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Otto Neumaier - 2004 - Ist Der Mensch Das Maß Aller Dinge. Beiträge Zur Aktualität Des Protagoras
Otto Neumaier - 2004 - Ist Der Mensch Das Maß Aller Dinge. Beiträge Zur Aktualität Des Protagoras
herausgegeben von
Band
IST DER MENSCH
DAS MASS ALLER DINGE?
BEITRÄGE ZUR AKTUALITÄT DES PROTAGORAS
herausgegeben von
Otto Neumaier
Bibliopolis
Gedruckt mit Unterstützung
des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur Wien
sowie der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg
Impressum
Gesamtherstellung: Bonifatius GmbH Druck–Buch –Verlag, Paderborn
Nicht nur Bücher haben ihre Schicksale, sondern auch Sprüche. Davon zeugt
nicht zuletzt die bewegte Rezeptionsgeschichte eben jenes Gemeinspruchs aus
dem Lehrgedicht De litteris des afrikanischen Grammatikers Terentianus Maurus
(Ende .Jh.u.Z.). Wird im Vers dieses Gedichts (wo es heißt: Pro captu lecto-
ris habent sua fata libelli) das Schicksal von Büchern von der Aufnahme durch die
Leserschaft abhängig gemacht, so hat dieser Gedanke in der Aufnahme durch die
Nachwelt nach Art einer “stillen Post” längst einen allgemeineren und in Abhängig-
keit vom jeweiligen Kontext anderen Gehalt gewonnen. Ähnliches gilt für den
durch Platon überlieferten sogenannten Homo-mensura-Satz des Protagoras, der
diesem Philosophen einen gewissen Nachruhm beschert hat, obwohl wir im Übri-
gen kaum etwas über ihn wissen.
Bei jenem Satz bleibt mehrerlei im Dunkeln: Er soll aus einer verloren gegange-
nen Schrift des Protagoras stammen, deren Titel Platon (Theaitetos c) mit Ale-
theia (“Die Wahrheit”) wiedergibt, Sextus Empiricus (Adv.math. VII ) jedoch –
Jahrhunderte später – mit Kataballontes (“Niederwerfende [Worte]”). Vor allem
aber ist bis heute umstritten, wie er zu deuten sei. Davon zeugt allein schon das
Schwanken in der Übersetzung von Diels/Kranz (VS B ), die im Deutschen
üblicherweise zitiert wird: “Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß
(wie) sie sind, der nichtseienden, daß (wie) sie nicht sind.” Diese Unsicherheit
beruht u.a. darauf, dass von den Schriften des Protagoras kaum etwas überliefert
ist und der Zusammenhang, in dem die wenigen uns bekannten Fragmente ur-
sprünglich standen, nicht rekonstruiert werden kann, solange nicht weitere, aus-
führlichere Quellen gefunden werden (was zwar nicht auszuschließen, aber auch
nicht sehr wahrscheinlich ist).
Bar seines theoretischen Hintergrunds hat der Satz des Protagoras die Faszina-
tion eines schillernden Solitärs gewonnen, dessen Glanz die Betrachtenden blendet
und doch (bzw. eben deshalb) zu den unterschiedlichsten Deutungen Anlass gibt.
Dies zeigt sich u.a. darin, dass der Homo-mensura-Satz sowohl dazu verwendet
wird, um menschliche Überheblichkeit zu beklagen, als auch dazu, die Orientie-
rung politischer und gesellschaftlicher Entscheidungen an den tatsächlichen Be-
dürfnissen der Menschen zu fordern. Da nicht zu klären ist, wie die zentralen Be-
griffe “Mensch”, “Maß” und “Dinge” zu interpretieren sind, kann aus dem Satz des
Protagoras also fast “alles” herausgelesen (bzw. darin hineingelesen) werden.
Dass dem so ist, hat Gerhard Zecha in seinem Beitrag zu einem Band über
Das Spiel mit der Antike zu zeigen versucht – und damit einen für das Schicksal des
vorliegenden Buches entscheidenden Anstoß gegeben. Entgegen seinem Befund,
wonach wir beim Satz des Protagoras um die “Unbestimmtheit der Übersetzung”
VORWORT
nicht umhin kommen, vertritt Zecha in seinem Essay nämlich die These, dass der
Philosoph “mit großer Wahrscheinlichkeit einen pointierten ethischen Relativis-
mus verkündet” habe. Dies veranlasste Peter Daniel Moser, einen der Beitragenden
des vorliegenden Bandes, zu einer Kritik, die er am . April im Rahmen ei-
ner Diskussionsveranstaltung der Philosophischen Gesellschaft in Salzburg vor-
trug. Um insgesamt etwas mehr Licht in die Angelegenheit zu bringen, wurden
mit Joachim Dalfen und Rupprecht Düll zwei weitere Referenten eingeladen, bei
dieser Veranstaltung unterschiedliche Aspekte jenes Satzes zu beleuchten, nämlich
einerseits seinen historischen Hintergrund, andererseits aber seine Bedeutung aus
der Sicht der modernen Technik.
Mit dem Erfolg dieser Podiumsdiskussion nahm das Schicksal des nun vorlie-
genden Bandes seinen Lauf: Hielten doch alle Beteiligten die Idee für reizvoll, der
Frage, ob der Mensch das Maß aller Dinge sei, weiter nachzugehen und die Ergeb-
nisse in Form eines “Büchleins” zu dokumentieren. Nach dieser prinzipiellen Ent-
scheidung hat der Band allmählich seine endgültige (und in mancher Hinsicht un-
vorhergesehene) Gestalt angenommen: Nicht alle Wunschkandidaten konnten
der Einladung Folge leisten, andere Autoren, die durch gezielte Suche, durch Hin-
weise von Beitragenden oder zufällige Begegnungen hinzugekommen sind, erfüll-
ten sozusagen Wünsche, an die ursprünglich nicht gedacht war. So ist schließlich
ein wesentlich umfangreicheres Buch entstanden, das zwar die Fragen, was Prot-
agoras nun “wirklich” gemeint hat und ob bzw. inwiefern der Mensch das Maß
aller Dinge ist, erwartungsgemäß nicht ein für allemal beantworten kann, aber
immerhin eine große Vielfalt an Perspektiven in beiderlei Hinsicht bietet, welche
die Aktualität des von Protagoras geäußerten Gedankens belegen.
Wie die Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen, ist der Mensch zumindest in
den Wissenschaften gerade auch insofern Maß, als er daraus “verschwindet”, indem
Kritik und Diskussion auf Probleme und Theorien gerichtet sind, nicht aber auf
die Menschen, die sie vertreten. Wie etwa Karl R.Popper immer wieder betont hat,
ist die wissenschaftliche Diskussion ein in der Evolution erworbenes Mittel der
Menschen, das ihnen erlaubt, Fehler “durch die gewaltlose vernünftige Kritik” zu
beseitigen, statt andere Menschen zu töten bzw. zu foltern, einzuschüchtern oder
sonstwie unter Druck zu setzen. Diese kritische Einstellung hält Popper sogar “für
den einzigen wirklich bedeutsamen Unterschied zwischen der Methode Einsteins
und der der Amöbe”. In einer Zeit, in der weiterhin weltweit Menschen sterben
oder leiden, weil sie nicht die “richtige” Meinung vertreten, kommt vielleicht kei-
nem Aspekt des Homo-mensura-Satzes mehr Aktualität zu als diesem.
Dem eingangs erwähnten Gemeinspruch gemäß vertraue ich hiermit auch das
Schicksal des vorliegenden Bandes der Leserschaft in der Hoffnung an, dass für sie
in diesem Sinne der Mensch das Maß aller Dinge ist.
Vorwort v
Joachim Dalfen
Der Homo-mensura-Satz des Protagoras in seinem historischen Umfeld
Heinz-Ulrich Nennen
Im Spiegel des Protagoras. Der Mensch als Maß? – Nicht wirklich
Eva Lidauer
Der “Hippolytos” des Euripides: Die Tragödie als Kommentar
zu einer Lesart des Homo-mensura-Satzes
Georges Goedert
Nietzsche und Protagoras, oder: “Perspektive” als “Maß aller Dinge”
Jean-Claude Wolf
Vielstimmigkeit – eine protagoreische Rhapsodie
Gregor Paul
Der Mensch als Maß aller Dinge: ein eurozentrisches Vorurteil?
Otto Neumaier
Ethischer Anthropozentrismus
Gerhard Zecha
Aller Werte Maß ist der Mensch. Kritik des ethischen Relativismus
Peter Daniel Moser
Ist der Homo-mensura-Satz wirklich schuld am Verlust der Werte?
Eine Erwiderung auf Gerhard Zecha
Clemens Sedmak
Menschlichkeit. Überlegungen zu einem Maß des Ethischen
Rupprecht Düll
“Der Mensch ist das Maß aller Dinge”?
Johannes Huber
Biomedizinische Forschung und menschliches Selbstverständnis
Hans Mohr
Wo fängt der Mensch an? Hominisation im Lichte
der Evolutionstheorie
Christian Allesch
Kosmos und menschliches Maß. Die Ordnung der Dinge
als Leistung der menschlichen Erfahrung
Siegrid Düll
Protagoras und Polykleitos. Perspektiven zum vorbildlichen Maßstab
in Athen
INHALT
Frank Zöllner
Anthropomorphismus: Das Maß des Menschen in der Architektur
von Vitruv bis Le Corbusier
Sabine Coelsch-Foisner
Wenn der Mensch nicht das Maß aller Dinge ist:
Transgression und fantastische Literatur
Andrea Bramberger & Edgar Forster
Mythos Mensch und pädagogische Differenz
Anne Siegetsleitner
Der Mann als Maß aller Dinge!? Die Würde von Frauen
und die neue “Why-Equality?”-Debatte
Personenregister
Kurzbiographien der Beitragenden
DER HOMO-MENSURA-SATZ DES PROTAGORAS
IN SEINEM HISTORISCHEN UMFELD
Joachim Dalfen
Der Homo mensura-Satz des Protagoras gehört zu den Texten der antiken Philo-
sophie, über die seit sehr langer Zeit sehr kontrovers diskutiert wird. Die Schwie-
rigkeiten der Interpretation und die divergierenden Ergebnisse haben zu der re-
signierten Ansicht geführt, eine sichere und restlose Deutung des Satzes sei mit
dem vorhandenen Material nicht möglich, es habe deshalb keinen Sinn, immer
wieder danach zu suchen, was der Satz bedeutet, solange nicht neues verwend-
bares Material zur Verfügung steht.
Die Probleme ergeben sich aus dem Zustand der Überlieferung. Der älteste Zeu-
ge ist Platon, der diesen Satz in seinem Dialog Theaitetos ausführlich behandelt
und dabei mehrmals zitiert. Aus Platon lässt sich entnehmen, dass dieser Satz in
einer Schrift des Protagoras stand, deren Titel Aletheia lautete. Sextus Empiricus
(Ende des .Jh. n.Chr.) berichtet, dass dieser Satz den Anfang einer Schrift bil-
dete, deren Titel Kataballontes war (VS B; zu katabállontes ist wohl lógoi zu
ergänzen). Die Schrift des Protagoras könnte einen Doppeltitel gehabt haben:
Aletheia oder niederwerfende Worte / Reden. Außer diesem einen Satz ist aus der
ganzen Schrift sonst nichts bekannt, der Kontext fehlt völlig.
Die Überlieferung der Sophisten überhaupt und besonders des Protagoras ist
(im Vergleich mit dem, was von anderen Vorsokratikern erhalten ist) auffallend
spärlich. Ihre Schriften scheinen schon bald nach ihrem Tod nicht mehr gelesen
worden und deshalb verloren gegangen zu sein: das ist wohl eine Folge der des-
avouierenden Polemik, mit der Platon sie durchgehend dargestellt hat. Platon
JOACHIM DALFEN
war Schüler eines Sophisten – Sokrates wurde von den Zeitgenossen als solcher
betrachtet – und Streitigkeiten unter Verwandten sind, wie Euripides gesagt hat,
die ärgsten. Die Sophisten konnten sich gegen Platons abwertende Darstellung
nicht mehr wehren, denn sie waren schon tot, als Platon zu schreiben begann.
Die Aussage, dass für ein adäquates Verständnis des Satzes des Protagoras neues
verwertbares Material gefunden werden müsste, enthüllt ein Manko der Interpre-
tation, das nicht nur Philosophen, sondern leider auch Philologen anzulasten ist.
Sehr viele Interpreten nehmen offensichtlich ganz unreflektiert an, dass Platon auf
einer menschenleeren Insel gelebt, philosophiert und geschrieben hat, aber nicht
im geistigen Zentrum der griechischen Welt und in Auseinandersetzung mit dem,
was vor ihm und um ihn gedacht und geschrieben wurde. Entsprechendes gilt für
Protagoras: auch er war kein Einsiedler, er hat auf die frühere oder gleichzeitige
Philosophie reagiert und sich an den Diskussionen seiner Zeit beteiligt, und des-
halb kann man erwarten, dass nicht nur die erhaltenen Fragmente anderer Vor-
sokratiker, sondern im Umfeld des Protagoras entstandene und vollständig erhal-
tene Schriften einiges an Material bieten zur Beleuchtung des Homo-mensura-
Satzes. Aber davon ist bisher offensichtlich kein Gebrauch gemacht worden.
Platons Behandlung des Satzes im Theaitetos hat sein Verständnis weitgehend
beeinflusst, nicht nur in der Antike, sondern bis heute. Platon verwendet den
Homo-mensura-Satz zur Prüfung der von Theaitetos aufgestellten These, dass Wis-
sen gleich Sinneswahrnehmung sei, epistéme = aísthesis, und lässt Sokrates behaup-
ten, dass dies bereits Protagoras “auf irgendeine andere Weise” gesagt habe (Tht.
dff .). Dass diese Gleichsetzung und damit die Festlegung des Satzes auf einen
reinen Sensualismus und Relativismus unprotagoreisch ist, ist längst festgestellt
worden. Die Darstellung des Satzes, die Platon im Zuge seiner umfangreichen
Behandlung im Theaitetos gibt, ist schon vor langer Zeit mit “großem Misstrauen”
beurteilt bzw. als “krasse Fehlinterpretation Platons” bezeichnet worden. Trotz-
dem wird Platons “Interpretation” auch heute noch weitgehend als Grundlage für
das Verständnis des Homo-mensura-Satzes genommen, und das ist ein wichtiger
Grund für die Hilflosigkeit und für die vielen Irrgänge der Interpreten.
Aus Platons Darstellung des Satzes sollen hier nur zwei Elemente herausgegrif-
fen und aufgezeigt werden, die einem adäquaten Verständnis den Weg verstellt
. Eine Ausnahme ist Gorgias, der bis um gelebt haben soll.
. Vgl. L. Versenyi, bei Classen, ff. Bereits E.Kapp, Gnomon , , , hat festgestellt:
“Platon macht es in der Tat deutlich, dass er den Satz nicht als Behauptung über die aísthe-
sis vorfand”.
. von Halbfass () bzw. von Th.Gomperz (), s. Huss, f.; vgl. Kapp, : “Nur wenn
Platon sich unwahrscheinlicherweise eine allmähliche Erschließung dessen, was der histori-
sche Protagoras wirklich gemeint hatte, mit zur Aufgabe gestellt haben sollte, würden wir
hoffen dürfen, durch eine weitere Interpretation des Dialogs über denjenigen Sinn des Pro-
tagorassatzes hinauszukommen, der von vornherein zugrunde gelegt wird”.
DER HOMO-MENSURA-SATZ IN SEINEM HISTORISCHEN UMFELD
haben. Platon schiebt seine Geltung fortlaufend in den Bereich des Scheins und
des bloßen Meinens ab: wahr soll nach Protagoras das sein, was einem Menschen
scheint, phaínetai, dokeı,- was er meint, doxázei u.ä. (Tht. a usw.). Dabei ver-
schiebt Sokrates offensichtlich (doch bisher fast unbemerkt) die Bedeutung von
phaínesthai (dies wird z.B. Tht. a deutlich, vgl. Krat. ef. = VS A). Das
Verbum hat zweierlei Bedeutungen: es kann “scheinen” bedeuten im Sinne des-
sen, dass etwas jemandem nur zu sein scheint, es kann aber auch “sich zeigen /
in Erscheinung treten” bedeuten, und sein Partizip bezeichnet die phainómena,
die Dinge, die in der Welt real in Erscheinung treten und sich dem Menschen
zeigen. In dieser zweiten, positiven Bedeutung finden sich die phainómena, als
die in Erscheinung tretenden Phänomene, in den Fragmenten vieler Vorsokra-
tiker, ebenso das Verbum phaínesthai, hingewiesen sei auf das bekannte Wort des
Anaxagoras: “Die phainómena öffnen die Sicht auf die unsichtbaren Dinge” (VS
B a).
Die Häufigkeit, mit der Platon phaínesthai im negativ-abwertendem Sinn ver-
wendet, lässt vermuten, dass die phainómena im Kontext des Homo-mensura-Sat-
zes eine Rolle gespielt haben. Diese nicht allzu fern liegende Vermutung könnte
eine wichtige Funktion für die Klärung der Frage haben, was Protagoras gemeint
hat mit “alle Dinge, die seienden … die nicht seienden”. Von hier aus könnte
auch eine Entscheidungshilfe gefunden werden für das bisher ohne Ergebnis dis-
kutierte Problem, ob die von Protagoras verwendete Konjunktion hos - “dass” oder
“wie” oder beides bedeutet.
Folgenreich für das bis heute anhaltende Verständnis des Satzes war eine an-
dere sprachliche Verschiebung, die Platon an ihm vorgenommen hat. Er lässt So-
krates sagen: “Also ist meine Wahrnehmung für mich wahr und ich bin – im Sin-
ne des Protagoras – der Beurteiler der seienden Dinge, dass sie für mich sind, und
der nicht seienden, dass sie nicht sind” (Tht. c).
Platon lässt statt des von Protagoras verwendeten Begriffes métron = Maß sei-
nen Sokrates den Begriff krites - = Beurteiler verwenden. Damit hat er das Ver-
ständnis des Begriffes métron im Satz des Protagoras in die falsche Richtung ge-
lenkt, und es sieht so aus, dass es bis heute nicht aufgefallen ist, dass métron im
Griechischen nicht dasselbe bedeuten kann wie krites. -
. Der platonische Sokrates ist, als Schüler des Sophisten Prodikos, ein Meister im geschick-
ten Umgang mit der Sprache; er verschiebt in Platons Dialogen sehr häufig die Bedeutung
der Wörter, die seine Gesprächspartner verwenden, um sie auf seine Bahn zu lenken.
. “Für mich” ist hier wohl gemeint als dativus iudicantis: “nach meinem Urteil”.
. Sextus Empiricus sagt in der Nachfolge Platons, dass Protagoras zum Chor der Philoso-
-
phen gezählt wird, die das kriterion (der Wahrheit) aufheben (VS B). Der Begriff “Kri-
terium” kommt bei den Vorsokratikern überhaupt nicht vor, das Wort krites - nur in der Be-
deutung “Richter bei Gericht”.
JOACHIM DALFEN
Aber Platon ist nicht nur schlitzohrig-boshaft, er ist auch ehrlich und macht
seine Leser immer wieder auf seine Manipulationen aufmerksam, indem er seine
eigene Darstellung kommentiert. Im Theaitetos sind diese Kommentare beson-
ders häufig und sehr deutlich. Aber da solche kommentierenden Bemerkungen
nicht als “philosophisch relevant” angesehen werden, ignoriert man sie allzu oft.
Gleich zu Beginn des Theaitetos erklärt Sokrates, Protagoras habe “auf andere
Weise” dasselbe gesagt, nämlich dass Wissen Wahrnehmung sei (Tht. ef., Theai-
tetos “bestätigt”, dass er dies gelesen habe, und zwar oft). Dann wird dem Prota-
goras die Lehre zugeschrieben, dass es kein Sein an sich gibt, sondern nur ständi-
ges Werden, dass alles aus Bewegung und Mischung entsteht und dass sich darüber
außer Parmenides alle einig sind: Protagoras, Heraklit, Empedokles usw. ( de).
Im Folgenden wird Protagoras mehrmals mit den Herakliteern und der Lehre vom
ständigen Fluss aller Dinge in einen Topf geworfen (z.B. aff ., dabei wird eine
Theorie der Sinneswahrnehmung vorgetragen, die vielleicht auf Empedokles zu-
rückgeht, aber sicher nicht auf Protagoras). An anderen Stellen scheint der Satz
des Protagoras mit Demokrit und Antisthenes vermengt zu sein. Sokrates sagt
selbst, dass er dem Theaitetos von jedem einzelnen Weisen etwas zum Kosten vor-
setzt, bis er dessen Meinung ans Licht bringt ( cd, vgl. de, b, cff .).
Das alles war für Platons Zeitgenossen leicht durchschaubar, sie erkannten, dass
nicht der Satz des Protagoras an sich diskutiert wurde.
Aber Platon sagt sogar an mehreren Stellen ausdrücklich, dass er die Ansichten
des Protagoras nicht objektiv interpretiert. Er lässt den Sokrates im Namen des
Protagoras die “Volksreden”, die über seine Theorien (gemeint ist seine Aussage
über die Götter, VS B) gehalten und von der Masse geglaubt werden, zu-
rückweisen ( de).
Später sagt Sokrates: wenn Protagoras noch lebte, könnte er viel zur Verteidi-
gung seiner Auffassung vorbringen ( e): eine Verteidigung gegen die Behand-
lung, die ihm angetan wird, wäre also notwendig. Deshalb “verteidigt” Sokrates
in einer langen Rede als fiktiver Protagoras dessen Standpunkt ( eff .). In die-
ser Rede lässt Sokrates sich selbst von Protagoras, in dessen Namen er spricht,
ermahnen, dass er in der Diskussion nicht ungerecht sein soll und nicht pole-
misch, sondern fair ( eff .). Als Reaktion auf diese Rede lässt Platon den Ma-
thematiker Theodoros, einen alten Freund des Protagoras, sagen, dass Sokrates
Scherz treibt und dass er dem Protagoras auf jugendlich-übermütige Weise “zu
Hilfe gekommen ist” ( c). Bald darauf sagt Sokrates, es sei nicht klar, ob sie bei
ihrer Diskussion über den Satz des Protagoras nicht am Richtigen vorbeilaufen:
wenn Protagoras aus dem Grab aufstünde, könnte er dem Sokrates wohl bewei-
sen, dass er schwätzt ( cd).
Das alles sind von Platon in den Text gesetzte Signale dafür, dass man das, was
über Protagoras gesagt wird, mit Vorsicht genießen muss. Für den, der es bisher
noch nicht verstanden hat, gibt Platon der Diskussion über den Satz des Protago-
DER HOMO-MENSURA-SATZ IN SEINEM HISTORISCHEN UMFELD
ras einen kräftigen Abschluss. Sokrates stellt fest: “wir stimmen dem Protagoras
noch nicht zu, dass jeder Mensch aller Dinge Maß sei, wenn er nicht ein kluger
Mensch ist” ( b). Darauf verlangt Theaitetos, dass nun auch die Lehre des Par-
menides besprochen wird. Aber Sokrates lehnt ab: er hat Scheu, die Lehre des Me-
lissos und der anderen (scil. Schüler des Parmenides), die das Ganze als ruhende
Einheit interpretieren, auf gemeine Weise, phortikos,- zu untersuchen, noch mehr
scheut er sich, dies mit dem großen und Respekt gebietenden Parmenides zu tun
( e). Damit lässt Platon ein Licht fallen auf die Art und Weise, wie er Protago-
-
ras behandelt hat: phortikos.
Platon ist also keine große Hilfe für das Verständnis des Homo mensura-Sat-
zes, im Gegenteil. Ein anderes Hindernis für das Verständnis ist die erstaunliche
Tatsache, dass dieser Satz ständig falsch oder doch ungenau und irreführend über-
setzt wird. Die originale griechische Fassung des Homo mensura-Satzes lautet:
“Pánton chremáton métron estìn ánthropos”. Im Deutschen hat sich die Übersetzung
eingebürgert: “Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass (wie) sie
sind, der nicht seienden, dass (wie) sie nicht sind”. Diese Übersetzung fügt zwei
Mal den im griechischen Text nicht gesetzten Artikel hinzu und dreht die von
Protagoras gewählte Wortfolge um. Wenn “Der Mensch” an die Spitze des Satzes
gestellt ist, wird suggeriert, dass er das Subjekt der Aussage ist, “das Maß” das
Prädikatsnomen. Die kleinen Veränderungen am Wortlaut des Satzes hatten Fol-
gen für seine Interpretation. Doch es gibt noch andere sprachliche Probleme und
Missverständnisse, darüber wird später zu sprechen sein.
Der Satz des Protagoras ist provokant. Seine Spitze ist vor allem gegen die Onto-
logie des Parmenides gerichtet, daneben aber auch gegen einige für uns noch
fassbare Thesen anderer Vorsokratiker.
. Nach einer (anekdotischen) biographischen Notiz soll Protagoras Lastenträger gewesen sein,
bevor er sich der Philosophie zuwandte (VS A ). Von der Arbeit und der Person (bzw.
dem Benehmen) des Lastenträgers bekam das Adjektiv phortikós die Bedeutungen “lästig,
aufdringlich, gemein, grob, ungebührlich…”. Vielleicht gab es solche biographischen His-
törchen über Protagoras schon, als Platon den Theaitetos schrieb. Dann hätte Platon ein
boshaftes Wortspiel getrieben: Wir können nicht über Melissos und schon gar nicht über
Parmenides so lästernd sprechen wie über den Lastenträger Protagoras.
. Weniger ungenau, aber auch nicht genau, ist die Fassung, die Hermann Diels in seine
zuerst erschienene Sammlung der Fragmente der Vorsokratiker gesetzt hat: “Aller Dinge Maß
ist der Mensch…”. Diese Variante belässt zwar die Wortfolge des griechischen Originals, sie
setzt aber auch einen Artikel bei “Mensch”, während im Griechischen weder bei “Maß” noch
bei “Mensch” ein Artikel steht. Protagoras hat sich sehr intensiv mit der Sprache beschäf-
tigt (er kann als Begründer der Sprachwissenschaft gelten), als Lehrer der Rhetorik hat er auf
den richtigen Sprachgebrauch, die orthoépeia, geachtet, er wird gewusst haben, warum er
die Artikel weglässt.
JOACHIM DALFEN
Die griechischen Philosophen haben sich von Anfang an dem Kosmos zuge-
wandt, ihr Denken beschäftigte sich mit den Fragen, woraus der Kosmos besteht,
wie die Dinge in ihm beschaffen sind, wie sie entstehen, sich verändern und auf-
lösen: sie waren Kosmologen, Naturphilosophen, der Mensch spielte in ihren
Überlegungen keine zentrale Rolle. Im Mittelpunkt stand die Frage nach der
arche,- nach dem Anfang: gemeint waren damit die Grundstoffe, die Elemente als
letzte Bausteine der Welt. Thales, der Erste unter ihnen, hat das Wasser als arche-
betrachtet, Anaximenes die Luft. Andere haben vier Elemente angesetzt, wie He-
raklit und Empedokles, und dazu wirkende Kräfte, die den Prozess der ständigen
Mischung und Auflösung in Gang halten. Spätere haben eine unendliche Zahl
von Elementen angenommen, teils qualitativ unterschiedene, wie Anaxagoras, teils
qualitätslose, wie die Atomisten Leukipp und Demokrit. Während alle diese Vor-
stellungen die Urstoffe materiell auffassten, scheint bereits Anaximander, Schüler
des Thales, im .Jh.v.Chr. stark abstrahiert zu haben. Als arche,- die den konkret
existierenden Dingen zu Grunde liegt, nahm er das ápeiron an, das Grenzenlose
oder Unbestimmte.
Parmenides hat das Seiende als einzigen Gegenstand und Inhalt des Denkens
erklärt: tò eón. Nur das Seiende ist, “nicht sein” ist nicht und kann nicht gedacht
werden. Dem Seienden hat Parmenides eine Reihe von Prädikaten zugeschrieben:
ungeworden, unteilbar, ganz, völlig gleichartig, unbeweglich, mit sich selbst iden-
tisch, für sich in seiner Identität ruhend… (VS B ).
Parmenides hat seine Lehre in einem Gedicht vorgetragen, im priesterlichen
-
Ton einer Offenbarung: er hat das unerschütterliche Herz der Wahrheit, aletheia,
erfahren und auch die Meinungen, dóxai, der Menschen, in denen keine wahre Ge-
wissheit ist; die Fahrt zur offenbarenden Gottheit hat ihn hinausgetragen aus den
Wegen der Menschen (VS B , ff .). Von den sterblichen Menschen wusste
Parmenides nur zu sagen, dass sie unwahre Meinungen haben, dass aber das ih-
nen Scheinende doch auf scheinende/scheinhafte Weise (dokimos) - sein muss (VS
B , ff .).
Parmenides hat mit aller Schärfe die Grenze zwischen der Wahrheit (die er be-
sitzt) und den unwahren Meinungen der Menschen gezogen. Mit dieser Haltung
steht er unter den Vorsokratikern nicht allein. Xenophanes, der als Lehrer des
Parmenides gilt, sagt in einem der erhaltenen Fragmente: “Und das Genaue
davon, was ich über Götter und alle Dinge sage, hat kein Mensch gewusst und
keiner wird es wissen. Denn auch wenn er es träfe, dass er im höchsten Maß
Vollendetes sagte, weiß er es dennoch nicht: an allem haftet Schein, dókos (VS
B ).
. Eón ist Partizip des Verbums einai, “sein”, und zwar die Form des ionischen Dialekts, die
auch in den frühen Schriften des Corpus Hippocraticum verwendet wird, der Plural lautet
eónta. Die “normalen” attischen Formen sind ón bzw. ónta.
DER HOMO-MENSURA-SATZ IN SEINEM HISTORISCHEN UMFELD
Das Wort dókos hat denselben Stamm wie dóxa und meint dasselbe: Schein und
(bloße) Meinung. Xenophanes spricht nicht von einer Offenbarung, sondern
von seiner eigenen Einsicht und Erkenntnis. In derselben Weise spricht Heraklit
von der Höhe seiner Erkenntnis herab: “Die Vielen verstehen solche Dinge nicht,
wie viele auch darauf stoßen, und sie erkennen sie nicht, auch wenn sie es gelernt
haben, aber sie bilden es sich ein” (VS B ). Heraklit ist überzeugt davon,
dass er den lógos entdeckt hat, der allen gemeinsam ist. Aber die Menschen haben
keine Einsicht, weder bevor sie gehört haben noch nachdem sie gehört haben…
“Ich gehe die Dinge durch, indem ich alles nach seiner Natur zerlege und sage,
wie es sich verhält. Den anderen Menschen aber bleibt verborgen, was sie im Wa-
chen tun, ebenso wie sie das vergessen, was sie schlafend tun” (VS B, vgl. B ).
Ein anderes seiner Fragmente zu demselben Thema lautet: “Denn Scheinendes
(dokéonta) erkennt der mit dem Schein Vertrauteste (dokimótatos), bewahrt es”
(VS B ).
Auch Empedokles verkündet – in Versen – eine Wahrheit, keine offenbarte,
sondern die von ihm gefundene, für die Anderen unzugängliche: “Ein kleines
Stück des Lebens haben sie in ihren Leben gesehen, dann fliegen sie, kurzlebig,
wie Rauch davon, nur von dem überzeugt, worauf ein jeder, überall herumge-
trieben, gestoßen ist, und doch rühmt sich jeder, das Ganze gefunden zu haben.
So wenig ist dies sichtbar den Menschen und hörbar und mit dem Verstand er-
fassbar” ( B , ff .).
Spätere Naturphilosophen haben sich allgemein und weniger herablassend, aber
doch grundsätzlich skeptisch über die menschliche Erkenntnisfähigkeit geäußert.
So sagt Demokrit: “Auch dieses Wort zeigt, dass wir in Wirklichkeit von nichts et-
was wissen”, “Es wird jedoch klar sein, dass es unzugänglich ist zu erkennen, wie
jedes in Wirklichkeit ist” (VS B und , vgl. und ). Vielleicht bezieht er dies
nur auf die Sinneswahrnehmung, die er “dunkle Erkenntnis” nennt (VS B , der
Text bricht hier leider ab). Aber in einem anderen Fragment heißt es wieder ganz
-
umfassend: “In Wirklichkeit wissen wir nichts, denn die Wahrheit, aletheia, ist in
der Tiefe” (VS B). Demokrits Schüler Metrodor von Chios soll an den An-
fang seines Buches über die Natur den Satz gestellt haben: “Niemand von uns weiß
etwas, nicht einmal das, ob wir wissen oder nicht wissen” (VS B). Andererseits
soll Metrodor gesagt haben: “Alles ist, was einer sich denken kann” (VS B ).
Diese abwertenden bzw. skeptischen Aussagen der Vorsokratiker sind auf die
Erkenntnis der Welt, ihrer Bauelemente usw. bezogen. Die Sophisten – ihre “Vä-
ter” sind Gorgias und Protagoras – vollzogen eine radikale Veränderung der Blick-
. Vgl. das oben Gesagte über die Art, wie Platon den Satz des Protagoras in den Bereich des
Scheins und des Meinens verschiebt.
. “Sie bilden es sich ein” ist im Griechischen mit dokéousi ausgedrückt: “sie scheinen…, sie
meinen…”.
JOACHIM DALFEN
richtung, vom Kosmos weg auf den Menschen. Die Sophisten haben die Rhe-
torik zu einer téchne entwickelt, zu einem lehrbaren Instrument für das Wirken
im öffentlich-politischen Leben; sie haben die Entstehung und Geltung von reli-
giösen Vorstellungen, Sitten und gesellschaftlichen Konventionen, Normen und
Gesetzen auf der Basis der von ihnen entwickelten nómos-phýsis-Antithese zur Dis-
kussion gestellt; sie haben die Theorie vom Gesellschaftsvertrag geschaffen. Die
Sophisten waren die ersten professionellen Lehrer, Erwachsenenbildner in Grie-
chenland. Nach Platons Darstellung soll Protagoras als Ziel seines Unterrichts die
Wohlberatenheit über die eigenen Angelegenheiten und die der pólis bezeichnet
haben: wie man sein Hauswesen am besten verwaltet und fähig wird, in der poli-
tischen Öffentlichkeit zu reden und zu handeln (Pl. Prot. e f.). Die Sophisten
haben den Menschen mit seinen Lebensbezügen ins Zentrum gerückt. Ciceros be-
kannte Aussage, Sokrates habe als Erster die Philosophie vom Himmel herunter
gerufen, in den Städten angesiedelt und auch in die Häuser hineingeführt…
(Tusc. V , ), gilt, wenn er Sokrates als Sophisten betrachtet; Protagoras und
Gorgias waren älter als Sokrates.
Die polemische Auseinandersetzung der Sophisten mit den Naturphilosophen
richtete sich in erster Linie gegen Parmenides und seine Lehre von dem einen Sein
(“Nur das Seiende ist”). Hier war der Abstand zur Realität der Welt und zur Le-
benswirklichkeit am größten. Gorgias hat eine Schrift, die gegen Parmenides ge-
richtet war, verfasst und ihr den provokant-polemischen Titel gegeben: Über das
nicht Seiende oder über die Natur. Gorgias geht darin von drei Thesen aus: . Nichts
ist, . wenn auch etwas ist, ist es für den Menschen nicht begreifbar, . wenn es
auch begreifbar ist, ist es nicht aussagbar und dem Mitmenschen nicht erklärbar
(VS B ). Mit Hilfe der von Melissos, dem Schüler des Parmenides entwickel-
ten Dialektik (vgl. VS B ff .) argumentiert Gorgias etwa, dass auch das Seien-
de nicht ist, dass es nicht Eines sein kann, dass das Seiende nicht gedacht wird
oder nur gedacht wird, dass Gedachtes nicht seiend ist, dass vieles nicht Seiendes
gedacht wird, z.B. Fabelwesen des Mythos usw.
. Natürlich haben sich die frühe griechische Dichtung, das Epos und die Lyrik, ebenso wie
die mit dem Sophisten gleichzeitige Tragödie mit dem Thema “Mensch” unter allen mögli-
chen Aspekten beschäftigt; den Paradigmenwechsel haben die Sophisten innerhalb der
Philosophie vollzogen.
. Parmenides war mit seinem schroffen Monismus offenbar nicht in der Lage, eine Brücke
zwischen seinem Seienden, dem eón, und der Welt der Phänomene zu schlagen: bei seiner
Beschreibung von Phänomenen der sichtbaren Welt (VS B ff.) folgt er der dóxa, die er
am Anfang abgelehnt hat. Für die Orientierung des Menschen in der Welt leistet das
Seiende des Parmenides schlichtweg gar nichts, es ist reines Denkprodukt, und deshalb hat
Gorgias u. a. gesagt: “Das Gedachte ist nicht”. (VS B ), vgl. über das Seiende des Par-
menides auch Arist. Met. b ff. (VS A ): das Eine des Parmenides gibt es nur katà
tòn lógon, es ist ein Gedankenprodukt.
DER HOMO-MENSURA-SATZ IN SEINEM HISTORISCHEN UMFELD
Protagoras soll eine Schrift Über das Seiende verfasst haben, die gegen diejeni-
gen gerichtet war, welche “das Seiende als Eines eingeführt haben” (VS B ).
Diese Schrift war also gegen Parmenides und seine eleatische Schule gerichtet,
außer dem Titel ist leider nichts erhalten.
Gegen Parmenides ist auch der Homo-mensura-Satz gerichtet. Protagoras
spricht von seienden Dingen im Plural, er spricht auch von nicht seienden Din-
gen und er setzt den Menschen in eine Beziehung (welcher Art sie auch sei) zu
beiden. Gegen das Überlegenheitsgefühl derer, die sich im Besitz einer geoffen-
barten Wahrheit fühlten oder glaubten, im einsamen Denken den wahren lógos
gefunden zu haben, setzte er seinen Satz: “Aller Dinge Maß ist Mensch…”
gibt das englische Wörterbuch von Liddell and Scott an “a thing that one needs
- auf den Menschen
or uses” bzw. “thing, matter, affair”. Den Bezug eines chrema
und seine Situation, die Betroffenheit des Menschen durch ein chrema- zeigen Stel-
len aus Tragödien jener Zeit (z.B. Soph. Trach. , Phil. ; Eurip. El. f.,
Hek. , Or. , Bakch. ).
Die nächste Frage ist, was Protagoras mit den “seienden Dingen” tà ónta, und
den “nicht seienden Dingen”, tà ouk ónta gemeint hat. Es empfiehlt sich, sich
auch in diesem Fall im Umfeld des Protagoras umzusehen. Bei den vorsokrati-
schen Naturphilosophen werden die Bausteine der Welt, z.B. die vier Elemente,
als ónta bezeichnet. Anaximander hat das ápeiron die arche- der ónta genannt (VS
B), der Pythagoreer Philolaos meinte damit offenbar alle Dinge im Kosmos
(VS B und ). Melissos, der Schüler des Parmenides, hat erklärt, dass die Din-
ge der sichtbaren Welt, die sich ständig verändern, entstehen und vergehen, nicht
wirklich “sind”: die ónta können wir weder sehen noch erkennen (VS B ). Der
Atomist Demokrit soll gesagt haben, dass der Mensch durch seine geistig-intellek-
tuellen Fähigkeiten die ónta aufgespürt hat (VS B ): gemeint ist wohl das, was
nach seiner Theorie allein wirklich “ist”: die Atome und der leere Raum. Über die
Vorsokratiker allgemein sagt Aristoteles: “Sie suchten die Wahrheit in Bezug auf
die ónta, die ónta waren ihrer Meinung nach nur die aisthetá, die sinnlich wahr-
nehmbaren Dinge” (Met. a ff . vgl. b ff .). Nach Aristoteles soll Anaxa-
goras zu Freunden gesagt haben, tà ónta werden für sie so sein, wie sie sich sie
vorstellen (VS A , vgl. B ). Diogenes von Apollonia soll gesagt haben, die
seienden Dinge seien alles, was sich in diesem Kosmos zeigt und in Erscheinung
tritt, phaínetai (VS B ; Diogenes scheint nur an Materielles gedacht zu ha-
ben).
In den bisher angeführten Texten wird ta onta substantivisch verwendet, Pro-
tagoras verwendet ónta und ouk ónta adjektivisch, als Explikation der chremata.-
Das ist auch die Verwendung, die sich in seinem Umfeld am häufigsten findet.
. Vgl. Versenyi, bei Classen ff., der im Anschluss an W. Nestle richtig feststellt, dass Pro-
-
tagoras chremata nicht im allgemeinen Sinn von “Dinge, Sachen, Objekte” meint, sondern
“Dinge mit einer besonderen Beziehung zu uns, Dinge, in die wir involviert und mit de-
nen wir befasst sind”.
. Gerhard Zecha hat festgestellt, dass der Satz “Der Mensch ist das Maß aller Dinge…” dazu
einlädt, jedem Schlüsselwort dieses Satzes mehrere Bedeutungen zuzuordnen; er selbst
spielt – mit Bezug auf “unsere kompliziert gewordene Lebenswelt” – eine lange Reihe mög-
licher Kombinationen von verschiedenen bisher vertretenen Auffassungen durch: G.Zecha,
Das Spiel mit der Antike wird ernst: Ist der Mensch wirklich das Maß aller Dinge? In:
S.Düll/O.Neumaier/G.Zecha (Hg.), Das Spiel mit der Antike. Zwischen Antikensehnsucht
und Alltagsrealität, FS für R.Düll, Möhnesee , –. Auch G.Zecha stellt richtig fest
(Anm. auf S. ), dass meist nicht der Satz des Protagoras interpretiert wird, sondern die
Interpretationen Platons diskutiert werden.
DER HOMO-MENSURA-SATZ IN SEINEM HISTORISCHEN UMFELD
. So erwähnt etwa Kapp, , die Schrift “Über die alte Medizin”, “in der man sich über-
haupt auf Schritt und Tritt an Protagoras erinnert fühlt”.
. Gemeint ist wieder die medizinische Kunst. Als Verfasser dieser Schrift ist ein Sophist ver-
mutet worden, Th.Gomperz hat an Protagoras oder Hippias als Autor gedacht.
JOACHIM DALFEN
es ist unsinnig, eines der seienden Dinge für nicht seiend zu halten; was man mit
den Augen sehen und mit dem Verstand erfassen kann, dass es ist, kann man nicht
für nicht seiend halten. Das Seiende wird immer gesehen und erkannt, die nicht
seienden Dinge werden weder gesehen noch erkannt. Jede téchne kann gesehen
werden, weil sie aus etwas real Existierendem hervorgeht. Aus der realen Existenz
bekommen die téchnai ihre Namen: die Namen sind konventionelle Setzungen,
real Existierendes ist Sprössling der Natur (ars ).
Der Verfasser dieser Schrift bringt auch ein Beispiel für etwas nicht Seiendes
(ars ). Er spricht über ärztliche Heilmittel und Therapien und erklärt, deren
Substanzen seien in den meisten Dingen, die wachsen und getan werden, enthal-
ten. Deshalb könne niemand, der ohne Arzt gesund geworden ist, den Grund
dafür dem autómaton zuschreiben. Wenn man es überprüft, zeigt sich, phaínetai,
dass das autómaton in keiner Weise ist, denn für alles, was geschieht, lässt sich eine
Ursache finden, und dadurch zeigt sich, phaínetai, dass autómaton kein Sein hat,
sondern ein bloßer Name ist.
Autómaton ist das, was spontan von selbst kommt, entsteht, geschieht. So etwas
gibt es nach Meinung des Verfassers nicht, das nicht seiende autómaton wird dort
ins Spiel gebracht, wo die wirkliche Ursache von Vorgängen nicht untersucht
und nicht gefunden wird.
Der Befund, der sich aus diesen Stellen (es sind bei weitem nicht alle, die in
Frage kommen) ergibt, scheint verwirrend zu sein, aber es lassen sich doch einige
feste Punkte ausmachen. Für die Naturphilosophen sind “seiend” die Elemente,
aus denen der Kosmos besteht. Sie sind ungeworden und unvergänglich (wie das
eine Seiende des Parmenides), während die in der Welt in Erscheinung tretenden
Dinge aus jeweils wechselnden Mischungen entstehen, sich verändern und immer
wieder auflösen. Die Dinge, die im Kosmos sind, werden als sinnlich wahrnehm-
bar bezeichnet oder als Inhalte der Vorstellung: hier ist der Ansatz für den Vor-
wurf des Sensualismus und Subjektivismus.
Außerhalb der Naturphilosophie werden andere ónta als Realitäten bezeichnet.
Ein “seiender lógos” gibt die richtige Version wieder, “seiend” ist eine bestehende
téchne (die sich durch ihre Methode und ihre Leistungen legitimiert), “seiend” sind
Krankheiten und Lebensumstände, “seiend” sind auch Werte und Normen wie das
Gute und das Schöne (das hat ein Sophist gesagt), die “seienden Dinge” werden
nicht nur mit den Augen gesehen, sondern auch mit dem Verstand erfasst und
. Der Verfasser der Schrift “Über die alte Medizin” rechnet dagegen damit, dass bei lange
dauernden Krankheiten viele Störungen durch das autómaton ausgelöst werden (vet.med. ).
. Vgl. dazu das in diesem Sinn für die Sichtweise der vorsokratischen Naturphilosophen all-
gemein gültige Fragment des Anaxagoras: “Über Werden und Vergehen haben die Griechen
-
keine richtige Meinung. Denn kein Ding, chrema, wird oder geht zu Grunde, sondern aus
-
seienden Dingen, chremata, wird es gemischt und löst sich wieder auf …” (VS B).
DER HOMO-MENSURA-SATZ IN SEINEM HISTORISCHEN UMFELD
erkannt. Nicht nur Materielles ist “seiend”, sondern auch Immaterielles. Auf die-
sem Feld wird man suchen müssen, wenn man eine Vorstellung davon gewinnen
will, was Protagoras mit den “seienden und nicht seienden Dingen” gemeint hat.
Es ist schon gesagt worden, dass die eingebürgerte deutsche Übersetzung “Der
Mensch ist das Maß aller Dinge …” den Satz des Protagoras nicht korrekt wie-
dergibt. Protagoras hat weder zu “Mensch” noch zu “Maß” den Artikel gesetzt,
und métron steht vor ánthropos. Bei einem Mann, der sich intensiv mit der Spra-
che beschäftigt hat, wird man annehmen müssen, dass er es bewusst getan hat.
Das Fehlen der Artikel lässt die Entscheidung offen, was Subjekt und was Prädi-
katsnomen ist. Die deutsche Fassung suggeriert durch den Artikel und durch die
Spitzenstellung (“Der Mensch ist…”), dass “der Mensch” das Subjekt der Aussage
ist. Das hat zu einer schier endlosen Diskussion darüber geführt, ob “der Mensch”
individuell oder kollektiv zu verstehen sei, weit seltener wurde die generelle Auf-
fassung erwogen.
Der griechische Artikel determiniert, beim individuellen Gebrauch ist er not-
wendig, die Ausnahmen von dieser Anwendung sind beschränkt und geregelt,
“Mensch” im Satz des Protagoras zählt nicht zu diesen Ausnahmen. Artikellosig-
keit dient zum Ausdruck der Unbestimmtheit. Protagoras hat den Menschen
als Gattungswesen gemeint, damit steht er unter den Vorsokratikern nicht allein.
Von Heraklit ist der Satz überliefert: “Meer, reinstes und unreinstes Wasser, Fi-
schen trinkbar und lebenserhaltend, Menschen untrinkbar und verderblich” (VS
B ). Dieselbe generalisierende Bedeutung hat “Mensch” (ohne Artikel) in
seinem berühmten Satz “Charakter <dem> Menschen Schicksal” (VS B , im
Deutschen muss zwangsläufig der Artikel hinzugefügt werden). Epicharm hat ge-
sagt “<Dem> Menschen ist gesund zu sein das Beste” (VS B ), und er hat
auch von Tieren als Gattungswesen gesprochen: “Die Hündin scheint <dem>
Hund das Schönste zu sein, Rind <dem> Rind, Esel <dem> Esel, Schwein <dem>
Schwein” (VS B ). Das Deutsche muss, wie die meisten modernen Sprachen,
den Artikel zu Hilfe nehmen, weil es für die casus obliqui der Nomina keine En-
dungen hat.
Was für den Singular gilt, gilt auch für den artikellosen Plural. Empedokles er-
klärt “…so ist dies alles für Menschen weder sichtbar noch hörbar noch mit dem
. Vgl. im Französischen “L’homme est la mesure de toutes choses…”. Etwas anders liegt der
Fall im Englischen: “Of all things the measure is man…”. Hier kann der Artikel bei man
aus innersprachlichen Gründen nicht gesetzt werden.
. Siehe dazu in der Griechischen Grammatik von Schwyzer-Debrunner (München ) die
Ausführungen im .Band, S. f. Als Beispiel wird dort angeführt: ánthropos “ein Mensch”
und “was Mensch heißt”, mit dem Zusatz, dass dies die generelle Verwendung ist, dass bei
der generellen Verwendung aber auch der Artikel gesetzt werden kann. Dies gilt für den
Plural ebenso wie für den Singular.
JOACHIM DALFEN
Verstand fassbar” (VS B , vgl. VS B ; B ; ), und ähnlich sagt der So-
phist Gorgias: “Auch wenn etwas ist (scil. im Sinn des Parmenides), ist es <dem>
Menschen nicht erfassbar” (VS B ). Als letztes Beispiel sei ein Satz des Demo-
krit herausgegriffen: “Für Menschen entsteht Seelenruhe durch Mäßigung des
Vergnügens und Gleichmaß des Lebens” (VS B ).
Die Beispiele mögen genügen für den Nachweis, dass die Vorsokratiker in ver-
schiedener Hinsicht Aussagen über den Menschen als Gattungswesen gemacht
haben. Alles spricht dafür, dass Protagoras es im Homo-mensura-Satz auch getan
hat. Ob damit eine individuelle, kollektive, relativistische Deutung ausgeschlossen
oder in gewisser Weise impliziert wird, ist eine andere Frage. Sie hängt zusammen
mit der viel diskutierten Frage, wie man die von Protagoras gesetzte Konjunktion
- aufzufassen hat: als “dass”, als “wie” oder als “dass und wie”. Eine wortgetreue
hos
Wiedergabe des Homo-mensura-Satzes ergibt jedenfalls, dass zuerst an den Men-
schen als Gattungswesen gedacht werden muss. Sie ergibt ferner, dass “alle Din-
ge” stärker als bisher in Betracht gezogen werden müssen, und zwar hinsichtlich
der Funktion, die sie für die Aussage insgesamt haben: sie stehen wohl nicht ohne
Grund an der Spitze des Satzes.
. Dafür, dass nicht nur die Philosophen, sondern auch Dichter im . Jh. von “Mensch” als
Gattungswesen (und deshalb ohne Artikel) gesprochen haben, seien einige wenige Bei-
spiele angeführt. “Mensch: eines Schatten Traum” (Pindar, Pyth. , f.), “Nichts ist gewal-
tiger als <der> Mensch” (Soph. Ant. f.), “Menschen müssen das von den Göttern gege-
bene Geschick tragen” (Soph. Phil. f.). In der griechischen Dichtung sind solche generali-
sierenden, gnomisch-sentenzhaften Aussagen zum Thema “Mensch” sehr häufig.
. Dafür sprechen eindeutig die Wörter phantasíai und dóxai: phantasíai steht peiorativ für
das gut vorsokratische phainómenon.
DER HOMO-MENSURA-SATZ IN SEINEM HISTORISCHEN UMFELD
hat man sich bei der Deutung von métron allgemein der platonischen Gleichung
- angeschlossen.
“métron = krites”
Aber die Gleichung ist falsch, sie ist unprotagoreisch. Platon verschiebt das
von Protagoras Gesagte in eine andere Richtung, so wie er die Aussage des ganzen
Satzes in den Bereich des Scheins und des bloßen Meinens abschiebt.
Das Wort krites- kommt bei den Vorsokratikern nur in der Bedeutung “Richter
in einem Gericht” vor (bei Solon unter den Sprüchen der Sieben Weisen und bei
Gorgias VS B a ; im selben Text wird die Zeit metaphorisch als Richter be-
-
zeichnet). Kriterion ist zum ersten Mal für Platon belegt (Tht. b c), den Vor-
sokratikern ist es fremd, in die Berichte über ihre Theorien sowie in die Rahmen-
texte der wörtlichen Zitate ist es in großer Zahl vor allem durch Sextus Empiri-
cus hineingekommen.
Métron bezeichnet ein Längenmaß, ein Hohlmaß und ein Gewicht, außerdem
das festgesetzte bzw. das rechte Maß. In diese Bedeutungen kommt es bei den
Vorsokratikern und auch sonst oft vor: métron ist das, womit oder an dem etwas
gemessen wird. Transformiert man also die protagoreische Wortgruppe “aller
Dinge – Maß – Mensch” in eine Verbalphrase, so muss diese lauten “Alle Dinge
werden am Menschen gemessen”. Für die bisher angesetzte falsche Transforma-
tion (“Der Mensch misst alle Dinge”) gibt es einen annähernden Vergleichstext bei
Demokrit: “Erkennen muss <der> Mensch an diesem Maßstab, dass er von der
Wahrheit entfernt ist” (VS B ). Für “Maßstab” steht im griechischen Text ka-
- “Mensch” steht ohne Artikel als Gattungswesen. Aber es heißt nicht, dass der
non,
Mensch das messende Maß ist, sondern dass er an / mit einem Maßstab misst und
dadurch zu einem Ergebnis kommt. Ein Maß, das selber misst, ist eine sehr eigen-
artige Vorstellung, ein phántasma oder eine phantasía, um mit Platon zu sprechen.
Im Corpus Hippocraticum, und zwar in der Schrift “Über die alte Medizin”,
findet sich eine Aussage, die den Homo-mensura-Satz ins rechte Licht stellen
kann. Der Verfasser spricht darüber, dass der Arzt in der Therapie nicht einfa-
. Stellvertretend für die anderen sei die bei Flashar, S. , gegebene Interpretation zitiert:
“Üblicherweise (und vermutlich zu Recht) hat man métron nach Sextus Empiricus … als
-
kriterion (Maßstab, Unterscheidungsmerkmal) aufgefasst (vgl. Platons Gebrauch des Wortes
- in Theaet. c); nach dieser Interpretation ist der Mensch insofern ein métron, als
krites
er in gewisser Weise das, was ist, bemisst und damit Grenzen und Beschaffenheit der Reali-
tät (zumindest soweit sie ihn selbst betrifft) festlegt ”. Es folgt der Verweis auf abweichende
Interpretationen von Untersteiner und Buchheim (métron = dominio bzw. = “Voll-maß”),
die mit vollem Recht abgelehnt werden. Huss, ff.; unter den von Huss vorgestellten frü-
heren Interpretationen von métron scheinen die von H.Gomperz und E.Dupréel ansatz-
weise in die richtige Richtung zu deuten.
. In der Antike hat Erotian dieses Werk dem Hippokrates selbst zugeschrieben, innere Kri-
terien sprechen z.T. auch für diese Zuweisung, sicher ist, dass die Schrift ins .Jh. gehört.
Vgl. Anm..
JOACHIM DALFEN
che Regeln befolgen kann; die Dinge, mit denen es der Arzt zu tun hat, sind kom-
plexer und erfordern mehr Exaktheit, deshalb muss man auf ein Maß, métron, zie-
len. Dieses Maß kann aber weder Zahl noch Gewicht sein, auf die man sich bei
der Ermittlung der Exaktheit beziehen könnte, sondern Maß ist nur die aísthesis
des Körpers (vet.med. ).
Maß, métron, ist die Wahrnehmung des Körpers: gemeint ist die Reaktion des
Körpers des Patienten auf die vom Arzt verordnete und angewendete Therapie.
Transponiert man die Aussage des Mediziners syntaktisch in die Form des Homo-
mensura-Satzes, ergibt sich “Der Therapie Maß ist die Wahrnehmung des Kör-
pers” = “An der Wahrnehmung des Körpers wird die (Exaktheit der) Therapie ge-
messen”. “Wahrnehmung des Körpers” steht an der Stelle, an der bei Protagoras
“Mensch” steht.
Stellt man den Homo-mensura-Satz des Protagoras in sein historisches Um-
feld, so erscheint er in einer etwas besseren Beleuchtung. Es gibt aber noch wei-
teres Material, das herangezogen und ausgewertet werden könnte. Auch aus einer
genaueren Analyse des Theaitetos, die Platons Argumentationstechnik (und die
des platonischen Sokrates) berücksichtigt, lassen sich weitere Hinweise darauf
gewinnen, wie Protagoras seinen Satz gemeint haben könnte.
Die Sophisten haben einen Paradigmenwechsel vorgenommen und den Men-
schen in das Zentrum gestellt. Am Menschen als Maß müssen sich die Dinge
messen lassen. Diesen Standpunkt hat Platon nicht gut heißen wollen, deshalb
hat er dem Satz des Protagoras im Theaitetos alle möglichen Implikationen aufge-
laden, er hat ihn nicht interpretiert, sondern destruiert. Und er hat ihm – deut-
lich auf ihn anspielend – später den Satz entgegengestellt: “Der Gott also sollte
im höchsten Grade für uns aller Dinge Maß sein” (Nom. c). Damit wollte er
sicher nicht sagen, dass Gott alle Dinge misst…
. In einem anderen Aufsatz soll an anderer Stelle versucht werden, aus dem hier vorgelegten
und aus weiterem Material den Homo-mensura-Satz und seine Konsequenzen für die poli-
tische Theorie des Protagoras (“Was eine pólis als gerecht und nützlich festgesetzt…”, vgl.
Pl. Tht. c sowie den Mythos des Protagoras) zu interpretieren, ausgehend von der Über-
setzung “Aller Dinge Maß ist Mensch”.
IM SPIEGEL DES PROTAGORAS
DER MENSCH ALS MASS? – NICHT WIRKLICH
Heinz-Ulrich Nennen
HEINZ-ULRICH NENNEN
absetzt, weiß das genau, er wird sich ihrer versichern, wird im Zweifelsfalle nicht
gesagt haben (wollen), was andere glaubten, doch herausgehört zu haben; Mehr-
deutigkeit bietet auch zeitweiligen Schutz in zweifelhaften Konstellationen. Nur
wird man als Rezipient nicht damit rechnen dürfen, jemals auf den eindeutigen
Kern stoßen zu können, – alles gilt gleichermaßen, je nachdem, mehr oder weni-
ger, vielleicht auch nicht ganz, jedenfalls ‘nicht wirklich’.
Dementsprechend sieht Wolfgang Wieland im Theaitetos eine Ironie ganz
eigener Art am Werke, wenn in diesem Dialog – möglicherweise nur vorgeblich,
wie hier vermutet werden soll – gezeigt werden sollte, daß Erkenntnis, deren We-
sen hier gesucht, aber nicht gefunden wird, nicht nur nicht in der Wahrnehmung zu
finden ist, sondern ebensowenig in Gebilden von der Art der richtigen Meinung. In
diesem Kontext markiert der Homo-mensura-Satz dann das Überschreiten der
Grenze zum Absurden, und dennoch: Der Relativismus dieses Relativismus ist
selbst relativ.
“Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß (wie) sie sind, der nicht
seienenden, daß (wie) sie nicht sind.”
Es soll sich dabei um den Einleitungssatz des verschollenen Werkes über Wahrheit
handeln, eine These also, von Protagoras schon zu Beginn vorgebracht, als habe
er gleich mit der Konklusio einsetzen wollen. Es scheint, als wäre die Sentenz aus
dem Zusammenhang gerissen, selbst wenn der Wortlaut exakt und die Textstellen-
angabe insoweit verlässlich sein sollte, dass dieser Satz tatsächlich am Anfang ei-
nes seiner Bücher stand. Der Satz changiert, es lässt sich nicht einmal eindeutig
bestimmen, ob er nun deskriptiv oder bereits normativ aufgefasst werden soll. So
geht vom Homo-mensura-Satz eine Provokation aus, die den Rezipienten bereits
erfasst, noch ehe dieser sich dessen bewusst werden kann.
Was aber versetzt einen solcherart dekontextualisierten Satz in die Lage, derart
provokant zu wirken? Ursprünglich richtete Protagoras die so nachhaltig inkri-
minierte Sentenz allerdings an die eigenen Zeitgenossen, an Schüler wie Gegner
gleichermaßen. Man wird annehmen dürfen, dass er das Spektrum möglicher Deu-
tungen ganz bewusst auffächert, es ist ein Paradestück sophistischer Parole. Bevor
man also im Begriffe ist, dem nachzugeben, um sich provozieren zu lassen, sollte
man sich doch zunächst einmal davon überzeugen, ob Protagoras diese Viel-
deutigkeit nicht bewusst gesetzt haben könnte, nicht anders als Platon, der im-
mer wieder Form gegen Inhalt, Rahmenerzählung gegen Handlung, Dramaturgie
gegen Philosophie ausgespielt hat.
. Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens. Göttingen , S. .
. Platon: Theaitetos a.
HEINZ-ULRICH NENNEN
Was also hatte Protagoras seiner Zeit vor Augen führen wollen? Man sollte an-
nehmen dürfen, dass auch der Homo-mensura-Satz dem Pensum der Sophistik
entspricht. Womöglich werden Zeitgenossen sehr viel selbstverständlicher verstan-
den haben, worauf sich der Meisterredner hatte beziehen wollen; vielleicht hatte
er seinerzeit gar nicht genauer formulieren müssen, dass man verstand. Eine Mög-
lichkeit, nachträglich dieses Verstehen verstehen zu wollen, könnte sich auftun,
wenn man unterstellt, dass es sich bei dieser These um eine verkappte Antithese
handeln könnte. Demnach muss etwas ((da) gewesen) sein, wogegen die Formu-
lierung des Protagoras sich richtet(e), es muss sich ferner dabei um etwas han-
deln, das man den Zeitgenossen nicht explizit verdeutlichen musste. Dann wäre
der Satz nicht einmal unterbestimmt, ließe sich vielmehr als These ohne weiteres
auch als Einleitungssatz verwenden, nur spätere Zeiten hätten ihre liebe Not mit
der Reinterpretation. Also: Nicht X, sondern der Mensch ist das Maß aller Din-
ge! – Dieses X wäre demnach entscheidend, die Unterbestimmtheit doch bestim-
men zu können, den Satz doch zu rekontextualisieren, den fehlenden Kontext doch
noch zu vermitteln; dieses fehlende X wäre auch der eigentliche Grund, warum
nachfolgende Zeiten sich immer wieder provoziert sahen, um allzu häufig extrem
zu reagieren auf diesen Satz.
Wäre dieses unausgesprochene X beim protagoräischen Satz entscheidend für
eine rekontextualisierende Auslegung, dann wäre es interessant herauszuarbeiten,
welches X seinerzeit gemeint gewesen sein konnte. Die gemeinhin im Anschluss
an den Homo-mensura-Satz angeknüpfte Debatte über Relativismus, Erkenntnis-
theorie und das Problem, dass es für den urteilenden Menschen gar keinen Maß-
stab für Wahrheit und keine objektivierbare Wirklichkeit hinter den Erscheinun-
gen gibt, diese Debatte trifft nicht das eigentliche Problem. Man sollte sich da-
gegen zunächst einmal die Situation vor Augen führen, in der Protagoras auftritt,
um mit Subjektivismus, Relativismus und einem grundsätzlichen Skeptizismus
einen enormen Einfluss auszuüben auf sämtliche Denker, die nach ihm erst kom-
men werden.
Sophisten und der unter ihnen wohl eindruckvollste Protagoras traten in einer
Zeit fundamentaler kultureller und politischer Umbrüche auf. Man mag anhand
der allzu geringfügigen Zitate und Berichte glauben zu wissen, wer Protagoras
war, nur, um doch nichts weiter zu replizieren als tradierte Vorbehalte jedweder
Sophisterei gegenüber. Aber auch hierbei wäre es von Interesse, die Interpreten bei
ihrer Arbeit zu beobachten, wie zuvor hineingelegt wird, was man später dann
wieder herauspräpariert. In diesem Falle scheint es angebracht, weniger hinein-
zulegen, sondern vielmehr schlichtweg davon auszugehen, dass es beim Relativis-
mus nicht oder zumindest nicht in erster Linie um diesen selbst gegangen sein
kann. In dieser Krisen- und Umbruchphase geht es vielmehr um einen alles ent-
scheidenden Paradigmenwechsel in der Zurechnung des Letzbezugs, womit man
auch einer Bestimmung dessen näher gekommen sein dürfte, wogegen sich der
IM SPIEGEL DES PROTAGORAS
Satz des Protagoras unausgesprochenerweise richtet: Nicht mehr die Götter, son-
dern der Mensch sollte nunmehr das Maß aller Dinge sein.
Auch hier bleibt noch immer das Changieren zwischen Deskription und Postu-
lat, nur wäre es nunmehr möglich geworden, den Relativismus nicht in der übli-
chen Manier widerlegen zu müssen, sondern vielmehr aufzunehmen in einer ganz
anderen Bedeutung. Wenn die gemeinhin als Sophisten titulierten wandernden
Redner im antiken Athen auftreten, so geht es darum, Sinndefizite zu kompen-
sieren, die inzwischen beträchtlich geworden sein dürften. Führt man sich auch
nur einen Augenblick vor Augen, was seinerzeit alles möglich war an Ausdrucks-
formen des Unglaubens, so wird man mit Etikettierungen wie Renaissance oder
Aufklärung fast schon hadern, weil sie noch immer nicht angemessen scheinen.
Es mutet mitunter an, als wäre es das Aufblitzen einer ‘Moderne’, die sich da plötz-
lich bemerkbar machte, und in dieser Situation gehen dann die von Platon so
einseitig imageträchtig inszenierten Stücke von der Auseinandersetzung zwischen
Sophisten und Philosophen über die Bühne der Öffentlichkeit.
In dieser Szenerie Beobachter sein zu wollen, ist nicht unproblematisch, denn
von Protagoras und den Sophisten sind lediglich einige wenige Fragmente auf uns
gekommen. Aber nicht nur in dieser Konstellation, sondern häufiger, als gemein-
hin angenommen wird, ist der Status des Beobachters alles andere als nur untäti-
ges Dabeisein. Zuschauer-Sein bedeutet teilnehmende Beobachtung, aber Einfüh-
lung kann misslingen. Auch im konkreten Fall wird man sich entscheiden müssen,
was man denn jeweils herausbringen möchte. Geht es darum, Platon zu verstehen?
Geht es um die Vorsokratiker, um das Verstehen jener Zeit selbst? Je nachdem,
worauf man hinaus möchte, was man für die eigene Zeit in Erfahrung zu bringen
gedenkt, dementsprechend verwandelt sich auch die Auslegung des Homo-
mensura-Satzes, indem man seiner Unterbestimmtheit die entsprechenden
Aspekte zunächst erst zuführen muss, um sie dann zuverlässig wiederfinden zu
können. Auf eine bemerkenswerte Weise demonstriert der Satz an sich selbst, wie
sehr sein Rezipient wiederum zum ‘Maß’ dieses Satzes wird. Im Homo-mensura-
Satz spiegeln sich nicht nur Theoreme aus Subjektivismus, Relativismus und
Skepsis, sondern mit dem Satz spiegeln sich zunächst einmal seine Rezipienten
in und mit ihren jeweiligen Intentionen, denn der Satz ist hinreichend
unterbestimmt, es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich selbst und die
eigenen Intentionen mit spiegeln zu lassen.
Relativismus wird nicht nur thematisiert, sondern er ist bereits am Werke, in
und mit diesem Satz, so sehr, dass fast die ganze Last des Relativierens sich auf
Seiten des Rezipienten findet. Diese Konstellation führt zu Reaktionen: Wer unbe-
dacht genug ist, unmittelbar darauf reagieren, um die Last abschütteln zu wollen,
hat bereits Stellung genommen. Die Ununterscheidbarkeit, ob es sich nun um
eine Deskription oder um ein Postulat handelt, tut ihr übriges, dass sich der Zu-
schauer selbst auf die Bühne begibt und damit weitaus mehr tut, als nur zu be-
HEINZ-ULRICH NENNEN
obachten. Wollte man dagegen nun partout Zuschauer bleiben, es wäre angera-
ten, wie weiland Odysseus in der Sirenenpassage gewisse Sicherungsvorkehrungen
gegen sich selbst treffen, was zumindest den Vorzug hätte, einmal die gesamte
Passage tatsächlich durchfahren zu können, bevor man sich zu überhaupt irgend-
etwas entscheidet.
Die Analogie zum betörenden Sirenengesang ist durchaus plausibel, denn
Gerhard Zecha hat in seinem Spiel minimaler Variationen über das Thema Homo-
mensura-Satz demonstriert, was alles zu Gehör gebracht werden könnte, je nach-
dem, welche Thematisierung und welche Phrasierung gewählt wird. Auch Zecha
kommt zu dem Ergebnis, der Satz habe keinen klaren, eindeutig bestimmbaren
Inhalt, da sowohl Protagoras als auch Platon offen gelassen hätten, was unter
‘Mensch’ oder ‘Ding’ zu verstehen sei; man könne daher aus diesem Satz fast ‘alles’
herauslesen. Diese Vielfalt ist nun in der Tat auf eine eigene Weise betörend; weil
die unterschiedlichen Varianten schlussendlich auch miteinander sehr häufig un-
verträglich sind, fühlt man sich allzu leicht bemüßigt, sich in Auseinander-
setzungen mit einzelnen dieser Varianten zu verwickeln ohne doch jemals zum
Prinzip des Satzes vorstoßen zu können.
Hier soll diese Vielfalt nun auf andere Weise eingeschränkt werden, durch Vor-
kehrungsmaßnahmen ganz im Stile der Sirenenpassage. Wenn der Vordersatz hin-
zugefügt wird, wonach nicht mehr Gott, sondern eben der Mensch nunmehr das
Maß aller Dinge sei, so würde damit die Formel nicht nur wieder in ihren ange-
stammten historischen Kontext eingesetzt werden, sondern zugleich würde es da-
durch auch möglich, Zuschauer zu bleiben. Dieser frühe Tod Gottes in jener Zeit,
als Sophisten und Philosophen wohl eben aus diesem Grund die Bühne betraten,
dürfte immense Wirkungen mit sich gebracht haben. Umso erstaunlicher ist es, in-
mitten dieser doch mythisch-religiös durchwirkten Szenerie urplötzlich eklatante
Beispiele der Abkehr von jeglichem Glauben vor Augen geführt zu bekommen.
