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Paul Ricœur

An den Grenzen
der Hermeneutik
Philosophische Reflexionen
über die Religion

Herausgegeben, übersetzt und


m i t einem Nachwort versehen von
Veronika Hoffmann

Verlag Karl Alber Freiburg/ München


Originalverëffentlichungen:
-! »L‘herméneutique du témoignage«, in: © Archivio di Filosofia 42
(1972), 35!61.
! »Herméneutique de l’idée de Révélation«, in: Paul Ricœur et al., La
Révélation. © Facultés universitaires Saint-Louis. Bruxelles 1977 (Publi"
cations des Facultés universitaires Saint-Louis, 7), 15!54.
! »Phénoménologiedela religion«, in: Paul Riœur, Lectures, t o m e 3. Aux
frontières dela philosophie. © Editions du Seuil. Paris 1994, 263!271.
! »L'enchevêtrement de la voix et de l'écrit dans le discours biblique«, in:
© Archivio di Filosofia 60 (1992), 233!247.
Die deutsche Ausgabe wurde realisiert mit freundlicher Genehmigung
des Comité éditorial du Fonds Ricœur.

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Deutsche Erstausgabe Z

Gedruckt auf altemngsbeständigem Papier (säurefrei)


Printed on acid-free paper

Alle Rechte vorbehalten ! Printed in Germany


© Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2008
www.verlag-alber.de
Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans
Satzherstellung: SatzWeise, Fëhren
Druck und Bindung: fgb -freiburger graphische betriebe
www.fgb.de
ISBN 978-3-495-48298-8
Über dieses Buch:
Paul Ricœur hat neben seinen groBen philosophischen Werken in
Aufsätzen und Vorträgen immer wieder Themen des christlichen
Glaubens aufgegriffen, dabei aber betont, dass er sich auch diesen
Fragen als Philosoph nähert. Der Band versammelt vier bedeutsame,
bisher noch nicht übersetzte Texte aus diesem Bereich seines Schaf!
fens:
In zwei groBen Aufsätzen unterzieht Ricœur die Begriffe des
»Zeugnisses« und der »Offenbarung« einer rigorosen philosophi!
schen Analyse. Zugleich markiert er jeweils den Ort, an clem sie als
theologische den Horizont der philosophischen Hermeneutik spren!
gen. Zwei kleinere Texte gehen auf die vorletzte von Ricœurs Gif!
ford-Lectures zurück, die er nicht in seine Monographie »Das Selbst
als ein Anderer« aufnahm. Hier fragt Ricœur z u m einen nach Môg!
lichkeiten und Grenzen der Religionsphänomenologie, zum anderen
lotet er die komplexen Beziehungen von Won, Schrift und glauben!
der Gemeinschaft aus.
Die Arbeit »an den Grenzen der Hermeneutik« stellt so das die
vier Aufsätze verbindende Thema dar, das ihnen noch über Clie Be!
deutung ihrer Einzelüberlegungen hinaus Gewicht gibt für religions!
philosophische und theologische Fragestellungen sowie für eine u m !
fassendere Wahmehmung des »Hermeneutikers« Ricœur.

Der Autor:
Paul Ricœur (1913"2005), einer der bedeutendsten franzôsischen Phi!
losophen der Gegenwart, lehrte u.a. in Paris und Chicago. Sein u m !
fangreiches und breit gefächertes Werk umfasst phänomenol0gische
und hermeneutische, geschichtswissenschaftliche, ethische und poli!
tische Fragestellungen. Weitere Werke in Übersetzung bei Alber: Die
Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld [ (2002);
Symbolik des Bôsen. Phänomenologie der Schuld Il (2002).
Inhalt

Die Hermeneutik des Zeugnisses . . . . . . . . . . . . .... 7


Die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .... 7
Die Semantik des Zeugnisses . . . . . . . . . . . . . .... 10
Das Eindringen der prophetischen und kerygmatischen
Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .... 18
Die Hermeneutik des Zeugnisses . . . . . . . . . . . .... 30
Hermeneutik der Idee der Ofienbarung . . . . . . . . . . . . 41
I. Die ursprünglichen Ausdrücke der Offenbarung . . . . . 41
l . Der prophetische Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . 43
2 .Der narrative Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
3. Der vorschreibende Diskurs . . . . . . . . . . . . . . 49
4 .Der Weisheitsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
5 .Der Diskurs des Hymnus . . . . . . . . . . . . . . . 55
[ I . Die Antwort einer hermeneutischen Philosophie . . . . 61
Die Welt des Textes und das neue Sein . . . . . . . . . . 65
Die vermittelte Reflexion und das Zeugnis . . . . . . . . 71

Phänomenologie der Religion . . . . . . . . . . . . . ..... 85


Schwierîgkeiten einer Phänomenologie der Religion . . . . . 85
Die Verflechtung von Stimme und Schrift im biblischen Diskurs . 95
[ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 6
Il ............................... 100
l" ............................... 110

Anmerkungen zur Übersetzung ................ 117


Inhalt

Nachwortz An den Grenzen der Hermeneutik . . . ...... 119


1 . Ein Denken a nGrenzen . . . . . . . . . . . ...... 119
2. An den Grenzen der Hermeneutik: der innere
Zusammenhang der Texte . . . . . . . . . . ...... 123
2.1. Das Zeugnis als Grenze . . . . . . . . . ...... 123
2.2. Biblische Polyphonie und Selbstentäu8erung des
Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
2.3. Die Zirkularität der Glaubenshermeneutik . . . . . 135
3. Vom Zentrum zum Ungesagten: Zeugnis und Geist . . . 139
Die Hermeneutik des Zeugnisses

Die Problematik

Ich begebe mich sofort an das Ende dieser Überlegungen und frage:
Für welche A r t von Philosophie stellt das Zeugnis ein Problem dar?
Und ich a n t w o r t e : für eine Philosophie, für die die Frage nach dem
Absoluten eine sinnvolle Prage ist; für eine Philosophie, die die Idee
des Absoluten m i t einer Erfahrung des Absoluten verbinden will; für
eine Philosophie, die weder im Beispiel noch im Symbol die Dichte
dieser Erfahrung findet.
Ich bin dieser Philosophie im Werk von Jean Nabert begegnet,
meines Wissens dem einzigen, das das Thema einer Hermeneutik des
Absoluten und des Zeugnisses entwickelt hat (Le désir de Dieu, Buch
III, »Métaphysique du témoignage et herméneutique de l’absolu«).
Die folgenden Seiten sind von diesem Werk inspiriert, zu dessen Lek!
türe sich eigene semantische, epistemologische und exegetische
Überlegungen hinzugesellen.

Eine Philosophie, für die die Frage nach dem Absoluten eine sinu!
volle Frage ist
Wenn das Zeugnis ein philosophisches Problem sein soil und nicht
nur, wie w i r noch zeigen werden, ein juristisches oder historisches,
dann insofem als das Wort sich nicht darauf beschränkt, die Erzäh!
lung eines Zeugen zu bezeichnen, der berichtet, was er gesehen hat,
sondem sich auf Worte, Werke, Handlungen, Lebensgeschichten be!
zieht, die als solche im Herzen der Erfahrung und der Geschichte eine
Intention, eine Inspiration, eine Idee bezeugen, die die Erfahrung
und die Geschichte überschreiten. Das philosophische Problem | des 108
Zeugnisses ist das Problem des Zeugnisses v o m Absoluten‘; besser:

1 [»le témoignage del'absolu«; grammadkalisch wäre auch die Übersetzung »das Zeug!
nis des Absolute… môglich.]
Die Hermeneutîk des Zeugnisses

des absoluten Zeugnisses v o m Absoluten. Die Frage ist n u r sinnvoll,


Absolute für das Bewusstsein sinnvoll ist. Und dieses ist
w e n n das
dann sinnvoll, jenseits der Kritik am ontologischen Argument und
an den Gottesbeweisen, jenseits des Zusammenbruchs der Ontotheo!
logie, w e n n die Reflexion durch eine ebenso intellektuelle wie mora!
lische Askese in der Lage ist, das Selbstbewusstsein bis zu einer »Ur!
bejahung« [affirmation originaire] zu erheben, die wirklich eine
absolute Bejahung des Absoluten ist.

Eine Philosophie, die die Idee des Absoluten mit einer Erfahrung des
Absoluten verbinden will
Die Urbejahung trägt alle Charakterzüge einer absoluten Bejahung
des Absoluten, aber sie kann nicht über einen rein innerlichen Akt
hinausgehen, sie ist nicht imstande, sich auEerhalb auszudrücken,
nicht einmal, sich innerhalb zu erhalten; die Urbejahung hat etwas
unbestimmt Anfanghaftes an sich und betrifft n u r die Idee, die das
Ich sich von sich selbst macht. Für eine Reflexionsphilosophie ist die!
seUrbejahung in keiner Weise eine Erfahrung; obwohl numerisch
identisch m i t dem realen Bewusstsein eines jeden Einzelnen, ist sie
der Akt, der sich vollständig v o n den Grenzen befreit, die das indivi!
duelle Schicksal auferlegt. Sie ist Entäuflerung. Und eben durch diese
EntäuBerung kommt die Reflexion z u r Begegnung mit den kontin!
genten Zeichen, die das Absolute in seiner Generosität v o n sich selbst
erscheinen lässt. Diese EntäuBerung ist nicht n u r eine ethische, son!
dern auch eine spekulative; denn erst wenn das Denken des Unbe!
dingten allen Rückhalt in den transzendenten Objekten der Meta!
physik verloren hat, wenn es auf alle Objektivierungen verzichtet
hat, die der Verstand erzwingt, dann wird der Anspruch des Absolu!
ten, reduziert auf die Vertiefung eines Aktes, der jeder unserer Hand!
lungen immanent ist, bereit für soetwas wie eine Erfahrung des Ab!
soluten im Zeugnis.

Eine Philosophie, die weder im Beispiel noch im Symbol die Dichte


dieser Erfahrungfindet
Warum sollte das Beispiel diese Rolle einer Erfahrung des Absoluten
nicht ausfüllen? Bietet uns das »Erhabene« bei Kant nicht das Model]
einer Verehrung, die sich m i t Hilfe der exemplarischen Handlung
109 einiger Heroen des moralischen Lebens auf die Quelle | dieser he!
rausragenden Akte selbst bezieht? Unter mindestens zwei Rücksich!
Die Problematik

ten reicht die Vorstellung des Beispiels nicht an diejenige des Zeug!
nisses heran.
In der exemplarischen Handlung tritt der Fall hinter die Regel
zurück, die Person hinter das Gesetz. Das Bewusstsein wird n u r
durch sich selbst und durch die Norm, die esbereits enthielt, gestei!
gert. Die Exemplarität des Beispiels bildet keine Manifestation der
Urbejahung.
Noch gewichtiger ist, dass die Beispiele moralischer Erhabenheit
unsere Verehrung an die moralische Ordnung binden. Die Begeg!
nung mit dem Bôsen jedoch, in u n s und auBer uns, ôffnet u n t e r u n !
seren Schritten den Abgrund des nicht zu Rechtfertigenden [l'injus!
tifiable], d.h. den Abgrund dessen, was sich jedem Versuch einer
Rechtfertigung, nicht n u r durch die Norm, sondern auch durch die
Nichterfüllung der Norm, entzieht. Das nicht zu Rechtfertigende
zwingt zu einer Aufgabe jeder cupido sciendi, die die Reflexion bis
an die Schwelle der Theodizee trägt. Diese letzte EntäuBerung berei!
t e t die Reflexion darauf vor, den Sinn v o n vollständig kontingenten
Ereignissen oder Akten aufzunehmen, die bezeugen kônnten [attes!
teraient2], dass das nicht zu Rechtfertigende hier und jetzt über!
wunden ist. Diese Bezeugung liei3e sich nicht auf die Illustration
derjenigen Normen reduzieren, deren Geltung das nicht zur Recht!
fertigende untergraben hat; das Eingeständnis des Bësen erwartet für
unsere Regeneration mehr als n u r Beispiele des Erhabenen; eserwar!
t e t Worte und vor allem Handlungen, die absolute Handlungen wä!
r e n in dem Sinn, dass die Wurzel des nicht zu Rechtfertigenden in
ihnen eindeutig und offensichtlich ausgerissen wäre.
Dieselben Gründe, die das Beispiel nicht die Ebene des Zeugnis!
ses erreichen lassen, markieren auch die Distanz des Symbols zum
Zeugnis. Das Beispiel ist historisch, aber es tritt als Fall hinter der
Regel zurück. Das Symbol tritt nicht so schnell zurück: Sein doppel!
t e r Sinn, seine Undurchsichtigkeit machen es unerschôpflich und
führen dazu, dass es nicht aufhërt, zu denken zu geben. Aber ihm
fehlt " oder kann fehlen " die historische Dichte; sein Sinn ist wich!
tiger als seine Historizität. Deshalb stellt es eher eine Kategorie der
produktiven Einbildungskraft dar. Im Gegensatz dazu gibt das abso!
lute Zeugnis in seiner konkreten Singularität der Wahrheit einen
Rückhalt, ohne den deren Autorität in der Schwebe bliebe. Das jedes
Mal singuläre Zeugnis verleiht den Ideen, den Idealen, den Seinswei!

2 [Zu »attester« und »témoigner« vgl. die Anmerkungen z u r Übersetzung.]


