwelchen innerweltlichen
Tatsachen ableiten. Wenn wir selbst auf diese definitive Grenze unserer
Erkenntnis und unserer eigenen Existenz stoßen, erreichen wir mit der
Sinngrenze auch einen Aspekt des realen, konkreten Sinngrundes unserer
Welt und unserer selbst. Die Unerklrlichkeit des Seins – dass überhaupt
etwas ist, die völlige Unverfügbarkeit, die transpragmatische, weder
räumlich noch zeitlich zu begreifende Vorgngigkeit des Seins und mithin
auch des Universums mit Milliarden Galaxien bildet einen Grund allen
mçglichen und allen wirklichen Sinns – faktisch und praktisch. Es gibt, anders
gesagt, keine Immanenz ohne ontologisch-kosmologische Transzendenz.
Die Struktur der Transzendenz lässt sich als einzigartiger Prozess
explizieren. Die traditionelle theologische und religiöse Sprache ver-
wendet daher in unserem Zusammenhang aus guten Gründen den Begriff
der Schöpfung. Unserer Analyse entspricht es, wenn nicht nur von einer
Schöpfung aus Nichts (creatio ex nihilo) die Rede ist, sondern ebenso von
einer permanenten Schöpfung (creatio continua). Denn so wird das au-
thentische Wunder nicht auf irreführende Weise verortet, verräumlicht
oder verzeitlicht. Es zeigt sich die konstitutive Verbindung von (absoluter)
Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes 279

Unerklrlichkeit, Unerkennbarkeit (Negativitt) und Sinn: Denn alle Aus-


malungen des Schöpfungsvorgangs in realistischen Bildern oder auch in
szientifischen Modellen (Urknall) unterlaufen auf simplifizierende, naive,
innerweltlich-innerseiende Weise den völlig unerklärlichen ontologisch-
kosmologischen Transzendenzprozess. Transzendenz ist mithin nicht als
ein abstraktes Jenseits im Himmel begreifbar, sondern als ein wahrhaft
kreativer Prozess des Hervorgangs der unendlich komplexen und diffe-
renzierten Wirklichkeit allen Seins ,aus Nichts‘.
Die Rede von der Schöpfung als einzigartigem Wunder und an-
dauerndem Prozess – „Gott sah, dass es gut war“ – ist eine diesem Aspekt
absoluter Transzendenz gerecht werdende Vergegenwärtigungsweise.
Bereits am Aufweis dieses Transzendenzaspektes wird im Übrigen
sichtbar, wie reduktionistisch, um nicht zu sagen beschränkt, funktionale
oder entfremdungstheoretische Religionsphilosophien oder Trans-
zendenzverständnisse sind. Dass Seiendes ist, das hat keine noch irgend
von uns zu eruierende ,Funktion’, Dass die Welt überhaupt geworden ist
und ständig wird, entspringt wohl kaum unseren Entfremdungserfah-
rungen oder illusionären Projektionen. Kurz: Ein Wunder im strengen
Sinne ist schlechterdings nicht erklrbar und hat berhaupt keine Funktion.
Der Begriff des authentischen Wunders lässt sich zwar in Beziehung
zu bestimmten religiösen Sinntraditionen und auch zu existentiellen
Erfahrungen des Einzelnen setzen. Der philosophisch-sinnexplikative
Status des Begriffs hat aber zunächst negativ-sinnkriteriale Bedeutung im
Kontext einer erkenntniskritischen Analyse der absoluten Grenze unseres
Erkennens und Erklärens, einer Analyse mit Wahrheits- und Geltungs-
anspruch.
Wir können hier vom unsagbaren Geheimnis der Wirklichkeit er-
kenntniskritisch begründet sprechen und negativ-sinnkriterial den un-
ausschöpflichen, unabschließbaren Charakter der Wirklichkeitserfahrung
in jedem Augenblick mit Wahrheits- und Geltungsanspruch aufweisen.
Dass diese Dimension in existentiellen Erfahrungen, in personalen Be-
ziehungen, in Erfahrungen des Erhabenen in der Natur, in meditativer
Praxis auf besondere, intensive Weise aufleuchtet, zugänglich wird und
gestaltet werden kann, das zeigt nur, dass Transzendenz vorgängig ist und
stets augenblicklich neu eröffnet wird, wenn man nur auf sie aufmerksam
wird. Die Verstellung und Verdeckung authentischer Transzendenz durch eigene
menschliche Gertschaften und Vorrichtungen ist ein Thema, auf das ich hier
nicht eingehen kann.
Es sind aber keine exzeptionellen Sondererfahrungen, in denen ab-
solute Transzendenz der erläuterten Art gründet oder gar besteht. Viel-
280 Teil 1. Religionsphilosophie

mehr sind die Transzendenz-Aspekte des Seins der Wirklichkeit ganz


fundamentale Zge all unserer Welterfahrung und der Alltglichkeit unseres
Lebens, die aufgrund ihrer übergroßen Nähe und Selbstverständlichkeit in
diesem oft verdeckt und verborgen bleiben.

2.2. Die Transzendenz der Sprache (des Logos)

Die Sprache ermöglicht unsere Sinngrenzreflexion und ineins die


Sinngrundreflexion. Dass – und wie – wir sprechen können, ist eine
unerklärliche, uns vorgängige Bedingung der Möglichkeit und Wirk-
lichkeit unserer humanen Welt. Dass wir Sätze verwenden können,
wahre Behauptungen treffen und bestreiten, Urteile über gut und böse,
schön und hässlich fällen können, das ist eine uns und unsere Welt ein-
schließlich unserer Vernunft und Selbsterkenntnis real ermçglichende Di-
mension, die wir nicht erklären oder von anderem ableiten können, ohne
sie selbst schon verwenden und in Anspruch nehmen zu müssen.
Gleichwohl ist das Wunder der Sprache und der sprachlichen Erschlos-
senheit der Welt wiederum nichts außergewöhnlich oder übernatürlich
Mysteriöses, sondern ebenso alltäglich, jedermann bekannt, universal
zugänglich wie auch die Transzendenz des Seins und aller Wirklichkeit.
Den Hervorgang der Sinnbedingungen unserer Welt konnten wir
bereits als kreativen Prozess charakterisieren. Der Prozess führte inmitten
der materiellen Endlichkeit zur Entstehung des Lebens, des menschlichen
Selbstbewusstseins und der Sprache. Das heißt: Das kreative Trans-
zendieren und seine realen Möglichkeiten setzt sich in die menschliche,
kreative Entwurfspraxis hinein fort. Die uns real ermçglichende Trans-
zendenz des Seins und der sich prozessual auf einzigartige Weise ereig-
nende Weltprozess führen zum Hervorgang sprach- und handlungsfä-
higer Wesen, der Menschen. Zur prozessualen Transzendenz des Seins
und der Existenz der Welt tritt der Transzendenzaspekt des Logos. Ohne
die reale Möglichkeit, ganze Sätze in ganzen, als Einheit vorverstandenen
Lebenssituationen zu formulieren und zu begreifen, ohne die reale
Möglichkeit, Behauptungen aufzustellen, zu begründen und nach wahr
oder falsch zu beurteilen, wäre unsere humane Existenz undenkbar.
Weder ein Sinn von Sein noch eine humane Welt wäre ohne kom-
munikative Selbsttranszendenz auch nur möglich. Wie bereits die Analyse
der ontologisch-kosmologischen Transzendenz, so erschöpft sich auch
die Analyse der Transzendenz der Sprache nicht in der Unerklärlichkeit
ihrer Existenz, sondern sie setzt sich fort in der uns und unsere gesamte
Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes 281

Weltwirklichkeit auch mit ermöglichenden, permanenten Sinneröff-


nung. Auch das Wunder der Transzendenz der Sprache mit all ihren
Sinneröffnungspotentialen ist in der Alltäglichkeit verborgen, anwesend-
abwesend. Die Verdeckung und Verstellung der Transzendenz geschieht
in den vielen Formen des Missbrauchs der Sprache, die als Täuschung und
Lüge durch sie mit ermöglicht sind. Wir benötigen zur Freilegung des
sprachlichen Transzendenzaspekts keine Mythisierung oder Idealisie-
rung. Wohl jedoch müssen depotenzierende, unterbestimmte, reduk-
tionistische, formalistische Verständnisse kritisch als partial erkennbar
werden. Dann wird einsichtig, dass die Sprache zum nicht objektivier-
baren Sinngrund unseres gesamten Seins gehört, zu den transpragmati-
schen Sinnbedingungen unserer Existenz.

2.3. Die anthropologisch-praktische Transzendenz


(Existentiell-interexistentielle Transzendenz)

Wir sind Sinn entwerfende und Sinn antizipierende Wesen. Es sind


kommunikative Lebensformen, die auch unser praktisches Selbstver-
hältnis konstituieren und formen: einem Anderen zuhören, jemandem
helfen, sich miteinander beraten, an jemanden denken, auf jemanden
warten, jemandem etwas beibringen, Freundschaft und Liebe. Kom-
munikative praktische Lebensformen sind durch Wahrhaftigkeit, Auf-
richtigkeit, Vertrauen, gegenseitige Hilfe und die Bemühung um Klarheit
und Verständlichkeit möglich – die Verfehlungen und defizienten Modi
werden so mit ermöglicht.
Um uns zu den Transzendenz-Aspekten unseres Lebens bewusst zu
verhalten, ist ein vertieftes Verständnis von Transzendenz und ihrer
Bedeutung für die Sinnkonstitution unverzichtbar, – ein Verständnis,
welches traditionell in der religiösen Erziehung vermittelt werden soll,
das aber auch für jede Form eines Lebens in konkreter Sittlichkeit und in
moralischer Verantwortung nötig ist. Sobald wir zu uns selbst werden – in
kommunikativer Praxis –, stellt sich die Frage nach einem grundsätzlichen
Selbst- und Weltverständnis und nach der selbst verantworteten Le-
bensführung. Es wird – mehr oder weniger explizit – bewusst, dass nur ich
meine Handlungen tun kann, dass mir letztlich niemand meine Ent-
scheidungen abnehmen kann, dass ich, anders gesagt, unbedingt selbst
verantwortlich bin.
Zu den transpragmatischen, auch transethischen Sinnbedingungen
unseres Lebens gehört, dass wir dessen singuläre Totalität nicht als ganze
282 Teil 1. Religionsphilosophie

vergegenständlichen, „erkennen“ oder gar in aller Tiefe seiner wenig


oder kaum bewussten Schichten durchschauen können. Nur von unserer
zeitlich-endlich-diskursiven, je gegenwärtigen Lebenspraxis aus, die wir
von der antizipierten Zukunft her verstehen, können wir Aspekte unseres
bisherigen Lebens erinnern, thematisieren, reflektieren und beurteilen.
Unsere praktische Selbsterkenntnis ist endlich und begrenzt wie unsere
empirischen und theoretischen Erkenntnismöglichkeiten. Es ist gerade
diese pragmatische, konstitutive Nichtobjektivierbarkeit, die unsere
personale Integrität und die Perspektive autonomen Transzendierens
eröffnet und ermöglicht. Solange wir leben, sind wir augenblicklich noch
im Entwurf einer konkreten Lebenssinngestalt begriffen, die aus nichts
Vergangenem kausal determiniert gedacht oder abgeleitet werden kann.
Selbsterkenntnis im praktischen Sinne, auch wenn sie Erfahrungen des
Versagens, des Scheiterns und des Bösen aus der Vergangenheit einbe-
zieht, steht in dieser offenen, nicht objektivierbaren Dimension. Unsere
praktische Möglichkeit der Selbsttranszendenz beruht somit auf der
Unerkennbarkeit unserer selbst bzw. unseres Wesens in einem objekti-
vistischen, abschließbaren Sinne. Die Transzendenz unserer selbst und
unserer eigenen Existenz erschließt uns die Potentiale ekstatischen
Transzendierens unserer Selbst- und Situationsverständnisse.
Existentielle Transzendenz als Sinngrenze allen Erkennens bildet den
Sinngrund personaler Freiheit und Würde. Der Sinngrund selbst ist nur
negativ zu erfassen. Die Unableitbarkeit und Uneinholbarkeit der exis-
tentiellen Transzendenz lässt sich aber im Kontext interexistentieller
Transzendenz in ihrer wirklichen Tragweite angemessen analysieren und
begreifen. So wie wir uns selbst nicht objektivieren können, so ist uns
auch der Andere nicht verfügbar und kann uns gerade so in seiner eigenen
personalen Würde begegnen.
Wir stoßen mit diesen Analysen auf die sinnkonstitutiven Grenzen
unserer Existenz und des Mitseins mit Anderen. Sie ermöglichen die
unbedingte Achtung und Anerkennung der Mitmenschen als Personen
mit irreduzibler Würde ebenso wie ein authentisches Selbstverhältnis in
Freiheit und als Freiheit. Die transpragmatische und transethische Di-
mension der Nichtobjektivierbarkeit, der Unverfügbarkeit und Entzo-
genheit grndet und trgt personale und moralische Verhältnisse. Die Rede
von der „Unantastbarkeit“ des Menschen in seiner Würde artikuliert
diesen Transzendenzaspekt.
Die praktische Anerkennung der existentiellen und interexistentiel-
len Transzendenz als der unbedingten Grenze und den Grund unseres
eigenen Transzendierens eröffnet erst die nahe, reale Möglichkeit eines
Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes 283

freien, verantwortlichen und moralischen Selbstverständnisses. Trans-


zendenz in der Immanenz bedeutet nicht, dass Transzendenz in Imma-
nenz aufginge oder verschwände, auf sie reduziert oder von ihr abgeleitet
werden könnte. Vielmehr ist Immanenz in ihrer Tiefendimension nur aus der
Transzendenz zu begreifen. Transzendenz als bloß abstraktes Jenseits wird
der Realität des Transzendenzgeschehens in unserem Leben ebensowenig
gerecht wie ein Lebensverständnis, das um das Wunder des unableitbaren,
dennoch wirklichen Sinns des Seins der Welt, der Sprache und des ei-
genen Lebens gebracht würde.

3. Philosophische Theologie III: Die absolute Transzendenz


und die Existenz Gottes und der Status des Wortes „Gott“

Dennoch ist der Aufweis der Transzendenz-Aspekte mitsamt ihrer dy-


namisch-prozessualen Struktur der Sinneröffnung, die auf Zukunft,
Erfüllungsperspektiven und einen Horizont authentischen, integren
Menschseins in der Wirklichkeit weisen, nur der erste Schritt der
Sinnexplikation einer philosophischen Theologie. Diese Theologie kann
nicht, wie dogmatische Theologien einzelner Religionen, schon von
Gott und seiner Offenbarung ausgehen. Entscheidend für die Explikation
und Entfaltung einer genuin systematischen theologischen Perspektive ist
im Blick auf die aufgezeigten Transzendenz-Aspekte die Einsicht in ihre
Gleichursprnglichkeit. Diese führt zur Perspektive einer Einheit, genauer:
der Einzigartigkeit des Seins des Sinnes. Der Artikulation dieser Per-
spektive dient die Rede von Gott, der Orientierung an dieser Perspektive
dient der praktische Lebensbezug zu Gott.
Dieser Zugang wird möglich, wenn wir uns die Gleichursprnglichkeit
der bisher explizierten Aspekte der Transzendenz vergegenwärtigen. Die
unerklärliche, unfassbare, aber sich ständig realisierende Transzendenz des
Seins, der Welt, der Sprache und unserer eigenen Existenz mitsamt ihrem
prozesshaften Hervorgang und ihrer Gegenwart bildet eine für uns zwar
intern differenzierbare und auch differenzierungsbedürftige, aber völlig
untrennbare Einheit, die wir keinesfalls summativ oder additiv begreifen
oder depotenzieren können.
Die Gleichursprünglichkeit der bisher aufgezeigten Aspekte der
Transzendenz erweist sich in der vorgängigen Einheit jeder Lebenssi-
tuation und jedes praktischen Sinnentwurfs, in denen die Aspekte zu-
sammenspielen und so konkreten Sinn überhaupt erst ermöglichen. Die
284 Teil 1. Religionsphilosophie

Einheit ihres Zusammenspiels ermöglicht so unsere eigenen Sinnent-


würfe, den Entwurf eines leitenden Selbstverständnisses und einer
praktischen, existentiellen Sicht des ganzen Lebens. Das Sein der Welt,
die Dimension sprachlichen Sinns und unser eigenes, aus dem Trans-
zendenzprozess auf unbegreifliche Weise hervorgegangenes Sein und
Selbstverständnis bilden eine unvordenkliche Einheit, die sich in jeder
Lebenssituation zeigt und die unsere endliche, freie und vernünftige
Praxis ermöglicht. Diese Einheit wurde traditionell ontologisch, meta-
physisch, mystisch, transzendental- und bewusstseinsphilosophisch auf
metasprachliche Weise zu artikulieren versucht. Mit Wittgenstein (und
wohl auch Heidegger) können wir sagen, dass sich diese Einheit ei-
gentlich auf unsagbare Weise zeigt.
Es lässt sich jedoch in praktischer Perspektive aufweisen, dass wir uns
durch die Horizontbildung und die antizipierenden Sinnentwürfe als auf
Einheit bezogene, auf Einheit angewiesene Lebewesen verstehen und
verstehen müssen. Wir sind Lebewesen singulrer Totalitt, einmaliger
Ganzheit. Unser je individuelles Leben ist eine einmalige Ganzheit. Aber
diese Ganzheit ist kein statischer, räumlich zu objektivierender „Käfig“
der Identität, sondern ein dynamischer Prozess des Werdens zu sich selbst,
der selbst in jeder Situation weit über sich hinausweist in die Welt und in
die kommunikative gemeinsame Praxis.
Die ursprüngliche und vorgängige Einheit dieser sinneröffnenden
Transzendenz nannte die Tradition das Eine, das Absolute oder Gott. Es
wird verständlich, dass Gott als namenloser Grund allen Seins sowohl
negativ-theologisch in der Perspektive der absoluten Unerkennbarkeit
und eher dem Nichts angenähert gedacht, andererseits mit maximalisti-
schen Hyperformeln zu erfassen versucht wurde. Philosophische Theo-
logie kann diese traditionellen Versuche aufgreifen und in der Perspektive
der sinnkritischen Grenzreflexion durchaus mit Vernunftanspruch re-
formulieren. Die sinnexplikative Analyse philosophischer Theologie
kann auf dem Hintergrund des bisher Ausgeführten den Status des Wortes
„Gott“ genauer bestimmen und so auch zur Klärung der Grammatik der
Rede von Gott beitragen.
Die außergewöhnliche Grammatik des Wortes „Gott“ wurde immer
wieder zu erfassen versucht. Ersichtlich handelt es sich nicht um ein
gewöhnliches Prädikat wie „groß“, „mächtig“ oder „Liebe“ – allerdings
werden Gott solche Eigenschaften zu- oder abgesprochen („unsichtbar“,
„allgegenwärtig“). Gleichwohl werden mit dem Wort „Gott“ Unter-
scheidungen getroffen. So ist Gott nicht die Welt oder ein Teil der Welt,
kein „Gegenstand“ der Erfahrung. „Gott“ ist aber auch kein gewöhnli-
Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes 285

cher Eigenname wie „Peter“ oder „Paul“. Das Wort bezeichnet kein
Individuum im üblichen, innerweltlichen Sinne. Wenn wir Kern-Sätze
religiöser Rede betrachten, die im Zentrum von Bekenntnissen stehen,
zum Beispiel: „Ich glaube an Gott, den Schöpfer der Welt“ und „Ich
glaube, dass Gott Schuld vergibt“, dann wird deutlich, dass Gott als
handelndes Subjekt vorgestellt wird, dem die Eigenschaften der Allmacht
und der Liebe zukommen. Andererseits sind die bildlichen Vorstellungen
anthropomorpher Art – Gott „sieht“, „spricht“, „handelt“, „liebt“ – stets
dann missverständlich, wenn wir solche Ausdrucksformen zu eigentli-
chen und realistischen Vorstellungen etwa von einem großen Menschen
verselbständigen.
Der praktische Geltungssinn der Ausdrucksformen ist dennoch
sinnvoll und vernünftig verstehbar. So bedeutet „Gott sieht alles“ zum
Beispiel: Ich bin stets unbedingt verantwortlich, mein ganzes Leben steht
im Horizont von Vernunft und Freiheit, nur so kann ich ein authentisches
Selbstverständnis entwickeln und zu mir selbst werden. Aber, wie schon
Wittgenstein bemerkt, sind konkrete Vorstellungen von den „Augen“
Gottes oder gar seinen „Augenbrauen“ abwegig und irreführend. Das darf
weder zur Abwertung kindlichen Glaubens in seiner genuinen Au-
thentizität noch zur hochmütigen Diskreditierung naiver Frömmig-
keitsformen führen, die beide gelungenere Lebensformen sein können als
verbreitete Formen eines „aufgeklärten“ Materialismus und Zynismus.
Dennoch muss der philosophische Anspruch dahin gehen, die Rede
von Gott so zu verstehen, dass wir auch die Wirklichkeit Gottes, die
Dimension seines schöpferischen Wirkens, seines Handelns, und die
Einzigkeit Gottes denken und explizieren können. Dies wird möglich,
wenn wir das Wort „Gott“ selbst als einzigartiges Wort verstehen – als
eigene Wortart mit nur einem Wort, das wie ein Name fr den Grund des
sinnerschließenden, sinnerçffnenden Transzendenzgeschehens steht. Damit ist
verbunden, dass über die Grenze des Dass der Welt (des Seins des Sei-
enden), des gleichursprünglichen Dass des Seins des Sinns der Sprache
und des unerklärlichen Dass unserer eigenen, konkreten Existenz hinaus
nichts gedacht werden kann. Alles jedoch, was wir sind und erfahren, ist nur
möglich und wirklich in, mit und durch das einzigartige, vorgängige,
prozessuale Transzendenzgeschehen, welches uns Vernunft und Freiheit,
Wahrheit und Gutes eröffnet. Diese Stiftung, Eröffnung und Schöpfung
aber, dieser Hervorgang ist real und konkret. Die Trans-
zendenzdimension erschließt die innere Unendlichkeit der Wirklichkeit,
sie ermöglicht unser eigenes Transzendieren – auf selbst unfassbare, un-
erklärliche Weise, denn alles Fassbare und alles Erklärliche wird durch sie
286 Teil 1. Religionsphilosophie

erst möglich. Auf diese Weise wird deutlich: Der einzigartige Name
„Gott“ bezieht sich auf das unfassbare, authentische Wunder des Seins und des
Seins des Sinns, welches den Ursprung des gesamten Universums ebenso
einbegreift wie jeden konkreten, gelebten Augenblick in unseren je
einzigartigen Lebensvollzügen.
Philosophische, kritisch-hermeneutische und sinnexplikative Theo-
logie kann bis zu dieser einzigartigen Seins-, Sinn- und Schöpfungsdi-
mension vorstoßen, von der wir, recht verstanden, in jedem Augenblick
leben: Im Atmen und Fühlen, im Sehen und Hören, in den Erfahrungen
der Erfüllung und Versagung, in den Modi kommunikativer Hilfe und
wechselseitiger Anerkennung, in den Möglichkeiten des Denkens. Gott
darf nicht mit unseren Vorstellungen, Gedanken, Erfahrungen identifi-
ziert werden, die allesamt den absoluten Sinngrund schon voraussetzen.
Deswegen ist auch die Rede von der Abwesenheit Gottes sehr berechtigt
und sinnvoll. Wenn Menschen in ihrer durch Gott ermöglichten Praxis
die Orientierung an Vernunft und Freiheit, an Wahrheit und Liebe
verlieren oder bewusst in Lüge, Hass und Mord pervertieren, dann büßen
sie die von Gott gegebene Sinnperspektive ein. Das böse Handeln ist
bereits selbst die Strafe. Es ist identisch mit der Ferne Gottes für dieje-
nigen, die den unbedingten Sinn ihres Seins verderben. Indem wir
„Gott“ als Eigennamen des einzigartigen Dass des Seins des Sinns ex-
plizieren, können wir neben den negativ-theologischen Explikations-
traditionen auch die Eminenztraditionen in ihrer Berechtigung verste-
hen. Insbesondere die berstiegs- und Hyperformeln des Neuplatonismus
artikulieren ja die erkenntniskritische Einsicht in die Grenze unseres
Erkennens, die wir als Grenze und ineins als sinnermöglichenden,
sinneröffnenden Grund unserer Welt, unserer Existenz und unserer ei-
genen Entwürfe expliziert haben. Auch die traditionellen theologischen
Feststellungen ber Analogien lassen sich sinnvoll verstehen. Gott ist „wie ein
guter Vater“ – ohne die uns real ermöglichenden Sinnbedingungen und
ihre noch jetzt wirksame Macht wären wir gar nicht. Gott ist „wie das
Licht“ – der Grund, das Dass des Sinns des Seins ist selbst nicht sichtbar,
aber alles wird sichtbar, erkennbar, wahrnehmbar, erfahrbar und kom-
munizierbar durch ihn, durch den sinneröffnenden Transzendenzprozess.
Begreifen wir als wirklich nicht krude Gegenstndlichkeit: Steine, Atome,
Dinge, szientifisch reduzierte Quantitäten, sondern begreifen wir das
Wirkliche als die konkrete Lebenswirklichkeit, in der Menschen im höchsten
Maße vernünftige, freie, Sinn erfahrende und entwerfende Wesen sind
und sein können, dann ist uns Gott nirgends nher als in authentischer
existentieller und interexistentieller Praxis: wenn wir uns selbst trans-
Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes 287

zendieren in Richtung auf authentische Sinn- und Geltungsansprüche in


der gemeinsamen Wahrheitssuche, in Richtung auf Wahrhaftigkeit,
Gerechtigkeit und Solidarität auch mit schwachen und hilfsbedürftigen
Mitmenschen. Die uns mit diesen Richtungen erschlossene konkrete
Lebenswirklichkeit lässt sich mit guten Gründen als die wahre, eigentliche
Wirklichkeit bezeichnen, und somit Gott als ens realissimum.
Jede Hoffnung, jeder Satz und jede Bewegung – noch in der bösesten
Absicht – lebt von dem sie tragenden, schon vorgängig erschlossenen Sein
und Sinn der Welt, der Existenz und der Sprache und von der Antizi-
pation des Gelingens und der Erfüllung. Haben wir die Sinnerçffnung durch
absolute Transzendenz erkannt – die transpragmatischen, transethischen
und transrationalen Sinnbedingungen, die in ihrer einzigartigen
Gleichursprünglichkeit unser eigenes Sein hervorgehen ließen und es in
jedem Augenblick neu ermöglichen – dann haben wir uns selbst in un-
seren wesentlichen Möglichkeiten erkannt. Somit ist auch die christliche
Lehre von dem Menschen als Bild Gottes auf diesem Hintergrund neu
und vernünftig verstehbar. Der sinnkonstitutive, einzigartige Trans-
zendenzprozess reicht bis in die leiblich-sinnliche Konkretion mensch-
licher Existenz in ihrer Leidbedrohtheit, in die Wirklichkeit der Angst
und der Sterblichkeit. Das entwickelte Gottesverständnis ist universalis-
tisch. Es bezieht die Entstehung und Entwicklung des gesamten Uni-
versums ebenso ein wie die Entstehung und Geschichte der Erde, der
Menschheit und jedes einzelnen Menschen. Gott ist ein Gott aller Menschen
– er ist in absoluter Transzendenz völlig unverfügbar. Gott lässt sich so als
Grund der Wirklichkeit authentischer Interpersonalitt begreifen. Dieser
Grund bleibt selbst unverfügbar, eröffnet und erschließt je konkret den
Horizont freier und vernünftiger Praxis und so einen praktischen zu-
künftigen Sinnhorizont, aus dem her wir unsere gegenwärtigen kon-
kreten Lebenssituationen verstehen und gestalten können. Da die
Wirklichkeit Gottes als absoluter Transzendenz inmitten der Immanenz
im erläuterten Sinne alle konkrete Wirklichkeit hervorgehen lässt und
trgt, da nicht wir diese Wirklichkeit geschaffen haben, sondern da wir
uns, recht verstanden, dieser Wirklichkeit mit allem was wir haben und
sind, verdanken, können alle Aspekte unserer Welt, unserer Existenz und
unserer Praxis zu Paradigmen der Transzendenz werden. Religion und
Theologie können wir auf diesem Hintergrund als Aufklärung über
Transzendenz bzw. als Aufklrung ber sinnkonstitutive Unverfgbarkeit
definieren, insbesondere als praktische Einübung in angemessenes,
sinnvolles Verhalten gegenüber bzw. angesichts absoluter Transzendenz.
Der afunktionale Sinn des Heiligen lässt sich aus der Sicht philosophischer
288 Teil 1. Religionsphilosophie

Theologie in seiner Tiefenrationalität begreifen und, wo dies nötig ist,


rehabilitieren. Gerade weil kein funktionales, subjektiv oder objektiv
vergegenständlichendes Verhältnis zu Gott, zum Absoluten, zur gleich-
ursprünglichen Transzendenz möglich ist, sind diejenigen kulturellen
Formen im Recht, die diese absolute Entzogenheit und Unverfügbarkeit
bewusst machen und bewusst halten. Die Dimension absoluter, sinner-
öffnender Transzendenz ist kein Bereich der Beliebigkeit, sondern ein
umfassender und grundlegender Bereich mit genuinen Geltungskriterien,
eine Dimension, die sich allen eröffnet, die niemandem gehört und die
niemand für sich funktionalisieren kann und darf.
An der Grenze philosophischer Vernunfterkenntnis, die bis zur
Entfaltung einer Theologie der Transzendenz in der Immanenz – auch
und gerade im Blick auf ihre lebensermöglichende und lebenssinnkon-
stitutive Wirklichkeit und Wirksamkeit – reicht, beginnt das Verstehen
und Begreifen der Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit der großen
monotheistischen Weltreligionen und ihres authentischen, irreduziblen
Wahrheitsgehaltes wie auch ihrer ideologischen und pervertierten For-
men. Säkularisierung, westliche Moderne und technisch-wissenschaftli-
che Zivilisation sind solange sinnvoll, wie sie authentische religiöse Le-
bensformen freisetzen und nicht versuchen, sich auf illusionäre und
ideologische Weise an ihre Stelle zu setzen. So können sich die glei-
chermaßen komplexen wie unverzichtbaren Traditionen des Verstandes,
der Vernunft und der religiösen Tiefenaufklärung und Verkündigung
erneut produktiv ergänzen. Die Dialektik von Vernunft und Trans-
zendenz gehört zur Vernunft selbst und darf nicht in eine künstliche,
dualistische Entzweiung von bloß säkularer Rationalität und bloß fun-
damentalistisch, fideistisch oder kirchenmystisch zugänglicher Offenba-
rung aufgespalten werden. Wo das produktive Ergänzungsverhältnis von
religiöser und profaner Vernunftperspektive einseitig aufgelöst wird,
muss es neu entwickelt und mit Leben erfüllt werden – auch durch
wechselseitige Kritik.
Religion und Philosophie
I am not a religious man but I
cannot help seeing every problem
from a religious point of view.
Wittgenstein

Das Verhältnis von Religion und Philosophie in der gegenwärtigen


Epoche ist auf mehrfache Weise Spiegelbild von krisenhaften Umbrü-
chen, Unklarheiten und einer bemerkenswerten Orientierungslosigkeit.
Wie in einem Brennglas verdichten sich in ihm die Reflexe offener
existentieller, kultureller und weltpolitischer Fragen. Auch jedem einer
Religion ferner stehenden Philosophierenden muss klar sein, dass eine
erneute explizite Thematisierung der religiösen Grundprobleme im In-
teresse von Aufklärung und Vernunftkritik ohne Alternative ist. Diese
Thematisierung berührt das Selbstverständnis von Moderne und Post-
moderne, das Selbstverständnis der westlichen Kultur nicht nur äußerlich,
sondern zutiefst. Das Neben- und Gegeneinander von völliger Profanität
und Säkularisierung, wissenschaftlicher Weltanschauung und hedonisti-
scher Individualkultur einerseits, religiöser patchwork-Identität, Esote-
rik, Fundamentalismus, Abschottungsverhalten einer Kirchenmystik
andererseits prägt eine negative Dialektik aus, die beide Seiten einer
Hegelsch gedachten Vermittlung ausfranst und beschädigt. Kritische
Philosophie kann sich mit dieser bedauerlichen, prekären Konstellation
nicht zufrieden geben. In der Tradition Kants und Hegels, aber nach den
systematischen Radikalisierungen der Vernunftkritik, wie sie im ver-
gangenen Jahrhundert von Heidegger, Wittgenstein und Adorno ge-
leistet wurden, gilt es, die Kritik der religiösen Vernunft für die Ge-
genwart zu wiederholen.
Um Ansätze zu diesem Projekt auf knappem Raum zu erfassen, soll
im Folgenden das Terrain abgesteckt werden, auf dem das Verhältnis von
Religion und Philosophie für die Zukunft neu zu bestimmen ist. Dies
geschieht bewusst pointiert, um einen fälligen und sich bereits abzeich-
nenden Paradigmenwechsel zu verdeutlichen. Behelfsmäßig seien vorab
fünf Ebenen idealtypisch unterschieden: die Ebene der religiösen Praxis
in Geschichte und Gegenwart, die diese Praxis reflektierenden Theo-
logien, die Ebene der Religionswissenschaften (z. B. Ethnologie, Psy-
290 Teil 1. Religionsphilosophie

chologie, Soziologie) die Ebene der Religionsphilosophien sowie die


Ebene eines religiösen Denkens bzw. einer philosophischen Theologie.
Meine systematische Kernthese ist, dass letztere in der Gegenwart neu zu
entwickeln ist, und zwar als eine kritische Theorie absoluter Trans-
zendenz.
Zunächst aber will ich eine mögliche übersichtliche Anordnung
derjenigen zentralen Gesichtspunkte geben, die für die erneute Bestim-
mung des Verhältnisses von Religion und Philosophie heute entschei-
dend sind.

1
Die Prognosen vom Ende der Religion, vom „Tod Gottes“ und von
einer vollendeten Säkularisierung haben sich als verfehlt erwiesen.
Vielmehr ist die Permanenz der Vielfalt religiöser Orientierungen – auch
im Blick auf eigenartige Transformations- und Umbesetzungsprozesse –
das eigentlich zu begreifende Phänomen. Mehr noch: Gerade die
weitreichenden und tiefgreifenden Ansätze der Religionskritik von
Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud lassen sich in langfristiger Per-
spektive als produktive Beiträge zur Rekonstruktion religiöser Sinnan-
sprüche verstehen. Die Entfremdungs- und Projektionsanalysen der ra-
dikalen Religionskritik dienen ex negativo der Freilegung authentischer
religiöser Rationalität. Nietzsches Illusionskritik und Freuds tiefenher-
meneutische Analysen von Verdrängungsprozessen sind, wo sie triftig
sind, bereichernd, hilfreich und klärend für ein kritisches philosophisches
Religionsverständnis. Freilich dürfen die Entfremdungsanalysen nicht
verabsolutiert werden – denn dann werden sie selbst zur Ideologie.
Geschärftes Bewusstsein von verzerrten, verfehlten und repressiven
Formen von Religion führt, recht verstanden, zu einer aufgeklärten,
autonomen Perspektive auf die religiöse Sinndimension. Dieses Be-
wusstsein schärft auch die Wahrnehmung der zur kulturell entwickelten
Religion konstitutiv gehörenden innerreligiösen Religionskritik: in der
Gestalt der Kritik an falschen Göttern und Götzen und irrigen Gottes-
vorstellungen in den drei monotheistischen Weltreligionen, im Kampf
des Buddhismus gegen verdinglichte Selbst- und Weltverständnisse, in
auf Befreiung und sittliche Praxis zielender religiöser Lehre. Religions-
Religion und Philosophie 291

kritik ist gut für Religion. Der Zusammenhang des Heiligen auch mit
Gewalt und Macht verdient kritische Reflexion.1
Auch das spannungsreiche Verhältnis der Religionen zu den Wis-
senschaften, wie es sich im 20. Jahrhundert entfaltet hat, lässt sich phi-
losophisch produktiv rezipieren. Die ethnologischen, psychologischen
Untersuchungen und insbesondere die funktionale Religionssoziologie,
wie sie paradigmatisch von Niklas Luhmann entwickelt wurde, enthält
viele wichtige Einsichten in die soziale und pragmatische Bedeutung
religiöser Praxis. Sie ist zumindest teilweise kompatibel mit den leitenden
Thesen des Pragmatismus in der Religionsphilosophie von Dewey und
William James. Religionen lassen sich (zumindest auch) in ihrer prag-
matisch-sinnkonstitutiven Funktion angesichts der unverfügbaren Be-
dingungen des menschlichen Lebens verstehen und untersuchen. Den-
noch ist ihre Bestimmung als Kontingenzbewältigungspraxis2
religionsphilosophisch partial und missverständlich. Sie bricht den Re-
ligionen die kreative Sinnspitze ab. Die praktische Dimension z. B. der
christlichen Verkündung – von den zehn Geboten bis zur Bergpredigt
Jesu – lässt sich nicht als funktionale Kontingenzbewältigung begreifen.
Auch die Entwicklung der Naturwissenschaften in der Moderne trägt
bei näherer Betrachtung zur Klärung des genuinen Status von Religion
bei: Philosophisch lässt sich ein Ausdifferenzierungsprozess konstatieren,
naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit sind zweierlei. Die sinn-
kriteriale Ablösung der religiösen Dimension von kosmologischem,
physikalischem Wissen, von einer quasi-empirischen Verortung des
Jenseits, von einer supra-naturalistischen „Vorhandenheitsontologie“
(Heidegger) bzw. einer Vorhandenheitssemantik (im Sinne der Sprach-
kritik Wittgensteins) setzt die kritischen Arbeiten Kants fort, dessen ge-
samte Vernunftkritik der leitenden Intention folgt, das Wissen einzu-
schränken, um dem Glauben einen ihm angemessenen Ort
wiederzugeben. Von dieser sinnkriterialen Ausdifferenzierung her er-
scheint das gesamte System Kants in einer gleichermaßen religionskriti-
schen wie religionsrettenden, um philosophische Theologie und die
Dimension des „Intelligiblen“ zentrierten Perspektive.

1 Dazu instruktiv: Ludwig Nagl (Hg.), Religion nach der Religionskritik, Wien/Berlin
2003 sowie Matthias Lutz-Bachmann, „Religion nach der Religionskritik“, in:
Theologie und Philosophie 3 (2002) 374 – 388; vgl. René Girard, Das Heilige und die
Gewalt, Zürich 1987 (Paris 1972).
2 So Herrmann Lübbe, Religion nach der Aufklrung, Graz 1986.
292 Teil 1. Religionsphilosophie

Das Verhältnis von Religion und Philosophie wird durch diese


Ausdifferenzierungsprozesse wieder auf neue Weise spannend. Denn es
fällt – zunächst und auf den ersten Blick wieder ex negativo – ein anderer,
neuer Blick auf die alte Metaphysik, auf die alte, vor- und außerchristliche
philosophische Theologie. Sie hatte einen nicht-szientistischen Status.
Die genuin philosophisch-theologischen Ansätze von Platon und Ari-
stoteles, von Augustinus, Boethius, Plotin und Proklos, von Meister
Eckhart und Cusanus erscheinen gerade nach der modernen Ontologie-
Sprach- und Ideologiekritik auf neue Weise rezipierbar. Denn sie
kämpften bereits mit all ihren jeweiligen Mitteln gegen verdinglichte
Transzendenz- und Gottesverständnisse, sie akzentuieren auf vielfache
Weise den existentiell-praktischen und universalen Sinn religiöser, das
Ganze des Seins und des Lebens betreffender Wahrheit.
Gerade die Ausprägungen negativer Theologie sind das beste Zeugnis
dieser kritischen Tradition.3

2
Auf diesem Hintergrund ist es von besonderer Bedeutung, dass die
moderne philosophische Entwicklung in ihren wichtigsten Ausprägun-
gen zunächst durch eine latente Präsenz des Religiösen charakterisiert ist.
Diese latente, indirekte Präsenz wird dann in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts in weiterführende systematische Ansätze der Religions-
philosophie überführt, die verstärkt eine explizite Thematisierung von
Religion unternehmen. Schließlich führt diese Entwicklung in jüngster
Zeit zu philosophischen Entwürfen, die die Wahrheit von Religion, die
Frage nach Transzendenz, dem Absoluten und nach Gott erneut syste-
matisch angehen.
Betrachtet man die wichtigsten und einflussreichsten Philosophen des
20. Jahrhunderts, so wird sichtbar, dass sie ohne „religiöse Glutkerne“
nicht verstehbar sind. Und das gilt nicht für ihre expliziten Ausarbei-
tungen zur Religion und zur Religionsphilosophie, sondern es gilt für
den Zentralbereich ihrer Systematik. Dies sei kurz an Heidegger, Jaspers,
Wittgenstein, Benjamin, Adorno, Horkheimer, Habermas und Derrida
aufgezeigt.

3 Vgl. Thomas Rentsch, Artikel „Theologie, negative“, in: Joachim Ritter/


Karlfried Gründer (Hg.), Hist. Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998.
Religion und Philosophie 293

Die frühen religiösen Ursprünge Heideggers, seine katholische Prä-


gung sind klar. Sein Hauptwerk „Sein und Zeit“ repräsentiert im An-
schluss vor allem an Kierkegaard mit seinen Zeit-, Angst- und Todes-
analysen und seiner Unterscheidung der „uneigentlichen“, verfallenen,
im öffentlichen Gerede aufgehenden Existenz des „Man“ von der „ei-
gentlichen“, entschlossenen, sich ihrer selbst und ihres Todes bewussten
Existenz (nach einer Formulierung von Habermas) einen Protestantismus
auf dem Nullpunkt der Säkularisierung.4 Die ausgearbeitete Existential-
analyse Heideggers führte zu einer breiten Rezeption in der evangeli-
schen wie auch der katholischen Theologie. Die existenztheologischen
Ansätze von Rudolf Bultmann und von Karl Rahner wendeten Hei-
deggers auf das praktische Selbstverständnis der Menschen in seiner all-
täglichen Lebenssituation bezogene Analysen auf die Rekonstruktion der
erlösenden Heilsbotschaft des Neuen Testaments bzw. auf die Rekon-
struktion des praktischen Sinnes der metaphysischen Theologie an. In
diesen Prozessen rückt somit der Alltags- und der konkrete Lebensbezug
der religiösen Heilsbotschaft wie auch eines angemessenen Trans-
zendenzverständnisses ins Zentrum. Diese Bewegung ist systematisch
charakteristisch für viele philosophische Vermittlungsversuche von reli-
giöser Wahrheit und moderner Lebenswelt. Ein eigentliches praktisches
Selbstverständnis lässt sich und muss sich im Alltag ausprägen. Herbert
Marcuse hat als Schüler Heideggers den emanzipatorischen Gehalt einer
Kritik der verfallenen eindimensionalen Orientierung an der spätkapi-
talistischen Konsumwelt herausgearbeitet.5 Die weltweit wirksamen
Protest- und Alternativbewegungen speisten ihre Energie auch aus den
religiösen, chiliastischen Gehalten, die in die Idee der „Großen Weige-
rung“ und eines alternativen, authentischen Lebens Eingang fanden. Die
marxistische Hoffnungsphilosophie Ernst Blochs hatte eine ähnliche
Stoßrichtung.6 Deswegen konnten emanzipatorische Religionsver-
ständnisse mit befreiungstheologischen Bewegungen verbunden werden.
Die Spätphilosophie Heideggers zeigt religiöse Perspektiven, die
ebenfalls den Ort des Menschen in der Wirklichkeit dieser Welt neu zu
verstehen suchen.7 Das Sein wird zu einer sich entbergend-verbergenden

4 Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische
Einfhrung, München 1989 sowie ders. (Hg.), Martin Heidegger: Sein und Zeit,
Reihe Klassiker Auslegen, Berlin 2001.
5 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1964.
6 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M. 1954 – 1959.
7 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis, 1936 – 1938),
Frankfurt a.M. 1989.
294 Teil 1. Religionsphilosophie

Macht, die das Geschick der menschlichen Wirklichkeit prägt. In seiner


Entzogenheit, Verdecktheit und Ferne wie in seiner Nähe eignen dieser
Instanz religionsspezifische Qualitäten. Die Bedeutung des Göttlichen,
des Wunders und des Geheimnisses entfaltet das späte Denken Heideggers
mythopoetisch und bildreich im Rekurs auf Schelling, Hölderlin und –
im Versuch, hinter die Verfallsgeschichte der europäischen Entwicklung
zu gelangen – im Rekurs auf das frühgriechische Weltverständnis von
Hesiod, Parmenides und Heraklit.8 Dieses Denken versteht sich als ein
einsamer Weg, zu einem nicht-instrumentellen, nicht-wissenschaftli-
chen, nicht technisch bestimmtem, gewaltlosen Selbst- und Weltver-
hältnis zu gelangen, zu einem erneuten Heimisch-Werden und „Woh-
nen“ in der Endlichkeit. Da Religionen im Kern ihrer genuinen
Rationalität ein Bewusstsein dieser sinnkonstitutiven Begrenztheit kul-
tivieren, berührt sich Heideggers spätes Denken nicht nur mit christli-
chem, mystischem Transzendenz- und Gottesverständnis, sondern
deutlich auch mit Traditionen fernöstlicher Weisheit des Buddhismus
und Taoismus. Die religiöse Tiefendimension dieses Denkens ist evident.
In ihr artikuliert sich ein Bewusstsein von den Grenzen der okzidentalen
Rationalität und von der Angewiesenheit des menschlichen Daseins auf
seine unverfügbaren natürlichen Lebensgrundlagen, das auch die politi-
sche Ökologiebewegung Jahrzehnte vor ihrem massiven Auftreten an-
tizipiert. Heideggers dramatisches Krisenbewusstsein artikuliert sich in
seinem letzten großen Interview, das er dem „Spiegel“ gab, schließlich in
dem Satz: „Nur noch ein Gott kann uns retten.“9
Auch die religiösen Implikationen des Denkens von Karl Jaspers sind
unübersehbar. Sie münden in eine existenzphilosophisch rekonstruierte
Metaphysik, in der die Gottheit als „Transzendenz“ gefasst und in der eine
Theorie der „Chiffreschrift“ dieser Transzendenz entwickelt wird.10
Durch philosophische „Existenzerhellung“ des „Umgreifenden“ weiß
ich mich geschenkt – der Transzendenzbezug eröffnet Liebe und Freiheit,
aber auch das existentielle „Scheitern“, in dem das Sein erfahren wird.
Der denkbare enge Konnex von Philosophie und Religion in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt sich auch im Werk Paul Tillichs, der
Gott als das „Sein-selbst“, als „das, was uns unbedingt angeht“, versteht.

8 Vgl. Rentsch, Das Sein und der Tod (Anm. 4), 175 – 221.
9 Das Interview stammt vom 23.9.1966. Veröffentlicht in: Der Spiegel (31. Mai
1976) 193 – 219.
10 Karl Jaspers, Philosophie III Metaphysik, München 1994 (Heidelberg 1932) sowie
ders.: Chiffren der Transzendenz, München 1970.
Religion und Philosophie 295

Seine Theorie der Vermittlung von Offenbarung und Wirklichkeit


(„Korrelation“) zielt auf ein „Neues Sein“ des Menschen als Überwin-
dung der modernen Entfremdungsverhältnisse.11 Auch bei Tillich ist der
praktisch-politische und emanzipatorische Bezug seines Denkens bei
allem Transzendenzbezug eindeutig.
Beim frühen Wittgenstein wird der alles umfassende Bereich: Dass
die Welt ist, Gott und der Sinn des Lebens, als „das Mystische“ und
„Unsagbare“ von innen her aus der wissenschaftlich-logischen Ratio-
nalität ausgegrenzt. Wenn alle wissenschaftlichen Fragen beantwortet
sind, sind nach Wittgenstein unsere Lebensfragen noch gar nicht be-
rührt.12 Auch bei ihm wird also die Dimension existentiellen Sinns im
Verhältnis des Menschen zu einer absoluten Transzendenz jenseits wis-
senschaftlicher Orientierungen verortet. Seine Lebenspraxis, sein
Rückzug ins Kloster und als Dorfschullehrer, seine langjährige intensive
Lektüre des Neuen Testaments, Tolstois und Kierkegaards, dies alles
bezeugt die fundamentale Bedeutung der Religion für ihn. In Bemer-
kungen zu seinem Schüler Drury wird das so deutlich: „Kierkegaard was
by far the most profound thinker of the last century. Kierkegaard was a
saint.“13 Und „I am not a religious man but I cannot help seeing every
problem from a religious point of view.“14 Die Spätphilosophie Witt-
gensteins sowie seine Vorlesungen zur Religion und zum Gottesver-
ständnis führen zu einer breiten, an Kierkegaard orientierten Sprach- und
Religionsphilosophie (s.u.).15 Neben dem Lebensformbezug der reli-
giösen Praxis steht auch bei Wittgenstein die Sprache der Religion und
ihre Differenz zu wissenschaftlicher Rede im Zentrum. Diese Aspekte
verbinden sein Denken auf grundsätzliche Weise mit dem Heideggers.
Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule ist ohne religiöse und
theologische Bezüge ebenfalls nicht denkbar. Das gilt zunächst in hohem

11 Paul Tillich, Religionsphilosophie, Stuttgart 1962; ders.: Der Mut zum Sein,
Stuttgart 1968.
12 „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle mçglichen wissenschaftlichen Fragen beant-
wortet sind, unsre Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ (Tractatus logico-
philosophicus 6.52)
13 Maurice O’Connor Drury, „Some notes on conversations with Wittgenstein“,
in: Rush Rhees (Hg.), Ludwig Wittgenstein: Personal Recollections, Oxford 1981,
102.
14 Ebd., 94.
15 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen und Gesprche ber sthetik, Psychologie und
Religion, Göttingen 21971. Zu Wittgensteins Religionsphilosophie: Friedo Ri-
cken, Religionsphilosophie, Stuttgart 2003, v. a. 29 – 56.
296 Teil 1. Religionsphilosophie

Maße für ihren Urvater Walter Benjamin und auch für ihre klassische
Gestalt bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Benjamins
ganzes Denken entfaltet eine radikalisierte Form der Dialektik zwischen
absolut gedachter Transzendenz und dem historisch-materialistisch
konzipierten Geschichtsprozess. Er entwickelt ein irreduzibles Trans-
zendenz- und Eschatologieverständnis, welches sich begrifflich völlig der
Funktionalisierung und auch der politischen Indienstnahme verweigert,
und das gerade so ein vertieftes Verständnis von Profanität und Säkula-
risierung erreicht. Gott und Welt, Transzendenz und Profanität,
Eschatologie und Geschichte, Erlösung und Befreiung werden radikal
unterschieden, gerade um eine radikal kritische Instanz der Infragestel-
lung aller Immanenz festzuhalten. Nur die Perspektive absoluter Trans-
zendenz entbirgt ein anamnetisches – ein „Eingedenken“ ermögli-
chendes – und auch auf Zukunft gerichtetes Vernunftpotential, das in
keinem linearen Fortschrittsoptimismus aufgehoben werden kann. Die
authentische Transzendenzperspektive allein eröffnet nach Benjamin die
Tiefenstruktur der praktischen Vernunft und die Dimensionen des Ge-
dächtnisses, der Erinnerung an das Leiden der Unschuldigen. Für die
Gegenwartsdiskussion besonders relevant ist im Ansatz Benjamins, dass
für radikal gedachte Transzendenz keine weltlichen Substitute oder
Surrogate möglich sind. Mythisierungen weltlicher Instanzen, politische
Hoffnungen als Hoffnungen auf endgültiges Heil, Herrschaftsformen als
göttlich legitimiert – das sind fundamentale Missverständnisse, die sich in
der Praxis verheerend auswirken. Nur im Widerschein absoluter Trans-
zendenz zeigen sich die transpragmatischen Sinnbedingungen aller Praxis
und Rationalität: „Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das
Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach
dem Löschblatt, so würde nichts was geschrieben ist, übrig bleiben
[…].“16
In veränderter Form bleibt dieser sinnkonstitutive Trans-
zendenzbezug der Kritischen Theorie erhalten, wenn Max Horkheimer
die „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ im Zentrum seines Denkens
expliziert. Die Kritik der instrumentellen Vernunft hat eine theologische
Tiefendimension. Horkheimer konstatiert apodiktisch: „Einen unbe-

16 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, N8, 1 (GS V) 588. Man vergleiche diese
Aussage mit dem Diktum Wittgensteins, Anm. 14.
Religion und Philosophie 297

dingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel.“, und „Zugleich mit Gott
stirbt auch die ewige Wahrheit.“17
In Adornos Theorie nimmt die reflexive Bezugnahme des philoso-
phischen Denkens auf ein Absolutes systematisch eine charakteristisch
transformierte Gestalt an. Da das Absolute nicht mehr positiv gedacht
oder gar expliziert werden kann, „wird es“ nach einer treffenden For-
mulierung Michael Theunissens „immer kleiner“.18 Der Kern dieses
Denkens ist das – ebenso wie das „Mystische“ Wittgensteins und das
„Sein“ Heideggers – unsagbare, prädikativ nicht vergegenständlichbare
„Nichtidentische“. Dass alles identifizierende, vorstellende Denken
dieses Nichtidentische notwendig verfehlt, ist Grundlage der „Negativen
Dialektik“.19 Auf diese Weise leitet eine negative, eschatologische Utopie
unverkürzter, liebender Erkenntnis und nicht-verdinglichter Indivi-
dualität Adornos Gesellschaftskritik, seine „Ästhetische Theorie“ und
seine Musikästhetik. Erst der eschatologische Zusammenfall von ästhe-
tischer Erfahrung und begrifflicher Diskursivität ergäbe Adorno zufolge
die „wahre Sprache“, deren Idee „die Gestalt des göttlichen Namens“
ist.20 In seinen bahnbrechenden Analysen zur modernen Kunst und
Musik verbindet Adorno eine neuplatonisch inspirierte Ästhetik von
Ekstasis, Pleroma (erfüllter Augenblicklichkeit) und Plötzlichkeit (Plotin:
exaiphnes) mit Elementen einer kenotischen Christologie. Schönbergs
Musik hat „alle Dunkelheit und Schuld der Welt […] auf sich genom-
men.“21 Spuren der Transzendenz, Spuren des Absoluten gibt es bei
Adorno zwar in „kleingewordener“ Form, im scheinbar Marginalen, in
kurzen Momenten der Kindheit, der ästhetischen Erfahrung oder in
entfremdeten und dennoch auf Erfüllung hin geöffneten Alltagssitua-

17 Vgl. dazu Jürgen Habermas, „Zu Max Horkheimers Satz ,Einen unbedingten
Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel‘“, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt a.M.
1991, 110 – 126.
18 Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in: Ludwig v. Friedeburg/
Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a.M. 1983, 41 – 65,
dort 65.
19 Dazu Thomas Rentsch, „Vermittlung als permanente Negativität. Der Wahr-
heitsanspruch der „Negativen Dialektik“ auf der Folie von Adornos Hegelkri-
tik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 252 – 270.
20 Theodor W. Adorno, Fragment ber Musik und Sprache, in: ders., Gesammelte
Schriften Bd. 16, Frankfurt a.M. 1978, 252.
21 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: ders., Gesammelte
Schriften Bd.12, Frankfurt a.M. 1975, 126.
298 Teil 1. Religionsphilosophie

tionen des „beschädigten Lebens“.22 Aber dieses – von Theunissen wie


von Pangritz23 treffend analysierte – „Kleiner- und Unsichtbarwerden der
Theologie“ gerade in der modernen Philosophie und insbesondere in der
Philosophie Adornos schmälert nicht die systematisch zentrale Bedeutung
und die Funktion dieser negativen, verhüllten Sinndimension. Sie ist
vielmehr auf indirekte Weise für die tiefgreifende Kritik und schon für die
sensible Wahrnehmung gesellschaftlicher Entfremdungsphänomene
humanen Lebens unter dem Zwang instrumenteller Verhältnisse un-
verzichtbar und leitend.
Jürgen Habermas scheint sich am weitesten von religiösen Tiefen-
dimensionen der Philosophie zu lösen. Dennoch versteht sich sein
Hauptwerk, die „Theorie des kommunikativen Handelns“, als eine
sprachliche Anverwandlung des Sakralen. Es geht ihm darum, die Einheit
der Vernunft in der kommunikativen Alltagspraxis zu rückzugewinnen,
nachdem seiner Auffassung nach „alle substantiellen Vernunftbegriffe
kritizistisch aufgelöst worden sind.“24 Gegenüber kultisch-rituellen
Vergegenwärtigungsformen der emphatisch verstandenen Heilswahrheit
stelle die Versprachlichung eine „kommunikative Verflüssigung des re-
ligiösen Grundkonsenses“25 dar. Die Idee einer transzendentalen bzw.
idealen Kommunikationsgemeinschaft bei Habermas und Karl-Otto
Apel bleibt somit durch ihre Herkunft aus den Grundgedanken von
Josiah Royce und Charles S. Peirce von theologischen Modellen und
religiösen Vorgestalten perfekter Transzendenz und Kommunikation
geprägt.26 Habermas erklärt in der Konsequenz seiner alltagspraktischen
Transformation die Diskursgemeinschaft zum Substitut des Heiligen in
der Gegenwart: „allein die zur Diskursethik entfaltete, kommunikativ
verflüssigte Moral kann […] die Autorität des Heiligen substituieren. In
ihr hat sich der archaische Kern des Normativen aufgelöst, mit ihr ent-

22 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten


Leben, Frankfurt a.M. 1951.
23 Andreas Pangritz, Vom Kleiner- und Unsichtbarwerden der Theologie, Tübingen
1996.
24 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 1, Frankfurt a.M.
1981, 340.
25 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1988, 126;
vgl. 140.
26 Das wurde in religionskritischer Absicht besonders herausgearbeitet von Hans
Albert, Transzendentale Trumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein herme-
neutischer Gott, Hamburg 1975.
Religion und Philosophie 299

faltet sich der rationale Sinn von normativer Geltung.“27 Obwohl sich
Habermas später differenziert mit religiösen Wahrheitsansprüchen aus-
einander setzt, stellt er fest: „Nachmetaphysisches Denken unterscheidet
sich von Religion dadurch, dass es den Sinn des Unbedingten rettet ohne
Rekurs auf Gott oder ein Absolutes.“28
Dennoch wird er zunehmend sensibel dafür, „dass die monotheisti-
schen Traditionen über eine Sprache mit einem noch unabgegoltenen
semantischen Potential verfügen, das sich in weltaufschließender und
identitätsbildender Kraft, in Erneuerungsfähigkeit, Differenzierung und
Reichweite“ gegenüber „säkularen Traditionen“ „als überlegen er-
weist“.29 Deutlich wird diese Sensibilität in Habermas’ Rede zum Frie-
denspreis des Deutschen Buchhandels: „Säkulare Sprachen, die das, was
einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich
Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß
gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“30 Es geht
Habermas in der Tradition Kants daher um „eine säkularisierende und
zugleich rettende Dekonstruktion von Glaubenswahrheiten“: „Wer ei-
nen Krieg der Kulturen vermeiden will, muss sich die unabgeschlossene
Dialektik des eigenen abendländischen Säkularisierungsprozesses in Er-
innerung rufen.“31 Das heißt: Der Prozess der Aufklärung im Dialog
zwischen Religion und Philosophie ist offen und geht weiter.
Auch das Denken des neben Deleuze und Lyotard wichtigsten
Philosophen des französischen Poststrukturalismus, der Postmoderne und
Dekonstruktion, von Jacques Derrida, ist ohne einen religiösen, negativ-
theologischen Hintergrund nicht zu begreifen. Sein Grundbegriff der
Differenz meint – in sprachphilosophischer Fortführung Heideggerschen
Denkens – den sprachlichen Sinn, dessen Abwesenheit man nie in An-
wesenheit verwandeln kann. Strukturell der traditionellen Konzeption
der Ferne und Nähe, der abwesenden Anwesenheit Gottes konform,
entfaltet sich um die Differenz eine Gruppe ehemals metaphysischer

27 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 2, 140.