Selbst die Anthropologie scheint hier erstmals aufgetreten zu sein – als Krisen-
symptom; es scheint, als würde der Mensch stets dann in den Vordergrund gerückt,
wenn seine Stellung aus ganz anderen Gründen gar nicht mehr sicher erscheint.
Es wäre interessant, genauer zu rekonstruieren, wie die Krise im Götterhimmel
den zunehmend kritischer werdenden Verhältnissen auf der Erde korrespondier-
te, wie sich politische, soziokulturelle und theologische Krisen wechselseitig auf-
. Gerhard Zecha: Das Spiel mit der Antike wird ernst: Ist der Mensch wirklich das Maß aller
Dinge? In: Siegrid Düll/Otto Neumaier/Gerhard Zecha (Hg.): Das Spiel mit der Antike.
Zwischen Antikensehnsucht und Alltagsrealität; Festschr. z. .Geb. v. Rupprecht Düll (Arianna;
Bd.). Möhnesee , S. –; zit. v. S. .
. Siehe hierzu: Heinz-Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk-Debatte: Chronik
einer Inszenierung. Über Metaphernfolgenabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Patho-
logie der Diskurse. Würzburg .
IM SPIEGEL DES PROTAGORAS
. Walther Kranz: Die Griechische Philosophie. Zugleich eine Einführung in die Philosophie über-
haupt. Leipzig ; vgl. S. .
. Siehe hierzu: Otto Neumaier: Aufklärung und Verzauberung. Philosophische Fragmente.
In: Siegrid Düll/Otto Neumaier/Gerhard Zecha (Hg.): Das Spiel mit der Antike, a.a.O.,
S.–.
HEINZ-ULRICH NENNEN
mit Konsequenzen einher, die man sich vor Augen führen sollte. Vor diesem Hin-
tergrund mag man dann auch dazu neigen, das vermeintliche Postulat in dieser
Konstellation ganz bewusst ironisch gebrochen zu reinterpretieren: Demnach
hätte der Mensch in Ablösung der Götter sich selbst nunmehr zum Maß erheben
wollen, was ihm aber kraft fehlender Messkunst nicht recht gelingen mochte. Da-
mit wäre eine bislang kaum entdeckte zusätzliche Variante im Spiel der Variationen
hinzugekommen, wobei diese Lesart noch den Vorzug hätte, dass sich auch hier
der Sophist wieder empfehlen würde als Lehrer, bei dem man das notwendige
Orientierungswissen womöglich doch würde ‘erwerben’ können. Die derart ironi-
sierte Formel würde eine recht eigenwillige Färbung annehmen; auf Nachfrage,
ob denn der Mensch tatsächlich Maß sei, ließe sich der ironischen Diktion auf
Augenhöhe begegnen durch die Verwendung einer derzeit grassierenden Phrasie-
rung, die sich auf bemerkenswerte Weise über elementare Logik hinwegsetzt: Die
ironisierende Antwort auf die Frage, ob der Mensch das Maß aller Dinge sei,
würde lauten: ‘nicht wirklich’.
Es ist interessant zu beobachten, wie aus moderner Perspektive eine besondere
Form der Theodizee zustande kommt, eine Rechtfertigung der Götter aufgrund
ihrer Funktion bei der Kontingenzbewältigung. Andernfalls, das eben lässt sich
inzwischen sehr leicht anhand der eigenen Zeit studieren, werden wir selbst mit
jenen letzten Fragen konfrontiert, und wir sind es dementsprechend auch, die
entscheiden müssen, was man zuvor guten Gewissens noch dem unerfindlichen
Ratschluss der Götter anheimstellen konnte. Die Theodizee wird zur
Anthropodizee, die Entlastung Gottes führt zur Belastung des Menschen, der
nun seinerseits zu entscheiden und vor allem zu verantworten hat, was man
vormals noch höheren Mächten überließ. Der Übergang vom göttlichen zum
menschlichen Maß ist und bleibt heikel, weil Götter ihre Entscheidungen aller-
dings anders optimieren als es dem Menschen möglich ist. Sie beherrschen ganz
offenbar ihr Metier, bis hin zu jener Meisterleistung, auch noch die menschliche
Freiheit als solche bei der Schöpfung mit einzuplanen in den Prozess der allge-
meinen Emergenz. Sie verfügen über das von Solon vergeblich gesuchte Maß
aller Maße, das unsichtbare Maß aller Erkenntnis: Am allerschwersten in den Blick
zu bekommen [ist] das unsichtbare Maß der Erkenntnis, das von allem einzig und
allein die Grenzen innehat.
‘Als sich einst Götter und Menschen verglichen’, – auch in umgekehrter Rich-
tung kann also dieser Vergleich vonstatten gehen. Der häufig gerade den Göttern
zugeschriebene Neid kann sich somit möglicherweise ganz auf Seiten des Men-
schen zeigen, als wäre es die Urprojektion par excellence. In diesem Zusammen-
hang ist eine vermutlich auf Protagoras zurückgehende Erweiterung des bei Pla-
haft in Städten zu leben, weil sie, so spinnt Protagoras den Mythos weiter, die un-
abdingbare Kunst, den Staat auch zu verwalten, noch nicht besitzt.
Auch diese Variation der Prometie durch Protagoras ist nur indirekt auf uns
gekommen. Sicher ist leider gar nichts mehr, was die viel zu kurzen Textpassagen
anbelangt. Allem Anschein nach sind sämtliche seiner Bücher der gerichtlich an-
geordneten öffentlichen Verbrennung im Jahre zum Opfer gefallen, nachdem
Protagoras angeklagt und zum Tode verurteilt worden war, zehn Jahre vor dem
Todesurteil gegen Sokrates. Protagoras suchte sein Heil in der Flucht, soll aber vor
Sizilien ertrunken sein. Man wird also weiterhin mutmaßen müssen. Es soll seine
Variation sein, seine Hinzufügung, die er diesem Schlüsselmythos angedeihen ließ.
Dabei ist es nun höchst instruktiv, den immer wieder des Subjektivismus, Solipsis-
mus und Relativismus gescholtenen primus unter den Sophisten ausgerechnet da-
bei zu beobachten, wie er sich für Recht und Ordnung, Sitte und Gesetz aus-
spricht.
Folgt man dem platonischen Protagoras, so ist gerade die Staatskunst so unab-
dingbar, weil sie das Leben in den Städten erst ermöglicht. Man wird hier unum-
wunden von ‘Zivilisation’ sprechen dürfen, zumal Staatskunst mehr ausmacht als
das, was wir inzwischen als ‘Politik’ verstehen würden. Es geht vielmehr bereits
um die Bedingung für die Möglichkeit von ‘Polis’. Es sind, so will es die Genese
der protagoräischen Promethie, bereits Städte möglich, aber sie sind nicht stabil,
weil sie gleichsam die Polis-Qualität noch nicht haben. Weil sie einander immer
wieder Unrecht zufügen, mussten sich die Menschen doch immer wieder zer-
streuen, worauf sie umkamen. Aus Sorge, unser Geschlecht könnte ganz unter-
gehen, sendet Zeus darauf den Hermes, um den Menschen die offenbar notwen-
digen Gaben ‘Recht und Ehrfurcht’ zu übermitteln.
Hermes fragt an, wie er die neuen Gaben zuteilen soll, nach jenem Verteilungs-
modus etwa, wie bei den Künsten, wo nur wenige jeweils darüber verfügen, oder
aber unter alle gleichermaßen verteilt. Zeus entscheidet:
“‘Allen’, erwiderte Zeus, ‘alle sollen daran Anteil haben. Denn sonst könnte kein
Gemeinwesen entstehen, wenn nur wenige an ihnen Anteil hätten, wie das bei
den andern Künsten der Fall ist. Und das gib ihnen als Gesetz von mir: wer nicht
an Recht und Ehrfurcht teilzuhaben vermag, den soll man töten als eine Krank-
heit des Staates!’”
Der variierte Mythos mit seinem Sinnüberschuss vermittelt durchaus auch einen
Einblick in die Probleme der Zeit, in der dieser Dialog stattgefunden haben soll.
. Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte. Übers. u. eingel. v.
W. Capelle. Leipzig , S. f.
IM SPIEGEL DES PROTAGORAS
Protagoras noch weniger als Platon gar nicht darum gegangen sein, eine schillernd
provokante, zuguterletzt doch recht irrelevante Epistemologie zu verfertigen. Von
Anfang an ging es beim Problem der Wahrheit eben nicht seminaristisch nur um
diese selbst, noch weniger um diese um ihrer selbst willen, sondern um die Praxis
der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit. Nichts ist mehr als die Praxis, und mit
ihr auch die entsprechenden Theorien, abhängig von den Vorstellungen, die der
Wahrnehmung der Wirklichkeit vorausgehen. Dass wir bei der Konstitution die-
ser Vorstellungen als Erkenntnissubjekte individuell und als Diskursteilnehmer
intersubjektiv durchaus mehr als nur passiv mit involviert sind, dürfte sich herum-
gesprochen haben. Gleichwohl grassiert noch immer die Vorstellung passiver
Wahr-Nehmung, als wären wir nur wie ein Spiegel, müssten nur notieren und aus-
sagen, was sich in unserer Wahrnehmung wiederum nur spiegelt. Wenn wir dann
davon absähen, narzisstisch uns aufzuspreizen, dann würden wir auch ganz ‘ob-
jektiv’ aussagen, was an Erkenntnissen, schlussendlich, was an Wirklichkeit ‘ge-
geben’ ist. Man glaubt es kaum, aber diese Vorstellungen scheinen noch immer
im Hintergrund zu stehen.
Wir sind eben, eingestandenermaßen oder nicht, in der Tat das Maß unserer
Vorstellung, was nicht bedeutet, dass wir die Konstruktionen unserer Vorstellun-
gen bewusst setzen. Für die Diskussion der Formel wäre damit zunächst einmal
die Passage der möglichen Diskursübergänge in etwa lokalisiert, ein Sektor, in dem
die unterschiedlichen Stränge dieser Diskurse entscheidende Gemeinsamkeiten
aufweisen. Die Homo-mensura-Formel birgt eine Menge unterschiedlicher Dis-
kurse zugleich, von denen der über den subjektivistischen Wahrheitsrelativismus
nur einer und beileibe nicht der bedeutendste ist, denn weitaus entscheidender
sind jene über den politischen, rechtlichen, ethischen und theologischen Relativis-
mus. Insofern ließe sich der Homo-mensura-Satz wie die Losungsformel auffassen
für das Auftreten von Sophisten und Philosophen, für die Eröffnung all dieser
Diskurse als Reaktion auf die Krise der Polis. Diese Vorstellung wäre allen Deu-
tungsmöglichkeiten gemeinsam.
Die unermüdliche Aufregung über die Formel verkehrt dagegen Aufklärung
gegen sich selbst. Da wird dann der Relativismus gescholten als Ausdruck eines
Subjektivismus der Beliebigkeit, während man den damit zugleich gerechtfertig-
ten ‘Objektivismus’ gar nicht thematisiert. Es zeigen sich Anhaltspunkte für den
Anfangsverdacht, zuletzt gehe es um die Legitimation ganz bestimmte Wahrneh-
mungsweisen von ‘Wirklichkeit’, ganz bestimmter Basisannahmen und Modell-
theorien usw. Aber um welche unumstößlichen Wahrheiten geht es denn, die mit
der Formel gefährdet sein sollen? Es geht gewiss nicht darum, den Tisch, auf dem
. Siehe hierzu: Martin Fürchtegott Meyer: Philosophie als Meßkunst. Platons epistemologische
Handlungstheorie. Münster–New York , S. .
IM SPIEGEL DES PROTAGORAS
sich momentan das Schreibzeug des Autors befindet, in Zweifel zu ziehen. Woher
nehmen eigentlich die Bekämpfer des Relativismus die Gewissheit, dass Relativis-
mus, wenn vorgebracht, stets universal gemeint sein muss? Skeptiker zu sein, be-
deutet nicht, alles und jedes zugleich absolut in Zweifel zu ziehen, auch und ge-
rade Relativismus kann methodisch ebenso angebracht sein, wie der methodische
Zweifel. In den Wagenburgen der Antirelativisten dürften allerdings noch andere,
zusätzliche Motive vorliegen, die harte Wirklichkeit nicht aufweichen zu lassen
durch alternative Perspektiven. Schließlich muss es zusätzliche Gründe geben, aus
Beobachterperspektive nachvollziehen zu können, warum die Performance der
Übergriffe gegen das Lager vermeintlicher Relativisten so aggressiv, mit fast be-
reits wieder religiösem Eifer geführt wird.
Wenn man nun die Opponenten gegen den Homo-mensura-Satz genauer be-
obachtet, so zeigt sich, wie sehr diese sich klammern an vermeintliche Faktizitä-
ten, denen die Qualität, ‘Wahrheit’ zu sein, zugestanden werden soll. Man glaubt,
auf Gründe verweisen zu können, instrumentelle Nachweise sind aber in der Regel
nicht Gründe, sondern nur Nachweise, die noch dazu methodisch durchaus strit-
tig sein können. Auch handelt es sich dabei zumeist um Konventionen, nicht um
verbindliche Existenzbeweise für oder gegen etwas. Schon gar nicht folgt determi-
nistisch daraus ein ganz bestimmtes Handeln-Müssen für einen jeden Einzelnen.
Dennoch erwartet man in den Antirelativismus-Diskursen anscheinend von jedem
Gutmeinenden unumwunden die Anerkennung solcher ‘Wahrheit’ mit allen daran
gar nicht unmittelbar geknüpften Konsequenzen.
Erhoben werden weitgehende Ansprüche auf Anerkennung ganz bestimmter
‘Wahrheiten’, solcher, die gemeinhin qualifiziert werden, ‘rational’ zu sein. Was da-
gegen spricht, wird währenddessen sehr häufig allen Ernstes als ‘irrational’ bezeich-
net. Diese Szenerie lässt sich derzeit allerdings häufig beobachten; es zeigt sich,
wie auf eine bemerkenswerte Weise durch derartige Manöver die Diskurse gleich
zu Beginn bereits zurechtgestutzt werden auf das, was in ihnen vorkommen darf
und was nicht einmal angesprochen werden soll. Alles Erdenkliche wird auf diese
Weise gar nicht mehr zugelassen, überhaupt noch erwogen werden zu können,
etwa weil und wenn keine Zahlen vorliegen oder beigebracht werden können, weil
man auf jeden Fall darauf aus ist, zu quantifizieren, auch, weil man mit Quali-
täten als solchen gar nicht mehr umzugehen versteht. – Der am Homo-mensura-
Satz so vielgescholtene Relativismus war und ist durchaus heilsam, auch gerade
in unserer Zeit, weil dadurch der Blick für vielfältige Perspektiven, die ins Hinter-
treffen geraten sind, erst wieder aufgeschlossen wird.
Währenddessen ist die Ablehnung des Homo-mensura-Satzes zumeist darauf
zurückzuführen, dass man möglichst unmittelbar dazu übergeht, die Formel zum
erkenntnistheoretischen Prinzip zu erheben, um dann mit einem bewusst in Szene
gesetzten Missverständnis sich echauffieren zu können, wenn die Maxime sodann
umgemünzt wird in die einer Ethik. So jedenfalls ließe sich mutmaßen, um zu
HEINZ-ULRICH NENNEN
erklären, warum die Ablehnung des Satzes insbesondere in der älteren Philosophie-
geschichte so hoch ist, im Verlaufe der Zeit aber fast stetig abnimmt. Glaubt man
an die Prinzipien heteronomer Moral, so muss dieser Satz ethisch besehen zweifels-
ohne wie ein Menetekel erscheinen, denn es geht ihm gerade um Autonomie, da-
rum, den Menschen ins Zentrum der Überlegungen zu rücken, anstelle der Göt-
ter und angestammter herrschaftlicher Strukturen. Hier zeigt sich dann auch die
gleichsam doppelte Hybris gegen die Mächte im Himmel und die auf der Erde
gleichermaßen, hierher rührt vermutlich auch das nach wie vor präsente Gespür
für die Ruchlosigkeit der protagoräischen Formel – gesehen aus der Perspektive
der jeweiligen Restauration entmachteter Oligarchen.
Man sollte dementsprechend, wollte man als Zuschauer mit mimetischem Ge-
spür die auch fatale Wirkung der Formel an sich selbst aus der Perspektive mögli-
cher Zeitgenossen der athenischen Polis genauer erfahren, sich des Schauderns vor
solcher Hybris gar nicht enthalten, weil solches einfach dazugehört. Möglicher-
weise würde man aus der Perspektive ‘gläubiger’ und ‘staatstragender’ Personen
die Hybris darin als geradezu widerlich und abscheulich empfinden. Auch das
wären schlussendlich ‘politische’ Urteile eines Empfindens im Sinne der Diskurse,
wie sie seinerzeit vorgeherrscht haben dürften. Selbst wenn es dabei um die Göt-
ter, um Fragen der Macht und gleichermaßen um profane Interessen gegangen
sein wird, wie andernorts auch, die Empfindungen sind stets auf der Seite der weit-
aus dramatischeren Vorstellungen von Wirklichkeit. In diesem Sinne ist zweifels-
ohne gerade auch das Theatralisierte durchaus ‘wirklich’, mitunter mehr, weil eben
wirkungsvoller. Wenn und falls der – einzelne – Mensch das Maß der res publica,
der öffentlichen Dinge sein soll(te), so wird man im Zuge der allgemeinen öffent-
lichen Willensbildung in der Tat nicht umhinkommen, Überzeugungsarbeit zu
leisten. Auch hier allerdings geht es zumeist nicht um ‘Wahrheit’, sondern da-
rum, was die große Mehrheit der herrschenden Meinung für wahr hält oder dazu
erklärt; und diese Auffassungen lassen sich wiederum beeinflussen – mit redlichen,
aber auch mit unredlichen Mitteln; darauf hingewiesen zu haben, dürfte das blei-
bende Verdienst der Sophisten sein. – Angesichts der gegenwärtig vorherrschen-
den (Medien-)Gesellschaft ist dieser Befund nun wirklich ausgesprochen aktuell,
gerade im Sinne der Problematik, dass Vieles, Allzuvieles, bis hin zur sogenann-
ten ‘Wirklichkeit’ inzwischen eine Frage ihrer Inszenierung geworden ist. Wir
empfinden, denken und debattieren häufig nicht einmal mehr selbst, wir lassen
empfinden, denken und debattieren.
Noch ein anderer Vordersatz, ein anderes X wäre denkbar, eines, das dem be-
reits vorgeschlagenen auf erstaunliche Weise korrespondiert, weil sich geistige und
weltliche Macht häufig wechselseitig stütz(t)en. Diese Variation würde auch das
Auftreten der Sophisten nochmals genauer beleuchten: Nicht mehr Stand und
Herkunft, sondern der Mensch ist das Maß aller Dinge! Wohlgemerkt: ‘Mensch’
in diesem Sinne bedeutet Bürger; man sollte also möglichst männlich, erwachsen
IM SPIEGEL DES PROTAGORAS
und frei, außerdem sollte man kein Fremder sein und Stadtrechte besitzen. Unter
der Bedingung dieser Voraussetzungen wäre es durchaus interessant gewesen, sei-
nerzeit ‘Mensch’ zu sein und dementsprechend auch ‘Maß’.
Zum Hintergrund: Im Athen des .Jahrhunderts ist die demokratische Bewe-
gung unaufhaltsam auf dem Weg an die Macht. Als im Jahre dem Aeropag
als letztem Instrument der Aristokratie alle bedeutsamen Rechte genommen und
auf die Vollversammlung übertragen wurden, war die konstitutionelle Vormacht-
stellung des Adels endgültig beseitigt. Die öffentliche Meinungsbildung wurde
immer entscheidender, nun konnte mit wohlgesetzten Worten und Argumenten,
mit dem richtigen Auftreten durchaus reüssieren und Karriere machen, selbst wer
nicht dem Hochadel entstammte; infolgedessen wuchs der Bedarf nach Unter-
weisung in diesen Dingen. Neben der Voraussetzung, ein freier Bürger Athens zu
sein, bedurfte es allerdings noch einer weiteren nicht unwesentlichen Bedingung,
man sollte zudem auch vermögend sein. Martin F. Meyer hat dankenswerterweise
die käufliche Gnade des Beisammenseins mit dem von Stadt zu Stadt umherzie-
henden Wanderlehrer in eine Relation gebracht: Für die protagoräische Kursgebühr
von Dr. konnte man immerhin Sklaven erstehen, ein einfacher Arbeiter
hätte für diese Summe Jahre gearbeitet.
Prinzipiell konnte nunmehr jeder Vollbürger, unabhängig von Geburt und Her-
kunft ins Zentrum der Macht gelangen – oder von der Macht abgeschnitten wer-
den, wird man hinzufügen müssen in Bezug auf manchen Sohn alter Adelsge-
schlechter. Hier nun geht die protagoräische Ergänzung der Promethie vollends
auf, entscheidend ist es, in Staatskunst unterrichtet worden zu sein. Derweil un-
terscheiden sich Sophistik und Philosophie kaum mehr, wenn man bedenkt, dass
etwa die Topik des Aristoteles eben genau dieselbe Funktion hatte. Die artes libe-
rales, darunter insbesondere die Dialektik und Rhetorik, so Lothar Bornscheuer in
seiner Studie über Topik als gesellschaftliche Einbildungskraft,
Die Diskurse der Macht sind in der Regel Nullsummenspiele; wo immer Macht
neu zufällt, muss sie zuvor anders zugeordnet worden sein, weil sie nicht neu ent-
steht, sondern nur anders ‘verteilt’ wird. In oligarchischen Kreisen dürften So-
phisten gleichermaßen wie Philosophen verhasst gewesen sein; perpetuierten sie
doch den Erosionsprozess der angestammten Machtstrukturen, ermöglichten und
legitimierten sie es doch erst, dass nunmehr allenthalben Überzeugungsarbeit
geleistet werden musste. Es ist zu vermuten, dass hier dann auch die eigentlichen
Anlässe für die Prozesse zunächst gegen Protagoras und dann auch gegen Sokra-
tes liegen dürften, beide als missliebige Intellektuelle aus dem Wege zu räumen,
weil das Programm der allgemeinen Unterweisung in Angelegenheiten der Staats-
kunst, an dem Sophistik und Philosophie gleichermaßen arbeiteten, den Anspruch
auf Erbfolge und den Erhalt der überkommenen Strukturen auf Dauer unter-
minieren sollte. Niemand durfte seither in der Polis, so Hans Blumenberg, der
Rhetorik das Recht dadurch bestreiten, daß er den Besitz der Wahrheit für sich in An-
spruch nimmt.
Bei Hans Blumenberg findet sich auch eine Deutung des Nachsatzes der Pro-
tagoras-Formel, in dem von Sein oder Nichtsein die Rede ist, als sei Existenz oder
Nichtexistenz gemeint. Blumenberg zufolge geht es dabei generell um die Möglich-
keit negativer Sätze:
“Was schon Protagoras gesehen haben könnte, ist die Heterogenität von Er-
kenntnis und Wirklichkeit, zumindest in einem ganz elementaren Fall: der Un-
terscheidung von existenten und nichtexistenten Gegenständen als einer Mög-
lichkeit, die nur im Urteilen besteht, aber nichts am Vorhandenen abbildet. Das
Nichtexistente ist eben das, was es nicht gibt und was daher auch in einem wah-
ren Urteil des Inhalts, daß es eben dieses nicht gibt, nicht rezeptiv und abbildend
dargestellt sein kann. Die Möglichkeit negativer Sätze beruht darauf, daß der
Mensch das Maß seiner Begriffe aufrichtet und daran das ihm Gegebene mißt;
das Gegebene selbst enthält nicht das Maß, an dem es gemessen wird.”
Blumenberg verweist damit auf die wohl dunkelsten Aspekte dessen, was sich hin-
ter der Homo-mensura-Formel verbirgt. Es sind hauptsächlich zwei Momente
ganz besonders hervorzuheben:
“Nachdem ein Forschungsreisender sich in einem Brief an die Geister der Tso-
dilo-Berge für die Entweihung ihrer Wohnstätte durch seine Expedition ent-
schuldigt hatte, blickte ihn der Buschmann Samutschoso an “und sagte mit vor
Erregung zitternder Stimme: ‘Es ist alles gut Master. Die Geister bitten mich,
Dir zu sagen, daß von nun an für Dich alles gut ausgehen werde. Sie weisen
mich nur noch darauf hin, daß Du, wenn Du an den nächsten Ort Deiner Reise
gelangst, einem neuen Unglück begegnen wirst, das schon auf Dich wartet. Sie
lassen Dir sagen, Du solltest deshalb nicht den Mut verlieren, denn es ist ein
Unglück, das nicht der Zukunft angehört, sondern der Vergangenheit.’”
. Hans Peter Duerr: Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. .Aufl.
Frankfurt am Main , S. .
HEINZ-ULRICH NENNEN
Es mag irritieren, aber die übermittelte Botschaft ist keineswegs paradox. Die Mit-
teilung ergeht im Futurum II, das Unheil wird vergangen sein, noch ehe es eintre-
ten kann. Gleichwohl stand der Ort des Geschehens bereits fest, an der nächsten
Station hätte das Ereignis definitiv stattgefunden. Das Unheil hätte dort seinen
Lauf genommen, dass wird hier unmissverständlich zu verstehen gegeben. Nun
hat aber die geleistete Abbitte ihre Wirkung nicht verfehlt und Genugtuung
erzielt. Zwar ist das Unglück noch immer ‘vor Ort’, es ‘wartet’ nach wie vor, aber
es ist inzwischen ‘gebannt’, es ist um seine Wirkung gebracht, es wird sich nicht
mehr auswirken können, denn es wurde ‘neutralisiert’.
Es wäre nicht abwegig, zu vermuten, zwischen der Homo-mensura-Formel und
der seinerzeit noch weitaus mehr inkriminierten Aussage von Protagoras über die
Götter könnte ein Zusammenhang bestehen, der die Deutung der Formel sehr
viel sicherer machen würde. Auch hier ist wieder nur ein Fragment auf uns ge-
kommen:
“Von den Göttern vermag ich nichts festzustellen, weder, daß es sie gibt, noch,
daß es sie nicht gibt, noch, was für eine Gestalt sie haben; denn vieles hindert
ein Wissen hierüber: die Dunkelheit der Sache und die Kürze des menschli-
chen Lebens.”
Demnach hatte der Satz des Protagoras stets das Imaginäre zum Thema, auch bei
der Frage nach dem Maß, auch bei der Entscheidung über Existenz oder Nicht-
existenz.
Es zeigt sich, dass dieses Maß, das der Mensch für die Dinge ist, erst vom Men-
schen an die Dinge herangetragen wird. Es zeigt sich auch, dass es womöglich für
die Dinge irrelevant ist, ob ihnen nun unsererseits Existenz zugebilligt wird oder
nicht. Das mag nun bei Ahnen, Geistern und Göttern sich durchaus anders ver-
halten, sofern man geneigt ist, den Berichten darüber zu folgen, – womit im Übri-
gen das Maßnehmen bereits begonnen wäre, unversehens wäre der Zuschauer
dann auf die Bühne geraten. Es kommt aber vielmehr darauf an, die Sirenen-
passage der Homo-mensura-Formel einmal bis zum Ausgang durchgestanden zu
haben, erst dann sollte man dazu übergehen, darüber zu befinden, welche Dinge
nun existieren (sollen) und welche nicht. Der auf diese Weise erlittene Relativis-
musschock sollte eigentlich heilsam sein, denn wir sind mitunter, wenn man die
Eskapaden naiver Realisten eingehender betrachtet, keinen Deut besser oder gar
aufgeklärter als manche der von uns so verachteten anderen Epochen oder frem-
den Kulturen. Ließe sich der Satz des Protagoras so ausdeuten, dass wir stets die
Maße selbst vorgeben, an denen und mit denen gemessen wird, so würde auch
daraus alles andere folgen als die schon fast wie selbstverständlich erwartete Selbst-
bestätigung. Hier wäre nur wieder Maß genommen worden anhand einer trügeri-
schen Erwartung, die nur wie selbstverständlich erscheint; nichts enthebt uns daher
der Verständigung darüber, was denn die richtigen Maßstäbe sein könnten, nicht
nur ob und welche Dinge sein sollen, sondern auch wie. Insofern ist die Welt, was
im Sinne unserer Vor-Stellungen der Fall ist; diese Vorstellungen selbst zu thema-
tisieren, erscheint oft als ausgesprochen schwieriges Unterfangen. Man meint über
konkrete Dinge zu befinden, thematisiert aber Vorstellungen davon und missver-
steht sich häufig viel zu sehr, als dass die Diskurse noch würden Sukzessions-
prozesse vollführen können. Auch und gerade das falsche Maß wäre durchaus im
Sinne der Protagoras-Formel gleichfalls verbindlich.
Es scheint fast, als wiederholte sich die protagoräische Schlüsselszene im Pro-
metheus-Mythos erneut unserer Tage. Wieder werden Techniken beherrscht, wie
seinerzeit der Städtebau, wieder besteht ganz offensichtlich die Gefahr, über das
notwendige Orientierungswissen nicht zu verfügen, womöglich gänzlich verfehlte
Maßstäbe an die neuen Techniken anzulegen. Jahrhunderte sollte klar unterscheid-
bar bleiben, wofür Götter und wofür Menschen zuständig waren. Viele vormals
göttliche Obliegenheiten, etwa darüber zu befinden, wann Leben beginnt, wie weit
man in die genetischen Codes eingreifen sollte, wie sich das Klima der Erde stabi-
lisieren lässt, allzu viele dieser Zuständigkeiten sind inzwischen durch Technik auf
den Menschen übergegangen. Sind es dann ‘göttliche’ Maßstäbe, mit denen wir
Menschen alsbald werden messen müssen? Der Mensch als Maß? – Nicht wirk-
lich.
Ein Blick in den Spiegel des Protagoras dürfte genügen. Seinerzeit fehlte die
Staatskunst, die technisch möglich gewordenen Städte tatsächlich bewohnen zu
können. Fehlt derzeit womöglich wieder eine entsprechende zusätzliche Gabe?
Hippolytos und Phaidra; Sarkophag vom Anfang des .Jahrhunderts nach Christus im Museo Gregoriano Profano (Rom)
Aus: H.Sichtermann/G.Koch: Griechische Mythen auf römischen Sarkophagen, Tübingen: Wasmuth, , Taf. /
DER HIPPOLYTOS DES EURIPIDES
DIE TRAGÖDIE ALS KOMMENTAR ZU EINER LESART
DES HOMO-MENSURA-SATZES
Eva Lidauer
Euripides gilt seit alters her als Philosoph der Bühne. Der jüngste der drei großen
Tragiker war mit der Geisteswelt der griechischen Vergangenheit vertraut und
stand auch den Strömungen der eigenen Zeit offen gegenüber. In die Überlegun-
gen seiner Dramengestalten ließ er immer wieder Gedanken einfließen, die von be-
rühmten Dichtern und Philosophen formuliert worden waren. Freilich gilt für der-
lei “Gedankenzitate” dasselbe wie für alle anderen Aussagen, die ein Dramatiker
seinen Figuren in den Mund legt: Man darf nicht einfach davon ausgehen, dass er
selbst zu uns spricht. Wenn Äußerungen in den Tragödien des Euripides auf einen
bestimmten Philosophen zurückgeführt werden können, ist er folglich noch lange
nicht als dessen Anhänger zu betrachten. Euripides war vielmehr ein kritischer
Dichter, der zur Beleuchtung existenzieller Fragen auf der Bühne verschiedene
Positionen durchspielte und dabei auch die Konzepte anderer kluger Köpfe in
eine lebendige Auseinandersetzung brachte.
In vielen euripideischen Tragödien hat die Sophistik Niederschlag gefunden,
sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht. Mit dem formalen Aspekt ist
hier die rhetorische Argumentationskunst gemeint, mit der Dramenfiguren ihren
Standpunkt präsentieren oder ihr Gegenüber zu beinflussen suchen. Das in solchen
Reden enthaltene sophistische Gedankengut ist von der Absicht, das schwächere
Argument zum stärkeren zu machen, kaum zu trennen, und so verwundert es
nicht, wenn dabei Themen und Lehren auftauchen, die Sophisten in Umlauf ge-
bracht haben. Diese Vertreter der sog. griechischen Aufklärung bildeten zwar kei-
ne Schule(n), stellten insgesamt aber eine Bewegung dar, die den Zeitgeist des
.Jh.v.Chr. entscheidend prägte. Vieles, was bis dahin gegolten hatte, wurde nun
in Frage (und/oder auf den Kopf ) gestellt, der Mensch suchte seine Stellung in
der Welt neu zu bestimmen. Relativismus, Subjektivismus und Individualisierung
sind Schlagwörter, die den damaligen Mainstream unter einen gemeinsamen Nen-
ner bringen.
. Laut Athenaios, Deipnosoph. IV e, ist Euripides Ø skhnikóß filósofoß, und Vitruv, De
arch. VIII , berichtet über Euripidem, quem philosophum Athenienses scaenicum appellaverunt.
. Maier, S., weist darauf hin, dass Euripides das Attribut “Bühnenphilosoph” “auch we-
gen seiner geistigen Affinität zur Sophistik erhalten” hat und “wie kein anderer die in jener
Epoche erkennbaren Strömungen in sein Werk einfließen” ließ.
EVA LIDAUER
Als Archeget ist Protagoras zu nennen und mit ihm der Homo-mensura-Satz,
der auf den Punkt brachte, was in der Luft lag. Wie Protagoras diese seine Aus-
sage: “Aller Dinge Maß ist der Mensch” verstanden wissen wollte, ob deskriptiv
oder normativ, ob auf den Menschen als Spezies oder als Individuum bezogen,
ob rein erkenntnistheoretisch oder auch ethisch oder wie immer, ist nicht mehr
festzustellen, weil der Kontext verlorengegangen ist. Euripides aber hat, wie ich
im Folgenden darlegen werde, die Idee vom Menschen als Maß auf seine Weise
aufgegriffen und kann durch sein Verständnis als Beispiel dafür genommen wer-
den, wie man den Homo-mensura-Satz auch interpretiert hat.
Besonders gut kann das die Tragödie Hippolytos beleuchten: Jede der darin auf-
tretenden Personen, die Götter, der Gang der Handlung sowie deren Ergebnis
lohnen es, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet zu werden.
Die uns erhaltene Hippolytos-Tragödie wurde im Jahre v.Chr. aufgeführt
und brachte Euripides zusammen mit den anderen Stücken der Tetralogie einen
Sieg im Agon ein. Sie gilt als eines der vielschichtigsten, großartigsten Werke nicht
nur ihres Autors, sondern der Weltliteratur überhaupt.
Die Handlung ist zwischen die Monologe zweier Göttinnen eingespannt, die mit-
einander in prinzipiellem, ständigem Widerstreit stehen. Dieser vollzieht sich in
der Welt der Menschen, die von ihnen als Werkzeug benutzt werden.
Aphrodite initiiert das Geschehen, weil der junge trözenische Königssohn
Hippolytos von ihr nichts wissen will, ihrer Gegenspielerin Artemis hingegen
sein Leben geweiht hat. Um ihn für die Missachtung zu strafen, versetzt Aphro-
dite seine Stiefmutter, die Königin Phaidra, die Gattin seines Vaters Theseus, in
rasende Leidenschaft für Hippolytos. Phaidra versucht ihre verbotene Liebe zu
verbergen, wird aber krank davon und beschließt zu sterben. Ihre Amme will sie
daran hindern und bedrängt sie derartig, dass sie das Geheimnis schließlich preis-
. VS B : pántvn xrhmátvn métron ™stìn ‚nyrvpoß (t<n mèn πntvn ‹ß ∑stin, t<n
dè oΩk πntvn ‹ß oΩk ∑stin).
. Vgl. Taureck, S.; Zecha, S. .
. Auch einige andere Themen, die von Sophisten in Umlauf gebracht worden waren, haben
im Hippolytos Niederschlag gefunden, doch kann darauf hier leider nicht eingegangen wer-
den. Minadeo, S., meint sogar: “Euripides wishes to invest the whole with a sophistic
coloring.” Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Homo-mensura-Satz eine Rolle
spielt, umso größer.
. Sie wird im Unterschied zu Euripides’ erster, die beim Publikum durchfiel, Hippolytos ste-
phanephóros genannt.
DER HIPPOLYTOS DES EURIPIDES
gibt. Gegen Phaidras Willen trägt diese die Liebe ihrer Herrin dem Hippolytos
an, der in einem Zornesausbruch alle Frauen verflucht. Zufällig hat die Königin
diese Szene mitgehört, und um ihre eigene sowie die Ehre ihrer Familie zu retten
und ihren Stiefsohn zu demütigen, erhängt sie sich und verleumdet ihn, indem
sie in einem an Theseus gerichteten Brief behauptet, Hippolytos habe sie verge-
waltigt. Als Theseus zurückkehrt und die Leiche seiner Frau mit dem unglück-
seligen Brief vorfindet, gerät er in blinde Wut gegen Hippolytos und benutzt ei-
nen der drei Wünsche, die er bei seinem Vater Poseidon frei hat, um dem eigenen
Sohn den Tod zu bereiten. Der Meeresgott schickt daraufhin einen ungeheuren
Stier ans Ufer, wo Hippolytos mit einem Pferdegespann in die Verbannung un-
terwegs ist; die Tiere scheuen und gehen durch, sodass Hippolytos zu Tode ge-
schleift wird. Bevor er seinen Geist aushaucht, tritt Artemis auf, um ihm und
Theseus die grausame Wahrheit zu entdecken. Hippolytos verzeiht seinem Vater
und stirbt.
a) Hippolytos
Gleich zu Beginn des Stücks, im Prolog, erklärt Aphrodite, die heimliche Draht-
zieherin, warum sie die Handlung in Gang gesetzt hat: Sie wird sich an Hippoly-
tos rächen (timvrªsomai), weil er sich ihr gegenüber versündigt hat (Ìmárthke,
V.; das Perfekt drückt aus, dass Hippolytos in dieser Fehlhaltung verharrt und
deren Folgen zu tragen haben wird). Er bezeichnet Aphrodite nämlich als die
schlechteste Göttin (kakísthn daimónvn, V.) und verschmäht den ihr zugehö-
rigen Bereich, die körperliche Liebe, während er ihre Gegenspielerin, die jungfräu-
liche Artemis, verehrt und für die größte Göttin hält (megísthn daimónvn, V.).
Der erste Auftritt des Hippolytos bestätigt seine von Aphrodite missbilligte
Grundhaltung und wirft darüber hinaus ein Licht darauf, wie dieser junge Mann
sich und andere, die nicht so sind und denken wie er, beurteilt:
Hippolytos bringt Artemis einen Kranz von Blumen dar, die er auf einer unbe-
rührten Wiese gepflückt hat, und betont dabei, dass er als einziger der Menschen
das Recht dazu habe (), denn nur, wer aufgrund seiner Natur ein sexuell völlig
enthaltsames Leben führe (™n t§ fúsei tò svfroneîn e}lhxen e⁄ß tà pánt' åeí,
f.), dürfe auf jener Wiese Blumen pflücken, den Schlechten sei dies nicht gestat-
tet (toîß kakoîsi d' oΩ yémiß, ). Demgemäß stuft Hippolytos Menschen, die
nicht absolut keusch leben, als “schlecht” ein. Dabei geht er in seinem Urteil über
die gängige griechische Moral hinaus: Wer einen heiligen Ort betrat, musste Ågnóß
(“rein”) sein, was aber nicht absolut gemeint war, sondern im Sinne der Beachtung
kultischer Reinheitsvorschriften, die durch bestimmte Riten erfüllt werden konn-
ten. Hippolytos setzt die Ågneía nicht nur dadurch absolut, dass er sie auf das pro-
fane Leben ausweitet und an sittliche Reinheit bindet, sondern auch insofern, als
er sie nur dann voll anerkennt, wenn sie angeboren ist. Sich selbst sieht er als den-
jenigen, der allein diese Forderung erfüllt, alle übrigen als minderwertig an – doch
er schreibt sich “die Exklusivität seines Anrechts auf diese Form der Verehrung der
Artemis … zu Unrecht zu.”
Hippolytos hat sich nicht nur die ihm gemäße Lebensweise ausgesucht, son-
dern er betrachtet sie auch als die einzig richtige – eine zwar im Hinblick auf Arte-
mis makellose Daseinsform, doch in der Abwertung aller anderen Menschen, die
ihr Leben durchaus auch in einer von Göttern sanktionierten Art und Weise füh-
ren können, von extremer Ausschließlichkeit. Hippolytos ist ein fanatischer An-
hänger der Artemis, und doch hat er sogar an ihr nur die Aspekte ausgewählt, die
ihm gefallen: Er verehrt sie als Göttin der Jungfräulichkeit und der Jagd, “vergisst”
aber, dass Artemis auch Geburtsgöttin ist und sie daher Sexualität nicht zur Gänze
verdammen kann.
Cairns hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Keuschheit der Artemis nicht
Geschlechtslosigkeit, sondern unberührte Geschlechtlichkeit bedeutete, die diese
jungfräuliche Göttin zwar in persona verkörperte, von ihren Anhängern, die meis-
tens und typischerweise Mädchen waren, aber nicht auf Lebenszeit forderte: Arte-
mis wurde verehrt im Hinblick auf eine gegenwärtige Ungezähmtheit, die von
dem darauffolgenden Zustand der Unterwerfung unter das Joch der Ehe abgelöst
werden und mit ihm kontrastieren sollte. Hippolytos widersetzt sich dieser Bestim-
mung, er verharrt in dem Zustand des Übergangs vom Jüngling zum Mann und
weigert sich, zu dem zu werden, was Aphrodite und die Gesellschaft von ihm ver-
langen: ein verheirateter Familienvater, der auch als Bürger in der Polis Verant-
wortung übernimmt.
Hippolytos selber ist es also, der Geschlechtlichkeit nicht ins Leben integrieren
will, und deshalb hat er sich den Kult um Artemis auf sein Maß zurechtgeschnit-
. Vgl. Barrett, S.f.: Die verlangte Reinheit war eine formale, die in der Praxis des .Jh.v.Chr.
darin bestand, Tabus zu beachten, d.h. physische Befleckung wie die Berührung mit Geburt,
Sexualität und Tod zu vermeiden oder durch rituelle Reinigung zu beseitigen.
. Wagner, S..
. Vgl. Wagner, S. , ; Danek, S. .
. Dieser Aspekt der Artemis klingt an in der Parodos, die auf die Szene der Auseinanderset-
zung des Dieners mit Hippolytos folgt: Der Chor preist Artemis als Helferin der Gebären-
den (V. –).
. Vgl. Cairns, S.; Blomquist, S. .
DER HIPPOLYTOS DES EURIPIDES
ten, um dem, wie Barrett es nennt, “strange and exclusive puritanism of his own”
zu huldigen. Im Grunde betet Hippolytos sich selbst an – was ihm sein Vater
auch vorwirft (). Stets kreist der junge Mann um sich und seine spezielle Tu-
gend und verliert so den Blick für den Rest der Welt. Wäre dies noch akzep-
tabel, so ist es seine Intoleranz sicherlich nicht – Hippolytos glaubt, das Maß
für alle darzustellen.
Die Einseitigkeit des Jünglings, den der Mythos sinnigerweise als Sohn einer
Amazone einführt, zeigt sich im euripideischen Drama auch in der Wortwahl:
Erstens schränkt Hippolytos das weitgefächerte Spektrum bestimmter ethischer
Wertbegriffe in einer für ihn charakteristischen Weise ein. Dies ist der Fall bei den
Adjektiva s√frvn, Ågnóß und semnóß sowie deren Wortfamilien.
Das Eigenschaftswort s√frvn enthält s<ß (“gesund”) und frªn (“Sinn”) und
heißt in erster Linie “bei klarer Besinnung, bei gesundem Verstand, verständig, ver-
nünftig, klug, weise”, weiters “besonnen, leidenschaftslos, maßvoll, enthaltsam,
sittsam, züchtig”, auch “ehrbar”, “tugendhaft” und “bescheiden”. Das davon abge-
leitete Substantiv, svfrosúnh, bezeichnet eine der vier griechischen Kardinal-
tugenden und bedeutet, dass jemand die ihm gesetzten Grenzen erkennt und ein-
hält sowie seine Triebe und Neigungen unter Kontrolle hält – dazu gehören “ge-
sunder Verstand, Klugheit, Besonnenheit”, ebenso “Mäßigung der Begierden” und
“Selbstbeherrschung” , die in “Enthaltsamkeit, Sittsamkeit, Züchtigkeit” und “Be-
scheidenheit” zum Ausdruck kommen. Das dazugehörige Verb svfroneîn be-
deutet “verständig/vernünftig/klug sein”, dann auch “enthaltsam sein”, “sich tu-
gendhaft und bescheiden zeigen”.
Hippolytos bezieht sich vor allem auf die Teilkomponente der sexuellen Ent-
haltsamkeit (, ; das sagen auch andere von ihm: Aphrodite , Artemis
, Theseus zynisch ); darin zeichnet er sich vor allen anderen aus und nimmt
daher für sich in Anspruch, der Tugendhafteste zu sein (, ). In dieser Ver-
absolutierung treibt er freilich die svfrosúnh bis zur Widersprüchlichkeit: Hip-
polytos verliert seine “Bescheidenheit im Sinne der Bewußtheit der eigenen Gren-
zen” und verhält sich intolerant gegenüber anders denkenden und anders empfin-
denden Menschen – was keine Kleinigkeit ist, ganz im Gegenteil: Gerade die Über-
heblichkeit des unerfahrenen jungen Mannes, die in seinem Zornesausbruch krass
und verletztend zutage tritt, ist es, welche Phaidra zur grausamen Rache provoziert
und damit zur Katastrophe führt: – kündigt sie an, sie werde mit ihrem
Selbstmord auch dem Hippolytos Verderben bereiten, damit er zu der Einsicht
komme, dass er sich über ihre Not nicht erhaben fühlen dürfe; wenn er an ihrem
Schmerz Anteil bekommen habe, werde er Bescheidenheit erlernen, svfroneîn
mayªsetai. Als es so weit ist, erkennt der Jüngling, der sich über “erlernte” Tu-
gend erhaben fühlte ( f.), tatsächlich, dass er in jener Situation von seiner sv-
frosúnh nicht rechten Gebrauch gemacht hat ().
Hippolytos präsentiert sich selbst als Ågnóß (“heilig”), d.h. “den Göttern ge-
weiht, gottgefällig”, insbesondere “unbefleckt, rein, keusch, unschuldig, jungfräu-
lich” (, ; vgl. ågneúein ), und bezieht damit ein Epitheton auf sich, das
bei Homer hauptsächlich Artemis vorbehalten ist. Hippolytos nennt sich auch
semnóß (), was ebenfalls “heilig” und “rein” bedeutet und den Aspekt der
Ehrenhaftigkeit betont – allerdings auch “hochmütig” heißen kann und, ähnlich
wie s√frvn, auf die Selbstgefälligkeit (vgl. die Vorwürfe des Theseus in und
) und Widersprüchlichkeit des Hippolytos hinweist.
. Vgl. Pl. Symp. c: e¿nai gàr Ømologeîtai svfrosúnh tò krateîn Ìdon<n kaì ™pi-
yumi<n.
. Wagner, S. .
. Indem Phaidra Hippolytos anklagt, vertauscht sie die Subjekt- mit der Objekt-Rolle und
zwingt ihn so zu dem, was sie hat durchmachen müssen: den Kampf um Leben und Ehre
in Wort und Tat sowie die Konfrontation mit ungerechten Vorwürfen, all dies bei einem
geschundenen Körper – vgl. Zeitlin, insbes. S. .
. Vgl. Wagner, S. .
. Vgl. Wildberg, S. .
. Vgl. Wagner, S. .
DER HIPPOLYTOS DES EURIPIDES
Zweitens lassen einige der Worte des Hippolytos auch eine gewisse Rohheit er-
kennen, sowohl, was seinen Charakter an sich, als auch, was seinen brüsken Um-
gangston betrifft. Charles Segal hat insbesondere anhand von Vers auf diese
“Wildheit” aufmerksam gemacht und sieht sie in direktem Zusammenhang mit
der Grausamkeit der Jagd, einer von Hippolytos bevorzugten Tätigkeit. Besagter
Vers steht am Ende seines Auftrages an die Diener, die Pferde zu striegeln, damit
er sie dann, wenn er sich am Essen gesättigt hat, an den Wagen spannen und ge-
hörig tummeln kann. Die für “Essen” und “sich sättigen” verwendeten Wörter sind
es, um die es geht: In borá und korénnusyai schwingen nämlich negative Kon-
notationen mit. Das Substantiv borá bedeutet in zahlreichen Fällen “Fraß” von
Ungeheuern und Tieren, hat bei Euripides, aber auch bei Aischylos, Sophokles und
Aristophanes mit Gefräßigkeit oder Überlebenshunger von wenig vornehmen Per-
sonen oder einem Helden in schrecklicher Lage zu tun und bezeichnet insbeson-
dere die kannibalischen Mahlzeiten des Kyklopen; korénnusyai wird neutral ge-
braucht, von verschiedenen Autoren jedoch für Tiere und Ungeheuer, die Men-
schen verschlingen; an der vorliegenden Stelle legt die Kombination mit borá eine
pejorative Bedeutung nahe.
Die Redeweise des Hippolytos ist oft barsch, wenn er mit anderen spricht, und
abfällig, wenn er sich über andere äußert. So geht der junge Herr auf die Mah-
nungen des Dieners, dass alle Götter zu ehren seien (–), nicht ein, sondern
weicht – bezeichnenderweise – zunächst völlig aus, indem er seinen Jagdgehilfen
obgenannte Befehle gibt, und kommt dann in ironisch-zweideutigem Ton auf die
Liebesgöttin zu sprechen: tÓn sÓn dè Kúprin póll' ™g◊ xaírein légv, “Und
deine Kypris grüße ich vielmals / lasse ich fahren!” (), was in der negativen Les-
art nicht nur bedeutet, dass Hippolytos nichts von Aphrodite wissen will, sondern
sie sogar verwünscht. Der rauhe Ton, in dem er auf die Aufforderung, auch
Aphrodite zu respektieren, reagiert, weist voraus auf die Szene mit der Amme, in
der sein Frauenhass rüde hervorbricht (–).
. Aphrodite drückt die exzessive Jagdleidenschaft des Hippolytos und ihre Verachtung dafür
in Vers aus: y›raß ™jaireî xyonóß, “er rottet das Wild des Landes aus” – vgl. Barrett,
S., z.St. Die Art und Einstellung des Jünglings ist auch in dieser Hinsicht letztlich lebens-
feindlich und steht damit dem entgegen, was Aphrodite bewirkt. – Im Altertum war es laut
Herter (), S., eine “gängige Anschauung…, daß das Waidwerk der Liebe entfremdet.”
. Vgl. v. a. Liddell/Scott/Jones s.v. borá
. Vgl. Segal, S. –, mit genauen Angaben von Autoren und Stellen. Auch Longo, S. ,
Anm., stuft borá als “termine crudo e realistico” ein und konstatiert, dass er vorwiegend
im Cyclops, einem Satyrspiel des Euripides, vorkommt (während korénnusyai in keinem
anderen Werk dieses Dichters begegnet).
. Vgl. Passow, Band II/, s.v. xaírv. – In V. wünscht sich der im Sterben liegende Hip-
polytos, man könne Götter (Dämonen) verfluchen.
EVA LIDAUER
halten, und schreit das hinaus. Phaidra, die unbeachtet mithört, vernimmt
auch dies, und damit ist die Katastrophe besiegelt: Weil die Königin davon aus-
geht, dass ihr Stiefsohn sie verraten wird, beschließt sie, nicht allein in den Tod
zu gehen, sondern Hippolytos mitzureißen.
Phaidras Wunsch, Hippolytos Bescheidenheit zu lehren, geht in Erfüllung. Die-
ser steht bald auf der anderen Seite und muß spüren, wie weh es tut, zu Unrecht
beschuldigt zu werden – was Hippolytos Phaidra angetan hat, kommt jetzt ent-
sprechend ihrem rachedurstigen Wunsch auf ihn zurück: So, wie er übereilt und
selbstgerecht Phaidra als Verbrecherin hingestellt hat, wird er seinerseits unge-
rechterweise verdammt. Dadurch ist er gezwungen, sich selbst mit den Augen an-
derer zu sehen, er erfährt am eigenen Leib, dass er nicht so rein und unberührbar
ist, wie er geglaubt hat, und muss erkennen, dass andere ihn als schlecht betrach-
ten. Jetzt, wo ihm das Bewusstsein menschlicher Schwäche nicht mehr fehlt,
wird der junge Mann fähig, Verständnis und Mitgefühl für andere aufzubringen,
er wächst über sich hinaus und erweist sich zur Gänze als s√frvn, sein wahres
Ethos kommt zum Vorschein – denn Hippolytos reagiert ganz anders als Phaidra:
Völlig frei von Rachegefühlen erhebt er sich im Sterben zu wahrhafter Größe, in-
dem er seinem Vater verzeiht und ihn so von der Blutschuld befreit (). Durch
Leid und schreckliche Schmerzen hat Hippolytos eine neue Sichtweise bekom-
men, und er entspricht der Weitung seines Blicks durch großzügiges Handeln,
den einzigen humanen Akt in dieser Tragödie.
b) Der Diener
Auch der Diener geht von seinen eigenen Vorstellungen aus, wenn er über Gott-
heiten spricht. Er ist ein frommer, umsichtiger Mann, der seinen Herrn in diplo-
matischer Art und Weise auf den Abstand zwischen Gottheit und Mensch auf-
merksam macht sowie darauf, was den Göttern zusteht: Er spricht Hippolytos
mit ‚naj an, denn nur Götter dürfe man despótaß nennen (; beide Ausdrü-
. Barrett, S. f. u. f., meint, im Unterschied zu zahlreichen anderen Interpreten, dass
Hippolytos Phaidra sehr wohl bemerkt hat, es während seiner Invektive aber nicht über sich
bringt, direkt zu oder von ihr zu sprechen, sondern sie in seine allgemeinen Aussagen ein-
schließt und auf diese indirekte Weise seine Verachtung noch mehr zum Ausdruck bringt,
als er das mit einer offenen Anklage könnte.
. Vgl. Luschnig, S. .
. Vgl. Crocker, S. ; Köhnken, S. .
. Vgl. Crocker, S. .
. Die Weisheit páyei máyoß, “Lernen durch Leid”, ist die Grundaussage der griechischen
Tragödie.
. Vgl. Merklin, S. .
EVA LIDAUER
cke bedeuten “Herr, Herrscher, Gebieter”), und weist diesen darauf hin, dass er
Aphrodite begrüßen solle, denn sie sei eine hohe, ehrwürdige Göttin. Zweimal (,
) hebt er ihre Erhabenheit hervor, beidemale mit demselben Wort und wohl
kaum zufällig genau mit einem der Adjektive, die Hippolytos für sich selbst in An-
spruch nimmt, wenn auch in einem anderen Sinn: Es ist semnóß/-ª, im allgemei-
neren und besonders auf Gottheiten bezogenen Sinn (so auch , , und
) “verehrungswürdig, ehrfurchtgebietend, erhaben, heilig”, auf Menschen an-
gewandt in positiver Bedeutung “ehrbar, anständig, rein”, in negativer “hochmü-
tig, stolz, anmaßend” (, , , ). Dieses Eigenschaftswort enthält im
Kern, was den Charakter des Hippolytos ausmacht, im Guten wie im Schlechten,
und es scheint, als verwende der Diener es genau deshalb.
Als der junge Herr seine Ablehnung Aphrodites bekundet, mahnt ihn der Die-
ner noch einmal ausdrücklich (und umsonst), dass man Götter ehren müsse ().
Hippolytos reagiert verächtlich, worauf der treue Diener zu Aphrodite betet, sie
möge jenem seinen jugendlichen Hochmut verzeihen; abschließend bekräftigt er
seine Bitte mit folgender Begründung: sofvtérouß gàr xrÓ brot<n eînai
yeoúß, “denn klüger als die Menschen sollen Götter sein” (). Es ist nicht nur
Wunschdenken, sondern auch eine moralische Betrachtungsweise, die er auf die
Götter überträgt, und sie sagt aus, dass sich die Menschen nur Götter vorstellen
wollen, die ihrem Idealbild entsprechen – in anderen Worten: Der Mensch nimmt
das Maß für die Götter an menschlichen Kategorien! Hinter dieser Aufforderung
des Dieners verbirgt sich durchaus keine Unverfrorenheit; er sieht im vollkomme-
nen, vorbildlichen Verhalten von Göttern vielmehr eine Notwendigkeit, wie in
xrÓ zum Ausdruck kommt. Grundlage dieses Empfindens ist zwar nicht der
Homo-mensura-Satz als solcher, sondern die Sehnsucht des Menschen nach Ge-
rechtigkeit und damit nach gerechten Göttern, wie sie bereits in der Odyssee be-
gegnet; doch entspricht dieser moralische Anthropomorphismus ganz dem Den-
ken einer Epoche, in deren Mittelpunkt der Mensch gerückt ist – ein auf sich
selbst gestellter Mensch, der seine sittlichen Werte autonom zu setzen beginnt.
c) Phaidra
Ihren berühmten Monolog (–) beginnt die Königin, indem sie dem Chor
trözenischer Frauen von den Überlegungen berichtet, die sie in langen Nächten
. Vgl. Xen. Anab. III , : oΩdéna gàr ‚nyrvpvn despóthn, ållà toùß yeoùß pros-
kuneîte.
. Die höhere Einsicht und Weisheit, die der Diener für die Götter postuliert, ist gebunden
an eine für Euripides charakteristische Verwendung des Begriffes sofía, der in “Weisheit”
auch “sittliche Einsicht” und “Moralbewußtsein” miteinschließt – vgl. Maier, S. .
. Vgl. Maier, S. , mit weiterführender Literatur in Anm. .
DER HIPPOLYTOS DES EURIPIDES
angestellt hat. In Phaidras Erforschung der Umstände, durch die das Leben der
Menschen verdorben wird, ist sie zu der Anschauung gekommen, dass diese das
Gute zwar oft erkennen, es aber nicht tun, aus welchem Grund auch immer – sei
es aus Trägheit, Sich-Gehen-Lassen, weil sie etwas Lustvolleres vorziehen oder aus
falscher Rücksichtnahme. Viele Interpreten sehen in dieser Passage eine Kritik des
Euripides am sokratischen Tugendwissen, dem zufolge schlechtes Handeln in einer
falschen Beurteilung der Dinge gründe und jeder, der das Richtige erkannt habe,
sozusagen automatisch das Gute tue. Man kann diese Beobachtung der Phaidra
aber auch als eine auf den Alltag angewandte Folgerung aus dem Homo-mensura-
Satz des Protagoras betrachten: Anstatt ethisch zu handeln, tut der Mensch lieber
das, wonach ihm ist, in anderen Worten: Er orientiert sich nicht primär an göttli-
chen Gesetzen, dem gesellschaftlichen Sittenkodex oder der Gerechtigkeit, sondern
nimmt sich selbst als Maß und verfolgt den eigenen Nutzen.
Eine solche Einstellung bringt es mit sich, den Emotionen eher zu folgen als
dem Wissen darum, was recht wäre. Obwohl Phaidra sich gegen diese Tendenz
wehrt und hohe Ansprüche an moralisches Verhalten stellt, erliegt sie letztlich ih-
ren Schwächen: der Liebe zu Hippolytos, der geringen Widerstandskraft gegen
Einfluss von außen, der Abhängigkeit von der Meinung, welche die Gesellschaft
von ihr haben könnte. So bricht Phaidra zuerst, indem sie sich von der Amme ihr
Geheimnis entlocken lässt, ihre Verschwiegenheit, dann gibt sie jener die Zügel in
die Hand und folgt auf diese Weise ihrer Liebesleidenschaft; daraufhin lässt Phaid-
ra durch Verleumdung des Hippolytos ihrer Rachsucht freien Lauf und zieht sich
durch Selbstmord aus der Affäre, um nicht in Schande zu fallen. Der gute Wille,
den sie zweifelsohne hatte, konnte sich in ihren inneren Kämpfen nicht durchset-
zen – was Pohlenz darauf zurückführt, dass Phaidras Tugendhaftigkeit im Gegen-
satz zu der des Hippolytos nicht wesenhaft, sondern anerzogen ist: “darum versagt
sie bei der ersten starken Versuchung, und dieselbe Rücksicht auf das Urteil der
Mitmenschen, die sie vorher auf der Bahn der Tugend erhielt, macht sie nachher
zur Verbrecherin.” Andere hält sie für gleichermaßen anfechtbar: Letztlich zieht
Phaidra die Eidestreue ihres Stiefsohnes deshalb in Zweifel, weil sie das Maß für
ihn an sich selbst nimmt, d.h. an ihrer Rachsucht und an ihrem Egoismus.
Als Phaidra an diesem Punkt angelangt ist, ändert sich ihr Verhalten drastisch:
Hat sie zuerst ihren Gefühlen und dem Zureden ihrer Kammerfrau nachgegeben,
so legt sie jetzt Kälte und Entschlossenheit an den Tag. An ihrem planvollen Vor-
. Auf die immer wieder aufflammende Diskussion, wie a⁄d√ß zu verstehen sei, kann ich hier
nicht eingehen.
. Der Chor bezeichnet Phaidras Selbstmord als gottlosen Tod (ånosí_ sumforÄ, V. f.).
Suizid war bei den alten Griechen ein umstrittenes Thema; geschah er aus Gründen der Ehre,
wurde er anscheinend akzeptiert.
. Pohlenz, S. .
EVA LIDAUER
gehen, von dem sie die Amme ausschließt, zeigt sich, dass Phaidra bewusst den
Verstand einsetzt, um die befürchteten Folgen ihrer Schwachheit zu verhindern.
Sie handelt allein nach eigenem Ermessen und Interesse, aus dem Hinterhalt,
ohne Rücksicht und ohne Zögern. Den Anschein von Tugend zu wahren, ist ihr
so wichtig, dass die echte Tugend dabei auf der Strecke bleibt. Phaidra schreckt
weder vor dem Tod noch davor zurück, den eigenen Körper als Mittel zu be-
nutzen: Ihre Leiche soll die “Schuld” des Stiefsohnes beweisen. Desto größer ist
Phaidras Schuld, umso krasser das Beispiel dafür, was herauskommt, wenn sich ein
Mensch zum Maß der Dinge macht.
Während Phaidra lange gezögert hat, ihre Leidenschaft zu offenbaren, scheint
sie keine Überlegung darüber anzustellen, Hippolytos mit ins Verderben zu rei-
ßen. Sie hofft nicht nur, durch seine Verleumdung ihre Schande zu verbergen, son-
dern will ihn, wie sie selber sagt, Bescheidenheit lehren (). In ihren Gefühlen
ist sie verletzt, jetzt nimmt sie keinerlei Rücksicht auf die Gefühle des Hippolytos
oder des Theseus: Um selber gut dazustehen und Rache zu üben, schwärzt sie ih-
ren Stiefsohn auf übelste Weise an. Die Leidenschaft hat sich in Hass verwandelt,
von wahrer Liebe ist keine Spur erkennbar, in ihrer Eigennützigkeit und Skrupel-
losigkeit gebärdet sich Phaidra wie die Aphrodite dieses Dramas, sodass die Göt-
tin wie eine Extrapolation Phaidras erscheint – und die gefallene Heroine damit
. Vielleicht legt Phaidra auf ihren guten Ruf deshalb so viel Wert, weil ihre Tugendhaftigkeit
hauptsächlich eine äußere Hülle ist: Nicht aus Liebe und Treue zu Theseus sucht sie den
Ehebruch zu vermeiden, sondern weil sie fürchtet, dabei entdeckt zu werden; vgl. V. ,
f., –.
. Phaidra begeht den Selbstmord und den indirekten Mord an Hippolytos zwar unter dem
scheinbaren Zwang der Moral – sie will dem herrschenden Ehrenkodex in jedem Fall ent-
sprechen –, doch sie selbst ist es, die diese Moral auf die Spitze treibt und gesellschaftliche
Anerkennung höher stellt als Menschenleben. In gewissem Sinne ist Phaidra ein Opfer ihrer
Widersprüchlichkeit, doch das entschuldigt ihre Tat nicht.
. Ihr svfroneîn mayªsetai ist, wie Herter (), S. , bemerkt, “die Replik auf Hippo-
lytos’ Schlußwort V. f.”
. In die Angst um ihre Ehre ist immerhin die Sorge um den Ruf und das Erbe der Kinder
miteingeschlossen.
. Das hat auch Minadeo, S. , so empfunden: “for her relationship with Aphrodite, she is
better seen as the goddess’s altera ego by this point, rather then her vessel, so similarly cruel
is the spirit of vindictive retaliation which possesses either.”
. Gegenüber der ersten Version dieser Tragödie ist sie das mit großer Wahrscheinlichkeit
auch: Einen Teil der Rolle, die Phaidra dort gespielt haben dürfte, übernimmt im zweiten
Hippolytosdrama Aphrodite, indem sie Liebe und Rache verkörpert: vgl. Lesky (), S.;
Blomquist, S.f.; Wagner, S.; Lombard, S., Anm.. Lesky und Lombard vermuten,
dass Euripides auf diese Weise Phaidra als Opfer Aphrodites dem Publikum erträglicher ma-
chen wollte; Wagner sieht in der Verlagerung der Emotionen Phaidras auf Aphrodite einen
“Übergang von einem naturhaften Verhalten … zu einem durch Tugenden geregelten” (S.)
DER HIPPOLYTOS DES EURIPIDES
als Opfer ihrer selbst. Mit ihrem Leben zahlt sie den Preis dafür, sich zum Maß
der Dinge gemacht zu haben.
d) Die Amme
Die Amme ist diejenige Person des Dramas, deren Denken und Reden als echt
sophistisch bezeichnet werden kann. Wenn sie sagt, dass die Menschen von keinem
anderen Leben als dem diesseitigen etwas wissen und sich von Märchen (múyoiß)
verführen lassen (–), erinnert dies an die agnostizistische Aussage des Prot-
agoras über die Götter. An die Stelle der Moral setzt sie vernünftigen Kalkül
und untermauert ihn mit meisterhafter Rhetorik: Geschickt versucht die Dienerin
mit Worten, an ihr Gegenüber heranzukommen und es zu überreden – zuerst
Phaidra, dann Hippolytos. Wenn dies auf die eine Art nicht gelingt, probiert sie
eine andere Methode (–; –), immer auf der Suche nach der besseren
Lösung (, , f., f.). Um ans Ziel zu kommen, übt sie Druck aus, und
dabei bedient sie sich nicht nur rhetorischer Mittel, sondern ohne Scheu auch ei-
nes religiösen, nämlich der Hikesie ( ff ., ff .). Um einen Ausweg zu fin-
den, sind die zweiten Überlegungen ihrer Meinung nach oft die besseren () –
auch wenn sie verlangen, den gegenteiligen Standpunkt von zuvor einzunehmen.
Das macht die Lehre von den Antilogiai möglich, dem im gleichnamigen Werk
von Protagoras aufgebrachten Grundsatz, dass man zu jeder Sache zwei entgegen-
gesetzte Positionen einnehmen könne. Dem kommt eine zweideutige Ausdrucks-
weise entgegen, von der die Amme weidlich Gebrauch macht.
Ein weiteres, damit in Verbindung stehendes und ebenfalls von Protagoras zu-
erst formuliertes sophistisches Anliegen war, das schwächere Argument zum bes-
seren zu machen. Phaidras Dienerin tut dies unumwunden: Damit die Herrin
und das ganze “Haus”, so auch die Amme selbst, gerettet werden können, rät sie
und hält fest, dass die zweite Phaidra nur äußerlich umgestaltet ist, weil ihr Verhalten kei-
ner inneren a⁄d√ß entspricht (vgl. S. ff.). – Um das Anstößige an dieser Figur möglichst
gering zu halten, hat Euripides vermutlich auch die Gestalt der Amme benutzt: Sie ist es, die
dem Hippolytos Phaidras Liebe anträgt, nicht die Königin selbst; diese ahnt allerdings davon
und lässt es geschehen.
. Diese Ansicht findet sich bereits bei Crocker, S. .
. VS B : “Von den Göttern kann ich weder wissen, dass sie existieren, noch dass sie
nicht existieren, noch wie sie etwa an Gestalt sind; denn vieles verhindert es, dies zu wissen,
die Ungewissheit und die Kürze des menschlichen Lebens.”
. Die Hikesie ist ein Bittritual, durch das die angeflehte Person vor den Augen des Zeus, des
obersten Gottes und Schutzherrn der Bittflehenden, zur Erfüllung des Anliegens verpflichtet
wurde.
. Vgl. VS B a.
. Vgl. VS B b.
EVA LIDAUER
Phaidra, ihrer Liebe nachzugeben. War die Dienerin zuvor noch bestürzt über
diese unerlaubte Leidenschaft (–; f.), so verkehrt sie jetzt die Moral in
ihr Gegenteil: Plötzlich gibt es keine gegen die Sitten verstoßende Liebe mehr,
denn Kypris müsse man gehorchen, da sie doch eine Göttin sei. Es nicht zu tun,
wäre sogar anmaßend (, f.), hätten doch auch Götter sich ihr gefügt! Um
dies zu unterstreichen, “schleppt” die Amme, wie Lesky es ausdrückt, “alle Ge-
meinplätze über die Allmacht der Kypris … und über die Häufigkeit solcher Fälle
herbei.” Allerdings gibt sie bald darauf zu, dass verbotene Liebe etwas Unschö-
nes (: tà mÓ kalá) ist, das kluge Leute eben verbergen. Statt Wahrhaftigkeit
empfiehlt die Amme Bemäntelung des moralisch Schlechten mit schönen Wor-
ten, statt Prinzipientreue predigt sie lockeres Nachgeben. Mit raffiniert auf Phaid-
ras Lage abgestimmten Vernunftargumenten wendet sie sich gegen das tradierte
Ethos – das allerdings bei vielen ohnehin bereits ausgehöhlt ist, auch bei ihrer
Herrin, die weniger auf Tugend an und für sich als auf den daraus erwachsenden
guten Ruf bedacht ist. In ihrem letzten Angriff auf Phaidras a⁄d√ß ( ff .)
nennt die Amme die Leidenschaft eine Krankheit, der man abhelfen könne, und
bricht mit Doppeldeutigkeiten den Widerstand ihrer Herrin.
