Sie sind auf Seite 1von 39

jonas.bens@uni-hamburg.

de

@jonas_bens bens.jonas

Prof. Dr. Jonas Bens

6. Status und Hierarchie


Inhalte der Stunde
1. Status und Hierarchie
2. Statusunterschiede in egalitären Gesellschaften
3. Kasten
4. Klassen
5. Hierarchie reproduzieren
6. Geht es auch ohne Hierarchie?
1. Status und Hierarchie
Status und Hierarchie hierarchische Beziehung

Status: Sozial definierter Aspekt einer Person, der die


Beziehungen zu und die Rechte und Pflichten gegenüber
Mutter
anderen Personen definiert. Tochter
Das Verhältnis von Personen mit unterschiedlichem
Status ist in der Regel hierarchisch, das von Personen
mit gleichem Status ist in der Regel gleichgeordnet. gleichgeordnete Beziehung
Zugeschriebener Status: Ein Status, der von Geburt an
zugewiesen wird (z.B. Geschlecht, Zugehörigkeit zu einer
Familiengruppe). Studentin Studentin
Erworbener Status: Ein Status, den man erst im Laufe
des Lebens erwirbt (oder nicht) (z.B. Beruf, Ehestand).
Statuskonflikte
Dieselben Personen haben gleichzeitig mehrere Statuspositionen, die unterschiedlich
hierarchische Beziehungen bestimmen. Das führt zu Statuskonflikten.

Mutter Pflegende

Ethnologin Ethnologin

Gepflegte Tochter
Status und soziale Differenzierung
Alle Gesellschaften weisen Statusunterschiede auf, insbesondere nach Alter und
Geschlecht.

Gesellschaften sind aber unterschiedlich stark sozial differenziert:


• Es gibt mehr oder weniger Statuspositionen.
• Die Beziehungen von Personen mit unterschiedlichem Status sind stärker oder
weniger stark hierarchisch.

Gesellschaften (oder gesellschaftliche Teilbereiche) sind stärker egalitär, wenn die


Statusunterschiede geringer sind und stärker stratifiziert, wenn die Statusunterschiede
stärker ausgeprägt sind.
Verschiedene Grade der Stratifikation
Morton Fried: Gesellschaften lassen sich nach dem Grad ihrer
Stratifikation unterscheiden.

Egalitäre Gesellschaften: Familiengruppen sind nicht hierarchisch


angeordnet. Statusunterschiede (jenseits von Alter und Geschlecht)
basieren zumeist auf eigenen Leistungen und sind nicht von der
Geburt in bestimmte Familiengruppen abhängig.

Ranggesellschaften: Familiengruppen sind hierarchisch


angeordnet, die Abstammung bestimmt stärker, welche
Statuspositionen für eine Person möglich sind.
Fried
(1923-1986)
Stratifizierte Gesellschaften: Soziale Gruppen (nicht nur
Verwandtschaftsgruppen) sind hierarchisch angeordnet und
bestimmen dauerhaft den Status von Personen.
1967
Status vermittelt Ressourcen und Prestige

Gesellschaftstyp Zugang zu Ressourcen Prestige

egalitäre Gesellschaft gleich gleich

Ranggesellschaft gleich ungleich

stratifizierte Gesellschaft ungleich ungleich


1. Statusunterschiede in egalitären
Gesellschaften
Status und Verwandtschaft in egalitären Gesellschaften
In egalitären Gesellschaften gibt es wenig hierarchische Unterschiede zwischen
Verwandtschaftsgruppen (keine Adels- oder Königsfamilien).

Innerhalb von Verwandtschaftsgruppen gibt es mehr oder weniger starke


Statusunterschiede nach Geschlecht und Alter.

Beispiele: Männer haben Zugang zu Ressourcen, z.B. Land, Frauen nicht.


In rechtlichen Streitfällen entscheiden die Ältesten der Gemeinde.
Nur Frauen, die noch keine Enkelkinder haben, kochen das Essen.
Altersklassen bei den Maasai (nur Männer)

Ritual zur
Formierung Ritual zur Person im Ritual zur Ritual zur
Junge Krieger Ältester
der Beschneidung Übergang Initiation Initiation
ilayok Altersgruppe Ilmurran Ilmorruak
emurrata osipolei eunoto olngneher
enkipata

Rinder keine polizeiliche Familiäre, religiöse,


hüten Aufgaben Aufgaben politische Aufgaben
Status und Alter bei Maasai-Frauen

Ritual zur erwachsene


Mädchen Großmutter
Beschneidung Frau
endito koko
emurrata esiankiki

emurrata Ritual, 2022


Übergangsrituale
Übergangsrituale sind strukturierte Ereignisse, die den Übergang von einer
Lebensphase zur nächsten begleiten. Sie sind mit einem Statuswechsel
verbunden.