28 Habermas, „Zu Max Horkheimers Satz ,Einen unbedingten Sinn zu retten ohne
Gott, ist eitel“‘, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt a.M. 1991, 110 – 126, dort
125.
29 Habermas, „Exkurs: ;Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits‘“, in:
ders., Texte und Kontexte, 127 – 156, dort 131. Vgl. auch: ders., „Ein Gespräch
über Gott und die Welt“, in: ders., Zeit der bergnge, Frankfurt a.M. 2001, 173 –
196.
30 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a.M. 2001, 24.
31 Habermas, Glauben und Wissen, 11.
300 Teil 1. Religionsphilosophie

Begriffe, deren wichtigster der der „Spur“ ist. Wir erreichen je nur
Spuren sich zeigenden Sinns. Dies lehrt auch die neuplatonische Theo-
logie Plotins mit ihrem Begriff der Spur (ichnos) des Einen, ebenfalls
Augustinus, der die Spur als vestigium Gottes bezeichnet.32 Der religiöse,
negativ-theologische, mystische Subtext des Denkers der entzogenen
Schrift ist in seinen vielen Werken überall präsent. Als algerischer Jude
beerbt Derrida so die Lehre von der verborgenen Thora. In weiteren
großen Texten zu „Glaube und Wissen“ und zur Sprache des Gebets
expliziert Derrida immer deutlicher seine lebenslange Bezogenheit auf
religiöse Ursprünge und die „Rückkehr des Religiösen“ in der modernen
Welt: „Die ,Tode Gottes’, auf die man vor dem Christentum, im
Christentum und jenseits des Christentums stößt, sind […] Figuren und
Peripetien einer […] Anwesenheit einer Abwesenheit. Das Nichter-
zeugbare, das so immer wieder erzeugt wird, ist der leere Ort. Ohne Gott
kein absoluter Zeuge.“33 Er reflektiert „die weltweite Latinisierung ( jenes
eigentümliche Bündnis des Christentums als Erfahrung von Gottes Tod
mit dem fernwissenschaftstechnischen Kapitalismus)“, die „eine hege-
monische Position einnimmt und zugleich an ihr Ende gelangt, über-
mächtig und fast schon erschöpft.“34 Er macht deutlich, dass der absolute
Wert des menschlichen Lebens – gegen allen Marktpreis und gegen alle
Biotechnologie „die unendliche Transzendenz bezeugt, die dem, was
mehr wert ist als es selbst, eignet“ – „die Göttlichkeit, das Allerheiligs-
te“.35 In seinen Interpretationen arbeitet Derrida konsequent und dra-
matisch die konstitutiv religiösen und theologischen Prämissen des
Kantschen Denkens wie der westlichen Moderne insgesamt heraus. Er
rekonstruiert eine gegenwärtige Konstellation, die sich „zwischen einer
Sakralität ohne Glaube (Anzeichen dieser Algebra: ,Heidegger’) und
einer Heiligkeit ohne Sakralität (…) (Anzeichen: ,Lévinas‘ (…))“ ab-
zeichnet.36 Seine persönlichen Reflexionen zur Gebetspraxis vertiefen
das Bewusstsein dieser Konstellation auf eindrucksvolle Weise.37

32 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972; ders.,
Randgnge der Philosophie, Wien 1988.
33 Jacques Derrida, „Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ,Religion‘ an den
Grenzen der bloßen Vernunft“, in: ders./Gianni Vattimo, Die Religion, Frankfurt
a.M. 2001, 9 – 106, dort 47.
34 Derrida, Glaube und Wissen, 25.
35 Derrida, Glaube und Wissen, 84.
36 Derrida, Glaube und Wissen, 103.
Religion und Philosophie 301

Das Entscheidende der phänomenologischen Schule war es im Blick


auf religiöse Phänomene, deren interne, irreduzible Eigenart und Au-
thentizität wieder freilegen zu wollen. Das gilt für die frühe Schule mit
Adolf Reinach und Edith Stein und setzt sich in großer Form bei Em-
manuel Lévinas fort.39 In der Tradition der Hermeneutik wies Gadamer
immer wieder darauf hin, wie unverzichtbar das Festhalten der philo-
sophischen Frage nach der Transzendenz für einen Dialog der Welt-
kulturen und der Weltreligionen sei.40 Das „schwache Denken“ von
Gianni Vattimo führt gerade nach dem Ende der Heilsverheißungen der
Moderne zur zentralen Bedeutung der menschlichen Hinfälligkeit und
Endlichkeit und zu einem neuen philosophischen Verständnis der Tri-
nität und der Menschwerdung Gottes zurück; für ihn ist das „proble-
matische Verhältnis zwischen Philosophie und religiöser Offenbarung der
eigentliche Sinn der Menschwerdung.“41 Charles Taylor thematisiert die
„Formen des Religiösen in der Gegenwart“42 und stellt die Grundfrage,
ob der expressive Individualismus der westlichen Moderne, dessen reli-
giöse Ursprünge er in „Quellen des Selbst“ umfassend untersucht hat, es
noch gestatte, „unsere Verbindung mit dem Sakralen in irgendeinen
besonderen, größeren Rahmen einzufügen, sei es die ,Kirche’ oder der
Staat.“43 Gibt es einen „Ort für die Transzendenz in unserer heutigen
Gesellschaft?“44 Taylor analysiert die Gründe für die Entzauberung und

37 Vgl. dazu John D. Caputo, „Die différance und die Sprache des Gebets“, in:
Florian Uhl/Artur R. Boelderl, (Hg.), Die Sprachen der Religion, Berlin 2003,
293 – 315.
39 Emmanuel Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfllt. Diskurse ber die Betroffenheit von
Transzendenz, Freiburg 1985.
40 Hans-Georg Gadamer, „Metaphysik und Transzendenz“; „Der letzte Gott“,
beide in: ders., Die Lektion des Jahrhunderts. Ein Interview von Riccardo Dottori,
Münster 2002, 72 – 87 und 140 – 153; vgl. auch ders., Sein Geist Gott (1977),
Gesammelte Werke Bd. 3, Tübingen 1987, 320 – 332. Auch das Werk Paul
Ricoeurs thematisiert im Zentrum religiöse Fragen; vgl. dazu Paul Ricoeur/
Yvanka B. Raynova, „Der Philosoph und sein Glaube“, in: Deutsche Zeitschrift
für Philosophie 1(2004), 85 – 112.
41 Gianni Vattimo, „Die Spur der Spur“, in: Jacques Derrida/ders., Die Religion,
107 – 123; vgl. ders., Glauben – Philosophieren, Stuttgart 1997.
42 Charles M. Taylor, Die Formen des Religiçsen in der Gegenwart, Frankfurt a.M.
2002.
43 Charles M. Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, 85; vgl. sein
Hauptwerk: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität,
Frankfurt a.M. 1994.
44 Charles M. Taylor, „Ein Ort für die Transzendenz?“, in: Information Philo-
sophie 2 (2003) 7 – 16.
302 Teil 1. Religionsphilosophie

die „Gottesfinsternis“ in der modernen Welt und artikuliert Bedingun-


gen für eine neue Erschließung der Transzendenz: in einer „Liebe zum
Menschen, so wie er ist, mit all seinen Fehlern und Schwächen“, einer
„Liebe, deren wir nur durch Gottes Gnade fähig sind.“ Eine solche
Perspektive eröffnet den „Sinn des Sinns“.45
Neben phänomenologischer und hermeneutischer Tradition ist es
vor allem die analytische Sprachphilosophie, die in den letzten Jahr-
zehnten eindrucksvolle Untersuchungen zur Religionsphilosophie und
zur philosophischen Theologie vorgelegt hat. Zentral für die Rekon-
struktion des genuinen internen Geltungssinnes der religiösen Sprache
und Praxis und der spezifischen „Grammatik“ religiöser Rede war die
Orientierung an der Spätphilosophie Wittgensteins. Dass die religiöse
Sprache einer eigenen Grammatik folgt, zeigte Dewi Z. Phillips in
subtilen Untersuchungen.46 Hilary Putnam hat in der Tradition des jü-
dischen Monotheismus im Anschluss an die negative Theologie des
Moses Maimonides und an die Sprachanalysen Wittgensteins die religiöse
Rede von Gott als nicht-referentialisierende Rede interpretiert: der
Name „Gott“ artikuliert auch den Ursprung aller Bedeutung.47 Die re-
ligiöse Sprache ist zwar in das religiöse Leben eingebettet, sie ist aber
zugleich offen für die gesamte nicht-religiöse Alltagswelt. Im Rahmen
der analytischen Sprachphilosophie hat Richard Swinburne „Die Exis-
tenz Gottes“ auf ihre theoretische Begründbarkeit untersucht und klas-
sische Gottesbeweise rekonstruiert.48 Er rückt sie in die Nähe wissen-
schaftlicher Hypothesenbildung. Ähnlich unternimmt es Alvin Plantinga,
die Existenz Gottes erkenntnistheoretisch und modallogisch zu thema-
tisieren.49 Im Gegenzug erweist sich für den Atheisten John Leslie Mackie
„Gott“, verstanden als erklärende Zusatzhypothese unseres Weltwissens,
als überflüssig.50 Die Religionsphilosophie von John Hick hebt demge-
genüber gerade den Wirklichkeitscharakter religiöser Erfahrung hervor
und gelangt zu einem „eschatologischen Verifikationismus“, dem ein
nicht ganz klarer Status zwischen christlicher Heilshoffnung und wis-

45 Ebd., 15.
46 So z. B. Dewi Z. Phillips, The concept of prayer, London 1965.
47 Hilary Putnam, „God and the Philosophers“, in: Midwest studies in philosophy 21
(1997) 175 – 187; ders., „On Negative Theology“, in: Faith and Philosophy 14
(1997) 407 – 422.
48 Richard Swinburne, Die Existenz Gottes, Stuttgart 1987.
49 Alvin Plantinga, God, Freedom, and Evil, New York 1974.
50 John Leslie Mackie, Das Wunder des Theismus. Argumente fr und gegen die Existenz
Gottes, Stuttgart 1985.
Religion und Philosophie 303

senschaftlicher Hypothesenbildung eignet.51 William P. Alston entwi-


ckelt in „Perceiving God“ eine komplexe Analyse alltäglicher Wahr-
nehmungsurteile im Vergleich mit religiöser Erfahrung.52 Die Leistungen
der gegenwärtigen Religionsphilosophie werden durch die subtilen und
klaren Untersuchungen in der analytischen Tradition erheblich berei-
chert. 53

3
Das Verhältnis von Philosophie und Religion lässt sich am Schluss unserer
knappen Darstellung im Blick auf Probleme, offene Fragen und syste-
matische Anforderungen mit folgenden Bemerkungen präzisieren. Ob-
wohl lange nicht explizit genug bedacht, zeigt der genaue Blick auf die
wesentlichen Leistungen der Philosophie der Moderne, auf Heidegger,
Wittgenstein, Adorno, Derrida und andere Denker, dass diese Philoso-
phien in ihrem Zentrum selbst eine mehr oder weniger ausgebildete re-
ligiçse Tiefendimension aufweisen. Sie haben einen religiösen Kern, ohne
den sie gar nicht denkbar sind. Auch Fergus Kerr hat in einer sehr in-
struktiven Untersuchung herausgearbeitet, dass die moderne Philosophie
entgegen weit verbreiteter Meinung in säkularisierter Form tief von
religiösen Motiven geprägt ist. In seinen Stanton Lectures an der Uni-
versität Cambridge analysiert er die theologische Tiefendimension der
Philosophien von Martha Nussbaum, Iris Murdoch, Luce Irigaray,
Stanley Cavell und Charles Taylor.54 Er zeigt, dass in allen diesen An-
sätzen Wege des Transzendierens des Menschlichen um des Menschen
Willen leitend sind. Theologische Vorbegriffe spielen in der modernen
Philosophie eine viel größere Rolle als bisher wahrgenommen.

51 John Hick, Religion. Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod,
München 1996.
52 William P. Alston, Perceiving God – The Epistemology of Religious Belief, Ithaca/
London 1991.
53 Eine sehr gute Einführung bietet Christoph Jäger (Hg.), Analytische Religions-
philosophie, Paderborn 1998. Als einen extremen Gegenentwurf zu solchen ra-
tional-metaphysischen Ansätzen kann man die religionsphilosophischen Arbei-
ten von Kurt Hübner lesen, der eine totale Differenz von Vernunft und
christlicher Offenbarung, von wissenschaftlicher und mythischer Wahrheit, von
Denken und Glaube so festschreibt, dass keine Vermittlung denkbar ist; vgl. Kurt
Hübner, Glaube und Denken. Dimensionen der Wirklichkeit, Tübingen 2001.
54 Fergus Kerr, Immortal Longings. Versions of Transcending Humanity, Norte Dame
(Indiana) 1997; vgl. ders., Theology after Wittgenstein, Oxford 1986, 21997.
304 Teil 1. Religionsphilosophie

Um das Verhältnis von Religion und Philosophie in der Gegenwart


voranzubringen, ist eine systematische Explikation dieses Verhältnisses
neu zu leisten. Es gilt, sich klarzumachen, dass Philosophie von Platon
und Aristoteles bis zu Kant und Hegel auch und im Kern religiös und
philosophische Theologie war, und dass sie dies auch nach aller Religi-
onskritik auf eigentümliche Weise blieb. Wie kann sich Philosophie neu –
und nach aller Ontologie-, Sprach- und Ideologiekritik – den alten
Fragen nach Transzendenz, dem Absoluten, Gott und unbedingtem Sinn
zuwenden? Diese Frage neu zu stellen, ist eine innerphilosophische
Notwendigkeit,55 aber mehr noch ist ihre Behandlung angesichts der
krisenhaften weltgeschichtlichen Konstellation unumgänglich, schließ-
lich aus existentiell-praktischen Gründen, denn die Menschen fragen
weiter nach unbedingtem Sinn.
Für die neuerliche Behandlung der religiösen, existentiellen
Grundfragen genügen nach dem bisher Ausgeführten bloß beschreibende
(phänomenologische), bloß auslegende, deutende (hermeneutische) und
bloß analytische methodische Zugriffe nicht – so unverzichtbar ihre
Beiträge, wenn sie gelingen, auch sind. Erst recht unzulänglich sind nur
funktionale Analysen im Rückgriff auf sozialwissenschaftliche oder
psychologische Rationalitätskriterien. Aber auch die Ansätze der Reli-
gionsphilosophie genügen dann nicht, wenn nicht die Frage nach dem
Wahrheits- und Geltungsanspruch von Religion im Verhältnis zur phi-
losophischen Vernunft wieder ins Zentrum der Reflexion rückt. Es darf
nicht zu einem bei faktischen Lebensformen oder kulturellen Traditionen
innehaltenden Reflexionsabbruch kommen. Die Philosophie muss selbst
ihr Verhältnis zu religiöser Wahrheit, das Verhältnis von Vernunft und
religiöser Wirklichkeitserkenntnis neu bestimmen – im Rückgang auch
auf ihre eigene metaphysische, ontologische und transzendental-idealis-
tische Tradition. Innovative Ansätze dazu zeigen sich in der analytischen
Tradition, aber auch bei Franz von Kutschera, Dieter Henrich, Robert
Spaemann, Ernst Tugendhat, Michael Theunissen und Peter Strasser. In
der deutschsprachigen Philosophie sind in den letzten Jahren weiter-
führende Diskussionen zur philosophischen Gottesfrage und zum Ver-

55 Vgl. dazu das Standardwerk von Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen.
Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, 2 Bde.,
Darmstadt 1972/München 1979; sowie Georg Scherer, Die Frage nach Gott.
Philosophische Betrachtungen, Darmstadt 2001 und Philip Clayton, Das Gottespro-
blem. Bd. 1, Gott und die Unendlichkeit in der neuzeitlichen Philosophie, Paderborn
1996.
Religion und Philosophie 305

hältnis des „Gottes der Philosophen“ zum „Gott der Theologen“ geführt
worden.56 Franz von Kutschera hat zu den philosophisch-theologischen
Grundfragen Untersuchungen vorgelegt, die auf modifizierte Weise an
Kant anschließen.57 Die Modifikationen betreffen die stärkere Einbe-
ziehung existentiell-holistischer und emotiv-affektiver Aspekte des
christlichen Glaubens, der im Zentrum der Analysen von Kutscheras
steht: „Der Glaube ist nicht erkenntniserweiternd, aber er zeigt einen
Weg, den wir gehen können, und öffnet unserem Leben einen über-
wältigend großen Sinnhorizont.“58
Die Sinngrenzreflexion in der Tradition des transzendentalen Idea-
lismus in Richtung auf ein Absolutes als Grund des Bewusstseins fort-
zuführen, steht auch im Zentrum des Denkens von Dieter Henrich.
Metaphysik wird als eine Erkenntnis mit Selbst- und Weltbezug und als
„Grundverfassung des bewussten Lebens“ begriffen, die ihre „Form ganz
aus der Einsicht in die Wahrheit einer Lebensdeutung gewonnen hat.“ 59
Das heißt: In einer recht verstandenen philosophischen Grundlagenre-
flexion geht es letztlich um das Gewinnen wahrer, verbindlicher, le-
benstragender Einsichten, und damit auch um die Frage nach Gott.

56 Hans M. Baumgartner/Hans Waldenfels (Hg.), Die philosophische Gottesfrage am


Ende des 20. Jahrhunderts, Freiburg/München 1999. Besonders weise ich hin auf
den instruktiven Beitrag von Ludger Honnefelder, „Die Bedeutung der Meta-
physik für Glauben und Wissen“, 47 – 64, in dem ein fundamental praktisches
Verständnis der metaphysischen ,Theorie’ selbst erläutert wird; Christof Gestrich
(Hg.), Gott der Philosophen – Gott der Theologen. Zum Gesprchsstand nach der
analytischen Wende, Berlin 1999 (Beiheft zur Berliner Theologischen Zeitschrift).
Besonders weiterführend der Aufsatz von Ingolf U. Dalferth, „Inbegriff oder
Index? Zur philosophischen Hermeneutik von ,Gott‘“, 89 – 132, in dem die
Leugnung Gottes als Selbstwiderspruch analysiert wird. Vgl. zum Status der
Metaphysik im Kontext der religiösen Grundfragen auch: Matthias Lutz-
Bachmann (Hg.), Metaphysikkritik, Ethik, Religion, Würzburg 1995, sowie ders.,
„Postmetaphysisches Denken? Überlegungen zum Metaphysikbegriff der Me-
taphysikkritik“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002) 414 –
425.
57 Franz v. Kutschera, Vernunft und Glaube, Berlin/New York 1991; ders., Die
großen Fragen. Philosophisch-theologische Gedanken, Berlin/New York 2000.
58 Franz v. Kutschera, Die großen Fragen. Philosophisch-theologische Gedanken,
VII.
59 Dietrich Henrich, Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt a.M. 1982, 13. Vgl.
ders., Bewusstes Leben. Untersuchungen zum Verhltnis von Subjektivitt und Meta-
physik, Stuttgart 1999 sowie ders., „Religion und Philosophie – letzte Gedanken
– Lebenssinn“, in: Dietrich Korsch/Jörg Dierken (Hg.), Subjektivitt im Kontext.
Erkundungen im Gesprch mit Dieter Henrich, Tübingen 2004 (Religion in Phi-
losophy and Theologie 8) 211 – 231.
306 Teil 1. Religionsphilosophie

Ebenso hat Robert Spaemann das philosophische Denken immer wieder


mit der Gottesfrage verknüpft: „Wer glaubt, dass Gott ist, glaubt, dass das,
was der Fall ist, die Welt unserer Erfahrung einschließlich seiner selbst,
eine ,Tiefe’, eine Dimension hat, die sich der Erfahrung, auch der in-
trospektiven, entzieht. Diese Dimension ist der Ort, wo das, was ist, aus
seinem Ursprung hervorgeht. Und zwar nicht im Sinne eines zeitlichen
Folgens auf Antezedenzbedingungen, sondern als gemeinsames Her-
vorgehen mit den Entstehungsbedingungen und zugleich als Emanzi-
pation von diesen, also als Selbstsein. An einen Schöpfer glauben heißt
glauben, dass das Sein der Dinge und des Lebens der Sterblichen weder
notwendig noch die Folge eines universellen Trägheitsprinzips ist, son-
dern in jedem Augenblick Hervorgang aus dem Ursprung.“60 Spaemann
akzentuiert den Aspekt des Wunders, den der Unbedingtheit der Moral
und der Freiheit sowie der Personalität des Menschen als holistische
Prämissen, das Absolute als Gott zu denken. „Gottesbeweise nach
Nietzsche“ lassen sich in diesem Sinne als „Argumente ad hominem“
verstehen.61 Ernst Tugendhat vergleicht in einer neuen Untersuchung das
Transzendenzverständnis von Religion und Mystik. Während die Per-
spektive des jüdisch-christlichen Glaubens an Einen personalen Gott
„keine Möglichkeit aus der Perspektive der 1. Person mehr“ sei, sei „die
Mystik […] eine Möglichkeit […], die allen Menschen zugänglich ist.“62
Sehr fruchtbar sind die Untersuchungen von Michael Theunissen zu
einer „Negativen Theologie der Zeit“63. In einem neuen Aufsatz hat
Theunissen deutlich gemacht, wie er das Verhältnis von „Philosophie der
Religion“ und „religiöser Philosophie“ beurteilt. Die existentiell-prak-
tische Dimension des Glaubens an Gott findet er bei Wittgenstein zu-
treffend beschrieben. Er konstatiert aber angesichts der bloßen Be-
schreibung der Vielfalt der Lebensformen einen philosophischen
„Reflexionsabbruch“. Über diesen „wären zurückzugehen auf die in
ihnen sich erschließende Wirklichkeit.“ Man gelangt durch sie zu uni-
versalen Aspekten unserer Lebenswirklichkeit und erreicht, so Theu-

60 Robert Spaemann, „Das unsterbliche Gerücht“, in: Nach Gott fragen. ber das
Religiçse, Sonderheft Merkur, Heft 9/10 (1999), 772 – 783, dort 775; s. auch
ders., Personen. Versuche ber den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“,
Stuttgart 1996.
61 Robert Spaemann, „Gottesbeweise nach Nietzsche“, in: Nagl, Religion (Anm. 1)
111 – 122.
62 Ernst Tugendhat, Egozentrizitt und Mystik. Eine anthropologische Studie, München
2003, 115.
63 Micheal Theunissen, Negative Theologie der Zeit. Frankfurt a.M. 1991.
Religion und Philosophie 307

nissen, „größtmögliche Allgemeinheit“, die schließlich in die konkrete


religiöse Erfahrung und Praxis mit „größtmöglicher Bestimmtheit“ zu-
rückführt.64 Im Versuch, die Einzigkeit und Personalität Gottes zu
denken, führt die Transzendenzreflexion in die jüdisch-christliche Tra-
dition zurück, deren Gott, „wenn er auch keine Person ist, doch eine
personale Seite hat und sie uns zukehren kann.“65 Bezug wie Differenz
von spezisch religiöser Erfahrung und philosophischer Reflexion müssen
immer wieder deutlich gemacht werden.
Peter Strasser hat in jüngster Zeit intensive religionsphilosophische
Reflexionen vorgelegt, die im Zentrum die Gottesfrage thematisieren. Es
geht Strasser um die Rückgewinnung eines religiösen Universalismus
jenseits der Fundamentalismen, um ein vernünftiges Trans-
zendenzverständnis und den „Gott aller Menschen“: „Was wir brauchen,
ist eine Kultur, die das individuelle Bewusstsein in seinem Wert gerade
dadurch bestätigt, dass sie es auf einen Horizont bezieht, den zu erreichen
uns unmöglich ist, solange wir am endlichen Leben teilhaben. Das Leben
einer Kultur hängt davon ab, ob sie beseelt genug ist, sich an diesem
Horizont – dem Horizont der Verwandlung – auszurichten.“66
Es wird deutlich: Auf vielen Ebenen der Gegenwartsphilosophie
finden sich produktive Ansätze, die eine neue, lebendige Diskussion des
Verhältnisses von Religion und Philosophie und ihrer Stellung zu exis-
tentiellen Sinngrundfragen führen.
Auf diese Weise lässt sich nach Heidegger, Wittgenstein und Adorno
und ohne hinter Kant und Hegel, Schelling und Schleiermacher zu-
rückzufallen, ein Verständnis von religiöser Vernunft als der eigentlich
tragenden Tiefendimension unserer Praxis und unseres Welt- und
Selbstverständnisses im Ansatz entwickeln. Wir leben von und in für uns
völlig unverfügbaren Sinnbedingungen: Dass die Welt ist, dass überhaupt
etwas ist, dass wir selber sind; dass sprachlicher Sinn uns erschlossen ist;
dass wir selbst praktische, lebenstragende Verständnisse von Liebe und
Freiheit frei entwerfen können. Das Bewusstmachen und das Erkennen
dieser Transzendenz der Sinnbedingungen ist religiöse Vernunft, und Re-
ligion lässt sich somit als Aufklärung über lebenssinnkonstitutive Trans-

64 Michael Theunissen, „Philosophie der Religion oder religiöse Philosophie?“, in:


Information Philosophie 5 (2003), 7 – 14, dort 11 und 14.
65 Ebd., 11.
66 Peter Strasser, Der Gott aller Menschen: eine philosophische Grenzberschreitung, Graz
2002, 194; ders., Journal der letzten Dinge, Frankfurt a.M. 1988 sowie ders., Der
Weg nach draußen. Skeptisches, metaphysisches und religiçses Denken, Frankfurt a.M.
2000.
308 Teil 1. Religionsphilosophie

zendenz, als Aufklärung über Gott bzw. das Göttliche, bestimmen.67


Religiöse Vernunft kann zu einer Erweiterung des üblichen alltäglichen
wie philosophischen Vernunftverständnisses führen. Das Bewusstsein der
Verschränktheit von Endlichkeit, Unbedingtheit und Sinn führt ihre
Entwürfe über diskursive und pragmatisch beherrschbare Formen hinaus.
Indem wir endlich, bedingt und frei existieren, leben wir von nicht
machbarem natürlichem, sozialem und existentiellem Sinn: areligiös,
ohne ihn zu bemerken, religiös im Bewusstsein seiner ungeschuldeten
Gegenwart. Die Religionen artikulieren das Bewusstsein dieser Gegen-
wart. Sie erschließt sich in der Stille, im Innehalten, im Sehen und Hören,
in Scheu und Langsamkeit, Behutsamkeit und Nachdenklichkeit, in
Mündlichkeit und Schriftlichkeit, im vertrauten Gespräch, in den litur-
gischen und sakramentalen Formen. Die diskursive Vernunft öffnet sich
hier einer Tiefendimension, die sie nicht zerstört, sondern, recht ver-
standen, intensiviert. Die Dimensionen des Geheimnisses, des Wunders,
der Schöpfung und des Geschenkcharakters des Seins können so als
Tiefendimensionen existentiell-praktischer Vernunft selbst erkannt
werden. Das religiöse Bewusstsein dieser Transzendenz der Sinnbedin-
gungen einer menschlichen Welt ist auf Dauer nur um den Preis einer
Enthumanisierung menschlicher Praxis marginalisierbar. Keine Wissen-
schaft wird religiöse Vernunft und Erkenntnis der lebenssinnstiftenden
und lebenstragenden Wirklichkeit jemals ersetzen können. Um die Kritik
instrumenteller Welt- und Selbstverständnisse fortzusetzen, um das
Ganze der Wirklichkeit der Vernunft: der Sprache, der Liebe und der
Freiheit gegen reduktionistische Verständnisse zu retten, müssen kritische
Philosophie und religiöse Vernunft neue Wege beschreiten. Dann ist
auch die Frage nach der wahren Vernunftreligion mit Kant und Hegel
neu zu stellen – jenseits von Dogmatismus und Relativismus, jenseits von
Fundamentalismus und Irrationalismus, inmitten der modernen Le-
benswirklichkeit.

67 Thomas Rentsch, „Religiöse Vernunft. Kritik und Rekonstruktion. Systema-


tische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik“, in: ders., Negativitt und
praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 180 – 209; ders., „Worin besteht die
Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche? Religion und negative Meta-
physik“, in diesem Band; ders., Gott, Berlin/New York 2005.
Wieder nach Gott fragen? Thesen und Analysen
zur Rehabilitation philosophischer Theologie

Gibt es eine Möglichkeit, die Frage nach Gott für den Kernbereich der
systematischen Philosophie zurückzugewinnen, in dem sie einst stand?
Welche Entwicklungen der modernen Philosophie tragen zur Rehabi-
litation philosophischer Theologie tatsächlich bei?
Der Goldene Logos des Aristoteles besagt: Schon wenn wir uns
fragen, ob wir überhaupt philosophieren sollen oder nicht, philoso-
phieren wir – philosophieren müssen wir auf jeden Fall. Verstehen wir das
Philosophieren als Fragen nach Grenze, Grund und Sinn der Welt und des
menschlichen Lebens, so ist mit dem radikalen Fragen der Philosophie
auch ein Transzendenzbezug eröffnet und sogar notwendig verbunden,
den es gegenwärtig erneut explizit zu machen gilt. Wir müssen, sollen und
können gegenwärtig die philosophische Sinngrenzreflexion und Sinn-
grundreflexion wieder auf Grundfragen der Metaphysik und der
Theologie zurückbeziehen. Warum? Im vorliegenden Text will ich in
drei Schritten Gründe und Aspekte dieser Erneuerungsaufgabe erörtern.
Um deutlich zu sein, will ich meine Thesen provokativ zuspitzen.
Die erste These ist die historisch-systematische Irreduzibilittsthese:
Die Gottesfrage und die philosophische Theologie sind für die Genesis
der okzidentalen Rationalität unverzichtbar.
Die zweite These ist die logisch damit verbundene Substitutionsthese:
Die philosophische Reflexion der Moderne ist durch Substitute des
Absoluten, durch Surrogate geprägt – mangels expliziter theologischer
Dimension. Den tieferen Grund dieser Surrogatbildungen schaffen
prekäre Entzweiungsprozesse der Moderne, die ich als negative Dialektik
von Subjektivismus und Objektivismus charakterisiere.
Die dritte These besagt, dass wir der Irreduzibilität der theologischen
Grundlagen der okzidentalen Rationalität systematisch gerecht werden
sowie die krisenhaften Entzweiungsstrukturen und Surrogate der Mo-
derne und Postmoderne kritisch-reflexiv überwinden können, wenn wir
statt der Substitutionsbildungen eine philosophische Prototheologie innovativ
und systematisch entfalten. Deren Grundzüge werde ich abschließend
skizzieren.
310 Teil 1. Religionsphilosophie

1
Die erste These ist möglicherweise am ehesten allgemeiner Zustimmung
fähig. Was besagt diese Irreduzibilitätsthese? Genesis wie Geltung der
okzidentalen Rationalität sind ohne den ethischen Monotheismus un-
denkbar. Dessen Tiefenstruktur ist bei genauerer Analyse negativ-kritisch
und universalistisch. Es wird ein Bereich gedacht, der unbedingt sinn-
konstitutiv für die Vernunft, für Theorie und Praxis des Menschseins ist,
der aber andererseits der menschlichen Verfügungsmacht und Erkenntnis
in seiner Unbedingtheit völlig entzogen ist: Negativität, Transzendenz,
Sinnkonstitution und Universalismus werden so verklammert. Das bi-
blische Bilderverbot besagt, dass die Gottebenbildlichkeit des Menschen
darin besteht, dass Gott bildlos und unverfügbar bleibt und begründet so
die universale Menschenwürde. Das Sokratische Nichtwissen und die
sinnkonstitutive Transzendenz des Göttlichen und Guten in Platons
Ideenlehre setzen die kritisch-negative und letztlich ethische Sicht ab-
soluter Wahrheitsansprüche in der griechischen Philosophie fort. Die
Freisetzung der diskursiven Rationalität der Wissenschaften und der
praktischen Vernunft in Ethik, Politik und Ökonomie ist mit der Ne-
gativität der Transzendenz unlöslich verklammert. Nichts darf sich an die
Stelle Gottes setzen. Der praktische Sinn des konstitutiven Konnexes von
Negativität und Transzendenz artikuliert sich christlich in der Botschaft
von der Menschwerdung, vom Tod Gottes und vom Bleiben der Gemeinde in
der Liebe. Bilderverbot, Nichtwissen und Tod Gottes aus Liebe lassen sich
als Urstiftungen der okzidentalen Rationalität auszeichnen. Sie konsti-
tuieren sinnkriterial die okzidentale Rationalität, die Kompatibilität von
Wissenschaft, Ethik und Religion, ihre wechselseitige Verwiesenheit und
die Potentiale ihrer Ausdifferenzierung. Von Sokrates und Platon bis zu
Kant und Hegel besteht hier ein klarer faktischer systematischer Zu-
sammenhang von Wahrheits- und Geltungsansprüchen. Die Bewegung
zu Gott, die Orientierung an Gott wird als praktische, existentielle und
universale Lebensform verstanden. Die revolutionäre Entwicklung des
Abendlandes ist ohne den philosophischen wie religiösen ethischen
Monotheismus unmöglich und unverständlich, alle Fehlformen, Per-
vertierungen und Instrumentalisierungen eingeschlossen. An drei Bei-
spielen sei dies verdeutlicht. So entfaltete sich im okzidentalen Paradigma
eine reiche und radikal sinnkritische negative Theologie, deren große
Entwürfe im Verbund mit der rationalen Mystik in Aufklärung und
Moderne weisen, ohne den Gedanken absoluter Transzendenz preiszu-
geben, so bei Meister Eckhart und Cusanus. Bei Cusanus präfiguriert die
Wieder nach Gott fragen? 311

ars coniecturalis, die diskursive Erkenntnisleistung der wissenschaftlichen


Rationalität die transzendentale Analytik Kants, während die docta igno-
rantia die transzendentale Dialektik antizipiert. Erkenntniskritik und
authentische praktische Selbsterkenntnis, Negativität und Transzendenz
sind im Medium der negativen Theologie konstitutiv verbunden. Aber
dies gilt nicht erst für die genannten christlichen Autoren. Denn die
Geschichte der negativen Theologie zeigt, dass sie ihren Ursprung ganz
eindeutig vor dem Christentum, im philosophischen, ethischen Mono-
theismus des Platonismus hat: bei Proklos und Plotin.1 Das rationale,
erkenntniskritische Potential dieser Tradition besteht in der praktischen
Einsicht, dass die unverfügbaren Sinnbedingungen aller Theorie und
Praxis gerade aufgrund ihrer instrumentellen Unverfgbarkeit, aufgrund ihrer
Transzendenz gelten und sinnkonstitutiv fungieren, also praktisch wir-
ken. Der Geltungssinn des Wahren und Guten kann letztlich nur
transfunktional, transsubjektiv und transempirisch bestimmt werden,
letztlich als gründend in Gott. Nur wenn dies begriffen wird, entfaltet die
Sinndimension ihre rettende, befreiende Wirkung und wird real und
existentiell tragfähig.2
Das universalistische und revolutionäre Potential der philosophisch-
theologischen Tradition wird auch im zweiten Beispiel deutlich: Die
Naturrechtskonzeption, wie sie in der spanischen Barockscholastik vor
allem von de Vitoria und Suárez entwickelt wurde, bereitet der Sache
nach die bürgerlichen Revolutionen vor. Suárez bestreitet das göttliche
Recht der Könige. Er legitimiert das Widerstandsrecht, den Tyrannen-
mord und die Volkssouveränität. Das Naturrecht ist eigentlich ein gçtt-
liches Schçpfungsrecht: Gott der Gesetzgeber (deus legislator) verteilt das
Recht völlig gleich auf alle Völker und Nationen. Dabei sind aus-
drücklich die nichtchristlichen Völker eingeschlossen. Was das – zu Ende
gedacht – für das spanische Kolonialreich und die eroberten übersee-
ischen Gebiete bedeutet, widersprach der faktischen Politik. Auch die
Freiheit der Meere – das mare liberum – wird schöpfungstheologisch
begründet. Diese philosophisch-theologischen Begründungen erfolgen
vor Grotius und Pufendorf. Das revolutionäre Naturrecht, begründet im

1 Vgl. Thomas Rentsch, Artikel „Theologie, negative“, in: Joachim Ritter/


Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel
1998, Sp. 1102 – 1105.
2 In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf die Bedeutung des Mönchtums für
die westliche Kultur und Zivilisation hinzuweisen. Vgl. z. B. Hugo Fischer, Die
Geburt der westlichen Zivilisation aus dem Geist des romanischen Mçnchtums, München
1969.
312 Teil 1. Religionsphilosophie

universalistischen ethischen Monotheismus, enthält die Kerngehalte, die


zu den Transformationsprozessen von Aufklärung und französischer
Revolution führen. Es braucht nicht viel ethische Phantasie, um sich die
Aktualität dieses universalistisch-egalitären Schöpfungsdenkens für die
gegenwärtige und unsere Zukunft bestimmende ökologische Proble-
matik der Nutzung der endlichen natürlichen Ressourcen der Mensch-
heit auf unserem Planeten klarzumachen – insbesondere im Blick auf die
arme Weltbevölkerung.
Ein drittes, wieder nur scheinbar heterogenes Beispiel für die theo-
logische Tiefenstruktur der Genesis der okzidentalen Rationalität ist
Kant. In seiner Systemarchitektonik werden zunächst zwei Welten: die
noumenale, und die phänomenale, mundus intelligibilis und mundus sen-
sibilis, dualistisch streng getrennt. Unerkennbar ist die intelligible Welt,
unbegründbar die ihr entstammende menschliche Freiheit, unbegründbar
auch die eben unbedingte Geltung des Kategorischen Imperativs. Kants
Grundeinsicht besagt: Unbedingter Sinn ist nicht weiter erklärbar, son-
dern selbst Bedingung der Möglichkeit aller weiteren Erklärungen und
auch Zielsetzungen – der praktischen menschlichen Sinnentwürfe in
einer humanen Welt. Die Postulatenlehre expliziert die metaphysischen
und theologischen Implikationen dieser unbedingten Sinnbedingungen
aller menschlichen (vernünftigen) Praxis. Die Unbedingtheit der Einsicht
in die absolute Transzendenz ohne zusätzliche, sie stützende Ausma-
lungen und Begründungen verbindet bei Kant die weltsinnkonstitutiven
(nicht nur regulativen) Ideen Gott und Freiheit. Das wird besonders in der
Religionsschrift und in der Kritik der Urteilskraft deutlich, in der das
Übersinnliche als unerkennbare, wohl aber denkbare und denknot-
wendige Ursprungsebene von Sinn freigelegt wird. Das geschichtliche
Vor- und Urbild des Kategorischen Imperativs ist der absolute Wille
Gottes, wie er im Zentrum der theozentrischen Metaphysik und Ethik
von Kants Lehrer Crusius steht.3 In der Religionsschrift zielt Kant in den
Kernbereich der Rekonstruktion der Sündentheologie, der Prädestina-
tionslehre und der Theodizeeproblematik, wenn er seine Analyse des
radikalen Bösen in der menschlichen Natur bis an die Grenzen der Er-
kenntnis und zur Freiheitsantinomie voranzutreiben sucht. Das Vorzei-
chen vor der Klammer der Gesamtarchitektonik Kants ist der program-
matische Satz „Ich musste also das Wissen aufheben, um für den Glauben

3 Vgl. Martin Krieger, Geist, Welt und Gott bei Christian August Crusius, Würzburg
1993, v. a. 300 – 323.
Wieder nach Gott fragen? 313

Platz zu bekommen“4 – für den Glauben, und nicht für Scheinwissen oder
Vermutung, für Fiktionen oder Illusionen. Die Grenzen der theoreti-
schen Vernunft führen bei Kant zu ihrem Fundament, der praktischen
Philosophie der Freiheit. Deren Grenzen wiederum führen zu ihrem,
dem letzten Fundament: der existentiellen religiösen Authentizität, die
man auch als selbst grundlosen Glauben oder grundlose Gewissheit un-
bedingten Sinns verstehen kann. Mit dieser gegenwärtig weniger ver-
breiteten Kant-Interpretation ist die These von der Kontinuitt und Irre-
duzibilitt philosophischer Theologie von Platon bis Kant und Hegel in
gewisser Weise abschließend skizziert. Hegels Zusatzthese zu Kant lautet,
dass diese rationale theologische Basis unbedingten Sinnes sich zeitlich-
geschichtlich, kulturell und institutionell entfalten und entwickeln
musste. Schellings Zusatzthese zu Kant lautet, dass diese Basis zuvor in der
Naturgeschichte und in der Mythologie vorbereitet, angelegt und fak-
tisch ermöglicht werden musste. Kierkegaards Zusatzthese lautet, dass
diese Basis unbedingten Sinns immer neu existentiell-praktisch ange-
eignet werden muss, einem unbeteiligten Beobachter von Empirie oder
Historie nicht einsichtig werden kann. Dies hatte schon im Sinne Kants
und Kierkegaards 500 Jahre vorher Duns Scotus so formuliert: „Fides non
est habitus speculativus […] sed practica.“5
Die Irreduzibilitätsthese besagt mithin, dass die Tiefenstruktur der
okzidentalen Rationalitätsgeschichte sich als ein Befreiungsgeschehen
von Irrtümern und Götzen, damit als die Freilegung unbedingten Sinns
und durch diesen konstituierte humane Würde auch trotz Vergäng-
lichkeit, Schuld und Tod sowie als die praktische Einsicht in die Einheit
von Freiheit und Gutem (Liebe) als Grund des Seins und als ens realissimum
rekonstruieren lässt. Sie lässt sich so verstehen unter Einschluss und Be-
rücksichtigung aller Pervertierungen, Funktionalisierungen und ideolo-
gischen Instrumentalisierungen dieser theologisch-philosophischen
Vernunfttradition, die ich auch als Transzendenzparadigma bezeichne.

4 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage, XXX
(Akad.-Ausg. 19).
5 Johannes Duns Scotus, ber die Erkennbarkeit Gottes, Hamburg 2000, 42.
314 Teil 1. Religionsphilosophie

2
Ich komme zur zweiten, der Substitutionsthese. Sie folgt in gewisser
Hinsicht aus der Irreduzibilitätsthese. Denn: Verlässt man philosophisch
die explizierte Sinntradition, dann muss man diese Tradition destruieren –
das geschieht zum Beispiel bei Marx, Nietzsche, Freud und Foucault;
oder man muss sie durch etwas anderes ersetzen – das geschieht zum
Beispiel bei Heidegger, Wittgenstein, Adorno und Derrida. Ferner gilt:
Alle soeben genannten Autoren lassen sich systematisch mit ihren De-
struktionen und Fortbewegungen nur im Horizont des Trans-
zendenzparadigmas verstehen. Insofern ist die Säkularisierungsthese Karl
Löwiths weiterhin begründbar. Ohne die theologischen und metaphy-
sischen Voraussetzungen des Transzendenzparadigmas lassen sich weder
Aufklärung, noch Säkularisierung, noch Moderne und Postmoderne
verstehen. Auch die Reflexion der Genesis der okzidentalen Rationalität
folgt einem dialektischen Prozess wechselseitiger Aufklärung und Aus-
differenzierung von Religion und säkularer Rationalität, von Glauben
und Wissen, um einen Prozess auch der Vermeidung und Überwindung
der kategorialen Vermischung und damit Verfehlung beider.
Die Moderne ist auf komplexe Weise durch Entzweiungsprozesse
charakterisiert, die sich, davon bin ich überzeugt, im Kern auf misslun-
gene Ersatzbildungen für ein wahrhaftes Absolutes zurückführen lassen.
Solche falschen Ersatzbildungen waren Rasse und Klasse, Volk und
Nation, Machtblöcke, der wissenschaftlich-technische Fortschritt, aber
auch das einzelne Individuum. Zu diesen Formen der prekären Moderne
gehören insbesondere die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Ist der
Kapitalismus allein der schon von Hobbes so genannte „übrig gebliebene
Wolf“, so kommt es zur Ersetzung von Gott durch Geld, wie Falk
Wagner es analysiert hat.6 Die Bankhäuser überbieten in ihrer Pracht die
Sakralbauten. Den Ersetzungsprozessen entspricht auf der realpolitischen
Ebene oft das Totschlagen, auf der ideologischen Ebene vor allem das
Totsagen, das in der Moderne und Postmoderne spätestens seit Nietzsche
und bis heute zu einem regelrechten Sport geworden ist: Dem „Tod
Gottes“ folgte der Tod des Subjekts, das Ende des Menschen, das Ende
der Moderne, das Ende der Postmoderne, das Ende der Geschichte. Ich
plädiere daher seit längerem schon für ein Ende des Endes bzw. für den

6 Falk Wagner, Geld oder Gott? Zur Geldbestimmtheit der kulturellen und re-
ligiösen Lebenswelt, Stuttgart 1984.
Wieder nach Gott fragen? 315

Tod des Totsagens.7 Substitute des Absoluten haben sich allesamt als
untauglich erwiesen. Die Untauglichkeit der Surrogate zeigt sich auch in
pseudo-theologischen und pseudo-metaphysischen Ansprüchen von
Wissenschaften auf der einen, von subjektivistisch-irrationalen Strö-
mungen auf der anderen Seite. Vom Urknall bis zur schwarzen Messe,
von Esoterik über Exotismen bis zum Ewigen Leben durch Gentech-
nologie und Klonierung ist alles auf dem Markt. Dem trotzen ein re-
duktionistischer Szientismus sowie ein religiöser Fundamentalismus, sei
er nun jüdisch, christlich oder islamisch. Insbesondere dem kritischen
Blick auf die Wissenschaften fallen seit langem pseudo-wissenschaftliche
Quasi-Metaphysiken auf. Sie bilden sich um quasi-absolute Grundbegriffe,
um Totalitätssurrogate wie „Funktion“, „System“, „Struktur“, „Inter-
pretation“, „Konstruktion“, aber auch „Kontingenz“, „Risiko“ oder
„Chaos“ – oder gar „Blase“. Solche alles erklärenden, zuweilen auch
unfreiwillig komischen Metaphysiksurrogate gibt es in der Physik, in der
Kosmologie, in der Biologie und in der Soziologie ebenso wie in der
modischen Kulturphilosophie. Was auf diesem Jahrmarkt herumgeboten
wird, trägt sein rasches Verfallsdatum allerdings schon an die Stirn ge-
schrieben. Für die Gegenwart gilt: Die beiden Seiten einer ausgefransten
Entwicklung – hybrider Szientismus und Fundamentalismus, kapitalis-
tische Weltökonomie und irrationaler religiöser Dogmatismus ergänzen
sich derzeit zu einer prekären negativen Dialektik. Ersichtlich führen die
geschilderten Prozesse nicht die besten Traditionen der okzidentalen
Rationalitätsgeschichte weiter.
Die geschilderten Verdinglichungs- und Irrationalisierungsprozesse
wurden von der kritischen Philosophie des 20. Jahrhunderts umfassend
analysiert und auf ihre Gründe befragt. Meine These ist nun aber darüber
hinaus, dass gerade die wichtigsten Autoren, die dies geleistet haben,
gleichzeitig auf ihrer Ebene der Reflexion die radikal-kritische Grund-
lagenreflexion abbrachen und charakteristische Substitutionsbildungen
des Absoluten schufen. Dies gilt exemplarisch für Heidegger, Wittgen-
stein, Adorno und Derrida. Systematisch bin ich der Auffassung, dass wir
heute in der Philosophie nicht hinter deren negativ-kritische Analysen

7 Thomas Rentsch, „Wo stehen wir heute? Philosophische Reflexionen zur


Jahrtausendwende“, in: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hg.), Zeitenwende –
Wendezeiten, Dresden 2001, 36 – 61.
316 Teil 1. Religionsphilosophie

zurückfallen dürfen, dass aber ein anderer Weg philosophisch-theologischer


Grundsatzreflexion über sie hinausführt.8
Die kritischen Leistungen der Autoren will ich hier nicht themati-
sieren, sondern nur kurz ihre charakteristischen Substitutionsbildungen
ins Bewusstsein rufen. Heideggers Ersatzbildung ist das „Sein“. Wie eine
göttliche Instanz agiert es geschichts- und sprachschöpferisch, es ist
verborgen und entbirgt sich, es schickt Fug und Unfug, es lichtet und
wohnt in der Sprache, seinem Haus. Mit diesem Entwurf einer vielfach
kritisierten Privatmythologie wird der späte Heidegger aus Gründen
seiner radikalen Metaphysik- und Ontologiekritik schließlich mit Hilfe
von Hölderlin zu einem katholischen Hesiod.9 Wichtige Züge dessen,
was er im unverfügbaren Sein und mit der ontologischen Differenz an-
deutet, lassen sich ohne die rationale theologische und mystische Tra-
dition des Abendlandes nicht begreifen. Auch behält er in seinem großen
Spiegel-Interview die religiöse Perspektive antizipierend bei: „Nur noch
ein Gott kann uns retten.“10 Aber die Wende gegen die gesamte Genesis
der okzidentalen Rationalität, gegen die Traditionen der praktischen und
politischen Vernunft hindert Heidegger an einer rationalen Rezeption der
kritischen Transzendenzreflexion, die in der europäischen Tradition z. B. bei
Plotin und Dionysios Areopagita, bei Thomas und Duns Scotus sehr wohl
ein Bewusstsein der ontologischen Differenz – bei gleichzeitiger Kritik an
der Gnosis – einschloss. Im Grunde mündet die das Kind mit dem Bade
ausschüttende Radikalkritik Heideggers wie schon die Nietzsches in eine
neuheidnische Remythisierung. Wenn alles nur Wille zur Macht ist, und
nichts außerdem, dann hilft wirklich nur noch die Bejahung der Ewigen
Wiederkehr des Gleichen. Wenn die Verfehlung der Wahrheit des Seins
wirklich bereits vor den Vorsokratikern einsetzte und bei Platon schon
gipfelte, dann muss allerdings die Welt- und die Seinsgeschichte insge-
samt „verwunden“ und ein „anderer Anfang“ erwartet werden. Denn
bisherige Theologie und Metaphysik sind an der Verfallsgeschichte
wesentlich mit Schuld. Sie unterliegen selbst der Seinsvergessenheit, die
zur Gottverlassenheit führte.

8 Vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existenzial- und Sprachanalysen


zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003.
9 Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische
Einfhrung, München 1989.
10 Das Interview stammt vom 23.9.1966. Veröffentlicht in: Der Spiegel (31. Mai
1976), 193 – 219.
Wieder nach Gott fragen? 317

Auch beim frühen Wittgenstein finden sich Substitute des Absoluten:


„das Mystische“ und „Unsagbare“.11 Während die kritischen, v. a.
sprachkritischen Einsichten auch des späten Wittgenstein (wie die On-
tologiekritik Heideggers) für eine künftige philosophisch-theologische
Reflexion nicht verzichtbar sind, so ist seine eigene Position hier nur
indirekt, hinweisend-zeigend. Die Rede von „Gott“, vom „Sinn“ und
vom „Mystischen“ im Tractatus zehrt – wie die theologischen Implika-
tionen des Heideggerschen „Seins“ – von den irreduziblen Sinntradi-
tionen v. a. christlicher Theologie, ohne die sie gar nicht erst verständlich
wären. Aber sie bleiben gleichsam Leerstellen und Platzhalter eines
Gottes, der der Vernunft und der Sprache vollends entzogen scheint.
Muss man Gott so denken?
Eine weitere Spielart der Substitute des Absoluten neben Wittgen-
steins mystischem Dass des Weltsinns und Heideggers sich entbergend-
verbergendem, abwesend-anwesendem Sein ist das „Nicht-Identische“
bei Adorno. Ebenso wie das Mystische und das Sein ist auch das Nicht-
Identische unsagbar bzw. vergessen. Denn alles notwendigerweise
identifizierende Denken verfehlt es von vornherein. Eine eschatologische
Utopie der Erkenntnis unverkürzter, nicht-verdinglichter Individualität
freilich leitet Adornos Denken untergründig. Er verschiebt seine Sub-
stitute des Absoluten angesichts des in der Dialektik der Aufklärung
analysierten universalen Verblendungszusammenhangs in den Bereich
avantgardistischer Kunst. Versatzstücke einer neuplatonisch inspirierten
Ästhetik von Ekstasis, Pleroma und Plötzlichkeit (exaiphnes) verbinden
sich mit einer kenotischen Christologie. Schönbergs Musik hat „alle
Dunkelheit und Schuld der Welt […] auf sich genommen“.12 Erst der
eschatologische Zusammenfall von ästhetischer Erfahrung und begriff-
licher Diskursivität ergäbe nach Adorno – er folgt hier Benjamin – die
„wahre Sprache“, deren Idee „die Gestalt des göttlichen Namens“ ist.13 Es
wird sichtbar: Paradigmen der Transzendenz werden in esoterischen
Randbereichen angesiedelt, sie werden marginalisiert bzw. werden in
Stilformen rhetorisch aufgehoben. Hier war – dies noch zur Verortung
der klassischen kritischen Theorie in unserem Kontext – der späte
Horkheimer weniger kryptisch, wenn er von der „Sehnsucht nach dem

11 Vgl. dazu den vorhergehenden Text in diesem Band.


12 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: ders., Gesammelte
Schriften Bd. 12, Frankfurt a.M. 1975, 126.
13 Theodor W. Adorno, Fragment ber Musik und Sprache, in: ders., Gesammelte
Schriften Bd. 16, Frankfurt a.M. 1978, 252.
318 Teil 1. Religionsphilosophie

ganz Anderen“ sprach und die Sätze schrieb: „Einen unbedingten Sinn
retten ohne Gott ist eitel.“ Und „Zugleich mit Gott stirbt auch die ewige
Wahrheit.“14
Noch ein viertes Beispiel eines Substitutes des Absoluten sei kurz
beleuchtet. Es ist der Begriff der „Differenz“, wie er bei Deleuze, Lyotard
und v. a. bei Derrida in den letzten dreißig Jahren außergewöhnlich
wirksam entfaltet wurde. Strukturell wiederum der traditionellen Kon-
zeption der Ferne und Nähe, der abwesenden Anwesenheit Gottes
konform, entfaltet sich um die Differenz, verfremdet wie das durchge-
strichene „Sein“ Heideggers als „différance“, im Frühwerk Derridas eine
Gruppe von ehemals metaphysisch aufgeladenen Begriffen, deren
wichtigster der der „Spur“ ist. Den metaphysikgeschichtlichen Hinter-
grund bildet hier Plotins Uwmor-Begriff, der im neuplatonischen Chris-
tentum als vestigium aufgenommen wird. Insbesondere, wenn Derrida das
allen Unterscheidungen noch vorausliegende Geschehen als archi-trace,
als „Ur-Spur“ bezeichnet und es für älter als das Sein erklärt, werden
inmitten hermeneutischer Theoriebildung der Postmoderne theologisch
hochkomplexe und voraussetzungsreiche Termini in andere Kontexte
transferiert, ohne deren ursprüngliche Bedeutung und Herkunft zu ex-
plizieren, um ihr suggestives Potential und ihre theologisch-metaphysi-
sche Sinndimension durchaus erfolgreich zu beerben. Anders gesagt: Die
gesamte Reflexion der Moderne hat einen verschwiegenen, oft ver-
drängten theologischen Subtext.
Den Substituten des Absoluten bzw. Gottes – dem Sein, dem Mys-
tischen, dem Nicht-Identischen, der Differenz – eignen folgende
Strukturmerkmale: Sie sind 1. nicht religiös, metaphysisch oder theolo-
gisch im traditionellen Sinne verstehbar. Sie sind 2. allerdings auch ohne
den geschichtlichen Hintergrund und kulturellen Kontext von Mystik,
Metaphysik, Christentum, Neuplatonismus und Gnosis nicht angemessen
verstehbar. Ihnen eignet 3. starke Negativitt: Unsagbarkeit, Verbor-
genheit, Verdecktheit; deswegen werden sie übersprungen, übersehen,
vergessen, verkannt, und das hat unheilvolle Folgen, denn ihnen kommt
4. in Wahrheit ein eminenter, erhabener, emphatisch auszuzeichnender
Status zu; ein Ausnahmestatus, der in Wirklichkeit von herausragender
praktischer Bedeutung für das wahre menschliche Welt- und Selbst-
verständnis ist. Die mit den aufgezeigten Substituten verbundene Di-

14 Vgl. dazu Jürgen Habermas, „Zu Max Horkheimers Satz ,Einen unbedingten
Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel‘“, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt a.M.
1991, 110 – 126.
Wieder nach Gott fragen? 319

mension zu begreifen, das ist die eigentlich wahre, rettende Einsicht in


den Philosophien Heideggers, Wittgensteins, Adornos und Derridas.

3
Meine dritte These besagt, dass wir der Irreduzibilität der theologischen
Grundlagen der okzidentalen Rationalität systematisch gerecht werden
können, wenn wir statt der Substitutionsbildungen eine rationale Pro-
totheologie innovativ entwickeln. An diese philosophische Theologie
lassen sich folgende Anforderungen stellen. Zunächst muss sie es gestat-
ten, die Substitute zu kritisieren und zu destruieren (Sie muss, traditionell
gesprochen, Gott von Göttern und Götzen unterscheiden können.). Dies
versucht in der Gegenwart z. B. eine an die negative Theologie an-
schließende Richtung der Philosophie. Sie lehrt, dass, wenn auch der
Platz Gottes in der Gegenwartsreflexion leer bleibt, dieser Platz keinesfalls
durch irgendetwas anderes ersetzt werden kann und darf. Dieser Platz
steht gleichsam im unsichtbaren Zentrum der Welt, der Politik und der
Praxis, und er darf nicht durch partiale Interessen, Meinungen, Bedürf-
nisse besetzt werden. Ich denke hier an die politische Philosophie einer
„leeren Stelle des Sakralen“ bei Claude Lefort, M. Gauchet und Agnes
Heller, aber auch an die „negative Theologie der Zeit“ von Michael
Theunissen.15 Als abgeschwächte Form könnte man noch den knappen,
aber weitreichenden Grundsatz des deutschen Verfassungsjuristen Bö-
ckenförde an dieser Stelle zitieren, der besagt: Der freiheitliche demo-
kratische Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht
schaffen kann. Das Bewusstsein der Abhängigkeit von unverfügbaren
Sinnbedingungen unserer Praxis lässt sich schon negativ artikulieren. Dies
allein genügt jedoch nicht. Negative Bestimmungen ohne positive Ex-
plikation des Geltungssinnes einer Transzendenzperspektive bleiben
letztlich leer. Sie lassen die weiter Fragenden mit Formen des Negati-
vismus, des Reduktionismus, des Formalismus und v. a. des Relativismus
allein.
Mit der systematischen Entwicklung einer Prototheologie müssen
drei weitere Ansprüche eingelöst werden. Sie muss zum einen die Ra-
tionalitätspotentiale der philosophischen und theologischen Tradition
rettend bewahren. Es darf nichts an wesentlichen und tragfähigen Ein-
sichten verlorengehen. Diese Anforderung war für Kant und Hegel lei-

15 Vgl. Art. „Theologie, negative“, a.a.O. (Anm. 1).


320 Teil 1. Religionsphilosophie

tend, und sie sollte es auch für uns sein. Zu dieser Anforderung gehört,
dass die als berechtigt erweisbare Religions- Metaphysik- und Theolo-
giekritik z. B. von Marx, Nietzsche und Freud in diese kritische Inno-
vation und Rekonstruktion sinnkriterial mit eingeht. Ferner gehört zur
systematischen Anforderung die Aufnahme der sinnkritischen und me-
thodischen Leistungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts: die
Sprachkritik, die Ontologiekritik, die Ideologiekritik und Einsichten
einer kritischen Hermeneutik. Schließlich geht es drittens um den An-
spruch der Klrung des Verhltnisses einer philosophischen Prototheologie
zu faktischen Religionen, Konfessionen und religiösen Selbstverständ-
nissen auch auf der interkulturellen Ebene. Man wird hier sicher mit einer
produktiven Spannung rechnen müssen. Wie gelangen wir nun auf
kritische Weise zu irreduziblen Wahrheitsansprüchen einer rationalen
(philosophischen) Prototheologie?

1. Die menschliche Selbstreflexion führt nach wenigen Schritten zur


Frage nach Grenze, Grund und Sinn des endlichen Seins. Negativ-
praktisch nenne ich die Einsicht, dass wir das Ganze der Welt, unserer
Selbst (unseres Lebens) und ebenso das Ganze unserer Sprache und Praxis
nicht theoretisch erkennen können und uns dennoch in dieser Totalität je
und je schon befinden. Diese gleichursprüngliche Transzendenz von
Welt, Leben und Sprache (Praxis) ist völlig unableitbar und völlig un-
erklärlich. Hier folge ich partiell den Analysen Wittgensteins im Tractatus
und den Analysen Heideggers zur ontologischen Differenz. Das Dass des
Sinnes des Seins des Seienden ist je schon vorausgesetzt, soll eine sinnvolle
Wahrnehmung, Bewegung oder Aussage in der Welt des Menschen
überhaupt nur möglich sein und wirklich geschehen können. Überall sind
wir bereits auf eine ursprngliche, vorgngige Einheit und Synthesis von Sinn
und Sein angewiesen, die wir nicht von etwas ableiten oder auf etwas
reduzieren können, was diese Synthesis, diesen Sinngrund nicht ihrerseits
schon voraussetzt. (Es handelt sich hier um einen formal-strukturellen
Aufweis dieses Sinngrunds.)

2. Der Akzent auf der ursprünglichen Einheit und Synthesis ist zentral.
Nach langen Überlegungen wurde mir deutlich, dass alle Versuche, Gott
zu denken oder zu beweisen, die nach einer solchen ursprünglichen
Synthesis ansetzen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt bzw.
verfehlt sind. Denn sie wollen etwas denken oder beweisen, was sie schon
voraussetzen müssen. Ich bin der Auffassung, dass dies der Sinn der tra-
ditionellen Aussagen von der Nähe Gottes, der uns näher als wir uns selber
Wieder nach Gott fragen? 321

sind, (z. B. bei Augustinus) ist. Das unvordenkliche Sinnereignis ist schon von
vorneherein falsch gedacht und verfehlt, wenn ich es in der Reflexion
einer Subjekt-Objekt-Dichotomie, einer verußerlichenden Gegenberstel-
lung sprachlich oder ontologisch unterziehe. Alle Sinnexplikation, alle
Erläuterung, jede Handlung und jede Sprachhandlung setzt es schon voraus.
Deswegen ist es zwar durchaus möglich, die ursprüngliche Einheit (das
ursprüngliche Sinnereignis) ontologisch, bewusstseinsphilosophisch und
insbesondere transzendentalphilosophisch auf verschiedene Weise zu
explizieren. Aber dies alles sind nachtrgliche Erläuterungen, die die
Möglichkeit wie die Wirklichkeit der ursprünglichen Einheit und Syn-
thesis schon voraussetzen.

3. Wir erreichen Aspekte der internen Struktur des Sinnereignisses, wenn


wir einerseits die ekstatische Raum-Zeitlichkeit, die Dimensionalität
unserer Welt, und wenn wir andererseits ganze Sätze betrachten – also
Ekstasis und Prädikation. Dass wir uns in diesen Sinndimensionen
überhaupt orientieren können, ist Voraussetzung allen Verstehens und
allen Handelns, insbesondere auch Voraussetzung aller Wahrheits- und
Geltungsansprüche. Philosophische Proto-Theologie kann diese Ur-
sprungsebene zunächst aufweisen, indem sie sie als unhintergehbare Basis
unserer gesamten Orientierungs- und Sprachpraxis auszeichnet. Unter-
halb, vor und außer der ekstatisch-prädikativen Sinnebene gibt es keine
Möglichkeit von Erkennen und Handeln – auch keine Diskurse, keine
Reflexion, kein „Unsagbares“. Entscheidend ist, dass damit jeder re-
präsentationalistische Bedeutungssubjektivismus – der Ableitung von Sinn
nur aus unseren Setzungen und Vollzügen – wie auch jeglicher vor-
handenheitsontologische Objektivismus – als könnten wir Sinn, der ir-
gendwo schon vorhanden wäre, bloß noch ablesen, oder abbilden –
kritisiert wird. Dass die Welt ist und wir selbst sind, dass wir erkennen und
handeln, dass wir Sätze verwenden können – ist völlig unableitbar und
unhintergehbar. Es entzieht sich jeder Vorhandenheitsontologie und
auch jeder Abbild-Semantik, um es mit Heidegger bzw. mit Wittgenstein
zu sagen.

4. Diese Sinnebene ist ferner durch Offenheit und Unbestimmtheit ge-


kennzeichnet. Unser Handeln und insbesondere unser Sprachhandeln,
das uns die Möglichkeiten der Erkenntnis der Einheit unserer selbst, der
Gegenstände und der Welt sowie der Wahrheit und des Guten eröffnet,
lässt sich daher von der ursprünglichen Einheits- und Synthesisebene aus
322 Teil 1. Religionsphilosophie

als freies Fortsetzen nicht-festlegender Anfnge beschreiben.16 Philosophie-


geschichtlich lässt sich hier die Kantsche Analyse der Unbegründbarkeit
der menschlichen Freiheit und der unerklärlichen Spontaneität mit
Kierkegaards Analysen von Satz, Sprung und Wiederholung sowie mit
Wittgensteins Analyse des Regelfolgens und der Wiederholung verbin-
den.17
Wir erreichen mit der gleichursprnglichen Ebene der Einheit bzw. der
Synthesis von Sinn und Sein, die ekstatisch die Mçglichkeit prdikativer Synthesis
erçffnet, den Ur-Sprung von Freiheit und Sinn, Zeitlichkeit, Sprache und Ver-
nunft. Diese Ebene lässt sich sinnexplikativ beschreiben, aber nie einholen
oder depotenzieren. Sie ist allen Vergegenständlichungen vorgängig –
absolut vorgängig sogar.

5. Wir können diese Ebene auch als diejenige absoluter Transzendenz


bezeichnen. In ihr wurde traditionell religiös und philosophisch das
Wirken Gottes angesetzt, die Ebene wurde theologisch, insbesondere
schöpfungstheologisch qualifiziert. Auf diese unbedingte Sinn-Ebene
bezieht sich die Rede von der creatio ex nihilo, die gleichermaßen creatio
continua ist. Denn damit wird das unvordenkliche Dass des Sinns des Seins
in seiner alle Wirklichkeit erst schaffenden, ermöglichenden Macht und
produktiven Wirksamkeit artikuliert.