Nicht nur im Rat, auch in der Tat zeigt sich die Amme als ein Mensch, der nur
den eigenen Gesetzen gehorcht. Indem sie dem Hippolytos Phaidras Liebe verrät,
setzt sie sich bewusst über den Willen ihrer Herrin hinweg, über deren Wunsch,
ihr Geheimnis zu verschweigen. Und trotzdem scheut sich die Sklavin nicht, ihrer-
seits den jungen Herrn an einen Schweigeeid zu binden. Sie handelt zwar in guter
Absicht, jedoch eigenmächtig, nach ihrem Gutdünken, ohne moralische oder reli-
giöse Skrupel. Als aktive Person bringt sie den Stein ins Rollen – und erreicht da-
mit das Gegenteil von dem, was sie will: Anstatt das Leben Phaidras zu retten, gibt
sie diese der Schande preis und treibt sie so erst recht in den Selbstmord.
Auch am Tod des Hippolytos wird die Amme, ohne es zu ahnen, mitschuldig,
sogar auf doppelte Weise: Erstens ist sie es, die seinen Zornesausbruch hervorruft
und damit die Reaktion Phaidras, die seine verhängnisvolle Hasstirade auf die
Frauen zu Ohren bekommen hat; zweitens verhindert die Dienerin durch den Eid,
den sie ihm abnötigt, eine wirksame Verteidigung gegen den Lügenbrief.
Alles in allem vertritt die Amme das Prinzip, dass der Zweck die Mittel heiligt –
was bedeutet, dass der Einzelne nicht unbedingt nach den Gesetzen der Sittlich-
keit, sondern nach den Überlegungen handeln soll, was für ihn nützlich ist. Inso-
fern geht auch die Amme davon aus, dass der Mensch bei seinen Entscheidungen
den eigenen Bedürfnissen und Sehnsüchten folgen, ergo selbst Maß sein darf. Die-
. Und zwar nach Phaidras Rede, in der diese angekündigt hat, sich das Leben zu nehmen.
. Lesky (), S..
. Vgl. Wagner, S. .
DER HIPPOLYTOS DES EURIPIDES
se Ansicht tritt offen zutage in ihrem Ausspruch, dass Sterbliche das Leben nicht
allzu genau nehmen sollten (), wofür die Dienerin, wie Wagner aufgefallen
ist, die delphische Maxime mhdèn ‚gan (“Nichts allzu sehr!”, f.) als Recht-
fertigung heranzieht: “Aus der Begrenztheit des Menschen () folgert die Amme
die Begrenztheit dessen, was an moralischen Ansprüchen an ihn herangetragen
werden darf.” Doch ihre Rechnung geht nicht auf – der Mensch ist offenbar
doch nicht das Maß der Dinge, zumindest nicht in dem Sinn, wie die pragmati-
sche, sophistisch argumentierende Amme sich das vorstellt. Der Ausgang der
Tragödie weist darauf hin, dass Euripides den Homo-mensura-Satz in Bezug auf
seine mögliche Auswirkung auf das Ethos der Menschen kritisiert.
e) Theseus
Der erfolgreiche attische König, der zahlreiche Heldentaten mit Bravour bestanden
hat, ist es offenbar gewohnt, auf der richtigen Seite zu stehen und Feinde zu ver-
nichten, denn er fühlt sich in seinem Urteilen über andere so sicher, dass er seinen
eigenen Sohn völlig verkennt und ihm keinerlei Chance gibt, sich zu rechtfertigen.
Theseus glaubt Phaidras Verleumdung, ohne sie auch nur einen Moment lang in
Zweifel zu ziehen, und verflucht Hippolytos sofort: Poseidon soll ihn vernichten
(–). Die beherzten Einwände und Mahnungen des Chors, den Fluch zu-
rückzunehmen und von seinem ungerechten Zorn abzulassen, schlägt Theseus ge-
nauso in den Wind wie die Beteuerungen und den Schwur seines Sohnes, Phaidra
nicht angerührt zu haben. Hemmungslos beschimpft der König seinen Sohn und
verbannt ihn – ohne jegliches Vertrauen darauf, dass Poseidon sein Versprechen
hält (, –). Bei anderen Gelegenheiten kommt ebenfalls zum Vor-
schein, dass es Theseus an a⁄d√ß (Ehrfurcht, Respekt) gegenüber den Göttern
fehlt: Als Hippolytos ihm ans Herz legt, seinen Schwur ernst zu nehmen und die
Wahrheit mithilfe von Sehersprüchen zu erkunden, lehnt Theseus dies verächtlich
ab, und zwar mit denselben Worten, mit denen sein Sohn Aphrodite den Respekt
verwehrt hat: póll' ™g◊ xaírein légv, “lasse ich ruhig fahren” (; ). Auch
den Eiden, die Hippolytos bei der Sonne, der Erde und bei Zeus leistet, schenkt
. Wagner, S. f.
. V. ff.; Verbannung bedeutete in der frühen Zeit beinahe ein Todesurteil, da Verbannte
völlig rechtlos waren, man sie straflos töten konnte; bei der Wiederholung des Bannspru-
ches – sagt Theseus, ein schneller Tod wäre zu leicht für einen so unseligen Mann
wie Hippolytos.
. Theseus hatte bei seinem göttlichen Vater Poseidon (nach anderer Überlieferung, der Eu-
ripides in den Versen und folgt, war König Aigeus Vater des Theseus) drei Wün-
sche frei.
. Vgl. Chromik, S. , mit Anm. .
EVA LIDAUER
Theseus keine Beachtung ( ff .; ). Vor allem aber macht er sich dadurch
schuldig, dass er die göttliche Gnade, einen Wunsch erfüllt zu bekommen, als
Werkzeug zur Tötung des eigenen Sohnes missbraucht.
Als am Schluss der Tragödie Artemis Theseus über die Unschuld des Hippo-
lytos und den Hintergrund des Geschehens aufklärt, wirft sie dem Herrscher vor,
weder einen Beweis noch Sehersprüche noch überhaupt etwas abgewartet zu ha-
ben, was die Unschuld seines Sohnes hätte erweisen können (–). Doch
der erfolgsgewohnte Mann der Tat war dazu nicht bereit, nicht nur aus jähzorni-
ger Übereiltheit, sondern auch in der überheblichen Überzeugung, es komme
nur auf sein Urteil an und er habe immer Recht, besitze das Maß, an dem die an-
deren zu messen seien. Bezeichnend ist seine wütende Feststellung, er, der die rie-
senhaften Wegelagerer Sinis und Skiron vernichtet habe, könne sich nicht seinem
Sohn geschlagen geben (–). Nicht nur Theseus’ Wut, auch “die Angst um
sein Renommé verführt in zu einer Kurzschlußhandlung,” wie seine Gattin legt
er zu viel Wert auf den guten Ruf.
Die Vermessenheit des Theseus zeigt sich, ähnlich wie bei seinem Sohn, auch
im Umgang mit dem, was den Göttern gebührt. Chromik (S.) konstatiert: “Das
Verschulden des Theseus im menschlichen Bereich ist … jedesmal gekoppelt mit
einem religiösen Vergehen.”
Wie Hippolytos ist auch Theseus in Egozentrismus gefangen. Immer ist es nur
seine eigene Perspektive, aus der er die Ereignisse sieht: Als er von Phaidras Tod
erfährt, bezeichnet er sich als dustuxÓß yevróß, als Unglücksseher (), und ver-
geht fast vor Selbstmitleid: Phaidra habe durch ihren Selbstmord auch ihn vernich-
tet (); er ruft die Polis an und das Schicksal, das ihn und sein Haus so schwer
getroffen habe, und bezeichnet sich als Elenden in einem Meer des Unglücks, dem
er nicht entrinnen könne; zweimal fragt er kurz, welch schweres Los seine Frau
wohl getragen haben muss, um erneut in Klagen über sein eigenes Leid zu versin-
ken (–). Als er den von Phaidras Hand herabhängenden Brief erblickt,
reagiert Theseus auf ähnliche Weise. Und was das vermeintliche Verbrechen des
Hippolytos betrifft, besteht das Schlimmste für Theseus nicht im Leid, das seine
Gattin dabei erlitten hätte, sondern darin, dass er dadurch seine Ehe geschändet
weiß, also vor allem sich selbst als Opfer betrachtet (–, vgl. , f.).
Die Selbstbezogenheit des Theseus zeigt sich zudem beim Eintreffen der Nach-
richt, dass Hippolytos umgekommen ist: Voller Genugtuung will er wissen, wie der
Schlag der Dike seinen Sohn, der ihn auf niederträchtigste Weise entehrt habe,
getroffen hat (f.). Als Artemis schließlich darlegt, was sich wirklich zugetragen
hat, ahnt Theseus zwar seine eigene schuldhafte Verstrickung, bringt es aber nicht
über sich, Hippolytos, dem er zutiefst Unrecht getan und in den Tod geschickt hat,
um Verzeihung zu bitten – ja, wie zum Hohn fragt er, anstatt dem sterbenden
Sohn beizustehen, was Hippolytos ihm antue ()! Nachdem der junge Mann sein
Leben ausgehaucht hat, beklagt der König am Ende sich selbst ( f.). Sogar in
diesem Augenblick meint Theseus also noch, dass sich alles nur um ihn dreht.
. Obwohl Theseus keine Legitimation von den Göttern eingeholt, ja sich überheblich gegen
Orakel ausgesprochen hat ( ff.), meint er, im Namen der Dike, der Göttin der Gerech-
tigkeit, gehandelt zu haben – vgl. Chromik, S. .
. Lesky (), S., sagt unmissverständlich: “Dem Dichter … ist es auf diese Menschen,
nicht aber auf die Gottheiten angekommen, die deren Schicksal auslösen,” und betont in
Anm., dass “sich der Reichtum menschlicher Bezüge in diesem Stücke keineswegs aus der
Einwirkung der Göttinnen erklären läßt.” So sieht es auch Winnington-Ingram, S.f., der
Beispiele für zusätzliche Handlungsmotivationen nennt, die mit dem Einwirken von Aphro-
dite und Artemis nichts zu tun haben, und zu dem Schluss kommt: “There is a depth and
solidity in this tragedy upon the human plane that cannot adequately be expressed by two
angry and sexually preoccupied goddesses” (S. ); vgl. auch S. .
EVA LIDAUER
lich als die Amme ihm eröffnet, dass Phaidra sich nach ihm verzehrt. Er scheint
zwar nichts von der Anwesenheit seiner Stiefmutter zu wissen, verletzt sie mit sei-
ner Tirade aber zutiefst und tritt damit eine Lawine los.
Phaidras Aktion ist eigentlich eine Reaktion, die auf gekränkter Ehre, einem von
ihr und der zeitgenössischen Gesellschaft sehr hoch bewerteten Aspekt, basiert.
Zum einen möchte sie nach außen hin gut dastehen und ihre Familie vor Schan-
de bewahren, zum anderen Hippolytos die ihr zugefügte persönliche Schmach
heimzahlen.
Die pragmatisch ausgerichtete Amme reagiert und agiert aus reinem Kosten-
Nutzen-Denken heraus. Indem sie die Initiative ergreift, verknüpft sie die Schick-
sale von Phaidra und Hippolytos – im eigentlichen Sinne ist die Amme das In-
strument der Aphrodite.
Theseus verfehlt sich letztlich deshalb, weil er von sich selbst zu viel und von
den anderen, seien es Götter oder Menschen, zu wenig hält.
Allen Protagonisten gemeinsam ist eine verengte Sicht der Dinge, die darin wur-
zelt, dass sie zu sehr von sich selbst ausgehen und ihre beschränkte Welt für die gan-
ze nehmen. Dadurch erliegen sie leicht der Gefahr, Verschiedenes verzerrt wahrzu-
nehmen. Da sie dennoch glauben, mit ihren eigenen Maßstäben auszukommen,
und überdies vorrangig den eigenen Nutzen im Auge haben, sind sie anfällig für
Fehlurteile und falsche Entscheidungen. Diese sind daher nicht isoliert zu sehen
oder etwa als bloße Produkte von Affekten, sondern als Folgen der genannten Ein-
stellungen, die den Personen des Dramas wesenhaft geworden und daher auch in
deren Emotionalität verankert sind. Unter den gegebenen Umständen wirken sie
sich fatal aus, denn besonders unter Druck handeln Menschen nach ihrer Natur.
Aus diesem Blickwinkel geschieht nichts bloß zufällig: Jedes Fortschreiten bis
hin zur Katastrophe erfolgt aus einem jeweiligen Impuls, dem eine Hauptperson
nach der anderen gemäß ihrem Chrarakter folgt und so den nächsten Schritt setzt:
Phaidra gibt ihren Gefühlen nach und lässt sich von der Amme dazu verleiten,
ihr das Geheimnis ihrer verbotenen Liebe anzuvertrauen; die Amme verrät, um
Phaidras Leben zu retten, deren Leidenschaft dem Hippolytos; dieser schmäht sie
und alle Frauen; Phaidra traut ihm deshalb zu, sie der Schande preiszugeben und
sieht sich zum Selbstmord genötigt, den sie gleichzeitig zur Rache an Hippolytos
nützt; Theseus lässt sich täuschen und beschwört unverzüglich das grausame Ende
seines Sohnes herauf.
Auch der versöhnliche Schluss geht vordergründig von einer Göttin, diesmal
Artemis, aus, käme aber nicht zustande, wenn Hippolytos nicht von sich aus be-
reit wäre, seinem Vater zu vergeben – was sich daran zeigt, dass er Theseus nicht
den geringsten Vorwurf macht sowie Artemis ohne jedwedes Zögern und ohne
Widerwillen gehorcht. Indem Hippolytos verzeiht, tut er als Mensch etwas, das
Artemis nach dem Gesetz der Götter nicht möglich ist.
. Den Aspekt der freien Wahl für Hippolytos, Verzeihung zu gewähren, betonen Knox
(S. f.), Chromik (S.) und Lombard (S.), während Köhnken (S. f., Anm.) und
Danek (S. f.) dafür plädieren, dass die Veranlassung durch Artemis unerlässlich sei.
. Vgl. Knox, S. f.
. Dies soll nicht heißen, dass der Charakter keine Rolle spielte, im Gegenteil: Er kann sich
erst dann voll entfalten, wenn “zufällige” Beschränkungen und damit das bloß Augenblick-
hafte wegfallen.
. Wie wichtig dem Dichter dieser menschliche Abschluss der aus allzu menschlichem Ver-
halten entstandenen Tragödie gewesen sein dürfte, ist daraus zu erahnen, dass höchstwahr-
scheinlich Euripides selbst dem Mythos die Versöhnungsszene hinzugefügt hat – vgl. Her-
ter (), S. .
EVA LIDAUER
In gewissem Sinne hat jede der Hauptpersonen einen Anteil daran, dass das Un-
glück seinen Lauf nimmt. Und dennoch ist die Tragik groß, denn die Schwere des
Unheils, in das die Protagonisten stürzen, übersteigt in krassem Maß die Fehler,
die sie begangen haben. Niemand von ihnen ist amoralisch, jeder versucht, seinen
Idealvorstellungen vom Leben gerecht zu werden. Dass sie einander trotzdem zum
Verderben werden, liegt auch an der Konstellation, in der sie aufeinander treffen,
an etwas Übermenschlichem, das wie ein Verhängnis über sie kommt. Diese ver-
nichtende Gewalt wird von den Göttern des Dramas ausgeübt. Welcher Art die
Rolle ist, die sie spielen und inwiefern auch bei ihnen der Homo-mensura-Aspekt
von Bedeutung ist, wird im folgenden Kapitel untersucht.
. Eine solche blitzt hin und wieder auch im homerischen Epos auf, wenn z.B. in der Ilias
Aphrodite Helena in das Bett des Paris zwingt oder Apoll seinen Schützling Hektor dem
Tod überlässt, überwiegt aber nicht und zieht die Majestät der Gottheit nicht in Zweifel.
Zeitlin, S., konstatiert: “Aphrodite’s revenge upon Hippolytos through the displacing of
desire only on to an innocent other (Phaedra) runs contrary to her typical mode of inter-
vention in human affairs.”
. Mit ihrer Ankündigung, dass nächstes Mal sie einen Liebling der Aphrodite ins Verderben
stürzen werde, stellt sich Artemis auf dieselbe Stufe wie ihre Feindin. In der Art und Weise,
wie Aphrodite und Artemis das Handeln und Leiden der Menschen lenken, gleichen sie
einander – was Knox, S. ff., auch anhand von Ähnlichkeiten in sprachlichen Formu-
lierungen eindrucksvoll vor Augen geführt hat.
. Der Chor sieht dies ähnlich: In seinem letzten Stasimon verzweifelt er am Lauf der Welt,
den er mit seinem Glauben an die Götter nicht vereinbaren kann, und hadert mit ihnen
().
DER HIPPOLYTOS DES EURIPIDES
Andererseits ist anzunehmen, dass Euripides, der in seinen Tragödien dem Pub-
likum etwas Sinnhaftes mitteilen wollte, auch eine moralische Aussage bezweckt
hat, und man muss damit rechnen, dass er traditionellen Gottesvorstellungen kri-
tisch gegenübergestanden ist. Insofern besteht die Berechtigung, das Wirken der
Götter in das moralische Weltbild einzuordnen.
Im Hippolytos stellt sich die Frage, inwieweit Euripides die Götter tatsächlich als
solche verstanden wissen wollte, mit besonderer Brisanz, doch auch anhand an-
derer Stücke dieses Dramatikers wird immer wieder diskutiert, ob und in welcher
Weise er die Götter selbst oder das Bild, das die Menschen sich von ihnen ge-
macht haben, kritisiert hat. Zahlreiche Interpreten betrachten Euripides als Auf-
klärer und Rationalisten; die meisten meinen, dass er, beeinflusst von Sophistik
und Naturphilosopie, den traditionellen Götterglauben mehr oder weniger weit
hinter sich gelassen hat. Was er selbst geglaubt haben mag, geht aus seinen Tragö-
dien nicht wirklich hervor, denn es finden sich in ihnen die kontroversesten Aus-
sagen, und auch aus dem Ablauf der Handlungen sowie deren Ausgang scheint
keine in sich stimmige Vorstellung von göttlichem Walten herausdestillierbar zu
sein. “Es gibt,” so formuliert Kullmann, “entweder verschiedene Interpretationen
der göttlichen Wirksamkeit seitens der Handelnden oder Widersprüche zwischen
den Auffassungen der Akteure vom Wesen der Gottheit und dem tatsächlich ge-
schilderten Vorgehen der Götter.”
Eine weitere Schwierigkeit, die Rollen der Aphrodite und der Artemis im Hip-
polytos zu bestimmen, hat man darin gesehen, dass die Handlung im Grunde
auch ohne sie auskäme. Bei der Vorgängerversion dieser Tragödienfassung soll
dies übrigens der Fall gewesen sein: Im Hippolytos kalyptómenos, so wird ange-
. Lesky (), S. , nennt diese Frage “das am tiefsten reichende Problem der Interpreta-
tion” und verweist auf die “sich jeder knappen Formulierung entziehende Vielschichtigkeit
euripideischer Göttergestalten”.
. Vgl. z. B. W. Nestle, Euripides, Der Dichter der griechischen Aufklärung, Stuttgart .
. So wurde er zuerst von A.W.Verrall genannt: Euripides the Rationalist, Cambridge ;
der Gedanke geht aber auf Friedrich Nietzsche in seinem Werk Die Geburt der Tragödie zu-
rück – vgl. Kullmann, S.. Zur Verwendung des Begriffes “Rationalismus” in Bezug auf Euri-
pides vgl. Wagner, S. ff. Der rationalistische und philosophische Zug der euripideischen
Tragödien wird verschieden bewertet.
. Kullmann, S..
. Vgl. z.B. Pohlenz, S.; Lesky (), S.; Blomquist, S.. Was am Ende der Trag-
ödie allerdings schwierig wäre, da es ohne die Epiphanie der Artemis keine volle Anagno-
risis gäbe – vgl. Zeitlin, S. , Danek, S. , und andere.
EVA LIDAUER
Wie bereits festgestellt wurde, sind die Dramenfiguren mehr oder weniger mit-
schuld an ihrem Unglück, doch erklärt dies nicht in befriedigendem Ausmaß die
Gewalt und Unwiderruflichkeit, mit der es über sie hereinbricht. Um diese vor-
dergründig von den Göttern ausgehende unheilvolle Macht näher bestimmen zu
können, ist es von Interesse, wie die Dramenfiguren die Götter einschätzen und
bezeichnen:
Da Aphrodite das Geschehen lenkt, ist meist von ihr die Rede, wenn es um gött-
liches Wirken geht. Von ihr wird als yeá, daímvn oder Kúpriß (häufigster Bei-
name, nach der Insel Zypern, wo sie dem Meer entstiegen sein soll und besonders
verehrt wurde) gesprochen, und dabei fällt auf, dass Formen von yeá sie vor allem
als persönliche Göttin meinen (, , , ), während Formen von daímvn be-
sonders dann verwendet werden, wenn Aphrodite als entpersönlichte, schicksal-
hafte, negative Macht erfahren wird (, , , ; ). Aufschlussreich ist
in diesem Zusammenhang auch ein Ausspruch der Amme ( ff .): Kúpriß oΩk
‚r' ›n yeóß, åll' e} ti meîzon ‚llo gígnetai yeoû, ˆ tªnde kåmè kaì dómouß
åp√lesen, “Kypris ist (im Sinne von “hat sich erwiesen”) demnach keine Gott-
heit, sondern wenn es etwas Anderes, Größeres als eine Gottheit gibt, dann diese,
welche die hier (gemeint ist Phaidra), mich und das Haus zugrunde gerichtet hat.”
Der Beiname Kypris steht, wie in der Lyrik, bald für die Göttin selbst, bald für
ihren Bereich, die körperliche Liebe, synonym mit ∑rvß und nósoß (“Krank-
heit”); ein paarmal kann man die Unterscheidung kaum treffen (, , ).
Einmal steht sogar daímvn in dieser Bedeutung: Als Phaidra sich erhängt, tut sie
es, “weil sie sich des verhassten Dämons wegen in Grund und Boden schämt”
( f.) – hier ist ihre krankhafte Liebesleidenschaft gemeint und bezeichnender-
weise mit dem Dämon identifiziert, den Aphrodite darstellt.
Aus der Verteilung dieser Bezeichnungen können wir mindestens zweierlei
schließen:
(i) Die häufige Verwendung von daímvn für “Gottheit” weist auf eine Polari-
sierung zwischen Schutzgottheit und Unheilsdämon hin, wobei die Betonung
deutlich auf dem schicksalhaften Verhängnis liegt. Aphrodite und Artemis sind
in dieser Tragödie von vornherein keine hehren Göttinnen, sondern verkörpern
verderbliches Geschick, indem sie unversehens als unheimliche Mächte in das
Leben der Menschen eindringen. Sie führen auf grausame Weise eine Art Aus-
gleich zu den einseitigen Haltungen und fehlgeleiteten Handlungen der von Na-
tur aus unvollkommenen sowie durch ihre Situation bedrängten Menschen her-
bei.
(ii) Die dämonischen Kräfte, die Aphrodite und Artemis darstellen, wirken vor
allem im Inneren der Menschen. Insofern haben die Interpreten, die diese Göttin-
nen als Symbole, Personifikationen oder Hypostasierungen ansehen, Bedeutsa-
mes getroffen. In diesem Sinne steht, allgemein betrachtet, Aphrodite für Liebe,
Sexualität, Fortpflanzung und damit für Leben, Artemis als ihr Gegenpol für Ver-
weigerung und damit letztlich für Tod. Das Wechselspiel zwischen beiden bedeu-
tet so gesehen den Lauf, dem alles Lebendige unterworfen ist. Differenzierter auf
Phaidra und Hippolytos bezogen spricht Lombard von “man’s wish to submit to
the erotic impulse, and yet to be liberated from its constraint”. Nun verdeutlichen
die damit gemeinten kosmischen Prinzipien zwar die Disposition von Phaidra und
Hippolytos, doch vornehmlich geht es bei der Wahl, welche die beiden bezüglich
einer gemeinsamen sexuellen Beziehung zu treffen haben, um eine ethische Ent-
scheidung. Zudem ist die Gegenüberstellung dieser zwei Hauptfiguren keine simp-
le Zuordnung von Phaidra zu Aphrodite und von Hippolytos zu Artemis, denn
Phaidra hat mit beiden Göttinnen zu kämpfen: an der einen Front gegen Artemis,
indem Phaidra ihren Stiefsohn begehrt und verleumdet, an der anderen Front aber
gegen ihr Liebesverlangen, d.h. gegen Aphrodite – beide Prinzipien streiten auch
ohne den Widerstand des Hippolytos in Phaidras Seele. Ihr Wille, der Leidenschaft
zu widerstehen, würde zur richtigen Entscheidung führen, wenn ihr Wunsch nach
Erfüllung der Liebe nicht stärker wäre; dieser veranlasst die Katastrophe, und ihm
zu folgen, stellt daher eindeutig die falsche “Entscheidung” dar. Die grundsätzlich
bestehende, wenn auch durch starke Emotionen erschwerte und daher nicht wirk-
lich freie Wahl zwischen “Richtig” und “Falsch” ist zugleich eine zwischen “Gut”
. Bereits zu Beginn, in den Versen und , bezeichnet Aphrodite selbst die Götter als
Dämonen.
. So Lesky (), S., , (), S., (), S.; Winnington-Ingram, S.; Chro-
mik, S. ; Barrett, S. ; Lombard, S. , Holzhausen (), S. u.v.a.m.
. Wohl deshalb spielt Jagd für sie eine bedeutende Rolle. Artemis bereitete dem Mythos
zufolge mit ihren Pfeilen auch Menschen den Tod, so z.B. den Töchtern der prahlerischen
Niobe.
. Lombard, S. .
. Das heißt auch: nicht so, wie Aphrodite es in ihrer Eröffungsrede vorgibt.
. Vgl. Crocker, S. f.
EVA LIDAUER
und “Böse”. Indem nun Phaidra dem Impuls, Aphrodite zu folgen, nachgibt und
so das Falsche tut, tut sie Böses – und für dieses Böse steht Aphrodite. Deshalb ist
sie in diesem Drama eine Göttin, die böse erscheint. Aber sie ist “böse” nur im
Hinblick darauf, dass sie Phaidras gegen die Konventionen verstoßende Liebes-
leidenschaft verkörpert. Zu diesem Verständnis konnte es dadurch kommen, dass
eine Funktion der Liebesgöttin dämonisiert wurde. Im Grunde handelt es sich bei
diesem Prozess um einen Erklärungsversuch dafür, wie das Böse entsteht.
Für die Richtigkeit dieser zwei Folgerungen spricht der Umstand, dass sich aus
ihrem Zusammenwirken scheinbare Widersprüche erklären lassen:
(i) Phaidra hat sich nicht gegen Aphrodite vergangen, wird aber von dieser der
Rache geopfert. Unbestreitbar jedoch handelt die Königin gegen menschliches Ge-
setz und Gefühl: Sie will ihren Ehemann betrügen, noch dazu mit dem Stief-
sohn, und verursacht dessen Tod, indem sie ihn verleumdet. So hat Phaidra zwar
keine religiöse Schuld, aber eine schwere menschliche, und deshalb empört ihr
Tod den Zuschauer/Leser nicht ernsthaft: Sie hat ihr unglückliches Ende gewis-
sermaßen verdient, und insofern kommt es nicht aus Götterwillkür über sie. Die-
ser Widerspruch nun, dass Phaidra zwar auf der Götterebene ein unschuldiges
Opfer, auf der menschlichen Ebene aber diejenige Person des Dramas ist, die am
meisten Schuld auf sich geladen hat, ist in Wirklichkeit gar keiner: Er löst sich auf,
wenn man Aphrodite nicht als Göttin, sondern als Verkörperung der Liebesleiden-
schaft betrachtet – dann ist sie sehr wohl Ursache für Phaidras Verderben.
(ii) Umgekehrt ist der Fall des Hippolytos: Er ist nicht im eigentlichen Sinne
schuldig, am wenigsten schuldig jedenfalls von allen Personen der Handlung – und
Aphrodite hat es gerade auf ihn abgesehen! Sie wirkt nicht als gerechte Göttin,
sondern als dunkle, mitleidlose Macht. Hierin wiederum aber liegt das Gemein-
same mit der Wirkung, die sie an Phaidra zeitigt: Nicht göttliche Größe ist Aphro-
dites eigentliches Charakteristikum, sondern dunkles, dämonisches Beherrschen.
Ihre dämonische Herrschaft breitet sich vom Inneren des Menschen aus, den sie
befallen hat: Aphrodite rächt sich an Hippolytos durch die Rache, die Phaidra an
ihm übt. Kypris steht demnach nicht als Göttin über den Menschen, sondern ist
eine gewaltsame Urmacht, die in einer Person wühlt, aus ihr herausbrechen und
sie mitsamt ihrer ganzen Familie vernichten kann. So gesehen erweist sich
. Den unfreiwilligen Hang an sich tugendhafter Menschen zum Bösen erkennt die Amme
in V.f.: o⁄ s√froneß gàr oΩk ‰kónteß, åll' ∏mvß kak<n ™r<si, “Denn die Keuschen
haben gegen ihren Willen, aber dennoch Verlangen nach Schlimmem.”
. Dieses kann sich zwar auch zum Glück jener auswirken, die ihr unterliegen, öfter aber zum
Unglück (zumal von Frauen sowie von all jenen, die sich ihrer Herrschaft nicht fügen wol-
len). Bei Euripides hat Aphrodite nichts Liebenswertes mehr an sich: Überwiegt in der grie-
chischen Literatur sonst die liebliche, positive Seite der Aphrodite, so bleibt im Hippolytos
nur noch der zerstörerische Aspekt.
DER HIPPOLYTOS DES EURIPIDES
Aphrodite als ein in die Psyche transferierter böser Dämon. Der tiefere Grund
dieses Transfer-Prozesses besteht darin, dass der Mensch, den das Böse befallen
hat, zumindest bis zu einem gewissen Grad entschuldigt werden soll.
d) Ambivalenz
Die Götter im Hippolytos handeln durch den Charakter der Menschen, sie führen
die Katastrophe allein durch deren Reden und Handeln herbei. Deshalb scheinen
die Götter an und für sich überflüssig zu sein. Damit, dass sie Leidenschaften,
Abneigungen und dergleichen verkörpern, ist eigentlich ausgesagt, dass die Men-
schen nach dem leben, was in ihnen ist, also nach ihren eigenen Gesetzen – ob
bewusst oder unbewusst. Dementsprechend fühlen sich die Dramengestalten für
ihr Handeln selbst verantwortlich oder werden von anderen dafür verantwortlich
gemacht:
Phaidra fühlt sich zwar von der Liebe verwundet () und sagt, dass ein Dai-
mon sie verblendet hat (), auch dass Kypris sie bekämpft () und vernichtet
(), aber wenn die Königin von ihrem Kampf mit Kypris spricht () und von
dem bitteren Eros, dem sie unterliegt (), so steht der Beiname der Göttin hier
weniger für diese selbst als metonymisch für “Liebesleidenschaft”, und aus
Phaidras Rhesis (–) geht klar hervor, dass die Menschen aus eigenem An-
trieb tun, was nicht richtig ist, und dafür auch von der Gesellschaft zur Verant-
wortung gezogen werden. Nach Phaidras Dafürhalten kommt es, so Holzhausen,
darauf an, wie man mit einer solchen von einer Gottheit verursachten Situation
umgeht: Die Reaktion des Menschen ist richtig oder falsch und entscheidet über
Glück oder Unglück, über Gut oder Böse. Deshalb sieht Phaidra die Lösung ih-
res Konflikts im Selbstmord: Durch ihn will sie ihr unmoralisches Begehren auf-
heben. Phaidras Zwiespalt ist, wie Chromik bemerkt, “aus dem religiösen Be-
reich in den moralischen versetzt, in die Verantwortlichkeit des Individuums”.
Ganz klar wird dies anhand von Vers , wo Phaidra von ihren unrechten Taten
spricht. – Am vehementesten führt die Amme Phaidras Leidenschaft auf Aphro-
dite zurück, und doch hält auch die Dienerin ihre Herrin nicht für völlig un-
schuldig, wie die Verwendung von Åmartánein (fehlen, sündigen) in Vers
erkennen lässt.
Hippolytos erkennt ebenfalls, dass er einen Fehler gemacht hat, und zwar be-
züglich Selbstbeherrschung ().
Was die Amme betrifft, so ist festzustellen, dass sie zwar im Sinne Aphrodites
spricht, dennoch aber im Unrecht ist: Dies zeigen der Tadel von Phaidra und
vom Chor ebenso wie der Verlauf der Handlung.
Theseus bekommt von Artemis schwere Vorwürfe; später entschuldigt sie ihn
scheinbar, weil er nach Aphrodites Plan eben auch eine Rolle zu spielen hatte, aber
daran, dass Theseus an den Folgen seiner Fehlreaktion schwer zu tragen hat, ändert
das wenig. Wie für Phaidra gilt für ihn die von der Liebesgöttin aufgezwungene
Situation zwar als mildernder Umstand, hebt jedoch die Verantwortung für die
Reaktion darauf nicht auf , und Theseus fühlt sich auch nicht frei von Schuld
(, , ) – einer Schuld, die auch sein Sohn sieht und nur deshalb ver-
zeihen kann, weil er sie sieht. Natürlich wird Hippolytos von Artemis freigespro-
chen, ja in seinem ganzen Wesen gerechtfertigt – doch nur in ihren Augen ist er
gänzlich ohne Fehl und Tadel, und nicht einmal sie als Göttin kann ihm helfen.
Trotz der Eingeständnisse und Zuweisungen menschlicher Schuld gibt es auch
Momente, in denen die Götter als Verursacher angegeben werden. Dabei kommt
der Wunsch nach Entschuldigung – ob für sich selbst oder für jemanden ande-
ren – zum Ausdruck, und manchmal befindet sich die Entschuldigung hart an
der Grenze zur Ausrede. Vor allem aber lässt dieser Umstand nachfühlen, wie Men-
schen ihre schuldhafte Verstrickung erfahren: Sie empfinden sich teils als selbst-,
teils als fremdbestimmt. So tritt bei Phaidra, die bald sich selber, bald Aphrodite
verantwortlich macht, ihre tiefe innere Zerrissenheit zutage.
Der angenommene Zusammenhang zwischen dem Wesen der Götter und dem Er-
leben der Sterblichen wird durch den Umstand erhärtet, dass Aphrodite, Artemis
und Poseidon den Menschen genau so gegenübertreten, wie diese es von ihnen
erwarten bzw. befürchten. Christian Wildberg zeigt dies deutlich anhand der Ein-
stellung des Hippolytos gegenüber Aphrodite auf der einen und Artemis auf der
anderen Seite. Im ersten Fall gibt es sogar sprachliche Indizien, nämlich “Paralle-
len zwischen Hippolytos’ Einschätzung von Frauen im allgemeinen und der Art
und Weise, wie Aphrodite im Drama dargestellt ist”; inhaltlich hängen diese Ge-
meinsamkeiten in einem Ursache-Wirkung-Verhältnis zusammen, denn das nega-
tive Bild, das Hippolytos von den Frauen gezeichnet hat, bestätigt sich darin, wie
Aphrodite ihn vernichtet. Geschehen kann dies deshalb, weil die Gedanken sein
Verhalten so steuern, dass er dadurch die Frauen, mit denen er zu tun hat, in eine
Gegnerschaft drängt, und zwar dermaßen, “daß seine moralische Verurteilung
zur objektiven Wirklichkeit wird und auf ihn selbst zurückschlägt”.
Diese Art Mechanismus erklärt die Eigenart der Göttinnen des Hippolytos-Dra-
mas: Sie entsprechen deshalb nicht genau den Vorstellungen, die uns in der übri-
gen griechischen Literatur von ihnen gegeben werden, weil sie den Charakter des
Hippolytos spiegeln. Deshalb stellt Artemis am Schluss ihren treuen Diener als
völlig unschuldiges Opfer dar – sie zeigt sich im Einklang mit dem Bild, das er
sich von ihr gemacht hat. Wie sich im Walten der Aphrodite die Ängste des Hip-
polytos verwirklicht haben, so wird ihm in Hinsicht auf Artemis ein Wunsch er-
füllt, den er zu Beginn des Stücks, bei der Kranzweihe, geäußert hatte: téloß dè
kámcaim' çsper ©rjámhn bíou (), “Könnte ich doch die Bestimmung meines
Lebens so beschließen, wie ich es begonnen habe!” – Tatsächlich beendet er sein
Dasein als keuscher Jüngling und in Gegenwart seiner Lieblingsgöttin.
Doch nicht nur den Erwartungen des Titelhelden entsprechen die Götter im
Hippolytos – auch denen der anderen Hauptfiguren:
Phaidra ist sich dessen bewusst, dass sie gegen Kypris, die sie ins Verderben stürzt
(), kämpft () und ihr erliegen muss ().
Die Amme wird in ihrer Überzeugung, dass Kypris sich alle Kreaturen gefügig
macht, und in ihrer Ahnung, dass Aphrodite etwas Machtvolleres als eine Göttin
ist, bestätigt.
Der Fluch des Theseus wird erfüllt, trotz seiner Ungeheuerlichkeit. Dass The-
seus für den Fall, nicht erhört zu werden, seinen Sohn auch noch des Landes ver-
weist, zeigt umso mehr, dass nicht Poseidon, sondern Theseus selbst die Vernich-
tung des Hippolytos veranlasst und durchsetzen wird.
Nun zeigt sich auch die Moral der Götter in einem neuen Licht: Insofern, als die
Götter Projektionen darstellen und sich in ihnen Innerseelisches verselbständigt
hat, gehören sie der Sphäre des Menschlichen an. Ihr Handeln erscheint deshalb
unmoralisch. So ist die Aphrodite, die im Hippolytos auftritt, keine gerechte Gott-
heit, weil sie Allzumenschliches mitsamt seiner Grausamkeit verkörpert: Ihr Maß
ist dem des Menschen abgenommen! Sie erweist sich in dieser Tragödie als ge-
nauso schlecht, wie Hippolytos sie einstuft, “sie ist,” wie Wildberg es ausdrückt,
“die abscheuliche Apotheose nachtragender Weiblichkeit, die nur auf den richti-
gen Zeitpunkt wartet, um sich Genugtuung verschaffen zu können.” Poseidon
wiederum ist an die Verpflichtung, die in seinem Versprechen besteht, so sehr ge-
bunden, dass die Verantwortung allein bei Theseus liegt. In diesem Sinne kann der
Mensch über den Gott bestimmen.
Insoweit die Götter wie Schicksalsdämonen wirken, sind sie kosmische Urmäch-
te und als solche dem Bereich der Moral entzogen, sozusagen amoralisch.
Für jede der beiden Perspektiven gilt im Grunde, dass diese “Götter” den Men-
schen vornehmlich schaden und eigentlich nur dadurch über sie herrschen kön-
nen, dass diese es zulassen, heraufbeschwören oder durch ihr Verhalten eine
Kettenreaktion auslösen.
Nicht nur die genannten Indizien für die Selbstverantwortlichkeit der Men-
schen, auch die Relativität im Verständnis und Werten der beiden Göttinnen so-
wie ihre beschränkten Handlungsmöglichkeiten sind Anzeichen dafür, dass sie von
Vollkommenheit weit entfernt, vielmehr menschlichen Kategorien verhaftet sind:
Es stellt sich heraus, dass die Götter nicht weiser als die Menschen sind und über-
haupt nur einen Teil des Geschehens verstehen. Deshalb, d.h. nicht nur aus
dramatischen Gründen, gibt die Prologrede der Aphrodite nur einen bedingten,
oberflächlichen Einblick in die Beziehungen und Motive der Handelnden, und
ähnlich kurz greift die Erklärung der Artemis am Schluss der Tragödie.
In Vers f. sagt Artemis, dass die Götter die schlechten Menschen mitsamt
ihren Kindern und Häusern vernichten. Doch offenbar schauen zumindest Aphro-
dite und Artemis bestimmte Menschen nicht gleich an – wer in den Augen der
einen gut ist, gehört für die andere zu den Schlechten. Und beiden kommt es
weder auf Gerechtigkeit noch auf die Menschen selbst an, sondern bloß auf deren
Gefolgschaft. Auch die Göttinnen dieses Dramas sind also egozentrisch und beur-
teilen nur aus der eigenen Sicht der Dinge. Deshalb bewirkt Artemis am Ende kei-
ne vollständige Einsicht, sondern nur diejenige, die eben von ihr kommen kann.
Sie ist auch nicht imstande, ihren Anhänger zu beschützen, weil sie anderen Gott-
heiten nicht im Weg stehen darf (–).
. Dieser Satz der Artemis kann, so Köhnken, S. , “nur bedeuten, daß jeder Mensch, der
sich gegen eine göttliche Macht vergeht, von ihr als kakóß vernichtet wird. Seine eΩsébeia
gegenüber einer anderen Gottheit wird ihm dann nichts nützen.”
. Vgl. Schmitt, S..
. VS B ; vgl. damit die von Epicharm, einem in Sizilien lebenden Zeitgenossen des Eu-
ripides, stammende Gnome: Ø trópoß ånyr√poiß daímvn ågayóß, o¿ß dè kaì kakóß,
“Die Wesensart ist für die einen Menschen ein guter, für die anderen ein schlechter Dämon”
(VS B ).
EVA LIDAUER
. Lombard, S. u. , hält fest, dass Euripides hier weit über den ethischen Standard sei-
ner Zeit hinausgeht.
EVA LIDAUER
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Berlin, Staatliche Museen, Pergamonmuseum
Aus: R.Lullies/M. Hirmer/A. Hirmer: Die griechische Plastik, ., erw. und neu bearb.Aufl.,
München: Hirmer, , Abb. (Ausschnitt)
NIETZSCHE UND PROTAGORAS
ODER: “PERSPEKTIVE” ALS “MASS ALLER DINGE”
Georges Goedert
Einleitung
Die Sophisten erwähnt Nietzsche wenig. Über Protagoras selbst gibt es in seinen
Schriften eigentlich nur zwei wichtige Stellen, von denen diejenige aus dem Früh-
jahr die ausführlichere und für unsere Zwecke die aufschlussreichste ist. Sie
hebt stark auf die Kritik der Moral ab. Vom Homo-mensura-Satz ist jedoch in
keinem der beiden Fragmente die Rede. Auch entzieht es sich unseren Kenntnis-
sen, wie Nietzsche Protagoras genau begegnet sein mag: im Theaitetos Platos, bei
Sextus Empiricus oder auch nur in einer Philosophiegeschichte.
Nietzsche bezieht nicht explizit Stellung zu diesem Satz, der in seiner Platoni-
schen Fassung bekanntlich folgendermaßen lautet: “Der Mensch ist das Maß al-
ler Dinge, der seienden, dass (wie) sie sind, der nichtseienden, dass (wie) sie nicht
sind.” Demzufolge werden wir auch nur die Frage nach einer Verwandtschaft zwi-
schen den beiden Denkern stellen. Unsere Aufgabe soll es sein, zu erforschen, ob
und wie sich Nietzsches Philosophie – wir denken an seinen Perspektivismus, d.h.
an seine Lehre von der notwendigen Perspektivität der Erkenntnis – mit dem Aus-
. Nachgelassene Fragmente, Frühjahr , [], KSA , S.. – Einigermaßen von Bedeu-
tung ist auch ein knappes Notat vom Juli , in dem von “Thracier[n]” gesprochen wird,
die als erste den “Übergang zur Wissenschaft” gemacht hätten, wobei Demokrit, Protagoras
und Thukydides genannt werden. (Nachgelassene Fragmente, Juli , [], KSA , S.).
Wir werden später hierauf zurückkommen. (Siehe unsere Fußnote ) Der Name Protago-
ras taucht noch an zwei weiteren Stellen auf, die aber eher belanglos sind. – Die Werke,
Schriften und Notate Nietzsches zitieren wir nach der Kritischen Studienausgabe (KSA),
München–Berlin–New York: dtv–de Gruyter (Hg.: Giorgio Colli und Mazzino Mon-
tinari). Diese, bestehend aus Bänden, basiert auf der Kritischen Gesamtausgabe sämtlicher
Werke (KGW ), die bei Walter de Gruyter, Berlin, seit erscheint. – Die Nachgelassenen
Fragmente werden wir in der Folge mit “N” angeben.
. Plato, Theaitetos a. – Es wurde debattiert über die Frage, ob man “dass” oder “wie” lesen
soll. Siehe hierzu etwa Heinrich Gomperz: Sophistik und Rhetorik. Das Bildungsideal des
EU LEGEIN in seinem Verhältnis zur Philosophie des V.Jahrhunderts, Leipzig: Teubner, ,
S. ff. Diesen Hinweis entnehmen wir dem Aufsatz von Gerhard Zecha: Das Spiel mit
der Antike wird ernst: Ist der Mensch wirklich das Maß aller Dinge?, in: Das Spiel mit der
Antike. Zwischen Antikensehnsucht und Alltagsrealität, Festschrift zum .Geburtstag von Rup-
precht Düll, hg. von Siegrid Düll, Otto Neumaier, Gerhard Zecha, Möhnesee: Bibliopolis
, S. –.
GEORGES GOEDERT
spruch des Protagoras vereinbaren lässt. Ist auch im Sinne Nietzsches der Mensch
das “Maß aller Dinge”? Wenn ja, dann möchten wir herausstellen, auf welche
genaue Art und Weise.
Der Homo-mensura-Satz lässt vielerlei Interpretationen zu. Wir werden uns
aber speziell mit derjenigen befassen, die ihn als den Ausdruck eines extremen,
auf den Einzelmenschen bezogenen ethischen Relativismus und Subjektivismus
erscheinen lässt. Der Einzelmensch bestimmt, was moralisch gesehen für ihn gut
oder schlecht ist. Dabei werden wir aber auch die Gruppen, ja die gesamte
Menschheit nicht ganz aus dem Auge lassen, denn Nietzsches Perspektivismus
schließt sie mit ein und wir entfernen uns dadurch nicht von der möglichen
Tragweite des Homo-mensura-Satzes.
Aus mehreren Gründen nehmen wir Bezug auf den Einzelmenschen und sein
moralisches Urteilen. Erstens kann die Bedeutung und Aktualität der darin liegen-
den Problematik nicht in Zweifel gezogen werden. Zweitens geht es Nietzsche in
dem erwähnten Fragment ziemlich ausführlich um die Kritik der Moral; er denkt
dabei allerdings auch an den Fortschritt auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie,
was im Hinblick auf sein Denken ebenfalls nicht unwichtig ist. Und drittens fin-
den wir bei ihm einen auf zukunfstträchtigen anthropologischen Erwägungen
basierenden Immoralismus vor, der verdient, auf seine Verwandtschaft mit dem
Homo-mensura-Satz des Protagoras geprüft zu werden.
In einem ersten Teil wollen wir Nietzsches Rezeption der Sophisten untersu-
chen, von der wir Anreize für die Behandlung unserer Fragen erwarten. Darauf-
hin werden wir uns in einem zweiten Teil mit seinem Perspektivismus befassen,
der für seine Konzeption von der Entstehung der Werturteile absolut grundlegend
ist. Abschließend werden wir kurz die Perspektivität im Streben nach dem Über-
menschen ins Auge fassen.
Bedeutung gewinnen die Sophisten eigentlich erst im Nachlass des Jahres .
Doch kann man nicht umhin, bei Nietzsche von Anfang an eine gewisse Gemein-
samkeit mit ihnen festzustellen, die bloß nicht explizit zum Ausdruck kommt.
. Späte Würdigung
Es mag zunächst einmal überraschen, dass die Sophisten von Nietzsche in den
(in den Philologica enthaltenen) Basler Vorlesungen über Die vorplatonischen Philo-
. Eine logisch gegliederte Auflistung hiervon gibt Gerhard Zecha in seinem eben zitierten
Aufsatz, S. ff.
NIETZSCHE UND PROTAGORAS
sophen (Sommer , , ) nicht behandelt werden und dass sie auch in
die nachgelassene Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen aus
dem Jahre keinen Eingang gefunden haben.
Hier sollte man jedoch zweierlei bedenken. Erstens dürfen wir vermuten, dass
Nietzsche sich nicht zu Unrecht beeindrucken ließ von dem wesentlichen Unter-
schied zwischen den von ihm unter der Bezeichnung “vorplatonische Philoso-
phen” ausgewählten Denkern und den Sophisten. Letztere passten nicht zu dem
Idealbild des Philosophen, wie es ihm damals vorschwebte und zu dem er sich hin-
gezogen fühlte. Und zweitens dürfte der Einfluss Schopenhauers eine nicht gerin-
ge Rolle gespielt haben.
Nietzsche hatte bekanntlich seit seiner Entdeckung der Welt als Wille und Vor-
stellung im Herbst des Jahres Schopenhauer mit Enthusiasmus gelesen. Die-
ser verschmäht die Sophisten gänzlich, ja er bezeichnet sie sogar als “Narren”. Er
wirft ihnen vor, aus der Philosophie einen Broterwerb gemacht zu haben. “Das
Geldverdienen mit der Philosophie” sei “das Merkmal der Sophisten” gewesen.
Somit stellt er den Sophisten dem Philosophen entgegen. Der eine lebe “von der
Philosophie”, der andere “für die Philosophie”.
Bei Schopenhauer fand Nietzsche jedenfalls die Bestätigung seiner intensiv
wahrgenommenen Berufung zu einem Philosophendasein, das jeglichen materiel-
len Gewinn und überhaupt alle außerhalb rein philosophischer Zielsetzungen lie-
gende Interessen verschmäht. Dies gilt auch hinsichtlich seiner Begegnung mit den
Vorsokratikern. Im Nachlass lesen wir: “Die Männer selbst sind förmliche Incarna-
tionen der Philosophie und ihrer verschiedenen Formen.” Eine unveröffentlicht
gebliebene Widmung der Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Grie-
chen weist darauf hin, dass Schopenhauer ihm für diese überaus positive Beurtei-
lung als Vorbild diente.
Hier offenbart sich Nietzsches Befürworten einer durch Bildung geprägten Elite.
Dazu hat neben Schopenhauers Auffassung vom Genie natürlich auch seine ju-
. Siehe KGW, Abt., Bd.. Das vorletzte Kapitel ist den Pythagoreern gewidmet, das letzte
dem Sokrates.
. Nachgelassene Schriften (–), KSA , S. –. Diese Schrift schließt ab mit der
Darstellung der Lehre des Anaxagoras.
. Parerga und Paralipomena I, Bd. , S . – Wir zitieren Schopenhauer nach der von Arthur
Hübscher bei Brockhaus (Wiesbaden) herausgegebenen Gesamtausgabe der Werke in
Bänden.
. Die Welt als Wille und Vorstellung I, Bd. , S.XIX.
. So z. B. in Parerga und Paralipomena II, Bd. , S. .
. Die Welt als Wille und Vorstellung II, Bd. , S. .
. N, Frühjahr – Anfang , [], KSA , S. .
. “Die Philosophie des tragischen Zeitalters. / Dem Andenken Schopenhauers.” (N, Winter
–, [], KSA , S. ).
GEORGES GOEDERT
. Das Fragment trägt den Titel Philosophie als décadence (N, Frühjahr , [], KSA ,
S. f.). – In der Götzen-Dämmerung, die er bekanntlich im August desselben Jahres ver-
fasste, bezeichnet er die “Sophisten-Cultur” als “Realisten-Cultur” und spricht von ihr als einer
“unschätzbare[n] Bewegung” (Was ich den Alten verdanke , KSA , S.). Wir werden
noch auf diese Stelle zurückkommen müssen (siehe unsere Fußnote ).
. N, Frühjahr , [], KSA , S. .
NIETZSCHE UND PROTAGORAS
Das heißt hauptsächlich, dass es auf dem Gebiet der Moral kein ewiges, un-
abänderliches Gesetz gibt, worauf ein in seinem Wesen genauso unveränderliches
und allgemeines Menschenbild abgestimmt wäre, und das sowohl die Normen wie
auch das Ziel unseres Verhaltens enthielte. Die Maße von Gut und Böse werden
uns nicht als ein stets gleichbleibendes Sollen und Nicht-Dürfen gesetzt, sondern
wir sind es selber, die aufgrund unserer zutiefst individuellen Eigenart Wertschät-
zungen vornehmen und also darüber entscheiden, welche Handlungen unserer
eigenen Person förderlich oder abträglich sind. Alle Werte sind wesentlich relativ,
denn sie werden bestimmt, wie wir noch ausführlich sehen werden, nicht nur
durch die Pluralität der Urteilenden, sondern auch durch die Vielheit der Perspek-
tiven innerhalb jedes Einzelmenschen.
In dem Fragment vom Frühjahr nennt Nietzsche von den Sophisten bloß
Protagoras. Dabei gebraucht er den Namen auch adjektivisch. Genau heißt es:
“unsere heutige Denkweise ist in einem hohen Grade heraklitisch, demokritisch
und protagoreisch … es genügte zu sagen, daß sie protagoreisch <sei>, weil Protago-
ras die beiden Stücke Heraklit und Demokrit in sich zusammennahm”. Vom
Homo-mensura-Satz ist zwar nicht die Rede, doch wir können uns auf Nietz-
sches Darstellungen Heraklits und Demokrits berufen, um dadurch wenigstens
indirekt Aufschluss über seine leider so dürftig zum Ausdruck gekommene
Protagoras-Rezeption zu gewinnen.
Überaus wichtig für Nietzsche sind bei Heraklit die Lehren vom Werden und
von der Einheit der Gegensätze. Man badet nicht zweimal in demselben Fluss, was
auch heißt, dass ebenfalls der Badende das zweite Mal nicht mehr der gleiche ist.
Also kein Seiendes, nur ein Werden, auch kein menschliches Subjekt als ein Blei-
bendes, Beharrendes, als eine Substanz, ein Substrat sämtlicher Bewusstseinsvor-
gänge. Nach Nietzsche erweist sich unsere Subjektivität als eine werdende. Einen
Relativismus der Wertvorstellungen gibt es somit nicht nur wegen der Pluralität
der Urteilenden, sondern auch infolge der ständigen Veränderungen, denen der
Einzelmensch unterliegt.
Den Heraklitischen Logos interpretiert Nietzsche als Weltgesetz mit ästheti-
schem Charakter, das dem Feuer, dem Urprinzip des Werdens, inhärent sei. Da-
durch wird alles Werden zu einem Spiel, vergleichbar mit dem Spiel des Kindes
oder des Künstlers. Er findet hier “die Lehre vom Gesetz im Werden und vom Spiel
in der Nothwendigkeit” vor. Dieser Logos offenbart sich in der Gerechtigkeit, der
Dike, was dazu führt, dass alle Geschehnisse gleichermaßen gerechtfertigt sind.
Die Tatsache, dass sie erfolgen, ist stets recht. Damit gelangen wir “jenseits von Gut
und Böse”. Die Moral verliert ihre metaphysische Bedeutung. Sie ist nur noch eine
der Varianten des Weltspiels. Vor allem gibt es keine moralische Schuld. Mit dieser
Interpretation überwindet Nietzsche besonders die metaphysische Ethik Schopen-
hauers mit ihrer Vorstellung eines mit Schuld beladenen Weltwillens.
Die Dike wirkt speziell im Kampf der Gegensätze. Dieser ist konstitutiv für das
Werden. Es handelt sich dabei um ein Gegeneinander, das zugleich ein Miteinan-
der ist. Ein dionysischer Gedanke im wahrsten Sinne Nietzsches! Er wird seinen
Höhepunkt erreichen in der dionysischen Bejahung Zarathustras, die besonders
im Gedanken der Ewigen Wiederkunft zur Geltung kommt. Letzterer verzichtet
sogar auf die Rechtfertigung des Werdens, und zwar zugunsten einer ausschließ-
lichen Berücksichtigung der Ursächlichkeit innerhalb der Kreisbewegung. Aber
gerade die Bedeutung der Gegensätze kommt in ihm stark zum Tragen, was dazu
führt, dass auch das Schwache mitsamt all seinen Äußerungen bejaht wird, da es
in der Totalität des Werdens, als Gegensatz zur Stärke, eine absolut notwendige
Funktion ausübt. Dies gilt ganz besonders auch für die Kräfte und die Schwä-
chen beim Einzelmenschen. Das Schwache ist lebenswichtig, sofern sich im
Gegensatz zu ihm das Starke ausbilden kann. Für das individuelle Streben nach
dem Übermenschen müsste sich daraus logischerweise die Konsequenz ergeben
können, dass das Festhalten an allgemeinen Regeln – Nietzsche erkennt darin ein
Zeichen der Schwäche –, die für das Miteinander in der Gesellschaft unerlässlich
sind, ebenfalls zu bejahen ist.
Auch Demokrit lehnt eine immanente Zielsetzung der Natur ab. Seine Denk-
methode ist eine wissenschaftliche, sofern er von einer Ursächlichkeit ausgeht, die
sich mit Notwendigkeit auswirkt und jedwede überindividuelle und sinnstiften-
de Vernunft ausschließt. In dem von uns bereits erwähnten Notat vom Juli
erklärt Nietzsche, “Thracier” würden “den Übergang zur Wissenschaft am ers-
ten” machen, und nennt dann “Democrit Protagoras Thukydides”.
Demokrits Weltbild ist ein nüchternes. Nietzsche betont, dort werde der Welt
Vernunft, Maß und Schönheit aberkannt. Eine rein mechanistische Konzep-
tion der Wirklichkeit, die mit Begriffen wie “Wirbel”, “Bewegung”, “Atom”,
“leerer Raum” operiert, rückt an die Stelle der anthropomorphen Weltbetrach-
tung des Mythos. Grundsätzlich müsste sich die gesamte Welt begreifen lassen,
sofern man jedes Geschehen auf exklusiv materielle und sich rein mechanistisch
auswirkende Ursachen zurückführt. Nietzsche sieht das mechanistische Prinzip
. N, Juli , [], KSA , S. . – Auf diese Stelle haben wir in unserer Fußnote hin-
gewiesen.
. Siehe das Kapitel über Leukipp und Demokrit in den Vorlesungstexten Die vorplatonischen
Philosophen (KGW, Abt. , Bd. , Abschnitt ).
NIETZSCHE UND PROTAGORAS
als ein heuristisches an, nicht als ein metaphysisches. Später wird er allerdings De-
mokrit vorwerfen, er sei mit seinem Begriff des Atoms noch dem “Irrthum vom
Sein” erlegen gewesen. Beharrende, gleichbleibende Teilchen als das in ständi-
ger Bewegung befindliche Seiende wird er ablehnen. Doch die Verwandtschaft
bleibt natürlich erhalten aufgrund der Materialität der Welt und des Menschen,
der Notwendigkeit allen Geschehens, sowie der Ablehnung jeglicher überindivi-
dueller Zielsetzung.
In Bezug auf die Sophisten spricht Nietzsche von einer “Realisten-Cultur”. Mit Rea-
lismus meint er dabei die Absage an Scheinheiligkeit, an das Vortäuschen von Tu-
gendhaftigkeit. Das geht aus einem Fragment hervor, wo er am Ende Grote den
Vorwurf macht, die Sophisten zu “Ehrenmännern und Moral-Standarten” erheben
zu wollen. “Ihre Ehre war”, wie er meint, “keinen Schwindel mit großen Worten
und Tugenden zu treiben”. Wieder zeigt sich, dass er in den Sophisten Vorgänger
seines eigenen Immoralismus sieht. Im selben Fragment erklärt Nietzsche nämlich
einleitend, die Sophisten hätten den Mut, “den alle starken Geister haben, um ihre
Unmoralität zu wissen”. Bekanntlich war für ihn das moralisch Gute ein Sonder-
fall der allgemeinen Unmoralität. Egoismus und Bosheit, wie die herkömmliche
Moral sie auffasst, bilden für ihn die eigentlichen Wurzeln unseres Handelns. In
diesem Sinne ist seine Behauptung zu verstehen, die griechische Kultur der So-
phisten habe schließlich Recht bekommen: “jeder Fortschritt der erkenntnißtheo-
retischen und moralistischen Erkenntnis” habe “die Sophisten restituirt”.
Nietzsches Ablehnung der Moral ist aber auch mit seiner Kritik der Metaphysik
eng verbunden. Für Plato gab es ein Gutes an sich, als eine unveränderliche, ab-
solute, ewige Wahrheit, jenseits aller Erscheinungen und unabhängig vom wahr-
nehmenden Subjekt. Nun wissen wir, dass dagegen die Sophisten die Wahrheit
grundsätzlich abhängig machten von einer subjektiven Einstellung, die durch die
Kunst der Rede erzeugt werden sollte. Bestimmend für das Wahre ist somit der
Erfolg der Rede, was auch heißt, die Rezeption beim Zuhörer. Letztendlich ist
dieser es, der die Wahrheit hervorbringt. Wahrheit gibt es nicht an sich, sondern
nur dank der inneren Einstellung eines erkennenden und wertenden Subjekts.
Wahr ist, was dem einzelnen als wahr erscheint und was er als wahr beurteilt.
Nietzsche, der den Gegensatz von Sein und Schein zugunsten einer einzigen,
empirisch wahrnehmbaren Realität aufhebt, teilt nicht nur diesen Relativismus
und Subjektivismus des Urteilens, sondern geht mit seinem Perspektivismus noch
ein beträchtliches Stück weiter. Wahrheit ist eigentlich Falschheit, Irrtum, Verstel-
lung, Lüge, wie wir bereits der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermorali-
schen Sinne entnehmen. Dies wird dort zurückgeführt auf die abstrakte Begriff-
lichkeit des aus gesellschaftlichen Bedürfnissen hervorgegangenen rationalen
Diskurses. Die allgemeinen Begriffe verüben nicht nur eine Vereinfachung der
Wirklichkeit, sondern auch deren Fixierung. Seiendes tritt an die Stelle des
Werdens. Es erfolgt ein Gleichsetzen von Nicht-Gleichem.
Der Gebrauch der abstrakten Begriffe ist folglich bedingt durch das Bedürfnis
nach Selbsterhaltung beim einzelnen Menschen, sofern dieser nicht außerhalb
der Gesellschaft zu überleben vermag. Man kann ihn schon in einem bestimm-
ten Sinne für perspektivisch halten. Diesen Perspektivismus – natürlich auch die
damit verbundene Fälschung – erweitert und vertieft Nietzsche aber in der Folge
ganz beachtlich, indem er eine neue Auffassung des erkennenden Subjekts ent-
wickelt. Dadurch gestaltet er ihn, wie wir sehen werden, zu einer extremen Form
des Relativismus und Subjektivismus.
Alles Schätzen führt Nietzsche auf einen Willen zur Macht zurück und hält es dem-
zufolge für perspektivisch. Die Werturteile reiht er unter die wesentlichen Äuße-
rungen des Machtwillens ein, ja er betrachtet sie sogar als für diesen konstitutiv.
Somit ist es nicht erstaunlich, dass er das “Perspektivische” als “die Grundbedin-
. Siehe hierzu vor allem Götzen-Dämmerung, Wie die “wahre Welt” endlich zur Fabel wur-
de, KSA , S. f.
. Nur das Partikulare kann dem Werden voll und ganz gerecht werden, doch muss es unaus-
sprechbar bleiben. Die Dichtung und, mehr noch, die Musik, lassen es ahnen. Hierin zeigt
sich Nietzsche als Vorläufer der Postmoderne. – Siehe dazu z.B. Also sprach Zarathustra IV,
Das Lied der Schwermuth , KSA , S. ff.
NIETZSCHE UND PROTAGORAS
gung alles Lebens” bezeichnet und dagegen “Plato’s Erfindung vom reinen Geiste
und vom Guten an sich” als einen “Dogmatiker-Irrthum” abtut.
Dieser Perspektivismus ist Hermeneutik. Aufgrund des Willens zur Macht sieht
Nietzsche den Menschen wesentlich als ein interpretierendes Wesen. Er schreibt:
“Der interpretative Charakter alles Geschehens. / Es giebt kein Ereigniß an sich.
Was geschieht, ist eine Gruppe von Erscheinungen ausgelesen und zusammenge-
faßt von einem interpretirenden Wesen.” Alles Sein, natürlich im Sinne von
Werden, ist Interpretiertwerden. Wer es als ein Seiendes betrachtet, vollzieht damit
nur eine spezielle Art der Interpretation – und der Fälschung. Die Interpretation
selber ist ständig in Bewegung. Und zu ihr gehört die Fälschung. “Die Welt, die
uns etwas angeht”, so lesen wir auch, “ist falsch d.h. ist kein Thatbestand, sondern
eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen;
sie ist ‘im Flusse’, als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende
Falschheit”.
Schon die Sinneswahrnehmungen sind in einer gewissen Hinsicht Interpreta-
tionen. Nietzsche erklärt, “Bewußtsein” sei “so weit da, als Bewußtsein nützlich ist.
Es ist kein Zweifel, dass alle Sinneswahrnehmungen gänzlich durchsetzt sind mit
Werthurteilen (nützlich schädlich – folglich angenehm oder unangenehm)”. Der
im individuellen Bewusstsein sich äußernde Drang nach Selbstbehauptung und
Selbsterhaltung wirkt sich bereits in den Sinneswahrnehmungen aus: “Egoismus
als das perspektivische Sehen und Beurtheilen aller Dinge zum Zweck der Erhal-
tung: alles Sehen (daß überhaupt etwas wahrgenommen wird, dies Auswählen)
ist schon ein Werthschätzen, ein Acceptiren, im Gegensatze zu einem Zurück-
weisen und Nicht-sehen-wollen.” Hinzu kommt die spezielle Schattierung, die
von moralischen Werthschätzungen verliehen wird: diese seien “fast in jedem Sin-
neseindruck mitspielend. Die Welt ist uns gefärbt dadurch.” Das alles erinnert
an den Homo-mensura-Satz, der in seiner einfachen Formulierung für derartige
Voraussetzungen durchaus offen ist. Protagoras erscheint als ein Vorläufer zeitge-
nössischer Hermeneutik. Individuelles Interpretieren als das “Maß aller Dinge”!
Die Interpretationen gehören jeweils zu einer Perspektive, die aus einem Kraft-
zentrum hervorgeht, was auch heißt, aus einem Willen zur Macht. Jedes Kraft-
zentrum besitzt seine eigene Perspektive. Nietzsche meint, es habe “für den gan-
zen Rest seine Perspektive d.h. seine ganz bestimmte Werthung, seine Aktions-Art,
seine Widerstandsart”. Die Interpretation fasst er auch als Konstruktion auf, was
erkennbar wird, wenn er z.B. den “nothwendigen Perspektivismus” erwähnt, “ver-
möge dessen jedes Kraftcentrum – und nicht nur der Mensch – von sich aus die
ganze übrige Welt construirt d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet”.
Welt und Mensch werden folglich nur durch Interpretieren erfasst. Nietzsche
lässt sogar die Möglichkeit offen, dass es noch andere Interpretationen gibt als
die menschlichen, womit er immerhin das Gemeinsame unter den Menschen
betreffend die Erkenntnis unterstreicht. Gemeinsam ist vor allem das vernünftige
Denken. Von ihm sagt er, es sei “ein Interpretieren nach einem Schema, welches
wir nicht abwerfen können.”
Auch in seiner Selbstprüfung kann der menschliche Intellekt nicht umhin, “sich
selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn”.
Implizit weist Nietzsche damit selber auf den hermeneutischen Zirkel hin, in dem
unter diesen Voraussetzungen sein Denken sich bewegt. Wer behauptet, Erkennt-
nis sei wesentlich Interpretation, muss sich in der Tat entgegnen lassen, dass dieses
Urteil selber auch nur eine spezielle Deutung sei.
Einen Fortschritt im Sinne einer Überwindung der Perspektivität kann es beim
Menschen nicht geben. Weisheit als Versuch, über die perspektivischen Schätzun-
gen hinwegzukommen und damit auch über den Willen zur Macht, aus dem sie
hervorgehen, betrachtet Nietzsche als “ein lebensfeindliches und auflösendes Prin-
cip”. Er spricht diesbezüglich von einer “‘Schwächung’ der Aneignungskraft”.
Wünschenswert ist dagegen eine Bereicherung der individuellen Perspektivität
infolge einer Machterweiterung, was wir als Vorbereitung auf das Kommen des
Übermenschen deuten müssen. So meint Nietzsche, “daß jede Erhöhung des Men-
schen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede er-
reichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven aufthut und an neue
Horizonte glauben heißt”.
Durch die Zunahme der Perspektiven werden im Einzelmenschen allerdings
auch die Widersprüche vermehrt. Wahre Weisheit besteht jedoch darin, sich gegen-
über dieser Vielheit der Perspektiven mitsamt ihrer Widersprüchlichkeit inner-
lich zu öffnen, sie in sich zur Geltung zu bringen und zu nutzen. “Der weiseste
Mit der Frage, wer auslegt, geht es um den Wert der Wertschätzungen. Handelt
es sich um ein emporsteigendes Leben oder ein niedergehendes? Die Herkunft
soll über den Wert der Werte entscheiden. “Mein Versuch”, so Nietzsche, “die mo-
ralischen Urtheile als Symptome und Zeichensprachen zu verstehen, in denen sich
Vorgänge des physiologischen Gedeihens oder Mißrathens, ebenso das Bewußt-
sein von Erhaltungs- und Wachsthumsbedingungen verrathen”. Das führt ihn
zu dem “Hauptsatz: es giebt keine moralischen Phänomene, sondern nur eine mora-
l<ische> Interpretation dieser Phänomene. Diese Interpretation selbst ist außermora-
lischen Ursprungs.” Damit werden wir besonders erinnert an die Unterschei-
dung von “Herren-Moral und Sklaven-Moral”.
In Bezug auf das Perspektivische unterscheidet Nietzsche drei Möglichkeiten,
nämlich Perspektiven der gesamten Menschheit, einer Gruppe oder eines Einzel-
menschen. Im Falle der Menschheit im Allgemeinen geht es, wie wir gesehen ha-
ben, um die Interessen des menschlichen Lebens schlechthin. Dasselbe gilt für die
Gruppen und die Einzelmenschen. Nietzsche notiert: “Einsicht: bei aller Werth-
schätzung handelt es sich um eine bestimmte Perspective: Erhaltung des Indivi-
duums, einer Gemeinde, einer Rasse, eines Staates, einer Kirche, eines Glaubens,
einer Cultur”. Es ist klar, dass Nietzsche damit auf die Moral Bezug nimmt –
genauer sollten wir sagen: auf die Moralen. Hinzu kommt aber der Unterschied
von Stärke und Schwäche, wobei bekanntlich nach ihm die christliche Moral als
ein Produkt der Schwäche unter mehreren Schattierungen aufzufassen ist.