Die Hermeneutîk des Zeugnisses

sen, die das Symbol uns n u r als unsere ureigensten Môglichkeiten


aufdeckt und beschreibt, die Approbation der Wirklichkeit.
Aber man sieht sofort die Ungeheuerlichkeit des Paradoxes, das
die Philosophie des Zeugnisses hervorruft: »Haben w i r das Recht«,
110 fragte | Nabert im Essai sur le Mal, »einen Augenblick der Geschichte
m i t dem Merkmal der Absolutheit auszustatten?« (5.148). In der
Tat: Wie kônnte m a n die Innerlichkeit der Urbejahung und die À u !
Ëerlichkeit der Handlungen und Existenzen, von denen wir sagen,
dass sie für das Absolute zeugen, miteinander verbinden? Das ist
das Paradox, des zu lôsen sich eine Hermeneutik des Zeugnisses zur
Aufgabe macht.
Wir werden folgendermafien vorgehen: Im zweiten Teil werden
w i r von der allgemeinen Vorstellung des Zeugnisses ausgehen und
die Methoden der semantischen Analyse auf sie anwenden; so wer!
den wir uns bemühen die Sinnbedingungen abzustecken, ohne die
m a n nicht v o m Zeugnis sprechen kann; diese Sinnbedingungen kôn!
n e n nicht aufgegeben werden, sondern müssen im späteren Konzept
des absoluten Zeugnisses erhalten bleiben.
Im dritten Teil werden wir auf die Exegese des Zeugnisses bei
den biblischen Propheten und im Neuen Testament zu sprechen
kommen; w i r werden m i t Hilfe dieser neuen Methode die Wandlung
des Sinnes zu beschreiben versuchen, durch die man vom Zeugnis im
allgemeinen Sinn z u m Zeugnis im prophetischen und kerygmati!
sehen Sinn gelangt; aber wir werden uns zugleich fragen, ob und
wie die Sinnbedingungen, die den allgemeinen Begriff des Zeugnis!
ses abstecken, in dieser neuen Bedeutung aufgegriffen sind.
Im vierten Teil werden wir, ausgerüstet mit dieser doppelten
Analyse, z u m Anfangsparadox zurückkehren, das diese Unter!
suchung in Gang gesetzt hat, und die philosophische Hermeneutik
des Zeugnisses entfalten, die diesem Aufsatz seinen Titel gegeben
hat. Das zentrale Thema wird die Verbindung der Urbejahung und
des Zeugnisses u n t e r dem Zeichen der Interpretation sein.

Die Semantik des Zeugnisses

Die Alltagssprache führt Sinnbedingungen m i t sich, die m a n leicht


erkennen kann, indem man die Kontexte bestimmt, in denen der
Ausdruck in signifikanter Weise verwendet wird.

10
Die Semantik des Zeugnisses

1) Das Zeugnis hat zunächst einen quasi-empirischen Sinn: Es be!


zeichnet den Akt des Bezeugens, d.h. des Berichtens von etwas, das
man gesehen oder gehôrt hat. Der Zeuge ist der Autor dieser Hand!
lung: Er ist derjenige, der gesehen oder gehôrt hat und jetzt über das
Ereignis berichtet. In diesem Sinn spricht man vom »Augenzeugen«
(oder »Ohrenzeugen«). Dieses erste Merkmal verankert | alle ande! 111
ren Bedeutungen in einer quasi"empirischen Sphäre. Ich sage »quasi!
empirisch«, weil das Zeugnis nicht die Wahrnehmung selbst ist, son!
dern der Bericht, d.h. die Geschichte, die Erzählung von dem
Ereignis. Es überträgt folglich Gesehenes auf die Ebene von Gesag!
t e m . Dieser Transfer hat eine wichtige Implikation auf der Ebene der
Kommunikation; das Zeugnis ist eine zweistellige Relation: Es gibt
den, der bezeugt, und den, der das Zeugnis empfängt. Der Zeuge hat
gesehen; der, der sein Zeugnis empfängt, hat nicht gesehen, sondern
hôrt. Nur über das Hôren des Zeugnisses kann er andie Wirklichkeit
der Tatsachen, die der Zeuge berichtet, glauben oder nicht glauben.
Das Zeugnis als Erzählung befindet sich also in einer Mittelposition
zwischen einer Peststellung, die ein Subjekt trifft, und einem Clau!
ben, der von einem anderen Subjekt im Vertrauen auf das Zeugnis
des ersteren angenommen wird.
Das Ereignis wird durch das Zeugnis nicht n u r von einem Sinn
z u m anderen, v o m Sehen z u m Hôren, übertragen; das Zeugnis steht
auch im Dienst des Urteils; die Peststellung und die Erzählung stellen
Informationen dar, auf deren Grundlage m a n sich eine Meinung über
eine Abfolge v o n Ereignissen, den Zusammenhang einer Handlung,
die Motive einer Handlung, den Charakter einer Person, kurz, über
den Sinn dessen, was geschehen ist, bildet. Das Zeugnis ist dasjenige,
worauf m a n sich stützt, um zu denken, dass …, der Auffassung zu
sein, dass ..., kurz, um zu urteilen. Das Zeugnis will rechtfertigen,
belegen, dass eine Behauptung g u t begründet ist, die über die bloBe
Tatsache hinaus ihren Sinn zu erreichen beansprucht.
Die Charakterisierung als Augenzeugnis reicht deshalb für das
Zeugnis niemals aus, um seinen Sinn als Zeugnis zu konstituieren; es
muss nicht n u r Feststellung sein, sondern auch Bericht einer Tatsa!
che, der dazu client, eine Option oder eine Wahrheit zu belegen.
Selbst in dem Fall des vorgeblichen »Zeugnisses der Sinne« ist dieses
Zeugnis n u r ein solches, w e n n esaufgefordert ist, ein Urteil zu u n t e r !
stützen, das die blof3e Kenntnisnahme von Fakten überschreitet. Un!
t e r dieser Rücksicht gehôrt das Zeugnis in den Bereich dessen, was
Eric Weil das »Gerichtliche« [judiciaire] nennt.

11
Die Hermeneutik des Zeugnisses

2) Unter welchen Umständen gibt und empfängt m a n ein Zeugnis?


In einer charakteristischen Diskurssituation, die in einem buchstäb!
lichen oder analogen Sinne so auch realisiert werden kann. Diese
Diskurssituation ist der Prozess.
Man n e n n t nicht einfach jeden Bericht über eine Tatsache, ein
Ereignis, eine Person ein »Zeugnis«; der Akt des Bezeugens hat eine
112 enge | Beziehung zu einer Institution: der Iustiz; einem Ort: dem
Gericht; einer sozialen Rolle: der des Anwalts, des Richters; einer
Handlung: derjenigen, ein Plädoyer zu halten, d.h. Staatsanwalt oder
Verteidiger in einem Prozess zu sein. Das Zeugnis ist eines der Be!
weismittel3, die die Anklage oder Clie Verteidigung vorbringen, um
den Richterspruchzu beeinflussen.
So verweist das Zeugnis auf eine Instanz, d. h. auf eine juristi!
sche Handlung, die Anklage und Verteidigung umfasst und eine ge!
richtliche Entscheidung fordert, die den Streit zwischen zwei oder
mehr Parteien entscheidet. Diese Referenz drückt sich in der Gram!
matik des Verbs »bezeugen« aus: Bezeugen hei8t bezeugen, dass
Aber es heiBt auch zeugen für oder zugunsten v o n ; der Zeuge
»legt« sein Zeugnis »ab«; er legt es »vor« dem Gericht ab; die Feier!
lichkeit des Zeugnisgebens ist u n t e r Umständen erhôht und geheiligt
durch ein spezielles Ritual des Schwôrens oder des Eides, das die Er!
klärung des Zeugen als Zeugnis qualifiziert.
Diese diversen Züge eignen sich für eine analoge Generalisie!
rung, die dazu beiträgt, die Bedeutung der Vokabeln »Zeuge« und
»Zeugnis« in der Alltagssprache zu etablieren; tatsächlich diem die
Diskurssituation, die m a n »Prozess« n e n n t , als Modell für Situatio!
nen, die weniger durch ein soziales Ritual kodifiziert sind, in denen
man aber die fundamentalen Züge des Prozesses wiedererkennen
kann.
a) Achten wir zunächst auf die Idee des Widerstreits und der
Parteien. Man bezeugt n u r dort, wo es Streit gibt zwischen den Par!
teien, die gegeneinander prozessieren bzw. gegeneinander einen Pro!
zess führen; déshalb kommt das Zeugnis immer als Beweis für oder
gegen etwas z u m Einsatz: für oder gegen die Parteien und ihre Be!
hauptungen. Diese Begriffe des Widerstreits und der Parteien sind
ausgesprochen verallgemeinerban Sie erstrecken sich auf alle Situa!
tionen, in denen ein Urteil oder eine Entscheidung n u r am Ende einer

3 [»preuves« bezeichnet auch Beweise im weiteren Sinn des Wortes. Ricœur selbst wird
ausführen, dass das Zeugnis im strikten Sinn gerade kein Beweis ist.]

12
Die Semantik des Zeugnisses

Debatte, einer Konfrontation v o n gegnerischen Meinungen und ei!


nander entgegengesetzten Sichtweisen getroffen werden kann. Der
GroBteil dessen, womit Menschen zu t u n haben, gehôrt dieser Kate!
gorie an: Man kann sich hier nicht auf das Notwendige, sondern n u r
auf das Wahrscheinliche berufen; und das Wahrscheinliche lässt sich
n u r über einen Kempf zwischen Meinungen anzielen.
Eine der bemerkenswertesten Anwendungen dieser ersten Idee
betrifft die Geschichte, die Geschichtswissenschaft. Man n e n n t dort
manchmal nicht n u r den persônlichen, normalemeise schriftlichen
Bericht, der v o n den Augenzeugen der betrachteten Ereignisse gege!
ben wird, »Zeugnis«, sondern alle Arten v o n relevanten Dokumen!
ten, insofern | diese geeignet sind, ein Argument für oder gegen diese 113
oder jene These zu liefern; ein Dokument erhält den Wert eines
Zeugnisses also immer im Bezug auf eine Debatte zwischen gegneri!
schen Meinungen. Das Zeugnis ist hier nicht eine spezifische Kate!
gorie der historischen Methode, es ist eine charakteristische und i n !
struktive Übertragung eines eminem juridischen Konzepts, das hier
seine Fähigkeit z u r Verallgemeinerung bezeugt. Dieser Transfer vom
]uridischen z u r Geschichte unterstreicht die historischen Züge des
juridischen Konzeptes selbst, nämlich den doppelten Begriff von
einem Ereignis, v o n dem der Zeuge berichtet, und von einer Erzäh!
lung, in der sein Zeugnis besteht. Esentsteht so ein Austausch zwi!
schen den juridischen und den historischen Zügen des Zeugnisses.
b) Ein zweiter grundlegender Zug des Prozesses betrifft den Be!
griff der Rechtsentscheidung selbst; diese juridische Färbung des Ur!
teils ist wichtig als Qualifikation des Zeugnisses. Die Bezeugung, die
es ausmacht, zielt auf einen Akt, der entscheidet zugunsten von ...,
der verurteilt oder freispricht, der zuschreibt oder ein Recht zuer!
kennt, der zwischen zwei Ansprüchen entscheidet. Der verallgemei!
nerbare Charakterzug des Gesetzesurteils ist v o n Hart in einem
wichtigen Artikel, »The Ascription of Responsability and Rights«‘*,
skizziert worden; m i t dem Begriff der Zuschreibung [ascription],
konstruiert nach dem Model] der Beschreibung [description], richtet
Hart seine Aufmerksamkeit auf einen bemerkenswerten Charakter!
zug juristischer Aussagen: Sie kônnen angezweifelt werden, entwe!
der durch Bestreitung der behaupteten Tatsachen oder durch Herau!
ziehung v o n Begleitumständen, die es môglich machen, einen
Rechtsanspruch oder die Anklage eines Verbrechens abzuschwächen,

“ In: Proceedingsof the Aristotelian Society 49 (1948/49).

13
Die Hermeneutik des Zeugnisses

zu vermindern oder gar zu annullieren. Hart n e n n t diesem Effekt auf


den Anspruch oder die Anklage to defeat, und er bezeichnet als de!
feasible die Eigenschaft des Gesetzesurteils, dass es auf dieses Weise
angezweifelt und zum Scheitern gebracht werden kann; was ihn dazu
bringt zu sagem, dass die Handlungen, die zugeschrieben werden
kônnen, ebenso auch »aufgelôst« [»défaites«], für ungültig erklärt,
auBer Kraft gesetzt werden kônnen. Dieser Charakterzug, für ungül!
tig erklärt werden zu kënnen, ist kein sekundärer; er ist der Prüfstein
der Argumentation und des Gesetzesurteils selbst. Dieser Charakter!
zug ist es, der im Aspekt des Dezidierten, Aktiven und Willentlichen
des Entscheidungsurteils impliziert ist. Sokônnen wir sagen, dass die
Vokabel »Zeugnis« in sprechender Weise in allen Fällen verwendet
wird, wo die Differenz zwischen einem beschreibenden und einem
zuschreibenden Diskurs heworgehoben wird: Das Zeugnis kommt
immer dem guten Recht v o n zu Hilfe.
114 c) Ein dritter Charakterzug betrifft das Zeugnis selbst als eine
A r t Beweismittel, das in der Mitte zwischen Diskussion und gericht!
licher Entscheidung liegt. Als solches ist das Zeugnis Bestandteil
eines Argumentationsgangs.
In eben dieser Hinsicht betrachtet Aristoteles esim ersten Teil
seiner Rhetorik, der den »Beweisen« (nimetç) gewidmet ist, d. h. den
Mitteln z u r Überzeugung, die im beratenden, gerichtlichen und epi!
diktischen Genre (Preis-, Lobrede) verwendet werden. Die Logik des
Zeugnisses ist umrahmt v o n der Rhetorik, die ihrerseits als »Gegen!
stück« (âwimgomoç) der Dialektik (1354 a 1"7) verstanden wird;
die Dialektik aber ist die Logik n u r wahrscheinlicher Argumentatio!
nen, d.h. solcher, von denen der grôl3te Teil Meinungen enthält, die
die Mehrheit der Menschen die meiste Zeit annehmen; das Ȇber!
zeugende« als solches (niüavov), das die rhetorische Technik aus!
zeichnet, ist also dem Modus des n u r Wahrscheinlichen der dialekti!
schen Argumentation korrelativ. So ist die epistemologische Ebene
identifiziert, die der juristische Beweis als die seine anstreben kann:
nicht das Notwendige, sondern das Wahrscheinliche. M i t dieser Ei!
genschaft des Wahrscheinlichen bringt Aristoteles einen Charakter!
zug in Verbindung, dem wir bereits begegnet sind: Die Rhetorik, so
sagt er, befähigt dazu, »die Gegner zu überzeugen«; nicht, dass der
Redner unterschiedslos sowohl für als auch gegen etwas plädieren
sollte; aber w e n n er es unternimmt, den Zuhôrer oder den Richter
von einer bestimmten Sache zu überzeugcn, muss er das Argument
des Gegners voraussehen, um in der Lage zu sein, eszurückzuweisen.