6. Ersichtlich kann die Rede von einer „Ebene“ der absoluten Trans-
zendenz nicht auf einen isolierten Ort bezogen werden. Die Vorgän-
gigkeit des Sinn-Ereignisses, sein Wirken kann auch nicht zeitlich oder
kausal im innerweltlich-empirischen Sinn verstanden werden. Dennoch
ist der Vorgang der Transzendenz in aller Immanenz in aller Alltäglichkeit
sichtbar und wirksam – bewusst wird er explizit aber nur denjenigen, die
religiös oder philosophisch die völlige Unerklärlichkeit und daher das
Wunder und das Geheimnis des Seins des Sinnes einsehen und begreifen.
Dieses Einsehen und Begreifen ist der Ursprung von Religion – in all
ihren unüberschaubaren Erscheinungsformen.

16 Vgl. Thomas Rentsch, „Praktische Gewissheit jenseits von Dogmatismus und


Relativismus. Bemerkungen zu Negativität und Autonomie der Sprache bei
Wittgenstein“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000,
351 – 364.
17 Vgl. dazu Christa Kühnhold, Der Begriff des Sprunges und der Weg des Sprachdenkens.
Eine Einfhrung in Kierkegaard, Berlin/New York 1975.
Wieder nach Gott fragen? 323

7. In diesem Zusammenhang können proto-theologisch traditionelle


Theologoumena des ethischen Monotheismus rekonstruiert werden, die
die Einzigkeit Gottes betreffen. Sie wurden unabhängig von religiösen
Traditionen in der antiken Philosophie und insbesondere im Neupla-
tonismus als Henologie entwickelt. Ein „außerhalb“ des existierenden
Seinssinns lässt sich nicht denken und nicht erkennen. Alles, was inner-
halb dieses Seinssinnes existiert, ist absolut einmalig – individuiert in Zeit
und Raum. Diese Einzigkeit vererbt sich gleichsam metaphysisch und
wirklich vom „Größten“ zum kleinsten Seienden weiter, zu jedem Au-
genblick und zu jeder Bewegung. Sie gilt für das einzigartige Seins-Sinn-
Ereignis, das wir als Schöpfung bezeichnen können und das der Neu-
platonismus mit seinen Hyperformeln als überseiendes Eines bezeichnete,
aus dem alle Hypostasen emergieren. Die Modelle, die absoluten Metaphern
und Sprachen, mit denen wir die Ebene absoluter Transzendenz indirekt
und zeigend vergegenwärtigen, sind keine Abbildungen. Die Theorien, mit
denen wir sie reflektieren, sind keine empirischen oder naturwissen-
schaftlichen Theorien. Vielmehr handelt es sich um Reflexionsmodelle, in
denen Grenze, Grund und Sinn des Seins, der Welt und des Lebens im Ganzen
in einem eigenen, genuinen Sprachspiel artikuliert werden. Dass es dieses ge-
nuine Sprachspiel der Philosophie und Metaphysik neben vielen anderen
sinnvollen Sprachspielen gab und gibt, das war Wittgenstein nicht un-
missverständlich klar. Die Negationen, die Hyper-Formeln, die absoluten
Metaphern, die Analogie-Lehre – sie bezeugen das sich in diesem
Sprachspiel bewusst artikulierende explizite, reflexive Verhältnis des
Menschen zur absoluten Transzendenz, zur Transzendenz Gottes.

Gottes? Was bedeutet dieses Wort? Welchen logischen Status hat es?
Mit Wittgenstein bin ich der Auffassung, dass es keine flächende-
ckende Metatheorie der Sprache gibt, die wir dann auf die faktisch un-
endlich komplexe Sprachpraxis bloß noch anzuwenden brauchten. Wir
sollten erkennen, dass in gewisser Weise jedes Wort eine eigene Wortart
ist. Insbesondere gilt dies für das Wort „Gott“. Wir können dieses Wort
nicht wie ein übliches Prädikat verstehen, aber auch nicht wie einen
normalen Eigennamen. Es ist vielmehr Eigenname des einzigartigen
Ereignisses der vorgängigen Einheit und Synthesis von Sinn und Sein.
„Gott“ ist ein Wort für die Gleichursprünglichkeit des unerklärlichen,
lebens- und weltsinnkonstitutiven Geschehens. Hier ist auch der Ort
einer prototheologischen, sinnkriterialen Rekonstruktion der Rede von
einer Personalitt Gottes. Denn im Horizont sinnermöglichender abso-
luter Transzendenz ist Gott uns näher als wir uns selbst sind; begriffen als
324 Teil 1. Religionsphilosophie

absolutes Sinnereignis ist er Grund aller Personalität, die in Einheit,


Wahrheit und Freiheit gründet. Die kommunikativen Möglichkeiten,
uns zur absoluten Transzendenz meditativ und kongregativ bewusst zu
verhalten, eröffnen sich hier.
Alle traditionellen Gottesbeweise begehen den Fehler, Gott schon
voraussetzen zu müssen, wenn sie innerweltliche und innersprachliche
Phänomene zum Ausgangspunkt ihrer Beweisstrategien nehmen. Einzig
der sogenannte ontologische „Beweis“ entspricht dem hier vorgetrage-
nen Ansatz, denn er stößt auf den Begriff des Begriffs. Aber schon die
komparative Rede vom „größer als“ verfehlt die absolute Transzendenz.
Ferner gilt: Absolute Transzendenz und konkrete Alltäglichkeit,
Immanenz, sind in dieser Konzeption keine dualistischen Gegensätze.
Die dualistische Ontologie setzt die Subjekt-Objekt-Spaltung bzw. die
prädikative Satzstruktur schon voraus. Sie kann so die sinnkonstitutive
Ebene nicht mehr erreichen bzw. sie nur verzerrt und missverständlich
nachträglich artikulieren. Sie rennt falsch gegen die Grenzen der Sprache
an. Das authentische Transzendenzparadigma hingegen rannte gleichsam
gekonnt an, wie schon Wittgenstein mit Bezug auf Augustinus und
Kierkegaard deutlich sah. Sowohl die verkündigende, kerygmatische
Rede als auch Neuplatonismus und negative Theologie lassen sich als
selbst sehr unterschiedliche, eigenartige, bewusste Artikulationsformen für
die sinnkonstitutive absolute Transzendenz verstehen. Es gibt nicht zu-
nächst ein isoliertes Absolutes, ein vor-stellbares Un-Endliches oder eine
irgend anthropo-morphe Instanz, sondern eine Transzendenz, die ständig
im Übergang zur Immanenz ist, ein ständig sich verendlichendes Abso-
lutes, das nicht statisch, sondern dynamisch und prozessual und so zeitlich
und geschichtlich gedacht werden muss. Man könnte im Blick auf die
Tradition vielleicht von einem Wahrheit und Freiheit (und Gutes)
freisetzenden Schöpfungs-Panentheismus sprechen.
Dieser Ansatz richtet sich gegen eine statische, ontologische Voll-
kommenheits- und Unendlichkeits-Theologie, gegen das Paradigma der
perfect being theology, gegen die Ansätze von Swinburne und Mackie,
gegen die formalistisch-analytischen, formal- und modalontologischen
Gottesbeweise Plantingas. Es handelt sich bei diesen Ansätzen zumindest
um defiziente, parasitäre Redemöglichkeiten. Durch den Sinnkonstitu-
tionsholismus des Ansatzes ist die existentielle, die interexistentielle und die
universale Perspektive der philosophischen Prototheologie demgegenüber
von Anfang an einbezogen.
Gott muss als Ursprung von Wahrheit und Freiheit gedacht werden.
Er ist dieser Ursprung und als dieser Ursprung. Eine dualistische, onto-
Wieder nach Gott fragen? 325

logische Aufspaltung der vorgängigen Sinn-Ebene in eine vermeintlich


realistische Ontologie einerseits, in bewusstseinsphilosophische, trans-
zendentale oder existentielle Subjektivität andererseits als disjunktive
Alternative verunmöglicht alle rationale Theologie.
Mit dem vorgestellten Ansatz jedoch können wir weiter fragen: Was
heißt Leben in Orientierung am absoluten Sinngrund, am unverfügbaren
Grund der Welt, unserer Existenz und all unserer Praxis? Was heißt es
nicht? Das lässt sich nach meinem Urteil ethisch und praktisch sehr genau
präzisieren.
Begriffen als theoretische und praktische Formen der Antwort auf
diese Frage erschließen sich Rationalitätspotentiale der Metaphysik und
Theologie sowie der Religionen als authentische Formen einer Vernunft
neu, die ihre eigene Grundlosigkeit und ihren konstitutiven Trans-
zendenzbezug selbst begreifen will und wieder begreifen muss. Ebenso
werden von dieser philosophisch-theologischen Vernunft aus viele tra-
ditionelle und gegenwärtige Vorstellungen von Gott kritisierbar.
Der moderne Wissenschaftsbetrieb
und die alte Gottesfrage

Die Frage nach dem Verhältnis von modernem Wissenschaftsbetrieb und


alter Gottesfrage soll auf den folgenden Seiten im Horizont einer Dau-
eraufgabe der Philosophie, nämlich der Aufklärung, behandelt werden.
Philosophie ist Aufklärung: Aufklärung als begriffliche Klärung der
theoretischen wie praktischen Grundlagen unseres Welt- und Selbst-
verständnisses. In einem ersten Schritt werde ich deshalb kritische Be-
merkungen zur Gegenwart und zu in meinen Augen eklatanten Fehl-
entwicklungen der Gegenwartsdiskussion machen. Ich werde dann die
aus dieser kritischen Analyse zu ziehenden systematischen Konsequenzen
und Desiderate für ein Aufklärungsprojekt formulieren. In einem zweiten
Schritt werde ich versuchen, aus philosophischer Sicht religiöse und
wissenschaftliche Aufklärung gegenüber oberflächlichen Formen von
Aufklärung kritisch zu differenzieren. In einem dritten Schritt werde ich
die Gottesfrage vor diesem Hintergrund betrachten. Abschließend for-
muliere ich ein Fazit bezüglich der Klärung des Verhältnisses von Gott,
Religion und Wissenschaft.

1
Unsere Gegenwart ist von tiefgreifenden Fehlentwicklungen und tief
sitzenden Missverständnissen im Bereich der vernünftigen Selbstver-
ständigung geprägt. An zwei Phänomenen bzw. Syndromen lässt sich
diese Fehlentwicklung besonders plastisch vergegenwärtigen, weil sie sich
in ihnen mentalitätsgeschichtlich verdichtet, und zwar weit über die
Ebene akademischer Diskurse und die Ebene philosophischer Reflexion
hinaus. Das erste Syndrom ist das Totsagen, das zweite ist das der Er-
satzbildung. Beide zusammen tragen zu einem vagen und diffusen Klima
der Desorientierung und der neuen „Unübersichtlichkeit“ bei, wie
Jürgen Habermas schon vor über 20 Jahren formulierte.
Betrachtet man philosophische Gesamtdeutungen der Menschheits-
geschichte aus den letzten 100 Jahren, so ist auffällig, dass eine Sportart
besonders kultiviert wurde und noch immer wird, nämlich der Wett-
Der moderne Wissenschaftsbetrieb und die alte Gottesfrage 327

bewerb im Totsagen. Der bekannteste und berühmteste Tote bzw.


Totgesagte war zunächst bekanntlich Gott. Nietzsche prägte die wir-
kungsmächtige kultur- und religionskritische Grundformel vom Tod
Gottes, mit der er seinen Atheismus, das Ende aller theologischen Ge-
wissheiten in der Moderne, seine radikale Absage an die christlich-reli-
giöse Tradition und die philosophische Herausforderung dieses Endes
artikuliert: „Gott ist todt. Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!“1
Die Kurzformel vom Tod Gottes meint den von Nietzsche prototypisch
diagnostizierten Zusammenbruch des alteuropäischen Denkens, der
christlichen Metaphysik und des Deutschen Idealismus, die Heraufkunft
des von ihm vorausgesagten Nihilismus, die Notwendigkeit einer
„Umwertung aller Werte“ und die Eröffnung einer vom entfremdenden
Druck der seiner Meinung nach leib- und lebensfeindlichen Wirkung des
Platonismus und des Christentums befreiten, autonomen und schöpfe-
rischen neuen Lebensform. Groß im Totsagen war aber vor Nietzsche
bereits Hegel, der ebenfalls sowohl den Tod Gottes als z. B. auch das
„Ende der Kunst“ ausgerufen hatte. Den Tod Gottes reflektierten auch
Jean Paul und Heinrich Heine. In der Darstellung Heines war es Kant, der
das Sterbeglöckchen für Gott zuerst läutete. Dies war kaum in Kants
Sinne. Heute wird erneut deutlich: Nach diesem Strukturmodell –
Gesamtgeschichtsdeutung durch Totsagen und damit verbundene Pro-
phezeiung künftigen Heils bzw. auch Unheils – wurde nun bis in die
Gegenwart immer wieder verfahren. Sei es, dass das Alter und der Tod des
Christentums theologischerseits konsequent vom Freund Nietzsches,
Franz Overbeck, ausgerufen wurden.2 Sei es, dass Ende und Tod der
„bürgerlichen Gesellschaft“, der sogenannten „Vorgeschichte der
Menschheit“, durch den revolutionären Kommunismus und den Mar-
xismus-Leninismus sowohl prognostiziert als auch aktiv beschleunigt
wurden.3 Mittlerweile versucht die bürgerliche Gesellschaft als Zivilge-
sellschaft eine mühevolle Auferstehung nach dem Zusammenbruch der
Systeme, die ihre endgültige Überwindung hätten bringen sollen. Be-
sonders wirkmächtig wurden in den 20er Jahren bürgerliche Apoka-

1 Friedrich Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, in: Kritische Gesamtausgabe Bd.


V/2 , hg. von Giorgio Colli/ Mazzino Monitari, Berlin/New York 1973, 159.
2 Vgl. Rudolf Wehrli, Alter und Tod des Christentums bei Franz Overbeck, Zürich
1977.
3 Karl Marx/Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest. Eine moderne Edition,
hg. von Eric J. Hobsbawm, Hamburg/Berlin 1999; vgl. dazu Richard Rorty, Das
Kommunistische Manifest 150 Jahre danach: Gescheiterte Prophezeiungen, glorreiche
Hoffnungen, Frankfurt a.M. 1998.
328 Teil 1. Religionsphilosophie

lyptiker und Endzeitvisionäre wie Ludwig Klages, Theodor Lessing und


Alfred Seidel, allen voran Oswald Spengler. Ihm zufolge naht der
„Untergang des Abendlandes“ (1918/1922) – so der nach dem Ersten
Weltkrieg sehr erfolgreiche Titel von Spengler.
Nach den Weltkriegen und den Terrorregimen des Totalitarismus in
unserem Jahrhundert ging seitens der Intellektuellen auch das Totsagen
weiter. Ende und Tod des Individuums konstatierten Adorno und
Horkheimer,4 in der Tradition Nietzsches verkündete der französische
Strukturalismus mit Michel Foucault den „Tod des Subjekts“ bzw. „das
Ende des Menschen“5. Bald nun konnte der „Tod der Moderne“ nicht
mehr lange auf sich warten lassen, verbunden mit der Deklaration der
Heraufkunft von etwas, was danach kommt – die Post-Moderne eben.6
Nachdem unterdessen Francis Fukuyama, Berater des amerikanischen
Präsidenten, angesichts des Zusammenbruchs der Sowjetunion 1989
bereits das „Ende der Geschichte“ angekündigt hatte (the end of history),7
vorher noch schnell Ralf Dahrendorf in etlichen Veröffentlichungen „das
Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ vorausgesehen hatte – kurz
darauf wurden überall in Europa sozialdemokratische Regierungen ge-
wählt (vielleicht, um Dahrendorf zu bestätigen?) – nach all dem heißen
die einschlägigen Titel mittlerweile aber wieder anders. Denn das Tot-
sagen hat eine unangenehme, peinliche Begleiterscheinung: Wenn Gott
und Mensch tot sind und die Geschichte zu Ende ist, bleibt ja nichts mehr
übrig, vor allem nichts mehr zum weiteren Totsagenkönnen! Nun lauten
die Titel dementsprechend selbstbezüglich: nach dem Ende der Post-
moderne. Nach dem Ende des Endes kommt es nun unweigerlich zu
Wiederholungen und Dopplungen: Ganze Buchreihen heißen nun „die
zweite Moderne“ (wie die vom Soziologen Ulrich Beck bei Suhrkamp
herausgegebene Reihe zur Zeitdiagnostik). Es ist auch von der „anderen
Moderne“ die Rede. Nur die „moderne Moderne“ ist mir noch nicht
begegnet, sie klingt zu farblos.
Im Zuge des Totsagens kommt es nun parallel zu Ersatzbildungen, die
ich im Blick auf Gott und die Gottesfrage als Substitute und Surrogate des
Absoluten bezeichne. Hinter diesen Todeserklärungen stehen natürlich

4 Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklrung. Philosophische


Fragmente, Amsterdam 1947.
5 Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens (Paris 1967), München 1974.
6 Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (Paris 1979), Graz/
Wien 1986.
7 Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? (New York 1992),
München 1992.
Der moderne Wissenschaftsbetrieb und die alte Gottesfrage 329

ernstzunehmende Probleme. Denn solche Ersatzbildungen für ein


wahrhaftes Absolutes waren Rasse und Klasse, Volk und Nation,
Machtblöcke, der wissenschaftlich-technische Fortschritt, aber auch das
einzelne Individuum und das Geld als Gott des Kapitalismus. Insbeson-
dere die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gehören in diesen Kontext
der prekären Moderne.
Ich bin der festen systematischen Überzeugung, dass Philosophie
nunmehr mit den Ersatzbildungen Schluss machen sollte, und zwar so-
wohl im Sinne einer expliziten Religions- und Selbstkritik und im Sinne
wissenschaftlicher Aufklärung, als auch im Sinne einer klaren Anknüp-
fung an Traditionen philosophischer Theologie und einer expliziten
Reflexion von Transzendenz.

2
Wenn die Analysen der Sinndepotenzierung, die sich letztlich hinter den
Traditionen des Totsagens verbirgt, zutreffen, und wenn ferner die
Diagnose der Ersatzbildungen, der Surrogate und Substitute des Abso-
luten auf vielen Ebenen der gesellschaftlichen Praxis und Reflexion mehr
oder weniger zutrifft, dann ist eine Kritik irreführender Depotenzierung
von Sinn ebenso erforderlich wie eine Neubestimmung authentischer,
glaubwürdiger und verlässlicher Orientierungen. Wir benötigen daher
eine neue Topik, eine neue Architektonik der mçglichen Vernunftansprche,
um eine klarere Übersicht über die grundlegenden Möglichkeiten und
Grenzen unserer Erkenntnis zu gewinnen. Denn darin, in einer solchen
kritischen Neubestimmung von Vernunft, besteht Aufklärung. Sie ist von
jeder Zeit neu zu leisten. Zu diesem Zweck will ich das Verhältnis von
Gott, Religion und Wissenschaft philosophisch neu bestimmen, und
zwar im Blick auf ein über sich selbst aufgeklärtes Aufklärungsverständnis,
an dem beide – Gott und Wissenschaften – recht verstanden, beteiligt
sind.
Meine grundsätzliche These in diesem Zusammenhang lautet: Auf-
klrung und Transzendenz (Gottes) sind eigentlich verklammert; wird diese
Verklammerung einseitig aufgelöst und getilgt, dann ergibt sich eine
negative Dialektik von Nihilismus und Fundamentalismus, und zwar in
Religion und Wissenschaft. Aufklärung muss mithin die Theologie
sinnkriterial festhalten und praktisch transformieren, und dies hat sie in
ihren besten Kernbestrebungen auch getan. Religion muss diese Theo-
logie bildlich indirekt vergegenwärtigen und so meditativ und kongre-
330 Teil 1. Religionsphilosophie

gativ, gemeinschaftlich konkret zugänglich und bewusst machen, sie


zugänglich halten und sie ebenfalls praktisch transformieren. Ebenso muss
Wissenschaft ihre Grenzen erkennen. Aufklärung und Religion, die
modernen Wissenschaften und die Traditionen der Rede von Gott,
Philosophie und Christentum machen und halten so – je auf ihre Weise –
ein Wissen vom konstitutiven Konnex von Unverfgbarkeit und Sinn bewusst.
Das macht ihre tiefe Entsprechung wie auch ihre topische Differenz aus,
die es wiederzuentdecken und neu zu beleben gilt. Weder bedeutet dies
eine rationalistische Einholung und Verkürzung christlicher Verkündi-
gung und Praxis, die einen autonomen Bereich von Sprache und Leben
bildete und bildet, eine Lebensform, eine spirituelle Kultur der Trans-
zendenz sui generis. Noch bedeutet es ein Christlichwerden philoso-
phisch-kritischer Reflexion, denn das wäre eine verhängnisvolle kate-
goriale Vermengung ganz verschiedener Ebenen.
Fragen wir weiter: Worin bestehen die Rationalitätspotentiale der
biblisch-christlichen Tradition, die mit Wissenschaft wie Philosophie
kompatibel sind?
Ich will behelfsmäßig und modellhaft eine oberflchliche Aufklärung
von einer Tiefenaufklrung unterscheiden.
Eine oberflächliche wissenschaftliche Aufklärung orientiert sich an
Vernunft, v. a. an praktischer Vernunft, als sei sie schlicht machbar,
realisierbar, wenn man nur wolle. Die Zugänglichkeit des Guten, seine
Erkennbarkeit und Machbarkeit, seine Kommensurabilität, kurz: seine
Verfügbarkeit scheint klar zu sein und festzustehen. Ineins damit wird die
Selbsttransparenz, die Selbstdurchsichtigkeit der Subjekte vorausgesetzt.
Prinzipiell können wir uns selbst klar erkennen und vernünftig beur-
teilen; auch wechselseitig besteht eine Durchsichtigkeit der Subjekte,
ihrer Motive und Handlungsgründe. Auch die geschichtliche Entwick-
lung ist prinzipiell pragmatisch zugänglich und erkennbar. Wissen-
schaftlicher, politischer und auch existentiell-ethischer Fortschritt sind
prinzipiell sicher erkennbar, sie sind letztlich evident und daher auch mit
sicherem Zugriff zu befördern.
Die skizzierte naive, oberflächliche Form von Aufklärung gehört
sicher zu jeder vernünftigen menschlichen Lebenspraxis. Sie liegt uns
nahe. Ohne sie könnten wir unseren Alltag überhaupt nicht bewältigen
und doch steckt in ihr auf ganz verdeckte, in ihrer Harmlosigkeit ver-
borgene Weise eine mehrfache Gefahr. In ihr angelegt sind nämlich Il-
lusionen der Machbarkeit, Illusionen der Verfügbarkeit, der Selbst-
transparenz und Selbsterkenntnis, die in aller scheinbaren Harmlosigkeit
den Keim von Usurpation und Entfremdung, von Totalitarismus und
Der moderne Wissenschaftsbetrieb und die alte Gottesfrage 331

Irrationalismus in sich tragen, sowohl individuell wie sozial, sowohl


wissenschaftlich wie politisch und religiös. Inwiefern ist das der Fall? Die
modellhaft skizzierte oberflächliche Variante von Aufklärung verkennt
die vielfältige Begrenztheit und Bedingtheit menschlicher Praxis und
Selbsterkenntnis. Eine über sich selbst aufgeklärte Aufklärung muss dieser
vielfältigen Begrenztheit und Bedingtheit innewerden, aber sie muss aus
dieser reflexiven Bewusstwerdung auch die richtigen Schlüsse ziehen.
Aus der Enttäuschung der oberflächlichen Aufklärung, aus dem
Bruch mit der sie ermöglichenden Naivität ergibt sich oft ein Skepti-
zismus, ein Relativismus, schließlich ein Nihilismus. Diese Resultate der
Enttäuschung können wiederum ganz alltägliche Form haben; alltägliche
Resignation, alltäglicher Zynismus, stoisches Weitermachen, techno-
kratischer Pragmatismus; sie können aber auch zu subtilen und an-
spruchsvollen Formen der Ratlosigkeit auf hohem Niveau werden, so bei
Nietzsche, bei Freud oder auch in der „Dialektik der Aufklärung“ von
Horkheimer und Adorno. In diesen Reflexionsbewegungen wird der
wissenschaftliche Befund der durchgängigen Begrenztheit und Bedingtheit
unserer Selbsterkenntnis und Praxis zum Ausgangspunkt nihilistischer,
pessimistischer, negativistischer Gesamtdeutungen der Menschheit und
ihrer Geschichte.
In der säkularisierten Gegenwart der westlichen Demokratien nimmt
die oberflächliche Aufklärung unter Einschluss der in ihr angelegten
Enttäuschungspotentiale sehr häufig die Gestalt vermeintlich souveräner
Selbstverwirklichung an. Der sich selbst sichernde Individualismus geht
mit einem wiederum oberflächlichen, nur allzu gut verstehbaren Frei-
heitsverständnis einher. Auch diese Resultate von Oberflächlichkeit und
Enttäuschung nimmt massenhafte Form an – Hedonismus, Konsumis-
mus, der Eventcharakter medial vermittelter Welt- und Selbstverhältnisse
– ebenso wie sie auch in anspruchsvolle, reflexive Formen überführt
werden kann. Der erfolgreiche Ansatz einer Neubelebung des Konzepts
der Lebenskunst und einer Philosophie der Lebenskunst ist ein Beispiel dafür,
die Flut trivialpsychologischer Ratgeber- und Handbücher zum glück-
lichen, sorgenfreien Leben und zur Selbstverwirklichung bildet den
Mainstream dieser Entwicklung, ebenso die Angebote pseudoreligiöser
Emotionalität und terroristische Formen der politischen Theologie der
Gegenwart.
In den grotesken bis abstrusen Formen der Esoterik, der Magie und
z. B. in pathologischen bis kriminellen Formen des Satanismus erreicht
die oberflächliche Aufklärung, gepaart mit der in ihr angelegten Ent-
täuschung und gepaart mir dem doch nicht preisgegebenen Selbstver-
332 Teil 1. Religionsphilosophie

wirklichungsindividualismus prekäre, aufschlussreiche Formen ihres


Umschlags in offenen Irrationalismus.
Diese Formen bestätigen indirekt die Unzulänglichkeit der ober-
flächlichen Aufklärung. Aber auch die mannigfachen Formen des Szi-
entismus und des Technizismus, die unser Alltagsleben bis tief in die
Selbstverständnisse hinein prägen, die unsere medizinische Praxis be-
einflussen und die die Prozesse der globalen Kapitalisierung mit er-
möglichen und beschleunigen, lassen sich – betrachtet man nur sie allein –
als reale, konkrete Konsequenzen des Standardmodells der oberflächli-
chen Aufklärung verstehen.
Die oberflächliche Aufklärung verfehlt auf grundsätzliche Weise die
Begrenztheit und Bedingtheit des Menschen und seiner Praxis, sie
überschätzt die Möglichkeiten der Vernunft und Selbsterkenntnis, kurz:
sie denkt Wissenschaft wie auch Gott falsch.
Die Aufklrung der Aufklrung, die eigentlich nötig ist, wurde in
kritischer Reflexion auf die Grenzen der Vernunft von Kant epochal
entwickelt und zwar im Verbund mit kritischer Wissenschaft. Zur Tra-
dition der Aufklärung der Aufklärung zähle ich auch die Werke von
Marx, Nietzsche und Freud – freilich in kritischer Rezeption und im
Blick auf deren eigene Begrenztheit. Wenn wir aber ihre Arbeiten als
Beiträge zur Begrenztheit und Bedingtheit der menschlichen Vernunft,
Praxis und Geschichte durch die Analyse und Kritik der politischen
Ökonomie – so Marx –, durch die Analyse der leiblich-sinnlichen Si-
tuiertheit des Menschen wie seiner Verletzlichkeit – so Nietzsche –,
durch die Analyse der Verdrängung und Sublimierung von Todesangst
und Sexualität – so Freud –, wenn wir sie so begreifen, dann gehören sie
zur selbstkritischen Aufklärung. Das heißt auch: Selbstkritische Aufklä-
rung hat keine einzelwissenschaftliche, kritische Untersuchung zu
fürchten oder zu meiden, sei sie ökonomischer, erkenntnistheoretischer
oder psychologischer, anthropologischer Natur. Aber zu einem Religi-
onsersatz kann keine einzelwissenschaftliche und auch keine vernunft-
kritische Untersuchung werden. Das Schicksal der Werke von Marx auf
dem Weg zur totalitären Ideologie, von Nietzsche auf dem Weg zum
Mythos vom Übermenschen, von Freud auf dem Weg zum psycholo-
gistischen Weltanschauungsmodell – dieses prekäre Schicksal zeigt, dass
selbstkritische Aufklärung eine Daueraufgabe in Wissenschaft und Reli-
gion ist und bleibt. Im 20. Jahrhundert hat Wittgenstein die vernunft-
kritische Reflexion durch die Analyse der Grenzen der Sprache radika-
lisiert und präzisiert. Heidegger hat – u. a. im Anschluss an Kierkegaard –
die kritische Grenzreflexion im Blick auf die Grenzen der menschlichen
Der moderne Wissenschaftsbetrieb und die alte Gottesfrage 333

Existenz und ihre Zeitlichkeit und Endlichkeit ebenfalls radikalisiert.


Adorno hat die Grenzen des verfügenden, pragmatischen, prädikativen
Erkennens und Unterscheidens im Verfehlen und Ausgrenzen des
Nichtidentischen in seiner Negativen Dialektik herausgearbeitet.

3
Enthält die religiöse Überlieferung Elemente dessen, was ich als tiefe
Aufklärung der oberflächlichen Vernunft und Aufklärung entgegenset-
ze? Hat auch die alte Gottesfrage mit Bezug auf die moderne wissen-
schaftliche Zivilisation noch eine Berechtigung? Ich meine ja. Bei tieferer
Betrachtung stimmen sie zusammen. Im Zentrum dessen, was ich als tiefe
Aufklärung bezeichne, steht die Reflexion bzw. das Bewusstsein und die
Einsicht noch in die transpragmatischen Sinnbedingungen von Vernunft und
aller unserer Praxis. Wissenschaftliche Vernunftkritik und Praxisreflexion,
die nur bei der externen Bedingtheit und Begrenztheit von Vernunft,
Sprache und Praxis durch Materialität und Endlichkeit stehen bleibt,
führen alsbald zur Depotenzierung von Vernunft und Praxis. Sie können
auch zu einer formalistisch-prozeduralen oder fiktionalen Abdrängung
und Verkürzung der tatsächlich nur qualitativ, inhaltlich und ganzheitlich
verstehbaren Dimension vernünftiger Praxis, und damit der Basis von
Aufklärung, führen.
Der Gesichtspunkt der transpragmatischen Sinnbedingungen hin-
gegen nimmt die Dimension der Negativität, der pragmatischen Un-
verfügbarkeit und Entzogenheit, ganz in die Perspektive der humanen
Sinnkonstitution mit hinein – und dies scheint mir das proprium dessen zu
sein, was wir zu Recht Aufklärung nennen können. Es ist eine Aufklä-
rung, die um ihre eigenen Grenzen weiß.
An fünf zentralen Beispielen will ich dies mit Blick auf die Gottesfrage
verdeutlichen.
Entscheidend scheint mir zu sein, dass die biblisch-christliche Tra-
dition durchweg ihre praktisch-rationalen Elemente, die Ethik der zehn
Gebote, schon im Alten Testament, die Ethik der Bergpredigt im Neuen
Testament, aber auch bei Paulus, in dauerndem Rückbezug auf unver-
fgbare Sinnbedingungen dieser praktischen Rationalitt durchdenkt und
verkündet, eben mit Bezug auf Gott.
1. Zu den unverfügbaren, transpragmatischen Sinnbedingungen all
unserer Vernunft und Praxis gehört zunächst fundamental das, was die
Bibel Geschöpflichkeit, Kreatürlichkeit nennt. Die grundlegende prak-
334 Teil 1. Religionsphilosophie

tische Einsicht, die sich hier philosophisch reformulieren lässt, ist die
Einsicht, dass wir uns nicht selbst geschaffen, gemacht, hergestellt haben, sondern
dass wir – bei allen wissenschaftlichen Erklärungsmöglichkeiten – auf
letztlich unerklärliche Weise da sind. Und dies ist eine unaufhebbare
Differenz.
Aber diese Negativität reicht viel weiter. Die Unerklärlichkeit der
Sinnbedingungen unserer humanen Existenz, die im Zentrum religiöser
Aufklärung steht, erstreckt sich auf alle Menschen aller Zeiten, die in ihrer
Kreatürlichkeit verbunden sind. Sie erstreckt sich auf die Existenz des
Lebens auf der Erde und das Phänomen der Evolution. In unserer
Kreatürlichkeit sind wir mit den Tieren und allen Lebewesen tief ver-
bunden, und zwar materiell, real, leiblich.
Und diese kreatürliche Verbundenheit ist selbst etwas uns Vorge-
gebenes, sie gehört zu den unvordenklichen Sinnbedingungen unserer
Existenz. Ich weise darauf hin, dass diese holistische und materialistische
Sicht der menschlichen Situation über sich selbst aufgeklärter ist als z. B.
die neuzeitliche, cartesische Konstruktion eines atomistisch verengten, zu
einem denkenden Punkt reduzierten ego cogito, welches die ganze Welt,
die ,,Außenwelt“, zu einer ausgedehnten Sache, res extensa, verdinglicht,
wobei menschliche Mitgeschöpfe mitsamt ihren Leibern zunächst nicht
in Sicht sind und die Tiere als aufgezogene Maschinen, als Automaten
konzipiert werden. Welche Konzeption ist wohl rationaler, aufgeklärter –
die der Bibel oder die des Descartes? Dreihundert Jahre lang feierte man
Descartes und mythisierte ihn zum Gründungsvater von Neuzeit und
Aufklärung. Dreihundert Jahre brauchte die Philosophie, um mit Hei-
degger, Wittgenstein und der Phänomenologie aus der erkenntnistheo-
retischen Sackgasse der atomistischen Subjekttheorie wieder herauszu-
kommen. Unterdessen sah sich der epistemologische Solipsismus
zeitweilig sogar genötigt, einen „Beweis für die Existenz der Außenwelt“
zu leisten, und ebenso die Existenz anderer Subjekte allererst zu dedu-
zieren – in der Tat ein schwieriges Unterfangen.
Die gemeinsame Kreatürlichkeit und die mit ihr verbundene Einsicht
in die unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Existenz erstrecken sich
weiter: auf unsere Erde als materielle Lebensbasis für alle Geschöpfe. Wir
haben die Erde nicht technisch hergestellt, sondern fanden sie mitsamt
den materiellen, realen Bedingungen von Wasser, Luft und allen weiteren
Lebensvoraussetzungen vor.
Das Schçpfungsparadigma der Kreatrlichkeit erstreckt sich schließlich
universal und unbedingt auf das gesamte Universum. Auch hier gilt:
Welche empirischen, wissenschaftlichen, kosmologischen Erkenntnisse
Der moderne Wissenschaftsbetrieb und die alte Gottesfrage 335

auch immer wir noch gewinnen werden, die Existenz des Universums
mit seinen Milliarden Galaxien bleibt unerklärliche, unableitbare Sinn-
bedingung auch unserer Existenz und allen Lebens. Anders gesagt: Das
Wunder des Seins reicht von Beginn an bis zu diesem Augenblick.
Wunder sind nicht quantifizierbar, die Größe Gottes ist nicht messbar.
Es gibt derzeit wieder viele pseudowissenschaftliche und gleichermaßen
pseudoreligiçse Deutungen naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse,
das heißt letztlich empirisch gestützter, falsifizierbarer Hypothesen. Ur-
knall und Hubble-Konstante, Rotverschiebung und Hintergrundstrah-
lung werden mit theologischen oder metaphysischen, religiösen Begriffen
interpretiert. Diese Zugriffe stellen exemplarisch fundamentale Katego-
rienverwechslungen dar. Denn die unerklärliche Existenz des Universums als
unverfügbare Sinnbedingung für alles Leben und Erkennen steht auf einer
ganz anderen kategorialen Ebene als empirische Forschungsergebnisse der
physikalischen Kosmologie. Dass das Universum mitsamt seiner Entste-
hungsgeschichte und mitsamt unserer, der Menschheit, Entstehung und
Existenz ist, das lässt sich philosophisch negativ in seiner Unableitbarkeit
und Unerklärlichkeit explizieren, wie es schon Kant in seiner Rekon-
struktion der metaphysica specialis in der transzendentalen Dialektik un-
ternahm.
Die religiöse Kreatürlichkeitsperspektive einer göttlichen Schöpfung
enthält die tiefe Aufklärungsperspektive einer Aufklärung über die
letztlich absolute Unverfgbarkeit und Unerklrlichkeit aller natürlichen
Sinnbedingungen unserer Existenz, des Universums selbst als Ganzem.
Augustinus wie auch Luther haben dies klar und insbesondere auch er-
kenntniskritisch gesehen. Das wird noch in Luthers Antwort auf die Frage
deutlich, was denn Gott vor der Schöpfung getan habe. Er sei an die Elbe
gegangen, Ruten zu pflücken, um diejenigen damit zu prügeln, die solche
dummen Fragen stellen. Die Zurückweisung von Evolutionstheorien
durch den aggressiven Kreationismus der fundamentalistischen Moral
Majority in den USA ist dem gegenüber ein unaufgeklärtes Zerrbild der
kategorialen Differenz von Unbedingtheit und Empirie. Stephen Jay
Gould schreibt dazu: „Diese regelrechte Tragikomödie, die das ganze
20. Jahrhundert hindurch die Geistesgeschichte in den Vereinigten
Staaten vergiftet hat, zeigt, welche einzigartige Verbindung Wissenschaft,
Religion und Politik in diesem Land eingegangen sind.“8

8 Stephen Jay Gould, Rocks of Age, Science and Religion in the Fullness of Life, New
York 1991, zit. nach Jean-Claude Guillebaud, Das Prinzip Mensch. Eine abend-
lndische Utopie?, München 2004, 427.
336 Teil 1. Religionsphilosophie

Indem die religiöse Aufklärung auf praktische Einsichten in die un-


verfügbaren, all unser Handeln transzendierenden Sinnbedingungen
humaner Existenz hinweist und auf diesen insistiert, trägt sie zur tiefen
Aufklärung und damit indirekt zur Kritik oberflächlicher Vernunft- und
Aufklärungskonzeptionen bei. Sie trägt z. B. auch zur Kritik des Zur-
Ware-Werdens des Lebens bei, die in der Form der Patentierung von
Genen vorangetrieben wird. Das gilt für die gesamte menschliche
Handlungssituation und ihr Verständnis. Während die oberflächliche
Aufklärung durchsichtig über sich selbst verfügende, autonome Einzel-
subjekte in diesen Subjekten transparenten Handlungssituationen mit dem
berblick über die Folgen ansetzt, Subjekte, deren wissenschaftliche und
technische Erkenntnisfähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten zur
pragmatischen Weltbewältigung in der Lage sind, geht die Vernunftkritik
religiöser Aufklärung weiter; sie antizipiert schon die mit der naiven
Vernunftkonzeption implizierten Enttäuschungen und Desillusionie-
rungen. Welche Züge dieser religiös vertieften Vernunftkritik lassen sich
noch freilegen?
2. Neben der Schöpfungsperspektive ist hier die Sündendimension zu
nennen. Ich gebe Habermas recht, wenn er neuerdings feststellt, dass
etwas sehr Wesentliches verlorengeht, wenn die Dimension der Sünde in
die bloße Schuldkategorie transformiert wird. Tiefer und zugleich rea-
listischer ist die praktische Einsicht in die strukturelle Fehlbarkeit und
Abgründigkeit der Menschen und ihr katastrophisches Gewaltpotential.
Es ließe sich meines Erachtens unter Rekurs auf Kants Analysen zum
radikalen Bösen in der menschlichen Natur zeigen, dass die fundamentale
Fehlbarkeit, traditionell die Sündhaftigkeit, strukturell und konstitutiv
zur menschlichen Freiheit und Moralität gehört, anders gesagt: ebenfalls
zu den negativen, unverfügbaren Sinnbedingungen, denen wir unter-
liegen, wenn wir berhaupt wollen und handeln. Die Realität des Bösen
tritt der Bibel zufolge bereits mit der ursprünglichen Selbstbewusstwer-
dung des Menschen auf; dieser reflexive Status des radikalen Bösen wird
auch in der Botschaft Jesu und in der Theologie des Paulus deutlich. So
viel scheint mir klar und unverzichtbar zu sein: Ohne die reale Dimension
fundamentaler Fehlbarkeit lässt sich die Perspektive der Moralität nicht
wirklich angemessen begreifen. Die Verdrängung und Tabuisierung des
Bösen und der Sünde ist typisch und bezeichnend für eine oberflächliche
Aufklärung. Die vernunftkritische Tiefendimension wird erst erreicht, wenn
moralisches Scheitern und mit der Freiheit und Selbstreflexivität kon-
stitutiv mitgegebene Fehlbarkeit als irreduzible Sinnbedingung von Moralität
mitgedacht werden.
Der moderne Wissenschaftsbetrieb und die alte Gottesfrage 337

3. Der Realismus biblisch-christlicher religiöser Aufklärung, der alten


Gottesüberlieferung, der die Illusionen oberflächlicher Rationalität
hinter sich hat, liegt auch darin begründet, dass die Bibel weder im Alten
noch im Neuen Testament in ihrem Zentrum theoretische Konstruk-
tionen, metaphysische Abhandlungen oder wissenschaftliche Traktate
enthält, sondern im wesentlichen die narrative Vergegenwrtigung von kon-
kreten Lebenssituationen. Diese konkreten Lebenssituationen bilden die
Beglaubigungsbasis der Bibel im Alten Testament; aber sie bilden die
Basis auch noch für die theologischen Entwürfe des Paulus und des Jo-
hannes im Neuen Testament. Durch diese narrative Vergegenwrtigung
praktischer Einsichten wird auf vielfache Weise der unbedingte Ernst der
Perspektive praktischer Vernunft vergegenwärtigt, ohne jedoch theo-
retisch demonstriert werden zu müssen. Denn dies führt bekanntlich
meist nicht sehr weit. Der ethische Monotheismus entfaltet so eine an die
Lebenspraxis anschließende, existentielle Unbedingtheitsperspektive, die
sinnkonstitutiv zur Ethik gehört, und die z. B. wiederum von Kant,
Kierkegaard und Wittgenstein rekonstruiert wurde. Entscheidend ist, dass
wir stets – auch heute – letztlich in solchen konkreten Lebenssituationen
sind, – nicht hinter sie zurückkönnen. Welche Geschichte des Alten
Testaments wir auch nehmen, ob wir uns auf Moses oder Hiob, auf Ruth
oder Rebekka beziehen – es wird uns fehlbares menschliches Handeln im
Horizont unbedingter, nämlich von Gott ausgehender Geltungsansprü-
che gezeigt. Mit dieser Unbedingtheitsperspektive ist in der konkreten
geschichtlichen Wirklichkeit die lebensbezogene Gottesperspektive
verbunden. Mit dem Bezug auf Gott ist eine Perspektive der Endgltigkeit
und Irreversibilitt präsent, die wiederum zu den unvordenklichen Sinn-
bedingungen verantwortlichen Handelns und eines menschlichen
Selbstverständnisses überhaupt gehört. In der Geschichte Jesu wird dies
nochmals auf unüberbietbar radikalisierte Weise bewusst.
4. Zu der erwähnten Dimension tiefer Aufklärung gehört neben der
sinnkonstitutiven Fehlbarkeit, der Unbedingtheit und Endgültigkeit auch
die Perspektive fundamentaler menschlicher Bedürftigkeit, der Ange-
wiesenheit auf die Mitmenschen, der Abhängigkeit von den Anderen und
ihrer Mithilfe, ihrem Wohlwollen. Diese Dimension wird in der Bibel
vorwissenschaftlich, vortheoretisch, lebensweltlich-praktisch in ihrer ganzen
Komplexität narrativ vergegenwärtigt. Vergegenwärtigt wird die zeitlich-
endliche Augenblicklichkeit des Handelns, vergegenwärtigt wird die unaus-
lotbare Entzogenheit des eigenen Inneren bei aller Selbstmächtigkeit, verge-
genwärtigt wird die leibliche Fragilitt und Verletzlichkeit des Menschen –
vergegenwärtigt wird die alle Menschen einende Kreatrlichkeit. Die le-
338 Teil 1. Religionsphilosophie

bendige Persönlichkeit eines Menschen konstituiert sich im Medium der


Irreversibilität und Unabsehbarkeit seines Handelns. Sinnkonstitutiv für
personales Handeln ist gerade, dass es in seinem potentiellen Charakter
keine Sicherheit und Konstanz bietet.
Es ist theoretisch unmöglich, sich handelnd auf die Handlungen
Anderer zu verlassen – ohne Vertrauen aber gibt es schlechterdings keine
humane Welt. Ein jeder, der handelt, läuft Gefahr zu scheitern oder
Unrecht zu begehen – das alles können wir erst im Nachhinein wissen.
Hannah Arendt hat in ihrem Hauptwerk „Vita activa“ besonders her-
ausgearbeitet, dass deshalb unsere ganze humane Handlungswelt auf
Versprechen und Vergeben beruht. Es gilt somit: Unsere Fähigkeit, wech-
selseitig zu vergeben, konstituiert und eröffnet allererst unsere praktische
Freiheit. Hannah Arendt weist darauf hin, dass das Vergeben kaum je
theoretisch untersucht wurde und nur in den Lehren Jesu eine zentrale
Rolle einnimmt (Vita activa § 33) 9. Und es ist klar, dass die Ebene der
wissenschaftlichen Rationalität auf dieser Basis erst möglich wird, sie aber
nicht selbst begründen kann.
5. Die Vergegenwärtigung der unverfügbaren Sinnbedingungen
humanen Lebens geschieht religiös-narrativ, literarisch, geschichtlich,
und auf diese Weise mehrdimensional, tief und komplex. Diese Verge-
genwärtigungsweise – unter Einschluss von Widersprüchlichkeit, ja Pa-
radoxalität entspricht dem qualitativen Ganzen, der qualitativen Totalitt
des Menschseins in Geschichte und Augenblick. Hier scheint mir der
Ursprung eines grundsätzlichen Verständnisses von personaler Men-
schenwürde zu liegen. Aber die religiöse Aufklärung, deren Grundzüge
ich hier nur in aller Kürze zu skizzieren versuche, geht noch weiter,
sprengt daher den Rahmen oberflächlicher Rationalitätsvorstellungen,
wie sie z. B. szientistischen, formalistischen, funktionalistischen oder
utilitaristischen Ansätzen der Gegenwart zugrunde liegen. Die religiöse
Aufklärung geht in ihren Kernaussagen insofern noch weiter, als durch
die Dimension der Kreatürlichkeit als Rationalitätsbedingung die Ein-
sicht vermittelt wird, dass nur so, in dieser Kreatürlichkeit die Sinnbe-
dingungen von Leben und Freiheit, von Gutem und Liebe berhaupt
wirklich sind und wirklich sein können, religiös gesagt: mit Bezug auf Gott.
Das heißt, die praktische Anerkennung der unverfügbaren Sinnbedin-
gungen als von uns nicht selbst gemacht: die Existenz des Universums, der
Welt, meiner selbst und der Mitmenschen, die unvordenkliche Vorge-

9 Ich habe das in meinen Untersuchungen Die Konstitution der Moralitt, Frankfurt
a.M. 21999, in Form einer negativen Interexistentialpragmatik entwickelt.
Der moderne Wissenschaftsbetrieb und die alte Gottesfrage 339

gebenheit der Dimensionen der Freiheit, des Guten und der grundsätz-
lichen Fehlbarkeit, die konstitutive Endlichkeit und Unbedingtheit der
konkreten menschlichen Handlungssituation, die Begrenztheit unserer
Selbsterkenntnis, die Verletzlichkeit und Sterblichkeit, die Angewie-
senheit auf die Anderen – ohne Erkenntnis und vor allem, ohne vor-
gängige Anerkennung dieser unvordenklichen Sinnbedingungen, die
mich und jeden Menschen doch ausmachen, gibt es keine tiefergehende
Aufklärung unserer Vernunft und Praxis. Überzogene Wissensansprüche
und falsch verstandene Heilsansprüche – Positivismus und Obskuran-
tismus – beide stehen einem aufgeklärten Selbstverständnis des Menschen
im Wege. Ein Gott, der wissenschaftlich bewiesen werden muss, ist kein
Gott mehr; ebenso kann keine naturwissenschaftliche, empirische Un-
tersuchung die unbedingte Würde des Menschen, seine Gottebenbild-
lichkeit beweisen oder widerlegen, und braucht es auch nicht. Der bi-
blische Gott widersetzt sich jeder Verfügbarmachung, ebenso wie sich die
Menschlichkeit der Menschen jeglicher empirischen Reduktion und
jeder wissenschaftlichen Begründungsbedürftigkeit entzieht. Weder das
Gottsein Gottes noch das Menschliche des Menschen sind verifizierbare
Fakten oder Forschungsergebnisse: Sie gehören zu der uns erst ermög-
lichenden Dimension unbedingten Sinns und absoluter Selbstzwecke.
Wie zivilisiert eine Gesellschaft ist, zeigt sich daran, wie sie im Blick auf
diese Dimension sich selbst Grenzen zu setzen vermag: Grenzen der
Wissenschaft, Grenzen der Politik, Grenzen der Religion.
Die Moderne speist sich aus zwei Quellen – aus der Transzendenz
Gottes und der Freisetzung der Freiheit des Menschen. Wir müssen im
Westen die zweifache Steigerung von Säkularität und Religiosität wei-
tertreiben – beide Quellen der tiefen Aufklärung gegen alle oberfläch-
lichen Vermischungen und falschen Ersatzbildungsprozesse.

Eine abschließende Bemerkung betrifft das Verhältnis von Philosophie


und Religion. Die philosophische Reflexion bezieht sich auf die Struktur
und Geltung von Einsichten, die sich in der biblischen Tradition finden.
Religion ist eine konkrete Lebensform und Lebenspraxis. Während
Philosophie die Unverfügbarkeit, die Entzogenheit der Sinnbedingungen
als deren allerdings für sie konstitutive, nicht wegzudenkende Negativität
rekonstruiert, spricht an dieser Stelle die christliche Religion von Ge-
heimnis, Wunder und Gnade. Die philosophische Reflexion kann den
340 Teil 1. Religionsphilosophie

Ort dieser Rede klären; sie kann auch die Grammatik dieser Rede zu
klären versuchen. Aber sie kann auf die lebenspraktische Konkretion dieser
Rede in Verkündigung und Existenz, in den meditativen und gemein-
schaftlichen Lebensformen nur hinweisen als auf eine Realität sui generis,
die für sich selbst sorgen muss. Die durch die Dimensionen der Krea-
türlichkeit, der Unverfügbarkeit und der konstitutiven Nichtobjekti-
vierbarkeit eröffneten Perspektiven der transpragmatischen Sinnbedingungen
des humanen Lebens, der irreduziblen Personalitt und Wrde, der Freiheit und
Fehlbarkeit gehören zur tiefen Aufklärung, die den Menschen letztlich vor
Gott begreift. Sie berühren sich mit dem Sokratischen, ebenso sinn-
konstitutiven Nichtwissen, mit der Aufklärung der Grenzen der Vernunft
und der Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis bei Kant und Wittgen-
stein. Leben in praktischer Anerkennung der Transzendenz der Welt, der An-
deren und meiner selbst ist Voraussetzung noch aller vernnftigen gemeinsamen,
auch wissenschaftlichen Praxis. Aufklärung als in diesem Sinne vermittelte
Einsicht in die unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Existenz ist
weder ein Epochentitel, noch irgendwo „vorhanden“. Sie muss immer
neu authentisch angeeignet werden in lebendigen Kommunikations-
prozessen zwischen Religion und Wissenschaft, Philosophie und
Theologie. Wo dies vergessen wird, da werden auch die Einsichten der
tiefen Aufklärung pervertiert, dogmatisiert, funktionalisiert und zu
Herrschaft und Unterdrückung missbraucht. Dann müssen Wissenschaft
wie Religion an der Perspektive absoluter Transzendenz gemessen und
daran erinnert werden, dass ihnen die unverfügbaren Sinnbedingungen
nicht gehören, weil sie niemandem gehören. Das heißt: Leben in
praktischer Anerkennung absoluter Transzendenz verhindert sowohl
wissenschaftliche Hybris wie auch religiösen Fundamentalismus. Diese
Anerkennung absoluter Transzendenz ist Voraussetzung noch von
Vernunft und Aufklärung, von rationaler Wissenschaft wie Religion. Sie
verhindert das Totsagen wie auch die Ersatzbildungen und ermöglicht das
Leben. Dabei ist absolute Transzendenz weder eine Fiktion noch eine
Idee, sondern erschließt vielmehr gerade die Wirklichkeit in ihrer un-
endlichen Konkretion. So kann ich mit einem Wort Luthers schließen:
„Wir sollen Menschen und nicht Gott sein. Das ist die summa.“10

10 Martin Luther, Luther an Spalatin in Augsburg. [Veste Koburg,] 30. Juni 1530, in:
ders., Weimarer Ausgabe, Briefwechsel Bd. 5, Brief Nr. 1612, 415, Z.45 f.
Aspekte des Urvertrauens

Im Folgenden sollen Aspekte des Urvertrauens aus philosophischer Sicht


untersucht werden, um so zum Thema des im menschlichen Leben und
durch es Gegebenen, seines Gabecharakters beizutragen. Zunächst werde
ich im Anschluss an Husserl, Heidegger und Wittgenstein Analysen zur
lebensweltlichen Ur-Gewissheit vorstellen. In einem zweiten Schritt werde
ich die im engeren Sinne existentiell-praktische Bedeutung dieser lebens-
weltlichen Gewissheitsebene explizieren. Schließlich werde ich drittens
die religiçse Dimension dieser Ebene paradigmatisch zu zeigen versuchen.
Die Ebene der lebensweltlichen Ur-Gewissheit können wir methodisch
auch als die Ebene der strukturellen Konstitution der menschlichen
Grundsituation, des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses, der
menschlichen Lebenspraxis bezeichnen, als die Ebene des Dass der
menschlichen Lebenswirklichkeit. Die praktische und die religiöse Ebene
sind demgegenüber Ebenen des Wie, des Umgangs mit den unhinter-
gehbaren Sinnbedingungen unserer Praxis. Diese Ebenen führen zu den
kulturellen und sozialen, den moralischen, sittlichen, ästhetischen, reli-
giösen, politischen, rechtlichen, sozialen und individuellen Umgangs-
formen und Gestaltungsweisen hinsichtlich dieser Sinnbedingungen. De
facto, auch das gilt es stets zu berücksichtigen, sind diese ex post diffe-
renzierbaren Ebenen auf vielfältige Weise miteinander verbunden und
miteinander verschränkt; sie lassen sich zwar reflexiv voneinander
unterscheiden, aber nicht voneinander trennen. Das bedeutet meta-
theoretisch-methodologisch nichts anderes, als dass die philosophische
Reflexion selbst ein ausgezeichnetes Sich-Verhalten zu den Sinnbedin-
gungen unseres Lebens ist und stets war.

1
Sowohl Husserl und Heidegger als auch Wittgenstein haben im vorigen
Jahrhundert auf innovative Weise Aspekte der menschlichen Praxis
thematisiert, die ehemals wenig oder nicht gesehen wurden. Bei Husserl
werden diese Aspekte unter dem Titel der Passivität bzw. der passiven
Synthesis in der Phase der transzendentalen Phänomenologie in höchst
342 Teil 1. Religionsphilosophie

umfangreichen Einzelanalysen herausgearbeitet.1 Im Hintergrund ist


dabei stets an Kants weichenstellende systematische Einsicht in die er-
kenntniskonstitutive Bedeutung der transzendentalen Synthesis a priori
zu denken, wie Husserl sie noch in der Krisis-Schrift stark akzentuiert.
Wie lässt sich der Grundgedanke dieser Analysen fassen? Wir benötigen
zu unserer Weltorientierung jeweils vorgängig ganzheitliche Perspekti-
ven bzw. Dimensionen, in die hinein wir uns ausrichten können. Husserl
thematisiert dieses Konstituens unserer Erkenntnis- und Lebenspraxis am
Urphänomen der Horizontvorzeichnung. Bei jeder sinnlichen Wahrneh-
mung eines noch so einfachen Gegenstandes – eines Stuhles, eines Ti-
sches, einer Säule, einer Wand – ergänzen wir passiv, wie von selbst, wir
könnten auch sagen, automatisch dessen Rückseite. Wir gehen wie
selbstverständlich davon aus, dass die Rückseite des Stuhles, des Tisches,
anderer materieller Gegenstände, so aussieht, wie es der Vorderseite
entspricht. Wir antizipieren ganz selbstverständlich die Form: Es geht
dahinter so weiter, wie es von vorne aussieht. Husserl bezeichnet diese
passive Ergänzungstätigkeit unseres Bewusstseins in seinen Untersu-
chungen zur passiven Synthesis als Horizontvorzeichnung. Sie betrifft bei
genauer Betrachtung unser gesamtes situatives Wahrnehmungsleben.
Jeweils baut sich ein antizipierbarer Erwartungshorizont auf, von dem wir
ausgehen, in dem wir handeln und erfahren. Dem stehen zum Beispiel
plötzliche und unerwartbare Veränderungen entgegen, die gerade des-
wegen als so überraschend erfahren werden. Der erwartbare Lauf der
Dinge ist somit auch Voraussetzung für unerwartete positive wie negative
Ereignisse, wie sie in Märchen und Wundergeschichten vergegenwärtigt
werden.
Unsere gesamte Lebenspraxis beruht, so zeigen Husserls subtile,
umfassende Einzelanalysen, auf unbewussten, passiven Formen von
Synthesis, von Horizontvorzeichnung. Ein eindrückliches Beispiel
Husserls ist die Festigkeit des Erdbodens. Bei jedem Schritt, so Husserl,
setzen wir die fortdauernde Tragfähigkeit des Bodens voraus. Wir
rechnen nicht damit, dass der Boden wankt, einstürzt oder dass sich ein
Abgrund vor uns bildet. Wer einmal ein Erdbeben erlebt hat, wird
nachvollziehen können, wie völlig unerwartet und befremdend das
plötzliche Sich-Bewegen und Rucken des Bodens erfahren wird. Auf
diese Weise analysiert Husserl eine Vielzahl von Aspekten des alltäglichen

1 Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und For-
schungsmanuskripten 1918 – 1926, hg. von M. Fleischer, Den Haag u. a. 1966
(Husserliana Bd. XI).
Aspekte des Urvertrauens 343

Urvertrauens, die unsere raum-zeitliche Leiblichkeit als das unhinter-


gehbare Zentrum unseres konkreten Lebens fundieren und tragen. Jede
bewusste Handbewegung, jede bewusste leibliche Ausrichtung antizi-
piert zum Voraus ihr Gelingen, und dies ganz intuitiv, selbstverständlich,
wortlos, implizit, eben passiv. Erst dadurch werden Störungen, Brüche,
Irritationen, Dissoziationen eigentlich erfahrbar, erkennbar und identi-
fizierbar. Hier knüpfen auch Heideggers Analysen zur durchschnittlichen
Alltäglichkeit in Sein und Zeit an.2 Als explizit vorhanden bewusst werden
Dinge, Gegenstände erst dann, wenn sie für den Gebrauch in der all-
täglichen Praxis nicht mehr da – wenn sie „weg“ sind. So fällt uns die
theoretische Existenz des Zahnputzglases des Morgens erst auf, wenn ich
es eines Morgens nicht mehr an seinem gewohnten Platz finde. Das Glas
ist erst eigentlich „da“, wenn es „weg“ ist. Es ist dann im Heideggerschen
Sinn vorhanden, weil es nicht mehr zuhanden ist, weil es nicht mehr im
fraglosen Gebrauch zur Verfügung steht.
Die von Heidegger so genannte durchschnittliche Alltäglichkeit ist
fundamental dadurch charakterisiert, dass uns ihre Gewissheiten und
Evidenzen ganz nah sind. Es gilt nach Heidegger, die „Ferne“ dieser
äußersten Nähe philosophisch zu begreifen. So konnte es zum Beispiel
dazu kommen, dass im cartesischen Paradigma das vermeintlich welt-
gründende Cogito isoliert gedacht wurde, dass sich daraus ein ontolo-
gischer Dualismus von Subjekt und Objekt, Ich und Welt ergab, dass
schließlich bei Kant der noch fehlende Beweis der Existenz einer Au-
ßenwelt als der große „Skandal der Philosophie“ bezeichnet wird. Aus
Heideggers Sicht besteht der Skandal aber in Wirklichkeit darin, dass man
überhaupt nach einem solchen „Beweis“ verlangt. Denn wir sind in
unserer Alltagspraxis immer schon in der Welt draußen, unsere Sorge in-
volviert uns immer schon in den Umgang mit Gebrauchsgegenständen,
um etwas mit ihnen zu erreichen, zu vollbringen. Unser Bei-uns-selbst-
sein ist nie anders möglich denn als In-der-Welt-sein. Das Immer-schon
hat nach Heidegger den Status eines perfektischen Apriori, das heißt, es
verweist auf eine vorgängige, praktische, konkrete Weltvertrautheit, die
allen Störungen, Unsicherheiten und theoretisch-skeptischen Fragen und
Zweifeln vorausgeht.
Diese Ebene oder besser: Basis einer ursprünglichen Weltvertrautheit
und Gewissheit, wie sie Husserl und Heidegger in der Lebenswelt bzw. in
der durchschnittlichen Alltäglichkeit ansetzen, diese Basis findet sich auch
in der Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins in der Alltagssprache und in

2 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 14 1977, §§ 25 – 38.