Victor Turner beschreibt Übergangsrituale in drei Phasen.


Turner
(1920-1983)

Trennungsphase liminale Phase Wiedereingliederungsphase

1969
Übergang zum Maasai-Krieger

enkipata Ritual der ilkisongo


Ritual zur Person im Ritual zur
Junge Beschneidung Übergang Initiation Krieger Maasai, 2022
ilayok Ilmurran
emurrata osipolei eunoto

Trennung Liminale Wieder-


Phase eingliederung
2. Kaste
Kaste
Bestimmte stark stratifizierte Gesellschaften sind aus Kasten zusammengesetzt, die
Zugang zu Ressourcen und Prestige vermitteln. Kasten sind

1. … voneinander durch Heiratsverbote getrennt (Endogamie).


2. … zentraler Bestandteil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Jede Kaste geht
bestimmten Berufen nach.
3. … hierarchisch angeordnet. Es gibt höhere Kasten und niedrigere Kasten.

Wichtigstes Beispiel ist das Kastensystem im hinduistischen Indien. Seit der


Unabhängigkeit von Großbritannien ist Diskriminierung aufgrund der Kaste verboten.
Trotzdem sind Kasten noch wichtig, vor allem auf dem Land.
Varna und Jãti
Varna: Hauptkasten Brahmin
Jati: Unterkasten (Priesterschaft)
Ksatriya
(Politik und Militär)
Vaishya
(Kaufleute)
Shudra
(Arbeitende)

Dalit
(Unberührbare)
Das Jajmani-System
Das Kastensystem im hinduistischen Südasien organisiert die gesellschaftliche
Arbeitsteilung. Die Mitglieder einer Jãti gehen bestimmten Berufen nach.

Alle Kasten verrichten bestimmte Arbeiten im Gegenzug füreinander. Dieses


System der Arbeitsteilung heißt Jajmani.

Mit Einführung der Geldwirtschaft im Zuge des Kolonialismus und der


kapitalistischen Globalisierung hat das Jajmani-System an Bedeutung verloren.
Kasten und soziale Mobilität?
F.G. Baily hat die Veränderungen im Jajmani-System im
ländlichen Ostindien, im Dorf Bisipira, in den 1950er Jahren
untersucht.

Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten für Personen in einem


Kastensystem den eigenen Status zu erhöhen.
- Die Kaste wechseln (praktisch unmöglich). Baily
- Das Kastensystem verlassen und ignorieren (sehr schwierig). (1924-2020)
- Den Status der eigenen Kaste erhöhen.

Die Mitglieder Brennmeister-Kaste in Bisipria versuchen ihren


Status durch Sanskritisierung zu erhöhen: Übernahme von 1963
Ritualen und Speiseregeln höherer Kasten.
Kaste in der Diaspora
Im Herbst 2023 hat der Gouverneur von Kalifornien ein
Gesetz zum Verbot der Diskriminierung aufgrund der
Kastenzugehörigkeit mit einem Veto gestoppt.

Pro: Diskriminierungen aufgrund der Kaste kommt in


migrantischen Gemeinschaften in Kalifornien vor und
das Problem wächst.

Contra: Kastendiskriminierung ist bereits als


Ungleichbehandlung aufgrund der Religion oder der
Abstammung verboten. Eine besondere Regel stellt
Migrant*innen aus Südasien unter Generalverdacht.

Tipp: New York Times Daily Podcast, 23. September 2023.


2. Klasse
Klasse
Stratifizierte Gesellschaften, insbesondere mit kapitalistischer Wirtschaftsform,
sind aus Klassen zusammengesetzt, die den Zugang zu Ressourcen und Prestige
vermitteln.

Wie Kasten sind Klassen hierarchisch angeordnet (höhere Klassen und untere
Klassen), grundsätzlich sind Klassen auch endogam, allerdings nicht unbedingt
aufgrund religiöser Heiratsverbote.

Im Gegensatz zu Kasten sind Klassen aber nicht an bestimmte Berufe


gebunden.
Klasse und Zugang zu Ressourcen
Der Philosoph Karl Marx definiert Klasse in Bezug auf
den Zugang zu den Produktionsmitteln (die
Ressourcen, die man braucht um wirtschaftlich tätig
zu sein: Land, Maschinen, Rohstoffe, Arbeitskraft).

Die herrschenden Klassen haben Zugang zu den


Produktionsmitteln. Die ausgebeuteten Klassen
haben keinen Zugang.
Marx (1818-1883)
Eine Evolutionstheorie der Klassengegensätze in Europa
Marx: Gesellschaften wandeln sich, wenn sich Produktionsverhältnisse revolutionär
wandeln (historischer Materialismus).