14
Die Semantik des Zeugnisses

Aber die Rhetorik vermischt sich nicht m i t der Dialektik; die


Techniken der Überzeugung lassen sich durchaus nicht auf die Kunst
des Beweises reduzieren; sie berücksichtigen auch die Disposition des
Auditoriums und den Charakter des Redners; ebenso mischen sie
moralische und logische Beweise. Dieser Aspekt ist unausweichlich
und nicht auflësbar, wenn man beachtet, dass in den drei betrachteten
Diskurssituationen! anklagen und sich verteidigen v o r einem Tribu"
nal, eine Versammlung beraten, ioben und tadeln ! die Argumenta"
tion das Auditorium mitberücksichtigt und auf ein Urteil ausgerich"
t e t ist ! »die Rhetorik zielt auf ein Urteil ab (Ëvexa ugiosœg)« (1377
b 20!22) und »hat einen Zuhôrer im Blick (nQÔ 1:Ôv àxgoatñv)<< ( III,
1, 6). M i t dem Auditorium und dem Richter kommen die Leiden"
schaften, die bewegt, und die Einstellungen, die hervorgemfen wer"
den sollen. Das Zeugnis ist so im Netz von Beweis und Überzeugung
gefangen (die Wurzel ist im Griechischen dieselbe: J‘tiOTLç!lJILŒEÙ" 115
sw), die für das rhetorische Niveau des Diskurses im eigentlichen
Sinn charakteristisch sind.
Was das Zeugnis selbst betrifft, kann m a n sich wundern, wie
gering sein Ansehen bei Aristoteles ist; er ordnet es u n t e r die » u n "
technischen« Beweismittel ein, d.h. au8erhalb der v o m Redner selbst
entwickelten Argumente; diese untechnischen Beweismittel be"
schafft nicht der Redner; sie existieren bereits v o r seiner Argumen"
tation: »Gesetze, Zeugen, Verträge, Folteraussagen, Eide« (1375 3
23-24).
Man kann diese Behandlung des Zeugnisses, die seine Bedeu"
tung scheinbar massiv schmälert, folgendermaBen erklären: Zu"
nächst hat Aristoteles als »Zeugen« (pâgwgeç) weniger Erzähler
v o n Gesehenem im Blick als moralische Autoritäten, die v o m Redner
als Zeugen herangezogen werden; diese Art Autoritätsargument ist
zwar ein dem Fall äuBerliches Argument, aber in der Lage, z u r Ent"
scheidung des Richters beizutragen: Die zitierten Zeugen sind t a t "
sächlich v o r allem Dichter oder berühmte Männer, deren Urteile all"
gemein bekannt sind, Verkünder von Orakeln, Autoren von
Sprichwôrtern; diese »alten« Zeugen sind vertrauenswürdiger als
die »jüngeren«, v o n denen einige »die Gefahr teilen«, d.h. die Gefahr
eines Prozesses, und zugunsten einer der Parteien voreingenommen
sind. Diese Argumentation des Aristoteles verlagert die Glaubwür"
digkeit des Zeugnisses auf diejenige des Zeugen und offenbart einen
wichtigen Charakterzug, auf den wir zurückkommen werden: die
Qualität des Zeugen, seine Wahrhaftigkeit, deren Fehlen eine Logik

15
Die Hermeneutik des Zeugnisses

des Zeugnisses nicht ausgleichen kônnte; daher ist der Redner, der
sich des Zeugnisses »bedient«, der jemanden zum Zeugen nimmt,
nicht sein Meister. AuBerdem nimmt das Zeugnis, selbst w e n n es als
ein Bericht von Ereignissen verstanden wird, die einem zugestoBen
sind, in einer Rhetorik, die durch eine Logik geregelt wird, n o t w e n !
digerweise einen untergeordneten Platz ein; denn es markiert die
Abhängigkeit des Urteils und des Richters v o n etwas ÀuBerem: auf
der ersten Ebene v o n dem, was ein anderer gesagt hat, auf der zwei!
t e n Ebene von dem, was dieser gesehen hat; deshalb gibt sich Aristo!
teles Mühe, die Logik des Zeugnisses so weit wie mëglich an die
Logik der Argumentation zu binden, indem er auf den Kriterien der
Wahrscheinlichkeit insistiert, die auf esangewandt werden kônnen;
auf diese Weise sind die untechnischen Beweismittel m i t den tech!
nischen Beweismitteln, die die Grundachse eines Argumentations!
ganges bleiben, verbunden. Aber die ÀuBerlichkeit des Zeugnisses
ist genau das, was es u n t e r die untechnischen Beweismittel fallen
116 lässt; das ist nicht unbedeutend | für unsere Untersuchung; denn es
ist genau diese ÀuBerlichkeit des Zeugnisses, die einer Hermeneutik
Probleme bereiten wird.

3) Weder der quasi-empirische noch der quasi-juridische Sinn er!


schôpfen den allgemeinen Sprachgebrauch des Wortes »Zeugnis«;
eine weitere Dimension lässt sich entdecken, w e n n m a n den Akzent
v o m Zeugnis-Beweis z u m Zeugen und seinem Akt verschiebt. Der
Zeuge ist nämlich nicht n u r derjenige, der das Zeugnis äuBert; die
Problematik des Zeugen stellt eine davon unterschiedene Problema!
tik dar, die in bestimmten Aspekten des Zeugnisses zum Vorschein
kommt, von denen noch nicht die Rede war. So reduziert sich das
falsche Zeugnis keineswegs auf einen Fehler im Bericht des Gesehe!
nen; das falsche Zeugnis ist eine Lüge im Herzen des Zeugen. Diese
perverse Intention ist derart fatal für die Ausübung der Gerechtigkeit
und für die gesamte Ordnung des Diskurses, dass alle moralischen
Kodizes sie weit oben auf der Stufenleiter der sittlichen Vergehen
führen; die extremen Strafen, mit denen manche Kodizes den fal!
schen Zeugen belegen, zeigen deutlich den Grad der Empërung, den
das falsche Zeugnis im allgemeinen Bewusstsein auslôst. Woraus sich
die Prage ergibt: Was ist ein wahrhaftiger, ein treuer Zeuge?
Ieder weiB, dass er etwas anderes ist als ein genauer, gar penibel
genauer Erzähler. Er beschränkt sich nicht darauf, zu bezeugen,
dass ..., sondern er legt Zeugnis ab für Durch diese Ausdrücke

16
Die Semanük des Zeugnlsses

macht unsere Sprache deutlich, dass der Zeuge seine Unterstützung


der Sache, die er verteidigt, mit einem ëffentlichen Bekenntnis seiner
Überzeugung, einem Verkündigungseifer, einem persônlichen Ein!
satz bekräftigt, der bis z u m Opfer des Lebens gehen kann. Der Zeuge
ist fähig, für das, was er glaubt, zu leiden und zu sterben. Wenn die
Prüfung der Überzeugung den Preis des Lebens annimmt, wechselt
der Zeuge den Namen: Er heiBt ein Märtyrer. Aber ändert sich das
Wort tatsächlich? pdgwç ist das griechische Won für »Zeuge«. Si!
cher stellt man diese furchtbare Verbindung zwischen Zeugen und
Märtyrer nicht ohne Gefahr her; das Argument des Martyrîums ist
immer suspeltt; eine Sache, für die es Märtyrer gibt, ist nicht zwin!
gend gerecht. Aber das Martyrium ist eben gerade kein Argument,
noch weniger ein Beweis. Es ist eine Prüfung, eine Grenzsituation.
Ein Mensch wird zum Märtyrer, weil er zunächst ein Zeuge ist. Aber
dass ein Mensch ein Märtyrer werden kann, wenn er ein Zeuge bis
zum ÂuBersten sein muss, das lässt sich aus einer rein juridischen
Reflexion nicht ableiten; denn in einem Prozess ist es nicht der Zeu!
ge, der sein Leben riskiert, sondern der Angeklagte. Dass der | Zeuge 117
zugleich der Angeklagte sein kann, ergibt sich aus einer anderen
Analyse. Nämlich derjenigen, dass die Gesellschaft, die allgemeine
Meinung, die Mächtigen bestimmte Fälle hassen, vielleicht die ge!
rechtesten. Deswegen muss der Gerechte sterben. Ein groBer histori!
scher Archetyp kommt hier zum Vorschein: der leidende Knecht, der
verfolgte Gerechte, Sokrates, lesus
Das ist es, was wir m i t dem Wort »Zeuge« bezeichnen. Ein Zeu!
geist ein Mensch, der sich mit einem gerechten Fall identifiziert hat,
den die Menge und die GroBen hassen, und der für diesen gerechten
Fall sein Leben riskiert.
Dieses Engagement, dieses Risiko, das der Zeuge auf sich
n i m m t , wirken zurück auf das Zeugnis als solches, das seinerseits
mehr bedeutet als die schlichte Erzählung von etwas, was man gese!
hen hat; das Zeugnis ist auch das Engagement eines reinen Herzens,
und ein Engagement bis z u m Tod. Esgehôrt zum tragischen Schick!
sal der Wahrheit.
Selbst wenn das Zeugnis nicht diese düstere Färbung annimmt,
empfängt esvon den Grenzen des Todes, was man seine lnnerlichkeit
nennen kënnte. Auf diese Weise finden sich bereits in der Alltags!
sprache Ausdrücke, die demjenigen des »Zeugnisses der Sinne«, das
das Zeugnis in die Richtung seines quasi-empirischen Sinnes zieht,
diametral entgegengesetzt sind; so spricht man vom »Zeugnis des

17
Dlo H o r m o n c h des Zeugnisses

Gewissens«. Aber vor allem haben wir als »Zeugnis« eine Handlung,
ein Werk, die Bewegung eines Lebens bezeichnet, insofern diese Din!
ge selbst das Zeichen, den lebendigen Beweis der Überzeugung und
der Hingabc eines Menschen an eine Sache darstellen.
Die Bedeutung des Zeugnisses scheint sich damit umgekehrt zu
haben; das Wort bezeichnet nicht mehr einen Sprechakt, den münd!
lichen Bericht eines Augenzeugen über ein Ereignis, das er miterlebt
hat; das Zeugnis ist die Handlung selbst, insofern sie nach auBen hin
den inneren Menschen bezeugt, seine Überzeugung, seinen Glauben.
Und dennoch gibt es keinen Bruch in der Bedeutung in dem
Sinn, dass die beiden e x t r e m e n Verwendungen zu bloBen Homony!
men geworden wären. Vom Zeugnis, verstanden im Sinn eines Be!
richts von Tatsachen, schreitet man z u r Bezcugung durch die Hand!
lung und durch den Tod über geregelte Übergänge voran; das
Engagement des Zeugen im Zeugnis ist der Fixpunkt, um den das
Sinnspektrum kreist. Dieses Engagement ist es, das den Unterschied
macht zwischen dem falschen Zeugen und dem wahrhaftigen und
tre u e n Zeugen.

118 Das Eindringen der prophetischen und kerygmatîschen


Dimension

In diesen semantischen Komplex dringt der religiôse Sinn des Zeug!


nisses ein. Mit ihm ergibt sich plôtzlich eine vôllig neue Dimension,
die man nicht einfach aus dem profanen Wortgebrauch ableiten
kann. Aber - und dieses Gegenstück ist nicht weniger wichtig " in
dieser semantischen Neufassung wird der profane Sinn nicht einfach
aufgegeben; er ist in einer bestimmten Weise bewahrt und sogar er!
hôht. Ich werde deshalb das Eindringen des neuen Sinnes und die
Bewahrung des alten Sinnes im neuen gemeinsam beschreiben.
Als Leitfaden werde ich die Semantik der Worte m i t der Wurzel
pdgtvç in den prophetischen Schriften der Bibel und im Neuen Tes!
tament nehmen.