344 Teil 1. Religionsphilosophie

der Alltagspraxis, in den Sprachspielen und Lebensformen. Und ebenso,


wie sich Heidegger gegen Kants Skandal des fehlenden Beweises der
Außenwelt wendet, wendet sich Wittgenstein gegen G. E. Moores
common-sense-Paradigma „Ich weiß, dass das meine Hand ist.“ In
Wittgensteins Sicht ist das eine unsinnige theoretische Formulierung, die
keinen Gebrauch hat, denn die Gewissheit, die mit ihr artikuliert wird, ist
so fundamental, dass sie keiner theoretischen Behauptung noch Be-
gründung bedarf. Ebensolches gilt von Sätzen der Art: „Ich weiß, dass ich
Thomas Rentsch heiße.“, oder „Ich weiß, dass ich noch nie auf dem
Mond war.“ Nach Wittgenstein besteht die gesamte konkrete Lebens-
praxis durch ein dicht verflochtenes Netz von ganz ursprünglichen
Gewissheiten, die all unserem Handeln, Denken und Sprechen bereits
vorausliegen bzw. innewohnen. Diese impliziten Gewissheiten fundieren
unhinterfragbar unsere Lebenspraxis. Sie werden uns gemeinhin gar nicht
erst explizit oder gar theoretisch bewusst.3 Bereits in den Philosophischen
Untersuchungen hatte Wittgenstein in diesem Sinne gelehrt, dass das meiste
uns gar nicht bewusst wird, weil es vor aller Augen liegt. Auf seine Weise
spricht er so den Grundgedanken Heideggers von der Ferne des Nahen
aus. Das Netz der impliziten Gewissheiten betrifft die Grundlagen unserer
Existenz, unserer Herkunft, die Leiblichkeit, Raum und Zeit, die
Sprachverwendung. Ebenso wie gilt: Wir können mit der Sprache nicht
aus der Sprache heraus, so gilt auch: Wir können die Gewissheit unserer
Lebensform und die Grammatik unserer Sprachspiele nur abstrakt und
künstlich verlassen, sie bleiben immer (perfektisch-apriorisch) deren
Voraussetzungen. Das gilt im Übrigen auch, das sei noch einmal unter-
strichen, für das wiederum vertraute Verständnis von Abweichungen,
Störungen, Irregularitäten, überraschenden Ereignissen, Krisen und
Brüchen, das ebenfalls nur auf dem Hintergrund des Urvertrauens
möglich ist.
Wittgensteins Analyse oder besser: Beschreibung der lebensweltli-
chen Gewissheit wird besonders ertragreich im Bezug auf die Sprach-
verwendung und das von ihm so genannte Regelfolgen. Kurz gesagt:
Während der aktuellen Sprachgebrauchspraxis folgen wir den Sprach-
regeln und der Grammatik bei aller Bewusstheit letztlich „blind“, und alle

3 Ludwig Wittgenstein, ber Gewißheit, hg. von G. E. M. Anscombe u. G. H. von


Wright, Frankfurt a.M. 1971; vgl. zum Folgenden: Thomas Rentsch, „Prakti-
sche Gewißheit – jenseits von Dogmatismus und Relativismus. Bemerkungen zu
Negativität und Autonomie der Sprache bei Wittgenstein“, in: ders., Negativitt
und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 351 – 364.
Aspekte des Urvertrauens 345

sich rückwärts auf die vergangene Sprachgebrauchspraxis zurückbezie-


hende Thematisierung und Reflexion bereits verwendeter Regeln kann
den vorherigen intuitiven Regelgebrauch nicht mehr „an sich“ errei-
chen, sondern ist wiederum selbst ein neuer, unableitbarer Fall von
Regelverwendung. An der Basis der intuitiven, urvertrauten Sprach-
verwendung gelangen wir so zur Spontaneität des menschlichen Han-
delns, zu der unableitbaren Fähigkeit des Menschen, eine Handlung „von
selbst“ (Kant) anzufangen.
Auch in Habermas’ Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns
erhält das lebensweltliche Urvertrauen eine außergewöhnliche Bedeu-
tung, obwohl es streng genommen gerade ganz gewöhnlich und alltäglich
ist: „Die kommunikativ Handelnden bewegen sich stets innerhalb des
Horizonts ihrer Lebenswelt; aus ihm können sie nicht heraustreten. […]
Die Strukturen der Lebenswelt legen die Formen der Intersubjektivität
möglicher Verständigung fest. […] Die Lebenswelt ist gleichsam der
transzendentale Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen“.4 Die
Lebenswelt ist „fraglos“ gegeben, sie kann nicht problematisch werden,
„sie kann allenfalls zusammenbrechen“;5 sie ist das „intuitiv gegenwärtige“,
„zugleich unübersehbare Netz der Präsuppositionen, die erfüllt sein
müssen, damit eine aktuelle Äußerung überhaupt sinnvoll ist.“6 Haber-
mas unterscheidet kulturelle, gesellschaftliche und persönliche Aspekte
der unhintergehbaren Lebenswelt und setzt in ihr seine „Idee der Ver-
sprachlichung des Sakralen“7 an, die zu seiner Konzeption der Diskurs-
ethik führt.
Mit der lebensweltlichen passiven Synthesis und Horizontvorzeich-
nung Husserls, den Analysen zur Alltäglichkeit bei Heidegger, mit der
Beschreibung der fraglosen, grundlosen Gewissheit der Sprachverwen-
dung inmitten der Lebenspraxis beim späten Wittgenstein und mit dem
Lebensweltkonzept von Habermas haben wir bei vier der wichtigsten
Philosophen des 20. Jahrhunderts an der Basis ihrer kritischen Grund-
lagenreflexion Formen so elementaren wie sinnkonstitutiven Urver-
trauens freilegen können. Im nächsten Schritt will ich die praktische
Bedeutung und Tragweite des Vertrauens thematisieren.

4 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der
funktionalistischen Vernunft, 192.
5 Ebd., 198 f.
6 Ebd., 199.
7 Ebd., 218.
346 Teil 1. Religionsphilosophie

2
Auf der existentiell-praktischen Ebene ist die sinnkonstitutive Bedeutung
des Vertrauens fundamental. Nicht erst in philosophisch-systematischen,
an unbedingten ethischen Geltungsansprüchen orientierten Ansätzen
erhält das Vertrauen diese zentrale Bedeutung. In seiner psychoanalyti-
schen Theorie des frühkindlichen Selbstwerdungsprozesses verwendet
Erik H. Erikson den Begriff des Ur-Vertrauens. Er unterscheidet acht
Phasen des Mensch-seins: Autonomie gegen Scham und Zweifel, In-
itiative gegen Schuldgefühl, Leistung gegen Minderwertigkeitsgefühl,
Identität gegen Rollenkonfusion, Intimität gegen Isolierung, zeugende
Fähigkeit gegen Stagnation, Ich-Integrität gegen Verzweiflung. Aber an
der Basis dieser acht Phasen identifiziert Erikson die Phase: Urvertrauen
gegen Misstrauen: „Die feste Prägung dauerhafter Verhaltensformen für die
Lösung der Kernkonflikte von Urvertrauen und Urmißtrauen in bezug
auf das Leben an sich ist also die erste Aufgabe des Ich und daher auch die
vornehmste pflegerische Aufgabe der Mutter. […] Ich glaube, dass die
Mutter in dem Kinde dieses Vertrauensgefühl durch eine Pflege erweckt,
die ihrer Qualität nach mit der einfühlenden Befriedigung der indivi-
duellen Bedürfnisse des Kindes zugleich auch ein starkes Gefühl von
persönlicher Zuverlässigkeit innerhalb des wohlerprobten Rahmens des
Lebensstils in der betreffenden Kultur vermittelt. Hier formt sich die
Grundlage des Identitätsgefühls, das später zu dem komplexen Gefühl
wird, daß man ,in Ordnung’ ist, daß man ein Selbst besitzt und daß man
das Vertrauen der Umwelt rechtfertigt, indem man so wird, wie sie es von
einem erwartet.“8 Erikson zufolge bedeutet der Gewinn des Urvertrauens
für das Kind die Grundlage des Identitätsgefühls mit vertrauensvoller
Selbst- und Fremdbeziehung, während das Misstrauen den Beginn
schizoider und depressiver psychopathologischer Prozesse bildet. „Aber
selbst unter den günstigsten Umständen scheint diese Phase ein Gefühl
innerer Spaltung und eine allumfassende Sehnsucht nach einem verlo-
renen Paradies in das Seelenleben einzuführen (ein Gefühl, das geradezu
prototypisch dafür wird). Gegen diese machtvolle Kombination des
Gefühls, beraubt zu sein, gespalten zu sein und verlassen zu sein, muss sich
das Urvertrauen ein ganzes Leben lang aufrechterhalten.“9 In der psy-
choanalytischen Sicht Eriksons ist das Urvertrauen also von fundamental
sinnkonstitutiver Bedeutung für das spätere Leben des werdenden

8 Erik H. Erikson, Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 201991, 243.


9 Ebd., 244.
Aspekte des Urvertrauens 347

Menschen und dessen Gelingen. Mehr noch: Das Urvertrauen birgt nach
Erikson späterhin nachgerade uneinholbare Sinnpotentiale, Potentiale
der Erfüllung, die in späteren Lebensphasen nicht eingelöst werden
können.
Nicht nur in der Psychoanalyse, auch in der Soziologie des 20.
Jahrhunderts erhält das Vertrauen eine eminente Bedeutung. Das gilt zum
Beispiel für die funktionale Systemtheorie von Niklas Luhmann, deren
Grundzüge er ein seinem Buch Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion
sozialer Komplexitt (1968) entwickelt. Es ist gerade das Beispiel des
Vertrauens, durch das es Luhmann gelingt, seine funktionale, system-
theoretische Terminologie einzuführen. Er schreibt: „Vertrauen nimmt
geschichtlich wie sachlich vielerlei Gestalt an. Es hat in archaischen So-
zialordnungen einen anderen Stil als in zivilisierten, kann spontan ent-
stehendes oder taktisch durchschauend aufgebautes persönliches Ver-
trauen oder Vertrauen in allgemeine Systemmechanismen sein. Es
entzieht sich einer eindeutigen ethischen Anweisung. Nur von seiner
Funktion her kann es als Einheit begriffen und mit anderen, funktional
äquivalenten Leistungen verglichen werden. Vertrauen reduziert soziale
Komplexität dadurch, dass es vorhandene Informationen überzieht und
Verhaltenserwartungen generalisiert, indem es fehlende Information
durch eine intern garantierte Sicherheit ersetzt. Es bleibt dabei auf andere,
parallel ausgebildete Reduktionsleistungen angewiesen, zum Beispiel auf
die des Rechts, der Organisation und natürlich auf die Sprache, kann aber
nicht auf sie zurückgeführt werden. Vertrauen ist nicht das einzige
Fundament der Welt; aber eine sehr komplexe und doch strukturierte
Weltvorstellung ist ohne eine ziemlich komplexe Gesellschaft und diese
ohne Vertrauen nicht zu konstituieren.“10
Sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Soziologie wird dem
Vertrauen, dem Ur-Vertrauen, in führenden Ansätzen des 20. Jahrhun-
derts zentrale Bedeutung eingeräumt. Sie greifen damit, oft ohne es zu
wissen bzw. es zu explizieren, große Traditionen der Philosophie auf, in
denen das Vertrauen in seiner existentiell-praktischen Tragweite bedacht
wurde. Ich nenne nur einige Beispiele.11 Ohne Vertrauen kann das Leben
nach Gorgias nicht gelebt werden. Es wird bei Cicero und Seneca auf
stoische Weise stark auf das Selbstvertrauen konzentriert. Nach Thomas

10 Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexitt,


Stuttgart 31989, 105 f.
11 Vgl. zum Folgenden: Tanja Gloyna, Art. „Vertrauen“, in: Hist. Wçrterbuch der
Philosophie Bd. XI, Basel 2001, Sp. 986 – 990.
348 Teil 1. Religionsphilosophie

von Aquin ist Vertrauen Bedingung der Tugenden Großmut und Tap-
ferkeit. Vertrauen als Hoffnung auf zukünftige Erfüllung ist für den
Menschen als animal sociale und selbstmächtiges Wesen notwendig. Für
Fichte ist Vertrauen auf Erfüllung Bedingung jeglicher Verträge, für
Hegel als Form der Anerkennung Ausdruck von und für Selbstbe-
wusstsein: „Wem ich vertraue, dessen Gewißheit seiner selbst, ist mir die
Gewißheit meiner Selbst; ich erkenne mein Fürmichsein in ihm, daß er es
anerkennt, und es ihm Zweck und Wesen ist.“12
Für die existentiell-praktische Sinnkonstitution durch Vertrauen
sind, das ist Ergebnis eigener Untersuchungen, Momente der Negativitt
wesentlich.13 In bestimmter Hinsicht lässt sich gerade „grundlose Ge-
wissheit als Lebensform“14 auszeichnen. Denn wir müssen existential-
pragmatisch sowohl von der objektiven Uneinholbarkeit unserer selbst als
auch von unserer wechselseitigen, interexistentiellen Entzogenheit aus-
gehen, um unsere Praxis und insbesondere deren ethische, moralische
Dimensionen in ihrer Tiefenstruktur zu begreifen. Die Uneinholbarkeit
unserer selbst und die anthropologische Entzogenheit bzw. Unverfüg-
barkeit gilt für unsere gemeinsame Existenz in der alltäglichen Welt.
Entzogenheit muss als ein wechselseitiges Verhältnis zwischen Menschen
begriffen werden, als Interexistential. Bereits, wenn wir uns am Abend
mit jemandem verabreden, so ist dies ein einfacher Fall wechselseitiger
Unsicherheit und Unsicherbarkeit: Jeder kann die Verabredung nur zum
Schein getroffen haben, beide können nicht kommen. Das kommuni-
kative Vertrauensverhältnis der Verabredung lebt von seiner reziproken
Garantielosigkeit. Eine Verabredung der üblichen Art kommt nur zu-
stande, wenn keine instrumentelle Beherrschbarkeit des Verhältnisses
besteht. Das unterscheidet ein Rendezvous zum Beispiel von einer
Zwangsvorführung. Es wird deutlich, dass die reziproke Garantielosigkeit
nicht erst hohe und subtile Formen moralischer Verhältnisse prägt,
sondern dass sie auf ebenso elementare wie fundamentale Weise die ge-
samte Lebenspraxis konstituiert. Denn die Angewiesenheit darauf, sich auf
andere verlassen zu können, besteht durchgängig. Sie prägt das gesamte
Leben aller Menschen. Sie stellt somit keinen Sonderfall dar, zu dem wir

12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phnomenologie des Geistes, Akademie-Ausgabe


9 (1980), 297.
13 Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt. Transzendentale Anthropologie und
praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999, 182 – 189.
14 Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den
Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003, 340 – 380.
Aspekte des Urvertrauens 349

uns eigens bequemen müssten. Der Leser mache das Gedankenexperiment,


einen Tag lang anstelle der Modi des Vertrauens auf andere versuchsweise
stets Modi des Misstrauens zu praktizieren. Schnell wäre die Hand-
lungsunfähigkeit erreicht. Dies ist der praktische Aspekt der Kritik am
universalen Zweifel, die Wittgenstein in seinen Gedanken über Ge-
wissheit vorgebracht hat. Ein Zweifel, der an allem zweifelt, kann nicht
gelingen. Ohne ein Sich-Einlassen auf garantielose Praxis kommt über-
haupt keine gemeinsame Praxis zustande. Die Tradition unterschied die
securitas im Sinne technisch-instrumenteller Gesichertheit von der für
kommunikative Verhältnisse kennzeichnenden certitudo, jener Gewiss-
heit, die paradigmatisch in den spezifisch religiösen Sinnentwürfen des
Glaubens, der Liebe und der Hoffnung wirksam ist. Wir können mit
Bezug auf die Konstitution der menschlichen Welt feststellen, dass die
Ungesichertheit, das Nichtbestehen der securitas, gerade Voraussetzung
für die Formen der certitudo ist.
Die nicht technisch und instrumentell gesicherte Gewissheit trägt die
wesentlichen kommunikativen Interexistentiale des Vertrauens, des Sich-
Verlassens auf die Mitmenschen, des Versprechens und damit auch die
Möglichkeiten der wechselseitigen Offenheit füreinander. Die Negati-
vität in der Gestalt der wechselseitigen Entzogenheit ist damit gerade
Ursprung authentischer personaler Beziehungen. Was wir nicht können –
über die anderen als sinnentwerfende Wesen eigenmächtig verfügen – das
ist sinnkonstitutive Voraussetzung der Modi kommunikativer Rationa-
lität in der Rede und in der Praxis. Hier zeigt es sich, dass strukturell
gewaltlose und nicht-instrumentelle Verhältnisse in der Weltkonstitution
eine ganz wesentliche Bedeutung haben, allerdings nicht reduziert
werden dürfen auf den linguistischen Idealismus der Diskursethik. Wir
benötigen keine „Metaphysik“ der zweiten Person und keine Mystifi-
kation „des Anderen“ oder „des Du“ zu einer gleichsam auratischen
Größe, um zu sehen, dass die praxistragenden Relationen von der ana-
lysierten Art sind. Versuchen wir auf diesem Hintergrund, uns die
Verhältnisse beim Kennenlernen eines Menschen, den wir vorher nie
gesehen haben, zu vergegenwärtigen: Von Anfang an, und das heißt, von
den ersten gemeinsam gewechselten Sätzen an, etabliert sich ein mehr
oder weniger offenes und vertrauensvolles Verhältnis im Maße, in dem
die Partner bereit sind, füreinander zwanglos und ohne Not offen und
durchsichtig zu werden. Die reziproke Entzogenheit eröffnet die Mög-
lichkeit der Transparenz. Stellen wir uns vor, wir würden in eine un-
bekannte Weltgegend verschlagen. Dort lernen wir uns völlig fremde
Eingeborenenstämme kennen. Es wird – soviel ist aus grammatischen und
350 Teil 1. Religionsphilosophie

konstitutionellen Gründen klar – zu einer kommunikativen Praxis zwi-


schen den Eingeborenen und uns kommen, wenn wir in garantielose
Verhältnisse gemeinsam eintreten. Es wird jeweils sichtbar: Wir bedürfen
der Mitmenschen und einander nicht in reduzierter, instrumentell zu-
gänglicher Form. Wir bedürfen ihrer gerade in ihrer Ferne und Entzo-
genheit. Wir bedürfen ihrer im Schutze der Negativität. Diese Negativität
in der Interexistenz zeigt, dass eine menschliche Welt nicht durch einen sub-
stanziellen „Kern“ des Menschseins garantiert ist, sondern sich selbst in der
Einsicht in die instrumentell und pragmatisch untilgbare Entzogenheit und Un-
verfgbarkeit der Mitmenschen bildet.
Der Schutz des Negativen, das heißt: die lebenssinnkonstitutive
Bedeutung dessen, was wir nicht können – der Grenzen unseres Lebens
und Handelns – lässt sich so auf dreierlei Weise präzisieren:
1. als die Unableitbarkeit (Grundlosigkeit) unserer Sinnentwürfe;
2. in der Gestalt der Nichtobjektivierbarkeit der singulären Totalität unseres
Lebens;
3. als die wechselseitige pragmatische Entzogenheit der Menschen für-
einander im gemeinsamen Leben.
Kurz gesagt: Das unvordenkliche Ur- und Grundvertrauen bildet die
Basis unseres Menschseins.

3
Auf dem entwickelten Hintergrund können wir abschließend religiöse
Aspekte unserer Thematik ausblickhaft betrachten. Ersichtlich steht das
Gottvertrauen im Zentrum der christlichen Botschaft und sicher auch der
anderen monotheistischen Traditionen. Aber in der christlichen Reli-
gion, auf die ich hier allein rekurriere, ist durch die Botschaft von der
Menschwerdung und dem Tod Gottes aus Liebe ein unüberbietbares
Transzendenzgeschehen paradigmatisch, das den Grund des Glaubens
und des Gottesvertrauens legt. Ich betrachte aus philosophischer Sicht
Religion in ihren authentischen, irreduziblen und sowohl säkularisie-
rungsermöglichenden wie säkularisierungsresistenten Kerngehalten als
eine radikale Form von Aufklärung, in meiner Terminologie: als Tie-
fenaufklärung über die unverfügbaren Sinnbedingungen des menschli-
chen Welt- und Selbstverhältnisses. Im Kontext der Thematik des Ur-
vertrauens erschließen die genuin religiösen Perspektiven diese
Sinnbedingungen mit der Dimension der Schöpfung aus dem Nichts und
der dauernden Schöpfung/Erhaltung der Welt und des Lebens, in der
Aspekte des Urvertrauens 351

Form der Erlösung, der Befreiung von Zweifel und Angst auch im
moralischen Bereich, in der Form der Vollendung, des letztlich irredu-
ziblen, unbedingten Sinns des Lebens. Mit der paulinischen Trias von
Glaube, Liebe und Hoffnung wird die Tiefendimension des Urvertrauens
in der christlichen Verknüpfung bleibend artikuliert. Ersichtlich wird in
der Perspektive von Religion als Tiefenaufklärung, dass die Glaubens-
und die Gottesperspektive wesentliche Aspekte des lebensermöglichen-
den Urvertrauens explizit und bewusst und damit auch kulturell, sozial
und institutionell gestaltbar macht und hält, Aspekte, die in den mo-
dernen, säkularen, lebensweltlichen Vertrautheits- und Gewissheitsana-
lysen als unbewusst oder intuitiv handlungsermöglichend, handlungs-
leitend und sinnkonstitutiv rekonstruiert und identifiziert werden. Was
durch die Lebenswelt- und Alltagsanalysen der modernen Philosophie
von Husserl bis Habermas als unhintergehbares Sinnesfundament der
Lebenspraxis freigelegt wird, ebenfalls auf andere Weise in der Psycho-
analyse und der funktionalen Soziologie als solches unverzichtbare
Fundament erkannt wird, das wurde und wird in der religiösen Ver-
kündigung und Praxis in wesentlichen Aspekten explizit bewusst ge-
macht und bewusst gehalten. Besonders wichtig ist, dass es gerade die
ansonsten in der gelingenden Praxis als selbstverständlich immer schon
und passiv, intuitiv und unbewusst vorausgesetzten Phänomene sind, die
religiöse Tiefenaufklärung reflexiv macht. Dass es die Welt gibt, dass wir
sind, dass wir leben und handeln, überhaupt Sinn erfahren und entbehren
können, dass es Grund zum Vertrauen gibt – diese Basis unseres Welt-
und Selbstverständnisses wird in der religiösen Lehre und Praxis als ex-
plizite Transzendenzdimension bewusst gemacht.
Die religiöse Bewusstmachung des Urvertrauens als lebenstragender
Basis geht aber noch weiter. Sie weist (so in der christlichen Tradition) auf
konkrete Lebensformen, in denen diese Einsicht das ganze Leben zu
bestimmen beginnt: als Leben in und aus Glaube, Liebe und Hoffnung im
Sinne des Paulus. Die genuine Transzendenzdimension des Urvertrauens
– dessen sinnkonstitutive Bedeutung sowohl moderne Philosophie wie
Psychoanalyse und Soziologie hervorheben – wird erkennbar an den im
Zentrum der Verkündigung stehenden Lebensformen des Opfers für
andere, der supererogatorischen Werke, zu denen auch die unbedingte
Moral nicht verpflichten kann, in Formen der schutzlosen Selbstpreis-
gabe. Aus philosophischer Sicht könnte man sagen, es handelt sich dabei
um existentiell-praktische Lebens- und Praxisformen, die Möglich-
keitsbedingungen noch für die (immanente, „säkular“ verstehbare)
Moralität sind. In der Bibel (und auf andere Weise auch in der Tragödie,
352 Teil 1. Religionsphilosophie

worauf Martha C. Nussbaum aufmerksam macht15) wird vergegenwär-


tigt, was es auch philosophisch zu begreifen gilt: Die zeitlich-endliche
Augenblicklichkeit unseres Handelns (es ist immer „jetzt“!), die unaus-
lotbare Entzogenheit des eigenen Inneren bei aller Selbstmächtigkeit, die
leibliche und seelische Fragilität und Verletzlichkeit des Menschen, die
alle Menschen einende Kreatürlichkeit. Die lebendige personale Existenz
eines Menschen bildet sich im Medium der Irreversibilität und Unab-
sehbarkeit seines Handelns. Sinnkonstitutiv fr personales Handeln ist gerade,
dass es in seinem potentiellen Charakter keine Sicherheit und Konstanz bietet. Es
ist theoretisch unmöglich, sich handelnd auf die Handlungen Anderer zu
verlassen – ohne praktisches Vertrauen aber gibt es schlechterdings keine
humane Welt. Ein jeder, der handelt, läuft faktisch notwendig Gefahr, zu
scheitern oder Unrecht zu begehen. Das Ergebnis können wir erst im
Nachhinein wissen. Hannah Arendt hat besonders deutlich herausgear-
beitet, dass deshalb unsere ganze humane Handlungswelt im Kern auf
Versprechen und Vergeben beruht. Es gilt daher für die Konstitution der
Moralität: Unsere Fähigkeit, wechselseitig zu vergeben, ermöglicht und
eröffnet allererst unsere praktische Freiheit und das menschliche Zu-
sammenleben.16
So kann auch die moderne philosophische, psychoanalytische und
soziologische Grundlagenreflexion auf das Urvertrauen zurückführen zu
Einsichten, die die religiöse Tradition auf ihre Weise unmissverständlich
vergegenwärtigt.

15 Martha C. Nussbaum, The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy
and Philosophy, Cambridge 1986.
16 Hannah Arendt, „Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu ver-
zeihen“; in: dies., Vita activa oder Vom ttigen Leben, München 1981, § 33, 231 –
238; dazu auch: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005, 114 ff.
Teil 2. Ästhetik
Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und
Geschichte der ästhetischen Idee
Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Goethe

1
Die autonom gewordene und afunktionale Kunst, wie sie in den Sys-
temästhetiken seit Kant und bis in die Gegenwart, etwa bei Adorno,
reflektiert wird, eröffnet eine Weise der Erfahrung, die sich als – wie auch
immer gebrochene – Kontemplation auratischer Phänomene beschreiben
lässt. Für die Aura der Werke sind dabei deren genuine formale Qualitäten
konstitutiv.1 Sie sind die Garanten der spezifischen Sinnlichkeit von
Kunst. Dieser Sinnlichkeit ordnet die Philosophie seit Baumgarten eine
eigene Erkenntnisweise: cognitio sensitivia, zu. Die cognitio sensitiva ist
demnach diskursiv uneinholbar und reflexiv unüberbietbar. Als we-
sentliche Formqualitäten der ästhetischen Erfahrung seien genannt:

1. Die Totalitt und Simultaneitt. Ästhetische Erfahrung (bzw. Er-


kenntnis) hat einen nicht-partikularen Zug. Ein Kunstwerk zeigt die
Totalität seiner Welt: einer unteilbaren, irreduziblen Ganzheit, die einen
eigenen Raum und eine eigene Zeit aufweist. Wird so bereits die Dis-
kursivität unseres Welt- und Selbstverhältnisses tendenziell aufgehoben,
vergegenwärtigen Kunstwerke durch ihre entzeitlichenden Simultanei-
tätsaspekte eine Kontamination von Gegenwart, Vergangenheit und

1 Vgl. Thomas Rentsch, „Ästhetische Antropomorphie. Die Konstitution des


Schönen und die transzendental-anthropologische Bestimmung thaumatisch-
auratischer Weltverhältnisse“, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphi-
losophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt a.M. 1991, 27 – 35; „Bewunderung
und Glanz des Schönen“ (Diskussionsbericht), in: ebd., 308 – 321. Zum Zu-
sammenhang von Metaphysik und Ästhetik vgl. auch: Thomas Rentsch, Artikel
,Schöne, das‘, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopdie Philosophie und Wis-
senschaftstheorie Bd. 3, Stuttgart/Weimar 1995, 721 – 726.
356 Teil 2. Ästhetik

Zukunft, die ebenfalls gegen die Diskursivität auf die Fülle eines Au-
genblicks weist.2
2. Die Nichtinstrumentalitt ästhetischer Erfahrung. Diese ,Zwecklo-
sigkeit‘ hat ihren Grund darin, dass ein Kunstwerk durch Kategorien
instrumenteller Rationalität im Wesen unerreichbar ist.
3. Die Singularitt. Der auratische Zug der Werke gründet auch in
ihrer Einzigartigkeit als Individuen.
4. Ästhetische Erfahrung ermöglicht eine Art von kommunikativer
Selbsttransparenz der Subjekte, in der diese zwanglos sie selbst sein dürfen
und dennoch auf konsubjektive Weise mit anderen Subjekten verge-
meinschaftet werden. Ästhetische Konsubjektivität wäre dann sowohl
von theoretischer Intersubjektivität als auch von praktischer Transsub-
jektivität zu unterscheiden.
5. Der Nichtinstrumentalität ästhetischer Erfahrung entspricht positiv
ihre Genussqualitt, ihr Glckscharakter. Sie kann als Erfahrung jenseits von
Technik und Herrschaft wie auch jenseits des ethischen Sollens die be-
glückende Erfahrung von ungeschuldetem Sinn sein und insofern Er-
füllungscharakter haben.

Im Folgenden geht es nun um den Aufweis einer außergewöhnlich engen


Beziehung zwischen traditionellen theologischen, näher hin eschatolo-
gischen, und modernen ästhetischen Begriffsbestimmungen von Erfah-
rung.
Im 18. Jahrhundert formuliert die Philosophie erstmals systematisch
den genuinen Status durch Kunst vermittelter Erkenntnis und zeichnet so
eine spezifische ästhetische Erfahrung aus: Die Ästhetik wird eine Dis-
ziplin eigenen Rechts und erfordert besondere erkenntnistheoretische
Untersuchungen. Das hier von anderen Arten der menschlichen Er-
kenntnis abgegrenzte und als genuin ästhetisch ausgewiesene Welt- und
Selbstverhältnis trägt Züge des unableitbar Neuen. Die Bestimmung der

2 Zur Thematik der Anschauung und der Zeitlichkeit ästhetischer Erfahrung:


Rüdiger Bubner/Konrad Cramer/Rainer Wiehl (Hg.), Anschauung als sthetische
Kategorie. Neue Hefte für Philosophie, Heft 18/19, Göttingen 1980; Wolfhart
Henckmann, „Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick. Versuch eine These Adornos
zu verstehen“, in: Christian W. Thomsen/Hans Holländer (Hg.), Augenblick und
Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften,
Darmstadt 1984; Jürgen Manthey, Wenn Blicke zeugen kçnnten. Eine psychohis-
torische Studie ber das Sehen in Literatur und Philosophie, München 1984; Günter
Wohlfart, Der Augenblick. Zeit und sthetische Erfahrung bei Kant, Hegel, Nietzsche
und Heidegger mit einem Exkurs zu Proust, Freiburg 1982.
Der Augenblick des Schönen 357

ästhetischen Erfahrung und der durch sie vermittelten Erkenntnis ist


jedoch weder neuzeit- noch ästhetikspezifisch, sondern die charakteris-
tischen Qualitäten dieser Erfahrung, wie sie bei Baumgarten und Kant, im
Deutschen Idealismus, bei Schopenhauer, aber auch noch bei Adorno
beschrieben werden, sind genau diejenigen Qualitäten, die vormals der
„visio Dei beatifica“ 3 (visio Dei intuitiva/praesentaria, scientia intellec-
tualis) zugeschrieben wurden, d. h. der (nicht immer) postmortal ge-
dachten beseligenden Schau Gottes als des letzten und höchsten Zieles
sowohl des individuellen Lebens als auch der ganzen Welt als der ge-
schichtsendigenden Parusie. Die durch Kunst und schöne Natur ver-
mittelte Erfahrung erhält so diejenigen Genuss- und Heilsqualitäten, die
ehemals die Dignität der jenseitigen visio konstituierten. Der Glücks-
anspruch des ästhetischen Blicks und die Art, wie seine Erfüllung ange-
sichts einer auratischen Kunst gedacht wird, postfiguriert die traditionelle
eschatologische Glücksverheißung. Im Folgenden soll gezeigt werden,
dass und wie sich diese These durch die Gleichheit der erkenntnistheo-
retisch-logischen, definitorischen Bestimmung sowohl der visio beatifica
als auch der ästhetischen Erfahrung als einer cognitio clara et confusa be-
gründen lässt.

2
Um den entscheidenden begriffs- und systemgeschichtlichen Wende-
punkt zu erreichen, muss zunächst die Vorgeschichte der Rede von der
Schau Gottes mit ihren mythologischen und theologisch-eschatologi-
schen Paradigmen knapp umrissen werden. Bei dieser Rede handelt es
sich um einen Kernstoff der Überlieferung, der vielleicht am besten als

3 Vgl. Georg Hoffmann, Der Streit ber die selige Schau Gottes, Münster 1917; John d.
Walshe, The Vision Beatific, New York 1926; Anton D. Sartori, La visione beatifica,
Turin 1927; Patrick Bastable, Desire for God. London 1947; Nikolaus Wicki, Die
Lehre von der himmlischen Seligkeit in der mittelalterlichen Scholastik von Petrus Lom-
bardus bis Thomas von Aquin. Frankfurt a.M. 1954. Bereits im Kontext ästhetischer
Thematik: Hans U. von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische sthetik. Bde. 1 – 3
(in sieben Bänden), Einsiedeln 1961 – 1969; Thomas Rentsch, Artikel ,Visio Dei
beatificia‘, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopdie Philosophie und Wissen-
schaftstheorie, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 1996, 549 f. Vgl. Helmut K. Kohlenber-
ger, Artikel ,Anschauung Gottes‘, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wçrter-
buch der Philosophie. Bd. 1, Basel 1971, Sp 348.
358 Teil 2. Ästhetik

absolute Metapher im Sinne Hans Blumenbergs4 bezeichnet werden


kann, d. h. um einen nicht diskursiv auflösbaren metaphorischen Kern-
bestand mit außergewöhnlicher geschichtlicher Konstanz in höchst va-
riierenden Kontexten. Die Untersuchungen der Altorientalistik thema-
tisieren das sumerische und akkadische Material, die hethitischen,
babylonischen und ägyptischen Zeugnisse.5 Othmar Keel hat in seinem
Werk über die altorientalische Bildsymbolik die theologische Transfor-
mation dieser Vorstellungen in den monotheistischen Bereich des Alten
Testaments dargestellt: In der bildlosen Jahwe-Religion wird die Schau
postmortal gedacht, das Schauen Gottes im Diesseits als todbringend.6
Die Vorstellung von der Schau Gottes ist bekanntlich aber auch für
die antike Philosophie zentral. Bei Platon ist sie mit allen Kernlehrstücken
eng verbunden und bildet das Zentrum seiner erotischen Theologie.7 Bei

4 Vgl. Hans Blumenberg, „Paradigmen zu einer Metaphorologie“, in: Archiv f.


Begriffsgeschichte, Bonn 1960; ders., „Ausblick auf eine Theorie der Unbegriff-
lichkeit“, in: ders., Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher,
Frankfurt a.M. 1979, dort 77 – 93.
5 So Friedrich Nötscher, ,Das Angesicht Gottes schauen‘ nach biblischer und babylo-
nischer Auffassung, im Anhang: Wolf v. Baudissin: „Gott schauen in der alttes-
tamentarischen Tradition“, Repr. Nachdr. Darmstadt 1969. In Ägypten lässt sich
insbesondere ein konkreter, nicht-metaphorischer Bezug auf die meist verhüll-
ten, zu bestimmten Anlässen jedoch den Blicken der Gläubigen von den Priestern
preisgegebenen Götterbilder nachweisen, ebenso eine Verflechtung der Vor-
stellung vom Schauen Gottes mit der Licht- und Sonnenmythologie. Diese
verbindet sich mit den religiösen Grundkategorien des Glücks und des Lebens. In
Babylon betete man: ,dein Antlitz möchte ich sehen, Wohlergehen haben, mit
gnädigem Blick sieh mich gnädig an!‘ ,Es wird richtig der nicht Richtige, der dein
Antlitz sieht‘ (Nach Nötscher. 119).
6 Othmar Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am
Beispiel der Psalmen. Zürich 31980. Nach Keel bedeutete ,Gott schauen‘ in
Ägypten, Mesopotamien und auch Israel, eine erhebende Freude und ein Glück
zu erfahren, das man als letzten Sinngrund des Daseins erfuhr. (178). Die damit
verbundene Proskynese ist Ausdruck eines überwältigenden Erlebens der Hei-
ligkeit (287). Die Psalmen intensivieren sowohl den Zusammenhang mit dem
Glück als auch den mit dem Tod: Ps. 63.3. Ps. 16,11. ,Du kannst mein Angesicht
nicht schauen, denn kein Mensch bleibt am Leben, der mich schaut.‘ (Ex. 33.20).
,Wir müssen sterben, denn wir haben Gott gesehen.‘ (Ri. 13,22. Vgl. Jes. 6.5).
7 Vgl. zur Antike insgesamt: Rudolf Bultmann, „Zur Geschichte der Lichtsym-
bolik im Altertum“, in: Philologus XCVII (1948). 1ff; Julius Stenzel, „Der
Begriff der Erleuchtung bei Platon“, in: Die Antike II ( J 926). 235 – 257. Die
Vorstellung von der Schau ist verbunden mit dem Aufschwung der Seele zu dem
Ewigen und Göttlichen und mit der ,Umlenkung‘ der Seelen zur Idee des Guten
(Politeia 517 B-5 18 D), mit der Anamnesis und der pränatalen Schau der Ideen
(Phaidros 247 D; 250 E), mit dem Eros, der Unsterblichkeit und der Schau des
Der Augenblick des Schönen 359

Aristoteles stellt die Schau das Integral seiner Kosmologie, Theologie und
der Lehren von der Theoria und Eudaimonia dar.8 Joachim Ritter weist
darauf hin, dass gerade hier die Aristoteles-Rezeption der christlichen
Metaphysik einhaken konnte.9 Für Plotin ist die Schau Ziel des Lebens
und des Philosophierens. Sie wird hier wie bei Platon als beglückende und
identitätsstiftende Erfahrung des Schönen gedacht.10 Dieses Denken prägt
auch die neuplatonisch beeinflusste Patristik.11
Der biblische Traditionsstrang setzt sich im Neuen Testament fort, im
johanneischen Bereich12, insbesondere aber im paulinischen Entwurf
einer eschatologischen ,Erkenntnistheorie‘ im Agape-Hymnus, 1
Kor. 13,9 – 12.13 Paulus rezipiert in diesem eschatologischen Entwurf das
Spiegel-Motiv der griechischen Literatur. Der Spiegel symbolisiert 1. die

Meeres des Schönen, welche ,mit einem Blick‘ geschieht (Symposion 210D ff. ).
Das Ewig-Schöne rettet vor der Gewalt der Zeit: vgl. Gerhard Krüger, Einsicht
und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Frankfurt a.M. 41973, 280.
Vgl. 200, 219, 261 f. Die Schau bildet das Zentrum der Erostheologie: Krü-
ger. 280 – 283.
8 Met. 1072b 25. Met. 1074b 33 f. Dazu: Walter Bröcker, Aristoteles, Frankfurt
a.M. 31964, 220. Hier gründet die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei
Aristoteles, dazu: Joachim Ritter, „Die Lehre vom Ursprung und Sinn der
Theorie bei Aristoteles“, in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles
und Hegel, Frankfurt a.M. 1969, 9 – 33. Dazu weiter: Met. 983a 5 ff. Met. 980a
sowie Ritter. 18.
9 ,Theoria ducit ad Dei cognitionem.’ (Albertus Magnus). Interpreriert bei Ritter.
ebd., 15.
10 Porphyr rückte Plotins Schrift ber das Schçne gleich in die erste Enneadengruppe
ein, zwischen die Abhandlung ber die Glckseligkeit und die ber das Gute. Nach
Hans Blumenberg, „Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philoso-
phischen Begriffsbildung“, in: Studium Generale Jg. 10, Heft 7 (1957), 437 f. hat
der Neuplatonismus das Höhlengleichnis nicht mehr als erkenntnistheoretische
Metapher aufgefasst, sondern wörtlich und mithin kosmologisch gelesen. Un-
beschadet davon kommt der plotinischen Hypostasenschematik mit ihrer auf-
und absteigenden Fluchtbewegung zum Einen/vom Einen (Enn. VI 9, 11 , Z. 51)
ein existentieller Sinn zu, der sich in der Schau des Einen in seiner Schönheit
erfüllt: Enn. V 1. Z. 43 – 49. Enn. I 6, 7. Z. 21 – 34. Zählung nach: Plotini Opera,
Paul Henry/Hans R. Schwyzer (Hg.) Leiden 1951 ff.
11 So bei Origenes, Basilius und Gregor von Nyssa. Vgl. Heinrich Scholz., Glaube
und Unglaube in der Weltgeschichte. Ein Kommentar zu Augustinus De civitate Dei. Mit
einem Exkurs: Fruitio Dei, ein Beitrag zur Geschichte der Theologie und Mystik, Leipzig
1911, 197 – 235. Zu Gregor: Franz Diekamp, Die Gotteslehre des hl. Gregor von
Nyssa, Münster 1896.
12 1. Joh. 3,2. Vgl. auch 1. Tim. 6, 13.16.
13 Vgl. auch I. Kor. 8, 3 und 2. Kor. 5, 7.
360 Teil 2. Ästhetik

Klarheit, 2. die Selbsterkenntnis, 3. die Indirektheit des Sehens.14 Die Vor-


stellung von der Schau Gottes ist ebenfalls gnostisches Zentralmotiv. Das
Perlenlied der Thomas-Akten gestaltet prägnant die menschliche
Grundsituation im Mythos von einem bei Gott befindlichen Bild jedes
Menschen, auf das dieser, in der Welt der Finsternis verloren, zugeht.15
Die Schau in das göttliche Spiegel-Bild ist die wahrhaftige Erlösung als das
Einswerden mit sich selbst. Die gnostische Visio-Konzeption weist die
Momente der Simultaneitt, Totalitt und der Selbsttransparenz als Iden-
titätsfindung auf.16 Der Kernstoff: Schau des Antlitzes Gottes findet sich
ebenfalls im Koran17 und in der islamischen Gnosis.18
Für Augustinus hat Heinrich Scholz in einer eigenen Untersuchung
die Zentralstellung des Begriffs der fruitio Dei untersucht.19 Die visio als
jenseitiger Genuss der Gegenwart Gottes ist der Ort im augustinischen

14 Dazu: Hans Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, Göttingen 1969. 268 ff.
Das Moment der Klarheit geht auf Timaios 72 C zurück. Das Moment der
Selbsterkenntnis findet sich so auch in der Stoa, in der platonischen Tradition sind
bei Plutarch die unbelebten Dinge ein ainigma tou theou, die belebten dagegen
klare Spiegel. Die Indirektheit bereits Timaios 71 B. Das paulinische Kerygma
wendet sich hier mit der Vergegenwärtigung der ekstatisch-eschatologischen
Struktur christlicher Existenz gegen eine gnostisch-enthusiastische immanente
Verfügbarmachung des Eschaton.
15 Im Perlenlied wird dieses transzendente Ebenbild dem heimkehrenden Prinzen
in der Gestalt eines prachtvollen Strahlenkleides entgegengesandt: ,Seinen (= des
Kleides = des wahren Selbst) Glanz / hatte ich vergessen, da ich es als Kind im
Vaterhause / zurückgelassen hatte. / (Doch) plötzlich, als ich es mir gegenüber
sah, / Wurde das Strahlenkleid ähnlich meinem Spiegelbild / mir gleich; / Ich sah
es ganz in mir, / Und in ihm sah ich mich auch mir ganz gegenüber, / So dass wir
Zwei waren in Geschiedenheit / Und wieder Eins in einer Gestalt.‘ (Zit nach
Gilles Quispel, Makarius, das Thomasevangelium und das Lied von der Perle, Leiden
1967, 43.)
16 Simultaneität: exaiphanes, plötzlich. Totalität: holon, ganz. Vgl. zum Thema der
Rückerinnerung an die göttliche Lichtheimat als des Innewerdens der eigenen
Identität: Hans Jonas, Gnosis und sptantiker Geist, 2. Tl., 1. Hälfte: Von der
Mythologie zur mystischen Philosophie, Göttingen 1954, 2. Kapitel.
17 In der frühmedinensischen Sure ,Die Kuh‘, wo die Omnipräsenz des Antlitzes
Allahs verkündet (2,115) und das gute Handeln als Streben nach diesem Antlitz
bezeichnet wird (2,272), in der Sure ,Die Scharen‘, in der die Posaunenstöße des
Gerichts die plötzliche Schau der Gerechten einleiten (39, 68 f.), in der Sure ,Der
Barmherzige‘, in der der Vergänglichkeit der Welt die Unvergänglichkeit des
Antlitzes Allahs entgegengesetzt wird (55, 26 f.). Nach Tilman Nagel, Der Koran,
München 1983, 128, ist „das Antlitz Gottes zuwenden […] der ursprüngliche
Sinn des Wortes, Islam‘“.
18 Vgl. Heinz Halm, Die islamische Gnosis, Zürich/München 1982, 303.
19 Vgl. Scholz (Anm. 11).
Der Augenblick des Schönen 361

Welt- und Heilsentwurf, an dem die zu Beginn der Confessiones be-


schworene Unruhe des menschlichen Herzens endgültig zur Ruhe
kommt.20 Hier geschieht die totale Sichtbarmachung des Antlitzes Gottes,
die totale Theophanie. Diese wird im 22. Buch von ,De civitate Dei‘ mit
einer völligen kommunikativen Transparenz der inneren Naturen der
geretteten Menschen in eins gesetzt.21 Die eschatologische Kommuni-
kationsgemeinschaft ist „von Schönheit entflammt“.22 Augustinus ent-
wirft eine Ästhetik als Theophanie. Dabei ist die visio ein zweckfreies, nie
instrumentalisierbares Gut (bonum incommutabile), welches den
Tauschprozessen dieser Welt nicht unterliegt und somit jeglicher ver-
fügenden Handlungsstruktur der Menschen entzogen ist. Aber bereits der
ordo der Welt wird von Augustinus an ein nicht-instrumentelles Da-
seinsverhältnis explizit gebunden23, ist also nicht ontologisch substruiert,
sondern verdankt sich einer kontemplativen Daseinshaltung. Insofern
trägt ein theoretisch-ästhetisches Welt- und Selbstverhältnis die augus-
tinische Ordometaphysik. Das wird auch an den mystischen Varianten
der visio bei Augustinus deutlich, die sich einerseits dionysisch-ekstatisch,
als Exzess, andererseits apollinisch-kontemplativ als (diesseitige) Schau
der ewigen Schönheit Gottes (pulchritudo intelligibilis, incommutabilis
et ineffabilis) ausprägen.24
Die mittelalterliche spekulative Etymologie leitet Eden, die Land-
schaft des Paradieses, von ,idea‘, mithin von eidein, schauen, her. Eden ist
der Ort des Schauens Gottes, des visus divinus et deliciosus. Das Wort
Paradies wurde dementsprechend als Kürzel für ,paratis dans visum‘: den

20 Fruimur cognitis, in quibus voluntas ipsis propter se ipsa delectata conquiescit.


(De trin. X 13).
21 „Gott wird uns […] so sichtbar werden, daß er mit dem Geiste von jedem von uns
in jedem von uns geschaut wird, geschaut von einem im andern, geschaut in sich
selbst, geschaut im neuen Himmel und auf der neuen Erde, in jeder Kreatur […];
geschaut auch durch die Körper in jedem Körper […] Auch unsere Gedanken
werden uns gegenseitig offen zutage liegen.“ (Der Gottesstaat. Übers. v. Carl J.
Perl, Bd. 3, Salzburg 1953, 575).
22 Ebd. 576.
23 Gegen Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a.M.
1975, 52 – 55, 68, 211. Vgl. Augustinus, De vera religione XXIX.
24 Dazu Scholz (Anm. 11), 211. Vgl. zur Zentralstellung der Schönheitsreflexion
bei Augustinus auch: Johann Kreuzer, Pulchritudo: Vom Erkennen Gottes bei
Augustinus. Bemerkungen zu den Bchern IX, X und XI der Confessiones, München
1995.
362 Teil 2. Ästhetik

Bereiten gewährend den Anblick Gottes, etymologisiert.25 Die Gralssu-


che geschieht aus Sehnsucht nach der Gottesschau. In der neuplatonisch-
mystischen Tradition ( Johannes Scotus Eriugena, Hugo von St. Viktor,
Bernhard von Clairvaux) und insbesondere in der franziskanischen
Lichtmetaphysik des Bonaventura setzt sich die Zentralstellung der visio
fort.26 Sie wird hier besonders deutlich mit bestimmten meditativen
Exerzitien in Zusammenhang gebracht. Das Erreichen der Schau be-
deutet dann zunächst und bereits innerweltlich die Lösung von ablen-
kenden und verwirrenden Vorstellungen, das in der Folge meditativer
Praxis sich einstellende Abgleiten des die Menschen von sich selbst
entfremdenden Unwesentlichen.27 Thomas von Aquin bestimmt die
Schau als unmittelbar.28 Die Seligen erkennen alles in Gott Geschaute auf
einmal (simul, et non successive videntur).29 Zwar gewährt bereits die
contemplatio in diesem Leben das beglückende Widerfahrnis der
Schönheit als einer zwanglosen Synthesis von Vernunft und Willen,
Rationalität und Sinnlichkeit.30 Jedoch die im irdischen Leben mögliche
Erfüllung ist flüchtig und vergeht; sie bleibt hinfällig und fragmentarisch
und wird immer wieder unterbrochen. Dem steht der postmortal-
eschatologische Entwurf der visio Dei bei Thomas gegenüber. In der visio
konzentrieren sich wie in einem Brennglas der anthropologische und der
theologische Entwurf des Thomas. Neuere Forschungen zum Zusam-
menhang der Lehre von den Proprietäten des Seins – der Transzen-
dentalienlehre – mit der Lehre von den göttlichen Attributen und

25 So Uwe Ruberg, „Verfahren und Funktion des Etymologisierens in der mhd.


Zeit“, in: Verbum et signum, Hans Fromm/ Wolfgang Harms/ Uwe Ruberg
(Hg.), München 1975, 295 – 330.
26 Vgl. Bonaventura, Breviloquium VII c. 7 § 1.
27 Etwa in Bonaventura, Decem opuscula ad theologiam mysticam spectantia, Quarracchi,
3
1926. Vgl. zu meinem Thema: Emma J. M. Spargo, The category of the aesthetic in
the philosophy of Saint Bonaventure, Louvain/Paderborn 1953.
28 Im Anschluss an seinen Lehrer Albertus Magnus. Vgl. Kohlenberger (Anm. 3).
Thomas behandelt die visio in den 13 Artikeln der 12. Quaestio des ersten Buches
der Summa theologiae, und zwar mit Bezug auf das desiderium naturale (a. 1), auf
den supranaturalen habitus des lumen gloriae (a. 2), auf das Verhältnis von
Sinnlichkeit, imaginatio und Intellekt (3), auf die Gnade (4), auf die claritas Dei
(5), auf die Liebe (6), um sie dann selbst ihrem Wesen gemäß zu thematisieren.
29 Ebd., a. 10.
30 In vita contemplativa […] per se essentialiter invenitur pulchritudo, II – II 180, 2
ad 3. Zur Hinfälligkeit: Haec operatio nec continua potest esse, et per consequens
nec unica est, quia operatio intercisione multiplicatur. Et propter hoc in statu
praesentis vitaes, perfecta beatitudo ab homine haberi non potest, I-II 3, 2 ad 4.
Der Augenblick des Schönen 363

schließlich mit der Trinitätstheologie weisen der transzendentalen


Schönheit eine zentrale und vermittelnde Funktion zu. Für die in der
Transzendentalienlehre behauptete Konvertibilität des verum und bo-
num arbeitete Umberto Eco mit aller Deutlichkeit die vermittelnde und
synthetisierende Bedeutung der transzendentalen pulchritudo heraus.31
Neuere Untersuchungen vertiefen diese Analyse.32 In seiner Arbeit
über Schönheit bei Thomas hat Günther Pöltner dessen Frage nach der
pulchritudo als Frage nach einer möglichen Einheit der transzendentalen
Seinsbestimmungen interpretiert. In dieser Analyse erscheint Schönheit
als Herkunft der transzendentalen Differenz von bonitas und veritas und
als Ursprung des Partizipationsgedankens.33 Die visio bezieht den
Schauenden in das innertrinitarische Kommunikationsgeschehen der
göttlichen Personen ein, denen man die Transzendentalien: Einheit,
Wahrheit und Güte zuwies, und deren wechselseitiges Sichdurchdringen
(Perichorese, circumincessio) die göttliche Schönheit ist. So münden die
Bestimmungen der eschatologischen visio: Totalität der Schau, Simul-
taneität, Zweckfreiheit, Synthesis von liebendem Willen und Vernunft,
kommunikative Selbsttransparenz und erfüllte Identität schließlich in
Kategorien einer theologischen Ästhetik.
Besonders aufschlussreich für unseren Zusammenhang ist die ästhe-
tische Mystik und Eschatologie, die Thomas von Vercelli (Thomas
Gallus, Thomas von St. Viktor, Abt von Vercelli, † 1246 [oder 1226]) in
der Tradition des Areopagiten, des Johannes Scotus Eriugena und der
Viktoriner entwickelt hat. Hier erhält die visio beatifica eine gänzlich
ästhetische Modalität. Thomas entwirft diese neuplatonisch-lichtmeta-
physisch geprägte Phänomenologie der Ekstase als Kommentar zum
Hohen Lied: Deum esse pulchrum. 34 Er konzipiert für die visio als mystische

31 Umberto Eco, Il problema estetico in San Tommaso, Turin 1956; ders., „Sviluppo
dell’estetica medievale“, in: Momenti e problemi di storia dell’estetica. Bd. 1, Mailand
1959, 115 – 239, v. a. 129. 137.
32 So Francis J. Kovach, Die sthetik des Thomas von Aquin, Berlin 1961; Winfried
Czapiewski, Das Schçne bei Thomas von Aquin, Freiburg i.B. 1964; Willehad P.
Eckert, „Der Glanz des Schönen und seine Unerfüllbarkeit im Bilde“, in: Thomas
von Aquino. Interpretation und Rezeption, ders. (Hg.), Mainz 1974. 229 – 244.
33 Günther Pöltner, Schçnheit. Eine Untersuchung Zum Ursprung des Denkens bei
Thomas von Aquin, Wien/ Freiburg i.B./ Basel 1978. Gerade die mitunter etwas
gewaltsam an die thomanischen Grundunterscheidungen (additio ad ens, modus
generaliter consequens omne ens in se, diversificatio etc.) angeschlossene exis-
tenziale Interpretation ist m. E. hermeneutisch sehr fruchtbar.
34 Migne, PL Bd. 206, 9 – 862.
364 Teil 2. Ästhetik

Ekstasis die Einheit von kognitiver Liebe und affektivem Intellekt. 35 In der
solchermaßen ästhetisch gestifteten Einheit des Bewusstseins durch-
dringen sich die Neigung zum Schönen und die Bewegung zum Guten in
der Weise des amor cognitivus bzw. der cognitio amativa. 36 Mit diesem
Kommentar liegt eine mystische Ästhetik vor, die sich zu einer ästheti-
schen Mystik ausformt: das ekstatische Geschehen bleibt schließlich
begrifflich uneinholbar, und dies entspricht gerade der ineffabilitas der
Schönheit.37

3
Wir erreichen nun den begriffs- und systemgeschichtlichen Termin, an
dem die entscheidende Transformation greifbar wird, auf die sich meine
These stützt. Hier ist das Werk des Johannes Duns Scotus (wie auch sonst
für Fragen der „Epochenschwellengeschichtsschreibung“) von zentraler
Bedeutung. Zweifellos war er mit den Gedanken des Thomas von
Vercelli vertraut.38 Ich erwähne dies, weil ich für die Kernthese auf einer
faktischen Filiation insistiere. Zunächst sei die scotische Konzeption der
visio beatifica kurz dargestellt. Gott hat demnach nur einen einzigen
„Zweck“: geliebt zu werden. Dementsprechend ist es der alleinige
Zweck des homo viator, Gott ohne jegliches egoistisches Interesse zu
lieben. Die Erfüllungsgestalt dieser beiden singulären Zwecke ist die
cognitio intuitiva der Seligen.39 Aus der Konvertibilität der trinitarischen
Personen mit den Transzendentalien der Einheit, Wahrheit und Güte
(Liebe) und ihrer mit der Schönheit ergibt sich für Duns Scotus, dass die
visio Schau des schrankenlos Schönen ist. Die Glückseligkeit entspringt –
wie bei Thomas von Vercelli – der Synthesis von Intellekt und Willen:
Hic dictur quod beatitudo consistit simul in actu intellectus et voluntatis. 40 Das
heißt: Totalität und Simultaneität der visio beatifica beziehen sich auf das

35 Edgar De Bruyne, Etudes d‘esthetique medievale. Bd. 3, Brügge 1946, 62, bemerkt
zu Recht, dass diese Ästhetik auf die Vermittlung fundamentaler Gegensätze
abzielt: „beauté et bonté, intelligence et affection, sens supérieurs et sens infé-
rieurs, clarté et suavité, splendeur et douceur, éclat éclairant et chaleur vivifiante,
grâce et force, contemplation et dilection, vision et plaisir.“
36 Zit. nach De Bruyne, ebd., 67 und 61.
37 Ebd., 70.
38 So auch De Bruyne, ebd., 359.
39 Dazu: Reinhold Seeberg, Die Theologie des Johannes Duns Scotus. Ein dogmenge-
schichtliche Untersuchung, ND der Ausg. Leipzig 1900, Aalen 1971, 457 ff.
40 Zit. nach De Bruyne (Anm. 35), 359.
Der Augenblick des Schönen 365

Geschaute, die Schau und den Schauenden in eins und zugleich. Primär
ist das eschatologische (ästhetische) Ereignis mit seinen formalen Fülle-
qualitäten (auf den scotischen Formbegriff kann hier nicht eingegangen
werden), erst von ihm lassen sich die genannten Aspekte „abschatten“.
Mit der visio verbindet Duns Scotus sodann den Gedanken der be-
glückten Ruhe: Der Intellekt wird durch die unmittelbare Schau erfüllt
und befriedet, der Wille ebenso durch die gleichursprüngliche Liebe. Die
visio führt so zur quietatio totalis et ultima. 41 Bekanntlich akzentuiert die
Anthropologie des Schotten die menschliche Freiheit in einer für mit-
telalterliche Denktraditionen unerhörten Schärfe. So bleibt es nicht aus,
dass auch im Kontext der eschatologischen visio-Thematik dieses Ele-
ment seines Denkens unverkennbar bleibt: Der Wille des Menschen ist
(und bleibt auch im Status der visio) frei. Die hier wirklich werdende
reine, interesselose Liebe ist nun auch nach Duns Scotus die Höchstform
der Manifestationen der menschlichen Freiheit. Hierin liegt für ihn ge-
rade der Charakter der fruitio bei der Schau begründet: Nicht die con-
templatio des Schönen, für sich genommen, bewirkt die Freude, den
Genuss; sondern dieser Genuss ist Genuss der eigenen Freiheit –
Selbstgenuss im Fremdgenuss, um eine Formulierung zeitgenössischer
Ästhetik hier aufzugreifen.42 Dieser Selbstgenuss wird durch eine Freiheit
ermöglicht, die sich ihrerseits der interessenlosen Liebe zur göttlichen
Schönheit verdankt.43 Und diese Liebe hat zwei wesentliche Aspekte:
zum einen vereinzelt sie den Liebenden auf eine einmalige Weise (sie
wird gleichsam zum eschatologischen Individuationsprinzip), zum an-
deren entledigt sie ihn aber jeglichen Egoismus. Die Interesselosigkeit
ohne jede Restriktion befreit so von der Last, vom Schwerecharakter der
Existenz.44
Und es ist nun das Entscheidende: an dieser Stelle und zur logischen
Bestimmung des Status der visio beatifica begegnen bei Duns Scotus
genau jene Fundamentalunterscheidungen, in deren Rahmen im
18. Jahrhundert, zuerst von Baumgarten, das Spezifikum ästhetischer
Erkenntnis systematisch formuliert werden konnte, nämlich als cognitio
clara et confusa. Für Duns Scotus hebt jede Erfahrung mit der sinnlichen
Erkenntnis konkreter Individuen an; und die menschliche Verständigung

41 Ebd., 364.
42 Hans R. Jauß, sthetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M.
1982, 84 f.
43 De Bruyne, (Anm. 35), 368.
44 Ebd.
366 Teil 2. Ästhetik

ist bleibend auf diese sinnliche Basis zurückverwiesen.45 Von dieser


cognitio intuitiva der ,quidditativen Präsenz‘ eines Gegenstandes kann
der Erkennende fortschreiten zu einer cognitio clara et confusa: sie gestattet
es, den Gegenstand wiederzuerkennen, jedoch nicht, ihn distinkt (deut-
lich) zu erkennen, d. h. eine abgeschlossene Bestimmung seiner Merk-
male durch eine Definition zu geben.46 Illud est confusum quod est in-
distinctum.47 Distincte concipitur quod secundum hoc concipitur,
secundum quod ab aliis distinguitur. Confuse concipitur quod indis-
tincte.48 Distincte vero quando concipitur sicut exprimitur per defini-
tionem.49 Gegenüber der bloß ,klaren‘ und ,konfusen‘ Erkenntnis (das
Wort konfus hier ohne jede pejorative Nuance: confundo heißt zu-
sammengießen, vereinigen; es handelt sich um eine klare und vieles
erfassende, vereinigende Erkenntnis) hebt sich die klare und distinkte
Erkenntnis durch die Vollständigkeit ihrer definitorischen Merkmals-
bestimmungen ab: Nihil concipitur distincte, nisi quando concipiuntur
omnia quae includuntur in ratione eius essentiali.50 Die cognitio clara et
confusa nun ist für Duns Scotus das epistemologische Paradigma der Er-
kenntnis des Schönen. Sie ist nicht bloß (einzig und allein) sinnlich und
konfus (wie eine Körperempfindung); sie ist jedoch auch nicht (bereits)
begrifflich-definitorischer Art. Es handelt sich bei der ästhetischen Er-
kenntnis um die wiederholbare, jedoch je einmalige Erkenntnis von
etwas Individuellem, das sich nicht definieren lässt.51 Die ästhetischen
Erfahrungen lassen sich demnach gemäß ihrer von Duns Scotus reflexiv
hervorgehobenen logischen Struktur nicht begrifflich und definitorisch
einholen und wiedergeben; die Schönheit eines Individuums (einer in-
dividuellen Substanz) ist erfahrbar und kommunikabel, bleibt jedoch
gleichwohl undefinierbar. Der (bislang nur auf Goethe zurückführbare,
jedoch den Punkt treffende) Satz ,Individuum est ineffabile‘ erhält hier eine
ästhetisch-erkenntnistheoretische, sehr präzise Bedeutung.
Die so von Duns Scotus ausgearbeitete Erkenntnistheorie der äs-
thetischen Erfahrung verbindet sich nun folgendermaßen mit unserem
,Leitfossil‘, der visio beatifica: Nur diejenigen cogitationes sind distinkt,
auf die sich der unterscheidende Wille richtet; es ist das willentliche

45 Ebd., 348.
46 Ebd., 349.
47 Duns Scotus, De anima, q. 16 n. 2.
48 Duns Scotus, Theoremata X.
49 Duns Scotus, Oxon. I d. 3 q. 2 n. 21.
50 Ebd .
51 De Bruyne (Anm. 35), 349.
Der Augenblick des Schönen 367