Doch selbst was die eigentlichen Quellen einer kollektiven Moral betrifft, geht es
am Ende stets um die Einzelmenschen, um ihre Kräfte, Affekte, Perspektiven. So
ist denn auch Nietzsches neue Konzeption des “Ichs” für seinen Perspektivismus
grundlegend. Er übt Kritik am einheitlichen Subjekt als dem Träger all unserer
Bewusstseinsvorgänge. Eine Kritik, die übrigens sehr an diejenige Humes erin-
nert. Das Subjekt als Substanz nehmen wir nicht wahr. Wahrzunehmen sind nur
Bewusstseinstatsachen. Nietzsche führt sie zurück auf die Vorgänge im Leib. “Das
‘Ich’”, so erklärt er, “(welches mit der einheitlichen Verwaltung unseres Wesens
nicht eins ist!) ist ja nur eine begriffliche Synthesis”.
Das “Ich” betrachtet er somit nicht mehr als eine individuelle geistige Sub-
stanz, sondern nur noch als eine Vielfalt von Bewusstseinstatsachen, die durch
physiologische Vorgänge hervorgerufen und geprägt werden. Er meint, der Zwei-
fel sei “sehr am Platze ob hier nicht eine perspektivische Illusion vorliegt, – die
scheinbare Einheit, in der wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt.
Am Leitfaden des Leibes” zeige sich “eine ungeheure Vielfachheit”. Seiner An-
sicht nach ist das “Ich”, oder Subjekt, als der alleinige und einheitliche Träger aller
unserer Bewusstseinsvorgänge und schließlich unseres gesamten Benehmens, eine
Lüge, eine Fiktion, eine Entstellung des konkreten Soseins des Werdens, eine abs-
trahierende Vereinfachung, im wesentlichen basierend auf einer gesellschaftlichen
Konvention, einer gesellschaftlichen Notwendigkeit. Also eine Interpretation, be-
dingt durch eine bestimmte Perspektive!
“Der Mensch”, so heißt es, “als eine Vielheit von ‘Willen zur Macht’: jeder mit
einer Vielheit von Ausdrucksmitteln und Formen.” Die Vielzahl von Kraftzentren,
Trieben, Willen zur Macht im Menschen fundiert die Pluralität seiner Perspek-
tiven. “Von jedem unserer Grundtriebe aus” gebe es “eine verschiedne perspekti-
vische Abschätzung alles Geschehens und Erlebens.”
Diese Vielheit wird uns auf verschiedene Weisen gezeigt, in einer Sprache, die
noch weitgehend metaphorisch ist und um Präzision ringt auf einem Gebiet, dem-
jenigen des Bewusstseins, vor allem auch des Unbewussten, das damals noch we-
nig erforscht war. Hier muss man Nietzsche als einen wichtigen Vordenker an-
sehen, selbst der Psychoanalyse. So bezeichnet er denn beispielsweise den Leib als
einen “Gesellschaftsbau vieler Seelen”. Oder er spricht von einer “ungeheure[n]
Synthesis von lebendigen Wesen und Intellekten, welche ‘Mensch’ heißt”, um
einige Zeilen später zu folgender aufschlussreichen Feststellung zu gelangen: “Es
giebt also im Menschen so viele ‘Bewußtseins’ als es Wesen giebt, – in jedem Au-
genblicke seines Daseins, – die seinen Leib constituiren.”
“Bewußtseins” also! Was wir bislang für das einzige Bewusstsein gehalten ha-
ben, nennt er zwar “ein Bewusstsein höheren Ranges”, doch erkennt er darin eine
Vielfalt, denn er spricht diesbezüglich von einer “regierende[n] Vielheit und Aristo-
kratie”. Auch der Ausdruck “oberstes Bewußtsein” kommt vor. Bestimmend,
ja entscheidend, für unser Urteilen sind aber stets die physiologischen Kräfte, wie
. “Die Aristokratie im Leibe, die Mehrheit der Herrschenden (Kampf der Gewebe?” [Die
Klammer ist im Text nicht geschlossen.] (N, Herbst – Herbst , [], KSA , S.).
. N, April–Juni , [], KSA , S. .
. N, Frühjahr–Sommer , [], KSA , S. .
. N, August–September , [], KSA , S. .
. N, Juni– Juli , [], KSA , S. .
NIETZSCHE UND PROTAGORAS
schen den Kräften in unserem Selbst – heute würden wir sagen, in unserem Un-
bewussten oder Vorbewussten – tatsächlich aus, um uns auch nur einen Ansatz
von dauerhafter Identität zu gewährleisten? Nietzsche schreibt immerhin: “Wenn
ich etwas von einer Einheit in mir habe, so liegt sie gewiß nicht in dem bewußten
Ich und dem Fühlen Wollen Denken, sondern wo anders: in der erhaltenden an-
eignenden ausscheidenden überwachenden Klugheit meines ganzens Organismus,
von dem mein bewußtes Ich nur ein Werkzeug ist.” Die Einheit bestünde also
aus dem Zusammenhalt der Kräfte und Funktionen des Leibes. Dies erinnert an
die “grosse Vernunft”, d.h. die des Leibes, von der Zarathustra spricht und der
gegenüber er das Ich als die “kleine Vernunft” betrachtet, die seines Erachtens
nur ihr “kleines Werk- und Spielzeug” ist.
Die individuelle Einheit wäre eben nicht geistiger Natur. Nietzsche geht sogar
so weit, dass er erklärt, er leugne “die ‘Persönlichkeit’ und ihre angebliche Einheit”
und finde “in jedem Menschen das Zeug zu sehr verschiedenen ‘Personae’ (und
Masken)”. Demnach wäre unsere sogenannte “Persönlichkeit” nur eine unter vie-
len “Personen” in uns, diejenige, die gerade die Oberhand gewonnen hat. In dem
vermeintlich einen “Ich” gäbe es also eine “Vielheit der Personen” (Masken)”. Die
Etymologie von “persona” wird hier zum philosophischen Gedanken: Die Person
als Maske, und dabei eine Vielheit von Personen, was auch heißt, eine Vielzahl
von Perspektiven mitsamt ihren Werturteilen. Die Maske kann dazu dienen, ge-
wisse Züge zu betonen, sie verbirgt aber auch und vermag dadurch, zu täuschen.
Die von Nietzsche betonte Falschheit der Interpretationen ist folglich auch das
Resultat davon, dass diese nicht nur ihren eigenen Werdegang, sondern auch ihre
Relativität innerhalb unserer selbst im Dunkeln lassen.
Schluss
Stellen wir abschließend die Frage, was dieser radikale Relativismus der Wertvor-
stellungen, der aus der Vielheit von Perspektiven im Einzelmenschen folgt, für
Nietzsches ethisches Ideal des Übermenschen bedeutet.
Das Bekenntnis zur individuellen Perspektivität gewinnt hier einen normati-
ven Aspekt, sofern der Übermensch als ein ethisches Gebot erscheint. Letzteres ist
der Fall, da Nietzsche vom starken Menschen erwartet, dass er durch Selbstüber-
Die Antwort lässt sich aus Worten wie diesen herauslesen: “So wie meine innerste
Natur es mich lehrt, ist alles Nothwendige, aus der Höhe gesehn und im Sinne
einer grossen Ökonomie, auch das Nützliche an sich, – man soll es nicht nur tra-
gen, man soll es lieben…” Letztendlich also eine Frage der Ökonomie! Den Ge-
danken müssen wir hier auf die leiblichen und seelischen Vorgänge beim Einzel-
menschen applizieren. Die Bejahung ist eine dionysische, das heißt, sie bezieht
sich ebenfalls auf Niedergang, Verfall, ja sogar Zerstörung. Wir wissen, dass Nietz-
sche den Willen zur Unterwerfung unter allgemeine Gesetze, sowohl in der Moral
als auch in der Politik, als ein Zeichen von Schwäche, genauer noch, als eine Äuße-
rung der Herdenninstinkte, deutet und als solchen ablehnt. Im Rahmen seines dio-
nysischen Weltbildes sind diese aber von Nutzen, vor allem als fruchtbarer Gegen-
satz zur Stärke. Sie brauchen folglich nicht vollständig unterdrückt zu werden,
wenngleich nicht sie es sind, die zur Größe führen. Die Befürchtung, das so stark
individuell geprägte Streben zum Übermenschen bedeute eine Gefahr für das Le-
ben in der Gesellschaft, wäre somit wenigstens nur teilweise gerechtfertigt.
Jean-Claude Wolf
“Das ganze Leben des Menschen bedarf des Taktes und der Harmonie.”
(Protagoras b)
Mit Protagoras haben wir eine Persönlichkeit vor uns, wie wir sie heute aus den
Medien kennen, nämlich aus lediglich acht Bruchstücken und einer Reihe von
Gerüchten und Zuschreibungen Dritter (vgl. Taurek ; ff., –; Schirren/
Zinsmaier , –). Mit Protagoras verknüpfen wir vor allem negative Bilder
wie Relativist und Eristiker, d.h. ein besonders streitbarer Philosoph, der nicht die
Wahrheit, sondern Überlegenheit in der Diskussion sucht. Um die Reihe der Ver-
leumdungen zu ergänzen, werden wir in ihm versuchsweise einen radikalen Indivi-
dualisten sehen, der die Lizenz erteilt, eigene Götter zu erdichten.
Der Homo-mensura-Satz des Protagoras, wonach der Mensch das Maß aller
Dinge sei, stellt dem theozentrischen Weltbild der Mythen das anthropozentrische
Weltbild des Logos gegenüber – so lautet eine plakative Deutung, die allerdings
schlecht passt zum Bild von Protagoras, der gerne Mythen erzählt (vgl. Protagoras
c– d) und der anthropomorphe Vorstellungen der Götter kritisiert. Doch
der Homo-mensura-Satz ist Anlass zu zahlreichen Deutungen und Projektionen.
Eine andere Deutung besagt, dass jeder Mensch sein eigenes Gesetz hat, nach sei-
nen eigenen Standards lebt. Ob dieser extreme und pauschale Individualismus tat-
sächlich dem historischen Protagoras zugeschrieben werden kann, ist zweifelhaft,
doch das soll uns hier nicht weiter bekümmern. Interessant für die folgenden Über-
legungen ist die Typologie von Auffassungen, nach denen es so etwas wie ein in-
dividuelles Gesetz gibt. Die extreme Variante besagt, dass es nur individuelle
Gesetze gibt. So gesehen gäbe es kein gemeinsames Gesetz und kein objektives (von
Gott oder von der Natur fixiertes) Gesetz. Diese Auffassung widerspricht schein-
bar den Tatsachen, nämlich der Existenz gemeinsam geteilter Überzeugungen oder
der Tatsache eines positiven Rechts. (‘Gesetz’ kann als moralisches, aber auch als
juristisches Gesetz verstanden werden.) Doch der Schein trügt, denn auch die ver-
meintlich vorgegebenen und gesetzten Standards sind in manchen Aspekten und
Anwendungen immer wieder Gegenstand von Kontroversen.
In den letzten beiden Jahrhunderten hat eine Neubewertung der Sophisten ein-
gesetzt. Nietzsche muss hier erwähnt werden, hat er doch die Sophisten zur Peri-
kleischen Zeit gezählt, ihren Mut und ihre Ehrlichkeit gepriesen (vgl. Wille zur
Macht, Abschnitte und ; KSA , , f.). Eine von Emerson, Nietzsche
JEAN-CLAUDE WOLF
und Simmel angeregte Auffassung besagt: Es gibt einige Menschen, die geben
sich selber ihr eigenes Gesetz. Andere übernehmen ein bereits vorgegebenes Gesetz.
Diese Auffassung scheidet die Menschen in Konformisten und Non-Konformis-
ten. Es gibt zwei Typen von Moral: Der erste Typus umfasst die “Sittlichkeit der
Sitte”, die auf der Überzeugung beruht, etwas sei richtig, weil es von allen seit lan-
ger Zeit als richtig betrachtet wird. Sowohl die lange Zeit als auch der Konsens
oder die Konvergenz der Meinungen, Einstellungen oder befolgten Regeln spie-
len dabei eine Ausschlag gebende Rolle. Die Ethik des Konformisten besagt, dass
nur diese beiden Faktoren der langen Dauer und der gemeinsam geteilten Über-
zeugung oder Praxis moralisch signifikant sind. Ethik lässt sich also nicht von In-
dividuen reformieren oder neu schaffen.
Die Ethik des Nonkonformisten, der zweite Typus von Moral, besagt, dass nur
das Individuum selber sich sein Gesetz geben könne. Dies ist ein individuelles Ge-
setz, das nur für eine einzige Person gilt und der Einzigartigkeit dieser Person an-
gemessen ist. Das individuelle Gesetz ist “nah, aber schwer zu fassen”; es lässt sich
am besten präsentieren durch Erzählungen aus der eigenen Lebensgeschichte. Wir
begegnen hier dem Phänomen, dass wir etwas nicht so sehr funktional und auf
der Ebene abstrakter Merkmale, sondern nur geschichtlich erklären können (vgl.
Lübbe ). Wir werden auf das Phänomen der Erzählungen zurückkommen.
Würde man ein Vorgehen nach der Empfehlung von Protagoras befolgen, so
müsste man die Gründe für und gegen diese beiden Typen untersuchen. Wir kön-
nen folgendes Schema von Gründen und Einwänden entwerfen:
Eine protagoreische Deutung dieses Schemas besagt, dass keine dieser Positionen
absolut wahr ist, sondern dass sie alle gegeneinander abgewogen werden müssen
und dass schließlich jene Position den Sieg davon trägt, die besonders geschickt
verteidigt wird. Die Philosophie ist also nur so wahr, wie die verwendeten Stra-
tegien der Dialektik und Rhetorik wirksam sind. Der Erfolg einer Theorie ist ihre
Überzeugungskraft, ihre Kraft, Plausibilität und Zustimmung herzustellen.
Überzeugender als die Verteidigung isolierter Position könnte der Versuch sein,
diese Positionen zu kombinieren, etwa in der These, dass es diverse und konkur-
rierende Auffassungen von Moral gibt, dass es einen Streit der ethischen Theorien
VIELSTIMMIGKEIT
gibt. Dieser Streit kann nie ganz aufgelöst werden. Einzelne Auffassungen kön-
nen vorübergehend gestärkt und rhetorisch ausgeschmückt werden, doch der tie-
fere Antagonismus zwischen Konformismus und Nonkonformismus kann nicht
aufgelöst werden. In beiden Fällen haben wir es mit einer Partei zu tun: der Partei
der Erhaltung und Gemeinschaft und der Partei der Veränderung und Individua-
lität. Wenn der Antagonismus nicht aus der Welt geschafft werden kann, so sollte
er wenigstens agonal organisiert werden, nach dem liberalen Modell der Gewalten-
teilung, des Föderalismus und der Vielfalt von Parteien, Verbänden und Unterneh-
men. Die liberale Demokratie scheint ein geeignetes Forum zu bieten, auf dem sich
Konfliktparteien formieren und gegenseitig bekämpfen können. Sie ist unter an-
derem wesentlich ein Wettkampf von Parteien, und es gibt keine Aussicht auf eine
Überpartei oder Einheitspartei, welche etwas Besseres oder Überlegenes anstelle
dieses Wettkampfs bieten könnte. Liberale Politik ist essenzial agonal. Wie die
olympischen Wettkämpfe setzt sie Regeln, d.h. eine Verfassung voraus.
Dieser Auffassung entgegengesetzt wäre eine evolutionistische Sicht, die glaubt,
dass der Konformismus die ältere und “niedrigere” Form von Moral ist, während
der Nonkonformismus eine spätere und “höhere” Form von Moral ist. Das Stufen-
modell lebt davon, dass angenommen wird, die Gründe für den Konformismus
ließen sich definitiv widerlegen oder schwächen. Genau hier liegt aber die Schwä-
che des evolutionistischen Fortschrittsmodells. Lassen sich die Vorteile des Kon-
formismus einfach leugnen oder ignorieren? Liegt es nicht auf der Hand, dass es
für die Sicherheit und die Stabilisierung gegenseitiger Erwartungen in der Gesell-
schaft wichtig und unverzichtbar ist, dass viele Menschen einfach das Richtige
tun, weil es seit langem so gemacht wird und weil die meisten anderen das glei-
che tun? Dies trifft ganz besonders auf elementare Regeln der Moral zu, die viel-
leicht nicht tiefer begründet werden können als mit dem Hinweis, dass ihre gene-
relle Beachtung Sicherheit und Vertrauen fördern.
Man kann sich allerdings fragen, ob man bewusst am Konformismus festhalten
kann, ohne ihn damit bereits zu verraten. Dies scheint insbesondere auf Versuche
zuzutreffen, den Konformismus funktional oder konsequentialistisch zu begrün-
den. Wir begegnen hier einem ähnlichen Paradox wie dem Versuch, den Nutzen
oder die Unentbehrlichkeit von Tabus zu beweisen (vgl. Horn ). Der Konfor-
mismus wäre aus der Innenansicht verstanden eine Position, welche Regeln oder
Tabus wegen ihrer allgemeinen Akzeptanz und ihrer langen Herkunft bewahrt,
und nicht wegen eines vermeintlichen Nutzens oder einer Funktion, die sie haben
mögen – oder auch nicht. Kurz: Die funktionale und folgenorientierte Evaluation
von Konventionen setzt bereits ein Stück Ent-Tabuisierung voraus. Die Innen-
ansicht wird durch eine externe Auffassung abgelöst. Auf die Homo-mensura-Auf-
fassung übertragen könnte man z.B. sagen, die Menschen sollten an der über-
lieferten Auffassung der Götter festhalten, weil das – nach menschlichen Gesichts-
punkten betrachtet – am wirksamsten zu ihrem Wohl oder Frieden beiträgt. Wir
JEAN-CLAUDE WOLF
Friede jedoch eine permanente Versuchung und Gefahr; sie müssen aus dieser
Ordnung ausbrechen. Aus der Sicht dieser Ordnung sind sie notwendigerweise
‘Ver-Brecher’, d.h. Norm-Brecher. Doch wir Nonkonformisten setzen uns über die
externe und negative Evaluation der Schwachen und Mittelmäßigen hinweg –
oder wir versuchen es jedenfalls, soweit es möglich ist.”
Der elitäre Gestus der Nonkonformisten wird indes durch die Verinnerlichung
moralischer Regeln und Normen in der Erziehung nachhaltig gestört. Den Non-
konformisten verfolgt das “schlechte Gewissen” wie der Schatten seiner Vergangen-
heit. Ist er nicht völlig abgestumpft oder abgebrüht, so bleibt er anfällig für die
Versuche der Mehrheit, ihm Schuldgefühle zu verursachen. Je mehr der Nonkon-
formist versucht, sich über die Herde hinwegzusetzen, umso größer wird die Ge-
fahr, von der längst verinnerlichten Missbilligung der Herde eingeholt zu werden.
Will der Nonkonformismus den Generalangriff der äußeren und verinnerlich-
ten Stimmen der konventionellen Moralkritik überleben, muss er sich selbst in
Gruppen und Traditionen konsolidieren. Indem er sich verbündet und Traditio-
nen stiftet, schafft er sich ein gutes Gewissen. Er beginnt als subversive Subkultur
und endet im Extremfall als “Individualismus der Massen”. Der Nonkonformis-
mus ist also wesentlich instabil; dies hat er mit dem reinen und radikalen Kon-
formismus gemeinsam. Beide wandeln sich, wobei es zu bizarren Assimilationen
kommen kann, etwa zur Degeneration des Individualismus zur Mode. Auch der
Konformismus beginnt sich für das Gift der Gegenpartei zu öffnen, indem er sei-
ne eigene Position “besser” begründet. Konformismus und Nonkonformismus ver-
lieren im komplexen Gegeneinander und Nebeneinander ihre scharfe Kontur. Es
kommt zum profilarmen Mischmasch und zur Annäherung der Feinde, wie wir es
aus der Entwicklung der großen politischen Parteien kennen. Eine Partei versucht,
möglichst viele Stimmen zu mobilisieren, indem sie die Anliegen der gegnerischen
Partei in ihr Programm integriert. Je mehr sie sich der Gegenpartei angleicht, umso
mehr Überläufer und Protestwähler der gegnerischen Partei zieht sie an und umso
mehr “Stamm- und Überzeugungswähler” droht sie zu verlieren. Der Antagonis-
mus der Parteien tendiert zur Pattsituation durch beiderseitigen Profilverlust.
Auch diese Entwicklungen können eine protagoreische Sichtweise bestätigen,
welche besagt, dass Menschen die Standards ihrer Wahrnehmung und Beurteilung
erzeugen oder verändern und sich damit in eine unübersichtliche Selbstaufhebung
verstricken (vgl. Zittel ). Nach Platon ist der Sophist ein “Großhändler oder
Krämer in Waren, von denen eine Seele sich ernährt” (Protagoras c); Rhetorik
ist Psychagogik (vgl. Phaidros a–e). Doch wie ist dieser Handel bzw. diese See-
lenführung möglich? Je mehr ich versuche, meine Wahrheiten an andere zu ver-
kaufen, umso mehr Konzessionen und Kompromisse an die Interessen und Stan-
dards anderer muss ich machen, um überhaupt verstanden zu werden. Ich muss
mich im Kontext ihrer Bilder und in der Lebenswelt ihrer Vergleiche bewegen. Fah-
rende Lehrer sind wie freie Unternehmer; mehr als adlige Lehrer müssen sie An-
JEAN-CLAUDE WOLF
anderen mitteilen möchte, muss ich kämpfen. Es gibt keine bequeme und kampf-
lose Verständigung. Der Wust der möglichen und tatsächlichen Missverständnisse
ist undurchdringlich. Wir tun nur so, als ob wir gemeinsame Maße und Maß-
stäbe hätten, doch wir gleichen jenen Menschen, die sich gegenseitig ihre Träume
erzählen möchten. Jeder kehrt zurück aus der eigenen Welt des Traumes in eine
konventionelle Welt der Grammatik und des Warenverkehrs. Nur schon die Tat-
sache, dass einer seine Träume erzählen will, stößt bei vielen auf Unverständnis
und Ablehnung. “Was gehen mich fremde Träume an? Ich habe nicht einmal Zeit,
meine eigenen Träume zu beachten.” Der Homo-mensura Satz könnte auf eine
verborgene Wahrheit verweisen, die aber gewöhnlich nicht wahrgenommen wird,
und diese verborgene Wahrheit besagt: “Es gibt keine Verständigung.” Was wir
auch sagen und tun, wir tun es im Medium opaker Missverständnisse. Wir sen-
den mit jedem gut gemeinten Urteil unzählige non-verbale Botschaften aus; die
Sprache ist nicht ein Vehikel zum sauberen Austausch von Informationen, son-
dern ein Abgrund von Missverständnissen und Andeutungen, die aber unter der
Schwelle des Bewusstseins verlaufen.
Rhetoriker und Dialektiker bedenken die Ausweitung der Sprache zu einer
“Zeichensprache der Affekte” (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. , KSA
, , vgl. und , ), doch der Vorgang ist schwer zu kontrollieren. Nicht nur
können Affekte zu Worten führen, sondern auch umgekehrt: Reden wecken Af-
fekte. Der Rhetoriker denkt nach über die Bedingungen der Aufmerksamkeit sei-
ner Zuhörer, doch in der Praxis geht fast alles schief. Rhetorik ist wie Kunst
schlecht in Regeln zu bringen. Eine gute Rede besteht nicht in der möglichst kor-
rekten und peniblen Anwendung von Regeln der Rhetorik.
Eine simple und wohl bekannte Beobachtung mag die Unkontrollierbarkeit der
Verständigung illustrieren. Wer andere von komplexen Sachverhalten überzeu-
gen möchte, bedarf dazu viel Zeit. Je länger ich reden darf, desto größer wird die
Chance, mögliche Missverständnisse zu beseitigen und wahrscheinliche Einwände
zu antizipieren und eventuell zu entkräften. Wissenschafter (Männer und Frauen)
sind Dauerredner. In Platons Protagoras wird auch der große Protagoras als Dauer-
redner karikiert, der sich auf dem Terrain der kurzen Rede mit Sokrates nicht
messen mag und auch nicht messen kann.
Platon ist die wichtigste Quelle für den pejorativen Gebrauch des Wortes ‘So-
phist’. Moderne Sophisten möchten an jeder Tagung und bei jedem in ihren Augen
wichtigen Anlass möglichst lange reden. Sie möchten dicke Bücher oder zahlrei-
che Artikel verfassen, um sich möglichst unmissverständlich und überzeugend zu
äußern. Doch jemand, der länger als zehn Minuten redet, ermüdet. Die Gedanken
der Zuhörer schweifen ab. Der narzisstische Gewinn, vor anderen reden zu dürfen,
die schweigen müssen, ist enorm – so enorm, dass dabei die Ermüdung der ande-
ren kaum wahrgenommen wird. Längere Reden sind unvermeidlich Akte der
Selbstinszenierung und der Fremdunterdrückung. Halbwegs erträgliche Mara-
JEAN-CLAUDE WOLF
thonredner sind eher Unterhalter als Lehrer. Gutmeinende Vielredner und Viel-
schreiber erreichen das Gegenteil dessen, was sie anstreben: Anstelle von Zustim-
mung ermüden sie, wecken Apathie, Trotz oder Zorn. Wer lange redet, hält sich
für Gott, der aus sich heraus ohne Hilfe oder Unterbrechung allmählich eine völ-
lig unparteiische und überpersönliche Sicht der Dinge entwickeln will. Durch die
Tatsache, dass er (oder sie) lange redet, ist er Partei. Er gehört zur Partei der Reden-
den und spricht zur Partei der Schweigenden.
Langes Zuhören ist eine Form von Erleiden, das dadurch gemildert wird, dass
sich der Zuhörer mit dem starken Wissensanspruch des Redners identifiziert. Wer
vollständiges oder vollkommenes Wissen beansprucht, wird versuchen, möglichst
ausführlich und systematisch alle möglichen oder signifikanten Perspektiven in
eine einzige Perspektive oder Totalansicht zu integrieren. Dies mag vielleicht ei-
nigen imponieren. So hat etwa Hegel, der diesen Anspruch der Philosophie auf
Totalisierung aller möglichen Perspektiven in einem absoluten Wissen auf seine
Weise einlöste, Schule gemacht. Die Hegelianer haben sich jedoch bald in Schu-
len und Fraktionen aufgelöst; dem Triumpf des enzyklopädischen Wissens folgte
der Katzenjammer der Schulstreitigkeiten.
Platons Sokrates hat im übrigen das Problem im Streit um kurze oder lange
Rede mit Protagoras nicht gelöst. Sokrates drängt seinem widerstrebenden Geg-
ner seinen bevorzugten Stil der kurzen Rede auf. Doch was ist das für eine Rede!
Es ist die bekannte zermürbende Taktik von Sokrates, die darin besteht, zunächst
Zustimmung für eine Reihe von Trivialitäten zu verlangen (was an sich schon er-
müdend ist), dabei dem Gesprächsteilnehmer zunächst zu schmeicheln und ihn
dann plötzlich in einen Selbstwiderspruch zu verwickeln. Je höher die Erhöhung
durch Lob, umso tiefer der Fall durch die dialektische Demütigung. Dabei sind
Sokrates alle Mittel recht, auch die Anwendung von absurden Selbstprädikatio-
nen (wie “Die Frömmigkeit ist fromm”, “Die Gerechtigkeit gerecht” etc., vgl.
Protagoras e–b). Absurd ist Selbstprädikation deshalb, weil sie den Begriffen
Eigenschaften zuschreibt, die Begriffen gar nicht zukommen können. Röte kann
nicht rot sein, weil ein Begriff nicht zu der Art von Dingen gehört, die Farbe an-
nehmen können; Frömmigkeit als Begriff gehört ebenfalls zu einem Bereich von
Wesenheiten, die ihrer Natur nach nicht geeignet sind, Tugenden oder Laster an-
zunehmen.
Die Hinterlist des Sokrates besteht nicht nur in seiner Ironie der falschen Kom-
plimente, sondern auch in der Tatsache, dass nur Sokrates im Voraus ungefähr
weiß, worauf er hinaus will – für die meisten Dialogpartner ist das völlig unklar,
obwohl sie oft merken, dass er etwas im Schilde führt. Meistens dämmert es
ihnen erst, wenn sie bereits in die Falle getappt sind. Noch schlimmer: Platons
schriftliche Fixierung des Dialogs ist möglich vor dem Hintergrund zurückgehal-
tener Programme und Berechnungen, welche die verborgene Systematik der Dia-
loge offen legen könnten. Der “göttliche Platon” kennt die verborgene Teleologie
VIELSTIMMIGKEIT
seiner Dialoge. Die orale Situation, die inszenierte und gespielte Spontaneität und
Unübersichtlichkeit von laufenden Streitgesprächen, ist im höchsten Maße artifi-
ziell – ungefähr so artifiziell wie in Komödie und Operette! Dürfte man Platons
Dialoge als Komödien lesen, wie einst Ernst Hoffmann vorgeschlagen hat, und
müsste man sie nicht als Lösung schwieriger inner-platonischer Probleme und als
Selbstkritik eines Parmenidesschülers ernst nehmen, so wäre der Genuss der ironi-
schen Ranküne des Sokrates ungetrübt. Er benimmt sich mit seiner hinterlistigen
Demut wie die Sklaven der antiken Komödie. Allerdings hatte Platon andere Am-
bitionen als die Komödiendichter. Entsprechend hat er ein Spiegellabyrinth von
Problemverschachtelungen hinterlassen, in dem sich nur wenige Spezialisten und
professionelle Logiker zurechtfinden.
Die Anmaßung des platonischen Sokrates besteht darin, dass er den pragmati-
schen Vorschlag des Hippias, nämlich die Einsetzung eines Schiedsrichters zur
sinnvollen Begrenzung auf eine mittlere Redezeit, ablehnt. Das metron des Hippias
ist ein quantitatives – eine Reduktion auf “eine maßvolle Länge der Erörterung”
(Protagoras b). Redezeit wird gleichsam zur messbaren und damit auch bezahl-
baren Arbeitszeit. Gewiss ist dieser Vorschlag nicht die Lösung aller Probleme,
doch er ist ein essenzieller Beitrag zur formalen Ent-Hierarchisierung der Diskus-
sion. Redezeitüberschreitungen werden streng geahndet; damit würde nicht nur
die Monomanie des Protagoras (wie ihn Platon karikiert) korrigiert, sondern auch
die verwirrende, weil Sinn und Ziel verbergende Staccato-Befragung verhindert.
Sokrates lehnt das pragmatische Verfahren ab, und zwar mit schlechten Grün-
den, die, wenn sie ernsthaft gemeint wären, jede Form von Schiedsgericht und
Gerechtigkeit durch Verfahren kompromittieren würden (vgl. Protagoras b–e).
Ein Schiedsrichter, der weniger weise wäre als die Streitparteien, würde schlecht
entscheiden; ein Schiedsrichter, der ebenso weise wäre, wäre überflüssig. Ein
Schiedsrichter, der weiser wäre als Protagoras, so die unverschämte Ironie, ließe
sich kaum finden. Statt dessen plädiert Sokrates für seine Kürze – die in der zer-
mürbenden Fragetaktik besteht und in der hinterlistigen Strategie, fremde Wis-
sensansprüche zu prüfen, ohne selber viel zu wagen. Der platonische Sokrates ist
selber der hinterhältigste Sophist! Allerdings schwächt er auch die Härte seines
Vorschlags durch einen formal-pragmatischen Trick ab, nämlich durch eine Rota-
tion der Rollen von Fragendem und Befragtem. Auch über der Einhaltung dieses
formalen Verfahrens müsste ein Schiedsrichter wachen. Es ist bemerkenswert, wie
wenig dieser Vorschlag im weiteren Verlauf des Dialogs realisiert wird. Sokrates’
Argumente gegen Schiedsrichter sind ohnehin beside the point: Für die Kontrolle
der Einhaltung formaler Gesichtspunkte braucht es keine überdurchschnittliche
philosophische Kompetenz, sondern lediglich einen aufmerksamen Geist, der
zählen oder messen kann.
Doch kommen wir zurück auf die Vorzüge der Kürze. In der Kürze liegt die
Würze. Dies gilt ganz besonders für die Situation der Rednerin oder des Redners.
JEAN-CLAUDE WOLF
Wer rechtzeitig aufhört zu reden, erntet Applaus, der Erleichterung zum Aus-
druck bringt, dass die Diktatur der Einen Stimme der Vielfalt der Stimmen weicht.
Der Homo-mensura-Satz könnte auf uns Epigonen nachwirken als ein Plädoyer
für Vielstimmigkeit in Wissenschaft, Politik, in der Kunst und der Koexistenz der
Religionen.
Mit der musikalischen Metapher der Vielstimmigkeit hat es folgende Bewandt-
nis. Musik ist nach Schopenhauer der direkte Ausdruck des Willens bzw. der reins-
te Spiegel der geringsten Trübung oder Aufklärung der Stimmungen. Die Meta-
pher der Vielstimmigkeit entspricht der Tatsache, dass Individualität letztlich eine
Sache des Willens ist. Das Ich, sofern es sich selber will, bejaht und bewertet, ist
die Quelle jener Besonderheit (oder Absonderlichkeit), die es von allen anderen
unterscheidet. Die Quelle der Einmaligkeit oder “Jemeinigkeit” lässt sich nicht
in der Vernunft, sondern nur in den Nuancen der “Gestimmtheit” lokalisieren.
Der neuzeitlich radikalisierte Homo-mensura-Satz macht das jemeinige Maß al-
ler Dinge in der exzentrischen Befindlichkeit aus. Hier – in der Stimmung mit
ihren berüchtigten Schwankungen – liegt das letzte Maß für den Sinn und Wert
des eigenen Lebens. Das romantische Selbst ist dazu disponiert, zwischen den
Extremen des Enthusiasmus und des Pessimismus zu schwanken.
Der radikale Individualismus schöpft nicht aus der Vernunftnatur des Men-
schen, denn diese ist, wenn es sie denn im Sinn von Aristoteles oder Kant gäbe,
bei allen Menschen die gleiche und gemeinsame. Sie ist das uniforme und atem-
porale “Wesen” des Menschen. In Bezug auf diese Natur sind die Individuen ge-
rade nicht unverwechselbar, sondern verwechselbar. Vernunft einigt die Menschen,
während Stimmung – sieht man einmal ab von kollektiven Befindlichkeiten oder
spezifischen Massenstimmungen – sie scheidet. Menschen sind letztlich so ver-
schieden und so sehr persona ineffabile, wie sie sich fühlen. Auch die Tatsache, dass
sich viele Menschen als Zentrum der Welt und daher als wichtiger als alle anderen
fühlen, ist nicht mehr als Gefühl – aber auch nicht weniger als ein hartnäckiges,
kaum korrigierbares Grundgestein von Gefühl. Individualität durch Gestimmt-
heit entspricht einer romantischen Selbstauffassung, während die Identifikation
des Wesens des Menschen in der gemeinsamen Vernunft einer aufklärerisch-ratio-
nalistischen Sichtweise entspricht.
Wäre der Homo-mensura-Satz in seiner individualistischen Variante nicht wahr,
wäre der Mensch vielmehr nur als Gattungswesen verstanden das Maß aller Dinge,
so gäbe es deshalb nicht mehr Frieden und Konsens unter den Menschen. Wie soll
der Mensch als Maß aller Dinge sich stets und rasch mit anderen einigen kön-
nen, wenn er oft sogar mit sich selber in Unfrieden und Zwiespalt lebt? Dem Glau-
ben an ein letztlich homogenes (Vernunft-)Wesen der Menschen steht der über-
wältigende Eindruck der Vielfalt seiner Stimmungen, Affekte und Interessen ge-
genüber. Protagoras, der große Rhetor und Dialektiker, musste stets den Menschen
als affektbestimmtes Wesen vor Augen haben.
VIELSTIMMIGKEIT
Plausibler wird Nietzsches These, wenn man Mythos einfach mit kulturstiften-
den und kulturprägenden Erzählungen gleichsetzt. Wir haben bereits an die Be-
deutung der Erzählung für die Selbstdarstellung erinnert. Was für individuelle Bio-
graphien gilt, dass sie nur historisch verstanden und verständlich werden, gilt mu-
tatis mutandis auch für ganze Kulturen. Eine völlig aufgeklärte Gesellschaft ohne
Kultur stiftende und Kultur prägende Erzählungen hätte keinen Platz mehr für
das Überflüssige und Nutzlose. Eine Kultur, die nur am Nutzen gemessen würde,
erwiese sich bald als in sich absurd und trostlos.
Die Hypothese, dass wir von den Göttern nichts mit Sicherheit wissen können,
kann dazu benutzt werden, uns den Göttern frisch und erneut, aber auch spieleri-
scher und ironischer zu widmen, z.B. als den Garanten des eminent Nutzlosen.
Der “Nutzen des Nutzlosen” besteht darin, dass sich einige Menschen jenseits
der Arbeitswelt und der Welt der Sorgen einen Freiraum für die eigene Seele und
das freie Schaffen erhalten. Protagoras scheint uns aus der großen Ferne des Zeiten-
abstandes diese Lizenz zu erteilen.
Jeder Versuch, die Götter einseitig zu funktionalisieren, lässt sich durch Gegen-
entwürfe einschränken. Dem moralischen Zeitalter der Aufklärung waren die be-
reinigten und zensierten Götter Homers Vorbilder und Garanten des Anstands
und der Moral. Dies war ein krampfhafter Versuch, den bürgerlichen Nutzen der
Religion nachzuweisen. Die Romantik hat diese Moralisierung der Götter und
der Religion misstrauisch beurteilt. Den Romantikern waren die Götter Chiffren
der Sehnsucht nach dem Unendlichen – und des menschlichen Scheiterns. Dem
psychologischen Zeitalter werden diese Götter kostbare innere Zustände der Seele
sein; dem technologischen Zeitalter werden diese Götter Astronauten von anderen
Planeten sein (vgl. Jung ). Die einen werden Resonanz für ihre Seele finden
im Mystery-Park von Erich von Däniken, die anderen werden einen griechisch-
orthodoxen Gottesdienst vorziehen. Andere werden den Hauch Gottes in den
noch nicht völlig abgestorbenen Wäldern finden. Was liegt daran? Was zählt, ist die
Vielstimmigkeit, die Chance, dass jeder in eroticis und religionibus sein eigenes
Maß sein darf, sofern er das wünscht und vermag. Wem das als Orientierungs-
losigkeit und Banalisierung der Religionen erscheinen mag, der möge sich in das
überreiche Angebot an religiösen Orthodoxien und Konformismen flüchten.
Die von mir bevorzugte individualistische Auffassung soll nicht zur objektiv
wahren Metaauffassung stilisiert werden. Es braucht jene, welche für den einen
Gott und seine wahre Offenbarung eifern. Ihre Streitlust ist ebenso anregend (und
auf die Länge ermüdend) wie die Streitlust ihrer ironischen Gegner. Es braucht
nicht nur intellektuelle Entertainer wie Odo Marquard (vgl. Marquard ),
sondern auch ernsthaft-trockene Persönlichkeiten wie Kardinal Ratzinger. Ratzin-
gers Gott ist unter anderem eine Metapher dafür, dass Ratzingers Weisheit nur Tor-
heit vor Gott ist, dass auch der große Apologet und Glaubenswächter angesichts
der Wahrheit Gottes nicht ganz recht haben kann. Aus der Optik von Marquard-
VIELSTIMMIGKEIT
schen Göttern (als Metaphern einer Vorliebe für Vielfalt und Gewaltenteilung)
wäre Ratzinger ein Exponent des Monomythischen, ein Verteidiger des offiziellen
dogmatischen Monotheismus gegen die reichen polymythischen Unterströme
der katholischen Ikonographie, in der Marien-, Heiligen- und Engelsbilder kaum
zu unterscheiden sind von der Darstellung von Göttern.
Die neuzeitliche Religionskritik von Hume, Schopenhauer und Nietzsche hat
die Vorzüge des Polytheismus über den Monotheismus erwogen; diese Provoka-
tionen haben in der Theologie neue Forschungen über die Entstehung und Funk-
tion von Monotheismus und Henotheismus aus dem Polytheismus angeregt (vgl.
Söding ; Soler ). Bei Nietzsche und Marquard handelt es sich allerdings
um Polytheismus als Metapher, nicht um die buchstäbliche Restitution der Viel-
götterei. Der tiefe Graben zwischen Theologie und Poesie, Mythologie und syste-
matischer Doktrin wird zugeschüttet. Damit wird aber nicht nur unverbindliche
Spielerei und Kunst der Assoziationen angeregt, sondern vielmehr philosophische
Metaphorologie, “Arbeit am Mythos”, wie der bekannte Titel von Hans Blumen-
berg lautet. Der Imperativ der Glaubensdespoten “Du sollst dies oder jenes glau-
ben” wird ersetzt durch die Einladung, manches in und außerhalb unserer reli-
giösen Traditionen anders und neu zu sehen.
Protagoras ist auch aus kontingenten Gründen der Überlieferung das Gegen-
teil eines Meinungs- und Glaubensdespoten: Es sind nur wenig Fragmente über-
liefert, welche die Phantasie der Interpreten mehr anheizen als lange und lang-
weilige Traktate. Die Kontingenz der Überlieferungsgeschichte entbehrt nicht der
Ironie: Wären mehr Texte von Protagoras erhalten, würden wahrscheinlich manche
geistreiche Deutungen zerstört. Ob der Homo-mensura-Satz der Autorenintention
nach eine Spur Ironie enthält, können wir heute nicht entscheiden. Es wäre je-
doch lohnend, dieser Auffassung kurz nachzugehen. Die Ironie kann darin liegen,
dass jeder meint, mehr als nur seine persönlichen Wahrheiten zu besitzen. Der
Mensch macht sich zum Maß aller Wahrheiten – ohne dies zu realisieren. Er gibt
seine persönlichen Meinungen als objektive Erkenntnisansprüche aus. Die Ironie
könnte aber auch in einer bewussten Haltung liegen, die besagt: Es mag noch so
wichtig und pompös erscheinen, was ich sage oder tue – es ist und bleibt mensch-
lich-allzumenschlich. So gesehen wären Ironie und Religion nicht zwei völlig ent-
gegengesetzte Lebensformen, wie Søren Kierkegaard in seiner Darstellung von
Lebensstadien suggeriert, sondern komplementäre Haltungen. Wer religiös ist,
verhält sich zu allem Nur-Menschlichen ironisch. Er wird auch seine eigenen Vor-
stellungen und Vorspiegelungen über Gott ironisch gebrochen wahrnehmen –
nämlich als wesentlich unzulängliche Spekulationen. Ironie und Selbstironie sind
nicht nur vereinbar mit Religion, sondern unverzichtbar – soll Religion nicht zur
dogmatischen und fanatischen Geißel der Menschheit werden.
Die anachronistische Inanspruchnahme des Protagoras für moderne ironische
Vielgötterei widerspricht dem Eindruck, dass sich die Kritik der Götter bei Prot-
JEAN-CLAUDE WOLF
Kuh im vierten Buch Mose eine Ritualvorschrift, die sich nicht weiter begründen
oder verstehen lässt. Der Henotheismus (im Falle Platons und des ursprünglichen
Jahwe) und der Monotheismus haben nicht ein einziges Maß und Gesetz für alle
Menschen hervorgebracht. Der Streit der Götter hat sich in einen Streit um die
richtige Deutung des gesetzgeberischen Willens des einen Gottes verwandelt. Die-
ser eine Gott, der den Tod seines eigenen Sohnes und andere Katastrophen zulässt,
vielleicht sogar plant, ist merkwürdig frei von Mitleid. Der Monotheismus hat uns
keinen Schritt über die Rätsel und Unstimmigkeiten des Polytheismus hinausge-
führt. Es gibt keinen linearen Fortschritt vom Polytheismus zum Monotheismus,
es gibt keinen echten oder gar wissenschaftlichen Lernprozess, der vom Mythos
der Götterversammlung zum Logos des einsam thronenden Gottes führt.
Selbst wenn wir den einzigen Gott als Gesetzgeber annehmen, bleibt es doch
erstaunlich, wie wenig wir über den Willen und die Gründe dieses Gottes wissen.
Wir kehren zurück zur These (wenn es überhaupt seine These war) des Protagoras,
dass wir über die Götter nichts wissen können. Der Mensch bleibt das Maß aller
Dinge; was er über die Götter weiß, gleicht den Spekulationen eines treuen Hun-
des über seinen Zeitung lesenden Herrn. Der Hund wird nie verstehen, warum
sich sein Herr ausgerechnet auf der Börsenseite so intensiv freut oder ärgert. Wer
hier Protagoras widersprechen möchte, wer den einen Gott als das Maß aller Din-
ge ausgeben möchte, der hätte nichts gewonnen – denn wie könnten wir diesen
einen Gott verstehen? Dieses angeblich objektive und wahre Maß wird immer
wieder der Vielstimmigkeit seiner Deuter, Bewahrer und Kritiker ausgesetzt. Auch
hinter dem theozentrischen Weltbild lauert die Anthropozentrik; an der Schwelle
zur Neuzeit gebiert es das Ungeheuer der konfessionellen Kriege.
Dass Ironie nicht Asebie, Gottlosigkeit oder Hybris ist, wurde in der christlichen
Tradition lange nicht erkannt. Die Spötter über die verzögerte Parusie sind in
Petrus , die Feinde des Glaubens. Sie machen sich lustig über jene, welche an
das unmittelbar bevorstehende Anbrechen der Endzeit glauben. Doch sind sie
nicht viel harmloser als die erwähnten falschen Propheten? Schließlich treffen sie
den schwachen Punkt der frühen Gemeinden, nämlich ihre Verhaftung an allzu
konkreten und allzu realen Endzeitvorstellungen.
Zwar haben die Spötter die Geschichte des Christentums flankiert, aber sie ha-
ben ihrer Spötterei und Ironie nur unter Lebensgefahr gefrönt. Wo der Spott nicht
als Komödie, Narrenmesse, Karneval u.ä. kanalisiert war, wurde er verfolgt. Erst in
jüngster Zeit kommt es, insbesondere unter dem Einfluss liberaler Politikentwürfe,
zu einer Anerkennung der wohltuenden Effekte von Spott und spielerischer Ironie
auf die Lebensbedingungen des religiösen Pluralismus (vgl. Reece ). Glaub-
würdige Gläubige verkriechen sich nicht wie tödlich verletzte Tiere vor dem Spott
der anderen, und sie bedrohen die Spötter nicht mit Tod und Verdammnis. Ironi-
ker sind unter den veränderten Bedingungen nicht mehr Feinde, sondern eher die
für unsere Schwächen hellsichtigeren und verständnisvolleren Brüder und Schwes-
JEAN-CLAUDE WOLF
tern im anderen Glauben. Atheisten und Agnostiker sind anzuhören, weil sie an
die Angreifbarkeit des Glaubens erinnern. Es gibt nur angreifbaren Glauben; reli-
giöser Glaube ist essenziell umstritten. Der moderne religiöse Ironiker kann nicht
nur über sich, sondern auch über seine Götter und Götzen lachen.
Nicht die liberal zivilisierten Religionen, sondern die rabiate Kirchen- und Re-
ligionsfeindlichkeit einiger Aufklärer und Marxisten-Leninisten werden als neue
Quelle von Gewalt und Intoleranz erkannt. Die liberale und selbstironische Reli-
giosität verfügt weder über ein Monopol noch über ein Kriterium der Wahrheit.
Eine scharfe Trennlinie zwischen Göttern und Götzen gibt es nicht. Ironiker glau-
ben an einen Gott, den man nicht durch Ironie beleidigen und erzürnen kann, und
sie pflegen eine Religiosität, welche durch die Stimme der Spötter nicht bedroht
oder zerstört wird. Allzu eifrige und aggressive Spötter lassen sich umgekehrt oft
genug als enttäuschte und verbitterte Religiöse von ehemals enttarnen. Ihre Kri-
tik ist eine Abrechnung mit vergangenen seelischen Verletzungen. Nicht die libe-
ral zivilisierten Religionen, sondern die rabiate Kirchen- und Religionsfeindlich-
keit einiger Aufklärer und Marxisten-Leninisten wurden als neue Quelle von Ge-
walt und Intoleranz auffällig.
Das Christentum hat seinen offiziellen Triumph über den Polytheismus auf
wohltuende Art relativiert, nämlich durch scharfsinnige und phantasievolle Speku-
lationen über die Trinität. Der christliche Gott neigt zur Arbeitsteilung: Weil der
Vater nicht alles ausrichten kann, überlässt er einiges dem Sohn, und dieser dele-
giert übrige Arbeit an den Heiligen Geist. Hier haben wir es zwar mit einem Gott
zu tun, der aber nicht so völlig einheitlich und homogen ist, sondern in sich ge-
gliedert und strukturiert nach verschiedenen Instanzen. Auch an diesem Gott pral-
len törichte Kinderfragen ab. Nur ein Beispiel: Warum betet Jesus zu Gott: “Und
führe uns nicht in Versuchung?” Wohlmeinende Prediger haben dies gern als
“Übersetzungsfehler” abgetan; es müsste heißen: “Und führe uns in der Versu-
chung.” Doch von einem Übersetzungsfehler kann nicht die Rede sein. Dass die
törichte Kinderfrage bereits die ersten Christen bedrängte, zeigt die ebenfalls theo-
logisierende und beschönigende Stelle im Brief des Jakobus , f. Es ist eine be-
schwichtigende und ad hoc konstruierte Antwort, welche den zornigen, grimmigen
und furchtbar drohenden Gott ebenso auslässt wie den versuchenden und versu-
cherischen Gott, der den Menschen Fallen stellt und sie grauenhaften Proben aus-
setzt, wie es u.a. die Rahmenerzählung des Buches Hiob illustriert. Ein erdichteter
Gott wie Nietzsches Dionysos darf ein Versucher sein. “Dionysos, jener große
Zweideutige und Versucher Gott” (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse Nr. ,
KSA , ). Erdichtet heißt fiktiv, aber auch reich an Bedeutungsfülle – im Un-
terschied zu einem Gottesbegriff, der sich in eine Doktrin zwängen lässt.
Der dogmatisch und moralisch bereinigte Gott ist frei von Widersprüchen und
moralisch rein. Theologen haben den “Nachweis” erbracht, dass sich die drei In-
stanzen Gottes nie streiten können, was – vom Standpunkt des Amateurs aus be-
VIELSTIMMIGKEIT
trachtet – eher unwahrscheinlich ist. Warum sollten sich der Sohn und der Heili-
ge Geist nie in den Haaren liegen? Warum darf es keine Unstimmigkeiten und
Konflikte geben zwischen Vater und Sohn? Je einiger die drei Instanzen Gottes vor-
gestellt werden, desto mächtiger wirken sie gegenüber den Menschen – dies ist
das Drama der allzu harmonischen Familie für die Kinder, die nie lernen, ange-
sichts uneiniger Eltern selber entscheiden und handeln zu müssen. Das Christen-
tum wurde bereichert und an inneren Widersprüchen und Reizen ausgestattet
durch die Lehre von der Sündenlosigkeit der Mutter Maria. Sie ist zwar ohne Sün-
de, aber trotzdem nicht Gott und nicht Engel. Wenn das keine Vermehrung der
Register auf der Orgel der Vieldeutigkeit ist! Wir haben also eine einzigartige Per-
son vor uns, die Mensch, aber ohne Sünde ist. Diese Maria kann konsequenter-
weise nicht normal gestorben sein, also ist sie direkt in den Himmel aufgefahren.
Sie mutiert, wie die Ikonographie der übergroßen Mutter mit dem kleinen Kind
und der thronenden Himmelskönigin suggeriert, zur “geheimen Göttin des Chris-
tentums” (Christa Mulack).
Moralische Eiferer haben oft den Prunk und die üppig-schwülstige Ästhetik der
katholischen Kirche kritisiert. Wie konnte es dazu kommen, dass sich die Kirche
so weit vom jesuanischen und franziskanischen Ideal der gelebten Armut entfernt?
Raffinierte Spötter und Ästheten wie Oscar Wilde und Joris-Karl Huysmans haben
dagegen die Tiefe und produktive Dekadenz der katholischen Tradition gepriesen.
Auch die Sündenlehre hat eine ironische Kehrseite: Sie kultiviert die Lust an der
Übertretung, den Reiz des Verbotenen. Wäre eine Welt ohne katholische Verbote
und Tabus nicht ärmer – nämlich ärmer genau um diese heimliche Lust der Über-
tretung, die stets auf einen verständnisvollen Beichtvater und einen gnädigen Gott
zählen darf? Huysmans hat in seinem erschienenen Roman “A rebours” den
Sadismus der katholischen Kirche ironisch gedeutet, nämlich als Reiz und Lust des
Sakrilegs. Grausamkeit ist an sich sinnlos und wertlos, doch im Rahmen einer
dekadenten Kirche des .Jahrhunderts, die Mitleid als Religion predigt, erhält
der Sadismus neue Farben. “Bedeutete der Sadismus nicht auch ein Sakrileg, hätte
er keine Daseinsberechtigung.” (Huysmans , Kapitel , S. f.) So kann es
auch nicht weiter verwundern, dass die erotischen Eskapaden des Protagonisten
durch ein homosexuelles Abenteuer gekrönt werden.
Die Trinitätslehre, aber auch die Mariologie, die Engels- und Heiligenlehre und
die Lehre von der Transsubstantation gehören zu den glanzvollen Mythen der ka-
tholischen Kirche, die dokumentieren, dass es in dieser Kirche unter der Fassade
der offiziellen Glaubenswächter viel mehr Polyphonie und Polytheismus und sogar
Theophagie (das Fressen des leibhaftigen Gottes) geben muss, als gewöhnlich zuge-
geben wird. Die katholische Kirche hat den Leninismus und andere künstliche to-
talitäre Doktrinen überlebt, nicht so sehr weil sie überlegene Wahrheiten verwaltet,
sondern unter anderem vielleicht deshalb, weil sie über die prächtigeren und wider-
spruchsreicheren Bilder, Symbole und Metaphern verfügt. In der Krypta und der
JEAN-CLAUDE WOLF
Liturgie der katholischen Kirche gibt es Platz für das Geheimnisvolle und Unbe-
greifliche, das auch als Vielfalt und Vielstimmigkeit von Maßstäben gedeutet wer-
den könnte. Wenn Gott und das Geheimnis des Glaubens unbegreiflich sind, dann
sind viele und divergierende Begriffe und Bilder zulässig. Vielleicht hat es die große
Kirche gerade deshalb nötig, an den Ideen von Einheit und Wahrheit im Glauben
so schroff festzuhalten, weil sie an Mythen und Metaphern bis zum Bersten geseg-
net ist. Die Abwehr ihres latenten Polytheismus, die verzweifelte Bündelung ihrer
eigenen synkretistischen Polymythien aus Judentum, christlicher, römischer und
arabischer Antike und die permanenten Vermittlungsversuche von Kontinuitäts-
bewahrung und Anpassung machen den Kampf um Einheit und Kohärenz in der
Glaubenslehre zu einem sterilen und vergeblichen Geschäft. Diese Tradition ist
reicher und anregender als die Enzykliken ihrer römischen Gralswächter.
Steht Protagoras in der Linie einer gegen die anthropomorphen Göttergeschich-
ten Homers und Hesiods gerichteten antiken Religionskritik, so steht moderne
Monotheismuskritik seit David Hume (vgl. Werbick in Söding , –) in
einer Linie der Umdeutung von Mythos und Religion zu Metaphern der Gewal-
tenteilung und der wohlwollenden Bewertung der Vielstimmigkeit. Beide Auffas-
sungen münden in Anthropologie, nicht in Theologie. Die Fragen der Theologie
werden jedoch nicht suspendiert – nur einige ihrer dominanten Antworten. Kön-
nen wir über die Götter nichts wissen, so darf wie zur Zeit von Homer, Hesiod und
Aischylos wieder gedichtet werden; Mythen werden weitererzählt und weiterge-
sponnen.
Die protagoreische Lizenz zu mythologischen Lügengeschichten macht diese
jedoch nicht gegen Kritik immun. Auch Mythen müssen geprüft und kritisch revi-
diert werden. Ob jüngere Mythopoeten wie z.B. Nietzsche, der Jünger des Dio-
nysos, dabei den grausamen Wahrheiten des menschlichen Leidens, des Todes und
des Bösen näher kommen als traditionelle und dogmatische Theologen, bleibt wei-
ter zu untersuchen (vgl. Willers ). Bemerkenswert ist, dass sich Nietzsche im
weitesten Sinne im Bannkreis der Fragestellungen der Theodizee bewegt; es geht
um die prinzipielle Frage nach dem Sinn des Leidens (vgl. Lütkehaus , Kapi-
tel ). Fraglich ist, ob Nietzsches dionysische Bejahung des Leidens als Kehrseite
schöpferischer Freiheit alle Leiden betrifft. Es gibt schlechthin lähmende, sinn-
widrige und in jeder Hinsicht unproduktive Leiden.
Es gibt Leiden, das uns konfrontiert “mit dem entscheidenden Problem, ob es
wirklich mit dem dionysischen Leiden an der eigenen Lebensfülle, Überfülle
gleichgesetzt werden kann. […] Der Anblick wahrhaft herzzerreißenden Leidens
entzieht einer solchen Deutung jegliche Grundlage. In dieser Forderung [sc. des
amor fati] manifestiert sich die Abhängigkeit Nietzsches von einem ästhetischen,
ja von einem Wagnerschen Modell: dem Vorbild des künstlerischen Schöpfer-
tums […] Für die wirklich schrecklichen Dissonanzen im Leben gibt es keine
Lösungen, auch keine dionysischen.” (Baumeister , f.)
VIELSTIMMIGKEIT
LITERATUR
Soskice, Janet Martin (): Metaphor and Religious Language, Oxford: Claren-
don Press.
Spahn, Peter (): Die Anfänge der antiken Ökonomik, in: Chiron , –.
Spahn, Peter (): Das Aufkommen eines politischen Utilitarismus bei den Grie-
chen, in: Saeculum , –.
Spahn, Peter (): Sophistik und Ökonomie, in: Philosophie und Lebenswelt in
der Antike, hg. von Karen Piepenbrink, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchge-
sellschaft, –.
Stein, Murray (): Leiden an Gott Vater. C.G.Jungs Therapiekonzept für das
Christentum, Stuttgart: Kreuz Verlag.
Taurek, Bernhard H. F. (): Die Sophisten zur Einführung, Hamburg: Junius
Verlag.
Werbick, Jürgen (): Absolutistischer Eingottglaube? Befreiende Vielfalt des
Polytheismus? In: Söding , –.
Willers, Ulrich (): (Hg.): Theodizee im Zeichen des Dionysos. Nietzsches Fra-
gen jenseits von Moral und Religion (Religion – Geschichte – Gesellschaft. Funda-
mentaltheologische Studien Bd.), Münster–Hamburg–London: LIT.
Zittel, Claus (): Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche (Nietzsche in der Diskus-
sion), Würzburg: Königshausen & Neumann.
DER MENSCH ALS MASS ALLER DINGE:
EIN EUROZENTRISCHES VORURTEIL?
Gregor Paul
. Die Problematik
“Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass (bzw. wie) sie sind, der
nichtseienden, dass sie nicht sind.” Anders als der unbefangene Interpret meinen
mag, der sich gern auf ein Zitat des ersten Teils beschränkt, hat die berühmte Sen-
tenz des Protagoras (?–?) eine sehr spezifische Bedeutung. Einmal bezieht sie
sich auf den einzelnen Menschen und nicht auf die Gattung Mensch. Zum zwei-
ten artikuliert sie in erster Linie eine erkenntnistheoretisch-ontologische Position.
Außerdem spielt sie eine gewisse Rolle, wenn man Protagoras’ Feststellung gerecht
werden will, dass die Menschen sich nicht widersprechen könnten oder dass es
keine Widersprüche gebe. Protagoras’ radikaler Subjektivismus schließt einen Per-
spektivismus ein, dem zufolge alle Behauptungen Konsequenzen singulärer Prä-
missen sind. Danach könnten sie sich dann in der Tat nicht widersprechen.
Doch wie angedeutet, verstehen viele den prägnanten Satz “Der Mensch ist
das Maß aller Dinge” auch anders. Sie geben ihm eine grundsätzliche Bedeutung
oder betrachten ihn als Reflex einer prinzipiellen Sicht der Menschheit überhaupt.
Die Sentenz wird vielfach auch als Programm und Charakterisierung eines grund-
sätzlichen Anthropozentrismus interpretiert. Der wird dann freilich recht unter-
schiedlich bewertet. Einerseits gilt er als aufklärerisch-humanes Konzept: als Be-
freiung von den Ängsten, die der Glaube an übernatürliche Mächte und insbeson-
dere an Götter und eine “normalem” menschlichen Einfluss entzogene Natur mit
sich brachten und bringen. Andererseits sieht man in ihm einen Ausdruck der
Gottlosigkeit, der gefährlichen Selbstüberschätzung des Menschen, eines blinden
und bedenklichen Vertrauens in menschliche Gestaltungsmöglichkeiten, und nicht
zuletzt die Rechtfertigung einer üblen Rücksichtslosigkeit gegenüber Tier- und
Pflanzenwelt. Zur zweiten Gruppe der Interpreten gehören auch jene, die Protago-
ras’ Sentenz als kulturzentrisches, sprich eurozentrisches Vorurteil, kritisieren.
Zwar beziehen sich die Kritiker selten ausdrücklich auf Protagoras. Viele verwei-
sen eher auf die christliche Norm, dass der Mensch sich die Erde untertan machen
solle. Aber es ist keine Frage, dass in den meisten Fällen zumindest ein impliziter
. Diels/Kranz, Fr.; Capelle, S. ; Müller, S. ; Guthrie, S.; Kerferd, S.–.
. Ebenda.
. Vgl. Müller, S. f.
GREGOR PAUL
losophie auch in diesem Punkt weithin durch schlechten Mythos und Wunsch-
denken gekennzeichnet.
Wird der Mensch, der sich selbst als “Maß aller Dinge” begreift, nicht (fast)
zwangsläufig zum Feind der Natur? Und für Manchen noch wichtiger dürfte die
Frage sein: Ist das nicht Gotteslästerung? Für einen Atheisten wird sie sich nicht
stellen. Und auch ein Agnostizist mag ihr gleichgültig gegenüberstehen. Aber für
Gottgläubige ist sie von überragender existentieller Relevanz. Anders gesagt, ist
die Frage nach der Akzeptanz bzw. dem ‘Wert’ der Feststellung oder Norm, dass
der Mensch das Maß aller Dinge sei, auch als spezifisches Problem ‘der Frage
nach Gott’ zu sehen. Und dann ergibt sich die Antwort eben als Konsequenz ei-
ner entsprechend religiösen oder areligiösen Einstellung oder Überzeugung. So
wenig wie der Mensch für einen Katholiken das “Maß aller Dinge” sein kann, so
-
wenig konnte und kann er dies für einen Inder, der an Iśvara oder einen persön-
lichen Gott Brahma, - Śiva oder K rsna glaubte oder glaubt. Selbst der viel kriti-
.. .
sierte biblische Auftrag, sich die Welt untertan zu machen, schließt eine unein-
geschränkte Anerkennung des Menschen als Maßes aller Dinge aus. Konsistentes
Christentum führt auf eine Mischposition, der zufolge der Mensch zwar Maß
vieler Dinge sein darf und vielleicht auch sein soll, aber dabei doch stets den in
jedem Fall übergeordneten göttlichen Geboten zu folgen habe. Soweit es um
Grundsätzliches geht, besteht hier zwischen gottgläubigen Europäern und Asia-
ten kein signifikanter Unterschied.
Schon Platon (–) verstand die Sentenz “Der Mensch ist das Maß aller
Dinge” zumindest auch als pointierte Ablehnung jedes Gottesglaubens und insbe-
sondere der Religiosität der Polis Athen. In einer kritischen Anspielung auf Prot-
agoras stellt er fest:
“Der Gott aber möchte uns wohl am meisten als das Maß aller Dinge sein,
und das weit mehr als, wie sie sagen, irgendein Mensch.”
Was Platon und andere freilich als inakzeptabel oder gar als Verbrechen beur-
teilten, bewerteten und bewerten wieder andere, wie gesagt, als aufklärerische
Humanität und insbesondere als Befreiung von der Angst vor Mächten, die gar
nicht existieren oder die doch keinen Einfluss auf das Leben der Menschen neh-
men oder nehmen können. Damit, so die Vertreter dieser Einschätzung, der ich
mich anschließe, sei gleichzeitig der Weg für die Menschen frei gemacht wor-
den, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Die Menschen hätten erkennen
können, dass sie selbst fähig waren, ihr Leben und die menschliche Gesellschaft
zu gestalten und so ihre Zeit und Kraft nicht länger auf wirkungslose Gebete,
Orakel und Opfer verschwendet. Als besonders humane Konsequenz dieser Auf-
klärung ist zu nennen, dass sie Menschenopfern entgegenwirkte. Doch führte der
mit ihr artikulierte ‘Anthropozentrismus’ natürlich auch zur Reduzierung von
Tieropfern.
Zu den europäischen Philosophen und philosophischen Orientierungen, die
den anti-religiösen Impetus der Protagoras-Sentenz im skizzierten Sinn als aufklä-
rerisch-human begriffen, gehörten in den letzten Jahrhunderten Marx (–),
Marxismus, Nietzsche (–) und der Existentialismus Sartres (–)
und Camus’ (-). Nietzsche Konzept vom “Übermenschen” ist meines Er-
achtens als Utopie eines uneingeschränkt selbstbestimmten und deshalb heroischen
Menschen zu interpretieren. Und in dieser Hinsicht ähnlich ist auch Sartres Kon-
zept zu verstehen, wie er es in seiner Studie Ist der Existentialismus ein Huma-
nismus? umreißt.
Marxisten sehen in einer religionskritischen Bemerkung von Karl Marx eine
Art Resümee des ihres Erachtens durch die Protagoras-Sentenz charakterisierten
Programms und der durch es (mit)bestimmten Entwicklung. In dem von ihm
herausgegebenen Sammelband Der Mensch als Maß der Dinge zitiert Reimar
Müller denn auch:
“Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste We-
sen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhält-
nisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein
verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.”
Auch der frühe Buddhismus entwickelte sich unter anderem als Gotteskritik und
Kritik an Opfern und Orakeln sowie an anderen Überzeugungen, die wir als Aber-
. Vgl. Paul (), insbes. S. –. Darin versuche ich, die historischen Entmythologisie-
rungen in indischen, chinesischen und griechischen Kulturen als Prozesse zunehmender
Humanisierung und Angst-Minderung zu rekonstruieren.
. Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Religionsphilosophie. In: Marx/Engels, Bd., S..
Zitiert nach Müller, S..
MENSCH ALS MASS – EIN EUROZENTRISCHES VORURTEIL?
glauben bezeichnen würden. Aber Frühgeschichte und frühe Lehren sind so kom-
plex und so schwer rekonstruierbar, dass ich der Frage nach einem (frühen) bud-
dhistischen aufklärerischen Humanismus oder gar ‘Anthropozentrismus’ im Fol-
genden nicht im Detail nachgehen kann. Evident ist jedoch, dass die Idee, dass es
um das Heil des einzelnen Menschen gehen müsse und dass es – letztlich – in der
Macht jedes Einzelnen liege, dieses Heil zu realisieren, prononciert anthropozentri-
schen Charakter besitzt: Der Mensch bzw. sein Interesse am Heil ist (das wich-
tigste?) Maß seines Denkens und Tuns.
Erkennbar klarer verlief die Geschichte entsprechender Lehren im sinoasiati-
schen Raum. Ein mit Atheismus, Agnostizismus oder Religionskritik verbunde-
ner Humanismus oder – allgemeiner – eine damit verbundene oder daraus resul-
tierende Bewertung des Menschen und Menschlichen als höchster und wichtigs-
ter Gegebenheit des Kosmos kennzeichnet auch die (Geschichte der) sinoasiati-
schen Philosophien. Ja, sie spielte und spielt dort eine größere Rolle als ‘im Wes-
ten’. Wenn ich im Folgenden Etiketten wie ‘Konfuzianismus’ und ‘Daoismus’
verwende, dann einfach, um mich nicht zu sehr in fachlichen Auseinanderset-
zungen ergehen zu müssen. Im Grunde sind es irreführende, grob vereinfachende
Bezeichnungen. Aber um zu zeigen, dass die angesprochenen Zusammenhänge
in großem Umfang auch sinoasiatische Verhältnisse kennzeichnen, reichen sie
aus. Schon in ‘vorkonfuzianischer’ Zeit (etwa –) verloren Götterglaube
und Jenseitsorientierung erheblich an Relevanz. Die konfuzianische Klassik, wie
sie in den Texten Lunyu, Menzius und Xunzi formuliert ist (die in vielen Passagen
auf das . bis .Jahrhundert vor unserer Zeit zurückgehen), gipfelt im explizit
atheistischen Xunzi, das den Menschen unmissverständlich dazu auffordert, sich
und die soziopolitische Welt selbst zu gestalten und nicht (länger) an die Wir-
kung von ‘Omina’, Gebeten, Orakeln und Opfern oder gar an Lohn und Strafe
“des Himmels” (tian) zu glauben.
Auch der philosophische Daoismus des Daode jing und Zhuangzi (deren Inhalt
ebenfalls weithin in die Zeit vor vor Christus zurückreicht) sieht den Menschen
in vieler Hinsicht als Zentrum der Welt und des Lebens. Ja, von allen größeren phi-
losophischen Schulen vertrat allein der Mohismus die Auffassung, dass der Him-
mel als Gottheit und – damit – als höchstes Maß, als höchste Norm jedenfalls
der Moralität anzusehen sei.
In Japan übernahm man spätestens seit etwa nach unserer Zeit die ange-
sprochenen atheistisch-agnostizistischen Positionen. Wie in China gab es freilich
. Vgl. Paul (), S. –; mit Blick auf die spätere buddhistische Gottes-Kritik, vgl. Paul
().
. Vgl. Paul ().
. Vgl. op.cit.
. Vgl. Paul ().
GREGOR PAUL
auch massive buddhistische Einflüsse. Auf sie komme ich unten, an geeigneterer
Stelle, zurück.