]) Ein wunderbarer Text von Deutero-Iesaja ! ein prophetischer Text


also " gibt uns alle Aspekte des Sinnes (die neuen und die alten) auf
einmal zu lesen: »Bringt das Volk her, das blind ist, obwohl esAugen
hat, und taub, obwohl es Ohren hat. Alle Vëlker sollen sich versam!
meln, die Nationen sollen zusammenkommen. Wer von ihnen ltün"

18
Da: Eindringen der pmpheüschcn und kerygmatischen Dimension

digt dies an, und wer kann uns sagen, was früher war? Sie sollen ihre
Zeugen stellen, damit sie Recht bekommen, damit man (die Zeugen)
hërt und sagt: Esist wahr. Ihr seid meine Zeugen - Spruch des Herrn
! und auch mein Knecht, den ich crwähltc, damit ihr erkennt und mir
glaubt und einseht, dass ich es bin. Vor mir wurde kein Gott erschaf"
fen, und auch nach mir wird eskeinen geben. Ich bin ]ahwe, ich, und
auBer mir gibt es keinen Retter. Ich babe es selbst angekündigt und
euch gerettet, ich habe es euch zu Gehôr gebracht. Kein fremder
(Gott) ist bei euch gewesen. Ihr seid meine Zeugen ! Spruch des
Herrn. Ich allein bin Gott; auch künftig werde ich essein. Niemand
kann m i r etwas entreiBen. Ich handle. Wer kann es rückgängig ma"
chen ?« (les 43,8!13; im selben Sinne les 44,6!8).
Das Eindringen des Sinnes geschieht folgendermaBen: Es ist
vierfach. Zunächst ist der Zeuge nicht irgend jemand, der vortritt
und aussagt, sondern derjenige, der zu bezeugen gesandt ist. Sodann
bezeugt der Zeuge nicht isolierte und kontingente Fakten, sondern
den radikalen, umfassenden Sinn der menschlichen | Erfahrung; es 119
ist lahwe selbst, der sich im Zeugnis bezeugt. Des Weiteren ist das
Zeugnis auf die Proklamation, die Verbreitung, die Verkündigung
ausgerichtet: Ein Volk ist Zeuge für alle Vôlker. Schliefilich impliziert
dieser Beruf ein totales Engagement nicht n u r in Worten, sondern in
Taten und, im äul3ersten Fall, im Opfer des Lebens. Was diesen neuen
Sinn des Zeugnisses von allen seinen Verwendungen in der Alltags"
sprache unterscheidet, ist, dass das Zeugnis nicht dem Zeugen gehërt.
Esgeht, was seinen Ursprung wie was seinen Inhalt betrifft, aus einer
absoluten Initiative hervor.
Aber der profane Sinn ist nicht aufgegeben. Er ist in einer be"
stimmten Form in den prophetischen Sinn übernommen. Dies ist
evident für den Aspekt des Engagements, denjenigen, den wir in u n "
serer semantischen Analyse als letzten betrachtet haben. Hier stehen
das prophetische und das profane Konzept in vollkommener Kon"
tinuität. In dieser Hinsicht scheint esgerechtfertigt zu sagen, dass
noch kein offensichtliches Band den Begriff des Gottesknechtes {Ebed
Iahwe) an den des Zeugen bindet; die Theologie des Märtyrers Iiegt
nicht auf der direkten Linie des prophetischen Konzeptes von
pdgtuç. Sicher ist das Thema des verfolgten Gerechten und mehr
noch dasjenige des verhôhnten oder gar zu Tode gebrachten Prophe"
t e n älter als das Thema des Märtyrers, wie man esim Spätjudentum
findet. Zumindest ist der Prophet von Anfang an ein Mann des
Schmerzes (»Um deinetwillen werden wir getôtet Tag für Tag, be"

19
Die Hermeneutik des Zeugnisses

handelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat«, Ps


44,23). So hat ]eremia seine eigene Mission verstanden; jeder Pro!
phet, insofern er prophezeit gegen …, ist Prophet für das Leben und
den Tod; aber z u r Zeit der groEen Propheten wird die Verbindung im
Wort »Zeuge« zwischen diesem beiden Themen der an die Vëlker
gerichteten Verkündigung und des Todes des Propheten nicht her!
gestellt. Und sobald diese Verbindung hergestellt ist, wird die Idee
des Sterbens für immer derjenigen, einem anderen zu verkünden,
untergeordnet sein. Es gilt hier wie in der profanen Ordnung, dass
der ]ünger Märtyrer ist, weil er Zeuge ist, und nicht umgekehrt.
Aber der juridische Aspekt des Zeugnisses ist nicht weniger in!
teressant. Der Mensch ist zum Zeugnis gerufen angesichts einer Be!
streitung, eines Prozesses, dcr das Recht Iahwes, der wahre Gott und
allein der wahre Gott zu sein, z u r Diskussion stellt: »Wer ist mir
gleich? Er soll sich melden, er t u e es mir kund und beweise es mir.«
(les 44,7) Die Sendung ist zugleich Aufruf z u r Entscheidung: »lhr
120 seid meine Zeugen: Gibt es einen Gott auBer mir?« (les 44,8). | Der
von ]ahwe erëffnete Prozess gegen die Vôlker und ihre ldole ruft
nach einer definitiven Entscheidung.
Diese Wiederaufnahme des Themes des Prozesses im Inneren
des Themas des Bekenntnisses ist in meinen Augen das wichtigste
Element des prophetischen Konzeptes des Zeugnisses. Wir dürfen es
nicht vergessen, wenn wir zum Schluss versuchen werden, die Her!
meneutik des Zeugnisses m i t dem zu verbinden, was Nabert die
»Kriteriologie des Güttlichen« n e n n t . Die Kriteriologie ist in der Kri!
seder ldole, im Urteil über sie bereits da: »Ein Nichts sind alle, die ein
Gôtterbild [idole] formen; ihre geliebten Gôtzen nützen nichts. Wer
sich zu seinen Gôtzen bekennt, sieht nichts, im fehlt esan Einsicht«
(les 44,9].
Wenn der juridische Aspekt in der Weise bewahrt ist, wie wir es
gerade gesehen haben, kann man dann sagem, dass auch der quasi!
empirische Aspekt des Zeugnisses es ist? Man kënnte versucht sein
zu behaupten, dass das Glaubensbekenntnis den Bericht von Gesehe!
n e m eliminiert babe (Kittel stellt im Artikel »pdgtvç«, Theologi!
sches Wärterbuch zum N'IÏ I V, durchgehend den Zeugen v o n Tatsa!
chen und den Bekenner der Wahrheit einander gegenüber). Das ist
aber nicht der Fall. Eine Theologie des Zeugnisses, die nicht einfach
eine andere Bezeichnung für die Theologie des Glaubensbekenntnis!
ses ist, ist n u r mëglich, wenn in enger Verbindung m i t dem Glan!
bensbekenntnis ein gewisser narrativer Kern bewahrt wird. Das ist

20
Das Eindringen der pmphedschen und kerygmadschen Dimension

in ausgesprochener Weise der Fall im Glauben lsraels, das ]ahwe vor


allem dadurch bekannt hat, dass es die Befreiungstaten erzählt hat,
die die Geschichte seiner Befreiung auszeichnen. Gerhard von Reds
gesamte »Theologie der geschichtiichen Überlieferungen lsraels« ist
auf dieser Grundannahme konstruien, dass das Credo lsraels ein nar!
ratives Bekenntnis nach dem Mode" des Kern"Credo von Dtn 26,5!9
ist. Da, wo eine »Geschichte« der Befreiung enählt werden kann,
kann ein prophetischer »Sinn« nicht n u r bekannt, sondem auch be"
zeugt werden. Man kann nicht fu r einen Sinn zeugen ohne zu bezeu!
gen, dass e t w a s geschehen ist, das diesen Sinn bezeichnet. Die Ver!
bindung zwischen clem prophetischen Moment »lch bin ]ahwe« und
dem historischen Moment »lch bin lahwe, dein Gott, der dich aus
Âgypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus« (Ex 20,2) ist ebenso fun!
damental wie die Verbindung von prophetischem und juridi$chem
Moment. Auf diese Weise wird eine Spannung zwischen dem Be!
kenntnis des Glaubens und dem Bericht von Gesehenem erzeugt,
innerhalb derer diejenige Spannung wieder aufgenommen wird, die
bereits im alltäglichen Begriff zwischen dem Urteil des Richters, der
entscheidet, ohne gesehen zu haben, und dem Bericht des Zeugen,
der gesehen hat, vorfindbar war. Esgibt folglich überhaupt keinen
Zeugen des Absoluten, der nicht Zeuge | historischer Zeichen wäre, 121
keinen Bekenner des absoluten Sinnes, der nicht Erzähler der Befrei!
ungstaten wäre.

2) Der neutestamentliche Sinn von Zeuge und Zeugnis ist so durch


den prophetischen Sinn gut vorbereitet; alle Spannungen dieses letz!
t e r e n finden sich hier wieder, zusammen mit neuen Charakteristika,
die den Übergang vom prophetischen Diskurs zu dem des Evangeli!
ums markieren, ohne dass jedoch jemals die Kontinuität zwischen
dem einen und dem anderen unterbrochen würde.
Der »konfessionelle« Kern des Zeugnisses ist sicherlich das Zen!
t r u m , um das der Rest kreist. Das Bekenntnis, dass lesus der Christus
ist, stellt das Zeugnis par excellence dar. Wiederum ist der Zeuge hier
gesandt und sein Zeugnis gehërt ihm nicht: »Euch steht es nicht zu,
Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht fest!
gesetzt hat. Aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfan"
gen, der auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen
sein in Jerusalem und in ganz Iudäa und Samarien und bis an die
Grenzen der Erde« (Apg 1,7f.), sagt der Christus der Himmelfahn.
Aber wenn das Zeugnis auch in seinem Sinnkem bekenntnishaft ist,

21
Die Hermeneutik des Zeugnisses

so ist es doch nicht schlicht ein Glaubensbekenntnis; alle Züge des


alltäglichen Sinnes sind im Kontakt m i t diesem »bekenntnishaftem
Kern wieder aufgegriffen, übernommen und verwandelt.
Zunächst das Augenzeugnis. Der Zeuge ist Zeuge v o n Gesche!
henem. Man kann annehmen, dass die Serge, die christliche Verkün!
digung in die Kategorien der Erzählung einzuschreiben, als Erzählen
dessen, was jesus von Nazareth gesagt hat, aus dieser lntention er!
wächst, das Zeugnis-Bekenntnis und die Zeugnis-Erzählung zusam!
menzuschweiflen. Diese Verbindung wird in den vier Evangelien auf
je unterschiedliche Weise ins Werk gesetzt, und m a n kônnte auf die!
ser Grundlage eine Typologie v o n ihnen erstellen. Am einen Ende
der Skala hätte man Lukas, am anderen Johannes.
Bei Lukas ist der Zeuge ein Zeuge von Gesehenem und Gehôr!
tem; er ist ein Zeuge der Lehre, der Wunder, der Passion und der
Auferstehung: »lhr seicl Zeugen dafür«, sagt der Auferstandene in
Lk 24,48. Sicher, das Ereignis lässt sich von seinem Sinn nicht t r e n !
nen; aber der Sinn hat sich in die Geschichte eingeschrieben, er ist
angekommen, geschehen: Von all dem seid ihr Zeugen. Darauf a n t !
w o r t e t die Aussage der Apostel, die vor dem Hohen Rat erscheinen:
»Zeugen dieser Ereignisse sind w i r und der Heilige Geist, den Gott
122 allen verliehen hat, die ihm | gehorchen« (Apg 5,32). Die zwei Aspek!
te des Begriffs sind hier untrennbar. Auf der einen Seite ist n u r der
Gesandte " der Apostel " Zeuge: dafür steht allein der Geist ein; aber
er ist Zeuge von Gesehenem. Das Moment der Unmittelbarkeit der
Offenbarung (ich werde weiter u n t e n auf diesen Ausdruck zurück!
kommen, der, bevor er hegclianisch ist, z u e r s t johanneisch ist) ist
wesentlich für die Konstitution des Zeugnisses als Zeugnis. Die Dia!
lektik von Sinn und Ereignis, von Bekenntnis und Bericht spielt sich
für Lukas im Wesentlichen im zentralen Bekennmis " dem der Auf!
erstehung " ab. Alles weist darauf bin, dass die »Erscheinungena eine
Schlüsselrolle gespielt haben, dass sie die Offenbarung über den Tod
hinaus verlängert haben; in den verschiedenen Predigten, die die
Apostelgeschichte wiedergibt, kehrt dieses Leitmotiv' immer wieder:
»Diesen ]esus hat Cort auferweckt, dafür sind wir alle Zeugen« (Apg
2,32; 3,15 etc.). Die Predigt des Paulus ist dieselbe: »Gott aber hat ihn
von den Toten auferweckt, und er ist viele Tage hindurch denen er!
schienen, die mit ihm zusammen von Galiläa nach Jerusalem hinauf!
gezogen waren und die jetzt v o r dem Volk seine Zeugen sind« (Apg
13,30 f.).
Aber diese Integration des Ereignisses in den Sinn, des Berichts