Unterscheidungshandeln des Erkennenden, welches das Erkennen aus


dem klaren in den deutlichen (distinkten) Status erhebt. Nun sahen wir,
dass die visio (und bereits innerweltlich die contemplatio) schlechthin
Quietiv des Willens ist; sie führt zur quietatio totalis, indem der Schauende
sich an die Fülle und Totalität (totalitas extensiva et intensiva52) des sich
ihm Zeigenden verliert.53 In der Schau richtet sich die willentliche at-
tentio nicht mehr mit Unterscheidungsabsichten auf das summum bonum
et pulchrum, sondern genießt es liebend.
Die Fundamentalunterscheidungen der scotischen eschatologischen
Ästhetik begegnen – wie wir gleich sehen werden – bei der Geburt der
philosophischen Disziplin ,Ästhetik‘ im 18. Jahrhundert wieder. Zuvor
einige Stützargumente für eine faktische Filiation zwischen den hier
thematischen Befunden. Es stellt sich angesichts meiner These insbe-
sondere die Frage, wie die mittelalterlichen Unterscheidungen ins
18. Jahrhundert gelangten, und zwar bereits unter völliger Suspension
ihrer funktionalen Gleichsetzung. Zwei Fakten der Überlieferungsge-
schichte, deren komplizierte Binnenstruktur hier nicht entfaltet werden
kann, belegen diese Filiation:
1. Die protestantische Scholastik und aristotelische Schulmetaphysik
des 16. und 17. Jahrhunderts rezipierte unverhohlen die mittelalterlichen
Systematiken und legte Werke der spanischen Barockscholastik als
Lehrbücher zugrunde. Das gilt insbesondere für die Werke des ‘papa et
princeps’ aller Metaphysiker, Francisco Suárez. Leibniz, der z. B. die
suaristische These über das Individuationsprinzip der 5. Disputatio me-
taphysica (principium individuationis ist ipsa entitas) als die rechte pro-
testantische Lehre rezipiert und wiedergibt54, bezieht ebenso seine er-
kenntnistheoretisch-logischen Grundunterscheidungen von den
spanischen Jesuiten. Auch das Klagelied protestantischer Cartesianer, die
Orthodoxie ziehe die Lehre eines Jesuiten der ,Einsicht von Glaubens-
brüdern vor‘55, ändert nichts an dem Tatbestand, dass Descartes, bei dem
die für unseren Zusammenhang konstitutiven Differenzen ebenfalls be-
gegnen, als Zögling von La Fleche tief in der spanisch-jesuitischen Ba-
rockscholastik verwurzelt ist.56 Das gilt – folgen wir Rainer Specht – auch

52 Duns Scotus, Oxon. 4 d. 49, q. 3 n. 9.


53 De Bruyne (Anm. 35), 364.
54 Vgl. Rainer Specht, Artikel „Suárez, Francisco“, in: Religion in Geschichte und
Gegenwart.
55 Ebd., Sp 447.
56 Ebd.
368 Teil 2. Ästhetik

für die Moduslehre, den Begriff occasio, die Concursuslehre und die
Cardiologie.57
2. Die besondere, präzise und im Kontext der Ästhetik und Er-
kenntnistheorie erfolgende Ausarbeitung der genannten Unterschei-
dungen durch den doctor subtilis gelangte im 17. Jahrhundert durch die
erste moderne Gesamtausgabe der Werke des Duns Scotus (L. Wadding,
Lyon 1639) zur Kenntnis. Zweifellos hat Leibniz diese Werke rezipiert
(ebenso wie Bossuet und Malebranche), ja auch sein berühmter ,Gra-
dualismus’ der Intensität der Vorstellungen geht auf die Erkenntnistheorie
des Duns Scotus zurück. So vermutete denn auch bereits Benedetto
Croce 1907 in seiner ,Ästhetik‘ die scotische Herkunft der Leibnizschen
Unterscheidungen, ohne diese Spur historisch weiter zu verfolgen.58
Einige kurze Bemerkungen zu Gregor von Rimini, Dante, Meister
Eckhart und Cusanus mögen die Exposition der Vorgeschichte unseres
Themas abschließen, um die hier gefundenen Spuren im 18. Jahrhundert
aufzunehmen. Der Nominalist Gregor charakterisiert die visio als cog-
nitio clara et confusa – dies ist eben die wörtliche Definition der logischen
Eigenart der ästhetischen Erfahrung bei Baumgarten und in der Folgezeit.
Er setzt sie von der cognitio abstractiva per discursum als cognitio intuitiva
ab. Es ist insbesondere aufschlussreich für unsere These, dass diese
Trennung bei Gregor von Rimini unter ausdrücklichem Bezug auf die
paulinische Erkenntnislehre des 1. Korintherbriefes erfolgt. Die abs-
traktive Erkenntnis benennt das videre per speculum in aenigmate, die
intuitive die des – nichtdiskursiven – videre facie ad faciem.59
Gegen Ende des Mittelalters verschärft sich eine Tendenz zur
,Transzendenz in der Immanenz‘: Die Schau wird innerweltlich – nicht
erst post mortem – erlebt und gedacht. In der Commedia Dantes wird zum
guten Schluss die visio als Schau der trinitarischen Perichorese besungen:
„Du ewig Licht ruhst in dir selbst allein,/verstehst, erkennst dich, bist

57 Ebd. Vgl. zur Wirkungsgeschichte von Suárez: Ernst Lewalter, Spanisch-jesuitische


und deutsch-lutherische Metaphysik des 17. Jahrhunderts, 1935; Max Wundt, Die
deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1939; Francisco Suárez,
ber die Individualitt und das Individuationsprinzip. Fnfte metaphysische Disputation,
Hg. und übers. v. Rainer Specht, Hamburg 1976 ( PhB 294 a und b), vgl. dort
Spechts Vorwort, Einleitung und Bibliographie.
58 Benedetto Croce, sthetik als Wissenschaft vom Ausdruck, Tübingen 1930, 216 ff.
und 187.
59 Vgl. dazu J. Würsdorffer, Erkennen und Wissen nach Gregor von Rimini. Ein Beitrag
zur Geschichte der Erkenntnistheorie des Nominalismus, Münster 1917 (= Beiträge 20,
1). V.a. 87 – 96.
Der Augenblick des Schönen 369

erkannt, verstanden/in dir und lächelst dir in Liebe zu.“60 Dieses vor-
nehme und abschiedliche Lächeln Gottes enthüllt und verbirgt zugleich,
dass sich Dante in der Trinität selber wie in einem lichterfüllten Spiegel
sieht. Seit Augustinus wurde der menschliche Geist als ,Abbild‘ der
Trinität aufgefasst.61 Der anthropologische Sinn von Theologie, der sich
hier bei Dante so dichterisch und gleichsam zärtlich artikuliert, scheint der
Kern des so genannten Visio-Streites des 14. Jahrhunderts zu sein.62
Meister Eckharts radikal-anthropologische Interpretation der
Theologie63 hat auch Konsequenzen für sein Visio-Verständnis: „Das
Auge, darinnen ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darinnen mich Gott
sieht. Mein Auge und Gottes Auge, – das ist ein Auge und ein Gesicht und
ein Erkennen und ein Lieben.“64 In der mystischen visio beatifica ereignet
sich die Inkarnation: der Augenblick der Schau ist der christologische,
inkarnatorische, „in einem gegenwertigen nu“, „daz begrifet in im alle
zit“.65
Joachim Ritter hat bereits in seinem Aufsatz „Landschaft. Zur
Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“66 darauf auf-
merksam gemacht, dass Cusanus eine der ratio (intellectio abstractiva)
überlegene Erkenntnisweise beschreibt. Die Koinzidenz der Gegensätze,
die Docta ignorantia ereignet sich nicht diskursiv und insofern ,logisch‘

60 Dante Alighieri, Die Gçttliche Komçdie, dt. v. Karl Vossler. Berlin 1942, 629 f.
61 Augustinus, De trin. X, 12. Kapitel.
62 Die Beguinen und Begharden vertraten die Auffassung, die visio sei bereits im
Diesseits jedem vernünftigen Wesen möglich, ja komme ihm gleichsam von
selbst zu. Die Möglichkeit einer innerweltlichen seligen Schau wurde durch
Clemens V. 1311 auf dem Konzil von Vienne als Häresie verurteilt. (Vgl. Scholz
[Anm. 11], 221). Daraufhin eschatologisierte Johannes XXII. die visio gänzlich:
Animas sanctorum non videre divinam essentiam clare ante generalem diem
iudicii et corporis resurrectionem – nicht vor dem Jüngsten Tag. Dagegen Be-
nedikt XII. 1336: sofort nach dem Tod. (Vgl. Scholz, ebd.). Zum Begriff der
Perichorese, circumincessio und circuminsessio vgl. Peter Stemmer, „Pericho-
rese. Zur Geschichte eines Begriffs“, in: Archiv f. Begriffsgeschichte Bd. XXVII
(1983) 9 – 55.
63 Jeder Mensch ist Gottes Sohn, die zweite Person der Trinität. Der Häresieprozess
begann 1326.
64 Meister Eckhart, „Predigt über Jesus Sirach 24, 30: Quid audit me, non con-
fundetur“, in: Meister Eckharts deutsche Predigten und Traktate, Friedrich Schulze-
Maizier (Hg.), Leipzig o. J. 305 .
65 M Pred. 10, DW I 171, 6 und Pred. 9, ebd. 143.8.
66 In: Joachim Ritter, Subjektivitt. Sechs Aufstze, Frankfurt a.M. 1974, 141 – 163.
370 Teil 2. Ästhetik

sondern „ohne Hin und Her“.67 Gegen die diskursive Erkenntnis, deren
Bild bei Cusanus spurensuchende Jagdhunde auf ihrer Jagd nach der
Weisheit (venatio sapientiae) sind, betont er, „daß die wissende Un-
wissenheit einem hohen Turme gleich jeden zur Schau erhebt“.68 „Denn
wer dort oben steht, übersieht alles, was der unten über das Feld
Schweifende auf verschiedenen Wegen nach Spuren forschend sucht“.69
Die docta ignorantia ist eine simultane, totale, nicht-diskursive Er-
kenntnis der Fülle, in der Einheit und Vielheit koinzidieren. Sie ist nicht
nur ästhetische Erkenntnis, sondern wird hier bereits als die spezifische
Erkenntnisform der Philosophie selbst identifiziert.70

4
Die scotischen Fundamentalunterscheidungen gelangten über Leibniz zu
Wolff, die suaresischen über Descartes in das gesamte neuzeitliche
,Nootop‘. Mit der Autonomisierung der ,unteren Vermögen‘ der
Leibniz-Wolffschen Erkenntnistheorie, die bei Baumgarten und Meier
zur cognitio sensitiva befreit werden, beginnt der Versuch, den Status der
ästhetischen Erfahrung als eine klare (nämlich zwar Phänomene identi-
fizierende und wieder-erkennende, insofern unterscheidende), jedoch
zudem ,verworrene‘ (konfuse, nicht begrifflich-deutliche) zu begreifen.71

67 Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Schriften, Leo Gabriel (Hg.). übers. v.


Dietlind und Wilhelm Dupré. Bd. 1. Wien 1967, (Apologia doctae ignorantiae
discipuli ad discipulum), 548 – 551.
68 Ebd., 551.
69 Ebd.
70 Neben der ars coniecturalis als Vorgestalt verfügender, zunächst vermutender
Vernunft steht die docta ignorantia als ein ,entgegenständlichendes Denken‘.
Hierzu: Michael Stadler, Rekonstruktion einer Philosophie der Ungegenstndlichkeit.
Zur Strukutr des Cusanischen Denkens, München 1983. Im Anrennen gegen die
Grenzen der Sprache und der möglichen Erfahrungen erscheint die Ignoranz als
eine Vorgestalt transzendentaler Dialektik. Dass man Philosophie selbst eigentlich
nur ,dichten‘ könne, verbindet im 20. Jahrhundert so verschiedene Denker wie
Adorno, Heidegger und Wittgenstein.
71 Gottfried Gabriel hat hier mit der Absicht angeknüpft, systematisch eine Theorie
ästhetischer Erkenntnis zu entwickeln. Vgl. Gottfried Gabriel, Fiktion und
Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Stuttgart 1975; ders., „Über
Bedeutung in der Literatur. Zur Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis“, in: Allg.
Ztschr. f. Philos. 2 . 1983, 7 – 2; ders., „Literarische Form und nicht-proposi-
tionale Erkenntnis in der Philosophie“, in: ders., Zwischen Logik und Literatur.
Der Augenblick des Schönen 371

Die auf die extensive Flle von Gegenständen (seien es Äpfel, Wälder, sei es
die Nacht oder ein Gefühl wie die Liebe) bezogene ästhetische Erfahrung
wird so aus dem System der axiomatisch-deduktiven Metaphysik im
Wolffschen Stile, deren Ziel im Rahmen der Begriffsbildung die Defi-
nition ist, herausgelöst. Die Fülle der Erscheinungen (ubertas aesthetica,
venusta plenitudo), die vom abstrahierenden Verstand in den Wissen-
schaften verlassen und verdrängt wird, soll nunmehr durch das sinnlich
erkennende analogon rationis 72 bewahrt und zum Gegenstand eigenen
Rechts werden. Paradigmen solcher Erfahrungsmöglichkeiten – jenseits
von Wissenschaft und Metaphysik – sind für Baumgarten etwa die an
Gedichten73 exemplifizierten „vielsagenden Vorstellungen“ (perceptio-
nes praegnantes). Im poetisch konstituierten horizon aestheticus soll ohne
Anschauungsverzicht die ,ptolemäische‘ nicht technisch und experi-
mentell vermittelte Welt aufbewahrt werden.74 Der durch Verwis-
senschaftlichungsprozesse verstellte lebensweltliche Anschauungsraum
wird ästhetisch restituiert. Von den ästhetischen „Begriffen“ Baumgartens
und Meiers, die durch perspicuitas und lux aesthetica eine Art ,Prospekt‘ sind,
in welchem der Hauptbegriff am nächsten steht, „während die Neben-
begriffe wie in weiter Ferne hinter ihm auftauchen“75, führt die Ent-
wicklung zu Kants Konzept der ästhetischen Idee und ihrer ästhetischen
Attribute, „die so viel zu denken veranlaßt als sich niemals in einem
bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf
unbegränzte Art ästhetisch erweitert“ und die das „Gemüth“ belebt,
„indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter
Vorstellungen eröffnet“.76 Die begrifflich unerreichbare Mannigfaltigkeit
des ästhetischen Phänomens wird hier von Kant mit Hilfe einer optischen
Metapher artikuliert. Es steht mir an dieser Stelle nicht der Raum zur
Verfügung, den komplizierten Prozess, der von Leibniz’ ,klaren und

Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaften, Stuttgart 1991, 32 –


64. v. a. 47 ff.
72 Vgl. Ursula Franke, Artikel „Analogon rationis“, in: Historisches Wçrterbuch der
Philosophie Bd. 1, 1971, Sp 229 f.
73 Vgl. die sehr gute Edition der Baumgartenschen Disserration, Reflections on Poetry.
Alexander Gottlieb Baumgartens Meditationes philosopicae de nonnullis ad poema per-
tinentibus, Karl Aschenbrenner/ William B. Holther (Hg. und übers.), Berkeley/
Los AngeIes 1954.
74 So Ritter (Anm. 66), 156 ff. und 181 (Anm.).
75 Eine ausführliche Darstellung bei Walter Meckauer, sthetische Idee und Kunst-
theorie. Anregung zur Begrndung einer phnomenologischen sthetik, Kant-Studien
22, 262 – 301, dort 263.
76 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Akad.-Ausg. 194 f.
372 Teil 2. Ästhetik

konfusen Ideen‘ (deren Vorgeschichte wir nun kennen) und seiner Rede
vom „wogenden fundus animae“ als dem Ort jener nicht-diskursiven
Erkenntnis über die Lehre von der sthetischen extensiven Klarheit (claritas
extensiva, d. h. der nicht-analytischen Überbestimmtheit der ästhetischen
Gegenstände/Begriffe) bei Baumgarten bis zu Kants Lehre von den äs-
thetischen Ideen nachzuzeichnen.77 Das tangiert jedoch nicht die These:
Die Eigenart und logische Struktur der formalen Qualitäten ästhetischer
Erfahrung, wie sie seit den Ästhetiken des 18. Jahrhunderts und in der
Folge im Deutschen Idealismus aufgewiesen werden, ist aufgrund der
terminologischen Bestimmung ihres erkenntnistheoretischen Status von der Form
der mittelalterlichen kontemplativen und insbesondere visionären Er-
kenntnis. Um den Übergang von der theologischen Erkenntnistheorie in
die ästhetische Theorie zu begreifen, muss dieser Hauptthese eine Zu-
satzthese an die Seite gestellt werden: Die optische Simultaneitt des in der
visio beatifica Geschauten wird im Zuge der rationalistischen Logisierung der
theologischen Epistemologie przisiert als die konnotative Simultaneitt der
,Nebenideen‘, die sich ,nher‘ und ,ferner‘ um eine sthetische Idee gruppieren und
deren extensive Flle (extensive Klarheit) konstituieren. Zum Raum wird hier
die Zeit, jedoch auf der Ebene einer unhintergehbaren Bildlichkeit, denn
es wird hier ja über die Sprache gesprochen. Die extensive Fülle, die
ubertas aesthetica und venusta plenitudo der Konnotationen und Implika-
tionen der ästhetischen Ideen führt dann wiederum die signifikante
optische Metaphorik mit sich, wie wir sie soeben bei Kant beobachteten.
Eine umfassendere Untersuchung könnte das beschriebene Phänomen
zum Leitfaden nehmen: Die in der Zusatzthese behauptete Logisierung
und Verräumlichung im Sinne optischer Metaphorik ist ebenfalls in der
Symboltheorie Goethes sowie in Herders Theorie der sinnlichen Begriffe
festzustellen. Schiller bemerkt: „darin liegt das Anziehende solcher äs-
thetischen Ideen, dass wir in den Inhalt derselben wie in eine grundlose
Tiefe blicken.“78 Denn ihr „möglicher Gehalt“ sei „eine unendliche

77 Vgl. dazu: Karl Heinrich von Stein, Die Entstehung der neueren sthetik, Stuttgart
1886. Repr. ND Hildesheim 1964.V. a. 336 – 369; Robert Sommer, Grundzge
einer Geschichte der dt. Psychologie und sthetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-
Schiller, Würzburg 1892, repr. ND Amsterdam 1966; Alfred Baeumler, Das Ir-
rationalittsproblem in der sthetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der
Urteilskraft, Halle 1923. Repr. ND Tübingen 1967; Hans-Georg Juchem, Die
Entwicklung des Begriffs des Schçnen bei Kant unter besonderer Bercksichtigung des
Begriffs der verworrenen Erkenntnis, Bonn 1970; Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis.
Die Rolle der Sinnlichkeit in der sthetik des Alexander Baumgarten, Wiesbaden 1972.
78 Friedrich Schiller, ber Matthissons Gedichte. NA Bd. 22, Weimar 1958, 273 f.
Der Augenblick des Schönen 373

Größe“.79 Meine These könnte vielleicht brauchbar sein, um die logisch-


epistemologische Tiefenstruktur des allgemein bekannten geistesge-
schichtlichen Phänomens einer Ästhetisierung der Theologie bzw. einer
Theologisierung der ästhetischen Form in der Moderne zu verstehen: da
bei diesem Prozess die Ästhetisierung der theologischen Inhalte selbst
erforderlich wird, kann die Übertragung göttlicher Attribute auf
Kunstwerke nicht verwundern; Schiller misst der ästhetischen Idee ge-
radezu eine Art ,potentia absoluta‘ bei.
Nach Kant ist Schönheit der Ausdruck ästhetischer Ideen. Das
proprium ästhetischer Erfahrung ist ein zwangloses Welt- und Selbst-
verhältnis in nicht-diskursivem Erkennen, durch das die innere Natur der
Subjekte auf begrifflich-definitorisch und ,kategorial‘ unerreichbare
Weise transparent und kommunikabel wird. Das Schöne wird zum
Schema der Identität (der transzendentalen Einheit) der Subjekte (der
Harmonie von Einbildungskraft und Verstand), indem der sie Erfahrende
sich gerade auf sich selbst bezieht: durch die „produktive Einbildungskraft“
ohne Begriffe vorstellend (A 144). Ästhetische Ideen sind Schemata der
Einheit der Subjektivität mit ,dem Anderen ihrer selbst‘ („was als das
übersinnliche Substrat der Menschheit angesehen werden kann“, die
„unbestimmte Idee des Übersinnlichen in uns“80), das übersinnliche
Substrat aller Erscheinungen der Natur und des Menschengeschlechtes,
dessen „Schema“ die Dichtung ist.81 Sie sind auch Schemata der Einheit
eines Subjektes mit den anderen Subjekten.
Die sich so einstellende kommunikative Identität der Subjekte ist
mithin über eine Erfahrung gestiftet, deren Formcharaktere wiederum
der visio beatifica gleichkommen: Es ist eine Erfahrung ohne alles Interesse;
sie besteht in einem freien Spiel der Erkenntnisvermögen, die sich in
diesem Spiel wechselseitig durchdringen; die Erfahrung ist zweckfrei
(„zweckmäßig ohne Zweck“), und sie ist sowohl begrifflos wie kommuni-
kativ. Ebenso tragen der schöne Gegenstand wie auch der ästhetische
Betrachter zumal die Form der Totalitt an sich.82 Hierin gründet auch die
„formale Allgemeinheit“ der ästhetischen Urteile. Die auffällig „para-
doxen“ Begriffspaare der Dritten Kritik sowie die ,Zwischenstellung‘ der
hier thematischen Erfahrungen könnten, folgen wir unserer These,
ebenfalls durch einen historisch-genetischen Blick zurück in die mittel-

79 Ebd.
80 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Akad.-Ausg. 242.
81 Vgl., ebd., 215.
82 Vgl. dazu die Analyse von Baeumler (Anm. 77), 288.
374 Teil 2. Ästhetik

alterliche und frühneuzeitliche Logik und Erkenntnistheorie besser


verstanden werden. So formuliert etwa der conimbricensische Physik-
kommentar im expliziten Anschluss an Duns Scotus: „Id vero inde
confirmat Scotus […] confusa autem cognitio quasi medium est inter
ignorationem et inter notitiam distinctam.“83
Die ästhetischen Ideen vermögen es nach Kant, einer Darstellung von
intellektuellen Ideen nahezukommen. Aufschlussreich sind hier Kants
Beispiele: „Der Dichter wagt es, Vernunftideen von unsichtbaren We-
sen, das Reich der Seligen, das Höllenreich, die Ewigkeit, die Schöpfung
u. d.gl., zu versinnlichen.“84 Ästhetische Ideen als Schemata des Über-
sinnlichen (in uns und außer uns) vergegenwärtigen durch ihre (hy-
potypotische) Versinnlichung einer von Instrumentalität befreiten Er-
fahrung Vernunftideen in der Anschauung; und hier sind es transzendent-
theologische Vernunftbegriffe aus dem Bereich der Proto- und Escha-
tologie.
Des Weiteren aufschlussreich für unseren Zusammenhang ist Kants
Lehre von der comprehensio aesthetica: so heißt das ästhetische Begreifen der
„Zusammenfassung“ durch die Einbildungskraft zu einer gewissen Form;
diese Komprehension der Einbildungskraft beschreibt Kant so: „die
Zusammenfassung der Vielheit in die Einheit, nicht des Gedankens,
sondern der Anschauung, mithin des Successiv-Aufgefaßten in einen
Augenblick, ist […] ein Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus
der Einbildungskraft wieder aufhebt und das Zugleichsein anschaulich
macht.“85 Die comprehensio aesthetica ist somit die Koinzidenz des
Mannigfaltigen, der Vielheit, in der Einheit des Augenblicks und als solche
das Wesen der Schönheit. Die Einbildungskraft fasst in dieser compre-
hensio das Mannigfaltige nicht in einen Begriff, sondern in ein Bild,
welches Kant das Urbild, Archetypon oder ästhetische Idee nennt.86 Diese
Idee entspringt, indem die produktive Einbildungskraft die Sukzessivität
der reproduktiven Einbildungskraft aufhebt und so Simultaneität an-
schaulich macht. Somit ermöglicht sie die comprehensio aesthetica: die
Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einem Augenblick.87 Der
Begriff der comprehensio nun war in der mittelalterlichen Diskussion um

83 Conimb., Phys., I, 1, 2, I. Vgl. den Art. „Distinct“, in: Etienne Gilsons Index
Scholastico-Cartesien.
84 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Akad.-Ausg. 194.
85 Ebd., 99.
86 Vgl., ebd., 207.
87 Bereits in der Kritik der reinen Vernunft ist eine Vorstellung im Augenblick als
„absolute Einheit“ verstanden (A 99).
Der Augenblick des Schönen 375

die visio beatifica von ganz zentraler Bedeutung. Die negative Theologie
etwa der areopagitischen Tradition hatte ja eine absolute Transzendenz
Gottes und mithin seine völlige Unerkennbarkeit vorgegeben. Weder
eine apophatische noch eine kataphatische Theologie ist demnach
möglich, ja noch nicht einmal die Existenzaussage („Gott existiert“).
Diese vielfältig, insbesondere trinitätstheologisch und kenotisch gemil-
derte absolute Transzendenz führte zu den Auseinandersetzungen um
eine mögliche Unmittelbarkeit und auch Komprehensivität der Schau.
Der Umgang mit transzendenten Begriffen brachte die mittelalterlichen
Autoren in ständige Not, einer transzendentalen Dialektik zu entkom-
men. Einerseits soll die Schau das letzte und höchste Ziel sein, andererseits
ist sie eigentlich unvorstellbar, oder nur vorstellbar mit letalem Ausgang –
wäre sie nicht postmortal konzipiert. Es war wiederum, wie Hyacinthe
Dondaine aufgewiesen hat88, Duns Scotus, der das Problem gesehen
hatte. Gemäß ihm wird Gott nicht essentialiter geschaut, sondern in seiner
Theophanie. In diesem Zusammenhang wird die comprehensio der
Schau thematisch. Und wiederum ist es Thomas von Vercelli, der der
visio den Status „clara et comprehensiva“ zumisst.89

5
Einige abschließende Bemerkungen sollen anregen, die Thematik bis in
unsere Zeiten zu verfolgen. Hinzu kommen Hinweise auf mögliche
Deutungen der hier vorgestellten Befunde – es wurde ja bislang nur eine
These über einen begriffs- und systemgeschichtlichen Zusammenhang
aufgestellt. Die exponierte faktische Filiation bedarf aber einer Deutung,
die ich hier noch nicht zu geben vermag.
Für Schopenhauer erfüllt sich das ,metaphysische Bedürfnis’ des
Menschen nicht in der philosophischen Reflexion, sondern in der äs-
thetischen Erfahrung. (Er nimmt hier Carnap vorweg.) Die Kunstwerke
zeigen anschaulich Ideen im Singulären, Individuellen. Sie ermöglichen
so ein Hinausgelangen über die Gewaltverhältnisse der Welt, die Scho-
penhauer als „Wille zum Leben“ bezeichnet. Der Visio-Topos begegnet
in Die Welt als Wille und Vorstellung im Bilde des „klaren und ewigen

88 Hyacinthe François Dondaine, „L’objet et le ,medium‘ de la vision béatifique


chez les théologiens du XIIIe siécle“, in: Recherches de thologie ancienne et mdievale
XIX, 1952, 60 – 130.
89 Vgl. dazu Dondaine. ebd., 124 ff.
376 Teil 2. Ästhetik

Weltauges“. Der Wille erlischt, und „wir sind nur noch da als das eine
Weltauge, was aus allen erkennenden Wesen blickt, im Menschen allein
aber völlig frei vom Dienste des Willens werden kann.“90 Das interes-
selose Wohlgefallen Kants steigert Schopenhauer emphatisch zur „See-
ligkeit des willenlosen Anschauens“. Wieder und wieder setzt er der
begrifflich-deutlichen Diskursivität die intuitive, simultane und totale,
beruhigende Füllequalität ästhetischer Erfahrung entgegen. Bei der Be-
stimmung der Zeitlichkeit schließt er sich an eine gängige scholastische
Definition der Ewigkeit an.91 Der Augenblick ästhetischer Erfahrung hat
die Zeitstruktur simultaner Totalität, das Weltauge ist „gleichewig“ mit
allen Augenblicken.92 Ohne die Kenntnis der Vorgeschichte dieser
Denkweise wird nicht sichtbar werden können, wie traditionell eine
solche ästhetische Metaphysik der Willensauslöschung ist.
Adornos ästhetische Theorie trägt eschatologische Züge und lebt von
hintergründig wirksamen Theologoumena, die unausgesetzt dementiert,
verboten und „totgesagt“ werden. In der Form der Kunstwerke sieht er –
ich folge Albrecht Wellmer – den Vorschein von Versöhnung, die
„gewaltlose Synthesis des Zerstreuten“, die „gewaltlose Einheit des
Vielen in einem versöhnten Zusammenhang alles Lebendigen“, „die
gewaltlose Überbrückung der Kluft zwischen Anschauung und Begriff,
zwischen Besonderem und Allgemeinem, zwischen Teil und Ganzem.“
Und nur dieser, den versöhnten Zustand in sich vorbildenden Gestalt
kann berhaupt Erkenntnis zufallen; in diesem Sinn ist der Satz aus den
Minima Moralia zu verstehen, dass „Erkenntnis kein Licht (hat), als das von
Erlösung her auf die Welt scheint.“93 Noch in der Beschreibung ästhe-
tischer Versöhnung in der Erfahrung von Musik kehrt die uns bekannte
optische Metaphorik wieder: „Musik trifft es (sc. das Absolute, Th. R.)
unmittelbar, aber im gleichen Augenblick verdunkelt es sich, so wie
überstarkes Licht das Auge blendet, welches das ganze Sichtbare nicht

90 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, Leipzig
1891, 233.
91 Quod aeternitas non sit temporis sine fine aut principio successio; sed Nunc stans;
i. e. idem nobis Nunc esse, quod erat Nunc Adamo: inter nunc et tunc nullam esse
differentiam. Schopenhauer, ebd. 330. Er zitiert hier nach Thomas Hobbes,
Leviathan.
92 Schopenhauer, ebd. 333. Das Weltauge ist unvergänglich.
93 Albrecht Wellmer, „Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Ret-
tung der Modernität“, in: Adorno-Konferenz 1983, Ludwig v. Friedeburg/ Jürgen
Habermas (Hg.), Frankfurt a.M. 1983, 138 – 176, dort 142.
Der Augenblick des Schönen 377

mehr zu sehen vermag.“94 Erst der eschatologische Zusammenfall von


ästhetischer Erfahrung und begrifflicher Diskursivität ergäbe die „wahre
Sprache“, deren Idee nach Adorno „die Gestalt des göttlichen Namens“
ist.95 Wellmers Formulierung trifft diesen Sachverhalt: „Im aporetischen
Zusammenhang von Kunst und Philosophie ist eine theologische Per-
spektive aufgehoben: Kunst und Philosophie entwerfen gemeinsam die
Gestalt einer negativen Theologie.“96 Nach Michael Theunissen bleibt
Adornos ästhetische Eschatologie einer metaphysischen Theologie bei
aller Negativität verhaftet.97 Da ,das Absolute‘ jedoch nicht positiv ge-
dacht und vergegenständlicht werden darf, „wird es immer kleiner“.98
Dies wird flagrant an Adornos Rezeption des Valéryschen Begriffs der
apparition: In Erscheinungen blitzartig wahrnehmbarer und vergehender
Schönheit – wie etwa Sternschnuppen oder Feuerwerke mit ihren bunt
verglühenden Sternen sie darstellen – findet er ein ästhetisches Paradigma,
welches hinreichend genug nicht ist, um als der Positivität unverdächtiges
Relikt des Trostes der glücklichen Anschauung in den Kontext einer
Ästhetik als negativer Theologie eingehen zu können. Der Augenblick
der visio beatifica ist hier nur noch als blitzartiges Aufschönen-und-
schon-Verlöschen, als jähe Katastrophe, als Explosion, denkbar. Jedoch:
„Noch das Verdampfen der ästhetischen Transzendenz wird ästhetisch; so
mythisch sind die Kunstwerke gekettet an ihre Antithesis.“99 Zu Recht
weist Theunissen darauf hin, wie nah Adornos Ästhetik einer kenotischen
Christologie ist.100
Über Schönbergs Musik heißt es: „Alle Dunkelheit und Schuld der
Welt hat sie auf sich genommen.“101 Auf Adorno mag demnach der
Befund eines ästhetisierten Eschaton in der Immanenz zutreffen. In-

94 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. in: Gesammelte Schriften. Bd. 4,


Frankfurt a.M. 1980, 254.
95 Ebd., 252.
96 Wellmer (Anm. 93), 143.
97 Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in: Adorno-Konferenz 1983
(Anm. 93), 41 – 65, dort 60 f. Vgl. zu dieser Thematik auch: Thomas Rentsch,
„Vermittlung als permanente Negativität. Der Wahrheitsanspruch der „Nega-
tiven Dialektik“ auf der Folie von Adornos Hegelkritik“, in: Christoph Menke/
Martin Seel (Hg.), Zur Verteidigung der Vernunft gegen die ihre Liebhaber und Ver-
chter, Frankfurt a.M. 1993, 84 – 102.
98 Theunissen, ebd., 65.
99 Theodor W. Adorno, sthetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, 131.
100 Theunissen (Anm. 97), 60.
101 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: Gesammelte Schriften
Bd. 12, Frankfurt a.M. 1975, 126.
378 Teil 2. Ästhetik

wieweit die negierte Erfüllungsstruktur der visionären Erkenntnis gerade


in der formalen Struktur der Sprache Adornos dialektisch wirksam ist,
kann hier nicht untersucht werden.102
Ich möchte zum Schluss einige Vorschläge im Blick auf die Frage
nach einer möglichen Deutung der aufgewiesenen Filiationen machen.
Hierzu ist es erforderlich, die interne system- und begriffsgeschichtliche
Perspektive zu verlassen. Anthropologisch signifikant ist die Kontinuität der
analysierten Bilder und Schlüsselvokabeln. Die konstante Metaphorik
indiziert zumeist ein Leibfundament, hier das des Auges und des Sehens,
des Lichtes. Könnte der von Hans Jonas akribisch beschriebene ,Adel des
Sehens‘ zur Aufschlüsselung lebensweltlicher Fundamente so divergie-
render Konzeptionen wie der Theoria, der Ideenschau und der visio
beatifica beitragen? Die Momente der Fülle und der Ferne (Distanz), der
Korona, der Simultaneität und der dynamischen Neutralisation gestatten
die Möglichkeit eines schmerzfreien Weltbezugs, der die bedrängende
Aggressivität der Wirklichkeit aufhält.103 Damit kompatibel wäre die
existential-analytische Interpretation der ästhetischen Ideen, die Oskar
Becker vorgelegt hat: Mit Solger und Schelling sieht er im Entwurf des
Kunstwerkes den Versuch der Überdeckung der leeren zukünftigen
Zeitlichkeit durch die Fülle des Augenblicks. Der ekstatischen Erstre-
ckung des vorlaufenden Daseins gegenläufig ist die Inständigkeit des
Verweilens im Augenblick des Schönen. Indem in der Form dieses
Augenblicks die „Einfaltung der ganzen Welt“ in die ästhetische Idee
geschehe, werde die vulgäre Zeitlichkeit übersprungen; Kunst ermög-
liche somit augenblickliche Fülle als Gegenwurf zur zeitlichen Existenz,
deren Kennzeichen „ihre Ruhe, ihr Unbedrohtsein von anderen ,Zeitge-
stalten‘“ sei.104 Der ,ewige Augenblick‘, das nunc stans der ästhetischen
Idee ist jedoch hinfällig und vergeht: er ist gerade nicht von Dauer. Der
Augenblick des Schönen garantiert als Entzeitlichung in der Zeit durch
seine Fragilität gerade keine ständige Emanzipation aus der Zeit. Es ist hier
zu fragen, ob nicht auch der ,Gegenwurf‘ der ästhetischen Idee gerade das
Sichtbarmachen der Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit intendieren kann.

102 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Die Negativität der Sprache. Bemerkungen zu
Adorno und Wittgenstein“, in: Wittgenstein Studies I (1996).
103 Hans Jonas, „Der Adel des Sehens“, in: ders., Organismus und Freiheit. Anstze zu
einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, 198 – 225. Vgl. v. a. 199 f. und 209 –
217.
104 Oskar Becker, „Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des
Künstlers“, in: ders., Dasein und Dawesen. Gesammelte philosophische Aufstze,
Pfullingen 1963, 11 – 40, dort, 36.
Der Augenblick des Schönen 379

Angesichts solcher anthropologischer Erwägungen ist jedenfalls mit


Wittgenstein vor ,substanzialistischen‘ Deutungen geistesgeschichtlicher
Befunde zu warnen. Auch bei den hier exponierten Rezeptionsprozessen
handelt es sich um eine mögliche Darstellung, bei der wir bestimmte
,Familienähnlichkeiten’ zwischen mythischen, theologischen und phi-
losophisch-ästhetischen Diskursen bemerken. Als sprachliche Gestalten
des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses stehen diese nebenein-
ander, sind voneinander nicht ableitbar und auf einander nicht reduzibel.
Mit Oswald Spengler können wir angesichts der visio-Thematik viel-
leicht von Pseudomorphosen sprechen105, von noch verwendeten alten,
überkommenen Sprachmitteln, die gebraucht werden, um etwas Neues
zu artikulieren. Spenglers Gesetz von der Trägheit der Ausdrucksmittel
wäre hier für die Begriffs- und Systemgeschichte in Anwendung zu
bringen. Es besagt: Das Neue und Heterogene muss und kann um willen
seiner Verständlichkeit zu Zeiten eines Paradigmenwechsels zumeist nur
in bereits alten Sprachgewändern gesagt werden. Der Antisubstanzialis-
mus und Anti-Essentialismus ist aber kein Einwand gegen die hier auf-
gewiesene (logisch-erkenntnistheoretisch präzise erfassbare) Form-
gleichheit der unterschiedlichen Erfahrungsbegriffe. Wittgenstein selbst
gehört zu den Autoren, die ich hier nicht behandeln konnte: „Das
Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeternitatis gesehen; […] Die
gewöhnliche Betrachtungsweise sieht die Gegenstände gleichsam aus
ihrer Mitte, die Betrachtung sub specie aeternitatis von außerhalb. So dass
sie die ganze Welt als Hintergrund haben.“106

105 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der
Weltgeschichte. 2. Bd., Welthistorische Perspektiven, München 151922, 227 – 282
(Kap III A. „Historische Pseudomorphosen“).
106 Ludwig Wittgenstein, Tagebcher 1914 – 1916, in: Schriften 1, Frankfurt a.M.
1969, 176 (Eintrag vom 7. 10. 1916).
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik
und Religion

Einbildungskraft, Imagination, Phantasie standen und stehen im Zentrum


aller menschlichen Praxis. Die Fähigkeit, Bilder zu entwerfen, ist eine
elementare menschliche Fähigkeit, die in die urgeschichtliche Frühzeit
unserer Gattung zurückweist: auf die Höhlenmaler und die Felsbilder des
Paläolithikums. In seinen Analysen zum menschlichen Sehen weist Hans
Jonas auf diese archaische Schicht des Bildentwurfs hin, die so früh wie die
Totenbestattung aufkommt.1 Die Vor- und Frühgeschichte zeigt uns den
Bildentwurf als eine fundamentale Möglichkeitsbedingung der mensch-
lichen Welt und kulturellen Praxis.
Wenn wir uns heute mit der Funktion der Einbildungskraft in Äs-
thetik und Religion befassen, so müssen wir zunächst traditionelle, allzu
schematische Vorstellung der Erkenntnistheorie, der Bewusstseinsphi-
losophie und auch einer statischen Topik und Architektonik verlassen
und überwinden. Mit Wittgenstein gilt: Wir bewegen uns in einem
komplexen Netz sprachlicher und nichtsprachlicher Sinnentwürfe, und
inmitten dieser Sprachspielpraxen und im holistischen Kontext unserer
Lebensformen können wir uns einzelne, auch fundamentale Phänomene
der humanen Sinnwelt genauer vergegenwärtigen, ihr Wesen zu erfassen
versuchen.
Was für die menschliche Praxis und alle Formen ihrer Theoretisie-
rung gilt, das gilt auch für die großen Überschriften „Ästhetik“ und
„Religion“. Erst ein genaues Verständnis der eigenen Praxis kann uns
einen Zugang zu künstlerischen und religiösen Sinnentwürfen eröffnen.
Das Vorverständnis von Phänomenbereichen darf diese nicht schon
ideologisch verstellen und verzerren. Falsche und oberflächliche Vor-
stellungen von Aufklärung und Moderne führten so eine Zeit lang zur
Verdrängung und Tabuisierung religiöser, theologischer, mystischer und
metaphysischer Fragen und Reflexionshorizonte in der Philosophie, und
ebenso im alltäglichen Selbstverständnis aufgeklärter westlicher Lebens-

1 Hans Jonas, „Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens“, in: ders., Organismus
und Freiheit. Anstze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, 226 – 257.
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion 381

stile. Nach dem Ende dieser zeitbedingten Episode wird uns bereits seit
längerem deutlich, dass die versuchsweise Verdrängung der existentiellen
Tiefendimension nicht gelingen konnte. Es wird im Rückblick klar er-
kennbar: Ohne einen Bezug zur Transzendenz, zum Absoluten, zu Gott,
zum Unbedingten lässt sich keine der bedeutenden Leistungen der
Philosophie des 20. Jahrhunderts verstehen: Weder Wittgensteins Bezug
zum Mystischen, noch Heideggers Andenken des Seins, weder Adornos
Reflexion des Nichtidentischen noch Derridas Denken der Differenz.2
Fergus Kerr hat in seinen Stanton Lectures auf überzeugende Weise
herausgearbeitet, dass Ansätze moderner Philosophie ganz grundsätzlich
eine theologische Sub- und Tiefenstruktur aufweisen.3 Ebenso ist im
Alltagsleben moderner westlicher Gesellschaften die Hinwendung zu
vielfältigen Formen religiöser Praxis zu beobachten. Es gilt, die kom-
plexen Übergänge von Minimalformen eines wenig bewussten Tran-
szendenzverständnisses zu expliziten Formen eines religiös aufgeklärten
Selbstbewusstseins ebenso erkennbar zu machen wie die Übergänge von
scheinbar völlig profanen Praxen zu quasi-religiösen Sinnentwürfen und
zu Formen kultisch-ritueller Selbstverständnisse, von enthusiastischer
Verehrung und Idealisierung z. B. in Sport, Musik, Film und Unterhal-
tungsindustrie. Welche normativen Identitäts- und Lebensverständnisse
bilden spätmoderne Gesellschaften aus? Wie verhalten sich diese Ver-
ständnisse zur Wirklichkeit des Lebens, zu Schuld, Scheitern und Ein-
samkeit, zu Liebe und Tod? Für eine kritisch-hermeneutische Philoso-
phie gilt bei der Analyse dieser Fragen: Auch eine oberflächliche
Gleichgültigkeit, ein zynischer Nihilismus und selbst das Nichtmehrbe-
merken des Fehlens lebenstragender, sinnstiftender Orientierungen,
lassen sich ex negativo nur durch den vergangenen, verlorenen, ver-
gessenen oder verdrängten Hintergrund normativer Lebenssinnentwürfe
verstehen. Schließlich ist durch die weltgeschichtliche Entwicklung der
Jahrtausendwende, der Erneuerung des islamischen wie christlichen
Fundamentalismus als politisch-religiöser Legitimationsideologien sowie
vielfältiger Formen religiösen Irrationalismus die Frage nach einem
philosophisch reflektierten Verständnis religiöser und theologischer
Grundprobleme erneut ins Zentrum gerückt. Das heißt: Ohne explizite
philosophisch-theologische Verständnisbildung lässt sich weder die Ge-

2 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005, v. a. 173 – 188.
3 Fergus Kerr, Immortal Longings, Versions of Transcending Humanity, Notre Dame
(Indiana) 1997.
382 Teil 2. Ästhetik

genwart des Religiösen begreifen, noch lässt sich ihr Verhältnis zu äs-
thetischen Gestaltungen und Erfahrungen bestimmen.
In einem ersten Schritt will ich daher Potentiale der ästhetischen wie
religiösen Einbildungskraft für die Genese der okzidentalen Vernunft selbst
historisch wie systematisch bestimmen. Im zweiten Schritt werde ich
systematisch und praktisch-philosophisch Möglichkeiten einer produk-
tiven und fruchtbaren Fortentwicklung der freigelegten Potentiale für die
Zukunft einer menschlichen Vernunftkultur aufweisen.

1
Nietzsche schreibt, am Beginn des Abendlandes stünde der Tod zweier
Männer – Sokrates und Jesus. Pointiert und nach Kant und Hegel müssen
wir erneut begreifen, dass und wie die erkenntniskritischen Potentiale,
die zu Neuzeit und Aufklärung und zur Moderne führten, sehr tief und
früh in der Genese der okzidentalen Rationalität angelegt waren und dass
sie – das weist uns bereits auf die Zukunft – noch keineswegs abgegolten
sind. Ein reflexivwerdendes Selbstbewusstsein der Grenzen der
menschlichen Erkenntnis führt in der Phase der Urstiftungen (Husserl) der
europäischen Vernunft zu deren kritischer Bestimmung. Wesentliche
Quellen dieses Bewusstseins sind das biblische Bilderverbot, das sokra-
tische Nichtwissen und die christlich-platonisch sich entfaltende negative
Theologie. Diese Paradigmen der Negativitt konstituieren die okzidentale
Vernunftgeschichte von ihren Grenzen her.4 Sie stehen also nicht stets im
Zentrum, sondern sie können und müssen in Erinnerung gerufen und
kritisch eingesetzt werden, wo andere menschliche Praxisformen – z. B.
Religion, Wissenschaft oder Politik – sich an die Stelle des Absoluten, an
die Stelle der Transzendenz Gottes setzen wollen. Dieses geheime
Zentrum der Negativität ist wie ein blinder Fleck, von dem her die
Ausdifferenzierungs- und Freisetzungsprozesse möglich werden und
gelingen, die auch für den Siegeszug und Welterfolg von Wissenschaft,
Technik und praktizierter Verstandestätigkeit verantwortlich sind.
Erst ein reflexiv gewordenes Transzendenzverstndnis, das heißt auch: ein
Erkennen dessen, was wir nicht erkennen können, setzt die kreativen
Entwurfspotentiale der Einbildungskraft so frei, dass sie zu befreienden
Potentialen werden können und nicht zu mythischen Zwangssystemen

4 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M.
2000.
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion 383

verhärten. Erst die Erkenntnis der Unverfügbarkeit und Entzogenheit der


Wirklichkeit des Absoluten ermöglicht ineins und zugleich die ver-
nünftige Selbsterkenntnis, die Erkenntnis meiner selbst als different von
allem anderen in der Welt, die Erkenntnis schließlich der Differenz aller
menschlichen Bildentwürfe und sprachlichen Unterscheidungen von der
letztlich unerkennbaren Wirklichkeit.
Die Unerkennbarkeit Gottes setzt im biblischen Bereich die ge-
schichtliche, ethisch bestimmte Freiheitspraxis des Volkes Israel frei. Im
griechischen Bereich setzt das Wissen des Nichtwissens die gemeinsame
ethische Praxis sowie die Bereiche der Logik und der Wissenschaften frei,
die nur in den Grenzen ihrer Mçglichkeiten weiter zu entwickeln sind.
Während es Logik und Wissenschaften mit lösbaren Problemen zu tun
haben, haben es Tragödie und Lyrik mit das menschliche Maß über-
steigenden, unlösbaren Rtseln und Geheimnissen zu tun, die vor Augen zu
stellen, zu vergegenwärtigen sind. Sie haben es – wie die Mythen – mit
der uneinholbaren Tiefe unserer inneren Natur als dem unverfügbaren
Grund geschichtlicher und individueller Katastrophen zu tun. Die Ver-
flochtenheit und die Differenz religiöser und ästhetischer Bildentwürfe
und eines korrespondierenden, freisetzenden Transzendenzverständnisses
wird exemplarisch deutlich, wenn wir die Reflexion auf Imagination und
Einbildungskraft bei scheinbar sehr weit von einander entfernten Autoren
wie dem frühchristlichen Mystiker Dionysios Areopagita einerseits, bei
Immanuel Kant andererseits miteinander vergleichen. Dabei kommt der
Kontinuität einer Metaphysik des Schönen und deren strukturellen Be-
stimmungen besondere Bedeutung zu.
Basis der Analyse der Phantasie ist bei Dionysios seine negative
Theologie.5 Die bejahende Theologie kann zwar schöne Bilder der
Phantasie entwerfen, die sich an der Materie orientieren; diese Bilder sind
„Nachklänge“ (apechemai) der geistigen Schönheit, die selber unsichtbar
bleibt.6 Sie haben zwar wie alles Seiende teil am Göttlichen, aber sie
können Gott in seiner Übersinnlichkeit nicht sinnlich und bildlich fassen.
Die negative Theologie zeigt diese konstitutive Differenz aller Phanta-
siebilder zum wahrhaft Göttlichen auf: alle Bilder sind unähnlich (an-
homoios) und unpassend. Das heißt: Es geschieht eine Freisetzung und
Legitimation aller Bildentwrfe, und zwar gerade auf der Basis einer funda-
mentalen Bildkritik, und diese Kritik hat ein radikales Transzendenzverstndnis

5 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Artikel „Theologie, negative“, in: Historisches


Wçrterbuch der Philosophie Bd. 10, Basel/Stuttgart 1998, 1102 – 1105.
6 Ps.-Dionysius, De Coel. Hierarch. II, 4. Migne 15, Sp. 144.
384 Teil 2. Ästhetik

zu ihrer Grundlage. Die Bilder, so gelungen sie auch sein mögen, haben
letztlich nur die Funktion, die Einsicht zu vermitteln, dass Gott nur
jenseits aller Bilder zu verstehen ist. Die Theologie absoluter Transzen-
denz und Unerkennbarkeit Gottes ermöglicht und begrenzt zugleich den
freien Bildentwurf. Explizit unterstreicht Dionysios, dass es völlig verfehlt
sei, wenn der Phantasie vorgeworfen werde, „dass wir uns sinnlich an den
Erdenstaub und die Gemeinheit der Bilder heften“.7 Die Bilder der
Phantasie sind vielmehr mit „Fug und Recht“ vor das Bildlose gewoben.8
In dieser für das Abendland bestimmenden Konzeption sind die „Bilder
des Bildlosen“ (ta schemata ton aschematiston) 9 eine Sinngrenze, die den
bildlosen Gott vor einem dessen Transzendenz depotenzierenden und
verdinglichenden Zugriff ebenso schützt, wie sie den Einsichtigen zum
„Transzendieren des Gegebenen“ freisetzt. In dieser Reflexion ist bereits
eine kulturkonstitutive Urstiftung und Weichenstellung erfolgt, die,
recht verstanden, bis in die Neuzeit und die Moderne und Postmoderne
reicht, und die bis heute unabgegolten ist. Die ästhetische Dimension
erhält eine erkenntniskritisch wohldurchdachte, die Phantasie freiset-
zende Funktion der Transzendenz in der Immanenz; die radikal negative
Theologie des Absoluten ist es, die die Grundstruktur des menschlichen
Selbst- und Weltverhältnisses in einer Anwesenheit des Abwesenden, somit
in einer uneinholbaren Differenz verortet. Dabei ist für unsere Thematik
besonders hervorzuheben, dass die ästhetische mit der religiösen Tran-
szendenzdimension in diesem Ansatz erkenntniskritisch strukturell ver-
klammert wird. Wir werden sehen, dass diese Verklammerung bis in die
Spätmoderne erhalten bleibt. Besonders zu akzentuieren ist angesichts der
negativ-theologischen Phantasiereflexion des Dionysios, dass es gerade
die uneinholbare Transzendenz Gottes ist, die der Freisetzung der
Phantasie, der Bildentwurfspraxis „einen geradezu universalen Spiel-
raum“ einräumt. Dionysios setzt explizit nicht nur schöne Bilder frei, die
per analogiam auf die überschöne, überseiende Transzendenz Gottes
verweisen, sondern „schlechthin alle Bilder“, auch die neutralen, weder
schönen noch hässlichen, und auch „die ausgesprochen abstoßenden
Darstellungen“.10 Eine Ästhetik des Hässlichen, die Rosenkranz 1853

7 Ebd., Migne 12, Sp. 140.


8 Ebd., Migne 12, Sp. 140.
9 Ebd., 4. Migne 14, Sp. 141/44. Vgl. dazu auch: Barbara Ränsch-Trill, Phantasie.
Welterkenntnis und Welterschaffung. Zur philosophischen Theorie der Einbildungskraft,
Bonn 1996, 70 – 85.
10 Ränsch-Trill, Phantasie, 82.
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion 385

erstmals erneut zu thematisieren unternahm, wird von Dionysios er-


kenntniskritisch im 5./6. Jahrhundert fundiert. Die hässlichen Bilder
„stacheln“ die Seele nämlich auf, ihre Ferne zum Göttlichen zu be-
merken. Die Phantasie wird somit freigesetzt zur Universalitt des Bild-
entwurfs unter dem Vorzeichen einer radikal negativen Theologie des
Absoluten.
Die Präfiguration neuzeitlicher und moderner Konzepte der Er-
kenntniskritik, der Ästhetik und einer kritischen Transzendenzreflexion
in diesem Ansatz sind evident, vor allem, wenn wir seine strukturelle,
systematische Basis fern genug von ihrem Ursprung betrachten. Hinzu
kommt der metaphysische, neuplatonistische Totalitätsbezug des An-
satzes, der von den Grenzen des Seins her das innerweltliche Transzen-
dieren des Menschen in Religion und Kunst thematisiert. Das Schöne wie
auch seine defizienten Modi werden als authentische menschliche
Weltverhältnisse gedacht, die letztlich auf Unsagbares verweisen, das
gerade in seiner Abwesenheit auf entzogene, unverfügbare Weise an-
wesend ist. Diese Negativittsperspektive sthetischer Transzendenz ist, so
zeigt die spätere Entwicklung, in gewisser Weise unüberbietbar. Der
Mangel an Sinn, des Fehlen von Fülle, die Destruktion von Ganzheit,
Nichtigkeit und Marginalität – sie alle sind als Gestalten ästhetischer
Einbildungskraft mit dieser Konzeption vereinbar. Dies gilt verstärkt,
wenn wir die christologische Ikonologie des Kreuzestodes Gottes im
Zentrum der abendländischen Kunst hinzunehmen. Als leiblich-mate-
riale Konkretion und bildgewordene Immanenzwerdung der Tran-
szendenz zeigt sie auf unüberbietbare Weise die von Dionysios meta-
physisch wie mystisch bewusst reflektierte Dialektik von Negativität,
Transzendenz und Sinn- bzw. Bildentwurf.
Über die fundamentalen Topoi der Unerkennbarkeit, der Abwe-
senheit in aller Anwesenheit und der begrifflichen Uneinholbarkeit und
Unsagbarkeit gehen die negativen Konstituentien mystischer Theologie
und Ästhetik in die neuzeitliche philosophische Schönheitsreflexion ein.
Es lässt sich zeigen, dass gerade die strukturellen Konstituentien der
ehemals eschatologisch – jenseitig gedachten Schau Gottes wie auch die
Struktur mystischer Transzendenzerfahrung in der Gegenwart des ewigen
Nun, des ewigen Augenblicks, dass gerade diese strukturellen Konsti-
tuentien religiös emphatisch ausgezeichneter Erfahrung und Vorstellung
die Strukturen ästhetischer Erfahrung präfigurieren, die in den großen
386 Teil 2. Ästhetik

Ästhetiken seit Baumgarten und Kant bis zu Adorno und Lyotard reflexiv
und normativ herausgebildet werden.11
Dieser Befund, der sich in Analysen zur transzendentalen pulchritudo
in der mittelalterlichen Ästhetik und in Analysen zur Bedeutung der
Erkenntnistheorie des Duns Scotus für die Entstehungsgeschichte der
philosophischen Ästhetiken des 18. Jahrhunderts detailliert bestätigen
lässt, führt zur Freilegung folgender sich durchhaltenden strukturellen
Konstituentien, die auch die Kantsche Analyse der Einbildungskraft
prägen und die ich der Kürze halber als Konstituentien der immanenten
Transzendenzerfahrung bezeichne. Es sind die Strukturmomente
1. der Sinnantizipation, des – wie auch immer gebrochenen – Glücks-
und Erfüllungscharakters dieser Erfahrung;
2. der antizipierten Ganzheitlichkeit, des Totalitätsbezugs dieser Erfah-
rung bei aller Fragilität und Fragmentarizität;
3. der damit verbundenen Nichtinstrumentalität und Selbstzweckhaftig-
keit dieser Erfahrung;
4. der Besonderheit, der tendenziellen Singularität und Einzigartigkeit
dieser Erfahrung, damit verbunden
5. ihr Plötzlichkeits-, Augenblicklichkeits- und ihr Bruchcharakter;
6. der gestaltete, geformte Charakter der Erfahrung, der auf die kom-
munikative Selbsttransparenz der an ihr beteiligten Subjekte ausgerichtet
ist.12
In Kants Theorie der ästhetischen Ideen in der Kritik der Urteilskraft
werden diese Strukturmomente als kreative Potentiale der produktiven
Einbildungskraft herausgearbeitet. Sinnantizipation, antizipierte Ganz-
heitlichkeit, Selbstzweckhaftigkeit, Einzigartigkeit, Augenblicklichkeit
und kommunikative Selbsttransparenz der Subjekte bilden ein in der
ästhetischen Erfahrung des Schönen und des Erhabenen auf komplexe
Weise gleichursprüngliches Gefüge von Strukturmomenten, die alle in

11 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und
Geschichte der ästhetischen Idee“, in diesem Band.
12 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Ästhetische Anthropomorphie. Die Konstitution
des Schönen und die transzendental-anthropologische Bestimmung thauma-
tisch-auratischer Weltverhältnisse“, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der
Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt a.M. 1991, 27 – 35; ders.,
„Strukturen ästhetischer Erfahrung“, in diesem Band; ders., „Wie lässt sich
Angemessenheit ästhetisch denken?“ in diesem Band.
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion 387

dieser Erfahrung freigesetzt werden und so mit Kants Worten ins Spiel
kommen. Die Freisetzung nennt Kant das In-Schwung-versetzt werden.13
Der Rahmen gestattet es nicht, die innere Differenziertheit dieser
antizipierenden Totalitätserfahrung in ihren vielfältigen Modi zu ent-
falten. Hier ist für unsere Thematik nur folgendes wichtig: Bereits bei
Dionysios, aber auch noch bei Kant sind die Züge der Universalitt und der
Negativitt der durch die freien Bildentwürfe eröffneten Erfahrung un-
verkennbar. Universalität freier Transzendenzerfahrung in der Immanenz
besagt: Es gibt keine inhaltlichen, materialen Einschränkungen derjeni-
gen Erscheinungen, die zu Paradigmen dieser antizipierend-transzen-
dierenden Erfahrung werden können. Es kann ein kleiner Stein sein, der
Flug eines Vogels, es kann ein kurzer Augenaufschlag sein, ein Klang, und
es können beliebig komplexe sinnliche Gestaltungen in allen Künsten
sein, deren der Mensch fähig ist: eine Skulptur und Komposition, Malerei
und Dichtung, aber auch eine Natur- und Selbsterfahrung. Entscheidend
ist neben dieser Universalität immanenter Transzendenzerfahrung deren
strukturell konstitutive Negativitt: Immer wieder betont Kant in seinen
Analysen die begrifflich, sprachlich unerreichbare Tiefe, Ferne und Fülle
der entworfenen wie entzogenen Bildlichkeit, die die produktive Ein-
bildungskraft erschließt. Negativität, Unsagbarkeit, ineffabilitas waren
auch die Charakteristika der negativ-theologisch und mystisch ausge-
wiesenen, vertieften Transzendenzerfahrung bei Dionysios und in der
mittelalterlichen Mystik. So fern Kant explizit dem direkten Anschluss an
diese Tradition auch steht – es ist gerade daher besonders wichtig und
aufschlussreich, wie nah seine systematische Konzeption dieser Tradition
tatsächlich ist. Der Bezug der ästhetischen Erfahrung und der produktiven
Einbildungskraft auf Metaphysik und Religion und damit auf Grenze und
Grund der menschlichen Welt ist systematisch eindeutig: Sie dient der
Versinnlichung von Vernunftideen und mit ihnen verbundener funda-
mentaler Menschheitserfahrungen, so Kant zufolge Seligkeit und
Ewigkeit, Liebe und Tod (KU 194). Ästhetische Formgebung versucht,
diese Ideen und die mit ihnen verbundenen existentiellen Grunderfah-
rungen vermittels der Einbildungskraft „über die Schranken der Erfah-
rung hinaus“ „sinnlich zu machen“ (KU 194 f.). Mit dieser existentiellen
wie metaphysischen Tiefendimension ästhetischer Erfahrung ist eine
innere, versinnlichte Form von Unendlichkeit verbunden. Die ästheti-

13 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Akad.-Ausg., ND, Berlin 1968, Band V,
§ 49, 192 (ab hier wird die Randzählung dieser Ausgabe im fortlaufenden Text
zitiert).
388 Teil 2. Ästhetik

sche Idee „eröffnet […] die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter
Vorstellungen“ (KU 195), die „keine Sprache völlig erreicht“ (KU
192 f.), sie ist eine Vorstellung der Einbildungskraft, die „in dem freien
Gebrauche der selben […] viel Unnennbares hinzu denken lässt“ (KU
197). Es ist bezeichnend, dass Kant genau in diesem Kontext einen
emphatischen Geistbegriff durchaus pneumatologischer Konnotation
verwendet: „Geist in ästhetischer Bedeutung heißt das belebende Prinzip
im Gemüt“ (KU 192). Er antizipiert eine innere Unendlichkeit in ver-
sinnlichter Vernunftperspektive – das Bild der unsagbaren Einzigkeit der
Welt in ihrer unendlichen Konkretion.
Im Schillerjahr ist es besonders passend, Schiller als Kant-Schüler in
diesem Zusammenhang zu zitieren. In seiner Schrift über Matthissons
Gedichte schreibt er im Anschluss an Kant: „(D)arin liegt das Anziehende
solcher ästhetischen Ideen, dass wir in den Inhalt derselben wie in eine
grundlose Tiefe blicken“. Denn ihr „möglicher Gehalt“ sei „eine un-
endliche Größe“.14 Eine nochmalige Präzisierung der Struktur der sol-
chermaßen gefassten immanenten Transzendenzerfahrung und der in-
neren Unendlichkeit der Wirklichkeit in ihrer Tiefe erreicht Kant durch
seine Lehre von der comprehensio aesthetica, der ästhetischen Ver-
dichtung. Comprehensio aesthetica heißt das ästhetische Begreifen der
Zusammenfassung durch die Einbildungskraft zu einer individuierten
Form, deren außergewöhnliche Zeitstruktur Kant so beschreibt: Die
Komprehension der Einbildungskraft als „die Zusammenfassung der
Vielfalt in die Einheit, nicht des Gedankens, sondern der Anschauung,
mithin des Successiv-Aufgefassten in einen Augenblick, ist […] ein
Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus der Einbildungskraft
wieder aufhebt und das Zugleichsein anschaulich macht“ (KU 99). Die
neuplatonische Analyse von ekstatischer Fülle (pleroma) im Augenblick
der mystischen Einung (Henosis) weist eine analoge Struktur auf.15
Zweifellos akzentuiert noch Kant ein existentielles Transzendenzver-
ständnis, wenn er die Aktivität der Einbildungskraft als „eine verborgene
Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“ bezeichnet, „deren wahre
Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abrathen und sie unverdeckt

