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An den Grenzen
der Hermeneutik
Philosophische Reflexionen
über die Religion
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I 4
Deutsche Erstausgabe Z
Der Autor:
Paul Ricœur (1913"2005), einer der bedeutendsten franzôsischen Phi!
losophen der Gegenwart, lehrte u.a. in Paris und Chicago. Sein u m !
fangreiches und breit gefächertes Werk umfasst phänomenol0gische
und hermeneutische, geschichtswissenschaftliche, ethische und poli!
tische Fragestellungen. Weitere Werke in Übersetzung bei Alber: Die
Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld [ (2002);
Symbolik des Bôsen. Phänomenologie der Schuld Il (2002).
Inhalt
Die Problematik
Ich begebe mich sofort an das Ende dieser Überlegungen und frage:
Für welche A r t von Philosophie stellt das Zeugnis ein Problem dar?
Und ich a n t w o r t e : für eine Philosophie, für die die Frage nach dem
Absoluten eine sinnvolle Prage ist; für eine Philosophie, die die Idee
des Absoluten m i t einer Erfahrung des Absoluten verbinden will; für
eine Philosophie, die weder im Beispiel noch im Symbol die Dichte
dieser Erfahrung findet.
Ich bin dieser Philosophie im Werk von Jean Nabert begegnet,
meines Wissens dem einzigen, das das Thema einer Hermeneutik des
Absoluten und des Zeugnisses entwickelt hat (Le désir de Dieu, Buch
III, »Métaphysique du témoignage et herméneutique de l’absolu«).
Die folgenden Seiten sind von diesem Werk inspiriert, zu dessen Lek!
türe sich eigene semantische, epistemologische und exegetische
Überlegungen hinzugesellen.
Eine Philosophie, für die die Frage nach dem Absoluten eine sinu!
volle Frage ist
Wenn das Zeugnis ein philosophisches Problem sein soil und nicht
nur, wie w i r noch zeigen werden, ein juristisches oder historisches,
dann insofem als das Wort sich nicht darauf beschränkt, die Erzäh!
lung eines Zeugen zu bezeichnen, der berichtet, was er gesehen hat,
sondem sich auf Worte, Werke, Handlungen, Lebensgeschichten be!
zieht, die als solche im Herzen der Erfahrung und der Geschichte eine
Intention, eine Inspiration, eine Idee bezeugen, die die Erfahrung
und die Geschichte überschreiten. Das philosophische Problem | des 108
Zeugnisses ist das Problem des Zeugnisses v o m Absoluten‘; besser:
1 [»le témoignage del'absolu«; grammadkalisch wäre auch die Übersetzung »das Zeug!
nis des Absolute… môglich.]
Die Hermeneutîk des Zeugnisses
Eine Philosophie, die die Idee des Absoluten mit einer Erfahrung des
Absoluten verbinden will
Die Urbejahung trägt alle Charakterzüge einer absoluten Bejahung
des Absoluten, aber sie kann nicht über einen rein innerlichen Akt
hinausgehen, sie ist nicht imstande, sich auEerhalb auszudrücken,
nicht einmal, sich innerhalb zu erhalten; die Urbejahung hat etwas
unbestimmt Anfanghaftes an sich und betrifft n u r die Idee, die das
Ich sich von sich selbst macht. Für eine Reflexionsphilosophie ist die!
seUrbejahung in keiner Weise eine Erfahrung; obwohl numerisch
identisch m i t dem realen Bewusstsein eines jeden Einzelnen, ist sie
der Akt, der sich vollständig v o n den Grenzen befreit, die das indivi!
duelle Schicksal auferlegt. Sie ist Entäuflerung. Und eben durch diese
EntäuBerung kommt die Reflexion z u r Begegnung mit den kontin!
genten Zeichen, die das Absolute in seiner Generosität v o n sich selbst
erscheinen lässt. Diese EntäuBerung ist nicht n u r eine ethische, son!
dern auch eine spekulative; denn erst wenn das Denken des Unbe!
dingten allen Rückhalt in den transzendenten Objekten der Meta!
physik verloren hat, wenn es auf alle Objektivierungen verzichtet
hat, die der Verstand erzwingt, dann wird der Anspruch des Absolu!
ten, reduziert auf die Vertiefung eines Aktes, der jeder unserer Hand!
lungen immanent ist, bereit für soetwas wie eine Erfahrung des Ab!
soluten im Zeugnis.
ten reicht die Vorstellung des Beispiels nicht an diejenige des Zeug!
nisses heran.
In der exemplarischen Handlung tritt der Fall hinter die Regel
zurück, die Person hinter das Gesetz. Das Bewusstsein wird n u r
durch sich selbst und durch die Norm, die esbereits enthielt, gestei!
gert. Die Exemplarität des Beispiels bildet keine Manifestation der
Urbejahung.