Den Zusammenhang, der zwischen Religionskritik auf der einen und Konzen-
tration auf das Menschliche und das Hier und Jetzt auf der anderer Seite besteht,
dokumentieren auch politische Theorie und Praxis, wie sie für die Geschichte
Chinas und Japans kennzeichnend sind. Danach galt und gilt es prinzipiell als in-
akzeptabel, irgendwelche transzendenten oder jenseitigen Entitäten, Instanzen
oder Wesen über das weltliche Regime zu stellen. Anders gesagt, als unzulässig,
sich auf sie zu berufen, um das Hier und Jetzt, die Welt des Menschen, zu gestal-
ten. Natürlich gab es Ausnahmen. Natürlich wurden religionskritische Positio-
nen im Allgemeinen nur von ‘Eliten’ vertreten. Aber dies gilt auch für die Ge-
schichte ‘des Westens’.
Überzeugender vielleicht als alle weiteren eigenen Ausführungen mögen einige
(mehr oder weniger beliebig gewählte und beliebig ergänzbare) Zitate sein, die be-
legen, was der Mensch in sinoasiatischen Kulturen galt und gilt und wieweit er
damit im angesprochen allgemeinen Sinn als “Maß” gesehen wurde.
Das Shujing, das “Buch der Urkunden”, zitierend, das in einzelnen Passagen
mindestens bis ins .Jahrhundert vor unserer Zeit zurückgehen dürfte, betont das
im Jahr nach Christi veröffentlichte Nihongi, die “Annalen Japans”: “Himmel
und Erde bringen die Zehntausend Dinge [also alles] hervor. Unter den Zehn-
tausend Dingen ist der Mensch das begnadetste Wesen.” Der buddhistische (!)
Gelehrte Xuanzang (?–) stellte fest: “Das höchste Gut des Daseins ist das
Leben.” Und: “Der höchste Schatz zwischen Himmel und Erde ist das Leben.” Im
Roman Die Räuber vom Lian Shan Moor heißt es: “Die Bedeutung des mensch-
lichen Lebens ist grenzenlos wie der Himmel”.
Und der – fälschlicherweise – oft als Hedonist und Egoist gebrandmarkte Yang
Zhu (aus dem .Jh.v.u.Z.?) unterstrich, dass er nicht bereit sei, auch nur ein Haar
seines Körpers für das Wohlergehen des Reiches zu opfern. Vermutlich wollte er
damit noch entschiedener als andere chinesische Philosophen betonen, welch ho-
hes und schützenswertes Gut jedes einzelne menschliche Leben darstellte. Für ihn
war sein Leben, sein körperliches Wohlergehen, das “Maß” seines Denkens und
Handelns.
Eine Schwäche des ‘Anthropozentrismus’ liegt darin, in einen radikalen Sub-
jektivismus oder gar Solipsismus zu münden. Selbst Protagoras, der, um es noch
einmal zu sagen, nicht von der Gattung Mensch, sondern vom individuellen Men-
schen sprach, war sich dieser Gefahr bewusst und versuchte, ihr zu begegnen.
Mag er auch nicht zwischen Wahrheit und Unwahrheit unterschieden haben, so
den, wie ich meine unverzichtbaren, zwei Prinzipien, dass die Frage zu verneinen
ist. Erstens ist Friedenspflicht wichtiger als (die Durchsetzung der) Wahrheit. Zwei-
tens darf es keinem Menschen erlaubt sein, unter Berufung auf seinen Gott oder
seine Religionsfreiheit zu staatlicher Aufruhr oder gar zu Verbrechen aufzufordern
oder Aufruhr und Verbrechen zu rechtfertigen. Beides aber wäre logisch möglich
und kann aus religiöser Sicht gar geboten sein, wenn man transzendente oder
jenseitige Instanzen als das wichtigste “Maß aller Dinge” betrachtete.
Wie angesprochen, sind freilich gerade sinoasiatische Philosophien hier ent-
schiedener auf der Seite des Menschen bzw. eines menschlichen Maßes als euro-
päische Traditionen. Sie sind es selbstverständlich auch entschiedener als jüdische,
christliche, muslimische, hinduistische, śivaistische und andere Richtungen, die
einen Glauben an Götter einschließen.
So komme ich auf die zweite und bekannteste Alternative – oder angebliche Al-
ternative – zu sprechen, die man dem Anthropozentrismus, wie ihn die Protago-
ras-Sentenz artikuliert oder artikulieren soll, entgegenstellt. Es ist die vor allem mit
dem Schlagwort von der ‘Einheit zwischen Natur und Mensch’ angesprochene
Überzeugung und Norm, dass der Mensch sich in seinem Denken und Tun an
der Natur orientieren solle. Sofern es sich um keinen letztlich holistischen Ansatz
handelt, ist der Mensch danach nicht so wichtig wie der ‘nicht-menschliche Rest’.
Aber soweit ich einzelne einschlägige Theorien und Konzepte kenne, bleiben sie
in derartigen Details vage. Viele, die davon sprechen, sinoasiatische Philosophieen
träten für die ‘Einheit von Natur und Mensch’ bzw. eine Anpassung des Menschen
an die Natur ein, gehen soweit zu behaupten, dass diese Einheit seit altersher auch
die Praxis sinoasiatischer Kulturen kennzeichne. Falscher, ja abwegiger kann eine
Behauptung kaum sein. Aber zunächst einige einschlägige Argumente und Zita-
te, die für diese Behauptung sprechen sollen.
Ernst zu nehmende, aber freilich in erster Linie Theorie-bezogene Argumente
berufen sich auf den philosophischen Daoismus. In der Tat kritisieren Daode jing
und Zhuangzi (die Entwicklung von) Kultur und, wie man im Deutschen sagen
kann, insbesondere Zivilisation als unglückliche und individuellem Wohl und Le-
ben abträgliche Formen gewaltsamer Eingriffe in den natürlichen Gang der Dinge
bzw. in den – ohne solche Eingriffe – selbstbestimmten und selbstgesteuerten har-
monischen Prozess aller Elemente des Seienden. Danach ist gerade jener Mensch
wohlberaten, der die Menschheit oder die (aktuelle) menschliche Gesellschaft je-
denfalls nicht insofern als “Maß aller Dinge” betrachtet, als dies sein (öffentliches)
Engagement für sie erforderte. Andererseits plädiert der Daoismus damit freilich
auch für eine Einstellung, die man als auch irgendwie egoistisch bezeichnen mag.
MENSCH ALS MASS – EIN EUROZENTRISCHES VORURTEIL?
Und entsprechend kritisierten ihn ja auch viele Konfuzianer. Die Vorsicht, die der
Daoismus im Umgang mit Menschen und Dingen empfiehlt, dient ja nicht zuletzt
dem Schutz des eigenen Lebens. Wer nicht gewaltsam oder (allzu) aktiv agiert,
der vermeidet ganz einfach viele Risiken und insbesondere zwischenmenschliche
Konflikte. Das vielzitierte wuwei heißt ja auch nicht einfach “nicht (zu) handeln”,
sondern bedeutet, “nicht gewaltsam (zu) handeln”, “nicht konfliktträchtig (zu)
handeln”, “nicht anders als in harmonischem Einklang mit ‘natürlichen’ Entwick-
lungen (zu) handeln”.
Das eigene Leben, so eine Prämisse oder Überzeugung des philosophischen
Daoismus, sei zu kostbar, um es im öffentlich-politischen oder gesellschaftlichen
Engagement zu gefährden. Dieser Standpunkt reflektierte die Situation, in der
sich politische Berater in der “Zeit der Streitenden Reiche” (–) befanden.
Aufgrund der eigenen Ratschläge hingerichtet zu werden, war nicht ungewöhn-
lich.
Gerade die politischen Implikationen, die Warnungen zur Vorsicht, wurden frei-
lich auch von der konfuzianischen Seite gesehen und ausgesprochen, und zwar
ungeachtet der fundamentalen konfuzianischen Überzeugung, dass Kultur und
Zivilisation – die künstlich geschaffene Menschenwelt – fortschrittliche, unver-
zichtbare Errungenschaften seien. Zwar lehnte der Konfuzianismus das daoisti-
sche Ideal des abseits jeder Zivilisation lebenden Einsiedlers ab, aber er ließ doch
den Rückzug in die Einsamkeit als Selbstschutz zu.
Soweit der philosophische Daoismus also für ein politisches Verhalten plädier-
te, das dem Selbstschutz dienen sollte, stimmte der Konfuzianismus in bestimm-
ten Fällen mit ihm überein. Im Grundsätzlichen – grob gesagt, der Entscheidung
zwischen Natur und Kultur – bleiben freilich die großen Unterschiede.
Eine uneingeschränkt allgemeine Beurteilung der daoistischen Position hin-
sichtlich der ‘Maßgeblichkeit’ des Menschen ist nicht möglich. Selbst innerhalb des
Zhuangzi finden sich verschiedene Auffassungen. Geht es ums Leben und Über-
leben, so sollte sich wohl, wie gesagt, ein jeder zum Maß nehmen. Geht es um Er-
kenntnis, Kommunikation und Schönheitsempfinden, so billigt das Zhuangzi dem
Menschen kaum eine Sonderstellung unter den Tieren zu. Und schließlich kann
man zumindest eine daoistische Grundposition auch als holistische Ontologie –
als Auffassung einer alles integral einschließenden – ‘Natur’ rekonstruieren.
Die vielfach als Charakteristikum des Konfuzianismus zitierte Formel tian ren
he yi, “Einheit von Himmel [Natur] und Mensch”, ist relativ späten Datums. Sie
dürfte frühestens in der Han-Zeit ( v.u.Z. – n.u.Z.) aufgekommen sein.
Soweit sie gilt, kennzeichnet sie eine gewisse formale Nähe zur ganzheitlichen
daoistischen Ontologie.
Der klassische Konfuzianismus freilich vertrat andere Ansichten. Und zwar be-
tonte er die Differenzen zwischen natürlichem bzw. naturgesetzlich bestimmtem
Bereich einerseits und kultureller, soziopolitischer und menschlich bestimmter
Welt andererseits. Vor allem das Xunzi unterstreicht sie. Ihm zufolge ist ja Kultur
auch deshalb unabdingbar, weil den Tendenzen und Gefahren der an sich “bösen”
menschlichen Natur entgegenzuwirken ist. Im Übrigen aber dürften sich alle kon-
fuzianischen Schulen in der Hochschätzung des Kulturellen (und das heißt zumin-
dest, der auch nach ‘menschlichem Maß’ vom Menschen selbst gestalteten künst-
lichen Lebenswelt) einig gewesen sein. Immer wieder preisen konfuzianische Texte
die Kulturheroen und insbesondere den legendären Kaiser Yu, der ganze Flüsse
umgeleitet und eingedämmt und so ganze Landschaften umgestaltet haben soll.
Und die ‘chinesischen’ Theorien schöner Gärten empfehlen Konzepte artifizieller
Landschaften, die eher an französische denn an englische Gärten erinnern.
Vor allem die am Anfang des .Jahrhunderts zwischen Heidegger (–)
und japanischen Philosophen geknüpften Kontakte und die dann kontinuierlich
gepflegten Beziehungen zwischen Heideggerianern auf der einen und Vertretern
-
und ‘Sympathisanten’ der so genannten Kyoto-Schule auf der anderen Seite führ-
ten dazu, dass die Positionen von Nishida Kitaro- (–), Nishitani Keiji
(–), Tanabe Hajime (–), Suzuki Daisetz (–) und an-
deren im ‘Westen’ als typisch oder exemplarisch ‘japanische’ Philosophie verstan-
den wurden und werden. Dabei gewann gerade auch die Behauptung Gewicht,
dass die ‘japanische Kultur’ durch eine “Einheit von Natur und Mensch” charak-
terisiert sei, und dabei durch eine Art Einheit, die als heilsame Alternative zum
‘westlichen’ Anthropozentrismus und der aus ihm resultierenden Technokratie
bewertet werden müsse.
-
Nach ihrem Selbstverständnis repräsentiert die Kyoto-Schule ein originär japa-
nisches Denken, das nicht zuletzt in einer ursprünglich-japanischen Naturauffas-
sung wurzeln soll. Um eben diese Naturauffassung zu charakterisieren, ist dann
von einer “Einheit von Natur und Mensch” im “japanischen Denken” die Rede,
einem mythischen oder doch quasi-mythischem Zug japanischen “Wesens”.
Nach Tsujimura sind die “Japaner […] von alters her Naturmenschen”, die danach
streben, “wie Natur zu leben und zu sterben”. Kojima Takehiko zufolge “fühlen”
sie sich “in der Umarmung der Natur geborgen”. Und auch Lydia Brülls allge-
mein gehaltene Behauptung, dass “man [!] [im “traditionellen Japan”] in der Ge-
borgenheit der kosmischen Wahrheit lebte, die […] Tatsache war [!]” , drückt die
Idee verwirklichter Einheit von Natur und Mensch aus.
Doch so gut wie nichts rechtfertigt diese allgemeinen Behauptungen. Ja, sie
träfen auch dann nicht zu, wenn sie sich nur auf dominante Doktrinen, Tenden-
zen und Strömungen in der Geschichte Japans bezögen. Im gegebenen Zusam-
menhang mag es ausreichen, einige unstrittige Gegenbeispiele ins Feld zu führen.
Wie die chinesischen Konfuzianer schätzten auch die japanischen Gelehrten schon
der Nara- und Heian-Zeit (– bzw. –) kulturheroische und zivilisa-
torische Leistungen besonders hoch. Selbst buddhistische Mönche betätigten sich
z.B. als Brückenbauer und wurden dafür gepriesen. Kunsttheorien und Künste –
und es sind jedenfalls auch Künste, mag man sie auch als michi (chin. dao),
“Wege”, bezeichnen – wie Gartenbau, Ikebana, bonzai-Zucht, eine Zwergpflanzen-
Kultur, dokumentieren Interesse an primär Artifiziellem und gerade nicht an ‘rein’
oder ‘unberührt’ Natürlichem. Insbesondere der japanische Garten entspricht
kaum dem, was man im Deutschen “natürlich” nennen würde. Und die bonzai-
Kultur kann man, ist man böswillig, auch als Natur-Verkrüppelungs-Projekt cha-
rakterisieren.
Die höfische Kultur schließlich, wie sie für Nara- und Heian-Zeit – aber auch
für spätere Zeiten – kennzeichnend war, war eine Kultur extremer Artifizialität.
Natürliche menschliche Nacktheit war ein Graus; die ‘wilde’ Natur außerhalb der
Hauptstadt ein Schrecken. Die Frauen am Hof verschwanden unter bis zu zwölf-
schichtigen Gewändern, weißer Gesichtsschminke, schwarz gefärbten Zähnen,
Parfumdünsten und anderem mehr. Frauen und Männer konnten im Allgemeinen
überhaupt nur dann eine Liaison eingehen, wenn sie (zunächst) auf passendem Pa-
pier passende Gedichte ausgetauscht hatten usf. Von bestimmten ehrlich an einem
Einsiedlerdasein interessierten Buddhisten und buddhistischen Gruppen abgese-
hen, galt das Interesse japanischer ‘Eliten’ an der ‘Natur’ vor allem einer, wie wir
sagen würden, gezähmten und dabei möglichst künstlerisch gestalteten Natur. Es
galt im Allgemeinen auch eher Ausschnitten als etwa ganzen Landschaften. Ver-
weise auf japanische Naturlyrik und selbst auf die waka Saigyos - (–) und
-
Haiku Matsuo Bashos (–) vermögen diese Einschätzung nicht zu ent-
kräften. Man mag in ihnen gewisse, durchaus bedeutende Ausnahmen sehen.
Aber selbst dies erscheint mir fragwürdig. Saigyo- verband in seinem Leben Einsied-
lertum, Wanderschaften und – in mancherlei Hinsicht elitäre – Geselligkeit. Und
reiste Basho- nicht zuletzt deshalb, weil er Gedichte schreiben wollte?
. Viele dieser Doktrinen schließen systematische Numerologien ein und sind auch deshalb
problematisch.
. Vgl. meine Kritik in Paul (), S. ff.
MENSCH ALS MASS – EIN EUROZENTRISCHES VORURTEIL?
Im Anschluss daran weist Schmithausen dann freilich sogleich darauf hin, dass
der Buddhismus Pflanzen nicht als Lebewesen betrachtet(e), von Ausnahmen wie
vor allem Formen des frühesten Buddhismus abgesehen. Da vedische Religion,
nach-vedischer Hinduismus und Jainismus Pflanzen und mitunter gar Erscheinun-
gen wie Wasser als Lebewesen ansahen, hält Schmithausen es für wahrscheinlich,
dass auch der früheste Buddhismus dieser Ansicht war, und er versucht entspre-
chend, dies nachzuweisen. Als Fazit seiner Analysen bemüht sich Schmithausen
um eine kreative Rekonstruktion der seines Erachtens bleibend gültigen Gründe
für ein Gebot, möglichst sorgsam mit Pflanzen umzugehen. Einmal könne man
nicht ausschließen, dass (auch) Pflanzen leiden würden, wenn man sie zerstöre
oder töte. Zweitens seien sie unentbehrliche Elemente des Naturkreislaufes und
insbesondere unentbehrliche Nahrung für viele Tiere (auf deren Überleben wiede-
rum der Mensch angewiesen sei). Drittens könnte sich ein rücksichtsloser Umgang
mit der Flora über kurz oder lang nachteilig für den Menschen auswirken.
All diese Gründe sind gültig. Klar ist auch, und eben dies dokumentiert nicht
zuletzt Schmithausens Erörterung, dass eine Auseinandersetzung mit buddhisti-
schen Lehrstücken das Bewusstsein für diese Gründe fördern und schärfen kann.
Aber erneut gilt ebenso, dass die Gründe auch auf vielen anderen Wegen und nicht
zuletzt auch in einer kreativ-rationalen oder auch nur pragmatischen Rekonstruk-
tion des Mensch-als-Maß-Konzepts erschließbar sind. Es mag für die Schwäche
breiter Strömungen des historischen Buddhismus bezeichnend sein, dass er, wie
ich es ansprach und wie es auch Schmithausen vorsichtig anspricht, weithin auch
durch schwerlich gültige Metaphysik wirkte bzw. wirken musste. An solch einer
Schwäche krankt das Mensch-als-Maß-Konzept nicht.
Einfacher liegt oder scheint die Problematik, wenn es um die buddhistischen
Positionen zur Tierwelt geht; denn anders als Pflanzen gelten sie zweifelsfrei als
Lebewesen und insbesondere als gefühlsfähig. Ihnen möglichst wenig Leid zuzu-
fügen, erscheint so gewissermaßen intuitiv geboten. Ebenfalls anders als Pflanzen,
kommen sie deshalb auch nicht ohne Weiteres als Nahrung für den Menschen
infrage; denn sie zu töten, heißt ja, ihnen großes Leid zuzufügen. Und schließlich
gilt auch das dritte Argument. Rücksichtsloser Umgang mit der Fauna und gar
ihre Zerstörung schaden letztlich auch der Menschheit. Anders gesagt, sind neben
den gerechtfertigten individuellen ‘Interessen’ der Lebewesen – der betroffenen Pflan-
zen und Tiere selbst – auch die menschlich bestimmten Interessen am Erhalt des
Öko-Systems zu berücksichtigen.
Das dritte Argument impliziert dann schließlich auch, den Erhalt der Lebens-
welt, der Umwelt von Flora und Fauna und das heißt auch der anorganischen
Natur zu sichern. Zur Explizitheit gebracht, führen solche Überlegungen also auf
folgende Konsequenzen.
Erstens gibt es für ein und dieselben gültigen Normen, der Natur und ihren Ele-
menten Achtung entgegen zu bringen, die unterschiedlichsten Begründungen. Sie
können z.B. theistischer Art sein, in einem Glauben an die Wiedergeburt gründen,
einer säkularen Mitleidsethik entspringen oder sich als Resultate eines Mensch-
als-Maß-Pragmatismus oder Utilitarismus ergeben. Auch Kombinationen solcher
Begründungen sind möglich und kommen, wie vielleicht erkennbar wurde, gerade
im Buddhismus vor. Es ist deshalb schwierig, wenn nicht gar unangebracht, mit
scharfen Alternativen zu arbeiten und einzelne gleichermaßen effiziente Ansätze ge-
geneinander auszuspielen.
Bringt man, und dies ist der zweite Punkt, auch die Frage nach der Gültigkeit
der jeweiligen Begründungen ins Spiel, so dürften freilich rein säkulare Ansätze
allen anderen Zugängen vorzuziehen sein. Dies aber spräche für entsprechend
ausformulierte Versionen des Mensch-als-Maß-Konzeptes.
Es mag, drittens, jedoch auch geboten sein, dieses Konzept mit einer Ethik des
Mitleids (auch gegenüber Tieren und Pflanzen) zu verbinden oder noch weiter zu
ergänzen. Zwar spricht viel dafür, dass die Norm, den Menschen als Maß aller Din-
ge zu nehmen, auch solch eine Mitleidsethik begründen kann. Hat man jedoch
auch die Praxis und ‘Umsetzbarkeit’ einer Doktrin im Blick, so bietet sich eine aus-
drückliche Verbindung an. Damit erhielte die Komponente der Mitleidsethik ein
eigenes, besonderes Gewicht. Wegen ihres Appellcharakters, ihrer Macht, (auch)
das Gefühl anzusprechen, wäre dies ein Gewinn. Denn wie wir wissen, reicht die
richtige Einsicht allein nur selten aus, uns auch zum richtigen Handeln zu bewe-
gen.
Ein Ziel meiner Ausführungen ist es, Kulturalismus, Exotismus und Esoterik, ja
Mystifizierung entgegenzuwirken, die so viele Vergleiche von ‘Ost’ und ‘West’
kennzeichnen. Was die Fragen nach einer ‘nicht-anthropozentrischen’ Ethik und
nach entsprechenden Konzepten des Verhältnisses zwischen Natur und Mensch
angeht, so neigen, wie ich zu zeigen suchte, vor allem Vertreter und Sympathi-
-
santen der Kyoto-Schule zu fragwürdigen Entgegensetzungen. Des Weiteren liegt
mir daran, es nicht bei einer Feststellung von Übereinstimmungen und Unter-
schieden zu belassen. Es geht mir vielmehr darum, Problemidentifikationen, Pro-
blemformulierungen und Lösungsvorschläge zu nutzen, um eine optimale Theo-
rie zu entwickeln, und zwar gleich, wann wer wo welche einschlägigen Vorschlä-
ge machte.
GREGOR PAUL
Edelsteinen bestehen. Dem entspricht, dass auch aus buddhistischer Sicht das
Leben als Tier im Allgemeinen weit unter einem menschlichen Dasein rangiert.
Außerdem bleibt zu beachten, dass spätere buddhistische Lehren und insbeson-
dere mantrische und tantrische Doktrinen die frühen Tötungsverbote zum Teil
massiv einschränkten: bis hin zur notorischen Rechtfertigung des Tötens von Men-
schen und Tieren aus ‘Mitleid’ oder zum Zweck der Verteidigung der buddhisti-
-
schen Doktrin ‘des dharma’. Ontologien der Leere (skt. śunyat - chin. kong, jap.
a,
ku) und des ‘Nichts’ (chin. wu, jap. mu), ein grundsätzlich negatives Konzept des
Lebens als prinzipiell leidhaften Daseins sowie das Ideal einer souveränen, von (so
gut wie) keinem Gefühl abhängigen Persönlichkeit können ohnehin jedem Mit-
leidskonzept – und wie gesagt auch jeder Verantwortungsethik – entgegenwir-
ken. Und schließlich ist gerade im Kontext dieses Sachverhalts erneut nicht zu
leugnen, dass, wie angesprochen, auch der Buddhismus eine starke ‘anthropo-
zentrische’ Komponente besitzt: wichtigstes ‘Maß’ ist die Befreiung der Lebe-
wesen und insbesondere eben des Menschen vom Leiden.
Solcher Hinweise, Einschränkungen und Vorbehalte ungeachtet bleibt es jedoch
auch richtig, dass bestimmte buddhistische Lehren eine Mitleidsethik oder doch
Ansätze zu einer Mitleidsethik einschließen, an die sich anknüpfen lässt, wenn man
neben der Achtung des Menschen auch die Achtung der (außer-)menschlichen
Natur und (Um)welt fordern und begründen will. Als Kritik an Esoterik, Exotis-
mus, Übergeneralisierung und Kulturalismus waren die Hinweise freilich unum-
gänglich. Dass die Mitleidsethik, die ins Spiel gebracht werden kann, in relevanter
Hinsicht erneut kein ‘buddhistisches’ Spezifikum ist, sondern sich in ihren ent-
scheidenden Grundzügen – beispielsweise – auch in anderen in Indien entstande-
nen Systemen und außerdem in Konfuzianismus und Mohismus, griechischer
Antike und Christentum findet, dokumentiert freilich weiterhin die Problematik
der einschlägigen kulturalistischen Überzeugungen. Denn die Mitleidsethik, wie
sie die referierten buddhistischen Verbote exemplifizieren, Lebewesen bzw. der
Empfindung fähige Wesen zu töten oder ihnen auch nur geringeres Leid zuzu-
fügen, gründet in ihrer explizit-theoretischen Form in (entsprechenden Versionen)
der Goldenen Regel oder lässt sich doch in ihr fassen oder ‘verankern’.
Eine der bekanntesten klassisch-konfuzianischen Varianten der Goldenen Regel
aus dem Lunyu lautet: “Was du nicht wünscht, das tue auch andern nicht an”.
Erläuternd heißt es, dass diese [Regel] “gegenseitiger Rücksichtnahme” (shu) “ein
ganzes Leben lang als Richtschnur des Handelns dienen” könne. Diese Sätze
werden Konfuzius (–) zugeschrieben, und es spricht sogar einiges dafür,
dass die Zuschreibung korrekt ist. Wichtiger aber sind die folgenden zwei Punkte:
Zwischen etwa und vor unserer Zeit dürfte das Wissen um die Goldene
Regel Gemeingut chinesischer Gelehrsamkeit gewesen sein. Und shu, die Charak-
terisierung der Regel als Norm gegenseitiger Rücksichtnahme, verstand und er-
läuterte man – wohl hauptsächlich – als Resultat der Reflexion, “die eigene Person
zum Maßstab (du) zu nehmen”. Das heißt, dass – Daoismus und Legalismus
vielleicht ausgenommen – die klassische chinesische Gelehrsamkeit folgendes all-
gemeine Lehrstück vertrat, mag sie es auch lückenhaft ausformuliert haben:
Von sich selbst als Maßstab – und zwar von sich selbst als Individuum und/oder
Mitglied der Gattung Mensch – ausgehend, empfindet der Mensch Mitleid mit an-
deren und fasst und/oder begründet dies in (einer) Form der Goldenen Regel.
Meines Erachtens indiziert dies, dass das Mensch-als-Maß-Prinzip nicht nur lo-
gisch mit Normen einer (auch) die Natur und sonstige Umwelt einschließenden
Ethik kompatibel ist, sondern auch kulturell, historisch und, sozusagen, philo-
logisch mit ihr vereinbar ist.
Soweit ich es übersehe, geht freilich eine der einschlägigen buddhistischen For-
mulierungen der Goldenen Regel explizit über alle anderen Versionen hinaus, und
zwar im Einbezug aller Lebewesen. Besonders instruktiv ist dabei eine Überset-
zung Schmithausens:
“Wenn einer mich, der ich leben möchte, nicht sterben; der ich glücklich sein
möchte und dem das Leid zuwider ist, des Lebens beraubte, so wäre mir das un-
angenehm. Wenn ich einen anderen, der (ja genau so wie ich) leben möchte,
nicht sterben; der glücklich sein möchte und dem das Leid zuwider ist, des
Lebens beraubte, so wäre das dem anderen ebenso unangenehm. Was mir un-
angenehm ist, das ist auch dem anderen unangenehm. Wie könnte ich da dem
. Lunyu XV: . Vgl. dazu und zum Folgenden Paul (), S.–.
. Vgl. ebd., vor allem aber Unger, S.. Diese Erläuterung findet sich in solch ausdrück-
licher Form freilich nicht im Lunyu selbst, ist jedoch auch für dessen Formulierungen von
shu und Goldener Regel relevant.
. Systematisch gesehen, ist es nicht einfach, eine ‘daoistische’ Mitleidsethik zu entwickeln.
Daode jing und Zhuangzi begünstigen m.E. eher das individuelle Interesse am eigenen Le-
ben und im Übrigen eine gewisse Teilnahmslosigkeit. Aber das sei nur als programmatische
Hypothese formuliert. Es führte zu weit, auch da noch in Einzelheiten zu gehen. Der Lega-
lismus legitimert prinzipiell auch Grausamkeit.
. Schmithausen (), S..
MENSCH ALS MASS – EIN EUROZENTRISCHES VORURTEIL?
anderen das zufügen, was mir selbst unangenehm ist! In diesem Gedanken ent-
hält man sich selbst des Tötens [aller ] lebender Wesen und ermahnt auch an-
dere dazu.”
Im .Jahrhundert ist es leichter als je zuvor, einen weiten Begriff lebender oder
fühlender Wesen zu rechtfertigen. Ob man, um nur zwei Extreme zu nennen,
dabei von der Biologie oder der Philosophie herkommt, spielt keine Rolle. Mit-
leid aber ist in der Tat ein prinzipiell allgemeinmenschliches Empfinden; die Gol-
dene Regel (treffend verstanden oder expliziert) gewiss eine allgemeingültige
Norm. Und wie oben skizziert, ist es recht einfach, auch in pragmatischer Form
zu begründen, dass wir wirklich nicht nur uns selbst und unsere Mitmenschen ach-
ten, sondern auch Tiere und Pflanzen so schonend wie sinnvoller Weise möglich
behandeln sollten, und dass wir deshalb auch gegenüber unserer Umwelt und der
Umwelt von Fauna und Flora Rücksicht zeigen sollten, und sei es eben letztlich
auch nur, weil all das in unserem eigenen Interesse oder doch im Interesse der
Menschheit liegt. Aber selbstverständlich wäre eine stärker deontologisch akzen-
tuierte Ethik möglich, die überdies die Pflege von Natur und Umwelt um deren
selbst willen verlangte. Das mag sogar die sachlich angemessenere und schon aus
diesem Grund wünschenswertere Lösung sein. Doch müsste dann auch jede Ver-
bindung von Mensch-als-Maß – und Mitleidsprinzip(en) um weitere Kompo-
nenten – wie z.B. Hypothesen achtenswerter intrinsischer Werte – ergänzt oder
entsprechend ersetzt werden.
LITERATUR
Der protagoreische Satz, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, ist Gegenstand
unterschiedlichster Interpretationen. Gemäß einer davon ist der Mensch das Maß
des moralischen Handelns bzw. ethischen Urteilens. Wie Zecha (: ) zeigt,
kann dabei wiederum mit dem Ausdruck ‘Mensch’ mehrerlei gemeint sein, näm-
lich das einzelne Individuum, eine bestimmte (kulturelle, soziale oder andere)
Gruppe oder aber die Menschheit insgesamt. Demnach lässt sich der Homo-men-
sura-Satz u.a. im Sinne eines radikalen Egoismus bzw. Relativismus verstehen, eben-
so aber im Sinne eines Gruppenegoismus oder Kulturrelativismus; sofern die ganze
Menschheit als Maß moralischen Handelns bzw. ethischen Urteilens gesehen wird,
haben wir es aber mit dem ethischen Anthropozentrismus zu tun.
Die zuletzt genannte Position ist Gegenstand unserer folgenden Überlegungen.
Und zwar geht es zunächst darum zu klären, was mit ethischem Anthropozentris-
mus gemeint ist, und zu untersuchen, ob bestimmte Positionen zu Recht “anthro-
pozentrisch” genannt werden. Auch ist die Annahme zu erörtern, wonach der An-
thropozentrismus in der Ethik unumgänglich sei. Insbesondere haben wir uns aber
mit der “Tragfähigkeit” eines anthropozentrischen Ansatzes in der Ethik zu be-
schäftigen, d.h. mit der Frage, inwieweit dieser trotz der schwer wiegenden Proble-
me, die er aufwirft, für die Ethik fruchtbar gemacht werden kann.
OTTO NEUMAIER
So jung der Begriff des ethischen Anthropozentrismus ist, so alt ist angeblich
das dadurch bezeichnete Phänomen. Laut Birnbacher (: f.) ist diese Be-
trachtungsweise “für die gesamte ethische Tradition des Abendlandes charakteris-
tisch”, laut Jonas (: ) zeichnet sich “die hellenisch-jüdisch-christliche Ethik”
sogar durch einen “rücksichtslosen Anthropozentrismus” aus. In diesem Zusam-
menhang müssen wir freilich zweierlei unterscheiden, nämlich einerseits die An-
nahme, dass die gesamte abendländische Ethik bis weit ins .Jahrhundert im We-
sentlichen anthropozentrisch gewesen sei, andererseits aber den Vorwurf, dass die-
ser Anthropozentrismus eine oder sogar die Ursache jener Umweltprobleme sei, die
ein Umdenken und die Suche nach einer “neuen Ethik” notwendig machten:
(i) Jonas (: f.) behauptet nicht nur, “alle traditionelle Ethik ist anthropo-
zentrisch”, sondern hält dies auch für durchaus verständlich: Hatte (und hat) die
Ethik doch vor allem mit Gelegenheiten zu tun, “wie sie zwischen Menschen sich
einstellen, mit den wiederkehrenden, typischen Situationen des privaten und öf-
fentlichen Lebens.” Solange die Reichweite unseres Handelns den Kreis der uns
nahe stehenden Menschen räumlich und zeitlich nicht übersteigt, ist eine “Be-
schränkung der moralischen Gemeinschaft auf Menschen”, wie sie u.a. Bayertz
(: ) beobachtet, zumindest erklärbar. Die wissenschaftlich-technischen Ent-
wicklungen der Neuzeit brachten laut Jonas (: f.) jedoch mit sich, “daß die
Natur menschlichen Handelns sich de facto geändert hat, und daß ein Gegenstand
von gänzlich neuer Ordnung, nicht weniger als die gesamte Biosphäre des Plane-
ten, dem hinzugefügt worden ist, wofür wir verantwortlich sein müssen, weil wir
Macht darüber haben.” Aufgrund dieser neuen Gegebenheiten ist es nach Ansicht
von Jonas (: ) zumindest nicht mehr sinnlos “zu fragen, ob der Zustand der
außermenschlichen Natur, die Biosphäre als Ganzes und in ihren Teilen, die jetzt
unserer Macht unterworfen ist, eben damit ein menschliches Treugut geworden ist
und […] einen moralischen Anspruch an uns hat – nicht um unsretwillen, son-
dern auch um ihrer selbst willen und aus eigenem Recht. Wenn solches der Fall
wäre, so würde es kein geringes Umdenken in den Grundlagen der Ethik erfordern.
Es würde bedeuten, nicht nur das menschliche Gut, sondern auch das Gut außer-
menschlicher Dinge zu suchen, das heißt die Anerkennung von ‘Zwecken an sich
selbst’ über die Sphäre des Menschen hinaus auszudehnen und die Sorge dafür in
den Begriff des menschlichen Tuns einzubeziehen”, also “die anthropozentrische
Beschränkung aller früheren Ethik” zu überwinden.
(ii) Wenn von Anthropozentrismus die Rede ist, so wird damit oft der Vorwurf
verbunden, dass dieser “einer der Gründe für die ungehemmte Naturausbeutung
ist, die heute die Existenz des Menschen bedroht.” Dies ist laut Bayertz (: )
deshalb der Fall, weil die Natur aus anthropozentrischer Sicht “zum moralfreien
Raum” wird, wodurch “die Zerstörung von Natur keine vorwerfbare Handlung
mehr darstellt.” Interessanterweise wird dieser Vorwurf nicht nur gegen das mit
Namen wie Bacon oder Descartes verknüpfte neuzeitliche Denken erhoben, des-
ETHISCHER ANTHROPOZENTRISMUS
sen Streben, den Menschen zum “Herrn und Meister über die Natur” zu erheben,
laut Altner (: f.) “Ausdruck eines wahnhaft übersteigerten Anthropozentris-
mus” ist, sondern ebenso gegen das jenem Denken in vieler Hinsicht widerstre-
bende Christentum, dessen anthropozentrische Sichtweise Drewermann ()
für die Zerstörung der Erde und des Menschen verantwortlich macht.
Wenn diese Kritiker Recht haben, dann ist ein anthropozentrisch begründetes
Handeln und Urteilen nicht nur problematisch, sondern geradezu verrückt, da es
eben jene Lebensgrundlagen des Menschen aufs Spiel setzt, auf die allein es Rück-
sicht nimmt. Deshalb ist es laut Spaemann (: ) “notwendig, die anthropo-
zentrische Perspektive heute zu verlassen. Denn solange der Mensch die Natur aus-
schließlich funktional auf seine Bedürfnisse hin interpretiert und seinen Schutz
der Natur an diesem Gesichtspunkt ausrichtet, wird er sukzessive in der Zerstörung
fortfahren.” Ein Mensch, dem an seinem eigenen Leben und Überleben liegt, darf
dieses also nicht zum alleinigen Maß aller Dinge machen, sondern muss zumindest
alles berücksichtigen, was damit zusammen- oder wovon sein Leben abhängt.
Selbst wenn wir diesen und anderen Kritikern zugestehen, dass viele Probleme
der natürlichen (wie auch der sozialen) Umwelt durch ein nur auf den eigenen
Vorteil bedachtes Handeln von Menschen verursacht sind, ist zu überlegen, ob all
diese Probleme als Folge eines “rücksichtslosen Anthropozentrismus” der gesamten
abendländischen Ethik zu erklären sind. Dass eine solche Erklärung wohl allzu
einfach ist, zeigt sich, wenn wir versuchen, einige Fragen zu beantworten, die da-
durch aufgeworfen werden:
(i) Gibt es überhaupt eine “hellenisch-jüdisch-christliche Ethik”? Die Antwort
auf diese Frage hängt von der Perspektive ab, d.h., wenn wir aus großer theoreti-
scher Distanz auf das moralische Denken blicken, das sich in den vergangenen
Jahrtausenden im Nahen Osten und in Europa entwickelt hat, so mag uns dieses
als einheitliche Tradition erscheinen; je näher wir die vorliegenden ethischen An-
sätze betrachten, desto deutlicher treten jedoch die Unterschiede hervor (bis hin
zu den erwähnten Gegensätzen zwischen Christentum und Aufklärung).
(ii) Sind alle traditionellen Ethiken anthropozentrisch? Eine solche Annahme
erscheint zumindest übertrieben, d.h., es mag zwar sein, dass die ethischen Diskus-
sionen lange Zeit von Positionen dominiert wurden, die “unter ‘Ethik’ etwas ver-
standen, das unser Handeln und Sein im Verhältnis zu unseren Mitmenschen, zu
uns selbst oder zu Gott, in anderen Worten: zu Personen betrifft”, doch folgt da-
raus entgegen der Annahme von Frankena (: ) nicht, dass die Ethik tradi-
tionell “mit unserem Verhältnis zu anderen Tieren […,] Pflanzen, der Luft, der
Erde, dem Wasser oder den Mineralien” schlichtweg nichts zu tun gehabt habe.
Vielmehr finden wir sowohl im Christentum (z.B. mit Franz von Assisi) als auch
in der Philosophie – mit Rousseau (), Bentham (), Schopenhauer ()
oder Schweitzer (, ) – Vertreter einer Ethik der Rücksichtnahme auf Tiere
oder auf das Leben überhaupt. So betont etwa bereits Rousseau (: ): “Wenn
OTTO NEUMAIER
ich verpflichtet bin, meinem Mitmenschen kein Leid zuzufügen, so scheint dies
in der Tat weniger deshalb so zu sein, weil er ein vernünftiges als deshalb, weil er
ein empfindendes Wesen ist: Eine Eigenschaft, die, da sie dem Tier und dem
Mensch gemeinsam ist, dem einen zumindest das Recht verschaffen muß, vom
anderen nicht unnütz mißhandelt zu werden.” Der (anthropozentrische) Vorwurf
des christlichen Ethikers Cathrein (: ), dies bedeute eine “Leugnung des
Wesensunterschiedes zwischen Tieren und Menschen”, ist insofern unberechtigt,
als Rousseau (: ) den Menschen in anderer Hinsicht sehr wohl vom Tier
unterscheidet, nämlich durch die “Eigenschaft, ein frei Handelnder” und mithin
ein Träger von Pflichten zu sein.
(iii) Stellt sich andererseits die Frage nach der Plausibilität einer anthropozentri-
schen Sichtweise und nach möglichen Alternativen nur oder erst in Zusammen-
hang der Naturethik, d.h. mit Überlegungen über den “ethisch richtigen Umgang
des Menschen mit der Natur”? Auch dies ist nicht der Fall: Selbst wenn die Be-
hauptung von Krebs (: ) zuträfe, dass die “traditionelle Ethik sich auf die
Frage des richtigen Umgangs des Menschen mit dem Menschen konzentrierte”,
folgte daraus nicht, dass bei der Frage nach dem moralischen Status von Handlun-
gen ausschließlich der Umgang von Menschen miteinander zur Debatte steht, allein
schon deshalb, weil in vielen Fällen das Wohlergehen von Menschen auch vom Zu-
stand der außermenschlichen Natur abhängt. Den seit Ende des . Jahrhunderts
entwickelten normativen Ethiken liegen nun aber jeweils bestimmte Moralprinzi-
pien zugrunde, sei es ein deontologisches Prinzip wie Kants (; ) kategori-
scher Imperativ, sei es ein teleologisches wie das von Bolzano (: I ) vorge-
schlagene “oberste Sittengesetz”, wonach gilt: “Wähle von allen dir möglichen
Handlungen immer diejenige, die, alle Folgen erwogen, das Wohl des Ganzen,
gleichviel in welchen Teilen, am meisten befördert.” Unter Voraussetzung eines
solchen Prinzips kommen wir jedoch nicht umhin, zumindest zu fragen, was alles
zu diesem “Ganzen” bzw. zum Kreis der von unserem Handeln Betroffenen ge-
hört – wie auch immer unsere Antwort darauf lautet.
(iv) Haben Philosophen wie Bacon oder Descartes einen “rücksichtslosen An-
thropozentrismus” vertreten, der den Menschen zum “Herrn und Meister über die
Natur” erklärt, so dass sie für deren Ausbeutung und Zerstörung mitverantwort-
lich sind? Wegen des damit verknüpften Vorwurfs ist erst recht wichtig, die Aussa-
gen jener Philosophen genau zu betrachten: Tatsächlich erscheint etwa die Annah-
me von Descartes (: ff.), dass Tiere über keinerlei “Vernunft” bzw. “Bewusst-
sein” verfügen und dass ihr Verhalten deshalb deterministisch erklärbar sei, vor
dem Hintergrund der heute verfügbaren naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über-
aus problematisch bzw. empirisch falsch; mit Vernunft und Bewusstsein schreibt
Descartes den Menschen jedoch kein Privileg zu, sondern jene Willensfreiheit, die
notwendig dafür ist, dass sie (und zwar nur sie) als moralische Subjekte in Frage
kommen, d.h. als Träger von Pflichten. Andererseits betont Bacon (: ff .,
ETHISCHER ANTHROPOZENTRISMUS
) in der Tat, das Ziel von Wissenschaft und Technik sei, “die Macht und die
Herrschaft des Menschengeschlechtes selbst über die Gesamtheit der Natur zu er-
neuern und zu erweitern”, und dieses Ziel sei “gesünder und edler als die übrigen”,
weil (vor allem) dadurch eine “Erleichterung und Verbesserung der Lage der Men-
schen” zu erreichen sei. Diese Überlegung ist zwar anthropozentrisch, doch ist sie
keinesfalls als Freibrief für ein grenzenloses Streben der Menschen nach Macht
über die Natur und nach deren Ausbeutung zu verstehen, sondern eher als Vor-
schlag, das Überleben der Menschen in einer für sie oft übermächtigen Natur zu
sichern, indem die den natürlichen Vorgängen zugrunde liegenden Gesetze er-
kannt werden, die es ermöglichen, die Natur zu “beherrschen”, wobei Bacon frei-
lich betont: “Die Natur lässt sich nur durch Gehorsam besiegen.” Das heißt, es
geht laut Bacon darum, dass die Menschen die Naturvorgänge angemessen be-
schreiben und erklären, dass sie auf der Grundlage solcher Erkenntnisse Vorher-
sagen machen und sich in der Praxis entsprechend verhalten. Ehe wir (wie es Mode
geworden ist) Bacon für die Zerstörung der Natur (mit-)verantwortlich machen,
sollten wir bedenken, dass die Menschen vor der Entwicklung der modernen Wis-
senschaft und Technik dem “Lauf der Natur” oft hilflos ausgesetzt waren, während
für uns viele Schutzmaßnahmen, die wir der Medizin und anderen Technologien
verdanken, nahezu selbstverständlich geworden sind.
(v) Dennoch: Ist die nicht nur von Jonas (: ) beklagte, kaum zu leugnen-
de “kritische Verletzlichkeit” der Natur eine Folge anthropozentrischen Denkens?
Wenn wir z.B. die Zerstörung natürlicher Lebensräume, die Ausbeutung natürli-
cher Ressourcen und ähnliche Handlungen zugunsten menschlicher Interessen be-
trachten, so könnten wir diese zunächst tatsächlich auf ein anthropozentrisches
Denken zurückführen. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass es dabei nicht
so sehr um das Problem des Anthropozentrismus geht, sondern darum, dass eine
Gruppe von Menschen (nicht zuletzt von solchen, die in hochindustrialisierten,
reichen Ländern wohnen) ihren Vorteil hier und jetzt sucht (also eine egoistische
“Moral” verfolgt), ohne in ihre Pläne grundlegende Bedürfnisse von nicht-mensch-
lichen und menschlichen Wesen einzubeziehen, die durch ihre Handlungen exis-
tenziell betroffen sind. Einem solchen Verhalten liegt eine Regel zugrunde, die laut
Hare (: ff.) auf die Diskontierung (d.h. die Abwertung) des Fernerstehenden
gegenüber dem Näheren zielt; demnach ist ein und dieselbe Handlungsfolge gerin-
ger zu bewerten, wenn sie räumlich, zeitlich oder genetisch ferner stehende Wesen
betrifft, als sie zu bewerten wäre, wenn räumlich, zeitlich oder genetisch näher ste-
hende Wesen davon betroffen wären. Zwar ist ein solches Verhalten gut zu erklä-
ren, u.a. dadurch, dass in vielen Fällen vor allem uns nahe stehende (menschliche)
Wesen von unserem Handeln betroffen sind, doch ist die Diskontierungsregel
nicht allgemein als Moralprinzip zu rechtfertigen, da sonst selbst ein extremer Egois-
mus als moralisch richtig zu gelten hätte, denn jeder ist sich selbst am nächsten und
könnte so gesehen die Auswirkungen auf alle anderen vernachlässigen.
OTTO NEUMAIER
(vi) Wird die Natur in einer anthropozentrischen Ethik tatsächlich “zum moral-
freien Raum”, wie Bayertz behauptet? Zwar ist richtig, dass gemäß einer solchen
Ethik “die normative Verbindlichkeit für den Schutz der Natur wie auch allgemein
deren Status aus der Perspektive des Menschen bzw. der Relation zum Menschen”
gesehen wird, doch bedeutet die laut Brenner (: f.) daraus resultierende
“Norm zur Hege und Pflege der Natur” eben nicht, dass die Natur durch den An-
thropozentrismus “zum moralfreien Raum” erklärt wird. Wie Frankena (:
f.) zeigt, lassen sich vielmehr mit Bezug auf den Anthropozentrismus gegen-
sätzliche praktische Annahmen verknüpfen, d.h. sowohl die Erlaubnis jeglicher “Art
der Behandlung von Tieren, Pflanzen oder anorganischen Objekten und Substan-
zen” als auch die Forderung von “Umweltschutzmaßnahmen”, die “für das gegen-
wärtige oder zukünftige Wohlergehen von Personen und/oder menschlichen We-
sen” notwendig sind. Das bedeutet zugleich umgekehrt, dass die Forderung nach
einem Schutz der natürlichen Umwelt noch keine Abkehr vom anthropozentri-
schen Denken bedeutet; vielmehr kann das Interesse am Überleben der Menschen
ein Grund sein, auch die Zukunftsaussichten nicht-menschlicher Wesen in Be-
tracht zu ziehen: Eine ökologische Katastrophe bedroht auf jeden Fall die Zukunft
der Menschheit, welche Wesen auch immer sonst davon betroffen sind.
Wie diese Überlegungen zeigen, wird vieles, allzu vieles dem Anthropozentris-
mus zugerechnet bzw. in die Schuhe geschoben. Dies ist u.a. dadurch möglich,
dass oft unklar bleibt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Ethik
als anthropozentrisch anzusehen ist. Stattdessen begnügen sich viele Autoren mit
höchst vagen oder blumigen Umschreibungen: So formuliert etwa Barnes (:
) den anthropozentrischen Standpunkt als Annahme “Das menschliche Wohl-
ergehen hat höchste Priorität”, während Andreas-Grisebach (: ) darunter ein
Verhalten versteht, “das so tut, als ob die Angeln der Welt sich in den Menschen
drehen, als ob Menschen die Mitte, das strahlende Medaillon” seien, “Berg und Tal,
Tiere, Baum und Lichtwolke” aber nur Mittel bzw. “die Lebensmittel, die wie
Planeten um ihre Sonne stehen.” Es erscheint nicht allzu kühn zu behaupten, dass
jene, denen daran liegt, den ethischen Anthropozentrismus einigermaßen begrün-
det zu kritisieren (d.h. zu entscheiden, was daran plausibel und was problematisch
ist), solche Bilder vermeiden und stattdessen versuchen sollten, die Kriterien anzu-
geben, die eine anthropozentrische Ethik von einer anderen unterscheiden.
Um zu bestimmen, was es heißt zu sagen, dass “nur der Mensch moralische Re-
levanz” habe, wollen wir zunächst mit Frankena (: ) die Klasse der mora-
lischen Subjekte (“moral agents”) von der Klasse der moralischen Objekte (“moral
patients”) unterscheiden: Als moralisches Subjekt kommt ein Wesen nur dann in
Betracht, wenn Grund zur Annahme besteht, dass es über bestimmte physische
und psychische Anlagen verfügt, so dass gerechtfertigt ist, ihm moralische Pflichten
zuzurechnen. Hingegen ist ein Wesen nur dann als moralisches Objekt anzusehen,
wenn Grund zur Annahme besteht, dass es bestimmte Bedingungen für den An-
ETHISCHER ANTHROPOZENTRISMUS
spruch darauf erfüllt, von moralischen Subjekten beim Handeln um seiner selbst
willen berücksichtigt zu werden; stattdessen heißt es oft auch, moralische Objekte
seien Wesen, die moralische Rechte oder einen moralischen Wert haben.
Wenn es heißt, dass nur Menschen einen “moralischen Status” haben, so kann
damit entweder gemeint sein, dass nur Menschen moralische Subjekte sind (d.h.
Wesen, denen moralische Pflichten zuzurechnen sind), oder aber, dass nur Men-
schen moralische Objekte sind (also Wesen, denen gegenüber moralische Subjekte
gegebenenfalls Pflichten haben). Die erste Annahme läuft auf den von Krebs (:
f.) so genannten “epistemischen (begrifflichen, erkenntnistheoretischen oder me-
thodologischen) Anthropozentrismus” hinaus, da sie sich darauf bezieht, dass “der
Mensch sich die Welt nur in menschlichen Begriffen erschließen kann” und letzt-
lich auch als moralisches Subjekt darüber zu befinden hat, welche Wesen als mora-
lische Objekte zu berücksichtigen sind. Als ethischer Anthropozentrismus gilt hin-
gegen die Annahme, dass nur Menschen als moralische Objekte um ihrer selbst
willen zu berücksichtigen sind (während im Biozentrismus alle Lebewesen und im
Pathozentrismus alle empfindungsfähigen Wesen als moralische Objekte gelten).
Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Zusatz, dass nur Menschen als
Wesen in Frage kommen, die beim Handeln um ihrer selbst willen zu berücksich-
tigen sind bzw. denen gegenüber die handelnden Subjekte allenfalls moralische
Pflichten haben, denn eine anthropozentrische Ethik schließt keineswegs die An-
nahme von Pflichten “in Bezug auf ” nicht-menschliche Wesen aus. In diesem Sin-
ne betont etwa Taylor (: ), dass dem ethischen Anthropozentrismus zufolge
“our moral duties with respect to the natural world are all ultimately derived from
the duties we owe to one another as human beings. It is because we should respect
the human rights of everyone, or should protect and promote the well-being of
humans, that we must place certain constraints on our treatment of the Earth’s
natural environment and its non-human inhabitants.” Die Rede von Pflichten
“with respect to the natural world” wird in der deutschen Fassung von Taylor (:
) so präzisiert, dass es um Pflichten “in Ansehung der natürlichen Ökosysteme
und biotischen Gemeinschaften auf unserem Planeten” gehe.
Diese Formulierung übernimmt Taylor (so wie viele andere Philosophen) von
Kant, der Pflichten gegen ein Wesen von solchen in Ansehung eines Wesens unter-
scheidet. Laut Kant (: II A f.) “kann der Mensch sonst keine Pflicht gegen
irgend ein Wesen haben, als bloß gegen den Menschen, und, stellt er sich gleich-
wohl eine solche zu haben vor, so geschieht dies durch eine Amphibolie der Refle-
xionsbegriffe und seine vermeintliche Pflicht gegen andere Wesen ist bloß Pflicht
gegen sich selbst; zu welchem Mißverstande er dadurch verleitet wird, daß er seine
Pflicht in Ansehung anderer Wesen für Pflicht gegen diese Wesen verwechselt.”
Kants Annahme, dass wir nur Pflichten gegen uns selbst oder andere Menschen
haben, hängt damit zusammen, dass s.E. nur Menschen moralische Rechte haben.
Eben deshalb gilt er als Hauptvertreter des ethischen Anthropozentrismus.
OTTO NEUMAIER
In Bezug auf Kants Ethik wird nicht nur immer wieder von einem “ausgeprägten
Anthropozentrismus” gesprochen, so etwa von Thurnherr (: ), sondern so-
gar – z.B. von Birnbacher (: ) – betont, dass der Anthropozentrismus darin
“auf die Spitze getrieben” wird. Dass diese Einschätzung nicht völlig aus der Luft
gegriffen ist, wird u.a. durch folgende Überlegungen von Kant belegt:
(i) In seiner Diskussion der Entwicklung, durch die der Mensch zu einem ver-
nünftigen Wesen wurde, erwähnt Kant (: A f.) als letzten Schritt den der
menschlichen Erkenntnis, “er sei eigentlich der Zweck der Natur, und nichts, was
auf Erden lebt, könne hierin einen Mitwerber gegen ihn abgeben. Das erstemal,
daß er zum Schafe sagte: den Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich,
sondern für mich gegeben, ihm ihn abzog, und sich selbst anlegte […]: ward er
eines Vorrechtes inne, welches er, vermöge seiner Natur, über alle Tiere hatte, die
er nun nicht mehr als seine Mitgenossen an der Schöpfung, sondern als seinem
Willen überlassene Mittel und Werkzeuge zu Erreichung seiner beliebigen Absich-
ten ansah. Diese Vorstellung schließt (wiewohl dunkel) den Gedanken des Gegen-
satzes ein: daß er so etwas zu keinem Menschen sagen dürfe, sondern diesen als
gleichen Teilnehmer an den Geschenken der Natur anzusehen habe.”
(ii) Wie Kant (: A ) darlegt, sind wir angesichts der “unbeschreiblich wei-
sen Organisation”, die sich bereits im Pflanzenreich zeigt, veranlasst zu fragen:
“Wozu sind diese Geschöpfe da? Wenn man sich antwortet: für das Tierreich, wel-
ches dadurch genährt wird, damit es sich in so mannigfaltige Gattungen über die
Erde habe verbreiten können: so kommt die Frage wieder: Wozu sind denn diese
Pflanzen verzehrenden Tiere da? Die Antwort würde etwa sein: für die Raubtiere,
die sich nur von dem nähren können, was Leben hat. Endlich ist die Frage: wozu
sind diese samt den vorigen Naturreichen gut? Für den Menschen, zu dem man-
nigfaltigen Gebrauche, den ihm sein Verstand von allen jenen Geschöpfen ma-
chen lehrt; und er ist der letzte Zweck der Schöpfung hier auf Erden; weil er das
einzige Wesen auf derselben ist, welches sich einen Begriff von Zwecken machen
und aus einem Aggregat von zweckmäßig gebildeten Dingen durch seine Vernunft
ein System der Zwecke machen kann.”
(iii) Besonders bekannt ist eine Stelle aus Kants (: ) um gehaltenen
Ethikvorlesungen, wo es heißt, dass “Tiere nur als Mittel da sind, indem sie sich
ihrer selbst nicht bewußt sind”, während der Mensch “der Zweck ist, wo ich nicht
mehr fragen kann: ‘Warum ist der Mensch da?’, welches bei den Tieren geschehen
kann.” Deshalb “haben wir gegen die Tiere unmittelbar keine Pflichten, sondern
die Pflichten gegen die Tiere sind indirekte Pflichten gegen die Menschheit.”
Aus solchen Äußerungen spricht allem Anschein nach nicht nur ein ethischer
Anthropozentrismus im vorhin bestimmten Sinne, sondern Kant sieht den Men-
schen zudem auch als einziges Wesen, das seinen Zweck in sich selbst hat und zu-
ETHISCHER ANTHROPOZENTRISMUS
gleich alle anderen Wesen als Mittel für seine Zwecke ansehen und verwenden
kann, sowie als Endzweck der Natur. So nennt Kant (: AB f.) denn auch im
bekannten, aus dem kategorischen abgeleiteten praktischen Imperativ ausdrücklich
nur Menschen als moralische Objekte: “Handle so, daß du die Menschheit, sowohl
in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, nie-
mals bloß als Mittel brauchest.” Dies ist nicht zuletzt dadurch begründet, dass sich
der Mensch als einziges Wesen “hier auf Erden […] einen Begriff von Zwecken”
und “durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen kann.”
Wie aus den erwähnten Stellen hervorgeht, hängt der Status des Menschen als
moralisches Subjekt und Objekt gemäß Kant von bestimmten Eigenschaften ab,
die er in der Evolution erworben hat und die ihn “zu moralischem Handeln befähi-
gen”, nämlich Vernunft und Freiheit bzw. Autonomie. Der Erwerb dieser Fähigkei-
ten ist laut Kant (: A ff.) mit der Entlassung des Menschen “aus dem Mutter-
schoße der Natur verbunden”. Das heißt: Insofern, als der Mensch Teil der Natur
ist und mit anderen natürlichen Wesen Merkmale (wie z.B. Triebe) gemeinsam
hat, ist “alles gut” (oder wie wir vielleicht besser sagen sollten: moralisch neutral );
insofern, als der Mensch Vernunft entwickelt und sich durch die damit verbunde-
ne Kultur und Handlungsfreiheit von der übrigen Natur “abgehoben” hat, kam aber
das “Böse” in die Welt (bzw. – wie wir wiederum differenzierend sagen können –
die bewusste Wahl zwischen Gut und Böse, zwischen moralisch richtigem und fal-
schem Handeln). Moralische Fragen stellen sich mithin erst für Wesen, die kogni-
tiv so weit entwickelt sind, dass sie sich dessen bewusst werden können, was rich-
tig und was falsch ist (was in Kants Augen nichts anderes bedeutet, als dass sie den
kategorischen Imperativ prinzipiell verstehen können).
Gegen Kants Annahme, dass Menschen moralische Objekte sind, weil sie im
Unterschied zu Tieren über Vernunft verfügen, wurde eine Reihe von Einwänden
erhoben, u.a. der, dass diese Annahme “offensichtlich dogmatisch” sei: “Was den
Menschen als solchen auszeichnet”, ist laut Patzig (: ) “nicht Vernunftbesitz,
sondern Vernunftfähigkeit. Ob diese Vernunftfähigkeit aktualisiert wird, hängt von
vielerlei Voraussetzungen ab, die vielfältig gestört werden können. […] Genetische
Schäden, Krankheiten und Störungen des sozialen Umfeldes können den Ver-
nunftbesitz verhindern und vorübergehend oder irreversibel beenden.” Gilt ein
Mensch genau dann als moralisches Objekt, wenn er tatsächlich über Vernunft ver-
fügt, dann folgt daraus, dass z.B. Kleinkinder oder geistig schwer Behinderte, die
de facto nicht über Vernunft verfügen bzw. sich ihrer selbst nicht bewusst sind, ge-
nausowenig wie Tiere um ihrer selbst willen Rücksicht verdienen und somit ebenso-
gut etwa für wissenschaftliche Versuche verwendet werden dürfen wie diese.
Bei dieser Problematik scheint ein konsequenter Anthropozentrismus Vorteile
gegenüber anderen Positionen zu bieten bzw. (genauer gesagt) den Intuitionen vie-
ler Menschen eher zu entsprechen: Wenn die “Menschheit, sowohl in deiner Per-
son, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß
OTTO NEUMAIER
als Mittel” anzusehen ist, während alle anderen Wesen “nur als Mittel da sind”,
dann sind eben alle und nur Menschen moralische Objekte, auf die moralische
Subjekte (bzw. andere Menschen) beim Handeln Rücksicht zu nehmen haben. Der
Kritik von Patzig zufolge erscheint es jedoch ratsam, dies nicht mit Hinweis auf die
menschliche Vernunft zu begründen, da nicht alle Menschen in deren “Besitz” sind.
Ein konsequenter ethischer Anthropozentrismus ist demnach genauer so zu formu-
lieren, dass nur Menschen als Menschen moralische Objekte und damit beim Han-
deln um ihrer selbst willen zu berücksichtigen sind. Eine solche Position entspricht
dem von Singer (: ff.) so genannten Speziesismus. Dieser ist insofern höchst
problematisch, als speziesistische Annahmen in rassistische oder sexistische über-
setzt werden können, die jemand, der die speziesistische Variante als gültig ansieht,
ebenfalls zu akzeptieren bereit sein muss (sofern er konsequent ist).
Wer die Zugehörigkeit zur Klasse der moralischen Objekte davon abhängig
macht, dass das fragliche Wesen über bestimmte Eigenschaften verfügt, kann so ge-
sehen kein konsequenter ethischer Anthropozentrist sein: Ist Vernunft der Maß-
stab, so kommen zumindest nicht alle Menschen in Frage, ist es eine andere Eigen-
schaft wie z.B. Empfindungsfähigkeit, so kommen nicht nur Menschen in Betracht.
Kants Berufung auf die Vernunft legt mithin nahe, dass er mit dem Begriff der
Menschheit zwar nur Menschen meint, aber keineswegs alle. Darauf deutet etwa
Kants (: ) Ansicht hin, “am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Ge-
schöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner
Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig
entwickeln”, da “ein jeder Mensch unmäßig lange leben” müsste, “um zu lernen,
wie er von allen seinen Naturanlagen einen vollständigen Gebrauch machen solle.”
Freilich wäre es ein Fehler, daraus zu schließen, dass Kant die Vernunft als Fähig-
keit der biologischen Gattung Mensch sieht, die in den einzelnen Individuen mehr
oder weniger vollkommen (und in manchen gar nicht) realisiert ist. Vielmehr ist
Kant in diesem Zusammenhang ausdrücklich nicht am Menschen als Naturwesen
interessiert, sondern als Person bzw. moralischem Subjekt, dessen Handlungen laut
Kant (: I AB ) “einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist
also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen unter moralischen Gesetzen
(die psychologische aber bloß das Vermögen, sich seiner selbst in den verschiede-
nen Zuständen, der Identität seines Daseins bewußt zu werden).” Als “vernünfti-
ges Naturwesen (homo phaenomenon)” ist der Mensch gemäß Kant (: II A )
“durch seine Vernunft, als Ursache, bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt
und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung.
Eben derselbe aber seiner Persönlichkeit nach, d.i. als mit innerer Freiheit begabtes
Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen.” Kant
(: II A ) geht sogar so weit zu behaupten: “Der Mensch im System der Natur
(homo phaenomenon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung
und hat mit den übrigen Tieren […] einen gemeinen Wert.”
ETHISCHER ANTHROPOZENTRISMUS
Wenn bei Kant von Anthropozentrik die Rede sein kann, dann also nicht des-
halb, weil er den Menschen als “Naturwesen”, d.h. als Angehörigen einer bestimm-
ten biologischen Spezies, in den Mittelpunkt der ethischen Betrachtung stellt, son-
dern allenfalls deshalb, weil dieser für ihn – wie Kim (: ) betont – das (ein-
zige) “Subjekt der Moralität” ist. Wenn Kant im erwähnten Sinn von der Mensch-
heit spricht, so rückt er laut Baranzke (: ) “einen moralisch außerordentlich
anspruchsvollen Humanitätsbegriff als Zielvorstellung in das Zentrum seiner Voll-
kommenheitsethik […], deren Kern die Pflicht zur Realisierung der Selbstver-
pflichtungsfähigkeit des Menschen ist […]. ‘Menschheit’ ist die Idee der morali-
schen Natur des Menschen, d.i. seine Verwirklichung als moralisches Subjekt.”
Auch wenn Kants Ethik in erster Linie der Bestimmung des Menschen als mo-
ralisches Subjekt bzw. als homo noumenon gewidmet ist, d.h. als ein “mit innerer
Freiheit begabtes” bzw. “der Verpflichtung fähiges Wesen”, kommt der Mensch da-
bei auch als moralisches Objekt ins Spiel, und zwar eben durch die Frage, wem
gegenüber bzw. durch wen ein solches moralisches Subjekt verpflichtet werden
könnte: Laut Kant (: II A ) “hat der Mensch sonst keine Pflicht, als bloß
gegen den Menschen (sich selbst oder einen anderen); denn seine Pflicht gegen
irgend ein Subjekt ist die moralische Nötigung durch dieses seinen Willen. Das
nötigende (verpflichtende) Subjekt muß also erstlich eine Person sein, zweitens muß
diese Person als Gegenstand der Erfahrung gegeben sein; weil der Mensch auf den
Zweck ihres Willens hinwirken soll […]. Nun kennen wir aber, mit aller unserer
Erfahrung, kein anderes Wesen, was der Verpflichtung (der aktiven oder passiven)
fähig wäre, als bloß den Menschen. Also kann der Mensch sonst keine Pflicht ge-
gen irgend ein Wesen haben, als bloß gegen den Menschen.” Diese Überlegung
ist in mindestens zweierlei Hinsicht bemerkenswert:
(i) Kant expliziert, was es heißt, dass ein moralisches Objekt um seiner selbst wil-
len von einem moralischen Subjekt beim Handeln zu berücksichtigen ist. Die em-
pirische Tatsache, dass sich eine Handlung kausal auf etwas auswirkt, genügt ja
noch nicht, damit gerechtfertigt ist zu sagen, das moralische Subjekt habe darauf
Rücksicht zu nehmen. Dies zu bestimmen, kommen auch Vertreter pathozentri-
scher, biozentrischer oder anderer Positionen nicht umhin, und sie stimmen sogar
mit Kant in der Annahme überein, dass letztlich das moralische Subjekt erkennen
und beurteilen muss, wer oder was als moralisches Objekt um seiner selbst willen
zu berücksichtigen ist. Kant geht freilich einen Schritt weiter, indem er annimmt,
dass ein Wesen nur dann als moralisches Objekt in Frage kommt, wenn es prinzi-
piell in der Lage ist, ein moralisches Subjekt zu bestimmten Handlungen zu ver-
pflichten, und das schließt ein, dass es die fragliche Pflicht erkennen und auf den
Zweck seines Willens hinwirken kann, dass es also selbst ein mit innerer Freiheit
begabtes bzw. der (aktiven und passiven) Verpflichtung fähiges Wesen ist.
(ii) Andererseits zeigen diese Überlegungen, dass Kants Ethik nicht anthropo-
zentrisch im eigentlichen Sinne ist. Wenn Kant von der Menschheit in uns selbst
OTTO NEUMAIER
und jeder anderen Person schreibt, geht es ihm weniger um den Menschen als um
die Person, und zwar (wie erwähnt) um die Person im moralischen Sinne eines frei
handelnden und der Verpflichtung fähigen Wesens. Die Annahme, dass wir “kein
anderes Wesen, was der Verpflichtung (der aktiven oder passiven) fähig wäre, als
bloß den Menschen” kennen, entspricht laut Kant “aller unserer Erfahrung”, ist
also empirischer Natur. Sollte sie sich durch die Erfahrung als falsch herausstellen,
würde sich an Kants Ethik insofern nichts ändern, als in dessen Zentrum weiter-
hin die Person im moralischen Sinne stehen könnte. Im Sinne von Frankena (:
f.) vertritt Kant also keinen “Humanismus”, sondern einen “Personalismus”,
d.h. die Annahme, dass “die Klasse der moralischen Akteure und die Klasse der
moralischen Objekte mit der der Personen identisch ist”. Da Frankenas Terminus
(gemäß seinem eigenen Zugeständnis) auch in ganz anderer Bedeutung verwendet
wird und da für Personen bestimmte Vernunftfähigkeiten notwendig sind, kön-
nen wir Kants Position aber auch als Ratiozentrismus kennzeichnen.
Wenn wir im Lichte dieser Einsichten wieder auf Kants Schriften blicken, stel-
len wir überrascht fest, dass er zwar manchmal einfach von den Menschen spricht,
noch öfter aber von den vernünftigen Wesen, als welche uns diese, aber nicht un-
bedingt nur sie, aus der Erfahrung bekannt sind. So betont Kant (: BA f.,
f., f., f.) etwa in der Grundlegung gleich an mehreren Stellen: “Der Mensch
und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst”, “die ver-
nünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst ”, “vernünftige Wesen stehen alle
unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle andere[n] niemals bloß
als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle”, und
Moralität sei “die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an
sich selbst sein kann”. Diese und andere Stellen (z.B. Kant : A ; : A f.;
: A f.) legen nahe, dass Kant lediglich der Einfachheit halber mitunter den
Menschen als einziges, um seiner selbst willen zu berücksichtigendes moralisches
Objekt nennt, denn wir kennen ja (wie er meint) aufgrund unserer Erfahrung
“kein anderes Wesen, was der Verpflichtung (der aktiven oder passiven) fähig wäre,
als bloß den Menschen.” Wir könnten jedoch durch Erfahrung auch zu anderen
Erkenntnissen darüber gelangen, welche Wesen der Verpflichtung fähig sind.