14 Friedrich Schiller, ber Matthissons Gedichte, NA Bd. 22. Weimar 1958, 273 f.
Vgl. zu Kant und Schiller auch: Hans Feger, Die Macht der Einbildungskraft in der
sthetik Kants und Schillers, Heidelberg 1995.
15 Vgl. zu Plotin: Thomas Rentsch, „Strukturen ästhetischer Erfahrung“, a.a.O.
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion 389

vor die Augen legen werden“.16 Noch bis zu Wittgenstein reicht das
bislang aufgewiesene, ästhetische wie religiöse Transzendenzverständnis,
wenn er schreibt: „Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeter-
nitatis gesehen; […] Die gewöhnliche Betrachtungsweise sieht die Ge-
genstände gleichsam aus ihrer Mitte, die Betrachtung sub specie aeter-
nitatis von außerhalb. So daß sie die ganze Welt als Hintergrund haben“.17
In meiner kurzen Darstellung bin ich auf die außergewöhnlich reich-
haltigen Befunde im Deutschen Idealismus nicht eingegangen. Es sei nur
– neben der Bedeutung der intellektuellen Anschauung für Schelling und
die innere Unendlichkeit des Individuums bei Hegel als offenbares Ge-
heimnis und Zentrum des Christentums und der religiösen Vernunft – auf
Fichte hingewiesen. Genau aus den skizzierten Gründen konzipiert er
1792 eine Offenbarung a priori. In ihr kann das Moralgesetz „durch eine
Kraft des Gemüths an die Seele gebracht werden, welche von der einen
Seite sinnlich […], von der anderen durch Freyheit bestimmbar ist, und
Spontaneität hat“: durch die produktive Einbildungskraft, die als
„wunderbare(s) Vermögen“ auf der Grenze zwischen den scheinbar
unvereinbaren Gegensätzen der Sinnlichkeit und des Absoluten diese
doch beide „zugleich fest“ hält, zwischen beiden „schwebt“, beide
„berührt“, so „wieder von ihnen zurückgetrieben“ wird, so dass sie die
„Möglichkeit […] unsers Lebens, unsers Seyns für uns“ ist.18

2
Was ergibt sich systematisch aus der Kontinuität der Struktur dieser
Befunde von Platon und Dionysios bis zu Kant und Wittgenstein? Jörg
Hermann wies bereits in seiner Analyse der Entsprechung von mystischer
und ästhetischer Erfahrung darauf hin, dass auch die postmoderne Äs-
thetik Lyotards das Erhabene als plötzliches Ereignis des Bildes bestimmt.
So ist das Thema der Bilder von Barnett Newman „der Augenblick, der

16 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akad. Ausg., ND Berlin 1968, Band
III, 180 f. (Randzählung).
17 Ludwig Wittgenstein, Tagebcher 1914 – 1916, in: Schriften 1, Frankfurt a.M.
1969, 176 (Eintrag vom 7. 10. 1916).
18 Johann Gottlieb Fichte, Gesamt.-Ausg. der Bayer. Akad. d. Wiss. Bd. I/1, 68 und
Bd. I/2, 353 – 369; s. auch: Karl Homann, Artikel „Einbildung, Einbildungs-
kraft“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 2, Basel/Stuttgart 1972,
346 – 358.
390 Teil 2. Ästhetik

geschieht“ und so „das Mysterium des Seins“.19 Mit Bezug auf Derrida
ließe sich gerade im Blick auf seine letzten religionsphilosophischen
Texte zu Kant zeigen, dass die antizipierende Erfahrung von Spuren des
Absoluten in ihrer ständigen Ferne und Entzogenheit geradezu die
Grunderfahrung seines Denkens ist.20
Meine systematische Antwort auf die Frage nach Identität und Dif-
ferenz von ästhetischer und religiöser Sinnerfahrung und Bildlichkeit lässt
sich zunächst so formulieren, dass ein vertieftes und reflexiv gewordenes
Welt- und Selbstverständnis ohne Transzendenzdimension nicht zu ha-
ben ist. Mit dem Bewusstsein der Antizipation des Absoluten in der
Endlichkeit und Wirklichkeit der sinnlichen Welt geht die Genese eines
tendenziell radikalen Negativitätsverständnisses einher: das Absolute ist
unverfügbar, entzogen und unfassbar, und gerade so setzt es die innere
Unendlichkeit der Wirklichkeit für das formende Bewusstsein des
Menschen frei. Die Aspekte der Tiefe, der Ferne, der Fülle und
Grundlosigkeit der Wirklichkeit unter Einschluss unserer eigenen Natur
als Individuen, als Wesen innerer Unendlichkeit sind für die religiöse
Vernunftperspektive ebenso konstitutiv wie für die sinnliche Erfahrung
und Gestaltung des Schönen und seiner Abwesenheit. Die Einbil-
dungskraft wird in den für die Genese der okzidentalen Kultur grund-
legenden Paradigmen vom Platonismus bis zu Kant und zur Postmoderne
als Schnittstelle von Transzendenz und Immanenz gedacht, als Schnitt-
stelle von Praxisende und Hoffnung.
Die bereits herausgearbeiteten, vernunftkonstitutiven Aspekte der
Negativität und der Universalität der durch die Einbildungskraft ästhe-
tisch wie religiös erschlossenen immanenten Transzendenzerfahrung
verhelfen uns zur Bestimmung ihrer Bedeutung für die Gegenwart.
Erstens müssen wir dazu ihren Alltags- und Lebensbezug begreifen.
Zweitens müssen wir ihre praktische und politische Bedeutung auch in
weltgeschichtlicher und interkultureller Hinsicht ausloten. Die Sinn-
entwürfe des immanenten Transzendierens sind aufgrund der kreativen
Potentiale der menschlichen Einbildungskraft sprachlich und bildlich von

19 Jörg Herrmann, „Wir sind Bildhauern gleich. Von der Verwandlung mystischer
in ästhetische Erfahrung“, in: ders. u. a. (Hg.), Die Gegenwart der Kunst (Anm. 12),
87 – 105, dort 87. Zitiert wird Jean-François Lyotard, „Das Erhabene und die
Avantgarde“, in: ders., Das Inhumane, Plaudereien ber die Zeit, Wien 1989, 159 –
187, dort 165.
20 Jaques Derrida, „Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ,Religion’ an den
Grenzen der bloßen Vernunft“, in: ders./ Gianni Vattimo, Die Religion,
Frankfurt a.M. 2001, 9 – 106. Vgl. dazu Thomas Rentsch, Gott, 184 – 186.
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion 391

unendlich komplexem Gestaltungsreichtum, sowohl diachron wie syn-


chron. Sie sind Formen der Anwesenheit des Abwesenden, Formen der
Selbstbewusstwerdung des Anderen unserer selbst. Eine Grundform äs-
thetischer Transzendenz ist die beglückende Erfahrung von Selbst und
Welt im Medium des Schönen. Eine Grundform religiöser Transzendenz
ist die Hoffnung auf Heil und Erlösung und die Antizipation dieser
rettenden Ereignisse hier und jetzt – die Sehnsucht nach dem Ganz
Anderen. Für die gegenwärtige Reflexionssituation der Philosophie ist es
nötig und möglich, künstliche Scheinoppositionen von partialen künst-
lerischen und religiösen Praxen zu überwinden. Wir können gerade so
einen interkulturellen und intrakulturellen Gradualismus und Differen-
tialismus der Ausdrucksformen der Transzendenz auf lebensweltlichem
Fundament erreichen. Nur ein Beispiel: Eine Wüstenlandschaft mit ihren
Qualitäten der Reinheit, Klarheit, Leere, Stille, Zeitlosigkeit, Weite,
Tiefe, Ferne, der hellen Lichtdurchflutetheit und Endlosigkeit vermag im
ästhetischen Umgang kontrafaktisch als eine Erfüllungsgestalt humaner
Bedürftigkeit erscheinen. Die Wüste war auch Ort grundlegender
Gottesbegegnungen, ebenso Geburtsort vieler mystischer Traditionen,
die sich im frühen Wüstenmönchstum ausbildeten. Die skizzierten
Formaspekte der spezifischen Sinnlichkeit der Wüstenerfahrung finden
sich aber ebenso in vielen modernen Kunstwerken. Das universale le-
bensweltlich-alltägliche Fundament der ästhetischen Transzendenz und
Einbildungskraft ist der menschliche Leib als der Ort der Synthese von Sinn
und Sinnlichkeit. Der Leib ist die wahrhaft ekstatische Mitte der
menschlichen Welterfahrung, in der deren naturaler Grund und deren
kommunikatives Wesen sich vereinen und durchdringen. Die subli-
mierten und subjektivierten Modi der epistemischen Rekonstruktion des
Ästhetischen erscheinen so noch als Verdeckungen des Leibes und der
lebensweltlichen Sinnlichkeit. Subjekttheoretische Ästhetik stellt nur
eine extrem partiale Sondervariante des universalen Gestaltgebungspro-
blems dar. Im Blick auf den fundamentalen Aspekt der lebensweltlichen
Bedeutung ästhetischer Transzendenz ließe sich Schönheit neu denken
im Kontext praktischer Vernunft: als die verantwortliche Gemachtheit
unserer eigenen Lebensumstände unter Einschluss der Verhässlichung der
Welt und der Unwirtlichkeit der Städte; als die Ganzheit der in natürliche
Kreisläufe eingebetteten Praxis auch des Atmens, des Gehens, der Ge-
schwindigkeiten, des Geräuschpegels, des Wohnens, des Essens; als die
Einmaligkeit und Kostbarkeit verletzlicher leiblicher Individuen in ihrer
Naturhaftigkeit, Materialität und Endlichkeit; als die Fragilität des durch
Alter und Tod bedrohten Organischen und als der selbstzweckhafte
392 Teil 2. Ästhetik

Teloscharakter sinnlich-bedürftiger, endlicher, Sinn und Erfüllung an-


tizipierender Wesen.21
Ebenso ist zweitens die universale, weltgeschichtliche Dimension der re-
ligiösen Transzendenzperspektive praktisch zu begreifen. In vielen phi-
losophischen Ansätzen der Moderne wurde die Reflexion der Phantasie,
der Imagination und der produktiven Antizipationsfähigkeit zentral und
verband gerade ästhetische und religiöse Aspekte, und dies, weil sie
praktisch und politisch weiter gedacht wurden. Ernst Bloch hat in seinem
Prinzip Hoffnung das Bewusstsein des Noch-Nicht, Phantasie und
Utopie als konstitutiv für die Befreiungsgeschichte der Menschheit
analysiert. Robert Musil hat die Kategorie der Möglichkeit ins Zentrum
seines Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ gestellt. Sartre hat
Formen des Imaginären, Abwesenheit und Nichtung zur Grundlage
seines Existentialismus der Freiheit gemacht. Benjamin hat die humanen
und revolutionären Sinnpotentiale der Erinnerung und der anamneti-
schen Solidarität mit der Leidensgeschichte der Menschheit als „Einge-
denken“ als Grundlage seines kritischen Denkens entfaltet. Marcuse hat
die Potentiale der Phantasie in revolutionärer Perspektive auf Freiheit
und Glück einer zukünftigen Gesellschaft bezogen. Noch die negati-
vistische Variante dieses Transzendenzdenkens bei Adorno steht ein-
deutig in der von mir rekonstruierten Tradition: „Ist in den Kunstwerken
alles und noch das Sublimste an das Daseiende gekettet, dem sie sich
entgegenstemmen, so kann Phantasie nicht das billige Vermögen sein,
dem Daseienden zu entfliehen, indem sie ein Nichtdaseiendes setzt, als ob
es existierte. Vielmehr rückt Phantasie, was immer die Kunstwerke an
Daseiendem absorbieren, in Konstellationen, durch welche sie zum
Anderen des Daseins werden, sei es auch allein durch dessen bestimmte
Negation“.22 Einbildungskraft sprengt so bis in die Reflexion der Mo-
derne verdinglichte und reduktionistische Weltverständnisse. Sie sensi-
bilisiert für das Ferne, Fremde und Andere, das wir in Wahrheit selber
sind. Sie macht das Andere unserer Selbst zu konkreten Gestalten, zu
Klängen, Formen und Sprachen. Gerade im Prozess der Globalisierung,
der Multimedialisierung, der Enttraditionalisierung, der Pluralisierung
und der interkulturellen Öffnung zur Weltgesellschaft – in einem Prozess,
in dem unter schmerzhaften Verlusten, gewaltigen Spannungen und

21 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken?“
in diesem Band.
22 Theodor W. Adorno, sthetische Theorie, Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt
a.M. 1970, 258 f.
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion 393

Katastrophen die Weltgeschichte erst im eigentlichen Sinne beginnt – in


diesem Prozess ist ein Reflexivwerden und Gestaltwerden von Differenz
und Negativität unverzichtbar. In ihm muss – religiös wie künstlerisch –
das Unbewusste und Abwesende, das Unsagbare als solches erscheinen,
das niemals in Schemata industrieller Produktformen Eingang finden
kann. Das Nichtverstehen, die Abwesenheit und Ferne sind nämlich für
eine menschliche Welt viel fundamentaler als alle technisch herstellbaren
Nähen. Ein ästhetisch und religiös erweitertes Vernunftverständnis
könnte uns von reduktionistischem und vereinnahmendem zu freilas-
sendem Verstehen befreien, zu nicht verstehendem Umgang mit
Nichtverstehbarem, aus dem unser Leben besteht. So können wir ver-
suchen, durch den Schutz der Negativität kulturelle Identität zu er-
möglichen, ohne das Fremde zu tilgen und das Unsagbare zu zerreden. An
der Basis unserer Welterfahrung müssen wir eine Schicht konstitutiver
Stummheit und Verschlossenheit gewärtigen. Sie – religiös wie ästhetisch
– erfahrbar zu machen und erfahrbar zu halten, ist Zeichen unserer
Humanität.
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken?
Zum Zusammenhang von Schönheit, Metaphysik
und Lebenswelt
Wir wissen von keiner Welt als im
Bezug auf den Menschen; wir wollen
keine Kunst, als die ein Abdruck dieses
Bezugs ist.
Goethe
Die schönen Dinge zeigen an, daß
der Mensch in diese Welt passe.
Kant

Beide großen Traditionsströme der Ästhetik, die metaphysische, plato-


nisch-ideale wie die handwerkliche, von der künstlerisch-bildnerischen,
herstellenden Tätigkeit ausgehende Tradition, die Tradition der meta-
physischen Idee des Schönen und die Tradition des Maßes, Metaphysik
und Werkstatt, haben beide in ihrem Zentrum eine Vielzahl von Kate-
gorien der Angemessenheit, deren Sinn und Geltung für eine gegen-
wärtige philosophische Reflexion ich im Folgenden ein wenig nachge-
hen will. Dabei interessiert mich, ob sich möglicherweise ehemals
metaphysische Kernbestimmungen des Ästhetischen und, in deren
Zentrum, die Idee des Schönen, mit Blick auf uns auch heute vertraute,
lebensweltliche Sachverhalte auf neue Weise verständlich machen lassen.
Ich meine, ja; ehe ich mich dieser Frage nach einem lebensweltlichen
Verständnis der metaphysischen Dimension ästhetischer Angemessenheit
zuwende, möchte ich einiges Grundsätzliche zum Verständnis der
„maßbezogenen“ Angemessenheitstradition sagen.

Von Wilhelm Lehmbruck stammt der Satz „Alle Kunst ist Maß; Maß
gegen Maß.“ Die Bestimmungen des Maßes, der Proportion, der Sym-
metrie, Ordnung und Harmonie lassen sich verstehen, wenn wir uns klar
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? 395

machen, wie grundstzlich das ästhetische Gestaltproblem tatsächlich ist.1


Für unsere gesamte Praxis ist ein Grundzug wichtig, den wir als die
Unbestimmtheit der Form oder das Erfordernis der Gestaltgebung be-
zeichnen können. Warum? So, wie wir darauf angewiesen sind, die Leere
unserer zukünftigen Zeitlichkeit zu füllen beziehungsweise zu überde-
cken, unsere eigene Nichtigkeit „sorgend“ zu bewältigen,2 so sind wir
näherhin dazu genötigt, unserem Leben eine Form, eine Gestalt zu geben.
Denn: Sowohl unser Leben wie auch alle Gegenstände, die im Kontext
unserer Praxis vorkommen, sind nach ihrer Form und Gestalt weithin
nicht festgelegt. Das gilt für die kleinsten Gebrauchsgegenstände: Käm-
me, Bürsten, Besteck, Stühle, Tische; für größere und größte Lebens-
zusammenhänge: Wohnungen, Häuser, Städte; Parks und Landschaften,
Wälder, Flüsse und Küsten. Dieses Gestaltgebungsapriori gilt für unsere
Hygiene, Kleidung und Ernährung; es gilt aber auch z. B. für unsere
Sprache mit Blick auf die Stilgestalt. Überall, und dies ist der entschei-
dende Aspekt, müssen wir form- und gestaltgebend handeln (oder For-
men übernehmen).
Ein Stück weit sind diese Formen durch die Funktionen der jewei-
ligen Gegenstände in ihren Kontexten bestimmt: so Bestecke, Möbel,
Wohnungen, Städte, Stilgestalten. Aber die Funktion legt nicht die ganze
Gestalt fest. Daher der nichtfunktionale berschuss in all unseren Praxis-
formen und Umgangsweisen – wir müssen das Formproblem lösen. Und
dies auch in der Form unserer Bewegungen, unseres Gebarens und
Gehabes, unserer konkreten Sitten und Gebräuche, bei all unseren
Künsten, aber gänzlich dann im afunktionalen Bereich der reinen Kunst.
Formen der Angemessenheit im Kontext des noch funktional mit-
bestimmten Gestaltgebungsapriori sind leicht benennbar; die Dienlich-
keit und Zierlichkeit von Kämmen, Bürsten und Bestecken, die
schmuckvolle Eleganz und Bequemlichkeit von Möbeln und Kleidern,
die Ziemlichkeit, Passung und Wohlproportioniertheit in allen Berei-
chen der Gestaltung, die unter den klassischen Kategorien des Geeig-
neten, Nützlichen, Brauchbaren (griechisch wq^silom), des Schicklichen
(pq]pom) stets auch das Wohlgefällige, deshalb Begehrens- und Lie-

1 Vgl. in diesem Zusammenhang die grundlegenden Bemerkungen von Friedrich


Kambartel, „Zur Philosophie der Kunst. Über zu einfach gedachte begriffliche
Verhältnisse“, in: ders., Philosophie der humanen Welt, Frankfurt a.M.1989, 103 –
114.
2 Im Sinne von Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151979, v. a. §§ 41 u.
65.
396 Teil 2. Ästhetik

benswerte, das Gelungene und deshalb im Wettkampf Auszuzeichnende


meinte. In dieser Tradition des Maßes ist die Universalitt des Formproblems
durchgängig bewusst: ob bei rotfigurigen altattischen Vasen, ob in der
Anlage von Gärten oder in der Stadtarchitektur, ob in der Rhetorik und
Stilistik des ornatus, im Kontrapunkt oder in der Kunst der Fuge. Und hier
geben die jeweiligen Gebrauchskontexte, die so vielfältig sind wie das
Leben, die internen Kriterien fr Angemessenheitsmodi, das heißt: dafür, wie
etwas zu machen sei, her. Die bürgerliche Ästhetik ab etwa 1750 stellt nun
mit ihrer extremen Engführung des Verständnisses des Schönen, mit
dessen Subjektivierung, mit Verinnerlichung und Ästhetizismus, Mu-
sealisierung und Avantgardismus, eine folgenreiche Einengung der prak-
tisch-philosophischen Grundproblematik des Schönen und der sinnli-
chen Gestaltgebung dar.3 Keineswegs ist die Universalität des
Formproblems auf einen bürgerlichen Kunstbegriff und dessen späte,
destruktive Modi allein zu beziehen, so faszinierend sie sein mögen.
Philosophische Ästhetik muss sich daher, z. B. im Blick auf Architektur
und Ökologie, wieder praktisch und politisch begreifen, muss sich uni-
versal auf die Gestaltung der Lebenswelt beziehen. Im Kontext des po-
litischen Lebens bildete die griechische Kultur das Ideal der Kalokagathia,
des zugleich Schönen und Guten heraus, mit dem eine Synthese von
ästhetischem und ethischem Weltverhältnis, von „Politik und Anmut“4
als einer Lebensform der sittlich gelungenen Humanität bezeichnet
wurde. Angesichts vieler Bestrebungen, formalistische und universalis-
tische Diskursethiken durch inhaltliche, lebensnähere, an der konkreten
Gestaltung unserer Lebensformen orientierte Gesichtspunkte zu ergän-
zen, frage ich: Sollen wir solche praktisch-philosophischen Vorstellungen
von einer lebbaren Synthese schöner und guter Orientierungen, von
praktischen Maßverhältnissen, preisgeben? Ich meine, sie gehören zum
Kernbereich der europäischen Vernunftgeschichte, und sie sind aktueller
denn je.
Ein zweites ist mir wichtig, und es betrifft die metaphysische An-
gemessenheitstradition der „Ästhetik“: Über zweieinhalb Jahrtausende
hatte das Schöne, in Metaphysik, theologischer Ästhetik und Ontologie,
bis zu den großen Systemästhetiken, eine Synthesisfunktion. Die Grund-
züge der Schönheit prädestinierten sie in der philosophischen Reflexion

3 Vgl. dazu Hans-Georg Gadamer, „Subjektivierung der Ästhetik durch die


Kantische Kritik“, in: ders., Wahrheit und Methode. Grundzge einer philosophischen
Hermeneutik, Tübingen 41975, 39 – 77.
4 Vgl. Christian Meier, Politik und Anmut, Berlin 1985
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? 397

seit Platon zu Funktionen der gelungenen Synthesis von Erkenntnis und


Liebe, Vernunft und Sinnlichkeit. Die Summen der Hochscholastik ar-
beiteten, spätestens seit Alexander von Hales, den Status des Schönen als
des Integrals des Wahren und Guten aus. Die transzendentale pulchritudo
ermöglicht eine zwanglose Synthesis von Vernunft und Willen. Mehr
noch: Die Reflexion des Schönen im Rahmen der Transzendentalien-
lehre konzipiert es, das Schöne, als Grund der Einheit der transzendentalen
Seinsbestimmungen. Das Schöne ist die Herkunft, der Ursprungsort der
transzendentalen Differenz von bonitas und veritas und des Partizipati-
onsgedankens. Kurz: Die metaphysische Spekulation sah im Schönen den
Grund der Einheit der Welt.5
(Das wird übrigens auch sichtbar an der systematischen Stellung der
pulchritudo bei der Inbezugsetzung von Transzendentalienlehre und
Trinitätstheologie, zum Beispiel bei Thomas von Aquin, wo sie der
zweiten Person der Trinität entspricht.6)
Für mich sind diese Befunde Indizien für die von mir provisorisch so
genannte „metaphysische“ Angemessenheitstradition. Während die
Maß- bzw. Proportionalitätstradition die ganze Vielfalt des „Passenden“
in den jeweiligen pragmatischen Lebenskontexten thematisiert und ab-
deckt, reflektiert die metaphysische Tradition, die bis zu Kant und
Adorno reicht, die Bedeutung des Schönen für die Konstitution von
Rationalität selbst, uns das heißt: für die innere Proportioniertheit, die
internen Verhältnisse zwischen dem Wahren und dem Guten. Lässt sich

5 Vgl. Umberto Eco, Il problema estetico in Tommaso d’Aquino, Torino u. Milano


2
1982 (engl. The Aesthetics of Thomas Aquinas, Cambridge/Mass. 1988); ders.,
„Sviluppo dell’estetica medievale“, in: ders., Momenti e problemi di storia dell’es-
tetica, Bd. 1. Milano 1959, 115 – 229 (engl. Art and Beauty in the Middle Ages, New
Haven/London 1986, später u. d. Titel: Arte e bellezza nell’estetica medievale.
Milano 1987); Günther Pöltner, Schçnheit. Eine Untersuchung zum Ursprung des
Denkens bei Thomas von Aquin, Wien u. a. 1978; Rosario Assunto, Die Theorie des
Schçnen im Mittelalter, Köln 1963; Johann Kreuzer, Pulchritudo. Vom Erkennen
Gottes bei Augustin, München 1995; Thomas Rentsch, „Der Augenblick des
Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee“ in diesem Band;
ders., Art. „Schöne, das“, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopdie Philosophie
und Wissenschaftstheorie, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 1995, dort umfassende Bi-
bliographie.
6 Thomas betrachtet Schönheit als claritas und splendor und wendet per approp-
riationem die transzendentale Wahrheit auf die erste, die transzendentale
Schönheit auf die zweite und die transzendentale Gutheit auf die dritte Person in
der göttlichen Trinität an, und dabei sagt er ausdrücklich: „Claritas convenit
proprio Filii, in quantum est Verbum, quod quidem est lux et splendor intel-
lectus.“ (5. Th. 1, q. 39, art. 8, c.).
398 Teil 2. Ästhetik

dieser Grundgedanke der einheitsstiftenden Funktion des Schönen, äs-


thetischer Erfahrung und Kommunikation, heute neu verstehen? Warum
konnte so lange Zeit ästhetischer Kommunikation eine solche Bedeutung
für die interne Konstitution der Rationalität, für die Tiefenstruktur un-
seres Welt- und Selbstverhältnisses zuerkannt werden?

2
Wir können heute, nach dem Jahrhundert der Analysen Heideggers und
Wittgensteins, philosophische Fragen nach der Konstitution nicht mehr
länger im Blick auf ontologische Strukturen der Wirklichkeit beant-
worten; und ebensowenig können wir sie im Blick auf Strukturen von
Subjekten bzw. eines „Bewusstseins überhaupt“ behandeln. Vielmehr
müssen wir unseren Blick auf die sprachlich verfasste kommunikative
Lebenspraxis richten: auf die von uns praktizierten Sprachhandlungs-
zusammenhänge in fragilen, opaken, naturhaften, materiellen und end-
lichen Lebenssituationen. Wir sind leiblich-sinnliche, endliche und be-
dürftige Wesen, die der kommunikativen Praxis fähig sind. Aus der
lebensweltlichen Sprache und Praxis der Verwendung solcher Worte wie
„wahr“, „richtig“, „es gibt“, „existiert“, „wirklich“ entsteht die kriterial
konstituierte Praxis der theoretischen Intersubjektivitt. Aus der kommuni-
kativen Praxis der Verwendung von Worten wie „gut“, „sinnvoll“,
„Einsicht“, „menschlich“, „unmenschlich“, „anständig“, „schrecklich“
erwächst die kriterial (grammatisch) konstituierte kommunikative Le-
bensform der praktischen Transsubjektivitt. Entsprechend lässt sich in der
alltäglichen Verwendung der urteilenden Prädikate „schön“, „herrlich“,
„hässlich“, „meisterhaft“ , „wohlgefällig“, „grauenhaft“, „außerge-
wöhnlich gelungen“, „total misslungen“, „einmalig“ in den entspre-
chenden Kontexten das Fundament der kommunikativen Lebensform
der sthetischen Konsubjektivitt oder kurz: der ästhetischen Praxis anset-
zen. Das fundamentale Erkenntnisinteresse an sowohl theoretischer
Wahrheit wie auch an praktischen Einsichten ist evident tief in unserer
Bedürfnisstruktur verwurzelt. Und so fundamental wie das universale
Formgebungsproblem wurzelt auch unser Interesse an einer gemeinsa-
men Praxis ästhetischen Umgangs und Urteilens.
Die (grammatische) Konstitution eines bestimmten Bereiches er-
schließt sich, analysieren wir Voraussetzungen (transzendentale Präsup-
positionen) lebensweltlicher Sprache und Praxis dieses Bereiches. Hin-
sichtlich des Bereiches des Ästhetischen wurden die formalen
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? 399

Konstitutionsbedingungen unserer entsprechenden Urteilspraxis spätes-


tens seit Duns Scotus als cognitio clara et confusa bestimmt. Die sinnliche
Erkenntnis hat sowohl Gemeinschaft mit der Erkenntnis des Guten als
auch mit der des Wahren. Sie ist nicht bloß sinnlich und konfus (ver-
worren, wie eine Körperempfindung), jedoch auch nicht schon be-
grifflich-definitorischer Art. Es handelt sich bei dieser Erkenntnis um die
wiederholbare, jedoch je einmalige Erkenntnis von etwas Individuellem,
das sich nicht definieren lässt. Diese Bestimmungen gelangen über
Leibniz und Wolff zu Baumgarten, führen zur Begründung der Disziplin
Ästhetik (1750) und zur Analytik der cognitio sensitiva, der systematischen
Vorgestalt der ästhetischen Urteilskraft bei Kant mit ihren ebenfalls
Vernunft und Sinnlichkeit synthetisierenden Funktionen.7
Wie lassen sich Sinnbedingungen sthetischer Kommunikation anhand
eines möglichst einfachen lebensweltlichen Beispiels erläutern? 8 Ich
schenke einer Freundin einen Strauß schöner Blumen. Der Strauß gefällt;
ich bin zufrieden. Eine ästhetische Urszene, die sich seit Menschenge-
denken tagtäglich vieltausendfach überall abspielt. Betrachten wir ele-
mentare Sinnbedingungen ästhetischer Kommunikationspraxis, die sich
an diesem einfachen Beispiel zeigen.
(1) Der Strauß ist etwas Gemachtes, Produziertes: das Ganze gibt es
nur in einer Kultur menschlicher Umgangsformen. Die ästhetische Praxis
ist, wie die theoretische und die ethisch-politische, eine kommunikative
Praxis der Herstellung, des Umgangs und der Sichtweise, in deren Me-
dium etwas – hier: die Blumen – seine hermeneutische Identität9 als
„schön“ erhält. Diese Sinnbedingung nenne ich Artefaktizitt; sie kann
zur ästhetischen Kontrafaktizität oder Fiktionalität gesteigert und immer
intensiver sublimiert werden: zu den Seerosen-Serien Monets, zu den
„Doldenschauern“ Gottfried Benns, „wo die Götter fallen wie Rosen“,
zur extrem ritualisierten Kunst des japanischen Blumenarrangements

7 Vgl. Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der sthetik des
Alexander Baumgarten, Wiesbaden 1972.
8 Vgl. Thomas Rentsch, „Ästhetische Anthropomorphie. Die Konstitution des
Schönen und dietranszendental-anthropologische Bestimmung thaumatisch-
auratischer Weltverhältnisse“, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphi-
losophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt a.M. 1991, 27 – 35 u. 308 – 321. Aus
der kritischen Berliner Diskussion ergab sich meine modifizierte Darstellung
ästhetischer Sinnbedingungen im vorliegenden Aufsatz.
9 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Die Aktualitt des Schçnen. Kunst als Spiel, Symbol und
Fest, Stuttgart 1977, 32 ff.
400 Teil 2. Ästhetik

Ikebana, in der das kleine Gebinde den Weltzusammenhang vergegen-


wärtigt.
(2) Der Strauß hat eine gewisse irreduzible Ganzheit und immanente
Stimmigkeit. Willkürlich ausgerissene Stengel oder ein unförmiger
Haufen Blumen sind kein Strauß. Dieser bildet vielmehr eine nicht-
beliebige ästhetische Gestalt mit Maß und Zahl, Farbe und Passungs-
kriterien: Diese Sinnbedingung der ästhetischen Totalitt kann ebenso
vom dekorativen Strauß bis zu den Sonnenblumen van Goghs sublimiert
sowie in allen Bereichen der Gestaltung relevant werden.
(3) Zum Aspekt der Totalität tritt der der ästhetischen Singularitt, der
Einmaligkeit oder Einzigartigkeit. Ich höre den Ausruf: „Das ist aber ein
schöner Strauß!“ Es ist – natürlich – dieser Strauß hier, den ich gerade
überreiche, als solcher ein einmaliges Phänomen, letztlich, wie alle In-
dividualität, begrifflich unsagbar. Blicken wir auf die Vielfalt ästhetischer
Gestaltung: Einer am Strand gefundenen Muschel können wir die her-
meneutische Identität eines einmaligen, thaumatisch-auratischen Faszi-
nosums verleihen. In den Selbstporträts Rembrandts zeigt sich, begrifflich
uneinholbar und reflexiv unüberbietbar die Tiefe, Ferne und Indivi-
dualität eines menschlichen Gesichts. Die ästhetische Singularität wird
sichtbar, wenn Constable den Augenblick malt, in dem nach einem
Gewitterregen die Landschaft Englands wieder von der Sonne beschie-
nen wird und das Grün der Wiesen silbern zu glänzen beginnt. Die
unaustauschbare Singularität bildet sich in den epochalen und in den
individuellen Eigenstilen aus, im Dunkel Caravaggios wie in der Kultur
der gesamten Epoche. Die Singularität ist der Bereich der ästhetischen
Alterität, der Tiefe, Ferne, Fremdheit und Unsagbarkeit, die die frühen
französischen Theoretiker als das „Je ne say quoy“ ästhetischer Erfahrung
klassisch negativ zu artikulieren suchten.
(4) Der Strauß verblüht, verwelkt, ist endlich und vergänglich in
seiner Schönheit. Wir können von der ästhetischen Fragilitt oder Hin-
fälligkeit10 sprechen. Auch, was ehemals schön erschien, unterliegt der
Endlichkeit und Vergänglichkeit.
(5) Der Strauß ist selbst etwas, er ist um willen seiner selbst da. Die
ästhetische Nicht-Instrumentalitt, positiv: Die Selbstzweckhaftigkeit er-
möglicht im ästhetischen Umgang im Ansatz ein zweckfreies, kommu-
nikatives, gewaltloses Weltverhältnis jenseits von instrumenteller Nut-

10 Oskar Becker, „Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des
Künstlers“, in: ders., Dasein und Dawesen. Gesammelte philosophische Aufstze,
Pfullingen 1963, 11 – 40.
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? 401

zung und jenseits auch repressiver Asymmetrien. Wie es Intensitätsgrade


der inneren Gestaltung und Individuiertheit gibt, so auch solche der
Afunktionalität, der Nicht-Instrumentalität. Ästhetische Kommunikati-
on kann sich als Kultur kontemplativ-meditativen Umgangs im Hören
reiner Instrumentalmusik, im meditativen Begehen von Gartenanlagen
oder auch im Flanieren, in Stadtwanderungen z. B., entfalten. Aber auch
das gemeinsame Erinnern und Erzählen der Vergangenheit gelebten
Lebens ist ein selbstzweckhafter Modus solcher sinnlichen Erkenntnis.
Der Blumenstrauß jedenfalls soll da sein, weil er dieser Blumenstrauß ist.
(6) Die Blumen sollen Freude machen. Zur Nicht-Instrumentalität
tritt der Telos- bzw. Erfllungscharakter als Sinnbedingung ästhetischer
Kommunikation. Es zeigt sich bereits an den Blumen, dass wir es in der
ästhetischen Praxis mit Erfüllungsgestalten, mit einem konkreten Genuss-
und Glückscharakter in der Erfahrung zu tun haben. Die Kategorien des
Staunens, des Glanzes, Thauma, Aura, splendor, ubertas und plenitudo,
haben bereits hier ihren lebensweltlichen Sitz. Der Duft der Rosen, die
Glut ihrer Leuchtkraft – sie sind bei aller Vergänglichkeit etwas Herrli-
ches, der Bedürftigkeit unsererseits nach einer Synthesis von Sinn und
Sinnlichkeit 11 zutiefst Angemessenes.
Es versteht sich von selbst, dass alle aufgezeigten Sinnbedingungen
Bedingungen der Möglichkeit auch ihrer Destruktion, Negation, De-
potenzierung, ihres Scheiterns und Misslingens sind, wie es bereits im
Aspekt der Fragilität anklang.
Die genannten Sinnbedingungen konstituieren gemeinsam die äs-
thetische Form der Kommunikation, die ich Konsubjektivität nenne. Das
heißt, was in der Analyse zunächst als nebeneinander gestellte Katego-
riengruppe erscheint, das ist in der Wirklichkeit lebendigen ästhetischen
Umgangs unableitbar von einander, irreduzibel auf einander und nur
wechselseitig durch einander verstehbar, kurz: gleichursprünglich.
Im nächsten Schritt möchte ich zeigen, dass und wie die konsub-
jektive Kommunikation mit der Tiefenstruktur unseres Welt- und
Selbstverhältnisses zu tun hat und das Schöne bzw. das Ästhetische mit
tiefer Angemessenheit.

11 Vgl. dazu Franz Koppe, Grundbegriffe der sthetik, Frankfurt a.M.1983, 166 – 169.
402 Teil 2. Ästhetik

3
Die aufgezeigten Kategorien der Konsubjektivität entspringen der –
unübersehbar vielfältigen – Gestaltungspraxis des ästhetischen Umgangs
in jeweils ausdifferenzierten geschichtlichen Lebensformen. Bereits der
Teloscharakter, aber auch die übrigen Sinnbedingungen dieser Praxis
verweisen auf die kommunikative Verfassung des ästhetischen Welt-
verhältnisses: Im kommunikativen Akt des Schenkens erfährt die Be-
schenkte die Schönheit der Rosen. Auch in der lebensweltlich-prag-
matischen Rekonstruktion wird sichtbar: Kant hatte Recht mit seinen
Bestimmungen des sensus communis und des „Ansinnens“ der Allge-
meingültigkeit der subjektiven Geschmacksurteile; auch ästhetisches
Mitsein mit Anderen kennt eine spezifische Form der Universalität, so,
wie theoretische Intersubjektivität die Universalität von Wahrheitsan-
sprüchen, so, wie praktische Transsubjektivität die Universalität von
moralischen Geltungsansprüchen. Die Universalität, die sich durch die
ästhetische Konsubjektivität herstellt, ist nun dadurch besonders ausge-
zeichnet, dass die Subjekte im Medium des ästhetischen Weltverhältnisses
eine Beziehung zu den anderen Subjekten „kon-subjektiv“ einnehmen
können, in der sie in ihrer Sinnlichkeit und Bedürftigkeit zwanglos sie
selbst als Individuen bleiben, und in der sie dennoch mit den Anderen auf
eine genuine, tiefe und wesentliche Weise vergemeinschaftet werden.
Diese Tiefendimension ästhetischer Kommunikation und Universalität
führt uns auf die Eigenart der ästhetischen Angemessenheit. Den Kern-
bereich des Ästhetischen bilden nämlich, so meine These, genuin an-
thropomorphe Phänomene. Im Medium der ästhetischen Gemeinsam-
keit können Subjekte zwanglos und entlastet der Tiefe und Komplexität
ihrer inneren Bedürfnisnatur innewerden, so sich selbst im „Anderen
ihrer selbst“ erfahren (Hans Robert Jauß sprach vom „Selbstgenuß im
Fremdgenuß“12) und sich in der Totalität ihrer Weltbezüge begegnen.
Diese Analyse entspricht der Grundidee der Ästhetik Kants, und auch
seiner Konzeption der ästhetischen Ideen. Die Leitidee, die er auf der
Ebene einer Analytik der ästhetischen Geschmacksurteile entfaltet, ge-
stattet ihm deshalb in seiner Theorie des Schönen auch eine Rekon-
strukion der Platonischen und metaphysischen Tradition. Diese Idee
besagt: Im Medium ästhetischer Erfahrung werden Bedingungen von
Erfahrungsfähigkeit überhaupt auf prägnante Weise thematisch. Ästhe-

12 Zum Genussbegriff, vgl. Hans Robert Jauß, Kleine Apologie der sthetischen Er-
fahrung. Mit kunstgeschichtlichen Bemerkungen von Max Imdahl, Konstanz 1972.
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? 403

tische Konsubjektivität bildet sich im Umgang mit Phänomenen, in


denen uns die Sinnbedingungen einer humanen Welt selbst transparent
werden.13
Erläutern wir diese These noch einmal im Blick auf die aufgewie-
senen Sinnbedingungen.
(1) In der Artefaktizitt und Kontrafaktizität des Ästhetischen (auch
beim Umgang mit dem so genannten Naturschönen) tritt uns die Welt
nicht als etwas Fremdes und Gleichgültiges gegenüber (selbst dann, wenn
sie so dargestellt wird), sondern auf eine Weise, die unseren Bedürfnissen
und Wünschen, Gefühlen und Leidenschaften, unseren genuinen Le-
benserfahrungen entspricht („angemessen“ ist).
(2) Die ästhetische Totalitt, wie auch ihre destruierten, fragment-
arisierten Modi (z. B. Fetzen, Reste, Trümmer, Ruinen) entsprechen der
endlichen Ganzheit einer menschlichen Welt. Wie die humane Le-
benswelt, so sind auch die ästhetischen Phänomene gestaltete und fragile
Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Sprachlichkeit, Sichtbarkeit und Klanglich-
keit. Es sind qualitative Ganzheiten – Gestalten im Sinne Christian von
Ehrenfels14 – die sich z. B. aus Akzenten, Betonungen, Rhythmen,
Verdichtungen, Schwerpunkten und Pausen ergeben. In sprachlichen
Kunstwerken, in Sonaten und Sinfonien, Gemälden und Skulpturen
stehen uns anthropomorphe Gebilde gegenüber, ebenso in Parks,
Wohnungen und Städten. Und zwar, weil die Formqualitten ihrer Gestal-
tung den Sinnbedingungen einer menschlichen Welt entsprechen, ihnen ange-
messen sind, ihnen gleichkommen. Die ersten Takte des letzten Satzes der
Vierten Sinfonie von Schubert z. B. zeigen, dass es sich um ein „leben-
diges“ Phänomen handelt, qualitativ strukturiert, mit signifikantem
Anfang und Ende, in sich geschlossen, aber auch über sich hinausweisend,
vielen Phänomenen ähnlich, keinem jedoch gleich, als Ganzheit irre-
duzibel, irreversibel in der zeitlichen Bewegungsrichtung – kurz: um ein
Phänomen qualitativer Totalität mit wesentlich lebensweltlich-sinnhaf-
ten Zügen. Diese Züge dienen einem kommunikativen Wiedererkennen
unserer selbst in einem Anderen, hier in den Formen des Klangmediums.
Die Züge der sinnlich erfahrbaren Welt geben ihre Gleichgültigkeit und

13 Dies hat bei Kant mit der transzendentalen Affinität zwischen Vernunftregulation
und Verstandeskonstitution zu tun; vgl. Günter Wohlfart, „Zum Problem der
transzendentalen Affinität in der Philosophie Kants“, in: Akten des 5. Internatio-
nalen Kant-Kongresses, Bd. 1.1, Bonn 1981, 313 – 322.
14 Vgl. Christian v. Ehrenfels, „Über ,Gestaltqualitäten‘“, in: Ferdinand Weinhandl
(Hg.), Gestalthaftes Sehen. Ergebnisse und Aufgaben der Morphologie, Darmstadt
1960, 11 – 43.
404 Teil 2. Ästhetik

Widerständigkeit preis und schmiegen sich mit ihrem Antlitz der be-
dürftigen Subjektivät an. Dieses Passen ist Grund auch der Kategorie der
Mimesis.
(3) Auch die ästhetische Singularitt entspricht den Sinnbedingungen
des humanen Lebens, und zwar auf eminente Weise. Im ästhetischen
Phänomen – bereits in den Rosen – tritt uns (der Idee und der Mög-
lichkeit nach) eine unbegreifliche (begrifflich uneinholbare) individuelle
Weltgestalt entgegen. Auch jedes menschliche Leben hat eine einmalige,
irreduzible, unaustauschbare und unwiederholbare Gestalt. Die qualita-
tive, bedeutsame Lebenszeit weist die Form inkommensurabler Augen-
blicklichkeit auf. Auch ästhetische Phänomene zeigen diese Form ein-
maliger Gestalt (die Rosen, Gebirgszüge, Wolken, Wellen, Dünen) oder
gestalteter Einmaligkeit (z. B. ein architektonisches Ensemble wie
Dresden oder die Phänomene der pulchritudo vaga bei Kant). Das Moment
des Nichtdiskursiven, begrifflich Unsagbaren des Schönen ist für die
spezifisch konsubjektive Kommunikation notwendige Bedingung. Sie
wurde dementsprechend ästhetik-theoretisch früh, z. B. von Dubos und
Batteux, bemerkt und auf die auch Leibniz geläufige Grundformel „Je ne
say quoy“ gebracht. (Auf die Zusammenhänge mit mystischer Erfahrung
und der logischen Struktur der visio beatifica bin ich andernorts einge-
gangen.15 Der Schwund des Schönen scheint etwas mit dem „Tode
Gottes“ zu tun zu haben.) Da dieses Moment des Unbegrifflichen eine
entscheidende Differenz zur theoretischen und praktischen Vernunft und
Kommunikation darstellt, sei es im Blick auf die ekstatische Tiefen-
struktur der ästhetischen Ideen Kants einmal etwas genauer beleuchtet.
Die für die cognitio sensitiva, für die ästhetische Erkenntnis charakte-
ristischen vielsagenden Vorstellungen (perceptiones praegnantes) ermögli-
chen bereits in Baumgartens Ästhetik eine klare und sinnliche Erkenntnis
der Fülle des Gegenstandes (ubertas aesthetica, venusta plenitudo), eine Er-
kenntnis seiner nicht-deutlichen, nicht-abstrakten, individuierten To-
talität. Wovon wir keinen deutlichen, letztlich: wissenschaftlichen Be-
griff gewinnen können, dies zeigen die ästhetischen Ideen: die Tiefe,
Ferne, Fülle und Grundlosigkeit unserer inneren Natur, die diskursiv
uneinholbar und reflexiv unüberbietbar ist, und die Leibniz als den
wogenden fundus animae bezeichnete. Sie – das eigentlich Unsagbare, das

15 Vgl. Thomas Rentsch, „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Ge-
schichte der ästhetischen Idee“ in diesem Band.
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? 405

Je ne say quoy – wird durch die comprehensio aesthetica 16 kommunikativ


gestaltet und durch die spezifischen internen Formqualitäten des jewei-
ligen Mediums auratisch verdichtet. So in den Farben der Rembrandt-
schen Porträts; so in den auratisch-beruhigten Räumen, die durch die
Skulpturen Lehmbrucks geschaffen werden; so in den Liedern der
„Winterreise“, in der Liebeslyrik Goethes (,,O gib, vom weichen
Pfühle,/Träumend, ein halb Gehör!/Bei meinem Saitenspiele/Schlafe!
was willst du mehr?“) – die Semantisierung der Strukturqualitäten be-
wirkt die auratische Vedichtung. Das reine ästhetische Werk ist der
Versuch der Überdeckung der leeren zukünftigen Zeitlichkeit durch die
Fülle des Augenblicks. Der ekstatischen Erstreckung des vorlaufenden
Daseins gegenläufig ist die Inständigkeit des Verweilens im Augenblick
des Schönen. Indem in der Form dieses Augenblicks die „Einfaltung der
ganzen Welt“ in die ästhetische Idee geschieht, wird die vulgäre Zeit-
lichkeit auratisch verdichtet: ästhetische Erfahrung ermöglicht so au-
genblickliche Fülle (pk^qyla) als Gegenwurf zur Nichtigkeit der zeit-
lichen Existenz. Das bedeutet auch hier: Die ästhetischen Formqualitäten
werden auf eminente Weise transparent auf die Möglichkeitsbedingun-
gen einer menschlichen Welt hin, hier: auf die ekstatische Tiefenstruktur
der menschlichen Zeitlichkeit.
(4) Auch die Sinnbedingung der Fragilitt, der ästhetischen Hinfäl-
ligkeit, entspricht einem Grundzug der menschlichen Welt. So ist der
eben erwähnte „ewige Augenblick“, das nunc stans der ästhetischen Er-
fahrung selbst hinfällig und vergeht. Der Augenblick des Schönen ist in
dessen subjektivierten Varianten besonders fragil. Diese Hinfälligkeit ist
der Ursprung des ästhetischen Scheins: er lässt sich als das Ineinander von
Aura und Schwund, von Fragilität und ekstatischer Fülle fassen. Diese
Analyse bestätigt sich auch in nachklassischen Transformationen des
solchermaßen subjektivierten Ästhetischen: in der modernen epiphanen
Plötzlichkeit, wie sie theoretisch z. B. von Valéry und Adorno gefasst
wurde. Das Kostbarste sei das Sterbendste, so Georg Simmel. Das Indi-
viduierteste ist das Verletzlichste. In der Verletzlichkeit und Hinfälligkeit
des Schönen wird ein Grundzug der menschlichen Welt sichtbar. Das gilt
im großen Maßstab für die Stilwelten untergegangener Völker, Kulturen
und Epochen: Sie alle, mitsamt ihren Modi ästhetischer Konsubjektivität,
sind endlich und vergänglich.

16 Nach Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Akademie-Ausgabe, Bd. V, Berlin
1908, §§ 26, 27.
406 Teil 2. Ästhetik

(5) Nicht-instrumentelle, in diesem Sinne gewaltlose Verhältnisse sind


konstitutiv für eine menschliche Welt. Auch hier entspricht die Form
ästhetischer Phänomene – von den Rosen bis zur reinen Instrumental-
musik – einem Grundzug der menschlichen Lebenswelt jenseits von
Technik und Herrschaft. Die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, wie sie
der konsubjektiven Vergemeinschaftung eignet, ermöglicht eine ge-
waltlose Kultur kontemplativ-ästhetischen Umgangs, in der die kom-
munikativen Voraussetzungen menschlichen Lebens sinnlich erfahrbar
werden. Sie prägt sich aus im Modus des Spiels. Hier verdichtet sich
erneut die anthropologische, existentielle Dimension ästhetischer Praxis.
Es wird hier eine Emanzipation von den zwanghaften, funktionalen und
instrumentellen Reproduktionsbedingungen des Lebens greifbar, die
Möglichkeit einer zweckfreien Welt und autonomen Lebens, dessen Sinn
in ihm selbst und für sich besteht, und nicht in einem Leben für etwas
anderes. Es ist die auch ethisch relevante Perspektive, dass der Mensch
„ein aus sich selbst rollendes Rad“ (Nietzsche) werden kann – dies wohl
kaum durch zwanghafte Selbstbehauptung. Im Vollzug der ästhetischen
Erfahrung wird gleichzeitig eine Selbsterfahrung der Subjekte im Hori-
zont ihrer Autonomie realisiert. Die zweckfrei individuierte Synthesis
von Sinn und Sinnlichkeit in ästhetischer Kommunikation ermöglicht
eine glückhafte Welterfahrung, in die die Subjekte doch mit ihrer
Endlichkeit und Bedürftigkeit, mit ihrer ungeschmälerten Kontingenz
und Naturhaftigkeit eingehen können. Das ist in theoretischen und
ethischen Kontexten gerade nicht möglich. Das ist der mimetische ber-
schuss ästhetischer Konsubjektivität.
(6) Die Sinnbedingung des Telos- oder Erfllungscharakters des Ästhe-
tischen entspricht auf eminente Weise dem teleologischen Grundzug
einer humanen Welt. Menschen lassen sich nur teleologisch verstehen; als
autonome, praktische Sinnentwürfe ihrer selbst.17 Selbst eine Wüsten-
landschaft mit ihren Qualitäten der Reinheit, Klarheit, Leere, Stille,
Zeitlosigkeit, Weite, Tiefe, der hellen Lichtdurchflutetheit und Endlo-
sigkeit vermag so, im ästhetischen Umgang, kontrafaktisch als eine Er-
füllungsgestalt humaner Bedürftigkeit zu erscheinen. Das ist der mimeti-
sche berschuss kommunikativer Selbsttransparenz der inneren Natur der
Subjekte.

17 Zur Struktur praktischer Sinnentwürfe, vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der
Moralitt. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Frankfurt a.M.
2
1999, 115 – 129.
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? 407

Ziehen wir das Fazit. Es wurde deutlich: In den ästhetischen Er-


fahrungen erfahren wir gleichzeitig die Sinnbedingungen einer
menschlichen Welt. Das ist die einfache Kurzformel. Wir erfahren
sinnlich entscheidende Bedingungen humaner Selbst- und Weltver-
hältnisse. Die konsubjektive Kommunikation und Praxis ist die ästhetisch
ermöglichte Transparenz dieser Sinnbedingungen: eine Transparenz, die
sonst in der Opazität der schwindenden Lebensbewegung dunkel und
verborgen bleibt. Diese Analyse entspricht dem Diktum Goethes: „Wir
wissen von keiner Welt als im Bezug auf den Menschen; wir wollen keine
Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezugs ist.“18 Die Analyse entspricht
dem Diktum Kants, „die schönen Dinge zeigen an, daß der Mensch in
diese Welt passe“.19 Das Wesen dieses „Abdrucks des menschlichen
Weltbezugs“ im Sinne Goethes, dieses „Passens“ im Sinne Kants auf-
zuhellen, war das Ziel unserer Analyse.
Mir scheint ihre Triftigkeit allerdings erst dann vollends deutlich zu
werden, wenn wir sie, auf den Anfang zurückkommend, aus der extremen,
aber geläufigen und unnötigen Subjektivierung und Formalität wieder
befreien, in die sie im Kontext bewusstseinsphilosophischer Ästhetik ge-
raten ist. Fragen wir: „Wie ist eine humane Welt möglich?“, so stoßen wir
auf die kommunikativen und praktischen Modi der Weltkonstitution, die
auch im Bereich der Ästhetik keineswegs subjektiv sind und sich keines-
wegs auf schöne Kunstproduktion im Sinne der Kunstperiode allein be-
ziehen lassen. Diese Modi sind vielmehr durch und durch intersubjektiv
(konsubjektiv), sie sind fundiert in der Lebenswelt und universal auf Ge-
staltung bezogen. Was ist denn der lebensweltliche Ort der Synthesis von
Sinn und Sinnlichkeit, der Ort dieses ästhetischen Miteinanders, der Ort
tiefer Entsprechung und Passung? Dieser Ort ist letzten Endes der
menschliche Leib. Der Leib ist die wahrhaft ekstatische – weit in die Welt

18 Johann Wolfgang v. Goethe, Maximen und Reflexionen, in: Hamburger Ausgabe,


Bd. 12, München 71973, 467.
19 Immanuel Kant, Nachgelassene Reflexion, in: Akademie-Ausgabe, Bd. XVI, Berlin
1924; vgl. dazu: Rüdiger Bubner, sthetische Erfahrung, Frankfurt a.M. 1989,
129. – Hegel formuliert das hier zu Begreifende in seiner sthetik so: „Der
Mensch tut dies, um als freies Subjekt auch der Außenwelt ihre spröde Fremdheit
zu nehmen und in der Gestalt der Dinge nur eine äußere Realität seiner selbst zu
genießen. […] Das allgemeine Gesetz […] besteht darin, daß der Mensch in der
Umgebung der Welt müsse heimisch und zu Hause sein, daß die Individualität in
der Natur und in allen äußeren Verhältnissen müsse eingewohnt und dadurch frei
erscheinen.“, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, sthetik, hg. v. Friedrich Bas-
senge, Berlin 1955, 75 u. 266.
408 Teil 2. Ästhetik

hinausstehende – Mitte der menschlichen Welterfahrung, in der deren


naturaler Grund und deren kommunikatives Wesen sich vereinen und
durchdringen.20 Die sublimierten und subjektivierten Modi der episte-
mischen Rekonstruktion des Ästhetischen erscheinen so, insbesondere bei
Einbeziehung der kulturgenetischen Triebrepressionsanalysen von
Nietzsche und Freud, auch als sublimierte Verdeckung des Leibes und
lebensweltlicher Sinnlichkeit, als deren surrogathafte Verdrängung und
mythische Überhöhung. Hinter dem Unaussprechlichen, Unsagbaren,
auch hinter dem Je ne say quoy, kommt die verdeckte und verdrängte Natur
und Leiblichkeit zum Vorschein, der eigentlich Leibniz mit seinem wo-
genden fundus animae schon recht nahe war. Die entleibte, entmateriali-
sierte ästhetische Kommunikationsgemeinschaft der subjekttheoretischen
Kunstphilosophie stellt aber nur eine extrem partiale Sondervariante des
universalen Gestaltgebungsproblems dar. Insofern sind die metaphysischen
Reklamationen der Universalität des Schönen als einer wahre und gute
Orientierungen integrierenden Ebene bleibend gültig und den bewusst-
seinsphilosophischen Konstrukten in dieser Hinsicht überlegen. Allerdings
ist die universal zu begreifende Problematik der Synthesis von Sinn und
Sinnlichkeit nicht etwa vorab schon ontologisch oder theologisch gelöst,
sondern ein Projekt lebensweltlicher Praxis.
Die von mir so genannte „tiefe“ metaphysische Angemessenheit ist
daher auf die Maß-Tradition zurückzubeziehen. Dann lassen sich alle
analysierten Sinnbedingungen im Kontext praktischer Vernunft neu lesen
und neu interpretieren: als die verantwortliche Gemachtheit unserer ei-
genen Lebensumstände unter Einschluss der Verhässlichung der Welt und
der Unwirtlichkeit der Städte; als die Ganzheit der in natürliche Kreisläufe
eingebetteten Praxis auch des Atmens, des Gehens, der Geschwindigkei-
ten, des Geräuschpegels, des Wohnens, Essens etc.; als die Einmaligkeit
verletzlicher leiblicher Individuen in ihrer Materialität, Naturhaftigkeit
und Endlichkeit; als die Fragilität des durch Alter und Tod bedrohten
Organischen und als der selbstzweckhafte Teloscharakter sinnlich-be-
dürftiger, letztlich kleiner und schwacher Wesen. Der Schwund eines
verbindlichen Verständnisses des Schönen im zu Ende gehenden Jahr-
hundert, die Negativitätsästhetiken und der Leerlauf sich überbietender
Destruktionsbewegungen ist nur die Kehrseite der Aufgabe, dieses Projekt,
das Verhältnis von Schönheit und Lebenswelt – im Blick auf Architektur,
Ökologie und eine praktisch-philosophische Naturästhetik – neu zu for-
mulieren, auf dass „der Mensch in diese Welt passe“.