Noch gewichtiger ist, dass die Beispiele moralischer Erhabenheit
unsere Verehrung an die moralische Ordnung binden. Die Begeg!
nung mit dem Bôsen jedoch, in u n s und auBer uns, ôffnet u n t e r u n !
seren Schritten den Abgrund des nicht zu Rechtfertigenden [l'injus!
tifiable], d.h. den Abgrund dessen, was sich jedem Versuch einer
Rechtfertigung, nicht n u r durch die Norm, sondern auch durch die
Nichterfüllung der Norm, entzieht. Das nicht zu Rechtfertigende
zwingt zu einer Aufgabe jeder cupido sciendi, die die Reflexion bis
an die Schwelle der Theodizee trägt. Diese letzte EntäuBerung berei!
t e t die Reflexion darauf vor, den Sinn v o n vollständig kontingenten
Ereignissen oder Akten aufzunehmen, die bezeugen kônnten [attes!
teraient2], dass das nicht zu Rechtfertigende hier und jetzt über!
wunden ist. Diese Bezeugung liei3e sich nicht auf die Illustration
derjenigen Normen reduzieren, deren Geltung das nicht zur Recht!
fertigende untergraben hat; das Eingeständnis des Bësen erwartet für
unsere Regeneration mehr als n u r Beispiele des Erhabenen; eserwar!
t e t Worte und vor allem Handlungen, die absolute Handlungen wä!
r e n in dem Sinn, dass die Wurzel des nicht zu Rechtfertigenden in
ihnen eindeutig und offensichtlich ausgerissen wäre.
Dieselben Gründe, die das Beispiel nicht die Ebene des Zeugnis!
ses erreichen lassen, markieren auch die Distanz des Symbols zum
Zeugnis. Das Beispiel ist historisch, aber es tritt als Fall hinter der
Regel zurück. Das Symbol tritt nicht so schnell zurück: Sein doppel!
t e r Sinn, seine Undurchsichtigkeit machen es unerschôpflich und
führen dazu, dass es nicht aufhërt, zu denken zu geben. Aber ihm
fehlt " oder kann fehlen " die historische Dichte; sein Sinn ist wich!
tiger als seine Historizität. Deshalb stellt es eher eine Kategorie der
produktiven Einbildungskraft dar. Im Gegensatz dazu gibt das abso!
lute Zeugnis in seiner konkreten Singularität der Wahrheit einen
Rückhalt, ohne den deren Autorität in der Schwebe bliebe. Das jedes
Mal singuläre Zeugnis verleiht den Ideen, den Idealen, den Seinswei!
10
Die Semantik des Zeugnisses
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Die Hermeneutik des Zeugnisses
3 [»preuves« bezeichnet auch Beweise im weiteren Sinn des Wortes. Ricœur selbst wird
ausführen, dass das Zeugnis im strikten Sinn gerade kein Beweis ist.]
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Die Semantik des Zeugnisses
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Die Hermeneutik des Zeugnisses
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Die Semantik des Zeugnisses
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Die Hermeneutik des Zeugnisses
des Zeugnisses nicht ausgleichen kônnte; daher ist der Redner, der
sich des Zeugnisses »bedient«, der jemanden zum Zeugen nimmt,
nicht sein Meister. AuBerdem nimmt das Zeugnis, selbst w e n n es als
ein Bericht von Ereignissen verstanden wird, die einem zugestoBen
sind, in einer Rhetorik, die durch eine Logik geregelt wird, n o t w e n !
digerweise einen untergeordneten Platz ein; denn es markiert die
Abhängigkeit des Urteils und des Richters v o n etwas ÀuBerem: auf
der ersten Ebene v o n dem, was ein anderer gesagt hat, auf der zwei!
t e n Ebene von dem, was dieser gesehen hat; deshalb gibt sich Aristo!
teles Mühe, die Logik des Zeugnisses so weit wie mëglich an die
Logik der Argumentation zu binden, indem er auf den Kriterien der
Wahrscheinlichkeit insistiert, die auf esangewandt werden kônnen;
auf diese Weise sind die untechnischen Beweismittel m i t den tech!
nischen Beweismitteln, die die Grundachse eines Argumentations!
ganges bleiben, verbunden. Aber die ÀuBerlichkeit des Zeugnisses
ist genau das, was es u n t e r die untechnischen Beweismittel fallen
116 lässt; das ist nicht unbedeutend | für unsere Untersuchung; denn es
ist genau diese ÀuBerlichkeit des Zeugnisses, die einer Hermeneutik
Probleme bereiten wird.