22
Das Eindringen der prophetischen und kerygmafischen Dimension

in das Bekenntnis geht nicht ohne innere Spannung vor sich; der
Augenzeugencharakter des Zeugnisses kann ohne Zweifel ziemlich
weit gedehnt werden, dank einer entsprechenden Ausweitung des
Begriffs der Erscheinung; alles weist darauf hin, dass Paulus selbst
seine Begegnung mit dem Auferstanden auf dem Weg nach Damas!
kus, die ihn wie ein Blitz traf, als eine Erscheinung interpretiert hat,
die seine Erfahrung in die Kette der Augenzeugnisse des Lebens und
der Auferstehung einfügt (Apg. 22,14 f.; 26,15 f.). Das Urchristentum
hat zwischen den Augenzeugnissen des Lebens ]esu und der Begeg!
nung m i t dem Auferstandenen niemals einen fundamentalen Unter!
schied gesehen. Gerade die Abfassung der Evangelien geht daraus
hervor, dass die prophetischen Inspirationen, die dem lebendigen
Christus zugeschrieben werden, und die Erinnerungen der Augen!
zeugen direkt miteinander verzahnt werden; zwischen den Taten
und Gesten ]esu von Nazareth, den Erscheinungen des Auferstande!
n e n und den Manifestationen des Geistes in den pfingstlichen Ge!
meinden besteht keinerlei intrinsische Differenz, sondern im Gegen!
teil die Kontinuität derselben Offenbarung, die eine entsprechende
Ausweitung des Zeugnisses v o n Gesehenem und Gehôrtem rechtfer!
tigt. Erst für einen modernen Geist, der durch die historische Kritik
geformt wurde, sind die Weggemeinschaft mit Iesus und die Begeg!
nung m i t dem Auferstandenen zwei verschiedene Dinge. Die grund!
legende Einheit zwischen clem Zeugen der Tatsachen, der Ereignisse,
und dem Zeugen | des Sinnes, der Wahrheit, konnte so eine gewisse 123
Zeitlang bewahrt werden.
Dennoch wird eine gewisse Schwachstelle im lukanischen Kon!
zept des Zeugnisses sichtbar: Paulus predigt nicht die Erscheinungen,
noch weniger die »private« Erscheinung, die ihm zuteil wurde; er
predigt den gekreuzigten Christus; aber er war kein Zeuge des Kreu!
zes. Und wenn Paulus die Erinnerung an Stephanus wachruft, den er
verfolgt hat, sagt er, sich an Christus selbst richtend: »Auch als das
Blut deines Zeugen Stephanus vergossen wurde, stand ich dabei«
(Apg 22,20). Deines Zeugen Stephanus? lst das noch im Sinn eines
Augenzeugen zu verstehen? M i t dem Fall des Stephanus ist eine
Wende eingetreten: Die »Zeugen der Auferstehung« werden in dem
Mai? weniger Augenzeugen sein, in dem der Glaube über das Hôren
der Predigt vermittelt werden wird; die »Stimme« kann noch sosehr
auf das »Sehen« zurückverweisen, die Stimme ist bereits nicht mehr
das Sehen; n u n kommt der Glaube v o m Hôren.
Bei Iohannes verschiebt sich das Gleichgewicht deutlich v o m Pol

23
Die Hermeneutik des Zeugnisses

der Erzählung zum Pol des Bekenntnisses, selbst wenn der erzähleri!
sche Rahmen des Evangeliums beibehalten wird. Freilich ist esJohan!
nes, der von allen Evangelisten der Herald des Zeugnisses par excel!
lence ist; beim vierten Evangelistcn findet sich quantitativ die
überwältigende Mehrheit der Belege für die Worte pagtuoéw5 (47
von 77) und pag‘rvçla (30 von 37). Die Sinnverschiebung, die das
Zeugnis betrifft, stammt aus dem neuen Sinn, die m i t der Benen!
nung als Zeuge verknüpft wird. Dieses Won, das bei Johannes deut!
lich seltener ist als dasjenige des »Zeugnisses« (nur fünfmal in der
Apokalypse), wird auf Christus selbst angewandt, der der »treue
Zeuge« (Offb 1,5) genannt wird, oder auch der »treue und zuverläs!
sige Zeuge« (Offb 3,14; man findet allerdings Offb 9,3 und 17,6 das
Wort »Zeuge« in einem quasi lukanischen Sinn des Zeugen, der be!
kennt). Diese Sinnverschiebung, die den Begriff des Zeugen betrifft,
überträgt sich auf das Zeugnis. Dieses ist nicht vorrangig das Han!
deln eines Menschen, wenn er Zeugnis ablegt, sondern das Handeln
des Sohnes, der den Vater offenbart (Offb 1,2 spricht vom »Zeugnis
[pagtvgia] Jesu Christi« als Synonym für »Offenbarung [Émo!
udÀuuw;] Jesu Christi«, 1,1f.). Das Zentrum des Zeugnisses ver!
schiebt sich so von der Bekenntnis-Erzählung in Richtung auf die
Offenbarung selbst, von der Zeugnis abgelegt wird. Das ist die Be!
deutung von: »Niemand hat Gott je gesehen. Der einzige, der Gott
ist [...], er hat Kunde gebracht (êfinyñoato)« (Joh 1,18); die Exegese
Cortes und das Zeugm's des Sohnes sind dasselbe. Deshalb richtet sich
124 das Zeugnis, das der Jünger ablegt, in | seiner Grundintention nach
dem theologischen Sinn der Zeugnis-Oflenbarung, dem Akt Christi
par excellence. Wenn Johannes der Täufer ein Zeuge ist, dann nicht
als Zeuge der Auferstehung im Sinn der ersten Evangelisten, sondern
in dem weniger historischen und mehr theologischen Sinn eines
»Zeugen für das Licht«: »Er kam als Zeuge, um Zeugnis abzulegen
für das Licht« (Joh 1,19). Aber was ist dieses »Zeugnis des Johannes«
(Jah 1,19)? Esist nichts anderes als das grundlegende und vollständi!
ge Christusbekenntnis: »Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der
Welt hinwegnimmt« (Ich 1,29). ln einem gewissen Sinn ist Johannes
der Täufer ein Augenzeuge (»Das habe ich gesehen, und ich bezeuge:
Er ist der Sohn Gottes«, Joh 1,34). Was er aber gesehen hat, ist ein
Zeichen, das Jesus als den Christus bezeichnet (»Ich sah den Heiligen

“ [Im Original fälschlich: udgtvç; die folgenden Angaben beziehensich de facto auf das
Johannesevangelium,die Johannesbriefeund die Apokalypsezusammen genommen.)

24
Das Eindringen der prophetîschen und kerygmaüschen Dimension

Geist wie eine Taube …«); aber dieses Zeichen bedeutet nichts ohne
ein inneres Wort, das den Sinn benennt: »Auf w e n du den Geist he!
rabkommen siehst und auf w e m er bleibt ...« (Ich 1,33); eswird nicht
gesagt, dass noch jemand auBer dem Täufer das Wort gehôrt hätte,
das dem Gesehenen Sinn verlieh. Die Idee des Augenzeugen wird
somit tiefgreifend umgestaltet durch das doppelte Thema: Christus
als der treue Zeuge, und: Zeugnis als Zeugnis für das Licht. Diese
beiden Themen sind übrigens insofern verbunden, als Christus, der
treue Zeuge, selbst gekommen ist, » u m Zeugnis abzulegen«. Das er!
klärt der johanneische Christus vor Pilatus: »Du sagst es, ich bin ein
Kënig. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass
ich für die Wahrheit Zeugnis ablege« (10h 18,37).
Zwei sehr schône Texte markieren u n t e r dieser Rücksicht die
Differenz des Zeugnisses im johanneischen Sinn zu demjenigen im
Sinn des Lukas: ]oh 5,31!39 und Ioh 8,13!18. Sie beginnen bei der
hebräischen Lebensweisheit (Dtn 19,15), der zufolge mindestens
zwei Zeugen erforderlich sind, um einen Beweis zu erbringen. Aber
der Christus des Johannes verschiebt die Bedeutung des doppelten
Zeugnisses vôllig. Das erste Zeugnis ist dasjenige, das Christus über
sich selbst ablegt: »Auch wenn ich Zeugnis über mich selbst ablege,
ist mein Zeugnis gültig. Denn ich weiB, woher ich gekommen bin
und wohin ich gehe« (]oh 8,14). Und welches ist das zweite Zeugnis?
Es kônnte dasjenige v o n Johannes dem Täufer sein, nach dem zu
urteilen, was anderswo über ihn gesagt wird; aber das zweite Zeugnis
ist dennoch nicht das seine, sondern das Gottes selbst: »Die Werke,
die mein Vater m i r übertragen hat, damit ich sie zu Ende führe, diese
Werke, die ich vollbringe, legen Zeugnis dafür ab, dass mich der Va!
t e r gesandt hat. Auch der Vater selbst, der mich gesandt hat, hat über
mich Zeugnis abgelegt« (Ich 5,36 f.).
M i t Hilfe dieser Sinnverschiebung lässt sich eine fast vollstän! 125
dige Verinnerlichung des Zeugnisses beobachten: »Wenn wir von
Menschen ein Zeugnis annehmen, so ist das Zeugnis Gottes gewich!
tiger; denn das ist das Zeugnis Gottes: Er hat Zeugnis abgelegt für
seinen Sohn. Wer an den Sohn Gottes glaubt, trägt das Zeugnis in
sich« (1 Ioh 5,9 f.). Dieses Zeugnis, das der Zeuge in sich trägt, ist
kein anderes als das Zeugnis des Heiligen Geistes, eine Vorstellung,
die den äuBersten Punkt der Verinnerlichung des Zeugnisses mar!
kiert: »Wenn aber der Beistand kommt, den ich euch v o m Vater aus
senden werde, der Geist der Wahrheit, der v o m Vater ausgeht, dann

25
Die Hermeneutîk des Zeugnisses

wird er Zeugnis für mich ablegen. Und auch ihr sollt Zeugnis able!
gen, weil ihr v o n Anfang an bei m i r seid« (Joh 15, 26f.).
So kënnte es scheinen, dass das Zeugnis im Zeugnis Christi
selbst und im Zeugnis, das Gott über Christus ablegt, vollkommen
verinnerlicht wäre und jeglichen Bezug z u m Augenzeugnis verloren
hätte, das Lukas sowichtig ist. Davon kann jedoch keine Rede sein:
Selbst bei Johannes ist das Band zwischen dem christologischen Be!
kenntnis und der narrativen Verkündigung eines zentralen ge!
schichtlichen Ereignisses nie durchschnitten; in den beiden Texten,
die wir weiter oben kommentiert haben (Joh 5,31!39; 8,13"18), soll!
te ein Ausdruck uns hellhôrig machen, der die Exteriorisiemng des
Zeugnisses in Bezug auf die Intimität des Dialoges zwischen Vater
und Sohn markiert: der des »Werkes«: »lch habe eseuch gesagt, aber
ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich im Namen meines Vaters voll!
bringe, legen Zeugnis für mich ab« (Joh 10,25; vgl. 10,37 f.: »die Wer!
ke meines Vaters vollbringen«). Diese uagwgia 1:(IW ëgyœv von Sei!
t e n Christi selbst bewirkt, dass das Zeugnis, das über ihn abgelegt
wird, kein Zeugnis v o n einer Idee, einem überzeitlichen logos dar!
stellt, sondern v o n einer fleischgewordenen Person. Johannes, der
das fleischgewordene Wort besingt, kann trotzdem das Zeugnis nicht
vollständig in Richtung einer vôllig mystischen und innerlichen Idee
verwandeln. Das Zeugnis »vom« Licht ist immer Zeugnis v o n »je!
mandem« (vgl. die vielfachen Ausdrücke: »Zeugnis über ihn«, »über
mich«, »über dich«, Joh 1,15; 5,31f.; 8,13.17; 10,25; 15,26). Deshalb
kann auch das Zeugnis-Bekenntnis noch immer im narrativen Rah!
m e n eines Evangeliums bleiben, wie konventionell auch immer die!
ser Rahmen geworden sein mag: »Das Wort ist Fleisch geworden und
hat u n t e r uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen«
(Joh 1,14). Soverschieden Lukas und Johannes sind, so treffen sie sich
doch an diesem Punkt. Das Zeugnis-Bekenntnis kënnte sich nicht
v o n der Zeugnis"Erzählung ablôsen, ohne in die Gnosis zu führen.
126 Deshalb bezeichnet Johannes, indem er für sich ausdrücklich die Ei!
genschaft des Zeugen in Anspruch nimmt, sein Werk m i t Begriffen,
die von Lukas stammen kônnten: »Und der, der esgesehen hat, hat es
bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiB, dass er Wahres
berichtet, damit auch ihr glaubt« (Joh 19,35). Ein weiteres Mal sind
Gesehenhaben und Bezeugen eng verbunden.

Ich môchte die Überlegungen z u m johanneischen Zeugnis nicht be!


enden, ohne an den zweiten Charakterzug des Zeugnisses im all!

26
Das Eindringen der prophetischen und kerygmaüschen Dimension

gemeinen Sinn zu erinnern, nämlich den des Zeugnisses als Beweis!


element in einem Prozess; denn esist vielleicht dieser Sinnaspekt, der
einerseits die Wiederaufnahme des profanen Sinns im religiôsen er!
mëglicht, aber andererseits dem theologischen Konzept des Zeugnis!
ses auch seine besondere Färbung gibt.
Um daran zu erinnern, dass das Zeugnis einen Bezug zum Pro!
zess hat, genügt der Hinweis auf den Ort des Prozesses ]esu (vgl. die
Anschuldigung falschen Zeugnisses ebenso wie die Beiziehung fal!
scher Zeugen im Prozess); jedoch ist das ganze ôffentliche Wirken
Iesu ein Prozess. Und der historische Prozess ]esu v o r den mensch!
lichen Instanzen ist für den Apostel seinerseits eine Episode in dem
groBen Prozess, den m a n mit Théo Preiss"’ einen »kosmischen Pro!
zess« nennen kann. Das Kommen des Reiches und seiner Gerechtig!
keit ist Gegenstand einer immensen Kontroverse zwischen Gott und
dem Fürsten der Welt, in Kraft gesetzt durch das »Gericht« Gottes
über die Welt und den Sturz Satans. Wenn m a n der Linie dieser Fabel
folgt, ist es môglich, den ganzen Zyklus der Vorstellungen, die um
den Zeugen, das Bezeugen, das Zeugnis kreisen, in einen grëBeren
Zyklus v o n Vorstellungen wie »gesandt, bezeugen, Zeugnis, richten,
Gericht, anklagen, überzeugen, Paraklet«7 einzuordnen. Die Nei!
gung, Johannes, den Mystiker, Paulus, dem Apostel der Rechtfer!
tigung aus Glauben, gegenüberzustellen, führt zu einer Vernachläs!
sigung dieser anderen A r t »juridischen« Denkens, dieser anderen
Problematik der Rechtfertigung, die ihre Kohärenz aus diesem Hori!
z o n t des groBen Prozesses bezieht, auf den hin die ganze Theologie
des Zeugnisses entworfen ist. Man kann folglich u n t e r dieser Rück!
sicht die Dialektik v o n Zeugnis-Bekenntnis und Zeugnis-Erzählung
wieder aufnehmen. Und v o r allem die Vorstellung von | Christus als 127
dem t r e u e n Zeugen. Esist »im Rahmens eines Rechtsstreits«ä dass
das erste Zeugnis, die uag‘cvgia des Sohnes, die Bedeutung einer
Bezeugung [attestation] erhält. Dieser dramatische Widerstreit zwi!
schen Bestreitung und Bezeugung findet sich v o m Prolog an: »Er
kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf« (10h
1,11). Zu Nikodemus sagt Iesus: »Amen, amen, ich sage dir: Was wir

‘ Théo Preiss, La Justificationdans la pensée johannique (hommageet reconnaissance à


Karl Barth pour son 60e anniversaire), Neuchâtel/Paris 1946; wieder abgedruckt in: La
Vie en Christ, Neuchâtel/ Paris 1951.
7 Ebd. 48.
“ Ebd. 51.