20 Vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O., 88 – 93, l08 f.
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht
Der Entwurf ist die existentiale
Seinsverfassung des Spielraumes des
faktischen Seinkönnens.
M. Heidegger

1
So, wie wir Menschen und Dinge wahrnehmen, so verhalten wir uns
auch zu ihnen. Meine Analysen betreffen den Kernbereich der Konsti-
tution der menschlichen Praxis. Der Entwurfcharakter des menschlichen
Daseins wurde von Heidegger in seiner ekstatischen Struktur beschrie-
ben. Die Konstitution der lebensweltlichen Horizontbildung bzw. Ho-
rizontvorzeichnung wurde von Husserl wegweisend thematisiert. In
diesen Analysen wird bereits das konstitutiv antizipatorische Moment der
Entwurfspraxis und der Horizontbildung deutlich. Wenn ich einen ap-
petitlichen Apfel sehe, so bin ich mir vorweg ekstatisch (außer mir) beim
Apfel und komme so auf mich zurück in meine jeweilige ganze Le-
benssituation. Die raum-zeitliche Konstitution der Praxis ist ekstatisch-
sinnantizipierend verfasst. Sie hat, auch dies wird deutlich, einen primär
ganzheitlichen Status; wir können Situationen der Horizontbildung und
der Entwurfspraxis nicht in einzelne isolierte Entitäten „an sich“ auf-
spalten, in mich an sich, in den Apfel an sich, in den Anblick des Apfels an
sich etc. Diese sich zeigenden Aspekte sind Sinn-Aspekte des situatio-
nalen Gesamtsinns, der sich uns in den jeweiligen konkreten Lebenssi-
tuationen erschließt, der sich zeigt. Primäre Sinnantizipation und Hori-
zontbildung sind durch einen irreduziblen Holismus minimaler interner
Komplexität konstituiert. (Alle Wissenschaften entstehen durch Re-
duktion, Objektivation und Isolation dieser primären ganzheitlichen
Komplexität.)
Über diese Analyse hinaus muss mit Heidegger und Wittgenstein die
primäre sprachliche Erschlossenheit der Horizontbildung hervorgehoben
werden. Gerade, weil, wie Wittgenstein überzeugend herausarbeitet hat,
sprachliche Bedeutung mit der außersprachlichen Gebrauchspraxis
konstitutiv verklammert ist, wissen wir, was ein Apfel ist und dass das da
vor uns ein Apfel ist, weil wir wissen, wie ein Apfel schmeckt, wie wir mit
410 Teil 2. Ästhetik

Äpfeln umgehen, weil die gesamte Apfelpraxis den Hintergrund und


externen Kontext unserer gegenwärtigen Sinnsituation bildet. Dieser
Befund bestätigt auch die Analyse der vorgängigen Erschlossenheit bei
Heidegger und die der passiven Struktur der intentionalen Horizont-
vorzeichnung bei Husserl: So, wie wir bei der internen Konstitution von
Sinnsituationen nicht vorhandenheitsontologisch von isolierten Entitä-
ten, Gegenständen an sich ausgehen können und dürfen – alle solche
Analysen führen philosophisch und phänomenologisch in die Irre – ge-
nauso dürfen wir beim sprachlichen und nichtsprachlichen äußeren
Horizont nicht vorhandenheitsontologisch von isolierbaren Gegenstän-
den oder vorhandenheitssemantisch von isolierten Bedeutungen – z. B.
einzelner Prädikate wie „Apfel“ ausgehen. Vielmehr ist die pragmatische
Bedeutungskonstitution ganzer Sätze in ganzen Situationen umgeben
und ermöglicht durch die Umgebung eines verdeckt, indirekt gegen-
wärtigen Hintergrundes eines nicht explizit bewussten Vorwissens, eines
Hintergrundes, der passiv die Horizontbildung vorstrukturiert. Übersetzt
in philosophische Schulrichtungen besagt dieser zentrale Aspekt der
Passivität bzw. der Verdecktheit, der Negativität des Hintergrundes, dass,
je entschiedener wir auf der Tatsache der Sinnkonstitution durch
menschliche Praxis insistieren, also je entschiedener wir eine Pragmatik
(bzw. Transzendentalpragmatik) vertreten, wir desto klarer und unab-
weislicher auch die Dimensionen der Hermeneutik in den Blick nehmen
müssen. Denn der sprachliche und nichtsprachliche Hintergrund der
Horizontbildung ist passiv, vorgängig und vorbewusst und kann nur
auslegend explizit gemacht werden. Pragmatik und Hermeneutik stehen
somit selbst in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Pragmatismus,
Hermeneutik und Dialektik bilden so erst zusammen die methodische
Basis einer kritischen Philosophie; die phänomenologischen und
sprachanalytischen Komponenten sind stets einzubeziehen. Da das Ganze
der Sprache und der Praxis nicht objektivierbar ist, gehören tiefenher-
meneutische und ideologiekritische Analysen (in der Tradition von
Marx, Nietzsche, Freud, Heidegger, Wittgenstein, Adorno und Derrida)
notwendig zur Konstitutionsanalyse im weiteren Sinne. Die Grund-
struktur der Verdecktheit und der Negativität der Konstitutionsbedin-
gungen hat Heidegger auf die Formel von der Ferne des Nahen gebracht.
Wittgenstein betont entsprechend, dass die für unsere Weltorientierung
konstitutiven Bedingungen uns nicht auffallen, weil sie in der Alltäg-
lichkeit verborgen sind. Die Alltäglichkeit der Horizontbildung besagt
daher nicht im Mindesten, dass ihre Struktur einer oberflächlichen Be-
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht 411

trachtung offen zugänglich ist und zutage liegt. Ohne Hermeneutik und
Dialektik gibt es daher keine Phänomen- und keine Sprachanalyse.
Bereits die Erfassung und Betonung des pragmatischen, lebenswelt-
lich-praxisbezogenen und des konstitutiv sprachlichen Charakters der
Horizontbildung erlaubt es gegen eine bewusstseinsphilosophisch aus-
gerichtete, an einzelnen Bewusstseinsleistungen bzw. an einem zunächst
isoliert gedachten transzendentalen Subjekt ausgerichtete Analyse ihren
primär sozialen, kommunikativen, intersubjektiven, besser: interexistentiellen,
interpersonalen Charakter zu erkennen. Ein isoliert gedachtes Orientie-
rungssubjekt gelangt nie von sich aus zum isoliert gedachten Apfel,
sondern eingebettet in die gesamte, komplexe Sprach- und Handlungs-
praxis bin ich allererst in die Lage versetzt, den Apfel, seinen Geschmack,
seine Farbe, seinen Duft, seine Konsistenz sinnvoll zu antizipieren. In
unserer Welt, und in unserer gemeinsamen Sprachwelt, sind Äpfel er-
schlossen. Die intersubjektive Konstitution der Horizontbildung ist un-
hintergehbar. Erst auf ihrem material-apriorischen Fundament ist dann
auch eine individuelle Entwurfspraxis möglich (und stets nötig). Zum
Beispiel beruht die Höchstform subjektiver Gestaltungs- und Aus-
drucksfähigkeit bei einem Komponisten wie Schubert eben gerade nicht
auf bloß subjektivistischen Intuitionen, sondern auf der gesamten kom-
plexen, hochgradig vorkonstituierten Kompositionstechnik der klassi-
schen Wiener Schule, der Sonatenhauptsatzform und der intersubjektiv
konstituierten Öffentlichkeit der Aufführungspraxis vom frühen Haydn
bis zum späten Beethoven. Gleiches gilt für alle Künste und für die Ar-
chitektur.
Im Folgenden will ich die Analyse der Horizontbildung und der
Entwurfspraxis noch vertiefen, indem ich die aufgewiesenen Struktur-
momente der ekstatischen Sinnantizipation, des irreduziblen qualitativen
Holismus, der konstitutiven Negativität des Hintergrundes und der
Passivität, der primär sprachlichen Erschlossenheit und der sozial-kom-
munikativen, intersubjektiven Konstitution (vor aller Privatheit) um
weitere notwendige Strukturmomente ergänze. Die Analysen sind gegen
reduktionistische, szientistische, theoretizistische Auffassungen von un-
serem Welt- und Selbstverhältnis gerichtet, Auffassungen, die vorhan-
denheitsontologisch bzw. vorhandenheitssemantisch unsere Sicht auf die
lebensweltliche Praxis verstellen und vergessen und die letztlich von einer
dualistischen Ontologie von Subjekt und Objekt bzw. Subjekt und
Subjekt oder von einer Referenzsemantik des Abbildverhältnisses von
sprachlichen Unterscheidungen und vorhandenen Dingen ausgeht, d. h.:
von einer verdinglichten, verfallenen Ontologie, die allerdings viele
412 Teil 2. Ästhetik

theoretische und damit auch alltägliche Verständnisse unserer Praxis noch


tiefgreifend prägt.
Folgende Strukturmomente müssen im Blick auf die Konstitution der
menschlichen Praxis und der Horizontbildung noch freigelegt werden:
Es ist erstens das normativ-ethische Moment der Sinnantizipation, es ist
zweitens die primär leiblich-materielle Konstitution der Horizontbildung,
es ist schließlich drittens ihre konstitutiv situativ-individuierte, individuelle
Struktur. Erst die Berücksichtigung aller Strukturmomente kann uns das
Phänomen bzw. Urphänomen wirklich angemessen erschließen, denn
die Strukturmomente sind gleichursprnglich (äquiprimordial: d. h., sie sind
irreduzibel aufeinander, unableitbar von einander und nur mit und
wechselseitig durch einander verstehbar). Erst wenn wir alle gleichur-
sprünglichen Strukturmomente berücksichtigen, wird unsere Urteilskraft
so orientiert, dass wir eine theoretische Reflexion der lebensweltlichen
Praxis (auch des Bauens und Wohnens) unverstellt leisten können. Ich
werde zu diesem Zweck in einem zweiten Schritt paradigmatische
Analysen und Bezüge zur Horizontbildung und zur Entwurfspraxis
vorstellen, um meinen Ansatz geschichtlich zu verdeutlichen und zu
veranschaulichen. In einem dritten Schritt werde ich kurz die Thematik
der urbanen Landschaft in die Analyse einbeziehen.

2
Die paradigmatischen Analysen und Bezüge dienen auch der kontrastiven
Erläuterung und kulturellen Kontextualisierung meiner Überlegungen.
Sie sollen Horizontbildung und ihre theoretische Thematisierung
gleichzeitig in den Blick nehmen. Die Bemerkungen können in unserem
Rahmen nur kurz Aspekte skizzieren. Dennoch sollen sie auch so etwas
wie eine modellhafte Ultrakurzgeschichte der Horizontbildung darstel-
len, eine Geschichte, die eben bis zu unserer gegenwärtigen Frage- und
Orientierungssituation führt.
Ein erster Bezug ist der auf die Urgeschichte der Menschheit. In
seinen Untersuchungen zu einer philosophischen Biologie, die 1973
unter dem Titel Organismus und Freiheit auf deutsch erschienen, hat Hans
Jonas die urmenschliche Höhlenmalerei zum Ausgangspunkt seiner
Analysen der „Freiheit des Bildens“ gemacht. Der Mensch ist für ihn, wie
für Cassirer, animal symbolicum, Bilder entwerfendes und so sich aus, in
und durch sie verstehendes Wesen. In der Bildentwurfspraxis verdichten
sich bereits in den frühesten Zeugnissen der Menschheitsfrühgeschichte
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht 413

die Aspekte von Freiheit und Sinn: menschliches Handeln ist ein freies
Fortsetzen nicht-festlegender Anfänge von bewusstem, verstehbarem
Sinn. Horizontbildung setzt imaginative Freiheit voraus. Diese vermag
sich von den Gegenständen zunehmend abzuheben und zu eigenstän-
diger Gestaltgebung überzugehen. Das Bewusstsein der Differenz des
Entwerfenden selbst vom entworfenen Sinn wie auch von der gegen-
ständlichen Wirklichkeit der Außenwelt muss dabei bereits ausgebildet
sein, und damit der entscheidende Schritt zur Menschwerdung durch
Sprache, Freiheit und Sinnorientierung. „Der Nachschöpfer von Dingen
ist […] potentiell auch der Schöpfer neuer Dinge […]. Die erste vor-
sätzlich gezogene Linie erschließt jene Dimension von Freiheit“, die „als
ganze“ „die aktuelle Wirklichkeit“ „transzendiert“ und ein „Feld un-
endlicher Variation als ein Reich des Möglichen“ eröffnet, „das vom
Menschen wahrgemacht werden kann nach seiner Wahl.“1 Dabei ist der
praktische Bild- und Sinnentwurf nach Jonas gerade mit der leiblich-
sinnlichen Basis der Konstitution verklammert: das transanimalische,
einzigartige menschliche Urphänomen der eidetischen Kontrolle der
Motilität (der Muskeltätigkeit) „regiert nicht von festen Reiz-Reakti-
onsschemata, sondern von freigewählter, imaginierter und vorsätzlich
projizierter Form.“2 Dies gilt für das Malen, für das Tanzen, wie später für
das Sprechen, Hören und Schreiben. „Die eidetische Kontrolle der
Motilität, mit ihrer Freiheit äußerer Ausführung, ergänzt so die eidetische
Kontrolle der Imagination, mit ihrer Freiheit inneren Entwerfens. Ohne
die letztere gäbe es kein rationales Vermögen, aber ohne die erste wäre
sein Besitz umsonst, weil wirkungslos. Beide zusammen ermöglichen die
Freiheit des Menschen. Homo pictor, der beide in einer anschaulichen,
unteilbaren Evidenz zum Ausdruck bringt, bezeichnet den Punkt, an dem
homo faber und homo sapiens verbunden sind – ja, in dem sie sich als ein
und derselbe erweisen.“3 So konzentriert der Bildentwurf eines Büffels,
den der vorzeitliche Jäger an die Höhlenwand zeichnete, in seiner Ab-
breviatur noch einmal dessen Welt und ihren lebensweltlichen Sinnho-
rizont.
Horizontvorzeichnung mit lebensweltlich-praktischem Fundament
erschließt uns somit in gewisser Weise den Zugang zum Zentrum der

1 Hans Jonas, „Homo pictor: Von der Freiheit des Bildens“, in: ders., Organismus
und Freiheit. Anstze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, 226 – 257,
dort 243.
2 Ebd., 244.
3 Vgl., ebd.
414 Teil 2. Ästhetik

menschlichen Welt. Das wird auch am zweiten Paradigma der Hori-


zontvorzeichnung deutlich. Das babylonische Weltschöpfungsepos
Enuma Eliš geht auf die ältere sumerische Mythologie zurück. In ihr ist die
Vorstellung vom kosmischen Baum, der Erde und Himmel verbindet,
besonders wichtig. Dieser kosmische Baum oder Pfahl, der die irdische
mit der göttlichen Welt zusammenhält, wurde z. B. im Ningirsu-Tempel
gesehen, der sich wie der Baum gisch-gana über dem Urabgrund und
über alle Länder erhebt. Am Tor des Tempels steht wiederum ein Pfahl,
der bis in den Himmel reicht. Der Tempel von Lagasch wurde der große
Mast des Landes Sumer genannt. In Nippur, der heiligen Stadt Sumers, in
der Enlil, der große Gott des Landes, seinen Sitz hat, heißt der Stufen-
turm, das kosmische Symbol, Duranki, Band zwischen Himmel und
Erde, und in dieser Bezeichnung findet sich wieder die Vorstellung des
verbindenden Pfahls, Baums oder Tempels, der die irdische Welt mit dem
Reich der Götter in Kommunikation setzt. Zeichnen wir einige Etappen
des babylonischen Schöpfermythos Enuma Eliš nach und geben dann eine
Skizze des gesamten Systems der babylonischen Welt. Der Mythos4 be-
ginnt:
Als droben der Himmel noch nicht genannt war,
unten die Erde noch keinen Namen hatte […]
Dahinter steht die sumerisch-babylonische Vorstellung: Das, was noch
keinen Namen hat, das gibt es nicht. Es gibt am Anfang noch keine
Unterscheidung von oben und unten. Was es gibt, ist die Ursubstanz
Wasser sowie zwei Mächte: die weibliche Thiamat und den männlichen
Anzu. Am Anfang der Dinge sind die Süßwasser (Anzu) und die bitteren
Wasser der Thiamat (des Meeres) miteinander vermischt. Aus der un-
geschiedenen Urflut, die zeugungsfähig ist, gehen Götterpaare hervor:
Zunächst treten Lahmu und Lahama auf: dieses Urpaar bedeutet die
Rumlichkeit und die Spannung der Gegenden; sie ist als Potenz, als
vorschlagende Mächtigkeit gedacht. Ihre Kinder sind Anschar und Ki-
schar. An und ki bedeuten Himmel und Erde. Aber Anschar und Kischar

4 Vgl. zum Folgenden meinen Aufsatz „Was ist eine Welt? Bermerkungen zum
Verhältnis von Philosophie und Weltanschauung“, in: Johannes Rohbeck (Hg.),
Philosophie und Weltanschauung, Dresden 1999, 49 – 65 sowie Texte aus dem
Enuma Elisch, in: Die Schçpfungsmythen. gypter, Sumerer, Hurriter, Hethiter,
Kanaaniter und Israeliten., Darmstadt 1980, 134 ff. Dazu: Carmen Blacker/ Mi-
chael Loewe (Hg.), Weltformeln der Frhzeit. Die Kosmologien der alten Kulturvçlker,
Düsseldorf, Köln 1977 sowie: Hubertus Halbfas, Das Welthaus. Ein religionsge-
schichtliches Lesebuch, Stuttgart 1983.
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht 415

sind das vorgängige Oben (männlich) und Unten (weiblich). Aus ihnen
entspringen zwei Zeiten, die himmlische und die irdische. Außerdem geht
aus Anschar Anu, der Himmelsgott, hervor. Dieser schafft den Urhim-
mel, und sein Sohn Enki den kosmischen Urabgrund, auf dem alles ruht.
Am Busen dieses Abgrunds wird Marduk geboren, der göttliche Cha-
oskämpfer. In einem Kampf vornehmlich gegen Thiamat (das Urmeer)
und ihre Chaosmächte ordnet Marduk den Kosmos endgültig. Auf dem
Leichnam der Thiamat wird die Erde gegründet: auf ihrem Haupt erhebt
sich ein Berg, aus ihren Augen entspringen Tigris und Euphrat, auf ihrem
Busen stehen üppige Hügel. Marduk lässt nun Anu, Anlil (den Windgott)
und Enki ihre Plätze einnehmen. Dann schafft Marduk die Menschen aus
dem Blut eines geopferten Gottes, und zwar, damit ihnen
der Dienst der Götter zufalle, damit diese ruhen können […]
auf dass der Dienst der Götter ihr Los sei auf immer.
Das System der babylonischen Welt sieht jetzt vereinfacht so aus:

Anu-Himmel

Enlil (Wind- und Erdgott)

Erdscheibe
Weltberg
(Tempel E-Anna, Haus des Himmels)

Enki-Bereich
(kosmischer Urabgrund)

Das Land ohne Umkehr,


die Erde ohne Wiederkehr,
die Stadt der sieben Mauern
(Herrschaftsbereich der
Totengottheit)

Der Weltberg ist der Tempel in Uruk, er hat die gleiche Bedeutung wie
der Weltbaum oder Weltpfahl der Sumerer, die wir oben erläutert haben.
In weiteren Mythen werden die Einsetzung und die Funktionen der
Königs und der Priester und die einzelnen Rituale festgelegt. In diesem
4000 Jahre alten Weltentwurf gibt es eine genaue Entsprechung des
416 Teil 2. Ästhetik

Naturkosmos (vom Gestirnlauf über die Jahreszeiten bis zu den tierischen


Wurfzeiten), des Sozialkosmos (Staats- und Rechtsordnung) und des
Individualkosmos. Der Gott Enlil hält mit demselben Netz die Chaos-
mächte in Bann, mit dem er die Rechtsbrecher fängt. Diese Welt ist
Inbegriff aller Daseinsbezüge des Menschen. Sie ist gegründeter Kosmos
und Existenzgründung von Gesellschaft und Individuum zugleich. Und
der Mythos ist Zeugnis und Beglaubigung, Stiftung und Bestätigung
dieser Welt- und Existenzgründung. Dieses babylonische Weltbild ist
keine geographische Karte. Der Mensch wird in dieser mythischen
Weltordnung der frühen Kulturen umfassend in einen übergreifenden,
sinnvollen Gesamtentwurf eingefügt. Der Philosoph Helmuth Plessner
hat von der konstitutiven Ortlosigkeit des Menschen gesprochen. Er nennt
diese Ortlosigkeit auch Exzentrizität bzw. exzentrische Position. „Das
Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht
als Mitte. Es erlebt Inhalte im Umfeld […], aber es erlebt nicht – sich“5,
denn die Mitte seines Daseins bleibt dem Tier verborgen. Der Mensch
erlebt sich als Mitte und ist darum gleichzeitig über sie hinaus – exzen-
trisch. Darum, weil er über sich immer schon hinaus sein muss, ist der
Mensch nach Plessner nirgendwo zuhause: Seiner selbst und seiner
Nichtigkeit bewusst, muss der Mensch sich ein Zentrum, einen Halt,
einen Ort immer neu erst schaffen. Die Weltentwürfe der frühen
Hochkulturen der etwa 10000jährigen Agrarperiode der Menschheits-
geschichte bestätigen dieses Bedürfnis nach Zentrierung.
Wir sahen bereits an den sumerischen und babylonischen Weltpfahl-
bzw. Weltbaumvorstellungen, wie stark die mythische Intention darauf
abzielt, eine solche kosmische, soziale und existentielle Zentrierung zu
erreichen. Dies ist ein Spezifikum, das weltweit und durch die Zeiten
hindurch feststellbar ist. Die Kulturen der 10000jhrigen Agrarperiode sind
weltweit von einem Bedrfnis nach Getragenheit und Geborgenheit geprgt. Sie
alle streben in ihren mythischen Entwürfen den Weltmittelpunkt an. Dieser
Mittelpunkt erscheint als Weltachse, Weltzentrum, Allmittelpunkt,
Weltnabel, als Weltbaum, oder auch als Kirchturmspitze im Dorf. Eines
der grandiosen Beispiele sind die Pyramiden. Sie sind Wohnbauten, der
Tote lebt in ihnen. Und sie sind auch Weltmittelpunktsbauten:
Schrumpfen die Nilufer zusammen, verwehen rechts und links die tro-
ckenen Felder, droht alles auf dem tiefsten Punkt der Ebbe zu ersterben,
dann nimmt der Pulsschlag des Flusses wieder zu und bedeckt in aus-

5 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die
philosophische Anthropologie, New York/Berlin 1975, 288.
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht 417

gedehnt flacher Strömung lebloses Ödland wieder mit fruchtbarem


Schlamm. Die triumphale tägliche Wiedergeburt der Sonne bringt durch
Trocknung die ersten Boten des Sieges über den Tod hervor: Vereinzelt
tauchen Erdkuppen aus der sinkenden Überschwemmung auf. Sie heißen
„Pracht der Erscheinung“. Von ihnen nimmt die Schöpfung ihren Ur-
sprung. Mehr und mehr Fruchtland wird sichtbar. Diesen kosmischen
Schöpfungsakt wiederholen die Erbauer der Pyramiden. Lässt sich das
Leben des Menschen auch nicht wieder herstellen, so doch dadurch
„wieder erschaffen“, dass die kosmische Urschöpfung auf Dauer gestellt
wird. Die Pyramide ist ein stilisierter Urhügel. Ihre Seiten entsprechen
den vier Weltquadranten. Das Licht des Polarsternes, der „nichts von
Ermattung“ weiß, weil er nicht unter dem Horizont verschwindet, fällt in
die Hauptöffnung. Die Strahlen des Sirius, der die Nilüberflutung an-
kündigt, scheinen bis tief in das königliche Gemach hinein: es gibt keine
bessere Wohnung für den Toten als inmitten dieses Schöpfungshügels,
der den ursprünglichen Augenblick des Weltanfangs architektonisch
vergegenwärtigt. „Im Herzen der Wirklichkeit“ weilt, wer in der Py-
ramide „lebt“. Keine Pyramide als solch ein mythischer Urhügel liegt im
kartographischen Raum. Der mythische Weltbeginn nimmt ebenso auch
keine datierbare Zeitstelle ein. Darum liegen die heiligen Wohnungen
der Pharaonen alle in dem einen Weltzentrum. Durch den mythischen
Raum wird die bleibende, mythische Zeit Gegenwart und eine Welt mit
ihrem Zentrum wird gegründet. Dies ist ein weltweites Phänomen: es gilt
von den altamerikanischen Tempelpyramiden, deren Vorläufer ge-
wachsene runde, durch Steinmassen oder Stuckmäntel zusammenge-
haltene Weltzentren sind. Es gilt von chinesischen Totenhausurnen, es
gilt vom Anspruch Chinas, das „Land der Mitte“ zu sein. Die indische
Weltsäule skambha steht im Zentrum der Welt. Der Mittelpfosten ist die
Weltachse in den Wohnungen der primitivsten arktischen und nord-
amerikanischen Behausungen und in den Hirtenhütten Zentralasiens.
Die oben ausgesparte Öffnung ist nicht nur Rauchabzug. Sie gibt die
Sicht auf den Polarstern, den „Weltnagel“, frei. Bei Opferfeiern wird der
Weltbaum in die Jurte gebracht, der mit seinen sieben Ästen, den sieben
Himmelssphären, aus der Öffnung herausragt. Es werden Weltsäulen
errichtet, die bei den Mongolen „goldene Pfeiler“ heißen. Bei den
Ostjaken werden diesen Holzpfählen Schlachtopfer gebracht. Bevor in
Indien auch nur ein Stein gelegt wird, bezeichnet der Astrologe den
Punkt der Grundsteinlegung, der sich über der die Welt tragenden
Erdschlange befindet. Der Maurermeister schneidet dann im Wald einen
Pfahl, rammt ihn in den Boden, genau an dem bezeichneten Punkt, damit
418 Teil 2. Ästhetik

der Kopf der Schlange gut festgehalten wird. Um in der Welt als der
sinnhaften Gesamtwirklichkeit heimisch zu wohnen, baut man sich in ihr
Zentrum ein. Es ist ersichtlich, dass an diesem weltgeschichtlich vielleicht
bedeutendsten bisherigen Paradigma von Weltentwurf und Horizont-
vorzeichnung die Strukturmomente der ekstatischen, rückwirkenden
Sinnantizipation, des irreduziblen qualitativen Holismus, der sinnkon-
stitutiven Negativität und Passivität (also das Eingelassensein in die in der
Horizontbildung vergegenwärtigten natürlichen, kosmischen Bezüge),
die Momente der sprachlichen Erschlossenheit und der sozial-kommu-
nikativen, intersubjektiven Konstitution ebenso aufweisbar sind wie das
normativ-ethische Moment, das leiblich-materielle und das situativ-in-
dividuierte.
In einem dritten Paradigma beziehe ich mich auf Vastu, die indische
Lehre vom guten Bauen und Wohnen.6 Die hinduistischen Bauten sollen
die kosmische Ordnung vergegenwärtigen. Der Architekt wird als Arzt
verstanden. Entscheidend ist, dass das Wesen der Technik in dieser Tradition
nichts Technisches ist, sondern dass die Bautechniken auf Weisheitstradi-
tionen aufruhen. Es geht bei dieser Baukunde um das Einwohnen in einer
Totalität in rechter, guter, gesunder Balance. Die in diesem Horizont-
entwurf vorgezeichnete Totalität wird aus den fünf Basis-Elementen
Wasser, Feuer, Luft, Himmel und Erde gebildet. Die Prinzipien der Lehre
haben einen klaren Lebensform-Praxisbezug: Orientierung, Situierung,
Proportionalisierung und maßvolle Gestaltung, schließlich Schönheits-
aspekte sind leitend. Raum und Zeit sind in diesem Horizontentwurf keine
entleerten Anschauungsformen, sie sind Lebensformen – wie auch in den
altorientalischen Weltbauten. In der indischen Baukunst mit ihrer
5000 Jahre alten Tradition wird eine qualitative Raumzeit mit konkretem
Bezug auf gelingende Lebenspraxis konzipiert. Im Maß, begriffen als
„Frieden und Segen“, wird so eine Einheit von Mensch und Natur, von
Geist und Leben in Gestalt einer integralen Biologie angestrebt. Der
Hausbau ist ein religiöser Akt. Es lässt sich nun, so die These der Dis-
sertation, zeigen, dass sich die Ansätze des Vastu mit dem modernen
Konzept des sustainable development verbinden lassen, auch ohne be-

6 Ich betreute vor einiger Zeit mit meinem Kollegen Bernhard Irrgang die phi-
losophische Dissertation einer Inderin, Reena Patra, an unserem Institut: Vastu
Shastra. An old Indian Technical Philosophy (Diss. TU Dresden 2003); vgl. auch:
Birgit Frohn/ Hans-Heinrich Rhyner, Vastu. Die indische Lehre vom gesunden
Bauen und Wohnen, München 1999 sowie Arun Kumar Tripathi, „Menschliche
Leiblichkeit und das Prinzip von Vastu Purusha Mandala“, in: Ausdruck und
Gebrauch 5, Heft II (2004) 41 – 48.
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht 419

stimmte astrologische Vorstellungen zu übernehmen, die für den Hin-


duismus leitend sind. Angesichts moderner Verluste von Totalität,
Ganzheit und Harmonie durch Fragmentierung und Entfremdung ist der
integrale Horizontentwurf des Vastu jedoch auf neue Weise interessant.
Es geht um einfache und pragmatische Maße, die eine holistische Inte-
gration der (fünf) Elemente der Natur mit Raum, Menschheit und Zeit
gestatten. Im Vergleich mit einer vorhandenheitsontologischen Welt-
reduktion sind solche traditionellen Horizontentwürfe lebenspraktisch
viel reicher. Vielleicht gelingt es heute auch interkulturell, die Weisheit
der Tradition mit dem Wissen von heute produktiv zu verbinden, ohne
die Vergangenheit zu romantisieren oder die Aufklärung rückgängig zu
machen. (Ob Vitruv Kenntnis von indischer Lehrtradition und dem
Manasara des Wishwakarma hatte, wie einige vermuten, wäre natürlich
interessant zu wissen.) 7
Die Zeit gestattet es nicht, ein viertes, unser eigenes europäisches
Paradigma der mittelalterlichen Ordo-Metaphysik, zu behandeln. Die
hier in den Großsystemen vergegenwärtigte Horizontvorzeichnung ist
die einer Metaphysik als Grammatik der Lebenswelt und einer exis-
tenzbezogenen Ethik, in der Kosmologie, Ontologie, Theologie,
Axiologie und Logik auf einander bezogen werden. Damit interpretiert
die mittelalterliche Ordo-Metaphysik auf ihre Weise die bereits aufge-
wiesenen Strukturmomente.
In einem fünften Paradigma wird die ontologische und kosmologi-
sche Vergegenwärtigung der Struktur der lebensweltlichen Horizont-
bildung bewusstseinsphilosophisch bzw. transzendentalphilosophisch
subjektiviert und verinnerlicht, ohne ihre Strukturmomente einzubüßen.
Es ist nun bezeichnend für unsere Thematik, dass die volle Struktur weder
in der theoretischen noch in der praktischen Philosophie freigelegt wird,
sondern in der Ästhetik und mit Bezug auf die Einbildungskraft und die
Urteilskraft. In Kants Analyse der ästhetischen Einbildungskraft finden
sich die Strukturmomente der Horizontvorzeichnung: die Sinn- und
Erfüllungsantizipation, die antizipierte Ganzheitlichkeit, die Selbst-
zweckhaftigkeit, die individuierte Einzigartigkeit, die qualitativ er-
schlossene Raumzeitlichkeit und die kommunikative Selbsttransparenz
der inneren Natur der Menschen vereint in der Erfahrung des Schönen.
Der kreative Entwurfcharakter ist geradezu das proprium der produktiven

7 Vgl. dazu Frohn/Rhyner, a.a.O., 194 ff.


420 Teil 2. Ästhetik

Einbildungskraft. Er zielt auf erfüllte Gegenwart und sinnhafte Lebens-


ganzheit.8

3
Es geht meines Erachtens darum, die bleibende Gültigkeit der traditio-
nellen Paradigmen der Horizontbildung zu retten, indem wir sie aus ihren
ontologisch-objektivistischen und ontologisch-subjektivistischen Vor-
aussetzungen lösen, indem wir ihren Alltags- und Lebensbezug begreifen
und neu begreifen. In aller Alltäglichkeit nämlich praktizieren wir die
horizontbildenden Sinnentwürfe, die einst mythisch, metaphysisch bzw.
transzendentalphilosophisch vergegenwärtigt wurden. Die Sinnentwürfe
entfalten sich aufgrund der kreativen Potentiale der menschlichen Ein-
bildungs- und Antizipationskraft sprachlich, bildlich und technisch-
praktisch in unüberschaubarem Gestaltungsreichtum, sowohl diachron
wie synchron. Die Gestaltungsfreiheit und die Offenheit der Formgebung
über jeden Funktionalismus hinaus hat hier ihren Ursprung. Einerseits
sind Horizontvorzeichnung wie auch Gestaltgebung notwendig. Deswe-
gen kann man mit Husserl von dieser Notwendigkeit als von der Passivität
der Synthesis sprechen. In allen bereits elementaren Wahrnehmungs- und
Orientierungssituationen ist die Horizontbildung fr unsere Lebenspraxis sinn-
konstitutiv. 9 Eine menschliche Welt ist unmöglich ohne leiblich-zeitlich-
räumliche, sinnliche Horizontbildung, die einen gleichursprünglich-
ekstatischen Charakter besitzt. In diese vorprädikative Horizontbildung
ist auch die sprachliche Horizontbildung, die an der Basis in ganzen
Sätzen erfolgt, eingebettet. Wir müssen unsere Horizonte vorzeichnen
und kommen so aus der Zukunft auf uns zurück in die schon erschlossene
Gegenwärtigkeit. Aber wie wir bewusst gestalten und formen, dies ist in
Grenzen offen. Wir mssen unserer Welt, unseren Wohnungen, Häusern,
Städten und Gebrauchsgegenständen Form geben; aber das Wie ist in
Grenzen unbestimmt und offen.10 Für die gegenwärtige Reflexionssi-
tuation der Philosophie ist es nötig und möglich, künstliche Schein-
Oppositionen von Technik und Praxis, Wissenschaft und Kultur, Tra-

8 Vgl. Thomas Rentsch, „Strukturen ästhetischer Erfahrung“, in diesem Band.


9 Vgl. Thomas Rentsch. „Phänomenologie als methodische Praxis. Didaktische
Potentiale der phänomenologischen Methode“, in: Johannes Rohbeck (Hg.),
Denkstile der Philosophie, Dresden 2002, 11 – 28.
10 Vgl. Thomas Rentsch, „Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? Zum
Zusammenhang von Schönheit, Metaphysik und Lebenswelt“, in diesem Band.
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht 421

dition und Moderne zu überwinden. Wir können, das ist mein Ziel,
gerade so einen interkulturellen und intrakulturellen Gradualismus und
Differentialismus des Sinns der bewussten Entwurfspraxen auf letztlich
lebensweltlichem Fundament erreichen. Das universale lebensweltlich-
alltägliche Fundament der Horizontbildung und der Einbildungskraft ist
der menschliche Leib als der Ort der Synthese von Sinn und Sinnlichkeit.
Leiblich entwerfen und leben, leiblich gestalten, sprechen und wohnen
wir. Der Leib ist die wahrhaft ekstatische Mitte der menschlichen
Welterfahrung, in der deren Naturgrund und deren kommunikatives
Wesen sich vereinen und durchdringen. Die sublimierten und subjek-
tivierten Modi der epistemischen Rekonstruktion der Horizontbildung
in Transzendentalphilosophie, klassischer Phänomenologie und
Sprachanalyse erscheinen so noch als Verdeckungen des Leibes und der
lebensweltlichen Sinnlichkeit. In ihr hat das Bauen und Wohnen und
unser gesamtes Entwerfen und Gestalten seinen bleibenden Bezugspunkt.
Die Theorien der Subjektivität sind ebenso lebensweltentfremdet und
verkopft, wie auf ihre Weise die ontologisch-metaphysischen Theorien,
wenn wir sie objektivistisch verstehen. Auch die subjekttheoretischen
Ästhetiken der klassischen wie modernen Kunstentwicklung stellen nur
eine extrem partiale Sondervariante des in Wirklichkeit universalen
Gestaltgebungsproblems dar. Im Blick auf den fundamentalen Aspekt
ihrer lebensweltlichen Bedeutung müssen die Horizontbildung, die
Gestaltgebung und die Entwürfe neu gedacht werden im Kontext
praktischer Vernunft: als die verantwortliche Gemachtheit unserer ei-
genen Lebensumstände unter Einschluss der Verhässlichung der Welt und
der Unwirtlichkeit der Städte; als die Ganzheit der in natürliche Kreis-
läufe eingebetteten Praxis auch des Atmens, des Gehens, der Ge-
schwindigkeit, des Geräuschpegels, des Wohnens und Essens; als die
Einmaligkeit und Kostbarkeit verletzlicher leiblicher Individuen in ihrer
Naturhaftigkeit, Materialität und Endlichkeit, als die Fragilität des durch
Alter und Tod bedrohten organischen Lebens und als der selbstzweck-
hafte Teloscharakter sinnlich-bedürftiger, endlicher, Sinn und Erfüllung
antizipierender Wesen. Auf diese Weise würden sowohl subjektivistische
wie auch objektivistische, verdinglichte und reduktionistische Weltver-
ständnisse gesprengt. Der praktische Kontext der lebenssinnkonstitutiven
Horizontbildung kann für das Zwischen sensibilisieren, für das Inmitten
422 Teil 2. Ästhetik

von Natur und Kultur, von Negativität und Vernunft, das wir in
Wahrheit selber sind.11
Das Wohnen in der Zwischenstadt, im städtisch-landschaftlichen
Gebiet, kann demnach als konkretes Paradigma einer faktischen und zu
gestaltenden Lebenswirklichkeit begriffen werden, an dem Exzentrizität
und Re-Integration als Lebensform anschaulich werden. Die hier ge-
nuine Horizontbildung im Rahmen einer Grammatik des Randes, wie sie
Achim Hahn analysiert hat, bestätigt die Strukturmomente, die ich auf-
gewiesen habe, konkret.12 Es ließe sich so ein für die Moderne ein-
schlägiges, integratives, sowohl konstruktives wie mimetisches Paradigma des
Wohnens und des Lebens in der humanen Welt denken und entwerfen.
Es geht schließlich darum, ich will es abschließend mit Heidegger for-
mulieren, dass wir endlich heimisch werden in der Endlichkeit, da
nämlich, wo wir längst schon waren und eigentlich nur sind.

11 Vgl. Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000,
v. a. 9 – 29.
12 Vgl. dazu Achim Hahn/Michael Steinbusch, „Biographisch-räumliche Wan-
derung und das ,gute Leben’, in: Raumplanung 91 (August 2000) 191 – 196;
Achim Hahn, „Lebenswelten am Rand. Interpretationen zum kulturellen
Ausdruck von Wohnsuburbanisierung“, in: Brake u. a. (Hg.), Suburbanisierung in
Deutschland. Opladen 2001, 223 – 233.
Thesen zur philosophischen Metaphorologie
Ce qui n’est pas ineffable
n’a aucune importance
Valry
Zur Rede von der philosophischen Metaphorologie
Zunächst möchte ich vorschlagen, den Begriff „Metapher“ in einem
engeren, den Begriff „Bild“ in einem weiteren und fundamentaleren
Sinne zu verstehen, der gleich erläutert wird. Der Disziplinentitel
„philosophische Metaphorologie“ verdeckt bei Blumenberg diese Un-
terscheidung. Wissenschaftspolitische Gründe waren wohl dafür aus-
schlaggebend. Auch die angelsächsische Diskussion – etwa seit Mary
Hesse – verwendet „Metaphorologie“ ebenfalls in Zusammenhängen, in
denen weit besser von Bildern, Modellen oder auch von Paradigmen die
Rede sein könnte. Dann könnte man die harmlosen Metaphern-Fälle und
die ihnen entsprechenden Theorien (etwa Searle, mit Ausnahme seiner
Zeit-Beispiele) wieder auf sich beruhen lassen. Es ist klar, warum der Titel
gewählt wurde, denn „philosophische Symbolik“ bzw. „Philosophie der
symbolischen Formen“ sind antiquiert, und „Philosophie der Bilder“ o. ä.
klingt zu schwächlich.

Welche Fragen sollen durch die philosophische Metaphorologie


geklärt werden?
Im Folgenden geht es um Blumenbergs Arbeiten und um das, was er
absolute Metaphern nennt. Es soll gezeigt werden, was sie im Wesent-
lichen systematisch sind, und wie sie gebraucht werden. Die Klärung
dieser Fragen fällt zusammen in der Frage, warum sie gebraucht werden
müssen.
Blumenberg und Kant
Blumenberg selbst hebt hervor, dass das, was er unter absoluten Meta-
phern versteht, im Wesentlichen dem Kantschen Symbolverständnis
entspricht. Dieses Verständnis erläutert einschlägig der § 59 der Kritik der
Urteilskraft, indem er für die Versinnlichung von Vernunftideen den
Begriff der symbolischen analogischen Hypotypose (Darstellung, expo-
sitio im Unterschied zur schematischen Hypotypose zur Darstellung von
424 Teil 2. Ästhetik

Verstandesbegriffen) einführt. Diese geben keine adäquate Anschauung


(wie dies für empirische Begriffe durch Beispiele, für Verstandesbegriffe
durch Verfahren [Schemata] möglich ist), sondern unterlegen der Idee
eine Vorstellung, die mit ihr nichts Inhaltliches, sondern nur die Form der
Reflexion gemeinsam hat. Auf diese Weise findet eine indirekte analoge
Darstellung statt. Kant nennt als Beispiel etwa „Grund“, „Basis“, „Ab-
hängen“ und „Substanz“ als „Träger“ der Akzidentien. Kant nennt also
bereits auch philosophische Beispiele: Philosophische Grundunter-
scheidungen, von denen andere abhängen; und auch die Theologie
jenseits von Anthropomorphismus und Deismus (=Vermenschlichung
bzw. „Super-causa“) kann in diesem Sinne nur symbolisch sein.1

Die praktische Funktion der absoluten Metapher


(Kant und Wittgenstein): Bedeutung und Gebrauch
Blumenberg unterstreicht, dass bei Kant die absolute Metapher bzw. die
symbolische Hypotypose einspringt, indem eine „Übertragung der Re-
flexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern
Begriff (erfolgt), dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespon-
dieren kann“.2 In diesem Zusammenhang erhält die absolute Metapher
(das Symbol) eine praktische Funktion. Gefragt werden kann also nicht
etwa – und ich interpretiere Kant hier mit Wittgenstein –: Welche
Wirklichkeit steht – theoretisch erfassbar – hinter der absoluten Meta-
pher, hinter der symbolischen Hypotypose, welche Tatsache(n) in der
Welt bildet sie ab, die der Fall sein müssten, damit die absolute Metapher
zutrifft. Wir können sie nicht mit etwas außerhalb ihrer vergleichen, mit
dem „Eigentlichen“, mit „der Wirklichkeit“, die sie „abbildet“. Sie bildet
also nichts ab, sondern hat ihre Bedeutung im Gebrauch. Blumenberg arti-
kuliert das und versteht Kant so, dass die absolute Metapher „deutlich
charakterisiert [ist] als Modell in pragmatischer Funktion, an dem eine
,Regel der Reflexion‘ gewonnen werden soll, die sich im Gebrauch der
Vernunftidee ,anwenden‘ läßt, also ,ein Prinzip nicht der theoretischen
Bestimmung des Gegenstandes‘ […], was er an sich, sondern der prak-
tischen, was die Idee von ihm für uns und den zweckmäßigen Gebrauch
derselben werden soll.“3 (Eine Stelle, an der Kant ebenfalls die Witt-

1 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Akademie-Ausgabe, 255 ff.


2 Ebd., 257.
3 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1999, 12.
Thesen zur philosophischen Metaphorologie 425

gensteinsche Auffassung von der Bedeutung als dem Gebrauch antizi-


piert, ist die „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“.)
Nicht „an sich“, sondern „für uns“ – diese Unterscheidung nennt
eigentlich eine zentrale, systemkonstitutive Differenz der gesamten kri-
tischen Philosophie: In ihr geht es grundsätzlich – und nicht nur in der
Theorie der Symbole – nicht um die theoretische Bestimmung von
Gegenständen an sich, sondern um die Idee, die wir uns überhaupt von
den Gegenständen für uns machen können. Die Rede von dem prakti-
schen Für-uns bei Kant lässt hier auch den Bezug auf die Bestimmung der
metaphorischen Rede als einer Rede zu, die durch die Mitartikulation
kontextuell-situativer Relevanz aus der Sicht des Redenden charakteri-
siert werden kann. Mit den absoluten Metaphern, den Kantschen Sym-
bolen bestimmen wir nichts bezüglich theoretischer Vorhandenheit, sondern
artikulieren die Hinsicht, in der etwas uns praktisch bedeutend erscheint
und in welcher Hinsicht wir es pragmatisch verstehen.
Aufgrund dieses pragmatischen Kontextholismus ist auch eine
Kernthese von Paul Ricoeur zu bestätigen: Es geht bei der Analyse der
Metaphern um die Stze als die erste, fundamentale semantische Einheit,
in denen die Metaphern auftreten, und damit auch um die Gebrauchs-
kontexte dieser Sätze.4

Metapher und Metaphysik


Da Kant die Symbole den Vernunftideen zuweist, können wir hier bereits
im Kern ein sprachkritisches Zusatztheorem zu seiner transzendentalen
Vernunftkritik bzw. Metaphysikkritik sehen. Und dass dies so ist, nutzt
Blumenberg in seiner philosophischen Metaphorologie. Denn diese
Sprachform der absoluten Metapher bestimmt hier insbesondere den
sprachlichen Status der Metaphysik (wenn wir die Metaphysik tran-
szendental-kritisch verstehen). Sie bestimmt nämlich die Weise, wie wir
vom Ganzen, vom Unbedingten, von Totalitt, von der Form eines Ganzen
überhaupt reden können. Sie zeigt kritisch die bildliche Weise, in der die
Metaphysik eigentlich spricht. Der Status der Sprache der Transzen-
dentalphilosophie wäre nun selbst zu erörtern. Die metaphysica generalis
sv. ontologia wird transzendentale Analytik. Die metaphysica specialis:
theologia, cosmologia und psychologia rationalis werden transzendentale
Dialektik. Von den metaphysischen Gegenständen des Seins, Gottes, der
Freiheit bzw. Welt und der Seele bzw. Unsterblichkeit ist anschaulich nur

4 Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher, München 1986, V.


426 Teil 2. Ästhetik

symbolisch-hypotypotisch zu reden. Wie verhält sich diese systematische


Tatsache zur Postulatenlehre? Jedenfalls gilt: Die transzendental-kritische
Transformation der Metaphysik führt – sprachkritisch – zur These vom
Status der Vernunftideen als symbolischer Hypotyposen und damit auch
zur These von ihrer Bedeutung im praktischen Gebrauch.

Die metaphysischen Bilder sind keine Abbilder


Diese Symbole Kants, die Blumenberg absolute Metaphern nennt,
können wir auch Bilder nennen, und zwar Bilder, die keine Abbilder sind.
Wir können sie als Bilder verstehen, die zwar – mit den Unterschei-
dungen Freges – einen Sinn haben, aber keine Bedeutung, nämlich keine
Referenz auf einen der Rede externen Gegenstand. Insofern würden
diese Bilder rede-intern gegenstandskonstitutiv fungieren, und zwar
durch ihren Gebrauch, durch ihre jeweilige Verwendung in bestimmten
Praxiszusammenhängen. Lösen wir uns von Freges Unterscheidung,
dann können wir jedenfalls von einem festen gemeinsamen Gebrauch
solcher nicht-abbildender Bilder ausgehen. Die Gegenstände der Meta-
physik sind in der Rede prsent, aber die Rede re-präsentiert sie nicht,
jedenfalls nicht so, wie referentialisierende Ausdrücke, empirische Be-
griffe im landläufigen Sinne deiktisch aufgewiesen werden können. Zu
erörtern wäre auch ihr synkategorematischer Status. Hier zeigt sich der
Zusammenhang der systematischen Rekonstruktion Kants mit Heideg-
gers synkategorematischen Existentialien und mit Wittgensteins prakti-
scher Rekonstruktion: „Dies ist ein Haus.“ „Das Dasein ist In-der-Welt-
sein.“ „Gott ist die Liebe“. Wenn man Bilder als Abbilder denkt und in
der repräsentationalistischen Vorhandenheitsontologie von Subjekt und
Objekt befangen bleibt, dann gelangt man zu einer erkenntniskritischen
Aporetik, die vielleicht Heinrich Hertz am prägnantesten formuliert hat:
„Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Ge-
genstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, dass die denk-
notwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den
naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände“.5 Das heißt:
Bilder werden zunächst entworfen, dann jedoch hypothetisch als den
Objekten zugrundeliegend angenommen und schließlich – Gipfel der
Hypostasierung – als selbst eigenständige „äußere“ oder „innere äußere“
Objekte in Substitution für die ursprünglichen Objekte behandelt.

5 Heinrich Hertz, Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt,


Leipzig 1894, 1.
Thesen zur philosophischen Metaphorologie 427

Wittgenstein ist derjenige, der am subtilsten und radikalsten diesen


Prozess analysiert und destruiert hat: „Die Vorstellung muß ihrem Ge-
genstand ähnlicher sein als jedes Bild: Denn wie ähnlich ich auch das Bild
dem mache, was es darstellen soll, es kann immer noch das Bild von etwas
anderem sein. Aber die Vorstellung hat es in sich, dass sie die Vorstellung
von diesem, und von nichts anderem, ist. Man könnte so dahin kommen,
die Vorstellung als ein Über-Bildnis anzusehen.“6 Aller Repräsentatio-
nalismus läuft in diesem Sinne auf eine solche Superbildtheorie hinaus;
insbesondere der Mentalismus. Aber ich denke, dass auch die gegen-
wärtige Neurobiologie mit ihren quasi-philosophischen Ansprüchen eine
solche Theorie sein wollen muss. Ein Bild der Bildlichkeit selbst kann uns
gefangen halten.

Warum das Zeigen neben dem Sagen notwendig ist


Es wird so deutlich, wo bildliche Rede unumgänglich wird: Zunächst
einmal schlicht und einfach da, wo wir von etwas reden, das sich in der
Erfahrung nicht ohne weiteres aufzeigen und so nicht sagen lässt, sondern
das sich nur – sprachlich – zeigen lässt. Die Verwendung der Bilder in der
Sprache erschließt eine Sichtweise, sie eröffnet eine Perspektive, sie lässt
Aspekte bemerken. Sie sagt nicht: Das ist so, sondern sie zeigt: So ist das.7
Die absoluten Metaphern werden entworfen, um zu zeigen (sehen zu
lassen, allererst zu erschließen), wie etwas gesehen werden kann. Ihr Wesen
besteht in ihrem Gebrauch. Sie gehören zur Grammatik der Sprache im
Wittgensteinschen Sinne. Das heißt sie gehören zum konstitutiven
kulturellen framework, sie artikulieren keine Tatsachen (Fakten), die in der
Welt empirisch vorfindlich sind, sondern sie artikulieren (zeigen) die
Form der Welt.

Philosophische Metaphorologie und philosophische Anthropologie


Absolute Metaphorik bzw. konstitutive (nicht-abbildende) Bildlichkeit
finden sich in den großen Weltbildentwürfen der Mythen, der Reli-
gionen, der Philosophie und der Dichtung, wie dies Blumenberg ein-
schlägig vorführt. Lässt sich darüber hinaus eine stärkere Systematik bzw.
Übersicht über diejenigen Phänomen- und Problembereiche entwickeln,
in denen absolute Metaphern/Bilder unverzichtbar und konstitutiv sind?

6 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1969, § 389.


7 Vgl. dazu: Thomas Rentsch/Morris Vollmann, Artikel „Zeigen“, in: Hist.
Wçrterbuch der Philosophie Bd. 12, Basel 2004, Sp. 1182 – 1186.
428 Teil 2. Ästhetik

Gibt es Bereiche der Rede, in denen die symbolische Konstitution die


eigentliche, einzige, unersetzbare ist, und in denen dann die Paraphra-
sierungen selbst absolut-metaphorisch wären? Dies ist der Fall, wenn wir
das anthropologische Fundament der Sprachphilosophie radikalisieren
und transzendieren zugleich, so dass keine neuen „materialen“ Aspekte
des Lebens im Potential metaphorischer Rede zutage träten, sondern in
den absolut-metaphorischen, konstitutiv-symbolischen, konstitutiv-
bildlichen Reden sich die Formen des Lebens zeigen und artikulieren
würden, jene Formen, die Heidegger als Existentialien bezeichnete und
die die Titel für die philosophische Analyse der apriorischen Grundzüge
menschlicher Lebenssituationen sind, die Überschriften der condition
humain, des In-der-Welt-seins, der Grundsituation, der basic situation.
Ich behaupte die systematische Komplementarität einer philosophischen
Anthropologie und einer hermeneutischen Sprachphilosophie und
Sprachkritik insbesondere in Bezug auf Grenzen und Grund unseres
Lebens.8

Der transzendental-anthropologische Kontext der Metaphorologie.


Metapher und Lebensform
Wenn die Metaphorik situationserschließend/kontextvergegenwärti-
gend ist, dann haben wir es bei der konstitutiven Bildlichkeit mit dem
Kontext schlechthin zu tun, mit dem Kontext, der unser Leben ist, mit
dem Kontext, der wir selber sind. Es handelt sich um einen zwar auch
distanzierbaren und objektivierbaren, jedoch gleichwohl transzenden-
talen, d. h. zu unseren faktischen, praktischen und begrifflichen Mög-
lichkeitsbedingungen gehörenden und je und je unhintergehbaren
Kontext, um einen Kontext, der auch bei partialen Distanzierungen in
toto und fundamental nicht distanzierbar ist. Ich nenne im Folgenden für
diesen Kontext charakteristische lebensweltliche Aprioritäten. Es handelt
sich um Lebensformen, die unableitbar von einander, irreduzibel auf-
einander und nur durch einander verstehbar sind. Sie sind somit selbst-
gegeben und gleichursprünglich:

8 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprach-
analysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003; ders., Die
Konstitution der Moralitt. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie,
Frankfurt a.M. 21999.
Thesen zur philosophischen Metaphorologie 429

(a) Sprache
Eine erste konstitutiv bildlich durchsetzte Sprachspielgruppe (Familie) ist
verbunden mit dem Reden über die Sprache und die sprachlichen Un-
terscheidungen selbst. Dieses Reden kann nicht auf Gegenstände refe-
rieren, auf sie zeigen im Sinne deiktischen Hinweisens, sondern dieses
Reden muss, um die menschliche Sprachsituation zu erschließen, selbst
etwas zeigen. Beispiele sind die „syntaktischen Metaphern“ bzw. die
Metaphern, die Frege zur Grundlegung einer nicht-aristotelischen Logik
verwendet (s. u.). Es muss hier eine Umlenkung der Blickrichtung ein-
geleitet werden, die Sprache muss anders gesehen werden. Es muss geklärt
werden, inwiefern über die Sprache auch bildlich gesprochen werden
muss, und inwiefern über sie in einem wesentlichen Sinne nur bildlich
gesprochen werden kann.
(b) Welt
Ebenso wie über die Sprache (als Ganze – ggf. ist dies das Kriterium
bezüglich auch-müssen/nur-können) so können wir auch bezüglich
einer weiteren transzendentalen Lebensform im Wesentlichen nur
konstitutiv-bildlich reden: angesichts unseres In-der-Welt-seins, ange-
sichts der Weltlichkeit. Die Lebenswelt als transzendentaler Horizont
unserer einzelnen Handlungsorientierungen ist selbst kein Gegenstand
einzelner referentialisierender Akte, sondern kann nur mit Hilfe von
Bildern (als „Hintergrund“) in ihrer Bedeutsamkeit sprachlich erschlossen
werden. Die Weltdimension der Metaphorologie zeigt sich aber auch in
der physikalischen Kosmologie z. B. angesichts des Urknalls. Der Urknall
wird in der Forschung als „eine verführerisch falsche Metapher“ be-
zeichnet; denn der „Urknall ist keine Explosion. Ein Feuerwerkskörper
zerplatzt in einem Punkt der Raumzeit; am Urknall jedoch begann die
Raumzeit erst ihre Existenz.“9 Aber das verführerische Bild einer riesigen
Explosion, die mit ihrem gewaltigen Getöse den Beginn der Existenz des
Universums einleitete, bewirkt einen guten Teil des öffentlichen Inter-
esses an der Kosmologie.

(c) Selbstsein und Mitsein


So steht es auch mit unserer Rede über uns selbst (von uns selbst) und über
andere (von anderen). Unsere Subjektivität (Existenz) und Intersubjek-
tivität (Interexistentialität), die kommunikative Transparenz unserer

9 Bernulf Kanitscheider, Kosmologie, Stuttgart 1984, 235 f.


430 Teil 2. Ästhetik

„inneren Natur“ kann nur bildlich erschlossen werden, ohne dass die hier
verwendeten Reden auf innere Objekte oder Zustände „in uns“ oder
„in“ anderen bezogen wären. Die Rede ist konstitutiv-metaphorisch; sie
konstituiert als Grammatik der Schmerzen, als Grammatik der Gefühle,
der Stimmungen, Befindlichkeiten und der Selbstverständnisse die
Subjektivität und die gleichursprüngliche Intersubjektivität, ohne dass
hinter dieser Rede ein „eigentlicher“, „wirklicher“ Entitätenbereich
erklärend gesichert werden könnte. Hier ist die bildliche Fundamental-
unterscheidung von innen und außen konstitutiv für die Grammatik dieser
Sprachspielgruppen, ohne dass eine subjektive Innenwelt von einer ob-
jektiven Außenwelt ontologisch und dichotomisch abgespalten werden
könnte. Das macht im Übrigen auch die fundamentalontologischen
Probleme an dieser Stelle metasprachlich so schwierig und führt zu Para-
Ontologien (Oskar Becker, Hermann Schmitz) alternative Ontologien
(Heidegger) oder negative Ontologien (Wittgenstein, Adorno).

(d) Freiheit
Das gilt insbesondere auch von einem zentralen Konstituens der
menschlichen Situation und des menschlichen Selbstverständnisses, der
Freiheit. Hier kann der Grenzfall reiner Negativität eintreten, wenn wir
überhaupt sagen wollen, was wir unter Freiheit verstehen.

(e) Zeit
Die konstitutive Bildlichkeit betrifft auch unser Reden von der Zeit. Wie
für unser „Innenleben“, so müssen wir auch für unsere Artikulation der
Zeiterfahrung im Wesentlichen räumliche Bilder gebrauchen. Auch die
transzendentale Lebensform der Zeitlichkeit können wir zwar jeweils
(z. B. datenzeitlich, messend, uhrzeitlich) objektivieren, jedoch geschieht
auch dieses Handeln wieder zeitlich verfasst.

(f) Gott
Die Rede von Gott, vom Sinn der Welt, vom Absoluten und vom
„Grund“ des Seins war schon immer bildlich: mythisch, religiös, litur-
gisch, sakramental, ästhetisch und theologisch. In der Kombination von
negativer Theologie und Analogielehre wurde diese Tatsache selbst von
Beginn an kritisch reflektiert.10 An diesem Bereich wird auch deutlich,

10 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005; ders., Artikel
Thesen zur philosophischen Metaphorologie 431

dass zu überlegen ist, ob und wann besser von Metaphern des Absoluten als
von absoluten Metaphern die Rede wäre.

Bildlichkeit und Lebenswelt/Alltäglichkeit


Meine These ist also: das Reden über die Sprache (als Ganze), über die
Welt, über unsere „Innenwelt“ (subjektiv und intersubjektiv), d. h. über
Schmerzen, Geschmäcker, Empfindungen, Gefühle und Stimmungen,
schließlich unser Reden über die zeitliche Verfassung unseres Daseins ist
konstitutiv bildlich im erläuterten Sinne. Den weltkonstitutiven Le-
bensformen entsprechen bestimmte Sprachspielgruppen, bestimmte
grammatische Regionen, die absolut metaphorisch, konstitutiv bildlich,
aber eben nicht abbildend verfasst sind. Wir leben und orientieren uns durch
bestimmte Bilder vom Funktionieren unserer Sprache, durch Bilder von
der Welt, durch Bilder von uns selbst, durch Bilder vom Wesen der Zeit,
des Sinns und Gottes. Diese Bildlichkeit erschließt allererst lebenswelt-
liche Erfahrung. Sie gehçrt zur grammatischen Konstitution der Subjekte, zu
der transzendentalen Verfassung einer menschlichen Lebenswelt, in der
(durch die) die Subjekte sich selbst allererst erschlossen sind und begegnen
können. Deswegen bildet die absolute Bildlichkeit auch nicht „Wirk-
lichkeit“ ab, sondern konstituiert allererst mögliche Wirklichkeit. (Sie
gehört somit zur Existentialen Grammatik, zur lebensformkonstitutiven
bzw. „Weltgrammatik“.) Insofern versteht man, warum Wittgenstein in
seiner späteren Philosophie lehrt, in unserer Sprache, in deren Grammatik
sei eine ganze Mythologie verborgen. Diese Mythologie beginnt bereits
bei der Schmerzgrammatik des Alltags, und nicht erst bei den Makro-
Mythen der Religionen und Erkenntnistheorien, den philosophischen
Großkonstruktionen und wissenschaftlichen Weltbildern. Das heißt die
konstitutive Bildlichkeit gilt angesichts der transzendentalen Lebensfor-
men für alle möglichen sprachlichen Orientierungen.
Das sieht auch Blumenberg, wenn er darauf verweist, dass die ab-
soluten Metaphern bei folgenden Phänomen- und Problembeständen
auftreten: „Welt“, „Anfang und Ende der Welt“ (Protologie und
Eschatologie), „Subjekt“, „Leben“, „Zeit“, „Geschichte“, „Gott“,
„Glück“ und „Sein“.11 Das heißt auch er sieht den von mir systematisch

„Theologie, negative“, in: Hist. Wçrterbuch der Philosophie Bd. 10, Basel 1998,
Sp.1102 – 1105.
11 Vgl. dazu: Hans Blumenberg, „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“,
in: ders., Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M.
1979, 77 – 93.
432 Teil 2. Ästhetik

unterstellten Zusammenhang mit der klassischen Metaphysik und ihren


disziplinenbildenden Großthemen Ontologie, Theologie, Kosmologie
und Anthropologie (Psychologie). Auch, dass sich in der Metaphorik ein
lebensweltliches Substrat der theoretischen Stilisierungen durchhält,
behauptet er und erwägt auch eine mögliche Systematisierung der ab-
soluten Metaphern. In der Metaphysik, der dogmatischen Theologie und
in bestimmten Erkenntnistheorien erstarrt ein grammatischer Bildzu-
sammenhang, um wiederum in den Destruktionen und Paradigmen-
wechseln anderen Bildern zu weichen. Stürzt die Metaphysik, dann er-
neuern sich die absoluten Metaphern.12 Der tiefere transzendental-
anthropologische Grund unserer Bildentwurfspraxis gerade im Blick auf
die unhintergehbare Alltäglichkeit lässt sich angeben, wenn wir Kants
These von der Angewiesenheit von Verstand und Vernunft auf die
Sinnlichkeit und Anschaulichkeit leibanthropologisch vertiefen und präzi-
sieren. Da der Leib – im Sinne von Merleau-Ponty und Hermann
Schmitz verstanden – die Mitte der Lebenswelt ist, in der deren naturaler
Grund und deren kommunikatives Wesen sich wechselseitig ermögli-
chen und durchdringen, können wir letztlich ohne leiblichen Rückbezug
nichts denken, erkennen und vorstellen. Transzendentalphilosophie in
diesem Sinne ist eine systematische Verbindung von Sprachphilosophie
und philosophischer Anthropologie.13

Kein Relativismus, keine Theoretisierbarkeit, sondern kritische


Hermeneutik
Es muss deutlich werden, dass und wie die Einsicht in die konstitutive
Bildlichkeit (die ja bereits lebensweltlich gilt) keine „relativistischen“
Folgen haben kann. Ja mehr noch: Gerade diese Einsicht ist anti-relati-
vistisch, weil sie bereits anti-repräsentationalistisch ist. (Der erkenntnis-
theoretische Relativismus setzt den Repräsentationalismus voraus.)
Sprachkritische Philosophie muss darauf insistieren, dass die grammati-
schen Bildentwürfe
(1) notwendig sind im Sinne der Kommunikation über transzen-
dentale, konstitutive Lebensformen
(2) nicht zu Abbildern hypostasiert werden dürfen, auf denen –
verstünden wir sie als „Superfakten“ – unsere Sprachspiele „gründeten“.

12 Vgl. dazu: Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M.


1999, 193.
13 Vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O.
Thesen zur philosophischen Metaphorologie 433

Konstitutive Bildlichkeit repräsentiert keine Superwirklichkeit, sondern


zeigt Perspektiven unseres (überhaupt möglichen) Welt- und Selbst-
verständnisses. Hinter diesen möglichen Perspektiven steht nichts mehr
„an sich“. Nicht „Dinge an sich“ gilt es zu repräsentieren, sondern unsere
Perspektiven je lokaler Weltkonstitution (weltkonstitutiver Praxis) auf-
zuklären. Wir artikulieren unsere Sichtweise bildlich so, dass die Arti-
kulation diese Sichtweise selbst zeigt. Die transzendental-kritische These
von einer perspektivisch-pragmatischen Welt- und Selbstkonstitution der
Subjekte besagt „metaphorologisch“ und kritisch-hermeneutisch: das
Ganze der Welt, des Lebens und der Sprache ist uns nur in lokalen
(begrenzten), aber je konstitutiven grammatischen Bildzusammenhängen
erschlossen und erschließbar. In solchen Grammatiken existieren wir.
Unverzichtbar bildliche Sprachspielgruppen finden sich dort, wo dass,
was wir als situativ-kontextuelle Vergegenwärtigungsfunktion bezeich-
nen können, unsere Grundsituation ist, d. h. die Form, wie wir (in der
wir) leben. Eine allgemeine Theoretisierbarkeit der Bildverwendung ist
(über bestimmte abstrakte Aufweise hinaus) ebenso unmöglich wie eine
philosophische Theorie der Sprache. Es gibt gute und schlechte (falsche)
Bildlichkeit, sinnexplikative und sinnzerstörende. Es gibt aber keine
Metaphilosophie, in der niedergelegt ist, welche Bilder gut und passend
sind, und die für diese Frage Beurteilungsregeln allgemeiner Art bereit-
stellt.