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Die Semanük des Zeugnlsses
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Dlo H o r m o n c h des Zeugnisses
Gewissens«. Aber vor allem haben wir als »Zeugnis« eine Handlung,
ein Werk, die Bewegung eines Lebens bezeichnet, insofern diese Din!
ge selbst das Zeichen, den lebendigen Beweis der Überzeugung und
der Hingabc eines Menschen an eine Sache darstellen.
Die Bedeutung des Zeugnisses scheint sich damit umgekehrt zu
haben; das Wort bezeichnet nicht mehr einen Sprechakt, den münd!
lichen Bericht eines Augenzeugen über ein Ereignis, das er miterlebt
hat; das Zeugnis ist die Handlung selbst, insofern sie nach auBen hin
den inneren Menschen bezeugt, seine Überzeugung, seinen Glauben.
Und dennoch gibt es keinen Bruch in der Bedeutung in dem
Sinn, dass die beiden e x t r e m e n Verwendungen zu bloBen Homony!
men geworden wären. Vom Zeugnis, verstanden im Sinn eines Be!
richts von Tatsachen, schreitet man z u r Bezcugung durch die Hand!
lung und durch den Tod über geregelte Übergänge voran; das
Engagement des Zeugen im Zeugnis ist der Fixpunkt, um den das
Sinnspektrum kreist. Dieses Engagement ist es, das den Unterschied
macht zwischen dem falschen Zeugen und dem wahrhaftigen und
tre u e n Zeugen.
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Da: Eindringen der pmpheüschcn und kerygmatischen Dimension
digt dies an, und wer kann uns sagen, was früher war? Sie sollen ihre
Zeugen stellen, damit sie Recht bekommen, damit man (die Zeugen)
hërt und sagt: Esist wahr. Ihr seid meine Zeugen - Spruch des Herrn
! und auch mein Knecht, den ich crwähltc, damit ihr erkennt und mir
glaubt und einseht, dass ich es bin. Vor mir wurde kein Gott erschaf"
fen, und auch nach mir wird eskeinen geben. Ich bin ]ahwe, ich, und
auBer mir gibt es keinen Retter. Ich babe es selbst angekündigt und
euch gerettet, ich habe es euch zu Gehôr gebracht. Kein fremder
(Gott) ist bei euch gewesen. Ihr seid meine Zeugen ! Spruch des
Herrn. Ich allein bin Gott; auch künftig werde ich essein. Niemand
kann m i r etwas entreiBen. Ich handle. Wer kann es rückgängig ma"
chen ?« (les 43,8!13; im selben Sinne les 44,6!8).
Das Eindringen des Sinnes geschieht folgendermaBen: Es ist
vierfach. Zunächst ist der Zeuge nicht irgend jemand, der vortritt
und aussagt, sondern derjenige, der zu bezeugen gesandt ist. Sodann
bezeugt der Zeuge nicht isolierte und kontingente Fakten, sondern
den radikalen, umfassenden Sinn der menschlichen | Erfahrung; es 119
ist lahwe selbst, der sich im Zeugnis bezeugt. Des Weiteren ist das
Zeugnis auf die Proklamation, die Verbreitung, die Verkündigung
ausgerichtet: Ein Volk ist Zeuge für alle Vôlker. Schliefilich impliziert
dieser Beruf ein totales Engagement nicht n u r in Worten, sondern in
Taten und, im äul3ersten Fall, im Opfer des Lebens. Was diesen neuen
Sinn des Zeugnisses von allen seinen Verwendungen in der Alltags"
sprache unterscheidet, ist, dass das Zeugnis nicht dem Zeugen gehërt.
Esgeht, was seinen Ursprung wie was seinen Inhalt betrifft, aus einer
absoluten Initiative hervor.
Aber der profane Sinn ist nicht aufgegeben. Er ist in einer be"
stimmten Form in den prophetischen Sinn übernommen. Dies ist
evident für den Aspekt des Engagements, denjenigen, den wir in u n "
serer semantischen Analyse als letzten betrachtet haben. Hier stehen
das prophetische und das profane Konzept in vollkommener Kon"
tinuität. In dieser Hinsicht scheint esgerechtfertigt zu sagen, dass
noch kein offensichtliches Band den Begriff des Gottesknechtes {Ebed
Iahwe) an den des Zeugen bindet; die Theologie des Märtyrers Iiegt
nicht auf der direkten Linie des prophetischen Konzeptes von
pdgtuç. Sicher ist das Thema des verfolgten Gerechten und mehr
noch dasjenige des verhôhnten oder gar zu Tode gebrachten Prophe"
t e n älter als das Thema des Märtyrers, wie man esim Spätjudentum
findet. Zumindest ist der Prophet von Anfang an ein Mann des
Schmerzes (»Um deinetwillen werden wir getôtet Tag für Tag, be"
19
Die Hermeneutik des Zeugnisses
20
Das Eindringen der pmphedschen und kerygmadschen Dimension
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Die Hermeneutik des Zeugnisses
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Das Eindringen der prophetischen und kerygmafischen Dimension
in das Bekenntnis geht nicht ohne innere Spannung vor sich; der
Augenzeugencharakter des Zeugnisses kann ohne Zweifel ziemlich
weit gedehnt werden, dank einer entsprechenden Ausweitung des
Begriffs der Erscheinung; alles weist darauf hin, dass Paulus selbst
seine Begegnung mit dem Auferstanden auf dem Weg nach Damas!