27
Die Hermeneutik des Zeugnisses

wissen, davon reden wir, und was wir gesehen haben, das bezeugen
wir, und doch nehmt ihr unser Zeugnis nicht an« (Ich 3,11). Und der
Täufer sagt: »Was er gesehen und gehërt hat, bezeugt er, doch nie!
mand nimmt sein Zeugnis an« (10h 3,32).
In diesem Rahmen des groi3en Prozesses ist der Zeuge auch der
Gesandte; der Gesandte ist wie derjenige, der ihn sendet; er hat die
ganze Autorität eines Bevollmächtigten. Soversteht man den Nach!
druck, m i t dem an die rabbinische Regel v o n den zwei Zeugen erin!
n e r t wird; in die Perspektive des groBen Prozesses eingeordnet, be!
kommt die Aussage: »Die Werke bezeugen über mich, dass der Vater
mich gesandt hat«, ein neues Gewicht. Christus ist Zeuge par excel!
lence, weil er die »Krise« hervorruft, das Gericht über die Werke der
Welt: »Er bezeugt gegenüber der Welt, dass ihre Werke bëse sind«
(Ioh 7,7)9. Die Aufgabe des Zeugen wird hier auf das Niveau derjeni!
gen des endzeitlichen Richters gehoben. Der Richter ist das Licht; er
bringt das Licht. In einer merkwürdigen Umkehrung ist der Ange!
klagte des irdischen Prozesses zugleich der Richter des eschatologi!
sehen Prozesses. Zeuge zu sein bedeutet für Christus, diese beiden
Rollen des irdischen Angeklagten und des himmlischen Richters zu
vereinen; es bedeutet ebenso, Kônig zu sein, wie er Pilatus gegenüber
bekennt.
Wenn also das Bekenntnis die Farbe des Zeugnisses annimmt,
dann immer im Zusammenhang mit einer Bestreitung und einer An!
klage.
Aber nicht n u r das Zeugnis Christi und nach ihm das Zeugnis
der ]ünger empfängt ein neues Licht dadurch, dass es u n t e r das Zei!
chen des grol3en Prozesses gestellt wird; das gilt auch für die ganze
johanneische »Pneumatologie« des Zeugnisses, v o n der bisher kaum
die Rede war, auBer um in ihr den Endpunkt der Verinnerlichung des
Zeugnisses zu erkennen. Das innere Zeugnis des Heiligen Geistes
erhält seine voile Bedeutung in der Bestreitung, die sich v o r dem
Tribunal der Geschichte zwischen Christus und der Welt abspielt.
Der erste ]0hannesbrief ruft diese »Dramaturgie« des Zeugnisses
128 und des | Prozesses in Erinnerung: »Wer sonst besiegt die Welt, aul3er
dem, der glaubt, dass Iesus der Sohn Gottes ist? Dieser ist es, der
durch Wasser und Blut gekommen ist: Iesus Christus. Er ist nicht

" [Sinngemä8es Zitat, hier aus der Wiedergabe Ricœurs übersetzt. Ich 7,7 ist ein Wort
]esu und lautet in der Einheitsübersetzung: »Euchkann die Welt nicht hassen,mich aber
hasst sie, weil ich bezeuge,dass ihre Taten bëse sind«.]

28
Das Eindringen der prophetischen und kerygmau'schen Dimenslon

n u r im Wasser gekommen, sondern im Wasser und im Blut. Und der


Geist ist es, der Zeugnis ablegt; denn der Geist ist die Wahrheit. Drei
sind es, die Zeugnis ablegen: der Geist, das Wasser und das Blut; und
diese drei sind eins« (1 10h 5,5!8). Das Wasser und das Blut bezeich"
nen hier die Folter des Kreuzes, die Passion. Wenn man das Zeugnis
des Geistes nicht in dieser Weise an den eschatologischen Prozess
zurückbände, würde man kaum verstehen, warum dieser der Paraklet
genannt wird (»Wenn aber der Beistand kommt ...« Ioh 15,26 f.). Der
Paraklet ist die Gegenfigur zu derjenigen des Anklägers. Derselbe
Paraklet, der »die Welt überführen (und aufdecken) [wird], was Sün"
de, Gerechtigkeit und Gericht ist« (Ich 16,8), wird als Anwalt der
Glaubenden auftreten, wenn Satan der Ankläger geworden ist. Die
Apokalypse schildert diesen letzten Akt des Dramas in der grandio"
sen Vision von der Vernichtung des Drachen (Offb 12,7!17). Nir"
gendwo ist die Theologie des Zeugnisses deutlicher m i t derjenigen
des grol3en Prozesses verbunden.
Zugleich verstehen wir auch, dass das Zeugnis im menschlichen
Bereich ein doppeltes ist: Es ist das innere Zeugnis, das Siegel der
Überzeugung; aber es ist auch das Zeugnis der Werke, d.h., nach
dem Mode" der Passion Christi, das Zeugnis des Leidens: Die Vision
der Apokalypse fährt dementsprechend fort: »Sie haben ihn besiegt
durch das Blut des Lammes und durch ihr Wort und ihr Zeugnis; sie
hielten ihr Leben nicht fest, bis hinein in den Tod« (Offb 12,11).
Wiederum ist esalso die Perspektive des Prozesses, in der das Marty"
rium das hôchste Siegel des Zeugnisses darstellt.
Dergestalt ist die eigenartige »juridische Mystik«‘", in die sich
die johanneische Dialektik des Zeugnisses eingeschrieben hat. Wenn
man es in rein mystischen Begriffen interpretiert, reduziert sich das
Zeugnis auf das Bekenntnis der Wahrheit; wenn m a n es in juri"
dischen Begriffen interpretiert, ist es die Bezeugung, die z u m Sieger
über den Verdacht macht. Kënnte man also nicht sagen, dass das juri!
dische Moment die beiden Momente zusammenhält, die uns kurz
davor zu sein schienen, auseinanderzufallen: das Zeugnis als Be"
kenntnis (des Glaubens) und das Zeugnis als Erzählung (von Ereig"
nissen)? Denn was als Beweis v o r dem eschatologischen Tribunal auf"
tritt, | sind die »Werke« und die »Zeichen«, jene Werke und jene 129
Zeichen, von denen auch der mystischste der Apostel erklärt, dass er
sie »gesehen« habe.

‘” Ebd. 60.

29
Die Hermeneutik des Zeugnisses

Die Hermeneutik des Zeugnisses

Der Moment ist gekommen, die Frage wieder aufzugreifen, die diese
Untersuchungin Gang gesetzt hat. Ist esmôglich, haben wir gefragt,
dass die Philosophie der absoluten Reflexion in vôllig kontingenten
Ereignissen oder Akten die Bezeugung findet, dass das nicht zu
Rechtfertigende hier und jetzt überwunden ist? Ein immenses Hin!
dernis schien den Blick auf die Antwort zu verdecken: Haben wir das
Recht, einen Moment der Geschichte m i t dem Merkmal der Absolut!
heit auszustatten? Ein unüberschreitbarer Abgrund scheint sich auf!
z u t u n zwischen der Innerlichkeit der Urbejahung und der ÀuBerlich!
keit der I"Iandlungen11 und der Existenz, die v o m Absoluten zu
zeugen behaupten.
Ist eine Philosophie des Zeugnisses môglich?
Ich mëchte versuchen zu zeigen, dass diese Philosophie n u r eine
Hermeneutik sein kann, d.h. eine Philosophie der Interpretation.
Diese Philosophie der Interpretation ist eine Ellipse m i t zwei Brenn!
punkten, die die Überlegungen einander anzunähern versuchen, die
sie aber nicht auf die Einheit eines einzigen Brennpunktes reduzieren
kônnen. Was hei8t esn u n tatsächlich, das Zeugnis zu interpretieren?
Es ist ein doppelter Akt: ein Akt des Selbstbewusstseins im Blick auf
sich selbst und ein Akt des historischen Verstehens im Blick auf die
Zeichen, die das Absolute von sich selbst gibt. Diese Zeichen sind
zugleich die Zeichen, in denen das Bewusstsein sich erkennt. Die
Konvergenz dieser beiden Bewegungen wollen wir im Folgenden
skizzieren.
Ausgehend v o m historischen Pol werden wir die Verbindung
zwischen Zeugnis und Interpretation aufzeigen. Sodann werden wir
ausgehend vom reflexiven Pol zeigen, wie die Urbejahung ihrerseits
eine Interpretation reflexiven Typs entwickelt, die Nabert eine »Kri!
teriologie des Gôttlichen« n e n n t , durch die, wie er sagt, »das Be!
wusstsein sich z u m Richter über das Gôttliche macht und in der Folge
seinen Gott oder seine Gôtter wählt« 12. Indem sich die Urbejahung
bis in eine Kriteriologie des Gôttlichen hinein fortsetzt, kommt es
130 z u r Begegnung zwischen ihr | und der Krise der Idole, die das Zeugnis
fordert. Soentsteht die Hermeneutik des Zeugnisses im Zusammen!

“ [Übersetzung korrigiert nach dem Erstdruck in Archivio di filosofia; im Wieder!


abdka in den Lectures fälschlich »accès« s t a n »actes«.]
” Iean Nabert, Le Désir de Dieu, Paris: Aubier, 264.

30
Die Hermeneutik des Zeugnisses

fluss zweier Exegesen, der Exegese des historischen Zeugnisses des


Absoluten und der Exegese meiner selbst in der Kriteriologie des
Gëttlichen. Vielleicht wird auch deutlich werden, dass diese doppelte
Exegese ein doppelter Prozess ist und dass gerade dieser doppelte
Prozess für die Hermeneutik des Zeugnisses charakteristisch ist.
Formulieren wir zunächst, wie die historische Exegese der
Selbst-Exegese entgegenkommt.
Das Konzept des Zeugnisses, wie es sich aus der biblischen Exe!
gese entwickelt, ist hermeneutisch in einem doppelten Sinn. Zu!
nächst in dem Sinn, dass es der Interpretation einen zu interpretie!
renden Inhalt gibt. Sodann in dem Sinn, dass es eine Interpretation
fordert.
Das Zeugnis gibt etwas zu interpretieren.
Diese erste Dimension markiert den Aspekt der Manifestation
des Zeugnisses. Das Absolute spricht sich hier und jetzt aus. Es gibt
im Zeugnis eine Unmittelbarkeit des Absoluten, ohne die esnichts zu
interpretieren gäbe. Diese Unmittelbarkeit wirkt als Ursprung, als
initium, hinter das m a n nicht zurückgehen kann. Von dort aus!
gehend ist die Interpretation die unabschlieBbare Vermittlung dieser
Unmittelbarkeit. Aber ohne sie wäre die Interpretation immer n u r
die Interpretation einer Interpretation. Es gibt einen Moment, in
dem die Interpretation die Exegese eines oder mehrerer Zeugnisse
ist. Das Zeugnis ist die àvdyxn orñvaü3 der Interpretation. Eine
Hermeneutik ohne Zeugnis ist zu einem infiniten Regress in einem
Perspektivismus ohne Anfang und Ende verurteilt.
Für den Philosophen ist diese Rede hart zu hôren. Denn die
Selbstoffenbarung [automanifestation] des Absoluten, hier und jetzt,
markiert die Begrenzung, die Grenze für die schlechte Unendlichkeit
der Reflexion. Das Absolute zeigt sich. In diesem Kurzschluss des
Absoluten und der Gegenwart entsteht eine Erfahrung des Absolu!
ten. Von dieser allein zeugt das Zeugnis. Für eine Logik und eine
Rhetorik, die auf ein logisches Modell gegründet sind, kann das
Zeugnis n u r eine Entfremdung des Sinnes sein oder, um in der Spra!
che des Aristoteles in der Rhetorik zu sprechen, ein untechnisches
Beweismittel, d.h. aui3erhalb aller Argumente, die der Redner sich

” [»Eî oñv uwoüuevôv 'n s t î , àvdyun orñvm nui ur‘| ei; ânen.gov îévm«: »Wenn
also etwas Bewegung weitergibt, das selbst bewegt ist, so muss danotwendig ein Halt
sein und nicht ein Fortgang ins Unendliche«z AristoteIes, Physik VIII, 5, 256a, Überset!
zung von Hans Günter Zekl, Hamburg 1995.]