Der Status der Philosophie: Kritische Hermeneutik statt


quasi-metaphysischer Theoriebildung (Frege und Wittgenstein)
Die kritische Selbstreflexivität der modernen Philosophie zeigt sich nicht
zuletzt darin, dass sie sich ihrer Bildentwurfspraxis zunehmend explizit
bewusst wird und sie selbst thematisiert. Ich möchte dies mit Blick auf
Frege und Wittgenstein erläutern und belegen. Frege will seine Leser mit
seinen Logischen Untersuchungen in eine neue Sichtweise logischer Formen
der Sprache einführen. Hierzu bedient er sich häufig bildlicher Aus-
drücke. So erläutert er das Verhältnis von Sinn und Bedeutung mit dem
Gleichnis von der Betrachtung des Mondes durch ein Fernrohr.14 Die
„Ergänzungsbedürftigkeit“ der Negation und Konjunktion – selbst ein
Bild – illustriert er durch das Gleichnis von den ,Umhüllungen’ Rock und

14 Gottlob Frege, „Über Sinn und Bedeutung“, in: ders., Funktion, Begriff, Be-
deutung. Fnf logische Studien, Göttingen 1969, 44 f.
434 Teil 2. Ästhetik

Mantel.15 Die doppelte Negation wird als „Verschmelzung von etwas mit
sich selbst“, die Unterscheidung von Gedanke und Wahrheit mit einer
„Kernspaltung“ verbildlicht.16 Frege wehrt auch seiner Meinung nach
irrige Auffassungen der Negation durch Verbildlichungen ab.17 „Sätti-
gung“ und „Fügung“ eines „logischen Baus“, die dessen „Zusammen-
halt“ sichern, sind immer wieder auftretende Bilder.18 Sein Verfahren der
logischen Analyse verdeutlicht Frege am Beispiel der Subjunktion:
„Winke gehören zum Beiwerke, das in der Sprache des Lebens den
Gedanken oft umrankt. Meine Aufgabe ist es hier, durch Abscheidung
des Beiwerks als logischen Kern ein Gefüge von zwei Gedanken her-
auszuschälen, ein Gefüge, welches ich hypothetisches Gedankengefüge
genannt habe. Die Einsicht in den Bau der aus zwei Gedanken gefügten
Gedanken muss die Grundlage für die Betrachtung vielfältiger gefügter
Gedanken bilden.“19 Er verwendet Bilder bewusst und gezielt, und zwar
bereits im Rahmen erkenntnistheoretischer Erwägungen, versteht sie
jedoch andererseits eher als ein notwendiges Übel: „Ich muss mich be-
gnügen, den an sich unsinnlichen Gedanken in die sinnliche sprachliche
Form gehüllt dem Leser darzubieten. Dabei macht die Bildlichkeit der
Sprache Schwierigkeiten. Das Sinnliche drängt sich immer wieder ein
und macht den Ausdruck bildlich und damit uneigentlich. So entsteht ein
Kampf mit der Sprache […]“.20„Der Ausdruck ,Fassen’ ist ebenso bildlich
wie ,Bewusstseinsinhalt’. Das Wesen der Sprache erlaubt es eben nicht
anders.“21 Freges Bildlichkeit kommt aber nicht nur eine Verdeutli-
chungsfunktion zu, sondern ist für die Gewinnung seiner neuen Sicht-
weise der Form der Sprache geradezu konstitutiv. Denn abgesehen von
der schon gemäß der neuen Sichtweise vollzogenen Formalisierung
seiner alltagssprachlichen Beispielsätze stehen Frege – außer seinen Bil-
dern – nur noch syntaktische Metaphern im Sinne von Erik Stenius zur

15 Gottlob Frege, „Die Verneinung. Eine logische Untersuchung“, in: ders., Lo-
gische Untersuchungen, Göttingen 1966, 71.
16 Ebd., 63.
17 Ebd., 60.
18 Ebd., 72 f.
19 Ebd., 84.
20 Gottlob Frege, „Der Gedanke“, in: ders., Logische Untersuchungen, a.a.O., 40
(Anm. 15).
21 Ebd., 49.
Thesen zur philosophischen Metaphorologie 435

Verfügung. Stenius geht sogar selbst so weit, zu sagen, „daß alle philoso-
phischen Stze syntaktische Metaphern sind“.22
Eine erste explizite (transzendentale) kritische Reflexion der Bild-
lichkeit stellt bereits der Tractatus dar. Die root metaphor ist hier „logi-
scher Raum“. Sie ist irreduzibel. (In der mittleren Phase kennt Witt-
genstein dann viele logische Räume – dies sind transzendental-kategoriale
Gruppen oder Felder.) Im Tractatus gibt es im logischen Raum logische
Orte. Sie bilden ein „Gerüst“. Der logische Raum bildet die Welt der
Tatsachen ab. Der Raum ist endlich, begrenzt. Wittgenstein selbst ver-
wendet im Tractatus eine Sprache, die keinen Ort im logischen Raum hat.
Dies wird selbst metaphorisch vergegenwärtigt in der Leiter-Metapher:
Metaphorische Redeweisen bilden das (unhintergehbare) Fundament für
explizitere Formen der Rede. Können wir die Leiter auch wegwerfen, so
ist doch die Leiter der Metaphorik unverzichtbar.
In den Philosophischen Untersuchungen treten organische Metaphern
auf: alte Bedeutungen sterben, neue wachsen, die Sprache lebt im Ge-
brauch, andere und andere Bedeutungen wachsen den Worten zu. Die
geschichtlich-architektonische Metapher ist die der Sprache als alte Stadt,
mit vielen neuen Vierteln. Sprache wird sodann als Spiel verbildlicht. Das
Präzisieren geht vor sich aufruhend auf der Basis der Bilder, denn wir
müssen schon irgendwo stehen, um dann zu präzisieren. Und wir stehen
nicht im Reiche der Präzision/Exaktheit, sondern schwimmen im Meer
des Lebens. Daher schreibt Wittgenstein: „107. Je genauer wir die tat-
sächliche Sprache betrachten, desto stärker wird der Widerstreit zwischen
ihr und unsrer Forderung. (Die Kristallreinheit der Logik hatte sich mir ja
nicht ergeben; sondern sie war eine Forderung.) Der Widerstreit wird
unerträglich; die Forderung droht nun, zu etwas Leerem zu werden. –
Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedin-
gungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht
gehen können. Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung.
Zurück auf den rauhen Boden! 108. Wir erkennen, dass, was wir ,Satz’,
,Sprache’, nennen, nicht die formelle Einheit ist, die ich mir vorstellte,
sondern die Familie mehr oder weniger mit einander verwandter Ge-
bilde. – Was aber wird nun aus der Logik? Ihre Strenge scheint hier aus
dem Leim zu gehen. – Verschwindet sie damit aber nicht ganz? – Denn
wie kann die Logik ihre Strenge verlieren? Natürlich nicht dadurch, dass
man ihr etwas von ihrer Strenge abhandelt. – Das Vorurteil der Kristall-

22 Erik Stenius, Wittgensteins Traktat. Eine kritische Darlegung seiner Hauptgedanken,


Frankfurt a.M. 1969, 276 f.
436 Teil 2. Ästhetik

reinheit kann nur so beseitigt werden, dass wir unsere ganze Betrachtung
drehen. (Man könnte sagen: Die Betrachtung muss gedreht werden, aber
um unser eigentliches Bedürfnis als Angelpunkt.)“23 Und Wittgenstein
stellt daher fest: „115. Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten
wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur un-
erbittlich zu wiederholen.“24 Das stellenweise nötige Präzisieren und
Definieren ruht immer auf der Bildlichkeit auf: die Reflexionsbegriffe
sind schon da.
Im Text ber Gewissheit werden diese Analysen noch einmal vertieft.
Gewisse fundamentale Einsichten, die Basis, das Flussbett unseres Wis-
sens, sind letztlich nur auf die Weise auszudrücken, in der wir in-der-
Welt-sind (existieren): Sie zeigen sich von sich selbst her: So, wie sich
unser Existieren in der Welt, (als jemeinige Person, in Zeit und Raum
usf.) nur zeigt. So sind fundamentale Metaphern irreduzibel und un-
übersetzbar. Rechtfertigung und Begründung kommen an ihr Ende,
weder rational noch irrational, sondern konkret in unserer menschlichen
Lebensform. Das Wissen gründet in der Anerkennung.25 Ich muss stets
bereits etwas nicht diskursiv Einlösbares an-erkannt haben, bestimmte
Bilder bereits problemlos verwenden können, um dann auch eine ex-
plizite und diskursive Ebene zu erreichen. Die Möglichkeitsbedingungen
von Rationalität gründen ihrerseits im Bildlichen: Eine menschliche
Lebensform ist konstituiert durch gemeinsame Erfahrungen, die sich in
bestimmten Bildern und Gleichnissen artikuliert, und gründet in diesen.
Die Reflexionsgeschichte, die kritische Selbstreflexionsgeschichte von
Frege bis zu Wittgenstein zeigt exemplarisch und im Paradigma einer
kritischen Sprachphilosophie und Logik ein Zu-sich-selbst-Kommen des
Geistes als vernünftiges Selbstbewusstsein im Hegelschen Sinne. Im Blick
auf die Bildlichkeit ist, wie Ricoeur mit Hegel formuliert, „das Speku-
lative die Bedingung der Möglichkeit des Begrifflichen“.26 So lässt sich
die Seinsgeschichte kritisch-hermeneutisch und praktisch als Vernunft-
geschichte begreifen und damit auch als Fortschritt im Bewusstsein der
Freiheit auch der Sprachverwendung, als Befreiung von falschen Bildern.
Wir sind es selbst, die handelnd sprechen, und keine Ontologie oder
sonstige Theorie nimmt uns dies ab. Die Sprache, die Wirklichkeit und

23 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a.a.O., §§ 107 f.


24 Ebd., §115.
25 Vgl. Ludwig Wittgenstein, ber Gewissheit, Frankfurt a.M. 1971, §§ 378, 204,
287.
26 Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher, a.a.O., 280.
Thesen zur philosophischen Metaphorologie 437

wir selbst sind intern unendlich komplex. Sie haben kein Abbildverhältnis
zueinander, noch einen Bezug zueinander außerhalb unserer letztlich
freien, offenen Entwurfspraxis.
Strukturen ästhetischer Erfahrung
Abstract

Im ersten Teil zeige ich an einem literarischen Beispiel (Eichendorff, Das


Schloß Drande) Strukturen ästhetischer Erfahrungen auf. Ich erläutere
diese Strukturen mit Hilfe der Theorie der ästhetischen Ideen, wie sie
Kant im § 49 der Kritik der Urteilskraft entwickelt hat. Besondere Be-
deutung kommt dabei den ästhetischen Attributen und der Lehre von der
„comprehensio aesthetica“ zu.
Auf diesem Hintergrund beantworte ich im zweiten Teil mit eigenen
systematischen Kategorien die Frage nach dem „Was und Wie des An-
tizipierten“ in einer (literarisch-) ästhetischen Idee. Diese Kategorien
bzw. Strukturmomente ästhetischer Erfahrung sind 1. Artefaktizität bzw.
Kontrafaktizität, 2. Totalität und Simultaneität, 3. Nichtinstrumentalität,
4. Singularität, 5. die kommunikative Selbsttransparenz der Subjekte und
6. der Genuss-, Glücks- und Erfüllungscharakter der ästhetischen Er-
fahrung. Hinweise erläutern den Zusammenhang dieser Strukturen mit
der Entstehung der Ästhetik (Leibniz, Dubos, Batteux, Baumgarten,
Meier) und der Geschichte der Metaphysik des Schönen (Plotin: Ekstasis
und Pleroma).
Im Folgenden möchte ich an einem literarischen Beispiel Strukturen
ästhetischer Erfahrung aufzeigen und dann die Frage beantworten: was
durch diese Strukturen antizipiert wird.
Das Beispiel stammt aus einer Novelle Eichendorffs; für die Analyse
der Struktur ästhetischer Erfahrung beziehe ich mich zunächst auf Kants
Theorie der ästhetischen Ideen.

1
Zum Beispiel. Joseph von Eichendorff hat als Adliger unter der franzö-
sischen Revolution schwer gelitten. In seiner Novelle Das Schloß Drande
gestaltet er diesen Schmerz als die letzte Abschiedlichkeit einer unter-
gehenden Welt:
Ludwig XVI. und sein Hof waren damals in Versailles; Renald eilte sogleich
hin und freute sich, als er bei seiner Ankunft hörte, daß der König, der
Strukturen ästhetischer Erfahrung 439

unwohl gewesen, heute zum ersten Male wieder den Garten besuchen wolle.
Er hatte zu Hause mit großem Fleiß eine Supplik aufgesetzt, Punkt für Punkt,
das himmelschreiende Unrecht und seine Forderung, alles, wie er es dereinst
vor Gottes Thron zu verantworten gedachte. Das wollte er im Garten selbst
übergeben, vielleicht fügte es sich, daß er dabei mit dem König sprechen
durfte; so, hoffte er, könne noch alles wieder gut werden.
Vielerlei Volk, Neugierige, Müßiggänger und Fremde hatten sich un-
terdes schon unweit der Tür, aus welcher der König treten sollte, zusam-
mengestellt. Renald drängte sich mit klopfendem Herzen in die vorderste
Reihe. Es war einer jener halbverschleierten Wintertage, die lügenhaft den
Sommer nachspiegeln, die Sonne schien lau, aber falsch über die stillen
Paläste, weiterhin zogen Schwäne auf den Weihern, kein Vogel sang mehr,
nur die weißen Marmorbilder standen noch verlassen in der prächtigen
Einsamkeit. Endlich gaben die Schweizer das Zeichen, die Saaltür öffnete
sich, die Sonne tat einen kurzen Blitz über funkelnden Schmuck, Ordens-
bänder und blendende Achseln, die schnell vor dem Winterhauch unter
schimmernden Tüchern wieder verschwanden. Da schallt’ es auf einmal:
„Vive le roi!“ durch die Lüfte, und im Garten, soweit das Auge reichte,
begannen plötzlich alle Wasserkünste zu spielen, und mitten in dem Jubel,
Rauschen und Funkeln schritt der König in einfachem Kleide langsam die
breiten Marmorstufen hinab. Er sah traurig und bleich – eine leise Luft rührte
die Wipfel der hohen Bäume und streute die letzten Blätter wie einen
Goldregen über die fürstlichen Gestalten.1
Diese literarische Gestaltung entspricht genau der Theorie der ästheti-
schen Ideen, wie sie Kant – im Anschluss an die Lehre von den ästhe-
tischen Begriffen Baumgartens und Meiers – in der Kritik der Urteilskraft
(v. a. § 49) entwickelt hat:
Geist in ästhetischer Bedeutung heißt das belebende Princip im Gemüthe.
Dasjenige aber, wodurch dieses Princip die Seele belebt, der Stoff, den es
dazu anwendet, ist das, was die Gemüthskräfte zweckmäßig in Schwung
versetzt, d.i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die
Kräfte dazu stärkt.
Nun behaupte ich, dieses Princip sei nichts anders, als das Vermögen der
Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe
ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt,
ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein
kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen
kann. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer

1 Joseph von Eichendorff, Das Schloß Drande, in: ders., Werke, hg. von Wolf
Dietrich Rasch, München 1966, 1326 – 1364, dort 1346 f.
440 Teil 2. Ästhetik

Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung
(Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.2 (KU 192 f.)
Kant legt hier die eigentümliche Struktur einer spezifischen menschli-
chen Kommunikationsmöglichkeit frei: die Struktur der ästhetischen
Erfahrung, deren Kern und Wesen er auch als die Versinnlichung von
Vernunftideen bzw. fundamentaler Menschheitserfahrungen bezeichnet,
so z. B. Seligkeit und Ewigkeit, Liebe und Tod (KU 194). Ästhetische
Gestaltung versucht, diese Ideen bzw. Grunderfahrungen vermittels der
Einbildungskraft „über die Schranken der Erfahrung hinaus“ „in einer
Vollständigkeit sinnlich zu machen, für die sich in der Natur kein Beispiel
findet; und es ist eigentlich die Dichtkunst, in welcher sich das Vermögen
ästhetischer Ideen in seinem ganzen Maße zeigen kann.“ (ebd.)
Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft untergelegt
wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu denken
veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt,
mithin den Begriff selbst auf unbegränzte Art ästhetisch erweitert: so ist die
Einbildungskraft hierbei schöpferisch und bringt das Vermögen intellectu-
eller Ideen (die Vernunft) in Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung
einer Vorstellung zu denken (was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes
gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann. (KU 194 f.)
Kant nennt die Formen, die „nicht die Darstellung eines gegebenen
Begriffs […] ausmachen, sondern nur als Nebenvorstellungen der Ein-
bildungskraft die damit verknüpften Folgen und die Verwandtschaft
desselben mit andern ausdrücken“, sthetische Attribute eines Gegenstan-
des, „dessen Begriff als Vernunftidee nicht adäquat dargestellt werden
kann.“ (KU 195) Diese ästhetischen Attribute stellen im Unterschied zu
den logischen Attributen Kant zufolge nicht das dar, was in unseren
Begriffen liegt, „sondern etwas anderes […], was der Einbildungskraft
Anlaß giebt, sich über eine Menge von verwandten Vorstellungen zu
verbreiten, die mehr denken lassen, als man in einem durch Worte be-
stimmten Begriff ausdrücken kann; und geben eine ästhetische Idee, die
jener Vernunftidee statt logischer Darstellung dient, eigentlich aber um
das Gemüth zu beleben, indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches
Feld verwandter Vorstellungen eröffnet.“ (ebd.)
Mit einem Worte, die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe
beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen

2 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Akademie-Ausgabe, Bd. V, Berlin


1908, 192 f (ab hier wird die Randzählung dieser Ausgabe im fortlaufenden Text
zitiert).
Strukturen ästhetischer Erfahrung 441

Mannigfaltigkeit der Theilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben


verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff
bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Un-
nennbares hinzu denken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnißvermögen belebt
und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet. (KU 197)
Eichendorff evoziert ein Bild in unserer Einbildungskraft; durch die
ästhetischen Attribute, die er verwendet, ruft er eine sthetische Idee
hervor. Nennen wir noch einmal diese Attribute:
– ein halbverschleierter Wintertag, der lügenhaft den Sommer nach-
spiegelt
– die Sonne scheint lau aber falsch über die stillen Paläste
– Schwäne auf den Weihern
– kein Vogel singt mehr
– die weißen Marmorbilder stehen verlassen in der prächtigen Ein-
samkeit
– ein kurzer Blitz über funkelnden Schmuck, Ordensbänder und blen-
dende Achseln
– die schnell vor dem Winterhauch unter schimmernden Tüchern
– wieder verschwinden
– der traurige, bleiche König schreitet in einfachem Kleid langsam die
Marmorstufen hinab
– durch einen leisen Hauch werden die letzten Blätter wie ein Goldregen
über den Adel gestreut.

sthetisch versinnlicht wird ein ungeheures Sujet: der Untergang der


Feudalherrschaft in Europa, also ein Weltuntergang.
Die ästhetischen Attribute stellen
nicht wie die logischen Attribute das, was in unsern Begriffen von der Er-
habenheit und Majestät der Schöpfung liegt, sondern etwas anderes vor, was
der Einbildungskraft Anlaß giebt, sich über eine Menge von verwandten
Vorstellungen zu verbreiten, die mehr denken lassen, als man in einem durch
Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann; und geben eine ästhetische
Idee, die jener Vernunftidee statt logischer Darstellung dient, eigentlich aber
um das Gemüth zu beleben, indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches
Feld verwandter Vorstellungen eröffnet. Die schöne Kunst aber thut dieses
nicht allein in der Malerei oder Bildhauerkunst (wo der Namen der Attribute
gewöhnlich gebraucht wird); sondern die Dichtkunst und Beredsamkeit
nehmen den Geist, der ihre Werke belebt, auch lediglich von den ästheti-
schen Attributen der Gegenstände her, welche den logischen zu Seite gehen
und der Einbildungskraft einen Schwung geben, mehr dabei, obzwar auf
442 Teil 2. Ästhetik

unentwickelte Art, zu denken, als sich in einem Begriffe, mithin in einem


bestimmten Sprachausdrucke zusammenfassen läßt. (KU 195 f.)
Es erfolgt also durch die Gestaltung mittels ästhetischer Ideen, durch
den Schwung, den sie der Einbildungskraft geben, die Antizipation eines
„unabsehlichen Feldes verwandter Vorstellungen.“ (KU 195)
Diese Antizipationsleistung hat auch Schiller in seiner Rezension der
Gedichte Matthissons im Anschluss an Kant gesehen und so formuliert:
„darin liegt das Anziehende solcher ästhetischen Ideen, daß wir in den
Inhalt derselben wie in eine grundlose Tiefe blicken.“ Denn ihr „mög-
licher Gehalt“ ist „eine unendliche Größe“.3
Eine weitere Präzisierung erfährt die Strukturanalyse ästhetischer
Erfahrung und Gestaltung bei Kant durch seine Lehre von der compre-
hensio aesthetica: So heißt das ästhetische Begreifen der ,Zusammenfas-
sung‘ durch die Einbildungskraft zu einer gewissen Form; diese
Komprehension der Einbildungskraft beschreibt Kant so: „die Zusam-
menfassung der Vielheit in die Einheit, nicht des Gedankens, sondern der
Anschauung, mithin des Successiv –Aufgefaßten in einen Augenblick, ist
[…] ein Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus der Einbil-
dungskraft wieder aufhebt und das Zugleichsein anschaulich macht.“
(KU 99)
Die comprehensio aesthetica ist somit die Koinzidenz des Mannigfalti-
gen, der Vielheit, in der Einheit des Augenblicks und als solche das Wesen
der Schönheit. Die Einbildungskraft fasst in dieser comprehensio das
Mannigfaltige nicht in einen Begriff, sondern in ein Bild, welches Kant
das Urbild, Archetypon oder ästhetische Idee nennt. Diese Idee ent-
springt, indem die produktive Einbildungskraft die Sukzessivität der
reproduktiven Einbildungskraft aufhebt und so Simultaneität anschaulich
macht. Somit ermöglicht sie die comprehensio aesthetica: die Einheit des
Mannigfaltigen der Anschauung in einem Augenblick.
Und gerade in der Eichendorff-Passage ist ein solcher Augenblick
zugespitzt gestaltet – denken wir an das kurze Aufblitzen des funkelnden
Schmucks im fahlen Sonnenlicht.

3 Friedrich Schiller, ber Matthissons Gedichte, NA Bd. 22. Weimar 1958, 273 f.
Zur Analyse der ästhetischen Ideen vgl. Thomas Rentsch, „Der Augenblick des
Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee“ in diesem Band.
Strukturen ästhetischer Erfahrung 443

2
Auf diesem Hintergrund möchte ich abschließend noch genauer bzw. mit
eigenen systematischen Mitteln die Frage nach dem was und wie des An-
tizipierten in einer solchen ästhetischen Idee beantworten.
Was wird antizipiert mit und in der Struktur ästhetischer Erfahrung,
wie wir sie exemplarisch in der Eichendorffschen Szene vor uns sehen?
Folgende Strukturmomente4 möchte ich abheben – dass die Kantsche
Ästhetik dabei im Hintergrund steht, thematisiere ich nicht eigens – es
sind die Strukturmomente der
1. Artefaktizität,
2. der Totalität und Simultaneität,
3. der Nichtinstrumentalität,
4. der Singularität,
5. der kommunikativen Selbsttransparenz (der Subjekte)
6. und des Genuss- bzw. Glückscharakters, des Erfüllungscharakters der
ästhetischen Erfahrung.

1. In der Artefaktizitt und Kontrafaktizitt des Ästhetischen – hier des


Eichendorff-Textes – tritt uns die Welt nicht als etwas Fremdes und
Gleichgültiges gegenüber, sondern so, dass sie unseren Bedürfnissen und
Wünschen, Gefühlen und Leidenschaften, unseren genuinen Lebenser-
fahrungen entspricht bzw. diese antizipiert:
Erfahrbar wird eine Antizipation kontrafaktischer Nähe und Ent-
sprechung zu unserer Bedürfnisnatur.

2. Die gestaltete endliche Ganzheit und Augenblicklichkeit: Totalitt und


Simultaneitt entsprechen lebensweltlich-sinnhaften Zügen unserer ei-
genen Welterfahrung: Wir kennen die fahle Wintersonne, wir wissen,
was es heißt, traurig und bleich zu sein, wie hier Ludwig XVI. Diese Züge
der Lebenswelt dienen einem kommunikativen Wiedererkennen unserer
selbst in einem Anderen, hier in der sprachlichen Gestaltung des No-
vellentextes. Die Züge der sinnlich-erfahrbaren Welt geben ihre
Gleichgültigkeit und Widerständigkeit preis und antizipieren Aspekte

4 Vgl. zu dieser Strukturanalyse: Thomas Rentsch, „Ästhetische Anthropomor-


phie. Die Konstitution des Schönen und die transzendental-anthropologische
Bestimmung thaumatisch-auratischer Weltverhältnisse“, in: Franz Koppe (Hg.),
Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt a.M. 1991,
S. 27 – 35.
444 Teil 2. Ästhetik

lebensweltlicher Bedürftigkeit und eines – wie immer gebrochenen –


stimmigen Weltzusammenhanges. Und zwar – nicht nur in der Literatur,
auch in bildender Kunst, Musik und Architektur – weil die Formqualitten
ihrer Gestaltung die Sinnbedingungen einer menschlichen Welt antizipieren.

3. Diese Antizipation von Sinnbedingungen einer menschlichen Welt


geschieht auch durch den nichtinstrumentellen Grundzug der ästhetischen
Erfahrung: Es ist – im Lesen des Textes – eine Erfahrung jenseits von
Technik und Herrschaft, die ,Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘. Sie er-
möglicht eine gewaltlose Kultur kontemplativ-ästhetischen Umgangs, in
der wiederum kommunikative Voraussetzungen menschlichen Lebens
sinnlich erfahrbar und antizipierbar werden. Es erfolgt durch die Struk-
turen ästhetischer Erfahrung eine Emanzipation von zwanghaften,
funktionalen und instrumentellen Bedingungen unseres Lebens. Es er-
folgt – in Literatur, Kunst und Musik – die Antizipation einer zweckfreien
Welt und autonomen Lebens, dessen Sinn in ihm selbst und für sich
besteht – ästhetisch in der Form der Gestaltung – und nicht in einem
Leben in der Funktionalisierung durch etwas anderes. Das heißt in der
ästhetischen Erfahrung wird gleichzeitig eine Selbsterfahrung der Sub-
jekte im Horizont ihrer Autonomie eröffnet und antizipiert. Anhand
unseres Textes können wir z. B. Mitleid und Anteilnahme am Schmerz
einer untergehenden Welt frei durchspielen: Die literarisch individuierte
Synthese von Sinn und Sinnlichkeit in ästhetischer Kommunikation
ermöglicht eine glückhafte Welterfahrung, in die die Subjekte doch mit
ihrer Endlichkeit und Bedürftigkeit, mit ihrer ungeschmälerten Kon-
tingenz und Naturhaftigkeit eingehen können.

4. Das Strukturmoment der Singularitt besagt, dass uns im Text als äs-
thetischem Phänomen eine einmalige, individuelle Gestalt entgegentritt.
Das Zusammenspiel der Formqualitäten, der ästhetischen Attribute, er-
gibt eine begrifflich-diskursiv uneinholbare, irreduzible Weltgestalt, bzw.
hier besser: Situationsgestalt, die nur sie selbst ist: eine nichtabstrakte,
sinnlich individuierte Ganzheit. Von solcher individuierten Totalität
konkreter Lebenssituationen erfahren wir nichts im Medium theoreti-
scher Intersubjektivität (in den Wissenschaften), nichts im Medium
praktischer Transsubjektivität (in der Ethik), aber wir erfahren davon im
Medium ästhetischer Erfahrung – im Medium ästhetischer Konsubjek-
tivität. Wovon wir keinen deutlichen wissenschaftlichen Begriff ge-
winnen können, dies zeigen die ästhetischen Ideen; die Tiefe, Ferne, Flle
und Grundlosigkeit unserer inneren Natur, das Je ne say quoy der frühen
Strukturen ästhetischer Erfahrung 445

Ästhetiker (Dubos, Batteux), der inneren Natur, die diskursiv unein-


holbar und reflexiv unüberbietbar ist, und die Leibniz als den wogenden
fundus animae bezeichnete. Hier setzt wieder – gerade angesichts gestal-
teter erfüllter Augenblicklichkeit – die comprehensio aesthetica, die ästhe-
tische Verdichtung ein. Bereits Baumgarten sprach hier in der Leibniz-
Tradition von der cognitio sensitiva, der sinnlichen Erkenntnis individueller
Füllequalitäten durch vielsagende Vorstellungen (perceptiones praegnantes),
wobei er die Fülle als ubertas aesthetica und venusta plenitudo bezeichnete.
Perceptio praegnans ist eigentlich eine schwangere Vorstellung – dieses
Schwangersein von unabsehlichen weiteren Vorstellungen nennt wieder
die antizipatorische Grundstruktur der ästhetischen Erfahrung. Sie wird
letztlich ermöglicht durch auratische Verdichtung, wie sie das von Ei-
chendorff sprachlich entfaltete Tableau leistet: die auratische Verdichtung
in einem augenblicklichen und einmaligen Bild, bewirkt durch die Se-
mantisierung der sprachlichen Formqualitäten.
(Ein anderes Beispiel wäre die Szene in Goethes „Hermann und
Dorothea“: sie knickt mit dem Fuß auf der Treppe um – im Mondlicht
erstarren sie zu einer antiken Statue zweier Götter.)

5. Das Strukturmoment der kommunikativen Selbsttransparenz der Subjekte


in der ästhetischen Erfahrung. Auch für unsere Textstelle gilt: Das
proprium ästhetischer Erfahrung ist ein zwangloses Welt- und Selbst-
verhältnis in nicht-diskursivem Erkennen, durch das die innere Natur der
Subjekte auf begrifflich-definitorisch unerreichbare Weise transparent
und kommunikabel wird. Das Schöne wird so – ich spreche mit Kant –
zum Schema der Identität (der transzendentalen Einheit) der Subjekte
(der Harmonie von Einbildungskraft und Verstand), indem der sie Er-
fahrende sich gerade auf sich selbst bezieht: durch die „produktive
Einbildungskraft“ ohne Begriffe vorstellend (A 144). Ästhetische Ideen
sind Schemata der Einheit der Subjektivität mit dem Anderen ihrer selbst
– über die Zeiten und Räume hinweg z. B. Schemata unserer Einheit mit
Subjekten, deren Welt in der Revolution vergeht und untergeht; sie sind
Schemata der Einheit eines Subjektes mit den anderen Subjekten.
Kant spricht hier davon, „was als das übersinnliche Substrat der
Menschheit angesehen werden kann“, von der „unbestimmte(n) Idee des
Übersinnlichen in uns“, vom übersinnlichen Substrat aller Erscheinungen
der Natur und des Menschengeschlechtes, dessen „Schema“ die Dich-
tung ist. (KU 242; 215)
Die so ästhetisch vermittelte kommunikative Identität der Subjekte
wird ermöglicht über eine Erfahrung ohne alles Interesse; sie besteht in
446 Teil 2. Ästhetik

einem freien Spiel der Erkenntnisvermögen, die sich in diesem Spiel


wechselseitig durchdringen; die Erfahrung ist zweckfrei und sie ist so-
wohl begrifflos wie kommunikativ.

Auf diese Weise lässt sich die so ermöglichte Erfahrung


6. kontrafaktisch als eine Erfllungsgestalt humaner Bedrftigkeit ver-
stehen. Die kommunikative Selbsttransparenz der inneren Natur der
Subjekte erschließt sich durch die Gestaltung als eine glückhafte Erfah-
rung.

Ich fasse zusammen. Durch die ästhetische Idee in literarischer Gestaltung


werden kontrafaktisch Nähe und Entsprechung zu unserer Bedürfnis-
natur antizipiert; die Formqualitäten (ästhetischen Attribute) antizipieren
die Sinnbedingungen einer menschlichen Welt, in der Leiden, Schmerz,
Verletzlichkeit und Vergänglichkeit herrschen; sie antizipieren das
kommunikative Wiedererkennen unserer selbst in einem Anderen. Die
ästhetische Idee antizipiert eine Ebene der nichtinstrumentellen, von den
funktionalen Bezügen befreiten und autonomisierten Welterfahrung. Sie
antizipiert durch auratische Verdichtung die Tiefe, Ferne und Fülle
unserer diskursiv uneinholbaren Bedürfnisnatur – die comprehensio ae-
sthetica vergegenwärtigt mit Kants Worten das Unnennbare von Ge-
mütszuständen. Die ästhetische Idee antizipiert so letztlich die Einheit
einer menschlichen Lebenswelt – einer menschlichen Lebensweltge-
meinschaft und einer menschlichen Lebenswelterfahrung. Im Medium
der Strukturen ästhetischer Erfahrung können Subjekte zwanglos und
entlastet der Tiefe und Komplexität ihrer inneren Bedürfnisnatur inne-
werden, so sich selbst im Anderen ihrer selbst erfahren und sich in der
Totalität ihrer Weltbezüge begegnen. In diesem Medium wird auch
Sensibilität für die Fragilität und Verletzlichkeit vergänglichen mensch-
lichen Lebens wachgerufen: die Sonne tat einen kurzen Blitz über fun-
kelnden Schmuck.

Diese ganze Betrachtungsweise reicht noch viel weiter zurück in die


Geschichte der Metaphysik.
Plotin spricht angesichts des Schönen in Peri tou kalou von Ekstasis und
Pleroma der Seele. Die Struktur der Antizipation formuliert er so, dass das
Schöne das ist, was der Seele ihr Heimkommen zu sich selbst bringt: „Es
gibt nämlich etwas Schönes, das schon beim ersten Hinblicken wahr-
genommen wird; dessen wird die Seele gewissermaßen inne und spricht
es an; indem sie es wiedererkennt, billigt sie es und passt sich ihm so-
Strukturen ästhetischer Erfahrung 447

zusagen an […] Wir behaupten nun, wenn die Seele das ist was ihr wahres
Wesen ist, […] so ist es das Verwandte oder auch nur die Spur des
Verwandten, dessen Anblick sie erfreut und erschüttert; sie bezieht das auf
sich selbst und erinnert sich ihres eigensten Wesens, dessen was sie in sich
trägt.“5 Dieses Innewerden der Spur des Verwandten scheint mir schon
diejenigen Aspekte der ästhetischen Erfahrung anzusprechen, die ich als
Tiefe der inneren Natur der Subjekte und als Totalität ihrer Weltbezüge
zu charakterisieren versuchte. Eine Untersuchung der Bedeutung des
Platonismus für die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Geschichte
der Ästhetik könnte auch die spezifisch anamnetischen Züge ästhetischer
Antizipation genauer ins Auge fassen, die bereits an unserer Beispiel-
analyse – als Erinnerung an humane Welterfahrung – ablesbar sind. Und
ebenso wird das Sichtbarmachen von auratischer Weltfülle und Einma-
ligkeit als Signum des Pleroma im Neuplatonismus mit Augenblick-
lichkeit und Plötzlichkeit (exaiphnes) verbunden – dem plötzlichen
Aufblitzen des Schmucks und dem Goldregen der Blätter bei Eichendorff
entsprechend. Es ergäbe sich in nuce eine Kontinuität der philosophischen
Analyse der Struktur ästhetischer Erfahrung, die letztlich in der Meta-
physikgeschichte gründet.

5 Plotin, Ennēade 1.6 (ber das Schçne), in: Plotins Schriften Bd. 1. Griechisch-
Deutsch, hg. von Richard Harder, Hamburg 1956, 1 – 25, 7.
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Namenregister

Adorno, Theodor W. 4f., 72, 74, 76, Benjamin, Walter 72, 74, 76, 79–85,
78, 98, 106, 108, 117, 124–129, 124, 126f., 129, 149, 180, 218,
131, 133f., 141–147, 149, 151, 292, 296, 317, 392
153–155, 158, 161, 180, 202, 207, Benn, Gottfried 92, 399
218, 228, 230, 252, 270, 289, 292, Berg, Alban 22
296–298, 303, 307, 314f., 317, Bernhard von Clairvaux 362
319, 328, 331, 333, 355, 357, 370, Birkenstock, Eva 176
376–378, 381, 386, 392, 397, 405, Bloch, Ernst 117–123, 125–130,
410, 430 180, 269, 293, 392
Al Ghazali, Muhammad 231 Blumenberg, Hans 148f., 174, 227,
Albert, Hans 77, 149, 298 358f., 361, 423–427, 431f.
Alexander von Hales 397 Boethius 292
Alston, William P. 303 Bonaventura 362
Anderson, Tyson 232 Brentano, Franz 225
Apel, Karl-Otto 28, 77, 270, 298 Buddha 234
Archilochos 172 Bultmann, Rudolf 63, 70, 180, 269,
Arendt, Hannah 11, 24, 40f., 53, 293, 358
222, 338, 352 Bush, Georges W. 38
Aristoteles 14f., 17–19, 65, 70, 101,
120, 127, 170, 172f., 178, 183, Camus, Albert 149
201f., 260, 270, 292, 304, 309, Capelle, Wilhelm 100
359 Caputo, John D. 301
Arndt, Andreas 83 Caravaggio 400
Augustinus 8, 31, 134, 209, 272, 292, Carnap, Rudolf 202, 375
300, 321, 324, 335, 360f., 369 Cassirer, Ernst 412
Avenarius, Richard 162 Cavell, Stanley 180, 303
Chilon von Sparta 100
Cicero 347
Barth, Karl 94, 269
Cohen, Hermann 9
Batteux, Charles 404
Colpe, Carsten 37
Baum, Wolfgang 134
Constable, John 400
Baumgarten, Alexander Gottlieb
Croce, Benedetto 368
355, 357, 365, 368, 370–372, 386, Crusius, Christian August 312
399, 404, 438f., 445
Baumgartner, Hans M. 305
Bayle, Pierre 28 Dahrendorf, Ralf 328
Beck, Ulrich 328 Dante Alighieri 368f.
Becker, Oskar 378, 400, 430 Darwin, Charles 234
Beethoven, Ludwig van 411 Deleuze, Gilles 77, 155, 299, 318
Demmerling, Christoph 174, 177
452 Namenregister

Derrida, Jacques 72, 74, 77f., 128f., Girard, René 240, 291
151, 155f., 161, 180, 198, 203, Gloyna, Tanja 347
207, 218f., 230, 270, 292, 299f., Goethe, Johann Wolfgang von 21,
303, 314f., 318f., 381, 390, 410 37f., 355, 366, 372, 405, 407, 445
Descartes, René 7, 36, 185, 334, 367, Gogh, Vincent van 134, 400
370 Gould, Stephen J. 335
Dewey, James 291 Gregor von Nyssa 359
Dietschy, Beat 121 Gregor von Rimini 368
Diogenes 16 Gudmunsen, Chris 232
Dionysios Areopagita 74, 214, 231,
263, 316, 383–385, 387, 389 Habermas, Jürgen 9, 37, 72, 74,
Dondaine, Hyacinthe François 375 76–79, 82, 98, 115, 149, 152, 180,
Dostojewski, Fjodor M. 134 202, 248f., 252, 269f., 292f.,
Drury, Maurice O’Conner 35, 55, 297–299, 318, 326, 336, 345, 351
295 Haecker, Theodor 147
Dubos, Jean-Baptiste 404 Hahn, Achim 166, 422
Duns Scotus, Johannes 65, 74, 313, Halbfas, Hubertus 239, 414
316, 364–368, 374f., 386, 399 Haydn, Joseph 411
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
Eco, Umberto 363, 397 19–22, 24, 54, 58–71, 88, 90,
Ehrenfels, Christian von 124, 403 107–109, 123, 125, 142, 146,
Eichendorff, Joseph von 438f., 150f., 158, 164, 170, 173, 183,
441–443, 445, 447 207, 209, 214, 216f., 220, 224f.,
Eluard, Paul 196 232, 237, 243, 245, 248f., 252,
Erikson, Erik H. 346f. 257–260, 270, 277, 289, 304,
Eriugena, Johannes Scotus 362f. 307f., 310, 313, 319, 327, 348,
382, 389, 407, 436
Faulstich, Werner 38 Heidegger, Martin 5, 7, 28, 30, 52,
Feuerbach, Ludwig 150, 270, 274, 69, 72, 74–78, 92, 102f., 106, 108,
290 117f., 120–122, 124f., 127–129,
Fichte, Johann Gottlieb 65, 348, 389 131, 133–136, 143, 145f.,
Fisch, Jörg 241 151–153, 155f., 158, 161f., 165,
Foucault, Michel 240, 314, 328 170, 180, 185–189, 191, 194–196,
Frege, Gottlob 186f., 196, 429, 198, 202, 207, 209f., 217–221,
433f., 436 223, 225, 228, 230–232, 248, 252,
Freud, Sigmund 4f., 21f., 52, 88, 90, 260, 270, 284, 289, 291–295, 297,
99, 106, 109, 164, 207, 218, 225, 300, 303, 307, 314–321, 332, 334,
240, 249, 252, 270, 274, 290, 314, 341, 343–345, 370, 381, 395, 398,
320, 331f., 408, 410 409f., 422, 426, 428, 430
Frohn, Birgit 418 Heller, Agnes 267, 319
Fukuyama, Francis 328 Henning, Christoph 178
Henrich, Dieter 143, 304f.
Gadamer, Hans-Georg 188, 202, Heraklit 136, 294
301, 396, 399 Herder, Johann Gottfried 104f., 372
Galilei, Galileo 234 Hermann, Jörg 389
Gauchet, Marcel 267, 319 Hertz, Heinrich 426
Gehlen, Arnold 97–99, 105–112, Hesiod 74, 136, 294, 316
114–116, 143 Hesse, Mary 423
Namenregister 453

Hick, John 302f. 242, 248, 251f., 260f., 263, 270,


Hirsch, Emanuel 92 276, 289, 291, 299, 304f., 307f.,
Hitler, Adolf 133 310–313, 319, 327, 332, 335–337,
Hobbes, Thomas 72, 314 340, 342–345, 355, 357, 371–374,
Hölderlin, Friedrich 136, 294, 316 376, 382f., 386–390, 397, 399,
Holz, Hans Heinz 120 402–405, 407, 419, 423–426, 432,
Honnefelder, Ludger 251, 305 438–440, 442, 445f.
Horkheimer, Max 4, 76, 106, 143, Keel, Othmar 358
154, 180, 218, 292, 296, 317, 328, Kerr, Fergus 180, 303, 381
331 Kierkegaard, Søren 5, 10, 75, 88–90,
Hösle, Vittorio 66, 68 99, 124–126, 134, 140, 146f., 151,
Huber, Herbert 64 158, 194f., 209, 214, 228, 247,
Hugo von St. Viktor 362 293, 295, 313, 322, 324, 332, 337
Hume, David 231, 239 Klages, Ludwig 328
Husserl, Edmund 15, 123f., 129, Kleist, Heinrich von 194, 228
162, 187–189, 195f., 198, 205, Koch, Traugott 95
224f., 341–343, 345, 351, 382, Kodalle, Klaus-Michael 93f., 148f.,
409f., 420 155, 157f.
Kripke, Saul 191
Illies, Christian 55f. Kroeger, Matthias 93
Irigaray, Luce 180, 303 Kühnhold, Christa 194, 228, 322
Irrgang, Bernhard 418 Külpe, Oswald 118
Kutschera, Franz von 304f.
James, William 251, 291
Jaspers, Karl 180, 269, 292, 294 Langthaler, Rudolf 81f.
Jauß, Hans Robert 402 Lask, Emil 118
Jesus 9f., 12, 22, 24, 41, 50, 53, 57, Lefort, Claude 267
215, 223, 234, 241, 261, 273, 291, Lehmbruck, Wilhelm 394
336–338, 382 Leibniz, Gottfried Wilhelm 27f.,
Jonas, Hans 134–136, 360, 378, 380, 30–33, 35, 152, 367f., 370f., 399,
412f. 404, 408, 438, 445
Joyce, James 22 Leibowitz, Jeshajahu 41
Jünger, Ernst 92 Lessing, Theodor 328
Levi, Primo 41
Kafka, Franz 22 Lévinas, Emmanuel 198, 300f.
Kallscheuer, Otto 249 Löwith, Karl 62, 89, 148, 314
Kambartel, Friedrich 33, 161, 166, Lübbe, Hermann 180, 291
175, 178, 180, 395 Luckner, Andreas 136
Kamlah, Wilhelm 33, 110 Luhmann, Niklas 291, 347
Kanitscheider, Bernulf 429 Lukács, Georg 92, 118
Kant, Immanuel 5, 8–10, 12, 16, Luther, Martin 8, 134, 237, 247, 257,
19–22, 24, 26, 35–37, 41–52, 264, 335, 340
54–56, 65f., 68, 71, 80f., 83, 88, Lyotard, Jean-François 77, 155, 299,
90, 99, 105, 107f., 112, 118f., 318, 328, 386, 389f.
122f., 129, 151, 161f., 164,
168–170, 172f., 181, 183, 185, Mackie, John Leslie 302, 324
191, 195–197, 203, 207, 209, Maimonides, Moses 231, 302
214f., 217, 220f., 224, 231, 237f., Marcuse, Herbert 392
454 Namenregister

Marquard, Odo 36f., 252 Pindar 100


Marx, Karl 5, 21f., 88–90, 99, 107, Plantinga, Alvin 302, 324
164, 175, 178, 207, 218, 240, 249, Platon 15, 17, 19–21, 65, 70, 74,
252, 270, 274, 290, 314, 320, 327, 101, 166, 170, 173, 183, 201f.,
332, 410 208, 260, 270, 292, 304, 310, 313,
Meier, Georg Friedrich 370f., 438f. 316, 358f., 389, 397
Meister Eckhart 19, 66, 231, 273, Plessner, Helmuth 98f., 106, 416
292, 310, 368f. Plotin 3, 19, 65f., 70, 74, 93, 95, 123,
Merker, Barbara 134 214, 231, 292, 297, 311, 316, 359,
Merleau-Ponty, Maurice 7, 187, 438, 446f.
191, 196, 432 Pöltner, Günther 363
Monet, Claude 225, 399 Pothast, Ulrich 221
Montaigne, Michel de 99 Proklos 3, 19, 66, 93, 95, 214, 231,
Moore, George E. 344 292, 311
Mulhall, Stephen 158 Proust, Marcel 22
Murdoch, Iris 180, 303 Putnam, Hilary 251, 302
Musil, Robert 22, 392
Quine, Willard Van Orman 202
Nagarjuna 232
Nagl, Ludwig 249, 251f., 291, 306 Rabia von Basra 240
Neiman, Susan 38 Rahner, Karl 180, 269, 293
Nestroy, Johann 218 Ratzinger, Joseph 37
Nicolaus Cusanus 19, 217, 231, 292, Reagan, Ronald 38, 179
310, 368–370 Rehberg, Karl-Siegbert 105–111,
Nientied, Mariele 158 115f.
Nietzsche, Friedrich 4f., 21f., 72, Rehbock, Theda 114, 177
74, 88–90, 99, 103, 105, 107, 149, Rembrandt 400
151, 164, 207, 218, 238, 240, 249, Rentsch, Thomas 344
252, 261, 270, 274, 290, 306, 314, Rhees, Rush 55, 295
316, 320, 327f., 331f., 382, 406, Rhyner, Hans-Heinrich 418
408, 410 Rickert, Heinrich 118
Nono, Luigi 22 Ricoeur, Paul 240, 301, 425, 436
Novalis 132f., 208 Ritter, Joachim 359, 369, 371
Nurbakhsh, Javed 237 Rohbeck, Johannes 166
Nussbaum, Martha 180, 303, 352 Rorty, Richard 202, 252, 327
Royce, Josiah 77, 298
Origenes 85, 359 Ryle, Gilbert 221

Pangritz, Andreas 85, 298 Sappho 18, 172


Parmenides 136, 294 Sartre, Jean-Paul 102, 107, 392
Pascal, Blaise 42, 103, 134 Scheler, Max 99, 114
Patra, Reena 418 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph
Paulus 6, 9f., 57, 134, 273, 333, 90, 93f., 151f., 294, 307, 313,
336f., 351, 359 378, 389
Peirce, Charles S. 77, 251, 298 Schiller, Friedrich 122, 372f., 388,
Phillips, Dewi Z. 241, 302 442
Pico della Mirandola, Giovanni 99, Schmidt, Thomas M. 249
101–104, 114 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 37
Namenregister 455

Schmitt, Carl 92 Troeltsch, Ernst 89


Schmitz, Hermann 7, 430, 432 Tugendhat, Ernst 29, 304, 306
Scholz, Heinrich 359f., 369
Schönberg, Arnold 22, 76, 144, 155, Ujma, Christina 127
297, 317, 377
Schopenhauer, Arthur 52, 357, 375f. Vaihinger, Hans 238
Searle, John 423 Valéry, Paul 155, 377, 405
Seebohm, Thomas M. 125, 195 Vattimo, Gianni 203, 301
Seidel, Alfred 328 Vermeer, Jan 225
Seneca 347 Vitoria, Francisco de 20, 311
Seuse, Heinrich 66 Voegelin, Eric 144
Siep, Ludwig 22 Vollmann, Morris 174, 427
Simmel, Georg 106, 405
Sokrates 14–17, 19, 21f., 201, 208, Wagner, Falk 72, 314
210, 261, 310, 382 Waldenfels, Bernhard 191, 195, 305
Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 378 Weber, Max 89, 109, 118
Solon von Athen 100 Weischedel, Wilhelm 94, 304
Spaemann, Robert 180, 304, 306 Wellmer, Albrecht 142, 145, 154,
Specht, Rainer 367 376f.
Spengler, Oswald 328, 379 Wieland, Wolfgang 166
Spinoza, Baruch de 68, 107 Wimmer, Reiner 114, 177
Stalin, Josef 133 Winch, Peter 241
Stenius, Erik 434f. Wittgenstein, Ludwig 5, 7, 10, 30,
Strasser, Peter 304, 307 33f., 45, 55, 67, 69, 72, 74–76, 78,
Straus, Erwin 193, 195, 204 81, 83, 117, 120f., 124–126,
Stumpf, Carl 124 128–131, 133f., 136–140, 145f.,
Suárez, Francisco 20, 235, 311, 367 151–153, 155, 158, 161f., 164f.,
Swinburne, Richard 276, 302, 324 167, 169–171, 174, 180, 185–188,
190–192, 194–196, 199, 202–204,
Tauler, Johannes 66 207–209, 211, 213–215, 218–221,
Taylor, Charles 180, 203, 224, 301, 226, 228–232, 235, 241f., 247f.,
303 252, 256, 260, 262, 270, 284f.,
Theunissen, Michael 76, 100, 109, 289, 291f., 295, 297, 302f., 306f.,
127, 144, 155, 297f., 304, 306f., 314f., 317, 319–324, 332, 334,
319, 377 337, 340f., 343–345, 349, 370,
Thomas von Aquin 41, 53f., 74, 379–381, 389, 398, 409f., 424,
348, 362f., 397 426f., 430f., 433, 435f.
Thomas von Vercelli 363f., 375 Wolff, Christian 370, 399
Tillich, Paul 86–95, 180, 269, 294f. Woytila, Karol 179
Tolstoi, Lew N. 134, 136, 295
Trakl, Georg 136 Žižek, Slavoj 203
Sachregister

Absolute, das 3, 65, 68, 72–82, 91, Böse, das 9, 26, 30–34, 36–41,
93, 96, 133, 144f., 148–153, 43–48, 50, 52–57, 62f., 282, 312,
155–158, 181, 208, 230, 252f., 336
267, 270f., 277, 284, 288, 292,
297, 299, 304–306, 309, 314f., Christologie 47f., 64, 70, 76, 93,
317f., 324, 328f., 376f., 381–385, 144, 155, 297, 317, 377
389f., 430f.
– Substitute des 72f., 75–78, 80, Differenz 77f., 128, 155–157, 181,
82f., 148–150, 153, 156, 270f., 209, 242, 270, 299, 318, 381, 393
296, 309, 315, 317–319, 328f. – Kultur der 24
Alltagspraxis, kommunikative 17, – ontologische 69, 74, 120, 127f.,
77, 149, 298, 344 152, 155, 271, 316
Analogie 236, 286, 323 Diskursethik 77, 298, 345, 349
anthropologia transcendentalis 261, 263
Aufklärung 3–14, 19f., 24f., 28,
38f., 82, 86, 98, 103, 115, 148, Endlichkeit 5f., 11, 26–30, 35, 53,
176, 179f., 182–184, 202, 218, 58, 64, 69f., 88f., 94, 104, 110,
230, 233, 235, 250, 268, 270, 272, 118, 195–197, 205f., 208, 230,
276, 289, 299, 310, 312, 314, 326, 243, 245f., 258, 262f., 265f., 274,
329–334, 340, 380, 382, 419 280, 294, 301, 308, 333, 339,
390f., 400, 406, 408, 421f., 444
– biblische 6, 8f., 11, 337
Eschatologie 10, 79–81, 117, 144,
– Dialektik der 4, 76, 106, 143, 317,
150, 155, 296, 363, 374, 377, 431
331
Evolutionstheorie 272, 335
– existentielle 57 Freiheit 9, 11f., 16, 20f., 25, 31–33,
– Tiefen- 3, 6, 12, 36, 57, 230, 288, 36, 39, 41f., 45–49, 51–54, 60–63,
330, 333, 336f., 339f., 350f. 67, 71, 101, 103f., 107f., 115,
Augenblick 10, 17, 29, 53f., 69, 82, 125, 169, 177, 187, 193, 195, 197,
85, 91, 119, 121–124, 126f., 129, 204, 212, 216, 220–222, 227, 245,
135, 222, 225, 232, 265f., 279, 266f., 282, 285f., 294, 306–308,
286, 297, 306, 323, 335, 337f., 311–313, 322, 324, 336, 338–340,
352, 356, 374, 376–378, 385f., 352, 365, 392, 412f., 425, 430,
388f., 400, 404f., 417, 442f., 445, 436
447
Autonomie 33, 42, 212, 267, 346,
406, 444 Gewissheit 29, 222, 229, 236, 313,
341, 343–345, 348f., 351
Gnosis 74, 78, 90, 131, 133–136,
Bilderverbot 18f., 24f., 100, 181, 140f., 146f., 157, 316, 318, 360
210, 217, 231, 244, 246, 261, 275, Grundsituation, menschliche 58f.,
310, 382 131, 341, 360, 428, 433
Sachregister 457

Gute, das 4, 11, 17, 19, 39, 42, – Hermeneutik der 26f., 29–31, 35
46–48, 54–56, 63, 68f., 88, 201, Leiden, das 26–30, 33–35, 39, 52, 64,
212, 262, 276, 310f., 313, 321, 70, 82, 94, 141, 143, 245, 264,
324, 330, 338, 359, 396f., 399 268, 296, 359f., 446

Hermeneutik 100, 136, 156, 167, malum


174, 188, 210, 301, 410 – metaphysicum 26–29
– kritische 128f., 161, 165, 171, – morale 26, 30f.
214, 219, 320, 410, 433 – naturale 26–29
– negative 227
Metapher, absolute 323, 358,
– und Dialektik 411
423–427, 431f.
– und Pragmatik 410
Metaphysik 15, 26, 38, 52, 65f., 71,
74f., 78, 90, 95f., 101, 108, 110,
Identität 9, 34f., 44, 53, 67, 80, 90,
118, 120, 123, 132, 134, 145, 149,
94, 125, 141f., 154, 190, 195, 276,
151–153, 157, 169, 201–204,
284, 289, 346, 363, 373, 390, 393,
207f., 217, 219, 224f., 230, 234,
399f., 445
243f., 249, 252f., 258, 260–263,
– und Differenz 67
267, 276, 292, 294, 305, 309, 312,
Individualität 20, 23f., 67f., 76, 91,
316, 318, 320, 323, 325, 327, 349,
127, 129, 185, 196, 206, 222, 249,
359, 371, 376, 383, 387, 394, 396,
257–259, 271, 275, 297, 317, 400,
419, 425f., 432, 438, 446
407
Individuation 67f., 71 Moderne 19, 21f., 24f., 72, 78f., 86,
– -sprinzip 21, 120, 365, 367 88, 90, 103f., 106, 111, 128, 134,
148f., 158, 176, 179f., 182f., 204,
Kalokagathia 396 210, 218f., 228, 230f., 233, 245,
Kommunikationsgemeinschaft, idea- 268, 270f., 275, 288f., 291, 300f.,
le 77f., 181, 270, 298 303, 309f., 314, 318, 327–329,
339, 373, 380, 382, 384, 392,
Lebensform 33, 140, 164, 178, 186, 421f.
203, 211, 214, 229, 256, 306, 344, Moralität 9, 21, 23, 31–33, 40–42,
348, 351, 380, 402, 418, 422, 428, 44f., 53, 193, 238, 243, 246, 249,
436 336, 351f.
Lebensform: 170 Mystik, rationale 19, 66, 69, 78, 157,
– kommunikative 17, 94, 96, 116, 210, 219, 222, 231, 273, 306, 310,
140, 169, 186, 214, 263, 281, 398 318, 363, 387
– moralische 26f., 32–34 Mystische, das 69, 75f., 78, 80,
– religiöse 3, 12, 19, 140, 204, 151f., 157, 181, 213f., 230, 270,
215f., 235, 241, 250, 256, 259f., 295, 297, 317f., 381
274, 285, 288, 295, 310, 330,
339f. Negativität 6f., 12, 28, 46, 56, 78,
– säkularisierte 253 82, 85, 88–90, 92–94, 97, 99f.,
– transzendentale 429–432 106, 109, 111, 113f., 122, 127,
Lebenswelt 26f., 31f., 35, 86, 99, 129f., 132, 142, 196f., 206, 208,
111, 115, 162, 170, 192f., 224, 210, 212, 217, 219, 222, 231,
226, 293, 343, 345, 351, 396, 403, 243f., 246, 252, 318, 333f., 339,
406–408, 419, 429, 431f., 443, 349, 377, 382, 393, 410
446 – anthropologische 106, 110, 115
458 Sachregister

– der Transzendenz 213, 265, 310f., Sinnkonstitution 6, 51, 58–62,


387 65–69, 114, 123, 126, 189–191,
– existentielle 61, 63, 88f., 106 194, 199, 217, 223f., 226, 271,
– interexistentielle 350 281
– Ontologisierung von 142 – sprachliche 60, 67, 70, 112, 199
– Paradigmen der 382 – und Negativität 12, 18, 20, 67,
– Schutz der 221f., 350 109f., 114, 119, 121–124, 127,
– sprachliche 89 130, 162, 190, 197f., 212, 219,
– und Moralität 246 221, 223, 227, 230f., 263, 310,
– und Praxis 47, 111, 113, 121 333, 348, 410
– und Sinn 3, 12, 18, 20, 32, 52, Sprachanalyse 117, 167, 186, 190,
109f., 114, 119, 121–124, 127, 226, 411, 421
132, 184, 198, 207f., 210, 212, Sprachspiele 77, 83, 126, 128f., 140,
227, 246f., 263, 266, 279, 310, 167, 171, 186, 188, 194, 228, 242,
348, 385, 418 250, 323, 344, 380, 429–432
– und Vernunft 21, 233, 243f., 246, Sprung 46, 48, 125f., 194f., 200,
251, 262, 390, 422 228, 322
Neuplatonismus 3, 19, 66, 78, 90, Spur 78, 123, 128, 156, 158, 230,
93, 127, 157, 207, 217, 231, 286, 270, 300, 318, 447
318, 323f., 447 Subjektivität 18, 60, 62f., 70, 80,
Nichtidentische, das 5, 76, 78, 117, 107, 173, 185, 222, 273, 325, 373,
125, 127, 141–143, 145, 153–155, 421, 429f., 445
157, 181, 230, 270, 297, 317f., – passive 124, 188, 341f., 345
333, 381 – prädikative 59, 67f., 187, 193, 205
Nichtwissen, sokratisches 12, 16, – transzendentale 342
18f., 25, 56, 100, 114, 181, 210, – ursprüngliche 320–323
217, 231, 244, 261, 310, 340, 382
Theologie 9, 14, 35, 47, 58–60, 62,
Phänomenologie 7, 107, 109, 123f., 68, 74f., 78, 155, 157, 180, 182,
167, 184–186, 190f., 196, 199, 202, 204, 207, 212, 219, 244, 261,
205, 334, 341, 363, 421 269, 277, 283, 287, 293, 300,
Postmoderne 72, 78, 86, 148f., 156, 316f., 325, 329, 336, 340, 358f.,
179, 289, 299, 309, 314, 318, 328, 369, 373, 375, 384, 424, 432
384, 390 – dialektische 79, 214
postsäkular 37, 202, 270 – negative 3, 19, 24f., 50, 138, 142,
Psychoanalyse 44, 73, 99, 148, 218, 181, 207, 210, 217, 231, 244, 246,
347, 351 263, 267, 271, 277, 292, 302, 306,
309–311, 319, 324, 375, 377,
Rationalität, okzidentale 14, 19, 65, 382–385, 430
70, 73f., 79, 99f., 150, 157, 202, – philosophische 65, 68, 71, 78,
207f., 210, 217f., 231, 294, 309f., 93f., 149, 157f., 179, 252f.,
312–316, 319, 382 270f., 276f., 283f., 286, 288,
Regelfolgen 67, 125, 190, 192, 194, 290–292, 302, 304, 313, 319, 321,
200, 221, 226, 322, 344 329
– politische 80, 331
Säkularisierung 19, 37, 79f., 148, Tod Gottes 12, 18f., 63, 72, 149,
150, 203, 250, 276, 288–290, 293, 179, 210, 231, 246, 252, 290, 310,
296, 299, 314, 339, 350 314, 327, 350
Sachregister 459

transpragmatisch 6–8, 12, 42–45, 49, – in der Immanenz 19, 69, 181, 189,
51, 84, 211, 215, 243, 245, 252, 207, 209, 212, 217, 252f., 263,
258–260, 266, 268, 278, 281f., 277f., 283, 287f., 322, 324, 368,
287, 296, 333, 340 384, 387, 390
transrational 18, 49, 69, 270, 287 – interexistentielle 12, 24, 206, 211,
Transsubjektivität 32, 248, 356, 398, 262, 264f., 282, 340
402, 444 – kommunikative Selbst- 122, 194,
Transzendentalien 203, 262f., 205, 280, 282
362–364, 397 – Paradigmen der 14, 76, 210f.,
Transzendenz 3, 10, 18f., 44, 50f., 214, 287, 313, 317
54, 69, 71, 76, 79–85, 94, 117, – -überschuss, eschatologischer 82,
125–127, 131f., 145f., 149f., 155, 126
181f., 184, 189, 195, 201–217, – und Geschichte (Benjamin) 81f.,
247, 252f., 263, 265–267, 271, 85
278–283, 285–288, 290, 292–298, Transzendenzreflexion, europäische
74, 207, 219, 307, 316, 385
300–302, 304, 307f., 310–312,
Trinität 60, 62, 66, 70, 150, 301,
314, 319, 322–325, 329f., 339f.,
369, 397
350, 375, 381f., 384f., 391f.
– -ansprüche, ethische 140 Unverfügbarkeit, sinnkonstitutive 6,
– ästhetische 377, 385, 391 8, 12, 18f., 24, 28, 82, 119, 181,
– der Sprache 69, 206, 212, 271, 197, 206, 211, 222f., 231, 278,
280f., 283 282, 287f., 311, 330, 333, 335,
– der Welt 12, 69, 206, 212, 262, 339f., 348, 350, 383
264, 278, 280, 283, 340
– des Guten 262 Verifikation, eschatologische 236,
– Dialektik der 201, 207, 210–214, 302
216 Vernunftreligion 50, 308
– existentielle 12, 51, 206, 211, 262,
282f., 340 Wunder 12, 52, 62, 69, 254, 259,
– Gleichursprünglichkeit der 271, 264, 272, 278–281, 283, 286, 294,
283f., 288, 320 306, 308, 322, 335, 339

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