kus, die ihn wie ein Blitz traf, als eine Erscheinung interpretiert hat,
die seine Erfahrung in die Kette der Augenzeugnisse des Lebens und
der Auferstehung einfügt (Apg. 22,14 f.; 26,15 f.). Das Urchristentum
hat zwischen den Augenzeugnissen des Lebens ]esu und der Begeg!
nung m i t dem Auferstandenen niemals einen fundamentalen Unter!
schied gesehen. Gerade die Abfassung der Evangelien geht daraus
hervor, dass die prophetischen Inspirationen, die dem lebendigen
Christus zugeschrieben werden, und die Erinnerungen der Augen!
zeugen direkt miteinander verzahnt werden; zwischen den Taten
und Gesten ]esu von Nazareth, den Erscheinungen des Auferstande!
n e n und den Manifestationen des Geistes in den pfingstlichen Ge!
meinden besteht keinerlei intrinsische Differenz, sondern im Gegen!
teil die Kontinuität derselben Offenbarung, die eine entsprechende
Ausweitung des Zeugnisses v o n Gesehenem und Gehôrtem rechtfer!
tigt. Erst für einen modernen Geist, der durch die historische Kritik
geformt wurde, sind die Weggemeinschaft mit Iesus und die Begeg!
nung m i t dem Auferstandenen zwei verschiedene Dinge. Die grund!
legende Einheit zwischen clem Zeugen der Tatsachen, der Ereignisse,
und dem Zeugen | des Sinnes, der Wahrheit, konnte so eine gewisse 123
Zeitlang bewahrt werden.
Dennoch wird eine gewisse Schwachstelle im lukanischen Kon!
zept des Zeugnisses sichtbar: Paulus predigt nicht die Erscheinungen,
noch weniger die »private« Erscheinung, die ihm zuteil wurde; er
predigt den gekreuzigten Christus; aber er war kein Zeuge des Kreu!
zes. Und wenn Paulus die Erinnerung an Stephanus wachruft, den er
verfolgt hat, sagt er, sich an Christus selbst richtend: »Auch als das
Blut deines Zeugen Stephanus vergossen wurde, stand ich dabei«
(Apg 22,20). Deines Zeugen Stephanus? lst das noch im Sinn eines
Augenzeugen zu verstehen? M i t dem Fall des Stephanus ist eine
Wende eingetreten: Die »Zeugen der Auferstehung« werden in dem
Mai? weniger Augenzeugen sein, in dem der Glaube über das Hôren
der Predigt vermittelt werden wird; die »Stimme« kann noch sosehr
auf das »Sehen« zurückverweisen, die Stimme ist bereits nicht mehr
das Sehen; n u n kommt der Glaube v o m Hôren.
Bei Iohannes verschiebt sich das Gleichgewicht deutlich v o m Pol
23
Die Hermeneutik des Zeugnisses
der Erzählung zum Pol des Bekenntnisses, selbst wenn der erzähleri!
sche Rahmen des Evangeliums beibehalten wird. Freilich ist esJohan!
nes, der von allen Evangelisten der Herald des Zeugnisses par excel!
lence ist; beim vierten Evangelistcn findet sich quantitativ die
überwältigende Mehrheit der Belege für die Worte pagtuoéw5 (47
von 77) und pag‘rvçla (30 von 37). Die Sinnverschiebung, die das
Zeugnis betrifft, stammt aus dem neuen Sinn, die m i t der Benen!
nung als Zeuge verknüpft wird. Dieses Won, das bei Johannes deut!
lich seltener ist als dasjenige des »Zeugnisses« (nur fünfmal in der
Apokalypse), wird auf Christus selbst angewandt, der der »treue
Zeuge« (Offb 1,5) genannt wird, oder auch der »treue und zuverläs!
sige Zeuge« (Offb 3,14; man findet allerdings Offb 9,3 und 17,6 das
Wort »Zeuge« in einem quasi lukanischen Sinn des Zeugen, der be!