Welche Wesen auch immer sich empirisch als der (aktiven oder passiven) “Ver-
pflichtung fähig” erweisen, machen diese die Gruppe der moralischen Objekte
wie auch der Subjekte aus. Gegen diese Gleichsetzung versuchen Kim () und
Baranzke () zu zeigen, dass Kant zwar mit Bezug auf die moralischen Sub-
jekte einen Anthropo- bzw. Ratiozentrismus vertrat, nicht aber hinsichtlich der
moralischen Objekte, deren Kreis er weiter gefasst habe: So war Kant laut Baranzke
(: ) ja nicht der Ansicht, “das Leiden der Tiere sei moralisch irrelevant”,
bzw. ist der Mensch laut Kim (: ) auch in Kants Augen “verpflichtet, die
Natur und die Umwelt zu erhalten, weil er sonst das Leben und seine Grundlagen
gefährdet und zerstört.” Dies ist zwar richtig, doch folgt daraus nicht, dass Kant
ETHISCHER ANTHROPOZENTRISMUS
in Bezug auf moralische Objekte eine andere als eine ratiozentrische Position ver-
treten hätte. Die Frage ist ja nicht, ob wir aus irgendwelchen Gründen verpflichtet
sind, “die Natur und die Umwelt zu erhalten”, sondern ob wir um ihrer selbst wil-
len dazu verpflichtet sind.
Kant (: II A ) unterscheidet zwar zunächst Pflichten des Menschen gegen
den Menschen von solchen gegen nicht-menschliche Wesen, doch geht er später
nur noch auf jene ein und macht er klar, dass alle “vermeintliche Pflicht gegen an-
dere Wesen” genau genommen “bloß Pflicht gegen sich selbst” oder andere Men-
schen bzw. Personen im moralischen Sinne ist (vgl. Kant : II A ). Dies zeigt
nicht zuletzt jene Stelle, an der Kant (: ) fordert, kein Mensch solle “die
Schönheit der Natur zerstören, denn wenn er es auch nicht brauchen kann, so kön-
nen doch noch andere Menschen davon Gebrauch machen.” Die Natur ist nach
Kants Ansicht also nicht um ihrer selbst willen zu schützen, sondern aufgrund von
“Pflichten gegen die Menschheit”. In Ansehung von unpersönlichen Wesen pflicht-
mäßig zu handeln, ist zwar in gewissem Sinne Pflicht, entspricht in Kants (:
I AB ) Terminologie aber nicht einer Schuldigkeit, sondern einem Verdienst, das
Kant (: II A ) auch als unvollkommene Pflicht bezeichnet.
Eine Besonderheit von Kants “personalistischer” oder ratiozentrischer Ethik ist die
Betonung der passiven und aktiven Verpflichtungsfähigkeit als notwendiger Bedin-
gung dafür, dass ein Wesen als moralisches Subjekt und Objekt gelten kann. Diese
Gleichsetzung ist unter den erwähnten Voraussetzungen von Kants Ethik zumin-
dest nachvollziehbar: Gerade wer das Ideal des verpflichtungsfähigen und seinen
Verpflichtungen nachkommenden moralischen Subjekts in den Mittelpunkt der
Ethik stellt, muss auch die Frage beantworten, wodurch ein solches Subjekt zu
etwas verpflichtet werden kann, wobei Kants Antwort, dass dafür wiederum nur
ein verpflichtungsfähiges Wesen in Frage kommt, aus den genannten Gründen eine
gewisse Plausibilität für sich in Anspruch nehmen kann. Andererseits wirft sie aber
auch eine Reihe von Fragen auf, z.B. die folgenden:
(i) Wenn schon zweifelhaft ist, dass Kant im eigentlichen Sinn einen ethischen
Anthropozentrismus vertreten (also nur und alle Menschen als moralische Objekte
bestimmt) hat, ist seine Ethik dann wenigstens in Bezug auf die Frage nach dem
moralischen Subjekt als anthropozentrisch anzusehen? Eine solche Position, die
ihm (wie erwähnt) in der Tat von neueren Interpreten wie Kim () oder Ba-
ranzke () zugeschrieben wird, böte noch dazu den Vorteil, dass sie nicht nur
von Anhängern des ethischen Anthropozentrismus wie z. B. Matthews () ak-
zeptiert wird, sondern sogar von dessen Kritikern. So betont etwa Jonas (: ),
der Mensch sei “das einzige uns bekannte Wesen, das Verantwortung haben kann.
OTTO NEUMAIER
Indem er sie haben kann, hat er sie. Die Fähigkeit zur Verantwortung bedeutet
schon das Unterstelltsein unter ihr Gebot: das Können selbst führt mit sich das Sol-
len. Die Fähigkeit aber zur Verantwortung – eine ethische Fähigkeit – beruht in der
ontologischen Befähigung des Menschen, zwischen Alternativen des Handelns mit
Wissen und Wollen zu wählen. Verantwortung ist also komplementär zur Freiheit.”
Unbeschadet der Probleme, die der Schluss vom Können auf das Sollen aufwirft,
könnten zumindest manche dieser Formulierungen ebensogut von Kant stammen.
Das beweist indes noch nicht, dass dieser hinsichtlich der moralischen Subjekte
anthropozentrisch dachte. Vielmehr ist in seinen Augen entscheidend, ob ein We-
sen bestimmte, für seine Zurechnungsfähigkeit notwendige Bedingungen erfüllt, so
dass gerechtfertigt ist anzunehmen, es könne zu etwas verpflichtet werden, und
zwar prinzipiell unabhängig davon, ob eine so bestimmte moralische Person ein
Mensch ist oder nicht. Freilich zeige unsere Erfahrung, dass de facto nur Men-
schen dafür in Frage kommen. Da Kant für moralische Subjekte wie für morali-
sche Objekte die Bedingung der Verpflichtungsfähigkeit annimmt, kann er gar
nicht anders, als in Bezug auf beide einen Ratiozentrismus zu vertreten.
(ii) Ist ein Anthropo- bzw. Ratiozentrismus in Bezug auf moralische Subjekte
unumgänglich? Tatsächlich sind (wie gerade angedeutet) selbst viele Ökophiloso-
phen bereit, diese Frage positiv zu beantworten, während in den relevanten Berei-
chen der Angewandten Ethik die Antwort auf die Frage umstritten ist, welche We-
sen beim Handeln als moralische Objekte um ihrer selbst willen zu berücksichti-
gen sind, und die einschlägigen Positionen eben in Bezug auf ihre jeweilige Ant-
wort als anthropo-, patho- oder biozentrisch usw. klassifiziert werden. Jene Annah-
me (die, wie erwähnt, auf einen epistemischen Anthropozentrismus hinausläuft, da
die moralischen Subjekte zugleich jene sind, die nicht nur darüber urteilen, was
moralisch richtig ist, sondern auch über die Menge der beim Urteil zu berücksich-
tigenden moralischen Objekte) wird indes nicht von allen Philosophen geteilt.
So lehnt z.B. Attfield (: ) rundweg ab, dass “anthropocentrism has to be
accepted after all, as things have value as a result of human beings valuing them.
I find this theory just as incredible as its implication, namely that things which
have not yet been valued by anyone suddenly change form being valueless to being
valuable the very instant some consciousness is focussed on them with approval.
Why should there not be things of value, and worth preserving, which no one cur-
rently values? Many species are as yet unidentified and are thus unvalued at present
as such, but it is implausible that this makes them valueless.” Hingegen hält Krebs
(: ) jene Annahme im Allgemeinen für unproblematisch und sieht die Pro-
bleme eher in der konkreten Interpretation, z.B. in Bezug auf “folgende noch nicht
sehr weit reichende These: Da sich der Mensch die Welt nur in seinen Begriffen er-
schließen kann, muß der Gebrauch dieser Begriffe an Kriterien geknüpft sein, die
Menschen erkennen können, und es ist daher zum Beispiel sinnlos, darüber zu spe-
kulieren, ob Tiere, Pflanzen oder gar Steine, die in ihrem Verhalten, ihrem Körper-
ETHISCHER ANTHROPOZENTRISMUS
bau etc. nichts aufweisen, was die menschlichen Kriterien dafür, anderen Men-
schen ‘Leiden’ zuzuschreiben (etwa Stöhnen, Zittern, Sich-Krümmen, Weinen,
Klagen oder Nervenreizungen) erfüllt, nicht vielleicht doch leiden, nur nicht im
menschlichen Sinn und nicht von Menschen erkennbar.”
An dieser Stelle grüßt Protagoras von ferne, indem er über die Vieldeutigkeit des
Satzes schmunzelt, der Mensch sei das Maß aller Dinge – was im gegenwärtigen
Kontext heißt, dass es notwendigerweise Menschen bzw. moralische Subjekte sind,
die über den Wert von etwas urteilen bzw. darüber, ob ein Wesen als moralisches
Objekt um seiner selbst willen zu berücksichtigen ist, etwa weil ihm “Leiden” zu-
zuschreiben ist. Wir können nämlich Attfield oder Krebs durchaus zugestehen,
dass natürliche Arten existieren oder andere Wesen bestimmte Empfindungen
haben können, von denen wir Menschen nichts wissen, und dass das eine wie das
andere “im Prinzip” etwas ist, das zu achten ist, obwohl wir nichts davon wissen.
Leider hilft uns dieses Zugeständnis in der Ethik nicht viel weiter, da wir von ei-
nem moralischen Subjekt nicht verlangen können, etwas um seiner selbst willen
zu berücksichtigen, wenn Grund zur Annahme besteht, dass es das zu Berücksich-
tigende nicht kennen kann. Ein moralisches Subjekt zu verpflichten, dass es etwas
berücksichtigt, was jenseits seiner kognitiven Fähigkeiten oder Möglichkeiten ist,
verletzt nicht nur das Sollen-Können-Prinzip, sondern ist schlichtweg absurd. Da
gerade den Ökophilosophen bzw. Naturethikern daran liegt, moralische Pflichten
der Menschen gegenüber nicht-menschlichen Naturwesen zu begründen, kom-
men sie jedoch nicht umhin, dies vernünftigerweise darauf zu begrenzen, was ein
Mensch als moralisches Subjekt erkennen und beurteilen kann.
(iii) Läuft die Annahme, dass notwendigerweise Menschen als moralische Sub-
jekte darüber urteilen, dass ein Wert vorliegt, andererseits darauf hinaus, dass sie
notwendigerweise alles nach ihren Werten beurteilen? Dies ist keineswegs der
Fall. Wie Seel (: ) mit Recht bemerkt, sind Menschen zwar als moralische
Subjekte jene Wesen, die Maßstäbe anlegen, “aber unsere Maßstäbe müssen den
Menschen nicht ins Zentrum alles Seienden stellen, sie müssen nicht alles so sehen,
als sei es auf den Menschen ausgerichtet und für ihn eingerichtet”. Gerade dann,
wenn wir an ein moralisches Subjekt dermaßen hohe Ansprüche hinsichtlich Ver-
nunft, Autonomie und Verpflichtungsfähigkeit stellen, wie dies Kant tut, sollten
wir konsequenterweise auch bereit sein zuzugestehen, dass ein solches Wesen in
der Lage ist, die Situation eines anderen und möglicherweise ganz anders gearteten
Wesens zu erkennen sowie zu beurteilen, ob sie für dieses wertvoll ist.
Zwar hängt es von uns Menschen als moralischen Subjekten ab, ob wir einen
bestimmten Sachverhalt als wertvoll beurteilen, doch heißt das nicht, dass wir als
Wert nur etwas erkennen und anerkennen, was für uns von Bedeutung ist. Dies
zeigt sich, wenn wir überlegen, was in diesem Zusammenhang unter einem Wert
zu verstehen ist: Der klassischen Unterscheidung von Moore (; ) zufolge
kann etwas intrinsisch, d.h. in sich selbst wertvoll sein, oder aber instrumentell,
OTTO NEUMAIER
d.h. als Mittel zum Schaffen oder Erhalten eines intrinsischen Wertes. So ist z.B.
aus anthropozentrischer Sicht ein guter Zustand der Natur instrumentell wertvoll
für die Existenz des Menschen, der laut Kant ein Zweck bzw. ein Wert in sich
selbst ist. Mit einem Wert in sich selbst kann nun aber zweierlei gemeint sein, ab-
hängig davon, worauf wir ihn jeweils beziehen: Im ersten, weiteren Sinn ist ein
Gegenstand wertvoll in sich selbst (d.h. intrinsisch wertvoll ), wenn er ohne Bezug
auf irgendwelche anderen Werte als dieser Gegenstand (und insofern um seiner
selbst willen) zu achten ist – im Unterschied zu etwas, das instrumentell wertvoll ist,
d.h. als Mittel zum Erreichen eines anderen Wertes (sei dieser nun selbst wieder ein
instrumenteller Wert oder aber ein intrinsischer Wert). Unter den intrinsisch wert-
vollen Gegenständen sind jedoch manche in einem zweiten, engeren Sinne wert-
voll in sich selbst (bzw. inhärent wertvoll ), nämlich wenn sie nicht durch Bezug da-
rauf, was ein wertendes Subjekt für sich als wertvoll ansieht, von diesem zu achten
sind, sondern aufgrund ihrer eigenen Gegebenheiten – im Unterschied zu subjekt-
relativen intrinsischen Werten, die (wie z.B. Naturwunder oder Kunstwerke) von
wertenden Subjekten zwar als solche geschätzt werden (d. h. nicht im instrumen-
tellen Sinn, also weil sie erlauben, etwas anderes, in sich Wertvolles zu erreichen),
aber doch deshalb, weil sie in ihren Augen wertvoll sind. Einem Gegenstand einen
inhärenten Wert beizumessen, bedeutet laut Taylor (: ) zu erkennen, dass
dieser Gegenstand schlichtweg um seiner selbst willen ein Gut darstellt und dass
mithin für diesen Gegenstand ein Zustand, in dem das, was für ihn gut ist, realisiert
ist, besser ist als einer, in dem dies nicht der Fall ist.
Wenn wir etwa eine Flusslandschaft für wertvoll halten, nicht weil sie sich als
Standort für ein Kraftwerk eignet, sondern wegen ihrer Schönheit oder Erhaben-
heit, dann schreiben wir ihr tatsächlich einen intrinsischen Wert zu, freilich einen,
der von unserem menschlichen Schönheitsempfinden abhängt, also subjektrelativ
ist. Wenn wir der Natur in diesem Sinn einen intrinsischen Wert zuerkennen und
uns aus eben diesem Grund eine moralische Verantwortung für die Natur zurech-
nen, so ist daran kaum etwas auszusetzen; es entspricht jedoch noch lange kei-
nem “Aufstand für die Natur”, wie ihn Meyer-Abich () fordert, denn der Be-
zug auf subjektrelative intrinsische Werte der Natur läuft auf einen Anthropozentris-
mus hinaus: Gelten doch ausschließlich menschliche Personen als Wesen, denen
z.B. an der Schönheit der Natur als solcher etwas liegen kann. Etwas anders ist die
Situation, wenn wir einer Landschaft, einer Spezies oder auch der gesamten Natur
einen inhärenten Wert zusprechen, also annehmen, dass solche Gegenstände für
sich ein Gut darstellen, so dass ein bestimmter Sachverhalt für sie selbst gut ist (bzw.
besser als ein anderer Sachverhalt, in dem ein für sie relevanter Umstand nicht der
Fall ist). Unter dieser Voraussetzung hängt der Wert der Natur nicht von mensch-
lichen Vorlieben ab; vielmehr wird sie für sich als wertvoll erkannt.
Wenn wir anderen Lebewesen als den Menschen einen inhärenten Wert zuer-
kennen, so hängt dieser Vorgang in gewissem Sinn ebenso von uns Menschen ab,
ETHISCHER ANTHROPOZENTRISMUS
wie wenn wir ihnen bloß einen instrumentellen Wert für das menschliche Leben
beimessen und nur dieses (aus anthropozentrischer Sicht) als wertvoll in sich selbst
ansehen. Dennoch unterscheiden sich die beiden Zugänge wesentlich voneinan-
der: Einen inhärenten Wert als solchen zu erkennen und anzuerkennen, schließt
nämlich nicht notwendig ein, dass er unseren Vorlieben entspricht. Vielmehr ist
denkbar, dass eine solche Erkenntnis (zumindest zunächst) unseren Vorlieben
widerspricht, dass uns also aus rein menschlicher Sicht erscheint, ein anderes (z.B.
besonders hässliches und gefährliches) Lebewesen habe keinen Wert, da wir es we-
der in Hinblick auf unsere Lebenssituation brauchen noch Grund zur Annahme
haben, dass es einen (subjektrelativen) intrinsischen Wert darstelle, an dem wir
uns z.B. erfreuen können. Wenn wir als moralische Subjekte erkennen, dass ein be-
stimmter Sachverhalt für ein nicht-menschliches Wesen inhärent wertvoll ist, und
mithin Grund zur Annahme haben, dass jenem Lebewesen selbst ein inhärenter
Wert zukommt, dann sind wir aufgrund unserer praktischen Vernunft aber auch
verpflichtet, diesen Wert anzuerkennen – ob uns dies nun gefällt oder nicht.
(iv) Ist demnach die aktive Verpflichtungsfähigkeit tatsächlich entscheidend da-
für, dass ein Wesen von einem verpflichteten bzw. zu verpflichtenden Subjekt als
um seiner selbst willen zu berücksichtigendes moralisches Objekt anzusehen ist?
In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass Kants Unterscheidung von Pflichten
gegen Wesen und solchen, die wir bloß in Ansehung von Wesen (tatsächlich aber
gegenüber anderen moralischen Subjekten) haben, weniger eine Differenzierung
erlaubt, als eine solche verschleiert. Kants (: II A ) Rede von Pflichten “ge-
gen den Menschen (sich selbst oder einen anderen)” ist nämlich mehrdeutig: Einer-
seits kann damit gemeint sein, dass wir nur für uns selbst oder andere Personen
verantwortlich im Sinne einer Pflicht (d.h. einer Schuldigkeit ) sind, weil nur Per-
sonen uns gegenüber Rechte geltend machen können, andererseits aber bedeutet
diese Phrase, dass wir nur vor uns selbst oder anderen Personen verantwortlich sind,
weil nur wir selbst oder andere Personen uns zur Rechenschaft ziehen können. Wir
und andere Personen sind laut Kant also nicht nur das Objekt unserer Verantwor-
tung, sondern auch ihre Instanz – ja, wie Kant (: II A ) selbst nahelegt, geht
es ihm sogar primär darum, dass wir durch unser Gewissen Instanz unserer eigenen
Verantwortung sind, denn er schreibt vom Menschen “als dem angebornen Rich-
ter über sich selbst.” Dies ist jedoch eine andere Annahme als die, dass nur Perso-
nen als moralische Objekte, für die wir verantwortlich sind, in Frage kommen.
Kants Annahme, dass moralische Subjekte nur Pflichten “gegen” Wesen haben,
die in der Lage sind, sie zu etwas verpflichten, ist möglicherweise durch folgende
Überlegung angeregt: Wenn nicht eine Verantwortungsinstanz existiert, die ein
moralisches Subjekt zu etwas verpflichtet bzw. dessen Pflichterfüllung kontrolliert
und das Subjekt im negativen Fall zur Rechenschaft zieht, dann ist es zwar viel-
leicht “hehr”, von jemandes moralischer Pflicht zu sprechen, doch besteht – vor-
sichtig formuliert – die Gefahr, dass die theoretischen Annahmen über moralische
OTTO NEUMAIER
Pflichten nur wenig mit dem praktischen Verhalten der Menschen gemein haben.
Diese Überlegung ist zwar nicht ganz von der Hand zu weisen, doch wird ihre
Plausibilität andererseits durch mindestens zwei Einwände eingeschränkt:
(a) Die Frage, ob es gerechtfertigt ist anzunehmen, dass ein moralisches Subjekt
verpflichtet ist, ein moralisches Objekt um seiner selbst willen beim Handeln zu
berücksichtigen, ist völlig anderer Natur als die Frage, ob jenes Subjekt de facto
seiner moralischen Pflicht gemäß handelt. Im ersten Fall geht es um Gründe, die
theoretisch rechtfertigen, jemandem eine moralische Pflicht zuzurechnen, im zwei-
ten jedoch um praktische Gegebenheiten, aufgrund welcher er so oder so handelt.
Nehmen wir z. B. an, ein Vater missbrauche seine Kinder, ohne dass diese eine
Möglichkeit haben, sich dagegen zu wehren bzw. ihn zu verklagen; ist aufgrund
dessen anzunehmen, dass es ethisch nicht gerechtfertigt ist, ihm eine moralische
Pflicht “gegen” seine Kinder zuzurechnen, die er fortwährend verletzt? Die in ethi-
schen Theorien enthaltenen Normen sind in gewissem Sinne rationale Idealisierun-
gen, denen das tatsächliche Verhalten der Menschen selten einmal entspricht. Eine
Norm wie z.B. “Du sollst anderen Wesen nicht mutwillig Leid zufügen” wird aber
nicht theoretisch widerlegt, wenn Menschen sich praktisch nicht daran halten; viel-
mehr beruht die Plausibilität von Normen auf anderen (eben theoretischen) Krite-
rien. Ebenso ist ein physikalisches Gesetz nicht dadurch ungültig, daß es von der
idealen Annahme punktförmiger Körper oder vollkommen glatter Oberflächen
ausgeht, denen keine realen Gegenstände entsprechen; ohne Idealisierungen wäre
vielmehr das Auffinden von Gesetzmäßigkeiten unmöglich.
(b) Selbst wenn die Praxis des moralischen Verpflichtens eine Instanz voraus-
setzt, bedeutet das nicht, dass diese Instanz mit dem zu verpflichtenden morali-
schen Subjekt oder gar mit dem moralischen Objekt identisch sein muss, für das
jenes Subjekt im Sinne einer Pflicht um seiner selbst willen verantwortlich ist. Das
Verfügen über bestimmte psychische Fähigkeiten wie z.B. Selbstbewusstsein ist
zwar eine notwendige Voraussetzung dafür, dass wir jemandem moralische Pflich-
ten zuschreiben, aber damit ist nicht gesagt, dass ein Wesen, das selbst nicht als
Träger von Pflichten in Frage kommt, deshalb nicht als moralisches Objekt in Fra-
ge kommt, das um seiner selbst willen zu berücksichtigen ein moralisches Subjekt
(vor einer – u.U. auch gesellschaftlichen – Instanz) verpflichtet ist. Selbst wenn es
richtig ist, daß nur Vernunftwesen moralische Pflichten haben, ist also – wie etwa
Patzig (: ) bemerkt – nicht ausgemacht, “daß diese Pflichten nur gegenüber
anderen Vernunftwesen (oder sich selbst) bestehen können.”
Kant (: Aff.) betont selbst, dass jene natürliche Entwicklung, durch die der
Mensch zum Vernunftwesen und zum moralischen Subjekt wurde, diesem nicht
nur die “Ehre” bescherte, ihn “über alle Tiere” zu erheben; vielmehr brachte die
Entlassung “aus dem Mutterschoße der Natur” auch “viel Sorgen, Mühe und un-
bekannte Übel” mit sich, darunter auch den Umstand, dass der Mensch “nach ei-
nem mühseligen Leben […] das, was zwar alle Tiere unvermeidlich trifft, ohne sie
ETHISCHER ANTHROPOZENTRISMUS
doch zu bekümmern, nämlich den Tod, mit Furcht” voraussehen kann. In gewis-
sem Sinne können wir aber auch die von Kant so betonte aktive und passive Ver-
pflichtungsfähigkeit als “Nachteil” sehen, den wir der Evolution verdanken: Das
Verhalten von Naturwesen ist ja moralisch neutral; nur ein Wesen, das aufgrund
seiner Freiheit und Vernunft in der Lage ist, zwischen moralisch richtigem und
falschem Handeln zu unterscheiden, ist Gegenstand moralischer Verpflichtung
und mithin ein moralisches Subjekt. Ein solches zu sein, impliziert im Sinne von
Kant (: A ) insbesondere das Verständnis des kategorischen Imperativs und
somit die Fähigkeit, so zu handeln, dass die Maxime des Handelns “jederzeit zu-
gleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzebung gelten” kann.
Zwar hat Moravcsik (: f.) Recht mit der Annahme, dass die Frage,
welche Pflichten wir aufgrund eines Moralprinzips gegenüber anderen Wesen ha-
ben, von der Frage zu unterscheiden ist, welche Wesen zum Kreise jener gehören,
die um ihrer selbst willen beim Handeln und bei dessen moralischer Beurteilung
zu berücksichtigen sind. Wer ein Moralprinzip wie den kategorischen Imperativ
voraussetzt, akzeptiert damit freilich auch die Verpflichtung, alle Wesen gleich zu
behandeln, die in relevanter Hinsicht gleich sind, und mithin auch die Verpflich-
tung, alle Wesen, von denen anzunehmen ist, dass sie in relevanter Hinsicht gleich
betroffen sind, in gleicher Weise als moralische Objekte zu berücksichtigen. Eine
anthropozentrische Ethik enthält nun aber u.a. “die Verpflichtung, menschliches
Leiden zu verhindern, zu lindern oder zu beheben” sowie vor allem “anderen Men-
schen keine Leiden zuzufügen.” Wie Birnbacher (: ) mit Recht kritisiert,
ist indes gerade unter Voraussetzung des kategorischen Imperativs “nicht einzu-
sehen, warum diese Pflichten nur in bezug auf Menschen gelten sollen und nicht
auch in bezug auf empfindungsfähige Tiere. Die neurophysiologischen Strukturen
und auch das Ausdrucksverhalten höherer Tiere lassen keinen Zweifel daran, daß
diese unter physischen Schmerzen ebenso wie unter Angst, Streß und dem Ent-
zug elementarer Bedürfnisbefriedigungen leiden können. Eine Beschränkung der
Pflicht zur Vermeidung bzw. Verhinderung und Linderung von Leiden auf Men-
schen” wäre deshalb unter Kants eigenen Prämissen “schlicht inkonsequent”.
Wenn es für ein moralisches Subjekt möglich ist zu erkennen, dass ein nicht-
menschliches Wesen von einer Handlung auf gleiche Weise betroffen ist wie eine
menschliche Person, und wenn diese Person wegen ihres Betroffenseins um ihrer
selbst willen als moralisches Objekt zu berücksichtigen ist, dann ist demnach auch
jenes nicht-menschliche Wesen um seiner selbst willen zu berücksichtigen. Folglich
haben moralische Subjekte auch insofern Pflichten “gegen” Wesen, die selbst nicht
(aktiv oder passiv) verpflichtungsfähig sind, als diese von einer Handlung auf glei-
che Weise betroffen sind wie ein verpflichtungsfähiges Wesen, dessen Status als mo-
ralisches Objekt außer Zweifel steht. Dies ergibt sich zumindest unter Vorausset-
zung eines moralischen Prinzips wie des kategorischen Imperativs und der damit
zusammenhängenden Verpflichtung, dieses Prinzip konsequent anzuwenden.
OTTO NEUMAIER
Den bisher angestellten Überlegungen zufolge ist sowohl der Begriff als auch der
Inhalt des ethischen Anthropozentrismus problematisch:
(i) Wenn mit dieser Position das gemeint ist, was der Name besagt, so läuft sie
auf einen Speziesismus hinaus, d.h. auf die Annahme, dass als moralische Objekte
nur Angehörige der Spezies Homo sapiens L. als solche in Frage kommen. Wie sich
gezeigt hat, vertreten jedoch gerade Philosophen wie Kant, der als Hauptvertreter
eines ethischen “Anthropozentrismus” gilt, eine andere Position, nämlich einen
Ratiozentrismus, dem zufolge nur (aktiv und passiv) verpflichtungsfähige Personen
aufgrund ihrer Vernunft moralische Objekte (und Subjekte) sein können. Also ist
zweifelhaft, ob überhaupt jemand eine anthropozentrische Ethik vertritt.
(ii) Wer eine auf Prinzipien wie dem kategorischen Imperativ basierende nor-
mative Ethik vertritt, kann einen ethischen Anthropozentrismus oder auch Ratio-
zentrismus nicht konsequent einhalten, da er verpflichtet ist, alle Wesen gleich zu
berücksichtigen, die einander in relevanter Hinsicht gleich sind. Wer der Ansicht
ist, dass es nicht gerechtfertigt ist, einem anderen Menschen wegen dessen Emp-
findungsfähigkeit mutwillig Leid zuzufügen, ist demnach verpflichtet, alle emp-
findungsfähigen Wesen in gleicher Weise als moralische Objekte zu berücksichti-
gen, also auch nicht-menschliche Wesen.
Angesichts dieser Gegebenheiten mag es scheinen, dass wir den ethischen An-
thropozentrimus ruhigen Gewissens seinem zweifelhaften Schicksal überlassen und
uns anderen, attraktiveren Positionen der Natur- und Umweltethik zuwenden kön-
nen. Ehe wir dies tun, sollten wir indes überlegen, ob dieser Schritt nicht voreilig
ist. Es wäre ja denkbar, dass nicht nur Gründe für die Praxis sprechen, Positionen
wie jene von Kant trotz der erörterten Bedenken als ethischen Anthropozentrismus
zu bezeichnen, sondern auch dafür, dass dieser selbst für eine Natur- und Umwelt-
ethik fruchtbar gemacht werden kann, die versucht, die einseitige Perspektive der
traditionellen, am Menschen ausgerichteten Ethik zu überwinden. Für eine solche
Annahme lassen sich u.a. folgende Gründe anführen:
(i) Wie erwähnt, ist Kants Ethik genau genommen nicht anthropozentrisch,
sondern ratiozentrisch: Weder die Klasse der moralischen Subjekte noch die der
moralischen Objekte wird von ihm extensional oder intensional mit der Mensch-
heit gleichgesetzt. Hierin können wir ihm theoretisch folgen, insbesondere mit Be-
zug auf die Bestimmung des Begriffs eines moralischen Subjekts: Damit ein Wesen
dafür in Frage kommt, ist nicht entscheidend, ob es ein Mensch ist, sondern ob es
über die unter dem Begriff der moralischen Zurechnungsfähigkeit zusammengefass-
ten physischen und (vor allem) psychischen Anlagen verfügt, die notwendig sind,
um das zu verstehen und zu tun, was ihm gegebenenfalls als moralische Pflicht
zugerechnet wird; nur wenn diese subjektive Zurechnungsfähigkeit vorliegt, ist es
auch sinnvoll bzw. gerechtfertigt, dem fraglichen Wesen objektive Gegebenheiten
ETHISCHER ANTHROPOZENTRISMUS
pflichtungsfähige) Person, der gegenüber ein moralisches Objekt ein Recht bean-
sprucht, über Handlungsalternativen verfügt, und zwar im objektiven und subjekti-
ven Sinn: Zum einen müssen überhaupt Handlungsalternativen offen stehen, die
jemandem erlauben, einen Sachverhalt kausal zu beeinflussen, zum anderen aber
muss es dieser Person möglich sein, frei, d.h. ohne inneren oder äußeren Zwang,
zwischen diesen Alternativen zu wählen. Wenn dies nicht der Fall ist, mag das In-
teresse eines moralischen Objekts an einem bestimmten Sachverhalt noch so plau-
sibel oder akut sein, ohne dass ihr deshalb ein Recht zurechenbar ist, da die Person,
von der die Wahrung dieses Interesses erwartet wird, den betreffenden Sachverhalt
gar nicht beeinflussen, also den Anspruch prinzipiell nicht erfüllen kann.
Damit einem moralischen Objekt x aufgrund eines Interesses ein Recht (im Sin-
ne des Zurechungsbegriffs) gegenüber einem moralischen Subjekt y zugerechnet
werden kann, ist zudem mindestens zweierlei notwendig, nämlich (i) dass mit gu-
ten Gründen ein Kausalzusammenhang zwischen dem Handeln der Person y und
jenem Sachverhalt p anzunehmen ist, der im Interesse von x ist, und (ii) dass x
durch den (von y verursachten) Sachverhalt p überhaupt betroffen ist. Nehmen wir
an, ich käme nach Hause, fände dort eine Fensterscheibe zerbrochen vor und
glaubte, dass daran ein Nachbarkind schuld sei, das oft vor meinem Haus spielt.
Zwar ist in einem solchen Fall ein Interesse von mir verletzt, doch kommt mir nur
dann ein Recht gegenüber einer anderen Person zu, wenn Grund zur Annahme be-
steht, dass diese den fraglichen Sachverhalt verursacht hat. Tatsächlich könnte sich
herausstellen, dass jenes Kind nichts mit dem Zerbrechen des Fensters zu tun hat
(ja sogar, dass niemand daran schuld ist, etwa wenn das Fenster durch einen Sturm,
der während meiner Abwesenheit wütete, zu Bruch gegangen ist). Stellen wir uns
andererseits vor, ich hätte mir von jemandem ein Buch geliehen, das bei der Rück-
gabe geringste Gebrauchsspuren aufweist, obwohl ich sorgfältig damit umgegangen
bin; dies ist zwar eine Folge meines Handelns, und jene Person hat wahrscheinlich
auch ein Interesse daran, dass ihr Buch sich in gutem Zustand befindet; hat sie
aber auch ein Recht, dass der Gebrauch keinerlei Spuren am Buch hinterlässt, d.h.,
ist sie tatsächlich von jenen Gebrauchsspuren betroffen ?
Mit Bezug auf derlei Bedingungen bedarf es zwar weiterer Klärungen (etwa da-
von, was Betroffensein überhaupt heißt oder wann ein Sachverhalt als kausale
Folge einer Handlung anzusehen ist; vgl. dazu Neumaier ), doch ändert dies
nichts daran, dass sie notwendig sind, damit es gerechtfertigt ist, jemandem ein
Recht zuzurechnen. Andererseits sind die bisher erörterten Bedingungen jedoch
noch nicht hinreichend, damit es gerechtfertigt ist zu sagen, jemand habe aufgrund
eines Interesses ein moralisches Recht. Das Recht, das jemandem zugerechnet wird,
kann ja etwa auch juristischer, politischer oder anderer Natur sein. Der Begriff des
moralischen Rechts ist also vor dem Hintergrund einer Moraltheorie bzw. Ethik
zu verstehen, durch die u.a. bestimmt wird, was es heißt, moralisch richtig oder gut
zu handeln. Mithin setzt der Begriff des moralischen Rechts weitere Bedingungen
OTTO NEUMAIER
voraus, die mit der moralischen Beurteilung von Handlungen zu tun haben. Dabei
wird gewöhnlich zwischen deontologischen und teleologischen Theorien unterschie-
den (wiewohl vermutlich jede Moraltheorie beiderlei Komponenten enthält). Im
Folgenden diskutiere ich das Problem am Beispiel teleologischer Theorien, doch
stellt es sich genauso für deontologische Theorien (wobei anzunehmen ist, dass wir
bei diesen trotz etwas anderer Argumentation zum gleichen Ergebnis kämen).
Bei der Beurteilung des moralischen Status einer Handlung sind (teleologisch
gesehen) einerseits alle Interessen (bzw. deren Träger) zu berücksichtigen, die davon
betroffen sind (und zum Teil in Konflikt miteneinander stehen), andererseits aber
auch die jeweiligen Konsequenzen der verschiedenen Handlungsalternativen, die in
der betreffenden Situation verfügbar sind. Aufgrund dessen kommen beim Begriff
des moralischen Rechts weitere Bedingungen ins Spiel, die mit den Prinzipien zu
tun haben, anhand welcher eine Handlung moralisch beurteilt wird. So ist laut
Frankena (: ) eine Handlung teleologisch gesehen “dann und nur dann rich-
tig, wenn sie bzw. die Regel, unter die sie fällt, ein mindestens ebenso großes Über-
gewicht von guten gegenüber schlechten Folgen hervorbringt […] wie jede andere
(offenstehende) Handlungsalternative.” Von einem moralischen Recht kann unter
Voraussetzung eines solchen Prinzips also nur insofern gesprochen werden, als da-
bei die verfügbaren Handlungsalternativen, ihre jeweiligen Konsequenzen und alle
davon betroffenen Interessen angemessen gegeneinander abgewogen werden.
Um zu bestimmen, wie diese verschiedenen Faktoren gegeneinander abzuwägen
sind, wird in der Ethik eine Reihe von Prinzipien diskutiert (wonach etwa Gleiches
gleich zu behandeln ist, grundlegende Interessen höher zu gewichten sind als ne-
bensächliche, Interessen einer größeren Zahl von Betroffenen Vorrang vor ver-
gleichbaren Interessen einer Minderheit haben, usw.). Zwar sind diese Prinzipien
noch “entwicklungswürdig”, doch wird die Brauchbarkeit der von Frankena er-
wähnten Maxime dadurch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Wenn wir im
Sinne einer normativen Ethik eine derartige Maxime voraussetzen, ergeben sich
jedoch u.a. folgende Konsequenzen:
(a) Der erwähnten Maxime gemäß besteht genau genommen nur ein einziges
moralisches Recht, nämlich das Recht auf moralisch richtiges Handeln, d.h. darauf,
dass von den in einer Situation verfügbaren Handlungsalternativen eine gewählt
wird, deren Konsequenzen für die davon betroffenen Wesen (einschließlich der
handelnden Person) insgesamt zumindest nicht schlechter sind als die der anderen
Alternativen. Dies impliziert zwar auch das Recht aller moralischen Objekte, dass
ihre Interessen von einem moralischen Subjekt beim Handeln jeweils angemessen
berücksichtigt werden, doch schließt es nicht aus, dass ein moralisches Objekt
(darunter auch die handelnde Person) benachteiligt wird. So paradox es klingt zu
sagen, jemand habe ein “Recht”, aus moralischen Gründen benachteiligt zu wer-
den, bleibt uns der erwähnten Maxime gemäß doch keine andere Wahl, da jede an-
dere Alternative mehr Interessen verletzen würde – was moralisch falsch wäre.
ETHISCHER ANTHROPOZENTRISMUS
(b) Umgekehrt hat ein moralisches Subjekt genau genommen auch nur eine
einzige moralische Pflicht, nämlich die Pflicht, moralisch richtig zu handeln, wobei
diese Pflicht einschließt, dass das moralische Subjekt beim Handeln die Interessen
der betroffenen moralischen Objekte (einschließlich seiner eigenen) angemessen
berücksichtigt. Zudem hat ein moralisches Subjekt in gewissem Sinne auch ein
Recht darauf, dass es moralisch richtig handelt, d.h. andere moralische Subjekte
haben die Pflicht, es nicht am moralisch richtigen Handeln zu hindern.
Dieser Umstand spricht allem Anschein nach gegen den ethischen Ratio- bzw.
Anthropozentrismus: Wenn die eben angestellten Überlegungen hinreichend plau-
sibel sind, dann ist es nicht gerechtfertigt, nur und alle Menschen bzw. Vernunft-
wesen als moralische Objekte anzusehen, denen das Recht zukommt, dass ein mo-
ralisches Subjekt bei der Wahl einer Handlungsalternative ihre Interessen angemes-
sen berücksichtigt und davon ausgehend moralisch richtig handelt. Vielmehr ha-
ben alle von einer Handlung Betroffenen dieses Recht, unabhängig davon, ob sie
vernünftig oder Menschen sind. Wenn dem so ist, so spricht derselbe Umstand je-
doch auch dagegen, dass wir uns ausschließlich auf einen Pathozentrismus, Bio-
zentrismus oder eine andere Position festlegen, welche die Interessen von betroffe-
nen Wesen um ihrer selbst willen auf die eine oder andere Weise ins Spiel bringt.
Vielmehr kommt es darauf an, die in relevanter Hinsicht gleichen Interessen auf
gleiche Weise zu berücksichtigen: Geht es ausschließlich um Lebensfunktionen, so
sind alle Lebewesen als moralische Objekte zu berücksichtigen, mit Bezug auf ver-
schiedene Empfindungen aber all jene psychophysischen Wesen, die über die ent-
sprechenden Empfindungsfähigkeiten verfügen, bei Sachverhalten, die mit kogni-
tiven Anlagen zu tun haben, jedoch alle Vernunftwesen bzw. Personen.
Demnach stellen uns Bio-, Patho- oder Ratiozentrismus vor keine echten Alter-
nativen; vielmehr sind die von diesen Positionen jeweils um ihrer selbst willen ins
Spiel gebrachten moralischen Objekte alle (wenn auch auf unterschiedliche Weise)
relevant. In diesem Zusammenhang ist mindestens zweierlei zu beachten:
(a) Wenn die Annahme eines moralischen Rechts etwas mit der Rücksicht auf
die vom Handeln eines moralischen Subjekts betroffenen Interessen moralischer
Objekte zu tun hat, dann kommen auch nur solche Wesen als moralische Objekte
in Betracht, denen sinnvollerweise Interessen zugerechnet werden können. Der
Kreis der moralischen Objekte bleibt also begrenzt, und zwar selbst dann, wenn
wir den Begriff des Interesses so weit fassen, dass es für dessen Träger etwas aus-
macht, ob ein Sachverhalt besteht oder nicht. Wie ich in Neumaier (: ff.)
zu zeigen versucht habe, kommt in diesem weiten Sinne etwa auch eine Pflanze
in Frage, als moralisches Objekt berücksichtigt zu werden, da es für diese einen
Unterschied bedeutet, ob etwa die Sonne scheint oder nicht, ob sie Wasser und
Nährstoffe erhält oder nicht usw. Andererseits ist selbst bei dieser weiten Inter-
pretation eine ganze Spezies, ein Biotop oder eine Landschaft kein moralisches
Objekt, das um seiner selbst willen beim Handeln zu berücksichtigen ist, da derlei
OTTO NEUMAIER
Entitäten als solche keine Interessen haben; das schließt freilich nicht aus, dass wir
“in Ansehung” ihrer moralisch zu bestimmten Handlungen verpflichtet sind, d.h.
deshalb, weil wir diese Pflicht “gegen” moralische Objekte haben, in deren Interes-
se ein bestimmter Zustand eines Biotops, einer Spezies usw. ist.
(b) Im Sinne des Gesagten kommen prinzipiell alle Lebewesen als moralische
Objekte in Betracht, die durch unser Handeln betroffen sein können und deshalb
um ihrer selbst willen zu berücksichtigen sind. Das bedeutet freilich nicht, dass alle
diese Wesen auf gleiche Weise betroffen und dementsprechend genau gleich zu be-
rücksichtigen sind; vielmehr sind z.B. höhere Tiere wohl von anderen (bzw. mehr)
Sachverhalten betroffen als Pflanzen, und Ähnliches gilt für das Verhältnis zwi-
schen Personen und (anderen) psychophysischen Wesen. Die Frage, das Bestehen
welcher Sachverhalte für ein Lebewesen einen Unterschied macht, ist dabei empi-
rischer Natur (und deshalb nicht unser Thema). Nicht bzw. nicht nur empirisch ist
hingegen die Frage, ob ein bestimmtes Wesen als betroffenes Wesen zu berücksich-
tigen ist, wenn einem moralischen Subjekt für eine Handlung moralische Verant-
wortung zugerechnet wird. Wie sich gezeigt hat, haben wir Grund zur Annahme,
dass sogar nicht-tierische Lebewesen von unseren Handlungen betroffen sein kön-
nen, denn auch für sie bedeutet es in vielen Fällen einen Unterschied, ob jemand
eine Handlung durchführt oder nicht. Zwar bestehen viele Möglichkeiten, wie
Lebewesen jeweils von unserem Handeln betroffen sind, doch ändert dies nichts
daran, dass sie alle als Betroffene in Frage kommen.
Dass es möglich ist, den Kreis der moralischen Objekte abhängig von den rele-
vanten Merkmalen verschieden weit zu ziehen, zeigt etwa Singer (), der in vie-
ler Hinsicht pathozentrisch argumentiert, aber insofern einen Ratiozentrismus ver-
tritt, als er nur Personen ein Recht auf Leben zuspricht, da nur diese kontinuierlich
sich ihrer selbst bewusst sein und dadurch den Wunsch haben können, auch in
Zukunft zu existieren. So gesehen erscheint es sinnvoll, in der Ethik ratio- bzw.
anthropozentrische Elemente beizubehalten, soweit diese für die Begründung von
Pflichten fruchtbar gemacht werden können. Wenn eine Pflicht gegenüber anderen
Wesen als bloß Personen bzw. Menschen begründet werden kann, so ist nichts da-
gegen einzuwenden; wenn in einem konkreten Fall nur Personen bzw. Menschen
als moralische Objekte angeführt werden können, die ein moralisches Subjekt um
ihrer selbst willen zu berücksichtigen hat, so ist dies aber immer noch besser, als
wenn keine Möglichkeit besteht, eine moralische Pflicht zu begründen. Zudem lie-
fern selbst die Kritiker des ethischen Anthropozentrismus Gründe dafür, ihm im
Rahmen einer “neuen Ethik” eine zumindest begrenzte Rolle zuzugestehen:
(i) Nicht nur Spaemann (: ) begründet die Notwendigkeit der Abkehr
von einer anthropozentrischen Ethik damit, dass der Mensch, “wenn er die Natur
zerstört, seine eigene Existenzgrundlage” zerstört, also mit einem anthropozentri-
schen Argument. Dies gilt nicht zuletzt auch für Jonas (: , , ), der zwar
die gesamte Biosphäre als mögliches moralisches Objekt ins Spiel bringt, seine
ETHISCHER ANTHROPOZENTRISMUS
“neue Ethik” zugleich aber auf dem anthropozentrischen Imperativ aufbaut, die
Zukunft des menschlichen Lebens auf der Erde nicht zu gefährden.
(ii) Meyer-Abich (; ) tritt zwar für eine “holistische” Ethik ein, der ge-
mäß der gesamten natürlichen Mitwelt des Menschen ein “Eigenwert” zukommt,
doch wäre, wie er betont, schon viel erreicht, wenn wir zumindest so weit kämen,
alle Menschen als Objekte unserer moralischen Verantwortung zu berücksichtigen,
statt einem Individual- oder Gruppenegoismus zu huldigen…
. Schluss
LITERATUR
Altner, G. (): Die Überlebenskrise der Gegenwart. Ansätze zum Dialog mit der
Natur in Naturwissenschaft und Theologie. Darmstadt.
Andreas-Grisebach, M. (): Eine Ethik für die Natur. Zürich.
Attfield, R. (): The Comprehensive Ecology Movement. In: Morscher, E./
Neumaier, O./Simons, P., Hg. (1998): Applied Ethics in a Troubled World. Dord-
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ALLER WERTE MASS IST DER MENSCH:
KRITIK DES ETHISCHEN RELATIVISMUS
Gerhard Zecha
So reizvoll es ist und so kenntnisreich der Experte sein muss, um, den eigentli-
chen und tiefsten Sinn des berühmten Satzes von Protagoras, “Der Mensch ist das
Maß aller Dinge” – oder, in der nunmehr von Dalfen vorgeschlagenen korrigierten
Fassung “Aller Dinge Maß ist Mensch” (von nun an Homo-mensura-Satz) – zu
ergründen, bevorzuge ich hier die Frage, was wir mit diesem Satz in unserer Zeit,
entsprechend unserem Lebensverständnis am Beginn des . Jahrhunderts, anfan-
gen können. Ich habe bereits an anderer Stelle angedeutet, dass dieser Satz, rein sys-
tematisch betrachtet, vielfältig interpretiert werden kann. Aber selbst wenn wir
Dutzende solcher Auslegungen konstruieren und analysieren, würden wir doch
mit einigem Vorbehalt dem Satz weiterhin gegenüberstehen, weil wir über die
Denkweise, Sprachgepflogenheiten und Lebensformen des alten Griechenland
letztlich nicht genug wissen. Daher will ich in diesem Beitrag untersuchen, wie
weit der Satz des altgriechischen Denkers und renommiertesten Sophisten Protago-
ras einen pointierten ethischen Relativismus normativer Art ausdrückt und wie ein
solcher Relativismus heute aus ethischer Sicht eingeschätzt werden muss.
Ich werde in einem kurzen ersten Abschnitt relativismusträchtige Deutungen
des Homo-mensura-Satzes vorstellen und in einem zweiten Abschnitt die gängigen
Arten des ethischen Relativismus skizzieren. Im dritten Abschnitt, dem Hauptteil
dieser Untersuchung, will ich Fragen und Argumente diskutieren, die den Thesen
des ethischen Relativismus kritisch gegenüber gestellt werden können. Eine kurze
Zusammenfassung soll die Untersuchung beschließen.
Oft wurde Protagoras “Vater der Relativismus” genannt. Von ihm stammt der
Homo-mensura-Satz, aus dem man – wie systematische Interpretationsversuche
zeigen – fast ‘alles’ herauslesen kann, z. B. in ethischer Hinsicht sowohl einen ex-
tremen Wert-Subjektivismus als auch einen objektiven Wert-Realismus. Ich will
GERHARD ZECHA
mich im Folgenden daher nur auf jene Formulierungen konzentrieren, die einen
ethischen Relativismus ausdrücken:
Das ist ein deskriptiver Satz, eine Tatsachenfeststellung, für die sehr viele bestäti-
gende Beispiele angeführt werden können. Dabei bleibt allerdings offen, ob sich
jedes menschliche Individuum bei seinen moralischen Entschlüssen jeweils eines
sittlichen Kriteriums besinnt und entsprechend handelt oder ob es eher ‘gefühls-
mäßig’ handelt und durch sein Handeln den von ihm gewählten Wertmaßstab
offenbart. Offen bleibt außerdem, was hier unter “sittliche Werte” zu verstehen
ist. Ich werde weiter unten darauf zurückkommen.
Bei diesen beiden Formulierungen haben wir es jeweils mit einem normativen Satz
zu tun, der keine Tatsachen beschreibt, sondern für jedes menschliche Individuum
eine Forderung ausdrückt: es soll so wollen, entscheiden und handeln, dass es da-
für seinen eigenen Wertmaßstab befolgt. () und () sind Ausdrücke eines ethisch-
normativen Relativismus, der in dieser individualistischen oder subjektivistischen
Form besondere Probleme aufwirft.
() “Die Gesellschaft oder Kultur ist das Kriterium der sittlichen Werte.”
oder
() “Aller sittlichen Werte Maßstab ist die Gesellschaft oder Kultur.”
. Die Analyse und Beschreibung der folgenden Sätze habe ich in Zecha (), S. ff., dar-
gestellt, genauer erläutert aber auf Seite ff.
. Das geht auch seit Jahren klar aus den empirischen Studien der soziologischen Wertwandel-
forschung hervor: in seiner Wertwahl neigt der moderne Mensch zu einem ausgeprägten
Individualismus; vgl. Hillmann (); Klages (); Inglehart ().
. Diese Auffassung wird häufig von Kultursoziologen und Ethnologen vertreten, z.B. von
Ruth Benedict ().
ALLER WERTE MASS IST DER MENSCH
() “Die Gesellschaft oder Kultur soll das Kriterium der sittlichen Werte sein.”
oder
() “Aller sittlichen Werte Maßstab soll die Gesellschaft oder die Kultur sein.”
Diese beiden Sätze sind Ausdruck eines ethisch-normativen Relativismus, auf den
ich im nächsten Abschnitt zu sprechen komme. Dass damit spezielle Probleme
der Begründung von moralischen Prinzipien oder Normen verbunden sind, werde
ich im dritten Abschnitt diskutieren.
Schließlich kann der “Maßstabsbereich” noch auf die ganze Menschheit, auf
alle Individuen und alle Gesellschaften ausgedehnt werden, und zwar nicht nur
auf die im Augenblick des Diskutierens lebenden, sondern an alle, die es je gege-
ben hat und auch geben wird. Dann bekommen wir:
() “Die Menschheit (die Spezies Mensch) ist das Kriterium der sittlichen Werte.”
oder
() “Aller sittlichen Werte Maßstab ist die Menschheit (die Spezies Mensch).”
Hier handelt es sich wiederum um deskriptive Sätze, die über alle Werte und alle
Menschen eine Aussage machen. Es wird schwierig sein, den Wahrheitsgehalt die-
ser beiden Aussagen zu prüfen, da nicht klar ist, was unter “alle Werte” und was
unter “alle Menschen” (= die Menschheit) fällt. Der Systematik halber sollen auch
noch die normativen Formulierungen angeführt sein:
() “Die Menschheit soll das Kriterium der sittlichen Werte sein.”
oder
() “Aller sittlichen Werte Maßstab soll die Menschheit sein.”
. Brandt (), S. ff.; ähnliche Klassifikationen finden sich bei Rippe (), S. ff., so-
wie bei Salehi (), S.ff.
GERHARD ZECHA
und dabei die angeführten Homo-mensura-Deutungen von () bis () diesen drei
Arten so weit wie möglich zuordnen.
Der deskriptive Relativismus vertritt die empirische These, dass moralische Werte
und sittliche Normen von Mensch zu Mensch, auch von Kultur zu Kultur und von
Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden sind. Daraus, dass die verschiedenen Völ-
ker und Gesellschaften ganz unterschiedliche ethische Traditionen und Prinzipien
pflegen, sowohl zur gleichen Zeit als auch in verschiedenen historischen Zeitab-
schnitten, wird geschlossen, “moralisch korrekt” oder “sittlich falsch” sei einfach
das, was in einer bestimmten Gesellschaft (Kultur, in einem Volk, Stamm oder in
einer Nation) normalerweise als moralisch korrekt bzw. als sittlich falsch einge-
stuft wird. Eine darüber hinausreichende Moral in Form von interkulturell oder
intersubjektiv gültigen Werten und Direktiven lasse sich wegen der angegebenen
Unterschiede nicht feststellen, könne es offenbar auch nicht geben.
Unter diesen deskriptiven Relativismus fallen die oben angeführten Thesen ()
und (), () und () sowie () und (). Ihr gemeinsamer Nenner lässt sich wie
folgt zusammenfassen:
Menschen und Gesellschaften unterscheiden sich von einander mehr oder weni-
ger stark in ihrer Lebensweise. Weil jeder dieser Lebensweisen bestimmte Normen
und Werte zugrunde liegen, gibt es unterschiedliche moralische Werte und Nor-
men. Da nach Auffassung von Kultursoziologen bisher keine universell akzeptier-
te Norm festgestellt werden konnte, gelten als “moralisch korrekt” bzw. als “nor-
mal” jene Verhaltensweisen bzw. jene Prinzipien und Werte, die von einer Mehr-
heit einer bestimmten Gemeinschaft als gültig akzeptiert werden. Als “moralisch
korrekt” oder “ethisch gut” gelten Handlungen bzw. die ihnen zugrunde liegen-
den Werte und Normen relativ zur Mehrheit einer sozialen Gruppe oder Gemein-
schaft. Dieser Geltungsanspruch kann empirisch erfasst und bestimmt werden.
Er unterliegt freilich auch einem Wechsel, weil sich auch die mehrheitlich ver-
tretenen Ansichten in einer Gesellschaft im Lauf der Zeit ändern können und
auch tatsächlich ändern. Diese Änderungsfähigkeit unterstreicht die Relativität
der sittlichen (moralischen, ethischen) Werte und Normen.
. Benedict (), S. : “We do not any longer make the mistake of deriving the morality
of our locality and decade directly from the inevitable constitution of human nature. We do
not elevate it to the dignity of a first principle. We recognize that morality differs in every
society, and it is a convenient term for socially approved habits.”
. Wenn innerhalb ein und derselben Gesellschaft mehrere verschiedene Kulturen zusammen
leben, so hat das noch keinen ethischen Relativismus zur Folge: der Begriff “Multikultu-
ralismus” impliziert noch keinen ethischen Relativismus: Zecha ().
ALLER WERTE MASS IST DER MENSCH
Der normative Relativismus fordert, dass moralische Werte und sittliche Normen
von Mensch zu Mensch, auch von Kultur zu Kultur und von Gesellschaft zu
Gesellschaft verschieden sein sollen. Begründet wird diese Ansicht sehr oft mit dem
Hinweis auf die eine oder andere Form des deskriptiven Relativismus: Weil es eine
Moral in Form von interkulturell oder intersubjektiv akzeptierten Werten und Di-
rektiven de facto nicht gibt, kann es auch keine universell gültige Moral geben.
Daraus folgt, “dass einige einander widersprechende Moralprinzipien, die von ver-
schiedenen Menschen vertreten werden, gleichermaßen gültig sind”. Mit anderen
Worten: Wenn irgendeine Person P etwas (ein x) schätzt oder anstrebt, so heißt
das: “x ist ein Wert für P ” (und umgekehrt). Daher ist es z.B. möglich, ohne Wi-
derspruch zu behaupten, “Musizieren ist ein Wert für P” und “Musizieren ist
nicht ein Wert für P”. “Musizieren ist ein Wert” (ohne “für P ”) ergibt für den
Relativisten keinen Sinn.
Unter diesen normativen Relativismus fallen die oben angeführten Thesen ()
und (), () und () sowie () und (). Ihr gemeinsamer Nenner läßt sich wie
folgt zusammenfassen: Sittliche Werte und Normen sollen nur so weit und so lan-
ge als gültig akzeptiert werden, so weit und so lange sie von Menschen anerkannt
werden. Als moralisch korrekt oder ethisch gut sollen Handlungen bzw. die
ihnen zugrunde liegenden Werte und Normen relativ zur Mehrheit einer sozialen
Gruppe oder Gemeinschaft gelten.
. Brandt (), S. . Diese Formulierung der These des normativen ethischen Relativismus
ist keineswegs unumstritten. Zahlreiche Autoren finden bereits in der bloßen These einen
Selbstwiderspruch, angefangen von Platon (Theaitetos a) bis zu Salehi (), S. ff.,
während White () zu zeigen versucht, dass die These des Relativismus mit relativisti-
schen Begriffen nicht widerlegt werden kann.
. Rössner (), S., drückt diesen Standpunkt pointiert in einem Lehrbuch der Pädagogik
folgendermaßen aus: “Es gibt keinen Wert, keine Norm, kein Ziel oder Zweck mit ‘objek-
tiver’ Geltung; es gibt keine Norm …, die nicht ablehnbar ist und die nicht auch faktisch
schon abgelehnt wurde. Es gibt kein Verhalten und kein soziales Handeln (z.B. Erziehen),
das objektiv bzw. notwendig gut oder schlecht ist. Es gibt keine Norm, die nicht abgeschafft
werden kann, und keinen notwendigen Gang der Geschichte, der die ‘objektiven’ Bedürf-
nisse erfüllt, den ‘objektiven’ Interessen der Menschheit folgt. Werte und Normen, Ethiken
und Moralen, Erziehungsmittel und -zwecke (-ziele) sind subjektive, und sie sind nur inso-
fern allgemeingültige, als sie von einer Allgemeinheit von Subjekten akzeptiert oder eine
solchen Allgemeinheit oktroyiert werden. Daraus folgt: Wer einen Wert oder eine Norm
akzeptiert, wer bestimmte Erziehungsziele anstrebt und wer eine bestimmte Lebensform
(Gesellschaftsform) durchsetzen will, hat nicht recht in dem Sinne, daß seine (moralische)
Haltung und seine (moralischen) Ziele richtig seien – im Gegensatz zu falschen. Er hat ge-
nau so recht wie alle anderen Menschen, die andere bzw. gegebenenfalls gegensätzliche Nor-
men vertreten und Ziele anstreben, eine andere Ordnung verwirklichen wollen.”
GERHARD ZECHA
Der metaethische Relativismus ist eine Theorie über die Bedeutung von ethischen
Ausdrücken wie ‘gut’, ‘schlecht’, ‘wertvoll’ oder ‘wertlos’. Die relativistischen Be-
deutungstheorien gehen Hand in Hand mit den deskriptiven und auch norma-
tiven relativistischen Theorien. Ein metaethischer Relativismus liegt z.B. vor, wenn
jemand den Ausdruck ‘die Handlung h ist moralisch gut’ versteht als ‘die Hand-
lung h wird von mir (=der handelnden Person) geschätzt’ oder als ‘die Handlung
h wird von meinen Freunden und Verwandten akzeptiert’. Da wohl die meisten
Wertprädikate und Normausdrücke relativ zu einem Standard oder relativ zu
Bezugspersonen zu verstehen sind, ist jeder Wertausdruck in diesem weiten Sinn
relativistisch zu verstehen.
Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, wurde im antiken Griechenland vor dem
Auftreten der Philosophen, insbesondere der Sophisten einschließlich des Protago-
ras, über den Mythos die Auffassung vertreten, dass die sittliche Ordnung von den
Göttern geschaffen worden sei und genau so unabänderlich und unvermeidlich
sei wie die physische Ordnung des Kosmos. Wir Menschen könnten mit unse-
ren Fähigkeiten diese moralische Ordnung erkennen und in ethischen Standards
formulieren. Da alle Menschen nach Leben und Lebensverwirklichung strebten
und die Realisierung der vorgegebenen Ordnung mit der entsprechenden Erkennt-
nis und dem nötigen Willensentschluss dieser Erkenntnis gemäß zu handeln ver-
suchten, seien die moralischen Werte als Mittel zur Erreichung des Lebenszieles, ein
gelungenes oder geglücktes Leben zu führen, verstanden worden. Einsicht in die
moralische Wertordnung war also lebenswichtig wie auch der Wille und die Fähig-
keit bzw. Möglichkeit, der Einsicht entsprechend zu handeln.
Platon sieht im Dialog Theaitetos die Aufgabe des Philosophen bzw. des Wissen-
schaftlers darin, sich auf die gottgegebene Ordnung zu besinnen und sie zu reali-
sieren: “Der Weg dazu ist die Verähnlichung mit Gott so weit als möglich, und die-
se Verähnlichung besteht darin, dass man gerecht und fromm sei mit Einsicht.“
. Ein Beispiel dafür ist das Verständnis von Wertausdrücken bei Ruth Benedict (), S.:
“The concept of the normal is properly a variant of the concept of the good. It is that
which society has approved.” Das bedeutet: ‘Die Handlung h ist gut’ wird verstanden als
‘Die Handlung h wird von der Gesellschaft geschätzt.”
. Zecha (), S. ff.
. Aristoteles (Nikomach.Ethik a).
. Platon (Theaitetos b).
ALLER WERTE MASS IST DER MENSCH
Die Ethik als philosophische Disziplin hat es mit dem menschlichen Leben zu tun.
Es ist sozusagen der Richtwert für alle werttheoretischen Überlegungen, und das
nicht nur in der philosophischen Literatur, sondern auch auf Grund der mensch-
lichen Erfahrung, dass alle Menschen nach Glück und Wohlfahrt streben. Was im-
mer dem Menschen hilft, sein echtes (= in der Naturordnung angedeutetes) oder
vermeintliches (= sich selbst gesetztes) Wohlbefinden oder Glück zu erreichen,
kann als “moralisch gut” oder als “moralischer Wert” bezeichnet werden. Daher
wird zum Wert in diesem Sinne alles, was der Mensch durch sein Handeln zum
Schutz, zur Verbesserung und zur Stärkung des Lebens unternimmt. Albert
Schweitzer betont, dass wahre Philosophie von der unmittelbarsten und umfas-
sendsten Tatsache des Bewusstseins ausgehen müsse: “Ich bin Leben, das leben will,
inmitten von Leben, das leben will.” Ethik bestehe also darin, dass ich die Nöti-
gung erlebe, “allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben
entgegenzubringen wie dem eigenen. Er erlebt das andere Leben in dem seinen.
Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen
höchsten Wert bringen; als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickel-
bares Leben niederhalten. Dies ist das denknotwendige, absolute Grundprinzip
des Sittlichen.”
Da kein Mensch alleine leben kann, sondern dazu andere Menschen, im Nor-
malfall eine Gemeinschaft (Partnerschaft, Familie, Gesellschaft), braucht, ist die
Gemeinschaft für den einzelnen ebenso wichtig wie der individuelle Mensch für
die Gemeinschaft: das eine kann ohne das andere nicht existieren.
Dazu ist noch eine zweifache Relativität der moralischen Werte zu berücksichtigen.
Da jeder sittliche Wert durch das Handeln eines konkreten Menschen geschaffen
werden muss, ist jeder Wert von einem handelnden Subjekt abhängig: das bezeich-
ne ich als subjektbezogene Relativität der Werte. Aber nicht alles, was der einzelne
Mensch tut oder schafft, trägt zum Schutz, zum Erhalt oder zur Verbesserung des
menschlichen Lebens bei. Dazu taugen nur ganz bestimmte Handlungen, die le-
bensschützende und lebensverbessernde Wirkungen haben. Bezüglich dieser Werte
spreche ich von einer objekt- oder naturbezogenen Relativität, denn die Wirkweise
dieser Werte ist durch die Natur vorgegeben. So braucht jeder Mensch zum Über-
leben neben der Erfüllung physischer Bedürfnisse auch Information, Wahrheit,
Wissen, liebende Zuneigung, soziale Bindung usw.
In Lichte dieser zweifachen Perspektive sind also alle sittlichen Werte relativ, aber
nicht alle sind Bausteine oder Elemente des Lebens. Rechtliche und moralische Ge-
setze können die sittlichen Tatsachen berücksichtigen, dadurch lebensfördernd und
lebenserhaltend sein, auch wenn sie durch Konventionen zustande gekommen
sind. Sie können aber auch lebensfeindlich sein. In diesem letzteren Fall sind sie
freilich nicht Anleitungen zu echter Wertverwirklichung, sondern nur zur einer
vermeintlichen. Man kann sie in Kraft setzen, verändern oder auch wieder ab-
schaffen. Aber keiner dieser Prozesse garantiert ihre Übereinstimmung mit der
natürlichen Werteordnung, die ethisch universell gültig ist. Mord, Raub, Betrug,
Diebstahl und Lüge sind in dieser Ordnung nicht vorgesehen, daher moralisch
falsch, während deren Vermeidung moralisch geboten ist, unabhängig davon, ob
die von Menschen gesetzten Rechts- und Moralnormen dies verlangen oder nicht.
Daher werde ich in der folgenden Diskussion mehrfach auf diese natürliche Wert-
ordnung der Moral (bzw. Natzurrechtsethik) Bezug nehmen und argumentieren,
. Schweitzer (), S.. Vgl. in diesem Sinne auch Zecha (), S.ff.; des Weiteren Mess-
ner () und Bunge ().
ALLER WERTE MASS IST DER MENSCH
Der Kulturrelativist argumentiert, wie weiter oben erläutert: Weil sich die Men-
schen in ihren individuellen wie auch gesellschaftlichen Lebensweisen stark unter-
scheiden, diese auch oft ändern, gibt es keine universell akzeptierten moralischen
Prinzipien. Eine universell gültige Moralordnung müsste sittliche Prinzipien ent-
halten, die von allen Menschen, unabhängig von Zeit, Ort und sonstigen Lebens-
bedingungen, als notwendig für den Erhalt und für die Förderung des Lebens,
entweder individuell oder gesellschaftlich, anerkannt oder erfahren werden kön-
nen. Der Behauptung “Es gibt keine universell gültigen Moralprinzipien” kann die
empirische Aussage entgegen gestellt werden: “Es gibt sowohl formale wie auch
inhaltlich bestimmte Moralprinzipien, die individuell oder gesellschaftlich dem
Lebenserhalt und Lebensschutz förderlich sind”.
Formale Prinzipien der Ethik von universeller Gültigkeit sind z.B. “Wenn eine
Handlung geboten ist, dann ist sie auch erlaubt”, ferner “Wenn eine Handlung er-
laubt ist, dann ist ihre Unterlassung nicht verboten”, sodann “Das Gute ist zu tun,
das Böse ist zu unterlassen” und “Verträge sind einzuhalten”. Diese Regeln sind
formaler Natur, weil sie auf keinen konkreten Wertstandard Bezug nehmen und
somit wertinvariant sind. Unabhängig davon, was ein Mensch oder eine Gesell-
schaft als moralisch gut oder moralisch schlecht bezeichnet, müssen diese Regeln
gelten. Ihre Geltung ist begrifflicher Art und ihre Anerkennung ist eine notwen-
dige Voraussetzung für jeden ethisch-rationalen Diskurs.
Inhaltliche Prinzipien der Ethik von universeller Gültigkeit sind auf bestimmte
Wertstandards bezogen. Daher muss sich empirisch feststellen lassen, ob es solche
Prinzipien unabhängig von Zeit, Ort und konkreten Lebensbedingungen in der
Geschichte der Menschheit und vor allem in den unterschiedlichen menschli-
chen Kulturen gegeben hat und noch immer gibt. Wie kann man sich eine solche
Überprüfung vorstellen? Im Einzelnen ist das die Aufgabe von Anthropologen,
Kultursoziologen und Ethnologen. Viele Studien sind zu dieser Thematik erschie-
nen, so dass ich hier einfach die Zusammenfassung einiger dieser Befunde von
Finnis wörtlich übernehme:
Der normative Relativist verlangt mit seiner These, dass moralische Werte und sitt-
liche Normen von Mensch zu Mensch, auch von Kultur zu Kultur und von Ge-
. Finnis (), S. –. Die Übersetzung und die Hervorhebungen stammen von Gerhard
Zecha.
ALLER WERTE MASS IST DER MENSCH
sellschaft zu Gesellschaft verschieden sein sollen, weil () es seiner Meinung nach
keine universell gültigen Werte und Moralnormen gibt und weil () solche Nor-
men – wie die menschliche Geschichte deutlich zeigt – von den Machthabern ge-
schaffen, geändert oder verworfen werden können. Dagegen sind jedoch folgen-
de Einwände vorzubringen:
(i) Vom Sein zum Sollen. Wir haben es, argumentativ vereinfacht, beim norma-
tiven Relativismus mit folgender Argumentation zu tun:
Häufig wird also der normative Relativismus mit der These des deskriptiven Re-
lativismus begründet. Da die Prämisse () aber eine Tatsachenfeststellung ist, die
Konklusion hingegen einen präskriptiven Satz ausdrückt, liegt hier ein Sein-Sollen-
Fehlschluss vor. Aus rein deskriptiven Sätzen kann logisch korrekter Weise kein
normativer Satz folgen. Daher ist das Begründungsargument des ethischen Relati-
visten ungültig. Wenn allerdings eine Zusatzprämisse akzeptiert wird, scheint das
Argument logisch korrekt zu sein:
. Popper (/I) argumentiert in diesem Sinne, da er in seinem Werk Die offene Gesellschaft
und ihre Feinde auf die Doppeldeutigkeit des Wortes ‘Gesetz’ aufmerksam macht. (S.)