Gesellschaftstypus Urgemeinschaft Sklavenhalter- Feudal- Bürgerliche kommunistische


gesellschaft gesellschaft Gesellschaft Gesellschaft
dominantes Subsistenz- Sklaven- Feudalismus Kapitalismus Kommunismus
Produktionsverhältnis wirtschaft wirtschaft
herrschende Klasse keine Sklavenhalter Adel / Klerus Bourgeoisie keine

ausgebeutete Klasse keine Sklaven Leibeigene Proletariat keine


Klassen in der kapitalistischen Industriegesellschaft

Bourgeoisie (Bürgertum)
/ Kapitalist*innen

Petit Bourgeoisie (Kleinbürgertum)

Proletariat (Arbeiter*innen)

Lumpenproletariat
Ländliche Klassenstrukturen
Eric Wolf untersuchte die Veränderungen Klassenstruktur in
Puerto Rico im Wandel der Landwirtschaft zum Eigenverbrauch
(Subsistenz) hin zum Anbau der cash crop Kaffee. Er beobachtet
eine Proletarisierung der ländlichen Bevölkerung durch die
Konzentration des Landes bei Großgrundbesitzern.

Großgrundbesitzer
mittlere Bauern
Kleinbauern
ländliches Proletariat Wolf
(1923-1999)
Klassen, Stände und Parteien
Max Weber vertritt ein komplexeres Modell von
Klassen. Der Status einer Person bestimmt sich über
mehrere Faktoren.
Welchen Zugang zu Ressourcen (z.B. Einkommen) hat
die Person? (Klassenlage)
Welchen Zugang hat die Person zu sozialem Prestige,
„in welchen Kreisen“ verkehrt sie (ständische Lage) Weber (1864-1929)

Welche soziale Macht hat die Person über ihre Position


in Verbänden (parteiliche Lage)?
Ökonomisches und kulturelles Kapital
Pierre Bourdieu definiert, wie Marx, die
Klassenzugehörigkeit über den Zugang zu
Kapital. Allerdings vertritt er einen erweiterten
Begriff von Kapital.
Ökonomisches Kapital: Zugang zu den
Produktionsmitteln, insbesondere Geld
(Ressourcen).
Bourdieu
Kulturelles Kapital: gute Bildung, guten (1930-2002)
Geschmack, richtigen Stil, die richtigen Freunde
(Prestige). 1972
Klassenpositionen nach Bourdieu
17-jährige ökonomisches
Milliardenerbin Kapital (+)

Literaturnobel-
Handwerkerin preisträgerin
kulturelles mit Heizungsbetrieb kulturelles
Kapital (-) Kapital (+)
Gymnasiallehrer
in Teilzeit
Lagerist bei Amazon
mit mittlerem Schulabschluss

Performance
Arbeitslose Jugendliche ökonomisches künstler
ohne Schulabschluss Kapital (-)
Kapitalsorten lassen sich umwandeln
ökonomisches Kapital à kulturelles Kapital

Beispiel: Man geht auf eine Privatschule, nimmt Nachhilfeunterricht und bezahlt die
Studiengebühren für die Harvard University. Man bekommt gute Noten, prestigeträchtige
Abschlusszeugnisse, und Netzwerke mit einflussreichen Leuten.

kulturelles Kapital à ökonomisches Kapital

Beispiele: Künstler*innen verkaufen ihre Kunst, TikToker*innen machen


Werbepartnerschaften, Wissenschaftler*innen schreiben populäre Sachbücher, IT-Nerds
gründen eines Softwarefirma.
3. Hierarchie reproduzieren
Habitus
Pierre Bourdieu hat untersucht, warum sich Klassenunterschiede
in Frankreich reproduzieren und soziale Mobilität ausbleibt.

Grundidee: Die Klassenposition schreibt sich in den Körper von


Menschen ein: Kleidungsstil, sprachlicher Ausdruck, Werte,
Geschmack, Gestik, Mimik, Aussehen. Die daraus resultierende
körperliche Präsenz ist der Habitus.

Der Habitus bestimmt den Status und damit den Zugang zu


Ressourcen und Prestige.

Beispiele: In Bildungsinstitutionen sind in der Regel nur Personen


mit einem bestimmten Habitus erfolgreich.
Der Habitus bestimmt, wer als Partner*in für die sexuelle
Reproduktion in Frage kommt (wer gilt als attraktiv, mit wem hat
man „viel gemeinsam“?)
Habitus, Essen und Status
In allen Gesellschaften gibt es Regeln darüber, wer was essen darf und soll.
Das untersucht die kulinarische Ethnologie.