kennt). Diese Sinnverschiebung, die den Begriff des Zeugen betrifft,
überträgt sich auf das Zeugnis. Dieses ist nicht vorrangig das Han!
deln eines Menschen, wenn er Zeugnis ablegt, sondern das Handeln
des Sohnes, der den Vater offenbart (Offb 1,2 spricht vom »Zeugnis
[pagtvgia] Jesu Christi« als Synonym für »Offenbarung [Émo!
udÀuuw;] Jesu Christi«, 1,1f.). Das Zentrum des Zeugnisses ver!
schiebt sich so von der Bekenntnis-Erzählung in Richtung auf die
Offenbarung selbst, von der Zeugnis abgelegt wird. Das ist die Be!
deutung von: »Niemand hat Gott je gesehen. Der einzige, der Gott
ist [...], er hat Kunde gebracht (êfinyñoato)« (Joh 1,18); die Exegese
Cortes und das Zeugm's des Sohnes sind dasselbe. Deshalb richtet sich
124 das Zeugnis, das der Jünger ablegt, in | seiner Grundintention nach
dem theologischen Sinn der Zeugnis-Oflenbarung, dem Akt Christi
par excellence. Wenn Johannes der Täufer ein Zeuge ist, dann nicht
als Zeuge der Auferstehung im Sinn der ersten Evangelisten, sondern
in dem weniger historischen und mehr theologischen Sinn eines
»Zeugen für das Licht«: »Er kam als Zeuge, um Zeugnis abzulegen
für das Licht« (Joh 1,19). Aber was ist dieses »Zeugnis des Johannes«
(Jah 1,19)? Esist nichts anderes als das grundlegende und vollständi!
ge Christusbekenntnis: »Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der
Welt hinwegnimmt« (Ich 1,29). ln einem gewissen Sinn ist Johannes
der Täufer ein Augenzeuge (»Das habe ich gesehen, und ich bezeuge:
Er ist der Sohn Gottes«, Joh 1,34). Was er aber gesehen hat, ist ein
Zeichen, das Jesus als den Christus bezeichnet (»Ich sah den Heiligen
“ [Im Original fälschlich: udgtvç; die folgenden Angaben beziehensich de facto auf das
Johannesevangelium,die Johannesbriefeund die Apokalypsezusammen genommen.)
24
Das Eindringen der prophetîschen und kerygmaüschen Dimension
Geist wie eine Taube …«); aber dieses Zeichen bedeutet nichts ohne
ein inneres Wort, das den Sinn benennt: »Auf w e n du den Geist he!
rabkommen siehst und auf w e m er bleibt ...« (Ich 1,33); eswird nicht
gesagt, dass noch jemand auBer dem Täufer das Wort gehôrt hätte,
das dem Gesehenen Sinn verlieh. Die Idee des Augenzeugen wird
somit tiefgreifend umgestaltet durch das doppelte Thema: Christus
als der treue Zeuge, und: Zeugnis als Zeugnis für das Licht. Diese
beiden Themen sind übrigens insofern verbunden, als Christus, der
treue Zeuge, selbst gekommen ist, » u m Zeugnis abzulegen«. Das er!
klärt der johanneische Christus vor Pilatus: »Du sagst es, ich bin ein
Kënig. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass
ich für die Wahrheit Zeugnis ablege« (10h 18,37).
Zwei sehr schône Texte markieren u n t e r dieser Rücksicht die
Differenz des Zeugnisses im johanneischen Sinn zu demjenigen im
Sinn des Lukas: ]oh 5,31!39 und Ioh 8,13!18. Sie beginnen bei der
hebräischen Lebensweisheit (Dtn 19,15), der zufolge mindestens
zwei Zeugen erforderlich sind, um einen Beweis zu erbringen. Aber
der Christus des Johannes verschiebt die Bedeutung des doppelten
Zeugnisses vôllig. Das erste Zeugnis ist dasjenige, das Christus über
sich selbst ablegt: »Auch wenn ich Zeugnis über mich selbst ablege,
ist mein Zeugnis gültig. Denn ich weiB, woher ich gekommen bin
und wohin ich gehe« (]oh 8,14). Und welches ist das zweite Zeugnis?
Es kônnte dasjenige v o n Johannes dem Täufer sein, nach dem zu
urteilen, was anderswo über ihn gesagt wird; aber das zweite Zeugnis
ist dennoch nicht das seine, sondern das Gottes selbst: »Die Werke,
die mein Vater m i r übertragen hat, damit ich sie zu Ende führe, diese
Werke, die ich vollbringe, legen Zeugnis dafür ab, dass mich der Va!
t e r gesandt hat. Auch der Vater selbst, der mich gesandt hat, hat über
mich Zeugnis abgelegt« (Ich 5,36 f.).