Dieses Wort bezeichnet einerseits die vom Menschen unabänderlichen Naturgesetze, ander-
seits aber auch moralische und rechtliche Gesetze, die aber, seiner Meinung nach, mit den
Naturgesetzen überhaupt nichts zu tun hätten, mit ihnen auch nicht verwechselt werden
dürften, weil die rechtlichen Gesetze nicht unveränderlich seien, beruhten sie doch bloß auf
menschlichen Konventionen, die nach Belieben geändert, aufgehoben oder wiederum neu
eingeführt werden können. Er nennt diese Sichtweise “kritischen Dualismus” (S.), über-
sieht dabei aber, dass es eine sittliche Ordnung im Dasein des Menschen gibt, worauf die von
mir oben beschriebene objektbezogene Relativität der moralischen Werte ganz klar hinweist.
. So argumentiert etwa Lutz Rössner (s. Anmerkung oben): Weil Normen ablehnbar sind
und auch abgelehnt werden, kann es keine objektiv gültigen Werte und Normen geben. Mit
dieser Argumentationsfigur wird nicht die Tatsache berücksichtigt, dass die Einhaltung be-
stimmter Normen bzw. die Realisierung bestimmter Werte empirisch notwendig für den Er-
halt und die Förderung menschlichen Lebens sind.
GERHARD ZECHA
Aber gerade Prämisse () ist nicht unproblematisch: Nach dem Motto “Wenn et-
was nicht sein kann, dann soll es auch nicht sein” kann viel Unsinniges begrün-
det und Sinniges kritisiert werden. () ist also problematisch. Aber nur mit () ist
das oben dargestellte Argument formal korrekt. Der normative Relativist ist hier in
ein Dilemma verstrickt: entweder ist sein Argument logisch nicht korrekt, dann
ist es zu verwerfen. Oder er macht es mit Prämisse () formal korrekt, dann ist
es inhaltlich nicht haltbar, weil es für die Prämisse () keine akzeptable Begrün-
dung gibt. Die These des normativen Relativismus lässt sich also nicht mit der
These des deskriptiven Relativismus begründen.
(ii) Normen lassen sich verändern, Naturgesetze nicht. Die Argumentation lau-
tet:
Prämisse (): Moralische Werte und Normen können von Mensch zu Mensch, von
Gesellschaft zu Gesellschaft neu geschaffen, verändert oder verworfen werden.
Zusatzprämisse (): Wenn eine Norm oder Vorschrift neu geschaffen, verändert
oder verworfen werden kann, dann ist sie nicht universell gültig.
Zusatzprämisse (): Wenn Normen nicht universell gültig sind, dann sollen ein-
ander widersprechende Moralprinzipien bei verschiedenen Menschen gleicher-
maßen gültig sein.
Konklusion: Einander widersprechende Moralprinzipien sollen bei verschiedenen
Menschen gleichermaßen gültig sein.
Beide Prämissen sind deskriptiv, die Konklusion ist normativ. Hier liegt wieder
ein Sein-Sollen-Fehlschluss vor, da in den Prämissen kein Soll-Satz vorkommt.
Prämisse () stimmt nur teilweise. Nach meiner oben getroffenen Unterschei-
dung können subjektbezogene Werte geändert und verworfen werden, nicht je-
doch moralische Werte naturbezogener Relativität, wenn der Wert des Lebens als
unabänderlicher Bezugspunkt der Ethik akzeptiert wird. Die Prämisse () ist be-
züglich naturbezogener Werte falsch: Sittliche Normen, die den Erhalt und den
Schutz des menschlichen Lebens betreffen, lassen sich nicht verändern. Wer le-
ben will, muss die sittlichen Bestimmungen des Naturrechts genau so beachten
wie die Gesetze der Physik, der Chemie und der Biologie. Die Prämissen () und
() nenne ich Zusatzprämissen, weil sie in der Argumentation des normativen
Relativisten meist nicht angeführt werden, aber notwendig sind, um zur Kon-
klusion dieses Argumentes zu kommen. Diese Zusatzprämissen können aber nur
der formalen Korrektheit des Argumentes dienen, nicht die Gültigkeit der Kon-
klusion verbürgen. Daher ist die Begründung des normativen Relativismus (= Kon-
klusion) fehlerhaft.
(iii) Das menschliche Leben ist kein unbezweifelbarer Wert. Wer in den morali-
schen Werten “Bausteine des Lebens” sieht (wie oben unter (a) ausgeführt), der
akzeptiert das menschliche Leben als den Grund legenden moralischen Wert, auf
dessen Erhalt und Schutz alle ethischen Bemühungen abzielen sollten. Von den
Vertretern des normativen Relativismus wird aber gerade diese Sicht bezweifelt,
denn es gebe ja keinen Wert, der nicht auch abgeändert und verworfen werden
könne. Das menschliche Leben könne nicht der Grund legende oder höchste sitt-
liche Wert sein, denn in vielen Bereichen des Alltags ließe sich eine andere Ein-
schätzung finden: z.B. das Töten als Notwehr, das Töten als Strafe, das Töten auf
Befehl (z. B. im Krieg), das Töten als Nebenwirkung des technischen Fortschritts
(z.B. Verkehrsunfälle), das massenhafte Töten als Folge politischer Desorganisa-
tion (z.B. Hungertod). Das sind mehrere Argumente “in einem Atemzug”, deren
genaue Prüfung hier nicht möglich ist. So plausibel diese Argumentation auch
scheinen mag, sie ist nicht richtig. Denn das Töten in Notwehr ist erlaubt, um
das eigene Leben zu retten, dient also dem Erhalt des eigenen Lebens; das Töten
als Strafe ist konzipiert als Schutz des Lebens vieler vor Verbrechern (ob diese Er-
wartung realistisch ist, ist eine andere Frage); das Töten auf Befehl ist wiederum
als Schutz oder Notwehr des eigenen Volkes gedacht, während es sich beim Töten
als Folge des technischen Fortschritts um das offenbar kleinere Übel handelt: wür-
de man auf alle Verkehrsmittel verzichten, dann würde die Zahl der Toten und der
darunter Leidenden wesentlich größer sein als die Zahl der Opfer des technischen
Fortschritts (ob diese Einschätzung realistisch ist, ist wiederum eine andere Frage).
Zusammenfassend lässt sich sagen: Leben wird im Alltag geopfert und vernichtet,
um weiteres Leben zu ermöglichen, auch zu schützen und zu fördern. Diese Argu-
mentation klingt zwar nicht unbedingt überzeugend, aber es kann doch festge-
halten werden, dass am Ende der Begründungskette als höchstes Gut das mensch-
liche Leben steht.
(iv) Hat jede Gesellschaft und Kultur eigene Werte und moralische Normen? Der
Vertreter des normativen Relativismus fordert mit seiner These, dass verschiedene
Menschen und Gesellschaften verschiedene Werte und Moralnormen haben sollen.
Er ist davon überzeugt, dass diese alle gleich “gut” oder gleich “schlecht” seien, weil
es keinen wert- und normübergreifenden Maßstab gäbe, der eine reihende Bewer-
tung erlauben würde. Dagegen ist zu bedenken: Die Tatsache, dass jede Kultur
andere Moralvorstellungen hat, bedeutet erstens nicht, dass bei zwei zu verglei-
. Heid (), S.: “Nicht einmal das menschliche Leben kann als unumstößlicher Wert
angesehen werden, denn es gibt Töten in Notwehr, Töten als Strafe, Töten als Nebenwir-
kung zivilisatorischen Fortschritts, Töten auf Befehl (mit Ordensverleihung), Töten ‘per
Gesellschaftsordnung.’”
. Den Homo-mensura-Satz hat übrigens Platon unter anderem auch in diesem Sinne dis-
kutiert: Theaitetos.
GERHARD ZECHA
. Die Unterscheidung zwischen abgeleiteten und fundamentalen Normen stammt von Birn-
bacher/Hoerster (), S. ff. und auch Zecha (). Es ist damit dasselbe gemeint wie
mit der Unterscheidung zwischen subjektbezogenen und objekt- bzw. naturbezogenen Wer-
ten (vgl. oben Abschnitt (a)).
ALLER WERTE MASS IST DER MENSCH
dermetzeln der Tiere als höchst unmoralisch einstuft. Dagegen ist jedoch zu be-
denken, dass Mehrheitsentscheide keine Sachfragen lösen können, weder in der
Wissenschaft noch in der Ethik. Aus der Geschichte der Menschheit gibt es ab-
schreckende Beispiele genug, von der Sklaverei bis zum Sexismus, von der Bigamie
bis zum Hexenwahn, von der Abtreibung bis zum Völkermord: oft wurden diese
lebensfeindlichen Handlungen von Mehrheiten propagiert und realisiert. Abgese-
hen von der Frage, wie stark eine Mehrheit prozentuell sein soll, damit in einer be-
stimmten Moralfrage eine Entscheidung gefällt werden kann (,% oder %,
% oder %?), das Grundproblem des normativen Relativismus bleibt beste-
hen. Ethische Entscheidungen können sachlich richtig nicht durch Mehrheits-
beschluss getroffen werden, sondern müssen – wie andere Sachfragen auch – sach-
lich stimmig getroffen werden. Daher ist es auch nicht möglich, dass einander
widersprechende Moralprinzipien bei verschiedenen Menschen gleichermaßen
gültig sein können oder gar sein sollen.
(vi) Moral ist Privatsache. Im modernen Rechtsstaat sind viele Belange zwischen-
menschlicher Beziehungen, aber auch Fragen des gesellschaftlichen Lebens, durch
rechtliche Normen geregelt, für die die politisch geformte Legislative zuständig ist.
Die Exekutive besorgt die Überprüfung und Durchsetzung der Rechtsnormen.
Somit sind die Kompetenzfragen klar geregelt, Moral wird zur Privatsache, d.h.:
weil nach normativ-relativistischer Sicht kein sachlich-richtiger Entscheid in Mo-
ralfragen gefunden werden kann, soll sich im Rahmen der staatlichen Rechts-
ordnung jeder Bürger mit Moralvorstellungen seiner persönlichen Art abfinden,
falls er meint, es bedürfe über die Rechtsordnung eines Staates hinaus auch mora-
lischer Normen für die Lebensgestaltung im Alltag. Dagegen ist zu bedenken, dass
sich Moral und Recht nicht decken. Gerade im zwischenmenschlichen Bereich gibt
es zahlreiche “Kleinigkeiten”, die jedoch große Wirkungen haben: Dankbarkeit
vs. Undankbarkeit, Freundlichkeit vs. Mobbing, Sympathie vs. Antipathie, Hilfs-
bereitschaft vs. Gleichgültigkeit, Fleiß vs. Faulheit, Zivilcourage vs. Feigheit, Treue
vs. Untreue und viele andere Tugenden bzw. Untugenden bis hin zur Selbsttötung
werden von der Rechtsordnung wenig oder gar nicht erfasst, spielen aber im Ge-
meinschaftsleben der Menschen eine ganz entscheidende Rolle. Weil die Gesell-
schaft und damit auch jeder einzelne Bürger der Gesellschaft von den Tugenden
oder Untugenden der Mitbürger betroffen sein kann, ist die Moral im Sinne eines
“wesentlichen Lebenselixiers” sowohl die Grundlage als auch die lebensnotwen-
. In diesem Zusammenhang wird häufig auch als kritisches Argument gegen den ethischen
Relativismus der Vorwurf vorgebracht, dass man aus relativistischer Sicht nicht von einem
moralischen Fortschritt in einer Gesellschaft sprechen könne: Was jeweils die Mehrheit als
moralisch richtig befindet, sei eben richtig, einen “objektiven” Maßstab gäbe es nicht. Da
aber der Begriff des Fortschritts selbst sehr vage ist, will ich auf diesen Vorwurf nicht näher
eingehen; vgl. dazu Rippe (), S. ff.
GERHARD ZECHA
dige Ergänzung der staatlichen Rechtsordnung. Das macht aber nur Sinn und ist
lebenspraktisch nur effektiv, wenn es eine klare moralische Werteordnung gibt, in
der Fleiß besser ist als Faulheit, Dankbarkeit besser als Undankbarkeit, Freund-
schaft besser als Feindschaft und Treue besser als Untreue. “Besser” heißt in diesem
Zusammenhang nichts anderes als “ist dem Leben des Einzelnen wie auch der Ge-
meinschaft förderlicher”. Daher ist die Moral keineswegs nur Privatsache, weil die
Auswirkungen von Moral oder Unmoral stets für die Betroffenen lebensfördernd
oder lebensschädlich sein können. Privatsache ist die moralische Denk- und Hand-
lungsweise nur insofern, als es im freien Ermessen jedes Menschen liegt, sich für
ein lebensförderndes oder für ein lebensfeindliches Handeln zu entscheiden.
(vii) Moral beginnt dort, wo der Andere ins Spiel kommt. Der normative Relati-
vismus wird im Alltag in vielen Nuancen praktiziert. Dazu gehört auch die Auffas-
sung, dass jeder Mensch in seinen Handlungen frei sein sollte, dass jedoch dort mit
rechtlichen Normen eingegriffen werden sollte, wo das Handeln des Einzelmen-
schen das Leben und die Lebensumstände anderer Menschen betrifft. Mit anderen
Worten: Jeder kann tun, was er oder sie will, solange nicht anderen Menschen da-
durch geschadet wird. Formulierungen dieser Art sind zumindest irreführend. Sie
können Menschen in der Auffassung bestärken, dass es Handlungsweisen gebe, die
nur den Handelnden selbst und sonst niemanden betreffen. Das ist aber eine irri-
ge Meinung, denn Einzelmensch und Gemeinschaft sind schicksalshaft miteinan-
der verbunden: Kein Mensch kann ohne Gemeinschaft, keine Gemeinschaft ohne
Einzelmenschen bestehen. Da aber jede Handlung Wirkungen hat, zumindest
beim Handelnden selbst, ist damit auch indirekt immer die Gemeinschaft be-
troffen. Aus normativ-relativistischer Sicht wird beispielsweise argumentiert, dass
jeder Mensch selbst die “richtige Antwort” auf Moralfragen finden müsse, weil es
keine universell gültigen Moralprinzipien gäbe. Es ist richtig, dass jeder Mensch
das Recht hat, über sein eigenes Leben zu bestimmen, etwa auch durch freiwillige
Zustimmung zur Euthanasie oder zur Eigentötung, aber deshalb ist er nicht auto-
matisch befähigt, über die Stimmigkeit moralischer Werte und Normen zum ge-
lungenen Leben zu befinden. Moral beginnt beim individuellen Handeln, gleich-
gültig, ob sich dieses auf andere Menschen richtet oder nicht.
Jedes Handeln hat direkt oder indirekt Auswirkungen auf andere Menschen, die
nicht immer klar erkennbar sind, vor allem nicht kurzfristig. Daher wird geschlos-
sen, es gäbe keine. Das ist aber falsch, denn mit jedem Schaden, den sich jemand
selbst zufügt, wird auch der Gemeinschaft geschadet. Ein anderes Beispiel: Jeder
Mensch der “freien Welt” darf Kapital und Besitz ohne Maß anhäufen, solange er
die vorgeschriebenen Steuern zahlt und niemandem schadet. Schadet der reiche
Mensch wirklich niemandem, weder sich selbst noch anderen? Ist nicht die maß-
lose Anhäufung von Geld und Besitz wie auch die Vergeudung von Geld und Be-
sitz in Luxus und Spiel geeignet, das eigene Leben und das vieler anderer Menschen
zu beeinträchtigen, zu behindern oder gar zu verunmöglichen? Welche Bedeu-
ALLER WERTE MASS IST DER MENSCH
tung hat der Homo-mensura-Satz für jene Menschen, die kein Maß kennen oder
anerkennen wollen? Wie können diese selbst Maß sein? Die Antwort auf diese Fra-
gen ist nur aus der Perspektive des Lebens zu geben: Maßlos darf alles sein, was das
menschliche Leben schützt und fördert, wie etwa Gerechtigkeit, Wohlwollen, Zu-
neigung und jegliche Tugend. Daher bestimmt nicht der Mensch erst mit Be-
zug auf einen Anderen das Maß und Moral, vielmehr ist das Leben selbst bestim-
mend, das Leben jedes Menschen, das Leben der menschlichen Gemeinschaft,
die Natur sowie die Chance eines ewigen Lebens, die für den religiös gestimmten
Menschen motivierend und richtungsweisend sein mag.
(viii) Moralische Selbstbestimmung ergibt sich aus persönlicher Verantwortung. Die
Vertreter des normativen Relativismus verteidigen das Recht der Maßgabe mora-
lischer Werte und Regeln mit der Behauptung: “Ich bin allein für meine morali-
schen Entscheidungen und Handlungen verantwortlich, daher kann nur ich allein
bestimmen, was (für mich) moralisch richtig, was moralisch falsch ist.”
Obwohl es stimmt, dass jede zurechnungsfähige Person für ihre Handlungen
verantwortlich ist, heißt dies doch nicht, dass sie deshalb zum Schöpfer ethischer
Werte und Normen werden müsste, insbesondere, was die objekt- bzw. naturbe-
zogenen Werte betrifft. Aus mehreren Gründen ist diese Sichtweise problematisch:
Erstens ist es keineswegs ökonomisch, “das ethische Rad des Lebens stets neu
erfinden zu wollen”. Es gibt zahlreiche Standardsituationen, in denen sich Stan-
dardregeln bewährt haben, die daher ohne viel “Wenn und Aber” angewendet
werden können.
Zweitens bieten akzeptierte Regeln oder Normen einer gewissen Moralordnung
rein psychologisch eine Handlungserleichterung und innere Sicherheit. Das Leben
besteht aus vielen Unwägbarkeiten, so dass nicht in jedem Augenblick neu die
Situation eingeschätzt, neu Fundamentalprinzipien erörtert bzw. begründet oder
neu Konsequenzen kalkuliert werden können oder müssen.
Drittens ist zu beachten, dass auch bei vorgegebenen Normen und Werturtei-
len die Entscheidungsfreiheit bzw. die Willensautonomie der entscheidenden Per-
son nicht eingeschränkt, daher auch ihre Verantwortlichkeit nicht außer Kraft ge-
setzt ist. Wertrichtlinien und Normen sind für den Erhalt, die Förderung und den
Schutz des Lebens vorgegeben. Sie sind erkennbar, können als Information weiter
gegeben werden und durch Erfahrung bestätigt werden. Aber kein Mensch muss
diesen Richtlinien folgen, weil er auch immer anders handeln kann, vorausgesetzt,
dass er sich in einer Situation befindet, in der ihm freies Handeln möglich ist.
Wenn man unter “sittlichem Wert” alles versteht, was der Mensch durch sein Han-
deln zum Schutz, zur Verbesserung und zur Stärkung des Lebens unternimmt,
. Aus christlicher Sicht ist der Kristallisationspunkt aller Tugenden die caritas: Liebe als Kern-
stück aller Werte und Grundlage allen Lebens: vgl. Geisler ().
GERHARD ZECHA
dann sind ihm für diese klare empirische Zielsetzung ganz bestimmte Entschei-
dungsmöglichkeiten vorgegeben: er muss physische Werte verwirklichen, er muss
Wahrheit, Wissen, Information, Zuneigung, gemeinschaftliche Wertschätzung
und Vieles mehr aktivieren, um überhaupt leben zu können. Aber zu entscheiden,
ob, wie und in welchem Ausmaß er leben will, bleibt seine Aufgabe. Sie soll er im
Einklang mit seiner Verantwortung als sittliches Wesen realisieren.
. Zusammenfassung
Aller moralischen Werte Maß ist der Mensch, und zwar der Einzelmensch wie auch
die menschliche Gruppe oder Gesellschaft. Der ethische Relativist behauptet, dass
der Mensch alle Werte bestimmt und sie in seiner Freiheit nach Belieben bestim-
men kann. Die Untersuchung hat aber ergeben, dass dies nur in einem einge-
schränkten Sinne zutrifft: Unter den drei Arten des ethischen Relativismus ist die
wichtigste These die des normativ-ethischen Relativisten, der die Auffassung ver-
tritt, dass einander widersprechende Moralprinzipien bei verschiedenen Menschen
gleichermaßen gültig oder richtig sein sollen. Demgegenüber habe ich hier eine
naturrechtsorientierte Sichtweise eingenommen, derzufolge subjektbezogene
Wünsche und Ziele zwar Werte darstellen, die aber nicht in jedem Fall moralisch
gut oder richtig sind. Dazu gibt es objekt- oder naturbezogene Werte, die jeder
Mensch verwirklichen muss, will er am Leben bleiben und darüber hinaus ein
erfülltes oder gelungenes Leben führen. Moralisch richtige Werte sind hiezu die
notwendigen Instrumente, für die sich zwar jeder Mensch in seiner Verantwortung
entscheiden muss, die er aber nicht nach Gutdünken festlegen kann: sie sind in
der Schöpfung, damit auch in der Natur des Menschen, vorgegeben. Solche Wer-
te, falls sie sich widersprechen, können nicht, wie der Relativist meint, bei ver-
schiedenen Menschen oder Kulturen “gleichermaßen richtig” sein. Acht Argu-
mentationen, die diese relativistische Annäherung zu stützen scheinen, wurden
kritisch diskutiert und als problematisch identifiziert, mit dem Ergebnis: Morali-
sche Werte werden eben nicht von der Anerkennung oder Akzeptanz durch die
Menschen bestimmt, sondern haben ihr Fundament in der objektiven Wertord-
nung, deren Prinzip “Leben” heißt.
ALLER WERTE MASS IST DER MENSCH
LITERATUR
Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. von Eugen Rolfes und hg. von Günther
Bien, Hamburg .
Benedict, Ruth: A Defense of Moral Relativism, in: Sommers, Christina/Som-
mers, Fred (Hg.): Vice & Virtue in Everyday Life. Fort Worth , S. –
[erstmals publiziert ].
Birnbacher, Dieter/Hoerster, Norbert (Hg.): Texte zur Ethik. . Aufl. München
.
Brandt, Richard B.: Drei Formen des Relativismus, in: Birnbacher/Hoerster (Hg.),
S.– [erstmals veröffentlicht].
Bredow, Udo/Mayer, Annemarie C.: Der Mensch – das Maß aller Dinge? Ant-
worten großer Denker. Darmstadt .
Bunge, Mario: Treatise on Basic Philosophy, Bd.: Ethics: The Good and the Right.
Dordrecht .
Dalfen, Joachim: Der Homo-mensura-Satz des Protagoras in seinem historischen
Umfeld, in: Neumaier, Otto (Hg.): Ist der Mensch das Maß aller Dinge? Möh-
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Finnis John M.: Natural Law and Natural Rights. Oxford .
Geisler, Norman L.: Das Maß aller Dinge, Liebe. [The christian ethic of love. Dt. von
Gerhard Hörster]. Witten .
Heid, Helmut: Über einige theoretische und empirische Voraussetzungen der
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und Erziehungswissenschaft. Bochum , S. –.
Hillmann, Karl-Heinz: Wertwandel. Zur Frage soziokultureller Voraussetzungen al-
ternativer Lebensformen. Darmstadt .
Inglehart Ronald: Modernisierung und Postmodernisierung: kultureller, wirtschaft-
licher und politischer Wandel in Gesellschaften. Frankfurt/M. .
Klages, Helmut: Traditionsbruch als Herausforderung: Perspektiven der Wertewan-
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Messner, Johannes: Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik
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Platon: Sämtliche Werke, übers. Von Friedrich Schleiermacher, hg. Von Ernesto
Grassi, Hamburg: Rowohlt, –.
Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band : Der Zauber Platons.
.Aufl. München /I.
Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band : Falsche Propheten:
Hegel, Marx und die Folgen. .Aufl. München /II.
Rippe, Klaus P.: Ethischer Relativismus: seine Grenzen – seine Geltung. Paderborn
.
GERHARD ZECHA
. Problemstellung
Vor kurzem hat Gerhard Zecha mit einem Essay über den Homo-Mensura-Satz
des Protagoras (“Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß <wie> sie
sind, der nicht seienden, daß <wie> sie nicht sind”; im Folgenden: HMS) eine
ebenso wichtige wie andererseits auch umstrittene Aussage antiken Denkens ver-
dienstvollerweise wieder in den Blickpunkt des Interesses gerückt. Dabei gelangt
er zum Ergebnis, dass “der kryptische Satz des Protagoras nur teilweise vertretbar”
sei. Um es geradeheraus zu sagen: Dem Verfasser dieser Zeilen erscheint Zechas Ar-
gumentation auch nur teilweise vertretbar, und zwar in mehrerlei Hinsicht:
(i) Zwar kann ich mich mit der von Zecha aus einem Aufsatz des Salzburger
Gräzisten Joachim Dalfen übernommenen Prämisse, dass Philosophie einen prak-
tischen Bezug zum Leben habe, völlig identifizieren, doch komme ich – gerade
. In der Wiedergabe von Ernst Hoffmann (Aristoteles’ Philosophie der Freundschaft, in: Fritz-
Peter Hager (Hg.), Ethik und Politik bei Aristoteles, Darmstadt , ff., Fn.). An-
sonsten benutzte ich für Platon: für den griechischen Text die Ausgabe der Oxford Clas-
sical Texts (Vol.I: rec. E.A.Duke et al., ; vol.II–V: rec. J.Burnet, ff. [repr.]); als
deutsche Übersetzung die Ausgabe von Otto Apelt (Hg.), Platon, Sämtliche Dialoge, Ham-
burg (ND). Dieser Ausgabe folge ich auch bei der Abkürzung der Dialoge.
. DK B (DK = Hermann Diels/Walther Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker. Grie-
chisch und deutsch, Bände, Dublin–Zürich ).
. Gerhard Zecha, Das Spiel mit der Antike wird ernst: Ist der Mensch wirklich das Maß aller
Dinge? In: Siegrid Düll/Otto Neumaier/Gerhard Zecha (Hg.), Das Spiel mit der Antike: zwi-
schen Antikensehnsucht und Alltagsrealität, Möhnesee , – (fortan: Zecha, Spiel).
. Ebenda, .
. Ebenda, : “Philosophie ist keine Sache der Theorie, sondern hat einen praktischen Bezug
zum Leben, die gefundenen Antworten haben eine Bedeutung für die Lebensführung.” Dies
ist eine wörtliche Übernahme aus: Joachim Dalfen, Wie, von wem und warum wollte Pla-
ton gelesen werden? Eine Nachlese zu Platons Philosophiebegriff, in: Grazer Beiträge. Zeit-
schrift für die Klassische Altertumswissenschaft (), –, . Dalfen bezieht sich dabei
PETER DANIEL MOSER
unter Beachtung dieses Prinzips – zu völlig anderen Ergebnissen, als sie Zecha in
seinem Aufsatz präsentiert.
(ii) Zwar respektiere, ja teile ich bis zu einem gewissen Grad Zechas Sorge um
den Verlust von Werten in unserer Gesellschaft, doch erscheint mir sein Umgang
mit Texten in dafür relevanter Weise problematisch: Dass unsere wissenschaftliche
Tätigkeit hehren ethischen Anliegen dient, ist eine Sache, eine andere hingegen die
mit dieser Tätigkeit verbundene Verpflichtung zu größtmöglicher methodischer
Sorgfalt; die Verletzung dieser Sorgfaltspflicht bedeutet ihrerseits den Verlust eines
unverzichtbaren Werts, nämlich den der wissenschaftlichen Kultur, und philoso-
phische Kritik dient oft der Prüfung, ob dieser Pflicht Genüge getan wird.
(iii) Zwar räume ich ein, dass in einem Aufsatz von Druckseiten nicht alle
Fragen ein für allemal beantwortet werden können, doch vernachlässigt Zecha, wie
im Folgenden zu zeigen sein wird, nicht nur relevante Teile der vorliegenden Pri-
mär- und Sekundärliteratur, sondern auch historisch-empirische Tatsachen.
In beständiger Auseinandersetzung mit Gerhard Zechas Argumentation werde
ich mich also mit folgenden Fragen befassen:
(i) Hat der Philosoph Protagoras tatsächlich einen “pointierten ethischen Rela-
tivismus” verkündet?
(ii) Ist der HMS für jedwede “groteske[n] Fehlentwicklungen und Machtmiss-
brauch” in der Geschichte verantwortlich zu machen, wie Zecha unterstellt? Ist
nicht gerade umgekehrt aus dem HMS ein Ansatz für die heute mehr denn je not-
wendige Besinnung auf Werte als die “Bausteine des Lebens” zu gewinnen?
Zecha geht methodisch so vor, dass er durch Zuordnung von je drei Einsetzungs-
instanzen zu den Elementen “Mensch” und “ist das Maß” (Einzelmensch/Gesell-
schaft, Gruppe/Menschheit; ist das Kriterium/nimmt wahr/beurteilt) sowie von
deren sechs zum Element “Dinge” (Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung/Ge-
genstände innerer Wahrnehmung/wahre, falsche Sätze/sittliche Werte/ästhetische
Werte/ontologische oder metaphysische Werte) sowie durch deren Verknüpfung zu
x x = Lesarten des HMS gelangt. Wie Zecha zutreffend betont, bleibt an-
explizit auf die Struktur der platonischen Dialoge, während Zecha den Satz als Aussage über
Philosophie im Allgemeinen versteht.
. Zecha, Spiel, .
. Ebenda, .
. Ebenda, .
. Ebenda, –.
. Ebenda, f.
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
dererseits offen, ob der HMS deskriptiv oder normativ zu verstehen ist. So führt
seine Methode in letzter Konsequenz zu insgesamt (!) unterschiedlichen Inter-
pretationen, wobei sich Zecha damit begnügt, davon eingehend zu diskutieren
(darunter auch solche, die er selbst für “Kategorienfehler” hält).
Gegen Zechas Verfahren sind einige Einwände zu erheben. So erscheint zweifel-
haft, ob die Unzahl an eventuell denkbaren Deutungen die mannigfachen Aus-
legungsprobleme um den HMS einer Klärung näherbringt oder aber – und das
ist das Wahrscheinlichere – nicht zusätzliche Verwirrung erzeugen dürfte…
Problematischer ist aber folgender Punkt. Beim Umgang mit Texten der Philo-
sophiegeschichte stoßen wir auf das Phänomen des “Zeitenabstands”. Jener Kluft,
die besteht zwischen der Denktradition des Textautors und jener Tradition, in der
wir, die Textrezipienten, leben. Es sind aber nicht nur die Denktraditionen je ver-
schiedene, sondern auch die Problemlagen und Fragestellungen: jene, die den Au-
tor damals zu seinem Text veranlasst haben; und jene, mit denen wir uns heute
konfrontiert sehen und bei deren Beantwortung uns das Studium des philosophie-
historischen Textes weiterhelfen soll. Daraus folgt als ein fächerübergreifendes
hermeneutisches Grundprinzip, dass es um zwei verschiedene Fragen geht:
(i) um die nach dem primären, dem historischen Kontext: Welchen Sinngehalt
wollte der Textautor vermitteln?
(ii) um jene nach dem sekundären, dem applikativen Kontext: Welchen Sinn-
gehalt kann der Text für einen aktuellen Rezipienten haben?
Wenn auch diese zwei Fragen nicht more geometrico voneinander getrennt wer-
den können, so sind sie doch prinzipiell auseinanderzuhalten. Die Intention der
Rekonstruktion des ursprünglichen Sinngehalts ist das eine – die produktive Re-
zeption, also das Bemühen, die Texte aus der Vergangenheit auf ihren Nutzen
. So z.B. “Die Gesellschaft (Kultur) ist das Kriterium der Gegenstände sinnlicher Wahrneh-
mung”; Zecha, Spiel, .
. Ähnlich John Rawls, Geschichte der Moralphilosophie: Hume – Leibniz – Kant – Hegel, hg.
von Barbara Herman, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt/M. , . Statt “Denk-
system” bevorzuge ich allerdings den weicheren Ausdruck “Denktradition”.
. Vgl. dazu Manfred Fuhrmann/Hans Robert Jauß/Wolfhart Pannenberg (Hg.): Text und
Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch,
München . Die historische Auslegung scheint für die Rechtswissenschaft von geringerer
Bedeutung zu sein, ist aber zum Beispiel für Fragen der verfassungsrechtlichen Kompetenz-
verteilung durchaus wesentlich.
. Ich folge der Unterscheidung bei Odo Marquard, Felix culpa?- Bemerkungen zu einem
Applikationsschicksal von Genesis , in: Fuhrmann/Jauß/Pannenberg, a.a.O., –, .
. Zwischen diesen beiden Fragen steht jene nach der Wirkungsgeschichte eines Textes in der
Zeit zwischen seiner Entstehung und der heutigen Rezeption.
. Ich entlehne diesen Terminus von Wilfried Barner, Produktive Rezeption: Lessing und die
Tragödien Senecas, München .
PETER DANIEL MOSER
und Nachteil für das Leben der Gegenwart, und zwar im Namen der Zukunft,
zu testen, das andere! Gerhard Zecha jedoch hält dieses hermeneutische Grund-
prinzip der Unterscheidung von primärem und sekundärem Kontext nicht ein.
So führt er etwa in () an:
Davon abgesehen, dass nicht rational nachvollziehbar ist, warum Dinge, die zum
Gebrauch durch den Menschen gedacht sind, nicht nach dessen Maß geschaffen
sein sollten, hat Protagoras, der als Angehöriger des . Jahrhunderts vor Christus
von der Produktion von Massengütern um nach Christus keine Ahnung
haben konnte, (selbstverständlich) weder wahr noch falsch, sondern gar nicht “in
diesem Sinne gesprochen”. Der Interpret projiziert hier in hermeneutisch unzuläs-
siger Weise die Uniformierungsängste eines Gegenwartsmenschen in die Aussage
des antiken Philosophen hinein.
Unsere Kritik an Gerhard Zechas Methode wird auch nicht dadurch entkräftet,
dass Zecha seine Auslegung des HMS expressis verbis als “spielerischen Versuch ”
deklariert. Denn erstens: Auch wer das “Interpretations-Spiel” spielt, wer also
Hermeneutik als Spiel begreift, der darf sich doch deswegen nicht von den Regeln
dieses Spiels verabschieden. Ebensowenig kann sich ja auch ein Fußballspieler, der
anstatt nach dem Ball nach seinem Gegner tritt, darauf berufen, dass Fußball nur
ein Spiel sei. Und zweitens – und hier stößt der Leser auf den ersten offen zutage
tretenden Selbst-Widerspruch in Zechas Text – steht dessen Versicherung, dass er
nur ein Spiel mit dem HMS betreibe, in diametralem Gegensatz zu dem pathe-
. Vgl. Horst-Jürgen Gerigk, Lesen und interpretieren, Göttingen , .
. Zecha, Spiel, . Dieses Zitat zeigt drastisch auf, wie wenig Bezug zur Praxis Zechas Auf-
satz in Wahrheit hat. Denn nicht die Normierung auf den Durchschnittsmenschen ist eine
reale Gefahr, sondern im Gegenteil der von der Werbeindustrie oktroyierte schöne “Ideal-
mensch”, wie etwa die ständig zunehmenden Essstörungen bei Jugendlichen zeigen.
. Vgl. Karl Popper: “Die Furcht, daß die Entwicklung der Massenproduktion und die Kol-
lektivisierung die Ungleichheit und die Individualität der Menschen zerstören könnte, ist
einer der Alpträume unserer Zeit.” In: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, übers. von
Paul K. Feyerabend, Tübingen , II .
. Zecha, Spiel, .
. Ebenda, .
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
. In Anm. (S.) stellt Zecha fest, dass der Satz “Wo Gott abgeschafft wird, da wird der
Mensch eliminiert” unaufhaltsam verifiziert wird. Wird aber ein Fehlverhalten “unaufhalt-
sam” gesetzt, so impliziert das, dass dadurch eine Katastrophe ausgelöst wird. Nicht zufällig
wird daher das Wort gerne in Zusammenhang mit dem sagenumwobenen “Massenselbst-
mord” der zu den Wühlmäusen gehörigen Lemminge gebraucht (paradigmatisch von Chris-
toph Ransmayr, Die letzte Welt, Nördlingen , : “Träge und so unaufhaltsam wie ein
Zug Lemminge wälzte sich die Narrenhorde gegen das Meer”).
. Zecha, Spiel, .
. Rupprecht Düll, Zur Regulation der “Harmonia”. Sankt Augustin , .
. Ebenda, (unter Hinweis auf Johan Huizinga).
. Zecha, Spiel, .
. Ich meine also nicht Spiele um Leben und Tod, die in Kunstwerken dargestellt sind, zum
Beispiel die Schachpartie zwischen dem Ritter Antonius Block und dem Tod in Ingmar
Bergmans Meisterwerk “Das siebente Siegel”.
. Nicht gemeint ist also der mehr als problematische Umgang mit Gewalt in Computer-
und Videospielen.
. Vgl. Walter Burkert, Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen,
Berlin .
. R.Düll, a.a.O., .
PETER DANIEL MOSER
Der Verdacht, dass Gerhard Zecha bei seiner Deutung des HMS vielleicht doch zu
“spielerisch” mit den Quellen umgeht, wird etwa durch folgende Stelle genährt:
Von entscheidender Bedeutung ist dabei der qualifizierende Zusatz: pointiert (von
frz. pointe, Spitze). Zecha schreibt also Protagoras nicht einen “gewöhnlichen”,
sondern einen scharf betonten, einen zugespitzten, auf die Spitze getriebenen ethi-
schen Relativismus zu. Das lässt sich nicht anders verstehen, als dass es sich nach
Zechas Ansicht beim Philosophen aus Abdera um einen Menschen handelte, dem
alle sittlichen Maßstäbe mangelten, dem letztlich die Fähigkeit abging, zwischen
Gut und Böse zu unterscheiden. Zechas Interpretation des HMS stellt demzu-
. Zecha, Spiel, . Wobei Zecha dieses Urteil im unmittelbar darauf folgenden (!) Absatz wie-
der zurücknimmt, indem er nun von den “ethischen Ableitungen” (aus dem HMS; a.a.O.
) spricht – um schließlich überhaupt gegen “eine relativistische Deutung des protagoräi-
schen Lehrsatzes” (a.a.O. ) Stellung zu beziehen. Wir finden also in Zechas Text nicht we-
niger als drei einander widersprechende Varianten, zwischen denen er hin und her schwankt
wie die sprichwörtlichen – zuweilen auch Hölderlinsch klirrenden – Fahnen im Wind: Nach
der ersten ist der HMS Ausdruck eines pointierten ethischen Relativismus; nach der zweiten
ist er eine nicht in ethischer, jedoch in anderer Hinsicht relativistische Lehre, aus der ein
ethischer Relativismus allerdings abgeleitet werden kann; nach der dritten ist der HMS
wiederum überhaupt nicht (sinnvoll) relativistisch zu deuten…
. Vgl. KLUGE – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. von Elmar Seebold,
Berlin–New York , . Zur Wortbedeutung vgl. auch: DUDEN – Das große Wörter-
buch der deutschen Sprache, Bd. . Mannheim–Leipzig–Wien–Zürich , Sp. .
. Vgl. Philosophisches Wörterbuch (begr. v. Heinrich Schmidt, neu bearb. v. Georgi Schisch-
koff ), Stuttgart , , Lemma “Relativismus”: “Dem ethischen Relativismus, dem im
extremen Falle alle sittlichen Maßstäbe fehlen, wird der Unterschied zwischen gut und böse
relativ.”
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
folge nichts anderes als ein moralisches Verdammungsurteil über die Lehre des
Protagoras dar. Die Frage ist: Ist dieses Urteil legitim oder tut Zecha damit einem
bedeutenden antiken Denker Unrecht?
Wir wollen dies in zwei Schritten prüfen und uns zuerst mit Zechas eigenen
Argumenten befassen, um sodann seine Behauptung im Lichte der uns zur Ver-
fügung stehenden Quellen zu würdigen.
Nach Zecha hat also Protagoras deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit einen
pointierten ethischen Relativismus verkündet, weil er (a) Sophist, und (b) politi-
scher Lehrer war, der gegen die damals herrschende Tradition aufgetreten ist.
Was (a) angeht, ist zunächst zu klären, was unter “Sophist” zu verstehen ist.
Dabei ist zu bedenken, dass “zu dem etwas zweifelhaften Beigeschmack, den der
Name Sophisten […] bis heute behalten hat” und ihn auch pejorativ vom “Philo-
sophen” abhebt, von den Komödiendichtern abgesehen, vor allem einer beige-
tragen hat: Platon. Dieser ist einer der Hauptüberlieferer sophistischen Gelehrten-
tums – der HMS ist dafür der nachhaltigste Beleg –, aber in jenem doppelten Sinn
von “Überlieferer”, der den “Verräter” miteinschließt; Platon stand den Sophisten
ebensowenig objektiv gegenüber wie – ich greife das von Zecha selber angeführ-
te Beispiel auf – Schopenhauer gegenüber Hegel. Wobei in Wortwahl und Art der
Vorhaltungen gewisse Parallelen erkennbar sind. Denn ebenso wie Schopenhauer
den (wohl nicht nur bei der Kgl.Dänischen Societät der Wissenschaften angesehe-
neren) ehemaligen Berliner Universitätskollegen unter anderem als “Scharlatan”
und “Philosophaster” titulierte – das Kunstwort “Philosophaster” ähnelt in Bil-
dung wie Funktion dem “Sophisten” unübersehbar – und ihm bescheinigte, er
habe “auf die Deutsche Litteratur überhaupt, einen höchst verderblichen, recht ei-
gentlich verdummenden, man könnte sagen pestilenzialischen Einfluß gehabt” ,
. Ursprünglich bedeutete sofistªß einfach soviel wie “Weiser, Meister in einer Wissenschaft
oder Kunst”; Wilhelm Gemoll, Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, Mün-
chen–Wien , .
. Hans Joachim Störig, Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart , .
. Insbesondere Aristophanes mit den aufgeführten Wolken. In diesen wird allerdings be-
zeichnenderweise Sokrates als Sophist dargestellt, worauf sich Sören Kierkegaards provoka-
tive – aber wohl nicht ganz unrichtige! – .Promotionsthese bezieht: Aristophanes in Socra-
te depingendo proxime ad verum accessit (zitiert von Otto Weinreich in seiner Einleitung
zu: Aristophanes, Sämtliche Komödien, übertr. v. Ludwig Seeger, Bände, Zürich–Stuttgart
, LXXXVII).
. Spiel, Anm.; Schopenhauer kritisiert in seiner Vorrede zu Die beiden Grundprobleme
der Ethik freilich nicht Hegels “Deutung antiker Philosopheme” (so Zecha, a.a.O.) als viel-
mehr dessen Behandlung naturwissenschaftlicher Probleme (spezifisches Gewicht, Trägheits-
gesetz, Elastizität); Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke in sechs Bänden, hg. v. Eduard
Grisebach, . Band, Leipzig , –, insb. ff.
. Schopenhauer, Vorrede, a.a.O., .
PETER DANIEL MOSER
figurieren die Sophisten bei Platon als “Wunderkünstler” (So b), die “der Ju-
gend, dem Staat und dem Haus” (G b) schweren Schaden zufügen und die
man darum jagen muss wie “Wild” (vgl. So a–c) und deren man nur Herr wird,
wie man eines Wolfs Herr wird (R de). Doch entspricht Platons Vorurteil
nicht mehr dem heute aktuellen Stand der Wissenschaft.
So werden in dem für die neuere Forschung repräsentativen Standardwerk von
Kerferd und Flashar sechs mögliche Merkmale der Sophistik aufgelistet und disku-
tiert; davon erweise sich aber nur eines als “sicheres Entscheidungskriterium für die
Zugehörigkeit eines Denkers zur Sophistik”, nämlich dass es sich um “professio-
nelle, bezahlte Lehrer” gehandelt habe. Zwar zitiert Zecha dieses Werk, doch
berücksichtigt er die darin präsentierten Forschungsergebnisse nicht. Selbst wenn
wir der älteren Lehre folgen und die “Entstehung eines allumfassenden ‘Relativis-
mus’” vor allem auf den Gebieten von Ethik und Religion als wesenhaftes Cha-
rakteristikum der Sophistik annehmen wollten, ließe dies aber nur Schlüsse der
Art “X war Sophist, weil er Relativist war” zu, aber nicht umgekehrt.
Zechas Argumentation steht daher zumindest unter starkem Zirkelschlussver-
dacht. Weit schwerer wiegt jedoch folgender Einwand: Wenn Protagoras deshalb
pointierter ethischer Relativist gewesen sein soll, da er Sophist war, so setzt dies
logisch voraus, dass prinzipiell alle Sophisten (pointierte) ethische Relativisten wa-
ren. Davon kann aber gar keine Rede sein. Zum Beispiel Prodikos. Von diesem
ist einer der wirkmächtigsten Texte sophistischer Provenienz tradiert: der Mythos
von “Herakles am Scheideweg”. Die Geschichte von dem jugendlichen Helden,
. Also ist der Sophist für Platon “bereits ein bißchen weniger als ein Mensch”, so zutreffend
Jacques Derrida, Die weiße Mythologie, übers. v. M.Fischer und K.Karabaczek-Schreiner,
bearb. v. J. Maatsch, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien , –, .
. George B. Kerferd/Hellmut Flashar: Die Sophistik, in: Ueberweg/Flashar: Die Philosophie
der Antike, Bd./, –, . Gleichwohl beruht auch die populäre Antithese von “reichen So-
phisten” und “armen Philosophen” – wie Heinrich Schlange-Schöningen kürzlich gezeigt
hat – auf einem Klischee: Bis Sokrates gehörten so gut wie alle uns bekannten griechischen
Denker der Aristokratie an, und gerade weil sie aus reichen Familien kamen, war es ihnen
möglich, sich unbekümmert um finanzielle Interessen mit philosophischen Fragen zu befas-
sen. Vgl. Heinrich Schlange-Schöningen: Reiche Sophisten – arme Philosophen? Zur Sozial-
geschichte der frühen Gelehrten, in: Andreas Goltz/Andreas Luther/Heinrich Schlange-
Schöningen (Hg.): Gelehrte in der Antike, Alexander Demandt zum .Geburtstag, Köln–Wei-
mar–Wien , –, insbes. .
. Vgl. Spiel, , Anm..
. Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker. Fragmente und Quellenberichte, Stuttgart (Erst-
auflage: ), .
. Überliefert bei Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, II , –. Welchem Musikfreund
ist übrigens wohl bewusst, dass er, wenn er Bachs Weihnachtsoratorium (BWV ) ge-
nießt, auch die Kantate “Herakles am Scheideweg”, komponiert zum Geburtstag des sächsi-
schen Kurprinzen am .September , hört?
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
der sich beim Eintreten in den Lebensweg zwischen den durch die femininen
Allegorien der Tugend und der Schlechtigkeit verkörperten Paradigmen von Gut
und Böse entscheiden muss, lässt sich nun eben nicht mit der Annahme eines
ethischen Relativismus verbinden…
Aber es gibt ein noch eindrucksvolleres Gegen-Beispiel. Es sei daran erinnert,
dass Zecha Sklaverei mit vollem Recht für eine “groteske Fehlentwicklung” in der
Geschichte der Menschheit hält. Doch ist es nicht auch grotesk, wenn jemand
auf der einen Seite Sklaverei für grotesk erklärt, andererseits aber ausgerechnet die
Sophistik – jene Bewegung, von der die Institution Sklaverei erstmals radikal in
Frage gestellt wurde! – als generell ethisch relativistisch verdächtigt? Denn es ist
eine historische Tatsache, dass die älteste erhaltene, aus dem Geiste des Natur-
rechts geborene umfassende Verurteilung von Sklaverei der Messenischen Rede
des Sophisten und Gorgias-Schülers Alkidamas (um v. Chr.) entstammt: “Der
Gott hat alle frei geschaffen, und keinen hat die Natur zum Sklaven bestimmt.”
(Um zu ermessen, wie sehr Alkidamas damit der Zeit voraus war: Noch vier Jahr-
hunderte später wird der christliche Apostel – darin nicht unähnlich einem heid-
nischen Christen-Verfolger – nur zur nachsichtigen Behandlung eines Sklaven
aufrufen, nicht aber gegen Sklaverei als solche opponieren.)
“Durch jede philosophische Schrift geht, und wenn es auch noch so wenig sicht-
bar würde, ein gewisser polemischer Faden; wer philosophiert ist mit den Vor-
stellungsarten seiner Vor- und Mitwelt uneins, und so sind die Gespräche des
Plato oft nicht allein auf etwas, sondern auch gegen etwas gerichtet.”
. Plato, als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung. In: J.W.Goethe, Sämtliche Werke
nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Band ., hrsg. v. Klaus H.Kiefer u.a.,
München–Wien , –, (Hervorhebungen im Text).
. Zitiert nach: Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Band : Griechische Philosophie ,
Tübingen , –.
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
ten Reich” einging, macht das Exempel seiner Goethe-Rezeption doch eines
unmissverständlich deutlich: Es gab und es gibt Zeiten, in denen es der geistigen
Elite eines Landes – und wie ich vernahm, sollen dazu auch die Philosophen ge-
hören – allein zur Ehre gereicht, mit den Vorstellungsarten ihrer Mitwelt uneins
zu sein. Und diejenigen, die den Mut aufbringen, in solchen (Un-)Zeiten – aller
Gefahr zum Trotz – gegen die Tradition der Herrschenden aufzutreten – wie der
Münchner Philosophieprofessor Kurt Huber, der während des braunen Terrors
“am meisten philosophisch Recht behalten” und “am teuersten dafür bezahlt”
hat –, sind das wirklich ethische Relativisten oder nicht vielmehr Menschen, die
ihrem Gewissen folgen?
Oder denken wir an die von Zecha als grotesk angeprangerte Sklaverei. Wenn
es nicht in der Geschichte Persönlichkeiten gegeben hätte, wie den Sophisten Alki-
damas, die gegen diese über Jahrtausende hinweg herrschende Tradition aufgetre-
ten wären, wir würden das Groteske dieser Institution gar nicht empfinden und
Sklaverei wäre heute nicht weltweit geächtet! (Was leider nicht bedeutet, dass es
sie de facto nicht mehr geben würde: Freilich sind anders als in der Antike nicht
mehr Philosophen von Versklavung bedroht; dafür aber jene Frauen und Kin-
der, die den Menschenhändlern der organisierten kriminellen Sex-Industrie zum
Opfer fallen.) Jeder ethische Fortschritt beginnt mit der Skepsis gegenüber den
herrschenden Traditionen! Und vom (wahren) Philosophen gilt das, was der elisa-
bethanische Dichter Sir Philip Sidney einst von seinen Zunftgenossen forderte:
“Now for the Poet, he nothing affirmeth and therefor never lieth”!
. Ich folge hier Gereon Wolters, Philosophie im Nationalsozialismus: der Fall Oskar Becker,
in: Annemarie Gethmann-Siefert/Jürgen Mittelstraß (Hg.): Die Philosophie und die Wissen-
schaften: zum Werk Oskar Beckers, München , –, (beachte auch: , *-Fn; Wol-
ters’ Aufsatz ist weit über die “Gelegenheit” Oskar Becker hinaus eine hervorragende Be-
standsaufnahme der Philosophie im Nationalsozialismus und daher sehr zu empfehlen).
. Wolters, a.a.O., .
. Dabei ist nicht nur an Lukians Satire Vitarum auctio zu denken, sondern auch an den Be-
richt des Diogenes Laertios (III ; zit. nach d. Übers. v. Otto Apelt, Hamburg ) über
Platons Verkauf in die Sklaverei. Tröstliches dazu lesen wir bei Frank R.Pfetsch, Theoretiker
der Politik. Von Platon bis Habermas, Paderborn , : “Versklavung muß ein Wissen-
schaftler heute nicht mehr fürchten, auch wenn eine Ermordung nicht ganz ausgeschlossen
werden kann.” (Pfetsch spielt damit auf die Tötung des italienischen Regierungsberaters
Biagi durch die “Roten Brigaden” an.)
. Dazu informativ Robert F.Oberloher, Moderne Sklaverei im OK-Netz, Wien .
. So bereits der englische Aristotelesforscher Sir Alexander Grant in den er Jahren des
.Jahrhunderts: “If physical philosophy begins in wonder, ethics may be said to have begun
in scepticism”; prominent zitiert bei W.K.C.Guthrie, A History of Greek Philosophy, vol.III:
The Fifth-Century Enlightenment, Cambridge–London–New York–Melbourne , .
. Zitiert nach: Helmut Heißenbüttel, Zur Kritik des Bildes vom Schriftsteller, in: Horst Bin-
gel (Hg.): Phantasie und Verantwortung, Frankfurt/M. , –, . Näheres über Sidney
PETER DANIEL MOSER
Goethes Wort, dass das Uneins-Sein mit Vor- und Mitwelt das Wesen der Phi-
losophie ausmache, lässt sich auch konkret an den Beispielen von Platon und
Protagoras belegen. Dass Protagoras gegen die herrschende Tradition auftrat, be-
zeugt vor allem eine biographische Überlieferung: Er wurde – freilich nicht anders
als später Sokrates auch – von den Athenern der Gottlosigkeit angeklagt. Ander-
seits aber, und darauf hat Olof Gigon mit Recht aufmerksam gemacht, eignet der
Sophistik, “die den spekulativen Wissenschaften zum ersten Male eine ethische
Wissenschaft gegenüberstellte”, mit dem Anspruch, ein für das Leben als Bürger
unentbehrliches Wissen zu vermitteln, nun auch ein staatskonservatives Element.
Und Platon? Ihm “war der Geist des .Jahrhunderts v. Chr. ebenso ‘fremd und
unsympathisch’ wie Wittgenstein der Geist des .Jahrhunderts”. Vergessen wir
auch nicht: Platon hielt – nach einer Bemerkung seines Sokrates (R d) zu
schließen – die Realisierung seines “gerechten Staats” zwar für schwierig, doch
nicht für unmöglich, woraus sich zwangsläufig die Opposition zu den in der
politischen Wirklichkeit vorfindlichen Staatsformen ergeben musste. Nicht zu-
letzt zur athenischen Demokratie. (Ist Platons Kritik daran womöglich ein Be-
weis für deren Effizienz?) Seine Ambitionen, selbst politisch wirksam zu werden,
insbesondere die überlieferten Reisen nach Sizilien, endeten je im Fiasko – mag es
nun wahr sein oder nicht, dass der größte Philosoph des Altertums (horribile dic-
tu!) auf dem Sklavenmarkt verscherbelt wurde wie ein Stück Kriegsbeute.
Zechas Gedankengang führt somit zu einem paradoxen Ergebnis: Wäre er rich-
tig, wäre nämlich auch Platon, der in politicis noch entschiedener gegen die damals
herrschende Tradition aufgetreten ist, als extremerer Relativist anzusehen…
So zeigt sich, dass der Autor keine sachlich fundierten Gründe für einen “poin-
tierten ethischen Relativismus” bei Protagoras vorträgt, sondern nur dem alten Vor-
urteil über die Sophistik neue Nahrung gibt. Einem Vorurteil, dessen Unzeitge-
und sein Verhältnis zu Shakespeare jetzt bei Annemarie Maeger: Sir Philip Sidney & William
Shakespeare – Vorbild und Vollender. Zwei große Dichter in neuem Licht, Hamburg .
. Vgl. Diog.Laert. IX .
. Olof Gigon, Studien zu Platons Protagoras, in: ders., Studien zur antiken Philosophie, Ber-
lin–New York , –, .
. Ebenda.
. Thomas Alexander Szlezák, Sechs Philosophen über philosophische Esoterik, Zeitschrift für
philosophische Forschung (), –, .
. Vgl. dazu Herfried Münkler, Das Ende des Utopiemonopols und die Zukunft des Utopi-
schen, in: Richard Saage (Hg.): Hat die politische Utopie eine Zukunft? Darmstadt ,
–, .
. Vgl. dazu Karl Mittermaier/Meinhard Mair, Demokratie. Die Geschichte einer politischen Idee
von Platon bis heute, Darmstadt , –.
. Dies deutet jedenfalls Wolfgang Schuller in: Hermann Ament u.a.: Frühe Völker Europas,
Stuttgart , , an.
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
mäßheit Jürgen Busche in seinem Festvortrag anlässlich des Kongresses des Deut-
schen Altphilologen-Verbandes von aufzeigte, als er darauf hinwies, dass zu
dem Vorzug, Recht zu haben – wenn man denn Recht hat – auch die Pflicht ge-
hört, das für Recht Erkannte durchzusetzen. So gut es ist zu sehen, wo Platon
gegen die Sophisten Besseres verteidigt, darf deshalb doch deren Lehre, sich und
seinen Standpunkt in der Öffentlichkeit erfolgreich zu behaupten, nicht schlecht-
gemacht werden. “In Deutschland aber war es üblich geworden, mit dem Sieger
der Geschichte, Platon, die Sophisten, die Verlierer in der Welt hierarchisierter
Werte, und das, wofür die Sophisten standen, zu verspotten, geringzuachten,
schließlich: ihr Können zu vergessen.”
Dem ist nichts hinzuzufügen. Da die von Busche angesprochene Mentalität phi-
losophiehistorischer “Siegerjustiz” anscheinend nicht so leicht zu überwinden ist,
kann ich nur meinen schon vor Jahren geäußerten Wunsch nach einem Paradig-
menwechsel beim Umgang mit griechischer Philosophie wiederholen und bekräf-
tigen: Jeder antike Denker hat das Recht, objektiv und vorurteilsfrei behandelt zu
werden – unabhängig davon, ob ihn die bisherige Philosophiegeschichtsschrei-
bung als “Philosoph” oder als “Sophist” einstuft.
. Jürgen Busche, Klassische Philologie nach dem Ende des “Silbernen” Humanismus, Gym-
nasium (), –, .
. Peter Daniel Moser, Paradigmen, Paradigmenwechsel und geistige Revolutionen in Platons
Dialogen, in: Michael W.Fischer/Paul Hoyningen-Huene (Hg.): Paradigmen, Frankfurt/M.
, –, .
. Ebenso betonen Kerferd und Flashar, Sophistik, a.a.O., , dass man die Sophistik nicht
insgesamt von der Philosophie trennen darf.
. Dalfen, a.a.O., .
. Ebenda.
PETER DANIEL MOSER
sophiehistoriker. Für beide stellt es – um in dem von Zecha gewählten Bild zu blei-
ben – ein grobes Foul im Interpretations-Spiel dar, wenn sich ihr Urteil nicht auf
das gesamte verfügbare Textmaterial stützt, sondern wenn Teile davon “ausge-
spart” bleiben. Eben dies ist jedoch bei Zechas Urteil über Protagoras der Fall.
Zecha lässt etwa all jene Belegstellen unberücksichtigt, die Protagoras vom Vor-
wurf des pointierten ethischen Relativismus entlasten würden, nicht zuletzt die
biographische Notiz, dass Protagoras mit der Gesetzgebung für die Stadt Thurioi
betraut worden sein soll. Nun ist die Vitenliteratur über griechische Philosophen
zwar stets mit größter Vorsicht zu genießen; wenn wir aber im Zweifel von der
Authentizität dieses Berichts ausgehen: Ist es denkbar, dass man jemand für dieses
Amt ausgewählt hätte, der keine sittlichen Maßstäbe kennt und anerkennt (was
ja das Wesen eines pointierten ethischen Relativisten ausmacht)? Zumal wenn wir
den hohen Rang und die Wertschätzung uns vor Augen halten, die in der Antike
dem Gesetzgeber einer Polis eingeräumt wurden?
Weit schwerer wiegt jedoch, dass nicht einmal Platon, den Sophisten wahrlich
nicht gut gesonnen, Protagoras als extremen ethischen Relativisten zeichnet. Denn
während er Kallikles als dem Ideologen des “Herrenmenschen” , Polos (vgl. insb.
Go ), Gorgias moralisch Anrüchiges in den Mund legt und bei Thrasymachos
zumindest diesen Eindruck erwecken will, verhält es sich bei Protagoras in dem
. Der Begriff ist hier im allgemeinen Sinne verwendet und nicht in jenem, den er in der sog.
“Tübinger Platoninterpretation” hat, die davon ausgeht, dass Platon das Wichtigste seiner
Lehre nicht habe schriftlich niederlegen wollen und dieses also in seinen Dialogen “ausge-
spart” habe (vgl. etwa T.A.Szlezák, Platon lesen, Stuttgart ).
. Diog.Laert. IX .
. Darauf verweist insbesondere auch Heinrich Dörrie, Protagoras, in: Der Kleine Pauly –
Lexikon der Antike IV, München , Sp. f.
. Vgl. Moser, Paradigmen, a.a.O., .
. Dieser beruft sich darauf, dass, wenn sich ein Rhetor und ein “studierter” Arzt in einer Stadt
um eine Arztstelle bewürben, der besser auftretende Redner siegen würde (Go bc ). Das
Gegenargument dazu: “Ich würde mich bei Bedarf aber auch nicht von einem hauptamtlich
feschen Chirurgen operieren lassen, sondern selbstverständlich von einem fähigen.” Aber sagt
das der platonische Sokrates – oder nicht doch ein Intellektueller unserer Tage (André Heller
in einem Interview mit den Salzburger Nachrichten vom .Nov., )? Wie auch immer,
um mit Goethe (Maximen und Reflexionen Nr.) zu sprechen: “Die Constanz der Phäno-
mene ist allein bedeutend”. Und manchmal auch erschreckend. Wurde übrigens der histori-
sche Gorgias so alt (angeblich über Jahre), weil er doch oder weil er im Bedarfsfall wirk-
lich nicht zum Arzt gegangen ist? Leider können wir darüber nur noch spekulieren.
. Die Frage, ob dessen Diktum von der Gerechtigkeit als dem “Vorteil des Stärkeren” (R
c) normativ oder deskriptiv zu verstehen ist, dürfte heute zugunsten der letzteren Ansicht
geklärt sein; vgl. etwa Guthrie, History III ; Andreas Graeser, Die Philosophie der Antike :
Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles, München , ; Kerferd/Flashar, a.a.O.,
f. Vgl. dazu auch die sehr ausführliche Erörterung des Problems bei Klaus Friedrich
Hoffmann, Das Recht im Denken der Sophistik, Stuttgart–Leipzig , –.
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
nach diesem benannten Dialog doch anders: Protagoras streitet sich darin mit So-
krates über die Lehrbarkeit der Tugend, deren Geltungsanspruch vom Sophisten
aber durchaus anerkannt wird. Dass Platon dem Protagoras zugesteht, eine ernst-
zunehmende Persönlichkeit (gewesen) zu sein, wird am Ende des Dialogs deut-
lich, wo dieser den Sokrates quasi als seinen Nachfolger als geistigen Primas Grae-
ciae inthronisiert; mehr aber noch dadurch, dass er das Oberhaupt der Sophisten
einen Mythos vortragen lässt (was in der Regel dem Gesprächsführer der Dialoge
vorbehalten bleibt). Protagoras erläutert darin, dass im Gegensatz zu den hand-
werklichen Fertigkeiten, in denen jeweils nur einige begabt sind, an (dem Gefühl
für) Recht und Scham alle Menschen Anteil haben: “Ja” – so gibt Zeus dem Her-
mes Bescheid – “du sollst in meinem Namen ein Gesetz geben, daß, wer nicht
imstande sei, sich Scham und Recht zu eigen zu machen, dem Tod verfallen sei;
denn er ist ein Geschwür am Leibe des Staates.” So spricht kein von Wertblind-
heit Umdüsterter! Dies dürfte wohl auch Zecha zugestehen, der den Kulturent-
stehungsmythos zwar beiläufig erwähnt, aber bemerkenswerterweise mit keinem
Wort auf den zitierten Satz eingeht.
Freilich: Auch wer (wie Zecha) (fast) nur den Theaitet in den Blick nimmt,
kommt bei korrektem Vorgehen zu keinem andern Ergebnis. Denn Platon lässt
in diesem Dialog Protagoras dadurch Gerechtigkeit widerfahren, dass Sokrates
selbst darin eine breitangelegte fiktive Verteidigungsrede des Protagoras vorträgt,
in der für weise derjenige erklärt wird, “der in einem von uns, dessen Erschei-
nungs- und Seinswelt eine schlechte ist, eine Umwandlung dahin zu bewirken
weiß, daß sie eine gute wird” (Th d). Mit Blick auf die erwähnten Grundsätze
. Ebenso verweist Felix Heinimann darauf, dass Platon “Protagoras im Gegensatz zu andern
Sophisten immer mit Achtung behandelt”; Nomos und Physis – Herkunft und Bedeutung ei-
ner Antithese im griechischen Denken des .Jahrhunderts, Darmstadt , Fn.. (Dieser
Nachdruck von Basel ist zweifellos eine der ruhmvollsten Taten der Wissenschaftli-
chen Buchgesellschaft Darmstadt, da Heinimanns Buch auch heute noch unverzichtbar
ist!)
. Gigon, Protagoras, : “Und überall sonst bei Platon ist es Sokrates (oder wer in den Spät-
dialogen an seine Stelle tritt), der den Logos und den Mythos vorträgt.” Vgl. auch Platons
Mythen, ausgew. u. eingel. v. Bernhard Kytzler, Frankfurt/M.–Leipzig , . Die andere
wichtige Ausnahme ist der Mythos vom Kugel-Urmenschen, den Aristophanes im Symposion
erzählt (S cff.)
. Pr d. Moderne Staaten folgen diesem Rat des Zeus/Protagoras nicht nur durch Verhän-
gung und Exekution der Todesstrafe, sondern auch mit dem Ausschluss bestimmter Straf-
täter vom Wahlrecht; Klaus Adomeit, Antike Denker über den Staat, Heidelberg , .
. Ebenso Hans-Wolfgang Krautz im Kommentar zur Reclam-Ausgabe des: Protagoras. Grie-
chisch/Deutsch, Stuttgart , .
. Zecha, Spiel, f.
. Ebenso Udo Bredow/Annemarie C.Mayer, Der Mensch – das Maß aller Dinge? Ant-
worten großer Denker, Darmstadt , .
PETER DANIEL MOSER
seriöser Philosophiehistorie müssen wir uns wundern, dass Zecha auch diese Dia-
logpassage in seinem Urteil über Protagoras unberücksichtigt lässt.
Platon perzipiert Protagoras primär als Denker und nicht als Redner. Dies un-
terscheidet ihn von späteren und daher an Verlässlichkeit prinzipiell nachrangi-
gen Quellen. Wenn etwa Aristoteles Protagoras das Programm zuschreibt, zu
lehren, wie man die schwächere Rede zur stärkeren macht, so gilt dieser Vor-
wurf nicht einer konkreten Person, sondern dem Inbegriff der Sophistik, so wie
diese schon von Aristophanes – dort in der Gestalt des Sokrates – aufs Korn ge-
nommen worden war.
Ausführlicher als mit den Quellen beschäftigt sich Zecha mit dem Problem,
ob mit xrªmata auch Werte gemeint sein können. Der Verneinung dieser Frage
durch den Philosophiehistoriker Copleston begegnet er dabei mit Unverständnis:
“Diese Äußerung ist mir [scil. Gerhard Zecha] allerdings nicht nachvollziehbar,
weil Platon selbst den Satz des Protagoras auf ethische Kategorien anwendet”.
Diese Äußerung ist nun wiederum mir, Peter Daniel Moser, nicht nachvollzieh-
bar, weil Zecha selbst (auf der unmittelbar vorhergehenden Seite!) den Satz des
Protagoras (= .Stufe) von den Interpretationen Platons (= .Stufe) unterscheidet.
Dass mir nicht nachvollziehbar ist, dass Gerhard Zecha etwas nicht nachvollzieh-
bar ist, was er selbst eine knappe Seite zuvor als Unterscheidung eingeführt hat,
dies ist schließlich aber, wie ich hoffe, der geneigten Leserin, dem geneigten Leser
nachvollziehbar.
Selbstverständlich besteht zwischen dem verloren gegangenen Text des Protago-
ras und dessen Wiedergabe in den platonischen Dialogen ein grundsätzlich zu
berücksichtigender Unterschied, so dass wir nicht (oder zumindest nicht ohne wei-
teres) davon ausgehen können, dass Platons Interpretation mit der ursprünglichen
protagoreischen Lehre wirklich deckungsgleich ist. Bei allem schuldigen Respekt:
Zechas Äußerung (S. Anm. ) entspricht nicht unbedingt jenem Stand der
Quellenkritik, der in der Platonliteratur inzwischen erreicht wurde. In gewissem
Sinne stellt es sogar eine merkwürdige Geringschätzung Platons dar, wenn er des-
. Dies lässt sich an einem aktuellen Beispiel aus einem anderen Bereich der Altertumswissen-
schaft belegen: Aloys Winterling, Caligula, München . Winterling korrigiert das Bild
vom “Cäsarenwahn” des Kaisers, indem er zeigt, dass keine zeitgenössische Quelle diesen
nachweist.
. Arist. Rhet. a f. (= DK A).
. Aristoph. Nub. –, f.
. Spiel, Anm..
. Spiel, Anm..
. Vgl. stellvertretend für den heutigen Stand der Forschung in dieser Frage Dana R.Miller,
The Third Kind in Plato’s Timaeus, Göttingen , : “Neither Plato’s treatment of Prot-
agoras […] nor Aristotle’s treatment of Plato […] displays an interest in clarifying for us what
those authors’ real views were or how we should understand statements cited from their
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
works.” Platon war also nicht Protagoras’ getreuer Eckart oder auch Eckermann; “denn” –
so seine eigene Maxime bei der Behandlung philosophischer Sentenzen – “auf alle Fälle
haben wir nicht darauf zu achten, wer es gesagt hat, sondern ob es mit Recht behauptet
wird oder nicht” (Ch c); Jörg Hardy, Platons Theorie des Wissens im “Theaitet”, Göttin-
gen , Fn..
. Vgl. Dalfen, Platon, Fn., unter Hinweis auf Paul Friedländer, Platon II, Berlin ,
f. Tatsächlich ist der Kriton der rechtsphilosophisch bedeutendste Dialog Platons, als
darin das Grundproblem aller Rechtsphilosophie angesprochen ist: Kann wirklich jegliches
Recht Gehorsam beanspruchen?
. In der aktuellen Literatur habe ich überhaupt nur einen Autor gefunden, der Zechas Mei-
nung teilt: den Erziehungshistoriker Christoph Lüth. Das Lüth-Urteil lautet: “Protagoras
kam in seinen philosophischen Untersuchungen zu dem Ergebnis eines radikalen erkenntnis-
theoretischen und ethischen Relativismus.”; C.L., Die griechischen Sophisten – Lehrer, Red-
PETER DANIEL MOSER
jenen drei Gelehrten, auf die sich Zecha beruft: Erik Wolf, Alfred Verdross und
Klaus Friedrich Hoffmann.