31
Die Hermeneutik des Zeugnisses

ausdenken kann. Gerade so kann es Manifestation des Absoluten


sem.
Aber ebenso, wie eszu interpretieren gibt, fordert das Zeugnis
131 auch, | interpretiert zu werden. Und dies entlang der drei Dimensio!
n e n des alltäglichen Konzepts, die das absolute Zeugnis aufgegriffen
hat.
Das Zeugnis fordert interpretiert zu werden eben aufgrund der
Dialektik von Sinn und Ereignis, die esdurchzieht. Die Verschmel!
zung, die wir zwischen dem Pol des Bekenntnisses und dem der Er!
zählung im Zeugnis beobachtet haben, hat eine erhebliche herme!
neutische Bedeutung. Sie bedeutet, dass die Interpretation nicht v o n
au8erhalb auf das Zeugnis angewandt wird, gleich einer Gewalt, die
ihm angetan würde. Die Interpretation will die Wiederaufnahme
einer dem Zeugnis innerlichen Dialektik in einem anderen Diskurs
sein. Im Zeugnis ist diese Dialektik selbst unmittelbar‘, insofern Er!
zählung und Bekenntnis ohne Abstand aneinander haften. Die ersten
Zeugen des Evangeliums bekennen die Bedeutung >Christus< direkt
am Ereignis >]esus<: >Du bist Christus.< Hier gibt es keine Distanz
zwischen dem ]esus der Geschichte und clem Christus des Glaubens.
Die Einheit schreibt sich: Iesus Christus [Jésus!Christ]. Esist dieser
Kurzschluss v o n Sinn und Ereignis, der zu interpretieren gibt, der
interpretiert zu werden fordert. Inwiefern? Insofern, als die Ver!
schmelzung auch Spannung bedeutet, das Ereignis ein zugleich er!
scheinendes und verschwindendes ist; verschwindend in dem MaB,
in dem eserscheint. Die Erscheinungen des lebendigen Christus sind
zugleich das leere Grab. Das ist der Punkt, den Hegel in seiner Phi!
losophie der Religion so deutlich unterstrichen hat. Eine Spaltung
zeichnet sich ab, eine Spaltung, die nicht die Zerstôrung des Zeug!
nisses ist, sondern die unendliche Vermittlung der gespaltenen Un!
mittelbarkeit. Wenn Interpretation môglich ist, dann deshalb, weil es
wegen dieses Abstandes immer môglich ist, die Beziehung zwischen
dem Sinn und dem Ereignis m i t Hilfe eines anderen Sinnes zu ver!
mitteln, der die Rolle des Interpretanten hinsichtlich eben dieser
ihrer Relation spielt. Charles Sandes Peirce hat diesbezüglich das
Model] dieser dreiseitigen Relation geliefert: ]edes Verhältnis zwi!
schen einem Zeichen und einem Objekt kann, so sagt er, erläutert
werden m i t Hilfe eines Zeichens, das hinsichtlich ihrer Relation die
Rolle des Interpretanten spielt; eine offene Kette v o n Interpretanten
wird sov o n der ersten Relation zwischen Zeichen und Objekt hervor!
gerufen. Wenden wir diese Relation auf das Zeugnis und auf die Re!

32
Die Hermeneutik des Zeugnisses

lation zwischen Bekenntnis und Erzählung an: Die Offenbarung des


Absoluten in Personen und Handlungen wird unabschlieiäbar ver!
mittelt m i t Hilfe der verfügbaren Bedeutungen, die einer vorgängi!
gen Schrift entlehnt werden. Sohat die Urkirche nicht aufgehërt, das
»Zeugnis Christi« ! um einen johanneischen Ausdruck aufzugreifen
" m i t Hilfe der Namen und Titel, Figuren und Funktionen zu inter!
pretieren, | die sie zum grôBten Teil aus der hebräischen Tradition 132
oder sogar der Tradition der Mysterienreligîonen oder der Gnosis
erhalten hatte. Indem sie Iesus Menschensohn, Messias oder Chris!
tus, Richter, Kënig, Hohenpriester, Logos n e n n t , hat die Urkirche
begonnen, die Relation zwischen dem Sinn und dem Ereignis zu i n !
terpretieren. Das Wichtige ist, dass diese Interpretation dem Zeugnis
nicht äuBerlich, sondern in seiner dialektischen Grundstruktur i m !
pliziert ist.
Das Zeugnis gibt des Weiteren zu interpretieren durch die kriti!
sche Aktivität, die eshervorruft. An dieser Stelle erhält das Band
zwischen Zeugnis und Prozess sein ganzes Gewicht. Man muss
immer unterscheiden zwischen dem falschen und dem wahrhaftigen
Zeugen, zwischen dem Vater der Lüge und dem treuen Zeugen. Das
Zeugnis ist zugleich eine Offenbarung und eine Krise des Scheins.
Aristoteles hatte Recht, esan eine Abhandlung über die Argumenta!
tion anzugliedern, selbst wenn er seinen Platz in einer Erfahrung des
Absoluten nicht wahrnehmen konnte. Man bezeugt dort, wo bezwei!
felt wird. Die Werke und Zeichen werden dem Urteil angeboten. Das
Absolute selbst ist Teil des Prozesses. In diesem zweiten Sinn gemm!
men, besteht die hermeneutische Struktur des Zeugnisses darin, dass
das Zeugnis von Gesehenem das Urteil n u r über eine Erzählung er!
reicht, d.h. über die Vermittlung von Gesagtem, und dass der Richter
im Tribunal n u r aufgrund des Gesagten, das er hôrt, über das Gese!
hene entscheidet. Fides ex auditu. Der Prozess ist unvermeidlich: Er
pfropft sich direkt auf die Dialektik von Gesehenem und Gesagtem
auf. Nur ein Prozess kann unterscheiden zwischen ]ahwe und den
»Gôtzen des Nichts«. Die Werke und die Zeichen, die der Offenbarer
» t u t « , sind ebenso viele Beweisstücke, Beweismittel im groBen Pro!
zess um das Absolute. Die Hermeneutik wird hier ein zweites Mal
geboren; esgibt keine Offenbarung des Absoluten ohne die Krise des
falschen Zeugnisses, ohne die Entscheidung, die zwischen dem Zei!
chen und dem Idol eine Trennlinie zieht.
Das Zeugnis gibt schlieBlich zu interpretieren über die Dialektik
v o n Zeuge und Zeugnis. Der Zeuge bezeugt etwas oder jemanden,

33
Die Hermeneutik des Zeugnissa

der über ihn hinausgeht: ln diesem Sinn geht das Zeugnis v o m An!
deren aus; aber das Engagement des Zeugen ist auch sein Zeugnis;
das Zeugnis Christi sind die Werke Christi, seine Passion, und analog
ist das Zeugnis des ]üngers sein Leiden. Ein eigenartigcr hermeneu!
tischer Zirkel setzt sich in Bewegung: der Zirkel v o n Offenbarung
und Passion. Der Märtyrer beweist [prouve] nichts, haben wir gesagt;
aber eine Wahrheit, die den Menschen nicht bis zum Opfer ergreift,
ist nicht überzeugend [manque de preuve]. Was überzeugt [fait
133 preuve]: die Offenbarung oder des | Leiden? Auch die Hermeneutik
des Zeugnisses ist in diese Spirale einbegriffen, die ununterbrochen
auf verschiedenen Hôhen die beiden einander entgegengesetzten Po!
le passiert.

Gehen wir nun den Weg der Urbejahung in Richtung auf das Zeug!
nis. Wir haben gesagt, dass auf diesem Weg die Urbejahung sich in
eine Kriteriologie des Gôttlichen verwandelt. Warum? Weil die Wei!
se, in der ein endliches Bewusstsein sich die Bejahung, die es konsti!
tuiert, aneignen kann, n u r ein kritischer Akt sein kann. Esgibt keine
vereinigende lntuition, kein absolutes Wissen, in dem das Bewusst!
sein sich zugleich des Absoluten und seiner selbst bewusst würde. Die
Bewusstwerdung kann sich n u r zerteilen, zerstreuen in Attribute, die
Amibute des Gôttlichen. Diese Attribute sind nicht die Charakterzü!
ge oder die Qualitäten eines Seins in sich; sie sind der vielfältige und
verschiedenartige Ausdruck eines reinen Aktes, der sich n u r ausdrü!
cken kann, indem er sich in Qualitäten hineingibt. Deshalb bilden
diese Eigenschaften, diese Qualitäten Rein geschlossenes System: sie
bleiben die diskontinuierlichen Charakterzüge, die ein Bestreben
markieren, das in vielfältige, aber untereinander nicht vereinbare
Richtungen verfolgt wird. Eine Kriteriologie des Gôttlichen sammelt
die jedes Mal unterschiedlichen Spuren der heterogenen Fordemn!
gen eines Denkens, das sich in jeder Hinsicht läutert, n u r in einer
Diversität von Attributen. Die Kriteriologie des Gôttlichen, sagt Na!
bert, »ist der Ausdruck der grôBten Anstrengung, die das Bewusst!
sein unternehmen kann, um sich von den Umständen zu lôsen, die
ihm eine vôllige Befriedigung verbieten, wenn es, mitten in seiner
Endlichkeit, esuntemimmt sich zu rechtfertigen, sich in eine radikale
Reinheit seiner Intentionen zu verwandeln. Iede dieser Qualitäten,
denen wir den Namen des Gôttlichen geben, korrespondien einem
vôllig innerlichen Akt, durch den w i r esentwerfen und zugleich so!
fort daran scheitern, eszu realisieren und zu inkarnieren. Es gibt

34
Die Hermeneutik des Zeugnisses

einen irreduziblen Konflikt, eine radikale Opposition zwischen der


schôpferischen Operation jeder dieser Qualitäten, die jedes Mal ei!
n e m thetischen Urteil entspricht, und dem Ehrgeiz, den ein mensch!
liches Bewusstsein haben kann, sie für sich, durch sich, über sich zu
verifizieren. Das ist kein Ideal; esist viel eher dessen Negation. Die
Kriteriologie des Gôttlichen entspricht der grëBten EntäuBerung, de!
ren ein menschliches Bewusstsein fähig ist, zugunsten der Bejahung
einer Ordnung, die frei ist von den Knechtschaften, aus denen keine
menschliche Existenz sich befreien kann. Diese EntäuBerung, diese
Bejahung, besteht aus Akten.«14
Kann m a n infolgedessen nicht sagen, dass das Urteil, an das das 134
Zeugnis appelliert, m i t demjenigen Urteil identisch ist, mit Hilfe des!
sen das Selbstbewusstsein, sich entäuBernd, die Attribute des Gôtt!
lichen herausfiltert? Ist esnicht derselbe Prozess, der sich hier nach!
einander als Prozess des Zeugnisses und als Prozess der Attribute des
Gëttlichen erweist?
Aber diese Identität ist selbst nicht gegeben; sie muss interpre!
tiert werden. Esbleibt ein " endlos kleiner werdender " Abstand be!
stehen zwischen clem reflektierenden Urteil, das in einem gänzlich
innerlichen Vorgang die Kriterien des Gôttlichen hervorbringt, und
dem historischen Urteil, das sich bemüht, in der ÂuBerlichkeit den
Sinn der Zeugnisse zusammenzutragen, die sich ereignet haben. Die
fundamentale Identität dieses doppelten Prozesses wird so der
(Wett")Einsatz der Hermeneutik des Absoluten.
Ohne Zweifel kann man die Einheit dieses doppelten Prozesses
n u r verstehen, indem m a n sie erzeugt. In der Tat gilt eszu verstehen,
dass das Bewusstsein sich dem innersten Selbst n u r um den Preis der
äu8ersten Aufmerksamkeit nähert, die sich bernüht, die Zeichen des
Absoluten in seinen Gestalten zu erspähen. Der grôËten Innerlich!
keit des Aktes korrespondiert die grôBte ÀuBerlichkeit des Zeichens:
»Zur Erfassung des Gëttlichen ergänzen sich die EntäuBerung, die
der mystischen Erfahrung wesentlich ist, und die Bindung des Gëtt!
lichen an eine historische Offenbarung gegenseitig. Dank ersterer
neigt das Erfassen des Gôttlichen dazu, sich über die bloBe Askese
des philosophischen Bewusstseins m i t dem Portschritt der Reflexion
zu vermischen; durch die zweite schreibt sich das Gôttliche über ein
Zeugnis, dessen Sinn das Bewusstsein niemals ausschôpfen kann, in

“ Le désir de Dieu, 265.