M i t Hilfe dieser Sinnverschiebung lässt sich eine fast vollstän! 125
dige Verinnerlichung des Zeugnisses beobachten: »Wenn wir von
Menschen ein Zeugnis annehmen, so ist das Zeugnis Gottes gewich!
tiger; denn das ist das Zeugnis Gottes: Er hat Zeugnis abgelegt für
seinen Sohn. Wer an den Sohn Gottes glaubt, trägt das Zeugnis in
sich« (1 Ioh 5,9 f.). Dieses Zeugnis, das der Zeuge in sich trägt, ist
kein anderes als das Zeugnis des Heiligen Geistes, eine Vorstellung,
die den äuBersten Punkt der Verinnerlichung des Zeugnisses mar!
kiert: »Wenn aber der Beistand kommt, den ich euch v o m Vater aus
senden werde, der Geist der Wahrheit, der v o m Vater ausgeht, dann
25
Die Hermeneutîk des Zeugnisses
wird er Zeugnis für mich ablegen. Und auch ihr sollt Zeugnis able!
gen, weil ihr v o n Anfang an bei m i r seid« (Joh 15, 26f.).
So kënnte es scheinen, dass das Zeugnis im Zeugnis Christi
selbst und im Zeugnis, das Gott über Christus ablegt, vollkommen
verinnerlicht wäre und jeglichen Bezug z u m Augenzeugnis verloren
hätte, das Lukas sowichtig ist. Davon kann jedoch keine Rede sein:
Selbst bei Johannes ist das Band zwischen dem christologischen Be!
kenntnis und der narrativen Verkündigung eines zentralen ge!
schichtlichen Ereignisses nie durchschnitten; in den beiden Texten,
die wir weiter oben kommentiert haben (Joh 5,31!39; 8,13"18), soll!
te ein Ausdruck uns hellhôrig machen, der die Exteriorisiemng des
Zeugnisses in Bezug auf die Intimität des Dialoges zwischen Vater
und Sohn markiert: der des »Werkes«: »lch habe eseuch gesagt, aber
ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich im Namen meines Vaters voll!
bringe, legen Zeugnis für mich ab« (Joh 10,25; vgl. 10,37 f.: »die Wer!
ke meines Vaters vollbringen«). Diese uagwgia 1:(IW ëgyœv von Sei!
t e n Christi selbst bewirkt, dass das Zeugnis, das über ihn abgelegt
wird, kein Zeugnis v o n einer Idee, einem überzeitlichen logos dar!
stellt, sondern v o n einer fleischgewordenen Person. Johannes, der
das fleischgewordene Wort besingt, kann trotzdem das Zeugnis nicht
vollständig in Richtung einer vôllig mystischen und innerlichen Idee
verwandeln. Das Zeugnis »vom« Licht ist immer Zeugnis v o n »je!
mandem« (vgl. die vielfachen Ausdrücke: »Zeugnis über ihn«, »über
mich«, »über dich«, Joh 1,15; 5,31f.; 8,13.17; 10,25; 15,26). Deshalb
kann auch das Zeugnis-Bekenntnis noch immer im narrativen Rah!
m e n eines Evangeliums bleiben, wie konventionell auch immer die!
ser Rahmen geworden sein mag: »Das Wort ist Fleisch geworden und
hat u n t e r uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen«
(Joh 1,14). Soverschieden Lukas und Johannes sind, so treffen sie sich
doch an diesem Punkt. Das Zeugnis-Bekenntnis kënnte sich nicht
v o n der Zeugnis"Erzählung ablôsen, ohne in die Gnosis zu führen.
126 Deshalb bezeichnet Johannes, indem er für sich ausdrücklich die Ei!
genschaft des Zeugen in Anspruch nimmt, sein Werk m i t Begriffen,
die von Lukas stammen kônnten: »Und der, der esgesehen hat, hat es
bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiB, dass er Wahres
berichtet, damit auch ihr glaubt« (Joh 19,35). Ein weiteres Mal sind
Gesehenhaben und Bezeugen eng verbunden.
26
Das Eindringen der prophetischen und kerygmaüschen Dimension
27
Die Hermeneutik des Zeugnisses
wissen, davon reden wir, und was wir gesehen haben, das bezeugen
wir, und doch nehmt ihr unser Zeugnis nicht an« (Ich 3,11). Und der
Täufer sagt: »Was er gesehen und gehërt hat, bezeugt er, doch nie!
mand nimmt sein Zeugnis an« (10h 3,32).