Maasai: Je nach Alter und Geschlecht essen Personen unterschiedliche Teile


des Rindes in unterschiedlicher Reihenfolge, z.B. Kalbfleisch für Kinder und
Frauen, Kopf des Rindes für Ältere.

Kastensystem in Indien: Die höheren Kasten essen kein Fleisch. Jãti haben
„Familienrezepte“.

Deutschland: Je höher der Grad an kulturellem Kapital, desto höher der


Anteil an vegetarischer und veganer Ernährung.

Was verrät es über den sozialen Status, wenn man im Restaurant ein
Kalbsschnitzel bestellt?
Soziale Netzwerke, Patronage und Klientelismus
Status vermittelt eine soziale Position innerhalb von informellen
hierarchisch geordneten sozialen Netzwerken.
Statusunterschiede, z.B. Klassenunterschiede, werden gemeinsam
mit anderen Menschen reproduziert. Patron*in

Patronage: Personen werden begünstigt und gefördert, weil sie


einer bestimmten Statusgruppe angehören.
Beispiel: Man hat einen Job zu vergeben und gibt ihm dem
Mitglied aus der eigenen Studentenverbindung.

Klientelismus: Ranghöhere und rangniedrige Personen gehen


eine Verbindung zum gegenseitigen Nutzen ein.
Klient*in Klient*in Klient*in
Beispiel: Die Dorfbewohner*innen unterstützen das Mitglied für
den Gemeinderat, weil sie wissen, dass sie zu dieser Person
dauerhaften Zugang für ihre Anliegen haben und er, wo er kann,
die Interessen des Dorfes priorisieren wird.
Status und Verwandtschaft in modernen Gesellschaften
Eine Grundidee der modernen Gesellschaft: Nicht die Abstammung,
sondern andere soziale Faktoren bestimmen den Status (z.B.
Ausbildung, Beruf etc.). Soziale Mobilität ist möglich.

Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty hat die wachsende


Vermögensungleichheit auf der Welt untersucht und argumentiert,
dass einer der wichtigsten Faktoren Erbschaften sind.

Deutschland: Die wohlhabendsten zehn Prozent der Haushalte


besitzen zusammen etwa 60 Prozent des Gesamtvermögens. Die
unteren 20 Prozent besitzen gar kein Vermögen.
Im Zeitraum bis 2027 wird das jährliche Erbvolumen in Deutschland
inklusive Schenkungen bis zu 400 Milliarden Euro betragen.
Diskriminierung
Um Statusunterschiede zu reproduzieren, müssen Personen vom Zugang zu bestimmten
Ressourcen und bestimmten Prestige ausgegrenzt werden (Diskriminierung).

Welche Diskriminierungen erlaubt sind, und welche nicht, unterscheidet sich in


unterschiedlichen Gesellschaften und wandelt sich historisch.

In Deutschland ist es rechtlich verboten, Personen vom Besuch der Universität


auszuschließen, weil sie ein bestimmtes Geschlecht oder eine bestimmte ethnische
Herkunft haben (verbotene Diskriminierung).
Es ist aber erlaubt (und sogar streng geboten) eine Person vom Beruf der Ärzt*in
auszuschließen, wenn sie nicht Medizin studiert hat (erlaubte Diskriminierung).
Intersektionalität
Die Juristin Kimberly Crenshaw untersucht
soziale Diskriminierung und fordert, dabei auf
Intersektionalität zu achten.

Grundidee: Menschen haben unterschiedliche


statusbezogene Merkmale, die
Anknüpfungspunkte für Diskriminierungen sein
können, insbesondere rassifizierende
Zuschreibungen, Klassenposition, Geschlecht Crenshaw
(race, class, gender). Überschneiden sich diese (*1959)
Merkmale („intersect“), (z.B. Schwarze Frau mit
unterer Klassenposition) verstärkt sich die
Gefahr der Ausgrenzung. 2015
5. Geht es auch ohne Hierarchie?
Hierarchie und Werte
Graeber Dumont
Louis Dumont hat über das Kastensystem in
(1961-2020) (1911-1998)
Indien geforscht. Er vertritt die These, dass
Hierarchie grundlegend für alle menschlichen
Gesellschaften ist. Alle Menschen treffen
Entscheidungen über Wert und Werte. Das
bedeutet immer, dieses höher zu bewerten als
jenes und damit zu hierarchisieren.

David Graeber hat über egalitäre


Gesellschaften in Madagaskar geforscht. Er
vertritt demgegenüber die These, dass die
Freiheit von Hierarchie selbst ein
gesellschaftlicher Wert sein kann, und
Menschen danach auch handeln.

Grundfrage: Lassen sich hierarchiefreie


Gesellschaften machen? 2001 1966

Das könnte Ihnen auch gefallen