35
Die Hermeneutfik des Zeugnisses

die Geschichte ein.« ‘5 Was einen folglich überraschen kënnte, ist n u r


die Art des Bündnisses, das die lnteriorität des Aktes und die Exterie!
rität des Zeichens wechselseitig voneinander abhängig macht. Dieses
Bündnis ist die spezifische Eigenschaft der Wahrnehmung des Côti!
lichen durch ein endliches Bewusstsein und in ihm. Es ist in der Tat
eine Folge der Endlichkeit, dass die Urbejahung sich nicht in einer
totalen, intuitiven Reflexion selbst aneignen kann, sondern den Um!
weg über die Interpretation der kontingenten Zeichen nehmen muss,
die das Absolute in der Geschichte von sich gibt. Die hermeneutische
Struktur der Urbejahung ist eine Begleiterscheinung der Endlichkeit
des menschlichen Bewusstseins, in dem und durch das die Urbeja!
hung sich ereignet. Dass das Selbstbewusstsein m i t einer Entschei!
135 dung, einer Wahl, einem | Prozess verknüpft ist, wo es eben das er!
scheinen lässt, was selbst das Erscheinen des Absoluten ist, zeigt
nicht die Beweisschwäche des Zeugnisses, wie bei Aristoteles, son!
dem die Endlichkeit des Bewusstseins, dem das absolute Wissen ver!
weigert ist.
Das ist der Grund, weshalb man durchaus Hegel folgen kann,
aber n u r bis zu einem bestimmten Punkt. Hegel beginnt sein Kapitel
über die geoffenbarte Religion m i t etwas, was man durchaus eine
»Hermeneutik des Zeugnisses« nennen kônnte: Das Absolute ist u n !
t e r uns erschienen; das Gesehene ist Gehôrtes geworden durch das
Verschwinden der Erscheinungen; das innere Zeugnis des Geistes in
der Gemeinschaft ersetzt das Zeugnis von äul3eren Zeichen. Aber
Hegel beansprucht, den solcherart historisch erschienen Sinn in der
Logik des Begriffs unterzubringen. Das ist der Grund, weshalb die
Hermeneutik des Zeugnisses v o m absoluten Wissen verschlungen
wird. Für eine Reflexionsphilosophie der Urbejahung ist es nicht
môglich, die Korrelation der beiden EntäuBerungen auf eine Einheit
zu reduzieren. Ihr Gesetz ist das der doppelten Bescheidenheit: »Die
doppelte Bescheidenheit, die ihr aus ihrer Beziehung zum reinen Ich
und aus ihrer Beziehung zum Gëttlichen erwächst, das esin der Ge!
schichte entdeckt.«16
Aber wenn die Reflexion sich auch nicht der Einheit der beiden
Prozesse versichern kann, so kann sie zumindest bestätigen, dass sie
nicht heterogen sind. Sie gehôren beide der Ordnung des Urteils an
und sind von der Art des Aktes.

" Ebd. 267.


“' Ebd. 272.

36
Die Hermeneutik des Zeugnisses

Die erste gemeinsame Eigenschaft folgt aus dem Abstand zwi!


schen der Hermeneutik des Zeugnisses und dem absoluten Wissen.
Verglichen m i t dem Ideal der Wissenschaftlichkeit, das Letzteres
konstituiert, scheint die Hermeneutik des Zeugnisses m i t Relativität
befleckt. Es gibt keine apodiktische Antwort auf die immer wieder
neu auftauchende Frage: Wie kann man sich dessen versichern, dass
die Bejahung nicht willkürlich ist, dass Gott nicht konstruiert ist,
beinahe ausgewählt, ausgehend v o n bestimmten Zeugnissen, die ein
anderes Bewusstsein anzweifeln kënnte, weil es eben keine Tatsache
gibt, die v o n der Idee abgetrennt werden kônnte, die ihr ihren Sinn
gibt, und einen Sinn, der des Ereignis selbst übersteigt?17 In der Be!
grifflichkeit des Urteils bleibt die Interpretation eines Zeugnisses
eine wahrscheinliche; aber als eine solche erscheint sie nur, w e n n
man sie m i t einem Ideal der Wissenschaftlichkeit vergleicht, das n u r
eine einzige der verschiedenartigen Anf0rderungen an das Denken
bestimmt, das lediglich über einen einzigen Bereich der Reflexion
herrscht, nämlich über die | Objekterkenntnis. Das Mal? der Gewiss! 136
heit des Zeugnisses v o m Absoluten am Standard einer der Funk!
tionen des Bewusstseins zu messen, heiBt die Problematik des
Selbstbewusstseins der erbärmlichsten uerd|3a0tç £îç äÀÀO yévoç
auszuliefern. Die Urbejahung kann nicht der Norm der Gegenstands!
erkenntnis unterworfen werden. Die Interpretation des Zeugnisses
kann also n u r in einem modifizierten Sinn als wahrscheinlich be!
zeichnet werden. Dieser modifizierte Sinn ist indessen unzweifelhaft
durch die Art von Urteil gefordert, in der der reflexive Akt sich er!
fasst, w e n n er es unternimmt, den Sinn seines Aktes der EntäuBe!
rung näher aufzuschlüsseln und ihn dabei dem Raster einer Kriterio!
logie des Gôttlichen unterwirft. Den Engpass des Gerichtlichen
durchschreitend, um einmal mehr den schônen Ausdruck v o n Eric
Weil zu verwenden, wird die Urbejahung zur Kritik der Attribute
des Gôttlichen. Esist diese Kritik, die, in ihrer Eigenschaft als Urteil,
u n t e r die Modalität des Wahrscheinlichen fällt. Aber dasselbe gilt
auch für die historische Interpretation der Zeugnisse; die A r t v o n
Tribunal, v o r dem die Zeugen erscheinen, und die A r t von Prozess,
für den die Zeugnisse Beweismittel bilden, fallen u n t e r dieselben Ka!
teg0rien der Modalität des Urteils wie die Kriteriologîe des Gëtt!
lichen; ebenso gehôren die beiden Krisen, die beiden Prozesse, die
beiden Urteile derselben Modalität an. Aber wenn der Rückgriff auf

17[Vgl.] ebd. 271.

37
Die Hermeneutik des Zeugnisses

die Modalität nicht n u r unvermeidlich, sondern auch gerechtfertigt


ist, so gilt dies doch in einem modifizierten Sinn. Bezeugen hat eine
andere Beschaffenheit als Verifizieren im Sinn des logischen Empi!
rismus. Die Beziehung des Phänomens z u m Akt der absoluten Beja!
hung, v o n dem das Zeugnis geprägt ist, hat eine andere Beschaffen!
heit. Wenn die Frage nach der Modalität legitim bleibt, dann deshalb,
weil die Offenbarung dessen, was sich selbst zeigt, nicht zu t r e n n e n
ist von einer Anhängerschaft, die eine Wah] impliziert, und weil die!
seWahl in einem Prozess entsteht, der derjenigen Kriteriologie ver!
wandt ist, durch die der reflexive Akt sich selbst näher erläutert.
Aber das Gerichtliche ist selbst einbegriffen in die Selbstoffen!
barung des Absoluten, und diese absolute Offenbarung des Absolu!
t e n verleiht einem endlichen, vorläufigen Akt der Anerkennung das
Siege] seiner eigenen Absolutheit. Deshalb kônnte man, um den
Preis einer paradoxen Formulierung, durchaus sagen, dass die Her!
meneutik des Zeugnisses absolut-relativ ist. Sie ist sogar doppelt ab!
solut und doppelt relativ. Absolut als Urbejahung auf der Suche nach
einem Zeichen, absolut als die Offenbarung im Zeichen. Relativ als
die Kriteriologie des Gôttlichen für das philosophische Bewusstsein,
relativ als der Prozess über die Idole für das historische Bewusstsein.
137 Aber die Korrelation zwischen den beiden Urteilen, den beiden
Prozessen ruht auf einer viel tieferen Korrelation auf: Das Urteil ist
nicht mehr als die Spur v o n Akten. Die K0rrelation v o n Urteil und
Urteil, von Kriteriologie und Prozess, drückt bloB in juridischer Weise
die Relation zwischen zwei Akten aus: dem Akt eines Selbstbewusst!
seins, das sich entäufiert und versucht, sich zu verstehen, und dem
Akt des Bezeugens, durch den das Absolute sich in seinen Zeichen
und Werken zeigt. In derselben Weise, wie der Akt der Urbejahung
sich in den Diskurs über die Attribute des Gôttlichen hüllt, hüllt sich
das Zeugnis, verstanden als Handlung, die bezeugt, in die Erzählung
eines Zeugen, der wir ebenso den Namen »Zeugnis« geben. Wenn
man auf der Ebene der Urteile von K0rrelation sprechen kann, kann
man auf der Ebene der Akte von Reziprozität sprechen. Reziprok sind
die Erhôhung des Bewusstseins und die Anerkennung des Absoluten
in seinen Zeichen: »Wesentliche Idee [ist], eine begründete Korres!
pondenz aufzuweisen zwischen der historischen Bejahung des Abso!
luten und den Stufen, die ein Bewusstsein durchschreitet, das sich
erhebt und hin zu einer Urbejahung verwandelt ...«18.

“* Ebd. 279.

38
Die Hermeneutik des Zeugnisses

Man kann diese K0rrespondenz zwischen Akt und Akt folgen!


dermaBen ausdrücken. Was wir in einem Zeugnis erkennen kônnen !
nicht im Sinn der Erzählung des Zeugen, der berichtet, was er gese!
hen hat, sondern eines Werkes, das bezeugt ", ist, dass es der Aus!
druck der Freiheit ist, die zu sein wir erstreben. Ich erkenne als exis!
tierend, was für mich n u r eine Idee ist. Was ich erkenne, auBerhalb
meinen ist, in der Wirklichkeit, die Bewegung der Befreiung, die ich
n u r in der Idealität setze. Diese Erkenntnis ist bereits nicht mehr
historisch, sie ist philosophisch. Sie gestattet es, von absoluten Hand!
lungen zu sprechen, was für einen Historiker unsinnig ist; denn eine
absolute Handlung lässt sich nicht als aus Vorangegangenem hervor!
gehend oder als Konsequenzen auslôsend verstehen, sondern n u r als
Herausrei8en eines freien Bewusstseins aus seinen geschichtlichen
Bedingungen. Was wir hier wesentlich erkennen, ist ein anderes Be!
wusstsein, das sich selbst absolut setzt, zugleich frei und real. Aber
diese Erkenntnis ist n u r môglich in einem Akt derselben A r t wie dem
inneren Akt unserer eigenen Befreiung.
Das ist der äul3erste Punkt, bis zu dem eine Hermeneutik voran!
schreiten kann, die essich zur Aufgabe macht, die Distanz zwischen
den beiden Brennpunkten der | Ellipse zu verringern, zwischen dem 138
reflexiven Akt der EntäuBerung und clem Akt, der v o m Zeugnis be!
zeugt wird.
Aber diese Distanz ist nicht überwindbar und markiert die Dif!
ferenz zwischen einer hermeneutischen Philosophie und einer Phi!
losophie des absoluten Wissens.
Die Unmôglichkeit des absoluten Wissens zeigt sich an drei I n !
dizien: Sie drückt eine erste Unfähigkeit aus, diejenige, die Kriterio!
logic des Gëttlichen in einem geschlossenen System zu fixieren;
wenn diese auch in demselben Tempo voranschreitet wie die Inter!
pretation der historischen Zeichen, ist sie doch niemals vollendet; die
Zeugnisse des Absoluten, die das Voranschreiten des Selbstbewusst!
seins regeln, geben dem Gëttlichen jedes Mal einen neuen oder tie!
feren Sinn; ebenso ist auch die Kriteriologie des Gôttlichen niemals
vollendet.
Die Unmôglichkeit des absoluten Wissens drückt sodann die
Unfähigkeit des Bewusstseins aus, die Zeichen zu einer Summe z u !
sammenzuzählen. M i t dem Zeugnis ist die Erfahrung v o n »jedem
einzelnen Mal« verbunden. Die Konsonanz zwischen der Reflexion
auf sich selbst und dem Zeugnis, das die Geschichte darbietet, wird
n u r erreicht, wenn das Bewusstsein jedes Mal das Beispiel, das ihm

39
Die Hemeneudk des Zeugnisses

das Gëttliche offenbart, als einmalig betrachtet. Die Zeugnisse kôn!


nen zwar u n t e r sich eine tiefgreifende Âhnlichkeit haben. Aber die
»Familienähnlichkeitem schaffen, wie Wittgenstein uns in Erinne!
rung ruft, keine Wesensidentität.
SchlieBlich drückt die Unmôglichkeit des absoluten Wissens die
Unfähigkeit aus, die absolute Reflexion und das absolute Zeugnis, das
seinerseits in den Rang eines Beweismittels im groBen Prozess um
den Sinn erhoben ist, miteinander zu identifizieren. Die Beziehung
zwischen der Kriteriologie, die das Bewusstsein vom Gôttlichen be!
stimmt, und die Wahrnehmung des Zeugnisses, die dem Ereignis die
Initiative überlässt, ist sicher eng und reziprok. Aber diese zirkuläre
Beziehung impliziert eine Distanz zwischen dem Prinzip der Reflexi!
on und dem historischen Ankommen der Zeichen, die niemals über!
wunden wird. Esgibt zwei Akte, zwei lnitiativen. Die Initiative einer
Vertiefung und die Initiative einer Manifestation; die erste, ganz in!
nerliche, kann sich n u r m i t Hilfe des Verstehens bezeichnen, das auf
das Zeugnis des Absoluten angewandt wird; die zweite, ganz äuBerli!
che, kann ihre Wahrnehmung nur auf das Prinzip der Erhabenheit
stützen, das das Selbstbewusstsein konstituiert. Diese unüberwind!
liche Distanz ist diejenige von Vemunft und Glauben, v o n Philoso!
phie und Religion. Sie verhindert, dass die religiôsen Vorstellungen
in Hegelscher Manier dem Begriff untergeordnet werden. Die Korre!
lation besteht auf der Ebene des Urteils, nicht des Begriffs. Das ist es,
was durch den »Prozess«, die »Krise« des Zeugnisses bezeichnet
wird. Esgibt eine Korrelation zwischen zwei Prozessen, ohne dass
die Vorstellungen des einen im Begriff des anderen verschwänden.
139 Die | gegenseitige Fôrderung von Vernunft und Glauben in ihrer
Differenz stellt das letzte Wort für ein endliches Bewusstsein dar.
Folglich erweist sich die Beziehung zwischen Aki und Zeichen
als eine hermeneutische Beziehung: eine Beziehung, die zu interpre!
tieren gibt, und eine Beziehung, die die Interpretation fordert.
Zwischen der Philosophie des absoluten Wissens und der Her!
meneutik des Zeugnisses gilt es, sich zu entscheiden.

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