In diesem Rahmen des groi3en Prozesses ist der Zeuge auch der
Gesandte; der Gesandte ist wie derjenige, der ihn sendet; er hat die
ganze Autorität eines Bevollmächtigten. Soversteht man den Nach!
druck, m i t dem an die rabbinische Regel v o n den zwei Zeugen erin!
n e r t wird; in die Perspektive des groBen Prozesses eingeordnet, be!
kommt die Aussage: »Die Werke bezeugen über mich, dass der Vater
mich gesandt hat«, ein neues Gewicht. Christus ist Zeuge par excel!
lence, weil er die »Krise« hervorruft, das Gericht über die Werke der
Welt: »Er bezeugt gegenüber der Welt, dass ihre Werke bëse sind«
(Ioh 7,7)9. Die Aufgabe des Zeugen wird hier auf das Niveau derjeni!
gen des endzeitlichen Richters gehoben. Der Richter ist das Licht; er
bringt das Licht. In einer merkwürdigen Umkehrung ist der Ange!
klagte des irdischen Prozesses zugleich der Richter des eschatologi!
sehen Prozesses. Zeuge zu sein bedeutet für Christus, diese beiden
Rollen des irdischen Angeklagten und des himmlischen Richters zu
vereinen; es bedeutet ebenso, Kônig zu sein, wie er Pilatus gegenüber
bekennt.
Wenn also das Bekenntnis die Farbe des Zeugnisses annimmt,
dann immer im Zusammenhang mit einer Bestreitung und einer An!
klage.
Aber nicht n u r das Zeugnis Christi und nach ihm das Zeugnis
der ]ünger empfängt ein neues Licht dadurch, dass es u n t e r das Zei!
chen des grol3en Prozesses gestellt wird; das gilt auch für die ganze
johanneische »Pneumatologie« des Zeugnisses, v o n der bisher kaum
die Rede war, auBer um in ihr den Endpunkt der Verinnerlichung des
Zeugnisses zu erkennen. Das innere Zeugnis des Heiligen Geistes
erhält seine voile Bedeutung in der Bestreitung, die sich v o r dem
Tribunal der Geschichte zwischen Christus und der Welt abspielt.
Der erste ]0hannesbrief ruft diese »Dramaturgie« des Zeugnisses
128 und des | Prozesses in Erinnerung: »Wer sonst besiegt die Welt, aul3er
dem, der glaubt, dass Iesus der Sohn Gottes ist? Dieser ist es, der
durch Wasser und Blut gekommen ist: Iesus Christus. Er ist nicht
" [Sinngemä8es Zitat, hier aus der Wiedergabe Ricœurs übersetzt. Ich 7,7 ist ein Wort
]esu und lautet in der Einheitsübersetzung: »Euchkann die Welt nicht hassen,mich aber
hasst sie, weil ich bezeuge,dass ihre Taten bëse sind«.]
28
Das Eindringen der prophetischen und kerygmau'schen Dimenslon
‘” Ebd. 60.
29
Die Hermeneutik des Zeugnisses
Der Moment ist gekommen, die Frage wieder aufzugreifen, die diese
Untersuchungin Gang gesetzt hat. Ist esmôglich, haben wir gefragt,
dass die Philosophie der absoluten Reflexion in vôllig kontingenten
Ereignissen oder Akten die Bezeugung findet, dass das nicht zu
Rechtfertigende hier und jetzt überwunden ist? Ein immenses Hin!
dernis schien den Blick auf die Antwort zu verdecken: Haben wir das
Recht, einen Moment der Geschichte m i t dem Merkmal der Absolut!
heit auszustatten? Ein unüberschreitbarer Abgrund scheint sich auf!
z u t u n zwischen der Innerlichkeit der Urbejahung und der ÀuBerlich!
keit der I"Iandlungen11 und der Existenz, die v o m Absoluten zu
zeugen behaupten.
Ist eine Philosophie des Zeugnisses môglich?
Ich mëchte versuchen zu zeigen, dass diese Philosophie n u r eine
Hermeneutik sein kann, d.h. eine Philosophie der Interpretation.
Diese Philosophie der Interpretation ist eine Ellipse m i t zwei Brenn!
punkten, die die Überlegungen einander anzunähern versuchen, die
sie aber nicht auf die Einheit eines einzigen Brennpunktes reduzieren
kônnen. Was hei8t esn u n tatsächlich, das Zeugnis zu interpretieren?
Es ist ein doppelter Akt: ein Akt des Selbstbewusstseins im Blick auf
sich selbst und ein Akt des historischen Verstehens im Blick auf die
Zeichen, die das Absolute von sich selbst gibt. Diese Zeichen sind
zugleich die Zeichen, in denen das Bewusstsein sich erkennt. Die
Konvergenz dieser beiden Bewegungen wollen wir im Folgenden
skizzieren.
Ausgehend v o m historischen Pol werden wir die Verbindung
zwischen Zeugnis und Interpretation aufzeigen. Sodann werden wir
ausgehend vom reflexiven Pol zeigen, wie die Urbejahung ihrerseits
eine Interpretation reflexiven Typs entwickelt, die Nabert eine »Kri!
teriologie des Gôttlichen« n e n n t , durch die, wie er sagt, »das Be!
wusstsein sich z u m Richter über das Gôttliche macht und in der Folge
seinen Gott oder seine Gôtter wählt« 12. Indem sich die Urbejahung
bis in eine Kriteriologie des Gôttlichen hinein fortsetzt, kommt es
130 z u r Begegnung zwischen ihr | und der Krise der Idole, die das Zeugnis
fordert. Soentsteht die Hermeneutik des Zeugnisses im Zusammen!
30
Die Hermeneutik des Zeugnisses
” [»Eî oñv uwoüuevôv 'n s t î , àvdyun orñvm nui ur‘| ei; ânen.gov îévm«: »Wenn
also etwas Bewegung weitergibt, das selbst bewegt ist, so muss danotwendig ein Halt
sein und nicht ein Fortgang ins Unendliche«z AristoteIes, Physik VIII, 5, 256a, Überset!
zung von Hans Günter Zekl, Hamburg 1995.]
31
Die Hermeneutik des Zeugnisses
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Die Hermeneutik des Zeugnisses
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Die Hermeneutik des Zeugnissa
der über ihn hinausgeht: ln diesem Sinn geht das Zeugnis v o m An!
deren aus; aber das Engagement des Zeugen ist auch sein Zeugnis;
das Zeugnis Christi sind die Werke Christi, seine Passion, und analog
ist das Zeugnis des ]üngers sein Leiden. Ein eigenartigcr hermeneu!
tischer Zirkel setzt sich in Bewegung: der Zirkel v o n Offenbarung
und Passion. Der Märtyrer beweist [prouve] nichts, haben wir gesagt;
aber eine Wahrheit, die den Menschen nicht bis zum Opfer ergreift,
ist nicht überzeugend [manque de preuve]. Was überzeugt [fait
133 preuve]: die Offenbarung oder des | Leiden? Auch die Hermeneutik
des Zeugnisses ist in diese Spirale einbegriffen, die ununterbrochen
auf verschiedenen Hôhen die beiden einander entgegengesetzten Po!
le passiert.
Gehen wir nun den Weg der Urbejahung in Richtung auf das Zeug!
nis. Wir haben gesagt, dass auf diesem Weg die Urbejahung sich in
eine Kriteriologie des Gôttlichen verwandelt. Warum? Weil die Wei!
se, in der ein endliches Bewusstsein sich die Bejahung, die es konsti!
tuiert, aneignen kann, n u r ein kritischer Akt sein kann. Esgibt keine
vereinigende lntuition, kein absolutes Wissen, in dem das Bewusst!
sein sich zugleich des Absoluten und seiner selbst bewusst würde. Die
Bewusstwerdung kann sich n u r zerteilen, zerstreuen in Attribute, die
Amibute des Gôttlichen. Diese Attribute sind nicht die Charakterzü!
ge oder die Qualitäten eines Seins in sich; sie sind der vielfältige und
verschiedenartige Ausdruck eines reinen Aktes, der sich n u r ausdrü!
cken kann, indem er sich in Qualitäten hineingibt. Deshalb bilden
diese Eigenschaften, diese Qualitäten Rein geschlossenes System: sie
bleiben die diskontinuierlichen Charakterzüge, die ein Bestreben
markieren, das in vielfältige, aber untereinander nicht vereinbare
Richtungen verfolgt wird. Eine Kriteriologie des Gôttlichen sammelt
die jedes Mal unterschiedlichen Spuren der heterogenen Fordemn!
gen eines Denkens, das sich in jeder Hinsicht läutert, n u r in einer
Diversität von Attributen. Die Kriteriologie des Gôttlichen, sagt Na!
bert, »ist der Ausdruck der grôBten Anstrengung, die das Bewusst!
sein unternehmen kann, um sich von den Umständen zu lôsen, die
ihm eine vôllige Befriedigung verbieten, wenn es, mitten in seiner
Endlichkeit, esuntemimmt sich zu rechtfertigen, sich in eine radikale
Reinheit seiner Intentionen zu verwandeln. Iede dieser Qualitäten,
denen wir den Namen des Gôttlichen geben, korrespondien einem
vôllig innerlichen Akt, durch den w i r esentwerfen und zugleich so!
fort daran scheitern, eszu realisieren und zu inkarnieren. Es gibt
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“* Ebd. 279.
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