Nicht geteilt wird sie von Erik Wolf: “[…] war Protagoras zwar ein Relativist,
aber kein Nihilist […] Protagoras wußte wohl, daß ein a b s o l u t e r ethischer
Relativismus nicht minder als ein logischer unsinnig ist”.
Nicht geteilt wird sie von Alfred Verdross: “Der gemäßigte Rechtsrelativismus
(Protagoras)” [im Gegensatz zu] “Der radikale Rechtsrelativismus (Gorgias und
Thrasymachos)”
Nicht geteilt wird sie von Klaus Friedrich Hoffmann: “Weit entfernt davon, ei-
nem schrankenlosen Relativismus Tür und Tor zu öffnen, hält Protagoras in Fragen
des Nutzens an der Möglichkeit objektiver Wahrheitserkenntnis fest und behält
dem sófoß die Rolle des darin kompetenten Fachmannes vor.”
ner, Gesandte, Forscher und Gelehrte: Eine der Ursachen des sozialen und politischen Wan-
dels im .Jhdt.v.Chr.?, in: Rudolf W.Keck u.a. (Hg.), Literaten – Kleriker – Gelehrte: Zur Ge-
schichte der Gebildeten im vormodernen Europa, Köln–Weimar–Wien , –, (in
Verbindung mit Fn., in der L. behauptet, der Interpretation von Guthrie zu folgen). Diese
Instrumentalisierung von Guthrie ist indes ebenso falsch wie die Zechas von Wolf und Ver-
dross; vgl. Guthrie, a.a.O., Fn.: “Plato goes on to point out that, if Protagoras’ state-
ment is carried to its logical conclusion, it does lead to absolute relativism and subjectivism,
but makes it clear that this conclusion was not drawn by Protagoras (dff.)”. Ebenso Gus-
tav Grossmann, Platon und Protagoras, Zeitschrift für philosophische Forschung (),
bis , : “Platon läßt sowohl im Protagoras als auch im Theätet keinen Zweifel darüber,
daß Protagoras selbst, aus Weisheit, die zersetzenden Folgerungen aus seinem Satz nicht ge-
zogen, sondern sie als unweise Einseitigkeit abgelehnt hat.” Ebenso Arthur Kaufmann, Theo-
rie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. , : “Anders als die radikalen Relativisten Gorgias,
Thrasymachos, Epikur, Karneades und Kallikles hat aber Protagoras mit seinem Homo-
mensura-Gedanken einen gemäßigten Relativismus vertreten.” Und schließlich ebenso einer
der profundesten zeitgenössischen Kenner von Platon und Protagoras, Ernst Heitsch, Über-
legungen Platons im Theaetet (Abh.d.Geistes- und Sozialwiss.Klasse der Akademie der Wissen-
schaften und der Literatur Mainz, Jg., Nr. ), Stuttgart–Wiesbaden , Fn.: “
[…] wer also keinen radikalen Relativismus vertritt (was auch Protagoras nicht tut und nicht
tun kann, solange er lehren will), […]”; Hervorhebung im Text.
. Spiel, Anm. (für Wolf und Verdross); a.a.O., Anm. (für Hoffmann).
. Erik Wolf, Griechisches Rechtsdenken II: Rechtsphilosophie und Rechtsdichtung im Zeitalter der
Sophistik, Frankfurt/M. , .
. Ebenda, (Hervorhebung im Text!).
. Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, Wien , (Hervorhebung im Text!)
. Ebenda, .
. K.F.Hoffmann, Recht, ; vgl. nunmehr ders., Überlegungen zum Homo-mensura-Satz
des Protagoras, in: Stephan Kirste/Kay Waechter/Manfred Walther (Hg.), Die Sophistik.
Entstehung, Gestalt und Folgeprobleme des Gegensatzes von Naturrecht und positivem Recht,
Stuttgart , –, : Danach ist Protagoras “Vertreter einer objektiv erkennbaren ‘Nut-
zenwahrheit’, deren Relativismus sich auf die Erkenntnis beschränkt, daß nicht jedem das-
selbe nützt, sondern der Nutzen sich nach den Bedürfnissen des Nutznießers richtet.”
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
Es stellt sich die Frage, wie es möglich war, dass Zecha übersehen hat, dass die
von ihm zitierten Autoren tatsächlich – und zwar zum Teil deutlich hervorge-
hoben (!) – das Gegenteil vertreten. Und weiters stellt sich die Frage: Wenn die
Untersuchung des HMS durch Hoffmann doch so “besonders ausführlich und
kenntnisreich” ist, wie Zecha zutreffend bemerkt , warum versteift er sich dann
so apodiktisch auf die konträre Ansicht, ohne diese “besonders ausführlich und
kenntnisreich” durch entsprechende Belege des sophistischen Rechtsdenkens zu
stützen? Also kommt es nicht nur darauf an, ein Urteil “auf das gesamte Mate-
rial” zu stützen, sondern auch darauf, beim “Spiel” der Interpretation die vorge-
gebenen Regeln einzuhalten.
Im Übrigen: Auch wenn wir Werte in den Geltungsbereich des HMS einbezie-
hen, führt dies nicht zwingend zu Wertrelativismus. Denn wenn ich das empiri-
sche Faktum (!) zur Kenntnis nehme, dass andere Menschen von anderen Werten
ausgehen beziehungsweise Werte anders interpretieren als ich, folgt daraus ja nicht
die Notwendigkeit, dass ich meine eigenen Wertmaßstäbe in Frage stelle oder gar
aufgebe. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass ich weiterhin an meiner eigenen Wert-
orientierung festhalte. Ein Beispiel aus der aktuellen ethischen Debatte verdeutlicht
dies. Die Frage der Legitimität der Verwendung embryonaler Stammzellen zu me-
dizinischen Forschungszwecken hängt nicht unwesentlich davon ab, von welchem
Zeitpunkt als dem Beginn menschlichen Lebens wir ausgehen. Darüber aber sind
die Konfessionen unterschiedlicher Auffassung. Wenn nun, sagen wir, ein gläubi-
ger Katholik, der aufgrund seiner religiösen Überzeugung embryonale Stamm-
zellenforschung ablehnt, mit einem Juden ins Gespräch kommt und dabei erfährt,
dass dieser eine andere Vorstellung vom Beginn menschlichen Lebens vertritt, so
ist deswegen doch nicht zu erwarten, dass er seine ablehnende Haltung plötzlich
aufgibt und auf die Position seines jüdischen Gesprächspartners einschwenkt, für
den der wissenschaftliche Gebrauch der Stammzellen unproblematisch ist. (Viel
größer ist wahrscheinlich die Gefahr, dass er nicht relativistisch, sondern im Ge-
genteil ethnozentrisch reagiert und diesen Dissens als Beweis für die eigne morali-
sche Superiorität ansieht.)
Belege für ein Verhalten, das dem kulturellen Ethnozentrimus entspricht, finden
sich bereits bei den antiken Historikern. Einschlägig ist der Bericht des Herodot
über das Experiment des Dareios, der Griechen und Inder mit den Bestattungssit-
ten des jeweils anderen Volkes konfrontiert: Weder sind die Griechen bereit, von
ihren Toten zu essen, noch die Inder, ihre Angehörigen zu verbrennen. Herodots
fabula docet lautet, dass jedes Volk seine eignen Sitten und Gebräuche für die bes-
ten hält und nur ein Wahnsinniger darüber spotten und dies ändern wollte. Und
wenn Tacitus Römer und Juden miteinander vergleicht und zum Schluss kommt,
“dort bei den Juden ist alles unheilig, was bei uns heilig ist; anderseits ist bei ihnen
gestattet, was wir als Greuel betrachten”, dann zielt er nicht auf die prinzipielle
Gleichwertigkeit der Lebensweisen, sondern will vielmehr das fremde “Geschlecht
als gottverhaßt” denunzieren! (Nota bene: Broschüren mit Tacitus’ antisemiti-
schen Invektiven kursierten zu Beginn des .Jahrhunderts in Wien und in Linz.
Einer ihrer begeistertsten Leser war ein junger Mann aus dem Innviertel …)
Nochmals: auch wenn ich akzeptiere, dass prinzipiell jeder Mensch und jede
Kultur verschiedene Wertvorstellungen haben, folgt daraus zwar die Erkenntnis,
dass Werturteile vom individuellen Standpunkt beziehungsweise einer kollektiv
anerkannten Tradition abhängen – dies ist nach meinem Verständnis (noch) nicht
Relativismus! –, aber keineswegs zwingend die – tatsächlich relativistische – Auf-
fassung, dass jedes Werturteil und jede darauf gegründete Verhaltensweise gleiche
Richtigkeit beanspruchen können. Kronzeugen für diese Feststellung sind die von
. Herodot III . Heinimann, Nomos, , vermutet, dass der “Vater der Geschichtsschrei-
bung” dabei Protagoras folgt. Tatsächlich zitiert Michel de Montaigne in seinem Essai
“Über die Gewohnheit und daß man ein überkommenes Gesetz nicht leichtfertig ändern
sollte” sowohl die Dareios-Anekdote als auch eine interessante Neuigkeit über den freilich
nicht namentlich erwähnten Protagoras: “Der Gesetzgeber der Thurier [i.e. Protagoras] be-
stimmte, daß jeder, der ein altes Gesetz abschaffen und ein neues einführen wolle, mit dem
Strick um den Hals vors Volk treten müsse, damit er, falls die Neuerung nicht von jedermann
gebilligt würde, auf der Stelle erdrosselt werden könne”; Montaigne, Essais. Erste moderne
Gesamtübersetzung v. Hans Stilett, Frankfurt/M. , –, , . Zu Herodot und
Montaigne als “Kulturrelativisten” vgl. Maurizio Bettini, mos, mores und mos maiorum:
Die Erfindung der “Sittlichkeit” in der römischen Kultur, in: Maximilian Braun u.a. (Hg.):
Moribus antiquis res stat Romana: römische Werte und römische Literatur im . und .Jh. v. Chr.,
München , –.
. Tac. hist. V (zit.nach: Tacitus, Historien. Lat./Deutsch, hg. v. Joseph Borst, München
).
Zecha selber herangezogenen Autoren Verdross, Wolf und Hoffmann, die zwar
darin übereinstimmen, dass Werte in den Geltungsbereich des HMS hineinfal-
len, aber ebenso auch darin, dass sie allesamt einen absoluten, radikalen oder
schrankenlosen (ethischen) Relativismus bei Protagoras kategorisch verneinen.
Gerhard Zechas These vom pointierten ethischen Relativismus, den er dem
Philosophen aus Abdera unterstellt, lässt sich also im Lichte der Quellen nicht auf-
rechterhalten. Sie beruht auf der problematischen Vernachlässigung wichtiger Be-
standteile der Primärliteratur und der missbräuchlichen Inanspruchnahme von ge-
genteiligen Aussagen der Sekundärliteratur (Wolf, Verdross, Hoffmann). Summa
summarum stellt sie ein durch die Quellen nicht zu stützendes Urteil über einen
bedeutenden antiken Denker dar.
Die bisherige Analyse hat gezeigt, dass eine Interpretation des HMS allein auf der
Basis des Theaitet nicht zum Ziele führt. Es muss vielmehr die Auslegung im Ge-
samtzusammenhang der platonischen Dialoge sowie unter Anschluss an die vor-
platonischen Zeugnisse antiken Denkens versucht werden. Denn praktisch von
Anfang an wird in der griechischen Philosophie das Problem der Verlässlichkeit
menschlichen Urteilens diskutiert. Eine radikal pessimistische Haltung nahm etwa
Heraklit von Ephesos (floruit ca. v. Chr.) ein:
Und:
“Für Gott ist alles schön und gut und gerecht; nur die Menschen haben das
eine als ungerecht, das andere als gerecht angenommen.”
Dieselbe Trias – aber vor einem gewandelten Hintergrund! – begegnet uns in Pla-
tons Euthyphron. Darin hält Sokrates fest, dass es zwei Arten von Meinungsver-
schiedenheiten gebe. Die einen – über Mehr oder Weniger, Größer oder Kleiner,
Schwerer oder Leichter – ließen sich ziemlich rasch beilegen: durch Abzählen,
Abmessen, Abwiegen. Dagegen aber
. Wolf, a.a.O., ; Verdross, a.a.O., ; im Ergebnis auch K.F.Hoffmann, Recht, Fn..
. Bedeutend u.a. deshalb, da Platon uns Protagoras als Pionier des heute allgemein aner-
kannten strafrechtlichen Präventionsgedankens überliefert. Darauf gehe ich näher ein in:
Paradigmen, a.a.O., –.
. DK B u. . Eingehende Interpretation in: Peter Daniel Moser, Heraklits Kampf
ums Recht. Ein antiker Beitrag zur Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. .
PETER DANIEL MOSER
“das Gerechte und das Ungerechte, das Schöne und das Häßliche, das Gute
und das Böse. Sind das nicht die Gegenstände, bei denen Meinungsverschie-
denheit und Unvermögen zu einer genügenden Entscheidung über sie zu kom-
men, dahin führen, dass wir einander feind werden, im Falle wir es werden,
ich und du und alle anderen Menschen?” (En b–d)
Und wie um das zu beweisen, können sich Sokrates und Euthyphron über ihr Ge-
sprächsthema, das Wesen des Frommen, nicht einigen…
Mit Nachdruck sei betont, dass die Unterscheidung zwischen operational über-
prüfbaren Urteilen einerseits und solchen über ethische und ästhetische Katego-
rien anderseits vorplatonischen Ursprungs ist. Sie bezeugt die Leistungen der grie-
chischen Mathematik, deren Anfänge auf das zweite Viertel des . Jahrhunderts
vor Christus datieren; und möglicherweise steht hinter dieser “Hochschätzung
der Zahl” auch das “Zweckmäßigkeitsdenken der Sophistik”, insofern als die
Trias Maß-Gewicht-Zahl erstmals bei Gorgias – in der Verteidigungsrede des my-
thischen Kulturgründers Palamedes – belegt ist.
Hat aber Gorgias’ Zeitgenosse Protagoras diese Unterscheidung mitvollzogen?
Der platonische Protagoras jedenfalls erwähnt Maß, Gewicht und Zahl in sei-
nem Kulturentstehungsmythos nicht. Und während Mathematik-Fan Sokrates sei-
ne Position “anhand eines quantifizierenden Wägemodells” darlegt und auf das
Lebensrettende der Messkunst verweist (Pr d), gibt sich Protagoras als Literatur-
liebhaber, der es für den wichtigsten Teil der Bildung hält, über die Werke der
Dichter Bescheid zu wissen ( e– a) – eben der Dichter, auf die er sich zuvor
( d) als auf die wahren Ahnherren der Sophistik berufen hat. Dass Protagoras
im Dialog seine Argumente aus der Welt des Erzählens und nicht der des Zählens
nimmt, könnte dem Charakter der historischen Figur durchaus entsprechen. Schil-
dert uns unabhängig davon doch auch Aristoteles den Philosophen als einen gegen-
. Vgl. Gigon, Platons Euthyphron, in: ders., Studien, a.a.O., –, f.
. Vgl. Hans-Joachim Waschkies, Mathematische Schriftsteller, in: Ueberweg/Flashar, a.a.O.,
–, .
. Felix Heinimann, Mass-Gewicht-Zahl, Museum Helveticum (), –, .
. “Denn wer machte das menschliche Leben begehbar aus dem Weglosen […], indem er […]
fand […] Maße und Gewichte als Tauschbahnen für den Austausch, die Zahl als Wächter
der Dinge”; Gorgias v. Leontinoi: Reden, Fragmente und Testimonien, hg. m. Übers. u. Komm.
v. Thomas Buchheim, Hamburg , fr.a. Vgl. aber Josephus Flavius, Jüdische Altertümer
I , über den Brudermörder Kaïs (= Kain): “Die bisherige Einfachheit der Lebensweise
veränderte er durch Erfindung von Maß und Gewicht und verkehrte die Unschuld und
Arglosigkeit des Wandels, sowie den Adel des Geistes in Verschlagenheit und Pfiffigkeit.”
(Übersetzung: Heinrich Clementz, Dreieich–Wiesbaden , )
. Krautz, a.a.O., .
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
. Arist. Metaph. a– (= DK B ). Umgekehrt wird auch das große Interesse des Prot-
agoras an sprachlichen und literarischen Fragen von Aristoteles bezeugt (DK A u
A). Dies weist auf eine geistige Signatur des Protagoras hin, die in markantem Gegensatz
steht zu der des Platon, der seinen Zeitgenossen ja geradezu als “Geometer” vorkam (Plut.
Mor. a-d; dazu zuletzt Reviel Netz, Plato’s Mathematical Construction, The Classical
Quarterly [], –). Übrigens, mag auch die Beschäftigung der Sophistik mit Lite-
ratur “noch eingebettet in ein umfassendes Interesse insbesondere für die Sprache als das
Grundinstrument der Menschenlenkung” gewesen sein (vgl. Joachim Latacz, Homer. Der
erste Dichter des Abendlandes, Düsseldorf–Zürich , ), um wieviel harmloser nimmt
sich doch Protagoras’ Tadel an Homer (Arist. Poet. b– = DK A) in Vergleich
zu Platons Zensur-Gehabe aus!
. Betont man: Der Mensch ist das Maß aller Dinge, dann lässt sich hinzudenken: und nicht
Gott. Betont man aber: Der Mensch ist das Maß aller Dinge, so kann das als Hinweis auf
die kritische Vernunft des Menschen gedeutet werden. Und betont man schließlich: Der
Mensch ist das Maß aller Dinge, so kann das wiederum heißen, dass andere Lebewesen, die
ja keine Dinge sind, nicht der geistigen oder faktischen Verfügungsmacht des Menschen
unterworfen sind. Soweit dies göttliche Wesen einschließt, kommen wir so zum genauen
Gegenteil der erstgenannten Interpretation. Auf das Kriterium Dinge stellt insbesondere
die Deutung von K.F.Hoffmann ab: “Der Mensch ist das Maß aller Gebrauchsdinge (po-
tentiell nützlichen Dinge), derer, die (es) sind, daß sie (es) sind, derer, die (es) nicht sind,
daß sie (es) nicht sind.”; Recht, ; Überlegungen, .
. Mein Vorschlag, den HMS als In-Frage-Stellung von durch scheinbar exakte Messung er-
zielten Urteilen zu lesen (vgl. auch Graeser, Philosophie der Antike , Anm., zu mathe-
matischen Urteilen), wird indirekt gestützt durch das neue Buch des amerikanischen Wissen-
schaftshistorikers Ken Alder über die Findung des Meters als universelles Längenmaß;
K.A., Das Maß der Welt, übers. v. Yvonne Badal, München (im Original: The Measure
of all Things, New York ). Alder schildert darin anschaulich die Tätigkeit jener beiden
französischen Astronomen, die Ende des .Jahrhunderts den millionsten Teil der Entfer-
nung zwischen Pol und Äquator feststellen sollten: davon hat der eine seine Messergebnisse
gefälscht und der andere die Fälschungen seines Kollegen vertuscht! Demnach – so das ab-
schließende Fazit des Autors – “sind sogar unsere modernen, unpersönlichen Maße Produk-
te menschlicher Erfindungsgabe, menschlicher Leidenschaften und von Entscheidungen,
die bestimmte Personen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten trafen. Es gibt kein
PETER DANIEL MOSER
Nun hätte wohl auch Protagoras nicht bestritten, dass zwei und zwei vier gibt.
Dass sein Monitum indes nicht ganz unberechtigt ist, wird in einem Gebiet deut-
lich, das, in der Forschung bisher kaum beachtet, wichtiger Inhalt der sophisti-
schen Lehre gewesen sein könnte: Ökonomie. Der platonische Protagoras über-
lässt es jedem einzelnen Schüler, wieviel der zahlen wolle: entweder den geforder-
ten Betrag oder “wo nicht, so verfügt er sich in einen Tempel, erklärt eidlich, wie
hoch er den Wert meines Unterrichts schätzt und erlegt die entsprechende Sum-
me” (Pr bc). Wieviel eine Leistung wert ist, lässt sich zwar in einer quantifi-
zierbaren Größe (Geld) ausdrücken, aber obwohl die “Bedingung der Zählbar-
keit” erfüllt ist, sind Meinungsverschiedenheiten darüber nicht ausgeschlossen.
Vielmehr gibt es eine Bandbreite von Auffassungen, welcher Lohn gerecht sei. Das
Abgemessene muss nicht gleichbedeutend mit dem Angemessenen sein.
Platon fügt nun dem Zitat des HMS (K a; Th a) jeweils hinzu, Protago-
ras meine ihn so, wie jedem einzelnen etwas erscheine, so sei es dann auch für
diesen. Nun ist derlei keine umstürzlerische Neuheit gewesen, sondern nur Verall-
gemeinerung von etwas, was schon früher gedacht worden war – erinnert sei an
Anaximenes’ und Heraklits Aussagen über den Umfang der Sonne –, dennoch
dürfte gerade in diesem erläuternden Zusatz die grundlegende Differenz zwischen
den beiden Philosophen zum Ausdruck gelangen.
Denn Platon und Protagoras rechnen mit unterschiedlichen Menschenbildern.
Protagoras dachte wohl so: Zwar kann dem einen etwas lustig vorkommen, was
den andern zum Weinen bringt – so erhielt der Verfasser kürzlich zwei sehr kon-
träre Berichte über ein und dasselbe Gespräch, das zwei seiner Bekannten in sei-
ner Abwesenheit miteinander geführt hatten; die eine Person erinnerte sich an
eine “unterhaltsame” Begegnung, während die andere sie “deprimierend” fand –
, und derselbe Zeitgenosse erscheint bald kriegerisch, bald sanftmütig; aber dass
ein Mensch mit einem Pferd oder gar mit einer Mauer oder einem Schlacht-
schiff verwechselt wird, das liegt außerhalb des vernünftigerweise Denkbaren
und damit außerhalb des Wahr-Scheinlichen. Denn grundsätzlich haben ja alle
Entkommen aus dem Leitsatz, den Protagoras vor Jahren formulierte: ‘Der Mensch
ist das Maß aller Dinge’” (a.a.O., ).
. So Peter Spahn, Sophistik und Ökonomie, in: Karen Piepenbrink (Hg.), Philosophie und
Lebenswelt in der Antike, Darmstadt , –.
. Auf dieses für Platon wichtige Kriterium verweist nun auch Andreas Eckl, Sprache und
Logik bei Platon, Würzburg , .
. DK Ba (Anaximenes): “Die Sonne breit wie ein Blatt”; DK B (Heraklit): “Die
Sonne hat die Breite eines menschlichen Fußes”, was schon Diogenes Laertios (IX ) so ver-
stand, dass nach Heraklit “die Größe der Sonne sich danach bestimmt, wie sie einem er-
scheint”. Bis heute sieht man das nicht anders.
. Dieses Beispiel wählt Platon (K a); vgl. Eckl, a.a.O., Fn..
. Diese Beispiele bei Aristoteles, Metaph. b– (= DK A).
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
Menschen das Potenzial zur Wohlüberlegtheit (Pr e) und (fast) alle auch
Anteil an Recht und Scham ( d) – sind also zu sachgerechten Urteilen, sowohl
über das Kognitive als auch im Weltanschaulichen, in der Lage. Protagoras ist
diesbezüglich voller “Optimismus”, und seine Lehre – wie Kurt von Fritz im
Großen Pauly so treffend bemerkt – “eine Philosophie des gesunden
Menschenverstandes”.
Aber die Geschichte lässt, leider, dem Optimismus nur wenig Raum; und der
gesunde Menschenverstand ist der, der das Spiel gewonnen hätte, vorausgesetzt,
er hätte mitgespielt. Aber er spielt nie mit, sondern sitzt auf der Tribüne… Das
sagt zwar nicht Sokrates, sondern Philip Marlowe, aber der Held der platonischen
Dialoge denkt genauso wie Raymond Chandlers einsamer Detektiv. Im Kratylos
rückt er dem HMS mit der Frage an seinen Gesprächspartner zuleibe, ob es denn
nicht viele schlechte und also unvernünftige Menschen gebe. Nachdem Hermo-
genes dies eiligst und eifrigst bejaht, folgert Sokrates, dass, wenn es Vernünftige
und Unvernünftige gebe – und letztere in weitaus größerer Anzahl –, der HMS kei-
nen Bestand haben könne (K a–d). Platon geht von einem Menschen aus, der
die Dinge willkürlich benennt und bewertet. Ihm klingt “wie es einem scheint”
nach “wie es einem gerade am besten paßt”. Die totale Ablehnung dieser Formel
wird deutlich, sieht man, dass sie in seiner Tyrannen-Definition wiederkehrt: die,
welche “tun, was ihnen das Beste zu sein dünkt” (Go de).
Ob Platon mit seinem Pessimismus, dass die Mehrzahl der Menschen schlecht
und unvernünftig ist, Recht hat, ist Ansichtssache. Recht hat er so weit, als ein ein-
ziger, der das ihm eingeräumte Ermessen zu schrankenlosem Belieben missbraucht,
den pluralistischen Optimismus des Protagoras ad absurdum führen kann. In der
Honorarfrage hat dies der Sophist, so will die Fama, am eignen Geldbeutel ver-
spüren müssen, als ein gewisser Euathlos, ein alles andere als “gar zu thörichtes
Bürschchen”, ihm überhaupt nichts zahlte! Und auf dem weit wichtigeren Felde
des Politisch-Ethischen verhält es sich just so. Gegenüber den Intoleranten und
Extremisten wird die Haltung von Selbstkritik und Toleranz, die dem HMS in-
. Eric Robertson Dodds, Die Griechen und das Irrationale, übers. v. Hermann-Josef Dirksen,
Darmstadt , .
. Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, .Halbband, Stuttgart ,
Spp. –, .
. Dodds, a.a.O.
. Raymond Chandler, Playback, übers. v. Wulf Teichmann, Zürich , .
. Auf interessante Parallelen in der literarischen Darstellung von Philosophen und Detek-
tiven weist hin Ronald Dietrich, Der Gelehrte in der Literatur, Würzburg , ff.
. Am ausführlichsten ist die Euathlos-Anekdote behandelt bei Aulus Gellius, Attische Näch-
te V , – (hier zitiert nach der Übers. v. Fritz Weiss, Darmstadt [Nachdr. von
Leipzig ]).
. Ähnlich sieht das Wolf, Rechtsdenken II, .
PETER DANIEL MOSER
Aus dem HMS lassen sich mehrere denkbare Folgerungen ziehen. Eine der zen-
tralen Fragen lautet: Wenn der Mensch das Maß aller Dinge ist, was bedeutet dies
für sein Verhältnis zum Göttlichen?
Das ist nun auch bei Gerhard Zecha das Hauptproblem des HMS. Er stellt ihm
darum Platons Postulat, dass sich der Mensch so weit wie möglich Gott verähn-
lichen müsse, gegenüber. Wobei für seinen Diskurs dasselbe gelten dürfte wie
für den von Günther Anders und manch andern großen Geist: Das Wichtigste
steht in den Anmerkungen. Und zwar in dieser: “Pesendorfer […] hat eindrucks-
voll darauf verwiesen, dass Sokrates und Platon mit dem Hinweis auf das Allge-
meine (die Wahrheit, das Gute, Gott), das der Mensch denkend zu erfassen ver-
sucht, zu Wegbereitern des Christentums geworden sind.” Würden wir in diesem
Zitat “Christentum” durch “Monotheismus” ersetzen, könnten wir uns ebensogut
auf den Ayatollah Khomeini berufen…
Nicht, dass es nicht etliche Parallelen zwischen Platon und dem Christentum
gäbe. In der Tugendlehre und beim Freiheitsbegriff, vom sexuellen Ideal der An-
drogynie bis zur Synonymie zwischen einer Figur der Politeia und einem der
fiktiven Stammväter Jesu: Er (R ff .; Lk ,). Aber zu welchem antiken Autor
ließen sich aus christlicher Sicht keine Parallelen herstellen (Marsilio Ficino fand
sogar eine zu Protagoras!)? Zweitens wird man Platons Bedeutung einfach nicht
gerecht, reduziert man ihn auf die Rolle eines “Wegbereiters” (von wem oder was
auch immer): Platon war und ist vielmehr Basis-Text für die philosophische Tra-
dition Europas. Aber das eigentlich Bedenkliche an dieser Form retrospektiver
Geschichtsbetrachtung ist, dass wir so Gefahr laufen, den Akteuren der Philoso-
phiehistorie Aspirationen zu unterschieben, die sie gar nicht hatten. Platon beab-
sichtigte ebensowenig, dem Christentum den Weg zu bereiten, wie der Alte Fritz
den Langen Kerls befahl: Nun lasst uns in den Siebenjährigen Krieg zie-
hen! Platon ist daher nicht mit Johannes dem Täufer zu verwechseln – und Prot-
agoras erst recht nicht mit dem Antichristen…
Ohne Gerhard Zecha und der von ihm bemühten Autorität, dem so “eindrucks-
voll” verweisenden Wolfgang Pesendorfer, nahe treten zu wollen, schlage ich vor,
dass wir uns in diesen Dingen lieber an einen andern Wolfgang halten, nämlich
an Goethe. Dieser hat schon vor über Jahren (womöglich noch etwas ein-
drucksvoller) darauf verwiesen, dass man “Plato, als Mitgenosse einer christlichen
Offenbarung” nicht vereinnahmen sollte!
In der Tat erinnert Zechas Gegenüberstellung frappant an das historische
Paradoxon: Im . Jahrhundert lebte der Kaiser Franz Joseph, und der Mensch
Haar und Frisur in der römischen Liebeselegie (Arianna, Bd.), Möhnesee , –,
insb.. Letztlich wurde selbst Homer als Wegbereiter des Christentums gedeutet, erinner-
te doch dessen an den Mastschuh gebundener Held Odysseus (beim Sirenen-Abenteuer)
frühchristliche Autoren frappant an den gekreuzigten Jesus. (Belege in dem sehr lesenswer-
ten Buch von Albert Wifstrand, Die alte Kirche und die griechische Bildung. Aus dem Schwe-
dischen v. Richard Mautner, Bern , , ).
. Einschlägiges dazu bei Charles Trinkaus, Protagoras in the Renaissance: An Exploration,
in: Edward P.Mahoney (Hg.), Philosophy and Humanism, Renaissance Essays in Honor of
Paul Oskar Kristeller, Leiden , –, .
. Bei der Auslotung der Beziehungen zwischen Platon und seinen “Fußnotenschreibern”
(um auf Whitehead anzuspielen) ist freilich auf die historisch vorgegebene Reihenfolge zu
achten. Hingewiesen sei auf: Theo Kobusch/Burkhard Mojsisch (Hg.), Platon in der abend-
ländischen Geistesgeschichte, Darmstadt ; zu den sowohl von Verbindungen als auch von
Differenzen geprägten Beziehungen zwischen Platonismus und Christentum vgl. außer Wif-
strand, a.a.O., passim, auch Albert Camus, Christentum und Neoplatonismus, übers. v. Mi-
chael Lauble, Reinbek ; Werner Beierwaltes, Platonismus im Christentum, Frankfurt/M.
. Für eine Orientierung über das spätantike und frühmittelalterliche Denken ebenfalls
sehr nützlich: Wolfgang Gombocz, Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen
Mittelalters, München .
. Dieses Beispiel entlehne ich der Buchbesprechung von Dieter Scheffel in Zeitschrift für
philosophische Forschung (), –, Fn..
. So der Titel von Goethes auf datierten, vermutlich aber schon geschriebenen
Aufsatzes.
PETER DANIEL MOSER
landete auf dem Mond. Diese Aussage ist wahr – falsch ist die implizite Schluss-
folgerung. Gleiches gilt für diesen Satz: Um v. Chr. lebte der Philosoph
Protagoras, der den Menschen zum Maß aller Dinge erklärte; und es lebte der
Philosoph Platon, der die Gottheit zum Maß aller Dinge bestimmte (G c).
Oberflächlich betrachtet, ist auch das richtig, bei näherem Hinsehn aber ent-
decken wir, dass, als Protagoras um starb, der etwa jährige Platon noch
keine Dialoge verfasst haben dürfte. Platon konnte also gegen Protagoras po-
lemisieren und tat dies in der eben zitierten Stelle der “Gesetze” ja auch, aber
Protagoras nicht vice versa gegen Platons Deus-Mensura-Satz (DMS). Dass
wir daher Protagoras nicht auf dieselbe Weise wie die Kirchenväter und früh-
christlichen Schriftsteller missdeuten dürfen, bezeugt nun das folgende Frag-
ment:
“Über die Götter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen (festzustel-
len?) weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind, noch, wie sie etwa an Gestalt
sind; denn vieles gibt es, was das Wissen (Feststellen?) hindert: die Nichtwahr-
nehmbarkeit und daß das Leben des Menschen kurz ist.” (DK B )
Von den “Göttern” ist hier die Rede – und nicht einfach von “Gott”! Soweit also
der HMS überhaupt als Absage an die Religion aufgefasst werden kann, ist er
zu lesen: Der Mensch – und nicht die Götter – ist das Maß aller Dinge. Prot-
agoras grenzt sich nicht von einer “Gottheit”, einem “Gott”, im platonischen
oder christlichen Sinne ab – sondern von der Volksreligion. Von jenem Aber-
glauben, der etwa darin bestand, Blitzschlag für eine göttliche Bestrafung von
Eidfrevlern zu halten. Aber Blitze, so argumentiert der Sophist in den Wolken
des Aristophanes, schlagen doch in Bäume ein – schwören denn Eichen Mein-
eide?
Daraus folgt aber, dass zwischen Protagoras und Platon in ihrer Haltung zum
. Vgl. Ernst Heitsch, Hat Sokrates Dialoge Platons noch lesen können?, Gymnasium
(), –. Darin argumentiert H., dass Ion und Hippias minor noch zu Sokrates’ Leb-
zeiten entstanden sein könnten. Dass aber auch Protagoras noch platonische Dialoge erlebt
hat, ist auszuschließen.
. Terminus nach K.F.Hoffmann, Recht, .
. Bernhard Huss, Der Homo-Mensura-Satz des Protagoras. Ein Forschungsbericht, Gym-
nasium (), –, , bezweifelt, dass mit dem HMS eine Aussage über Reli-
giöses verbunden ist. Dieser Ansicht fällt deshalb Gewicht zu, weil sich Huss mit eigenen
Meinungsäußerungen sonst sehr zurückhält.
. Aristoph. nub. –. Freilich, völlig konnte weder die Sophistik noch eine andere Auf-
klärung den Glauben an das göttliche Ausdrucksmittel Blitz zerstören, wie Kleists wunder-
bare Anekdote “Der Griffel Gottes” beweist (Heinrich von Kleists sämtliche Werke, Vierter
Band, Stuttgart , ).
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
Göttlichen nicht nur – wie eine ahistorische und oberflächliche Lektüre der Dia-
loge nahelegt – Gegensatz besteht, sondern auch Gemeinsamkeit. Denn auch
wenn der platonische Sokrates in seinem Staatsentwurf – sozusagen aus Staats-
raison – “die wichtigsten und schönsten und ersten aller Anordnungen” dem
delphischen Apollon überlässt (R b; vgl. G c), war auch Platon “schon
innerlich über die Volksreligion erhaben”. Als deren Repräsentant in den Dia-
logen Euthyphron auftritt, der noch fest daran glaubt, dass es Feindschaft und
Krieg unter den Göttern gibt; ebenso wie er in seiner Frömmelei fest davon über-
zeugt ist, den eignen Vater wegen Mordes anklagen zu müssen; Sokrates zweifelt
ersichtlich an beidem… Nicht zuletzt wird Platons Distanz gegenüber den alther-
gebrachten religiösen Traditionen an der Schlussbotschaft der Politeia deutlich
(auch wenn diese in einen Mythos “verpackt” wird): Jeder ist für seine Lebens-
wahl selber verantwortlich – Gott ist schuldlos (R e).
Wir können daher das Stichwort des Platonübersetzers Otto Apelt aufgreifen
und die Idee des Guten als die wahre platonische Gottheit bestimmen. Allerdings
darf dabei nicht übersehen werden, dass ausweislich der platonischen Dialoge
auch Protagoras “das Gute” als das Strebeziel des Menschen anerkannte (z. B. Pr
d; Th d); in diesem Sinne wäre also auch er, der Agnostiker, nach dem
von Zecha angegebenen Kriterium ein “Wegbereiter des Christentums”. Ob diese
Zuschreibung gerechtfertigt ist, stehe dahin; keinesfalls berechtigt jedoch ist es, das
christliche Weltverständnis bei der Beurteilung der protagoreischen Religions-
auffassung zugrunde zu legen.
. Vgl. die Kapitelüberschrift bei Helmut Zander, Geschichte der Seelenwanderung in Europa,
Darmstadt , : “Platon. Reinkarnation aus Staatsraison”.
. Apelt, Platon, a.a.O., Band V, Anm..
. a.a.O., Band VII, Gesamtregister, .
. Dass Protagoras Agnostiker und (nach heutigen Begriffen) nicht Atheist war, stellte zu-
letzt Helga Scholten, Die Sophistik. Eine Bedrohung für die Religion und Politik der Polis?,
Berlin , ff., klar.
. So aber Zecha, Spiel, .
. Vgl. Marquard, a.a.O., .
PETER DANIEL MOSER
Die aufgeworfene Frage lässt sich auch so formulieren: Soll der Satz des Protagoras
beibehalten werden oder ist für “Mensch” etwas anderes einzusetzen? Die Brisanz
liegt dabei in den möglichen Alternativen. Als solche kommen (unter anderem)
in Betracht: Geld, Technik, Kunst, Natur sowie – im Gefolge Platons – Gott.
xrªmata, Vermögen, “nennen wir alles, dessen Wert mit Geld bemessen wird”.
“Das Geld macht also wie ein Maß die Dinge meßbar und stellt eine Gleichheit
her.”
Wohlgemerkt, das sind Zitate aus einer – sehr bedeutenden – Ethik. Aristoteles
scheint sich freilich nicht darum zu kümmern, dass die Tugend der rechten Ver-
wendung des Reichtums nicht von allen geübt werden kann, sondern nur von de-
nen, die auch über Reichtum verfügen. Davor aber, ihn moralisch zu verdam-
men, sollten wir uns schon deshalb hüten, da es gerade diese Sätze waren, deret-
wegen jener Philosoph, auf den sich später die erbittertsten Gegner ökonomi-
scher Ungerechtigkeit berufen würden, vom “Genie des Aristoteles” sprach: Karl
Marx.
Doch unabhängig von der finanzwirtschaftlichen Perspektive ist unter sozia-
lem Aspekt zu konstatieren: Wenn der HMS dahingehend umgedreht wird, dass
(nur) die in Geld messbaren xrªmata zum Maßstab für den Wert eines Men-
schen gemacht werden, dieser nur allzu oft auf der Strecke der sogenannten “öko-
nomischen Zwänge” bleibt! Indes ist das keine sehr neue Einsicht. Erkannte doch
schon – rund zwei Jahrhunderte vor Platon und zwei Jahrtausende vor der Geburt
des Kapitalismus aus dem Geiste irgendwelcher Ethik – die Dichterin Sappho:
Neben dem Geld gibt es noch einen anderen Löwen, auf dem unsere Gesellschaft
reiten muss, obwohl wir vom Risiko wissen, wenn wir hinunterfallen: den techni-
schen Fortschritt. Er ist uns unentbehrlich, aber wenn wir ihn nicht kontrollieren,
sondern zulassen, dass er über uns bestimmt, endet das in der Katastrophe. Wir
wussten das spätestens am .April . Am Tag, an dem die Neuzeit starb. Plötz-
lich und unerwartet war sie in der Blüte ihrer Jugend, ausgerechnet an ihrem
.Geburtstag, vom Super-GAU in Tschernobyl dahingerafft worden und hat uns
technik- und fortschrittgläubige Hinterbliebene geschockt zurückgelassen.
Mit diesem “Störfall” endete aber nicht nur die Epoche unreflektierter mensch-
licher curiositas, die am .April – so zumindest das offizielle Datum – mit
dem Aufstieg des jungen Petrarca “sola videndi insignem loci altitudinem cupidi-
tate ductus” (Cap.) auf den Mont Ventoux begonnen hatte; es ging auch das
kurze .Jahrhundert der technischen Katastrophen ins Finale. Denn schon beim
Untergang des Ozeanriesen “Titanic” am .April hatte sich gezeigt, dass die
vergottete Maschine nicht zum happy end spendenden Deus-ex-machina taugt.
Einer der Toten der “Titanic”-Katastrophe hieß Jacques Futrelle, Kriminalautor,
dessen Detektiv van Dusen den Beinamen “Denkmaschine” trug. Die Denk-
maschine als die Fiktion perfekten menschlichen Denkens geht unter mit der Ma-
schine, die scheinbar perfektes menschliches Denken geschaffen hatte – welch
. Fr. (Diehl), zit.nach: Sappho, Lieder. Griechisch und deutsch, hg. v. Max Treu, Mün-
chen–Zürich , f.:
Ø ploûtoß ‚neu <y’> årétaß
oΩk åsínhß pároikoß
Vgl. auch die Übertragung von Joachim Schickel (Sappho, Strophen und Verse, Frankfurt/M.
, ): “Der Reichtum, entbehrt . er des Werts: nicht/als ein Nachbar schützt er.”
. Vgl. Kurt Steinmann, Grenzscheide zweier Welten – Petrarcas Besteigung des Mont Ven-
toux, Nachwort zu: Francesco Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, Lateinisch/
Deutsch, Stuttgart , ff. Nach dieser Ausgabe wird auch der Text zitiert.
. Vgl. Sir Hugh Greene (Hg.), Victorianische Detektivgeschichten, übertr. v. Thomas Schlück,
Hamburg (Originalausgabe: More Rivals of Sherlock Holmes, London ), f.
PETER DANIEL MOSER
ein Symbol!
... Die Kunst als Maß aller Dinge?
Die Kunst, wie die Technik ein Wort-Kind der griechischen téxnh, scheint ein ge-
nuin sophistisches Thema gewesen zu sein. So wird etwa bei Aristophanes die Eig-
nung eines Schülers für den sophistischen Unterricht wie folgt begründet:
In der Tat liegt das Wesen des Kunstwerks darin, dass dem/der künstlerisch Schaf-
fenden die Dinge in einer Weise erscheinen, wie nur er sie sieht… Und nur des-
halb konnte zum Beispiel aus einem toten Stück Marmor die Pietà des Michel-
angelo entstehen. Ist also der HMS dahingehend einzuschränken, dass wir nicht
den Menschen schlechthin, aber den Künstler zum Maß aller Dinge erheben? So
wie – vielleicht? – Arthur Rimbaud verstanden werden kann, wenn er den Genius
als “l’amour, mésure parfaite et réinventée, raison merveilleuse et imprévue, et
l’éternité” feiert?
Die Bejahung dieser Frage hätte freilich zur Folge, dass dann auch Terrorakte
als Kunstwerke legitimiert werden könnten, nicht zuletzt auch die Ermordung von
nahezu Menschen bei der Zerstörung des World Trade Center in New
York… Dieses Beispiel macht klar, dass auch die Kunst nicht das alleinige Maß der
Dinge sein kann – wobei wir aber über dieser nach dem .September aufge-
flammten Diskussion nicht vergessen dürfen, dass im “Rauschen der Zeit”,
das wir Geschichte nennen, seltenst Terror als Kunst bemäntelt wurde, jedoch häu-
fig Künstler staatlichem Terror zum Opfer fielen.
Gerhard Zecha hat auch die Frage aufgeworfen, ob sich nach dem Prinzip des
Regelkreises die Natur selbst wieder ins Lot bringen wird.
Derlei Wunschdenken mag zwar etwas Verführerisches an sich haben, und in
diesem Sinne ist wohl auch die anthropomorphe Redeweise von Naturkatastro-
phen zu verstehen (“die Natur schlägt zurück”) – in dieser Hinsicht unterscheiden
wir uns nicht sehr von den Menschen der Antike, ja der Vorzeit –, aber gerade die
rapide Zunahme dieser Katastrophen zeigt, dass in Wahrheit “die Natur” immer
mehr aus den Fugen gerät. Die sich ausbreitende Umweltzerstörung, die in bedroh-
lichem Maß aufgezehrten Energieressourcen und die “tickende Zeitbombe” der
globalen Klimaerwärmung sind weitere Indikatoren, dass “die Natur” nicht in dem
Sinne Maß der Dinge ist, als sie ihr verletztes Gleichgewicht von selber wiederher-
stellen könnte. Wir dürfen uns daher nicht aus unserer Verantwortung für den
blauen Planeten stehlen, schon gar nicht aus unserer Zukunftsverantwortung!
Gerhard Zecha ergreift vehement Partei für Platons Standpunkt. Er tut dies in der
Überzeugung der “oft bewährten Einsicht”…
. Zecha, Spiel, .
. Laut einer Studie der Münchener Rück-Versicherung vom Frühjahr hat sich von
bis die Anzahl der versicherungsrelevanten Naturkatastrophen im Vergleich zu den
er Jahren fast verdreifacht, der volkswirtschaftliche Schaden versiebenfacht (unter Abzug
der Inflationsrate); zit.nach: National Geographic, deutsche Ausgabe, Feb., f. (Für den
Hinweis auf diese Quelle bin ich Herrn Dr. Max Bär zu herzlichem Dank verpflichtet.)
Zur Interpretation von Naturkatastrophen vgl. auch: Dieter Groh/Michael Kempe/Franz
Mauelshagen (Hg.), Naturkatastrophen – Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Dar-
stellung in Text und Bild von der Antike bis zum .Jahrhundert, Tübingen . Das Buch
endet mit einem Beitrag zur Oderflut . Einige Äußerungen von christlichen Splitter-
parteien im deutschen Wahlkampf – nach dem nächsten “Jahrtausendhochwasser” –
stützen dabei die These der Herausgeber, dass es sich bei der “rächenden Natur” um “einen
metaphorischen Wiedergänger” des straftheologischen Deutungsmusters handelt (a.a.O.,
Einleitung, ). Wobei mit diesem “Wiedergänger” auch die wahren Ursachen der Kata-
strophen verschleiert werden: denn die Flüsse treten nicht über ihre Ufer, weil die Menschen
heutzutage – und wie dem Verfasser aus eigener Anschauung bekannt ist, tun dies gelegent-
lich sogar Pfarrerstöchter! – die Bibel immer öfter mit Harry Potter vertauschen.
. National Geographic, a.a.O., .
. Zur Unterscheidung von Vergangenheits- und Zukunftsverantwortung instruktiv R.Düll,
Harmonia, –.
PETER DANIEL MOSER
..... “Vom Alten sollst du behalten, was gut ist und schön”
…und liefert damit ein geradezu klassisches Beispiel, wie man ein Zitat nicht ver-
wenden soll. Denn Zecha reißt es aus dem ursprünglichen Zusammenhang – über
den man aus seiner Zitierung nichts erfährt – und instrumentalisiert es höchst
problematisch für seinen Diskurs. Während nämlich der Sentenz im originalen
Kontext, als Inschrift eines Fachwerkhauses der Stadt Oppenheim bei Mainz aus
dem Jahre , keine Verurteilung eines anderen, demnach nicht guten und schö-
nen und daher nicht erhaltenswerten Zeugnisses der Vergangenheit abgelesen
werden kann, ist dies im Kontext der Gegenüberstellung von platonischer und
protagoreischer Lehre sehr wohl der Fall. Zumal Zecha dem HMS unmittelbar zu-
vor nur bedingte Vertretbarkeit zugesprochen hat! Ihn also offenbar nicht für
uneingeschränkt erhaltenswert erachtet.
Nach den bösen Erfahrungen mit Zensur und Geistesvernichtung gerade im
.Jahrhundert erscheinen Annahmen darüber, welche philosophischen Aussa-
gen “behaltenswürdig” sind und welche nicht, überaus prekär, so dass wir uns
möglichst zurückhalten sollten. Selbst und gerade dann, wenn sie begründet wer-
den, ist notwendig, die ihnen zugrunde liegenden Selektionskriterien anzugeben.
Bei Zecha liegt etwa das menschliche Leben nahe, das er immer wieder als höchs-
ten Wert anspricht. Eben diesem räumt der von ihm verehrte Platon jedoch keine
Priorität ein. Nicht zufällig tilgt der platonische Sokrates als erstes jene Homer-
Verse, in denen sich Achill wünscht, anstatt ein Fürst im Totenreich der geringste
Taglöhner auf Erden zu sein (R c; vgl Od. XI, –); solche Dichterworte
untergrüben die Bereitschaft zum “Heldentod” und erscheinen daher mit dem
Pathos der “höheren Zwecke” unvereinbar. Wäre Zecha also konsequent, dürf-
te er bei Platon auch einiges “nicht behalten”. (Eine andere Frage ist, wie gesagt,
wie das Nichtbehalten vor sich gehen soll. Nicht zuletzt die einschlägige histo-
rische Erfahrung lässt hier größtmögliche Vorsicht geraten erscheinen, da unbe-
dachte Aussagen über das “Behaltenswürdige” leicht missbraucht werden könn-
ten, um etwa auch eine “literarische Feuerbestattung” im Sinne von Erich Käst-
ner zu legitimieren.)
Vor die Frage gestellt, auf wen wir denn beim Umgang mit der Antike am
ehesten hören sollen, mache ich daher den Vorschlag, José Ortega y Gasset zu fol-
gen, welcher empfahl, klassische Texte dadurch zu retten, dass wir sie zu unserer
eigenen Rettung gebrauchen. Sie also derart auszulegen, dass sie auch in der
Gegenwart Sinn stiften.
Diese Aufgabe stellt sich nun beim HMS dringlicher als beim DMS. Denn der
Satz “Gott ist das Maß aller Dinge” bedarf ja kaum einer “Rettung”. Versteht er
sich doch entweder von selbst – für jene, die sich in der Hand eines “Höheren”
wissen – oder aber ist er (jedenfalls!) eine zutreffende Wesensbeschreibung der re-
ligiös geprägten abendländischen Traditionsgeschichte.
Wobei – und auch das ist eine Lehre aus dieser Geschichte – nicht jedem, der
Gott auf der Zunge trägt, auch Gott am und im Herzen liegt.
Die in diesem Satz ausgedrückte Annahme nennt Gerhard Zecha das Ergebnis “der
volkstümlichen Erfahrung”. Lassen wir beiseite, dass die Vorstellung, man könn-
te Gott abschaffen, aus religiöser Sicht paradox ist. Davon abgesehen, hat die his-
torische Erfahrung mit Zechas volkstümlicher Erfahrung so viel zu tun wie echte
Volksmusik mit der sogenannten “volkstümlichen Musik”.
Dies lässt sich schon an Zechas erstem Beispiel zeigen. In den faschistischen Re-
gimes des .Jahrhunderts wurde Gott nämlich nicht “abgeschafft”, sondern von
den selbsternannten Führern in schamlosester Weise missbraucht. Also berief sich
Hitler auf ein “positives Christentum”, und die überzeugten Nazis nannten sich
ausdrücklich “gottgläubig”. Und, ohne das Andenken von Persönlichkeiten wie
Franz Jägerstätter oder Martin Niemöller zu verletzen, muss umgekehrt gesagt wer-
den, dass die Haltung nicht aller Christen im Dritten Reich mit dem Wort “Wi-
derstand” richtig bezeichnet ist. Ein der Kirchenfeindlichkeit absolut unverdäch-
tiger Zeitzeuge schrieb: “Das deutsche Volk, auch Bischöfe und Klerus zum großen
Teil, sind auf die nationalsozialistische Agitation eingegangen. […] Darin liegt
. Vgl. Ortega y Gasset, Um einen Goethe von innen bittend, in: ders., Gesammelte Werke
III, Stuttgart , –, (aus dem Spanischen übersetzt von Helene Weyl). Orte-
gas Gedanken hat zunächst Klaus Adomeit (a.a.O., XIf.), dem ich darin folge, auf die
Texte der Antike übertragen.
. Zecha, Spiel, Anm..
. Ebenda.
. Vgl. dazu u.a. Georg Denzler, Widerstand ist nicht das richtige Wort – Katholische Priester,
Bischöfe und Theologen im Dritten Reich, Zürich .
. Konrad Adenauer in seinem Brief an den Bonner Pfarrer Dr.Bernhard Custodis vom
. Februar , zitiert nach Denzler, a.a.O., (Hervorhebung von mir).
PETER DANIEL MOSER
seine Schuld.”
Dieser Befund ist verallgemeinerbar. Vielleicht mit Ausnahme der kommunis-
tischen Verbrechen in der Sowjetunion und in (Indo-)China sind alle histori-
schen Phänomene, die vom kritischen Maßstab der Gerechtigkeit in ihrem “har-
ten Kern” widerlegt werden können – Sklaverei, Hexenverfolgung, feudalistische
Kastenbildung, mörderische Rassendiskriminierung, absolute Herrschaft “auser-
wählter” Personen oder Parteien –, nicht unter Abschaffung, sondern im Namen
“Gottes” begangen worden. Wohin der Missbrauch der Religion führt, zeigt gera-
de auch die Französische Revolution auf, die eben dann zu reinem Terror wurde,
als man die “Vernunft” als Gottheit zu vergötzen begann. Und wenn die USA,
genauer: die sogenannten Südstaaten, Sklaverei gut geheißen haben, so beriefen
sich die Sklavenhalter, wie noch der alte Schopenhauer – in jenem Werk, das Ger-
hard Zecha zitiert, aber anscheinend nicht zur Gänze gelesen hat – zutreffend be-
merkt, darauf, “daß Abraham und Jakob auch Sklaven gehalten haben”; so dass
nicht verwundert, wenn in zeitgenössischen Quellen General Lee, der militärische
Führer der Konföderierten, mit Jesus Christus gleichgesetzt wird.
Gerhard Zechas Versuch, im HMS eine wesentliche Ursache für den Verlust der
Werte nachzuweisen, erscheint insbesondere beim Thema Abtreibung eher von
Vorurteilen geleitet als von den historischen Fakten: Während nämlich von Prot-
agoras keine Stellungnahme zur Abtreibung erhalten ist, beruft sich ausgerechnet
der platonische Sokrates im Theaitet – also jenem Werk Platons, das Zecha als ein-
ziges ausführlich zitiert – auf den Hebammendienst, zu dem ihn “der Gott” zwin-
. Man beachte aber, dass schon John Maynard Keynes bei seinem Russlandbesuch den
Eindruck hatte, dass der Kommunismus “eine Religion ist [Hervorhebung im Text, Anm.
PDM], und nicht einfach eine Partei, und daß Lenin ein Mohammed ist, nicht ein Bis-
marck”, und “daß der Kommunismus, wenn er einen gewissen Erfolg erzielt, diesen nicht
als ein verbessertes Wirtschaftsverfahren, sondern als eine Religion erzielen wird”; Keynes,
Ein kurzer Blick auf Rußland, in: ders., Politik und Wirtschaft. Ausgewählte Abhandlungen,
übertr. v. Eduard Rosenbaum, Tübingen–Zürich , –, f., .
. Vgl. die Aufzählung bei Franz Bydlinski, Gerechtigkeit als rechtspraktischer Maßstab kraft
Sach- und Systemzusammenhanges, in: Beck-Mannagetta/Böhm/Graf, a.a.O., –,
.
. Vgl. Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre – Die geschichtlichen Legitimitätsgrundla-
gen des demokratischen Verfassungsstaates, Stuttgart–Berlin–Köln , , f. Generell
gilt für die Französische Revolution das Urteil von Paul Janet: “on a confondu, sous le nom
de Revolution, le but et les moyens. Il faut savoir approuver le but qui est bon, et con-
damner les moyens qui sont mauvais”; zitiert nach: Eugène Spuller, Hommes et choses de la
Révolution, Paris , .
. Die beiden Grundprobleme der Ethik, a.a.O., .
. Nachweise bei Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage, Frankfurt/M. ,
ff., insb. .
. Vgl. Zecha, Spiel, .
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
ge (Th c), und er findet nichts dabei, wenn die echten Hebammen, wie seine
Mutter Phainarete, eine noch nicht weit entwickelte Leibesfrucht abtreiben (d).
Platon hält aber Abtreibung nicht nur mit dem Auftrag, sich Gott zu verähnli-
chen, für vereinbar, sondern stellt sogar in der Politeia – seinem wichtigsten Werk,
das Gerhard Zecha trotz der offensichtlichen Relevanz interessanterweise mit kei-
nem Wort erwähnt – “die strenge Weisung” auf, bei zu alten Eltern “ein vorhan-
denes Empfängnis gar nicht ans Licht zu bringen, wenn es aber doch ungeachtet
der Gegenbemühungen ans Licht findet, es in die Lage zu bringen, daß sich nie-
mand seiner annimmt” (R c).
Ebenso berufen sich die Befürworter der Menschenzucht durch reproduktives
Klonen nicht auf Protagoras, vielmehr spricht einer dieser realen “Frankensteine”,
der amerikanische “free-market-philosopher” Richard Seed, ebenso wie unsere
Freunde Platon und Zecha von der notwendigen Angleichung an Gott: “Gott
wollte, daß der Mensch eins wird mit ihm. Klonen ist der erste ernsthafte Schritt,
wie Gott zu werden.”
Sehr viel öfter wird also der Mensch dort eliminiert, wo “Gott” missbraucht
wird, als dort, wo Gott “abgeschafft” wird. Leider bringt Zecha in diesem Punkt
meines Erachtens nicht die auch vom Wissenschaftler geforderte “geschulte Rück-
sichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens” auf. Wenn er indes
glauben sollte, damit der Religion einen guten Dienst zu erweisen, so irrt er. Ist es
doch vordringliche Aufgabe von Theologie und Theopraxie in heutiger Zeit, da-
rum Sorge zu tragen, dass nicht jede Rede von Gott akzeptiert wird, also Krite-
rien zu entwickeln, um den Missbrauch von Religion, den man eben darum nicht
. Vgl. Robert Jütte, Griechenland und Rom. Bevölkerungspolitik, Hippokratischer Eid und
antikes Recht, in: ders. (Hg.), Geschichte der Abtreibung – von der Antike bis zur Gegenwart,
München , –, , .
. Zitiert nach: Bernd Niggemann/Kurt Zänker, Molekulare Anatomie auf dem Weg zu ei-
nem neuen Paradigma in der Medizin, in: Günter Dorner u.a. (Hg.), Menschenbilder in der
Medizin – Medizin in den Menschenbildern, Bielefeld , –, . (Ich möchte an die-
ser Stelle Herrn Prof.Dr.Kurt Zänker von der Universität Witten-Herdecke sehr herzlich für
seinen freundlichen telefonischen Hinweis auf dieses Zitat danken.) Zu Richard Seed vgl.
ferner “Furcht vor Frankenstein”, DER SPIEGEL, .. (Nr. /), –.
. Vgl. Max Weber, “Der Beruf zur Politik”, in: ders, Soziologie – Weltgeschichtliche Analysen –
Politik, hg. von Johannes Winckelmann, Stuttgart , –, . Vgl. dazu auch Denz-
ler, a.a.O., .
. Vgl. Clemens Sedmak, Theologie in nachtheologischer Zeit, Mainz , .
. Als solche Kriterien zählt Pöltner auf: .Sittlichkeit einer religiösen Lebensform, .Beförde-
rung der Freiheit und Liebe, .Schönheit des Sinngehalts; Günther Pöltner, Der Wahrheits-
anspruch in pluralistischer Sicht, in: Hans Waldenfels (Hg.), Religion. Entstehung – Funk-
tion – Wesen, Freiburg–München , –, Fn.. In diesem Kontext ist auch zu
verweisen auf Heinrich Schmidinger (Hg.): Wege zur Toleranz – Geschichte einer europäischen
Idee in Quellen, Darmstadt . Ebenso auf Wolfgang Palaver, der es als wesentlichen Bei-
PETER DANIEL MOSER
leugnen darf, als solchen zu demaskieren. Denn keine der Weltreligionen, nicht
einmal der Buddhismus, ist nie missbraucht worden: auf Kreuzzügen; im Nah-
ostkonflikt; durch Terrorakte; von jenen hinduistischen Fanatikern, von deren
Übergriffen auf Christinnen ich, während ich dies schreibe, im Radio höre; von
einem Präsidenten, der zwar Jesus als sein persönliches Vorbild bezeichnet, aber
trotzdem Krieg für ein legitimes Mittel der Politik hält…
Religionen werden nicht durch ihren Missbrauch – im Popperschen Sinne –
falsifiziert. Aber ebenso ist der HMS nicht dadurch falsifiziert, dass er in der Ge-
schichte nicht missbraucht wurde.
“Jeder geistig gesunde und zu verantwortlichem Handeln fähige Mensch weiß, dass
Mord, Raub, Vergewaltigung, Betrug und Diebstahl moralisch falsch sind und da-
her nicht begangen werden sollen. Jeder kennt auch die unmittelbar einsichtigen
trag der Theologie zum wissenschaftlichen Dialog erachtet, totalitäre Ideologien in ihrer Ei-
genschaft als “politische Religionen” (im Sinne von Eric Voegelin) zu entlarven; Palaver, Eine
doppelte Lektüre der “Politischen Theologie” Carl Schmitts. Zur Rolle der Theologie im in-
terdisziplinären Dialog, in: Helmut Reinalter (Hg.), Denksysteme. Theorie und Methodenpro-
bleme aus interdisziplinärer Sicht, Innsbruck–Wien–München–Bozen , –. (Palavers
These ist zuzustimmen, auch wenn einige seiner Aussagen über Hans Kelsen und Carl
Schmitt skandalös inakzeptabel sind!) Grundsätzlich ist zu bemerken, dass Religion sowohl
positive als auch negative Folgen haben kann. Es kann aus ihr ebenso ein “Projekt Weltethos”
(Hans Küng) abgeleitet als auch Munition für das von Samuel Huntington beschriebene Sze-
nario des “Clash of Civilizations” gewonnen werden. Sie kann Personen dazu bringen, sich
für ihre Mitmenschen aufzuopfern wie Mutter Teresa, sie kann aber auch dazu verleiten, ein
Flugzeug in ein Gebäude zu lenken und auf diese Weise Menschen zu töten. Um die
angesprochenen Unterscheidungsmerkmale zwischen einer wahrhaft religiösen Lebensform
und dem Missbrauch davon festlegen zu können, sind aber beide Phänomene in den Blick
zu nehmen. Und nur wer dazu bereit ist, ist glaubwürdig in seinem Bekenntnis, “von Gott
und seinen Engeln behütet zu sein und geleitet zu werden” (Norbert Leser, Zeitzeuge an
Kreuzwegen. Autobiographische Bekenntnisse, Wien , ; vgl. aber auch ebenda, ).
. Vgl. Joseph Croitoru, der im Zen-Buddhismus eine der historischen Wurzeln des Selbst-
mordattentats erkennt; J.C., Der Märtyrer als Waffe, München–Wien , –. “Beein-
flusst durch buddhistisches Gedankengut” (so Guido Knopp, Hitlers Frauen und Marlene,
München , ), war auch die Frau des NS-Propagandaministers, Magda Goebbels, als
sie ihre sechs wahrhaft unschuldigen Kinder mordete.
. Vgl. u.a. Joseph Croitoru, Die Partei, die Partei, die hat immer Wind. Aus israelischen und
palästinensischen Zeitungen: Für Gewalt und Gegengewalt wird göttlicher Beistand erfleht,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, .März , .
. In der Sendung “Tag für Tag”, Deutschlandfunk, .Feb., .–..
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
Prinzipien wie ‘Jedem das Seine’, ‘Verträge sind einzuhalten’, ‘das Gute ist zu tun,
das Böse ist zu meiden’, ‘Tu anderen nicht, was du selbst nicht erleiden willst’.
Aber woher kommen diese Einsichten, die gerade nicht auf eine relativistische
Deutung des protagoräischen Lehrsatzes hinweisen?”
Stellen wir uns einmal vor, Platon und Protagoras könnten dieses lesen. Was
würden sie sagen? Dem ersten Satz würden wohl beide zustimmen – auch Prota-
goras, der ja, wie wir nun wissen, kein pointierter respektive extremer ethischer Re-
lativist war! Allerdings würden auch beide unisono darauf aufmerksam machen,
dass Zechas Bemerkung ins Leere geht, da ja das Problem nicht darin liegt, dass
jemand etwa Mord nicht für moralisch falsch halten würde, sondern darin, wie
man “Mord” definiert. Ist es Mord, wenn der Speer eines Mehrkämpfers einen
Zuschauer tötet (oder ist in diesem Fall der Kampfrichter oder nur der Speer
schuld)? Ist es Mord, wenn in Platons Dialog der Vater des Euthyphron einen
Taglöhner, der in Trunkenheit einen Sklaven erschlug, gefesselt in eine Grube wirft,
und dieser stirbt, während ein Rechtsgutachten eingeholt wird? Ist Töten in Not-
wehr Mord? Totschlag? Abtreibung? Kriegsdienst?
Was den zweiten Satz anlangt, so wäre zumindest der platonische Sokrates sehr
überrascht über das aus seiner Sicht abwegige Ansinnen, die ihm durch den Dich-
ter Simonides vertraute “Jedem das Seine”-Formel als Widerlegung des HMS zu
verstehen; denn wenn das Gerechtsein darin bestände, einem jeden das zu erstat-
ten, was ihm gebührt, dann müssten wir nicht nur unseren Freunden Wohltaten
erweisen, sondern auch unseren Feinden Schaden zufügen. Wer aber so argu-
mentiert, der “hat nicht die Wahrheit gesagt. Denn unter keinen Umständen ist
es gerecht, irgendeinem zu schaden. Das hat sich uns klar herausgestellt.” (vgl R
c– e) Wenn also Zecha suum cuique als ein angeblich unmittelbar einsich-
tiges Prinzip glorifiziert, so deutet das nicht auf eine Überwindung des Relativis-
mus hin, sondern allenfalls darauf, dass ein “spielerischer” Umgang mit Texten
ebenso wie mit historischen Gegebenheiten nicht immer angebracht ist. Denn Pla-
tons Kritik wurde ja auf erschreckende Weise bestätigt, als das “unmittelbar ein-
sichtige Prinzip” zur Inschrift über einem Nazi-KZ wurde.
Und so darf (und soll) man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben, man kann
und sollte sich aber nach Buchenwald nicht mehr auf “Jedem das Seine” berufen.
Im Gegensatz dazu ist die Goldene Regel als grundlegendes ethisches Prinzip
heute noch aktuell. Wenn es meines Erachtens auch nichts mit unmittelbarer Ein-
sicht zu tun hat, sondern ein als In-Frage-Stellung des eigenen Denkens und Han-
delns nützliches und wichtiges Gedankenexperiment ist. Allerdings lässt sich die
Goldene Regel nicht bei Platon verankern – wohl aber in der Sophistik! Nament-
lich bei Antiphon: “Wer dagegen glaubt, er werde seinen Nächsten Schlechtes
antun, ohne doch solches zu erleiden, der ist nicht besonnen.” (Freilich entbehrt
auch die Goldene Regel nicht des Relativen, wie uns Immanuel Kant wissen
lässt. Eben darum bemühte er sich um ein unbedingtes Gebot der Sittlichkeit.
Also etwas zugespitzt formuliert: Wäre Kant derselben Meinung gewesen wie
Gerhard Zecha, dass die Goldene Regel die Überwindung des Relativismus sei,
dann müssten wir heute auf den kategorischen Imperativ verzichten. Zum Glück
. Platon, Phaidon bc und bc (mit folgenden Abänderungen: “Zecha” für “Anaxagoras”
und “Werte” für “Vernunft”).
. Zecha, Spiel, .
. Dass dies kein erfundenes Beispiel ist, belegt das Buch von Walter Hartenbach, Was Ohren
verraten. So erkennt man den Charakter, München .
. Vgl. Klaus Franke, Reine Rasse. DER SPIEGEL /, .., –, insb. f.
Vgl. auch Max Horkheimer/Theodor W.Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M.
, : “Die jüdische Tradition vermittelt die Scheu, einen Menschen mit dem Meter-
stab zu messen, weil man die Toten messe für den Sarg. Das ist es, woran die Manipulatoren
des Körpers ihre Freude haben. Sie messen den anderen, ohne es zu wissen, mit dem Blick
des Sargmachers.”
. Zecha, Spiel, ; Anm.. Aus Zechas Aussagen geht nicht eindeutig hervor, ob sie
deskriptiv oder normativ gemeint sind. Da jedoch seine zweite, im Text angesprochene Be-
zugnahme auf die Anthropometrie mit Sicherheit normativ zu verstehen ist, liegt dies auch
für Zechas Bemerkungen zu Körpergröße und Sozialstatus nahe.
PETER DANIEL MOSER
nen mit dem Hinweis auf das Korrelieren von Körpergröße und Sozialstatus.
Falls das normativ gemeint ist, wäre es demnach für Zecha – wenn auch nicht
nach der österreichischen Verfassung! – in Ordnung, dass Männer, in der Regel
körperlich größer, besser verdienen als die im Durchschnitt kleineren Frauen. Zum
anderen beruft sich Zecha auf die Anthropometrie als Strukturelement der bilden-
den Kunst. Er verweist darauf, dass Wissenschaftler und Künstler immer be-
müht waren, dem Zusammenhang von Natur und Geist nachzuspüren und ihn
in ihren Werken zum Ausdruck zu bringen. Als Beispiel nennt er dabei Leonardo
da Vinci. Doch mit der Aufklärung sei die Selbstentfremdung des Menschen
eingetreten. Difficile est nec satiram scribere. Zecha scheint es nicht zu stören,
. Zecha, Spiel, ; Anm.; Anm.. Dabei folgt Zecha (ohne kritische Distanz er-
kennen zu lassen) Karl Herzog (Die Gestalt des Menschen in der Kunst und im Spiegel der
Wissenschaft, Darmstadt ), der Protagoras neben Euklid und Proklos den Gedanken zu-
schreibt, “die edlen Formen in der Natur und auch die Schöpfungen des Menschen ebenso
wie die geometrischen Figuren und das Kristall zu berechnen” (Herzog, a.a.O., ; ähn-
lich ). Wie der Nicht-Altertumswissenschaftler und Nicht-Philosoph Herzog zu dieser
Behauptung kommt, für die er keine Quellenangabe nennt, das “wissen die Götter”; von den
uns erhaltenen Zeugnissen von und über Protagoras wird diese Aussage jedenfalls nicht
gestützt! In der Tat dürfte der Gedanke, körpereigene Maße für den täglichen Gebrauch
zu nützen, wohl kaum auch auf Protagoras zurückführbar sein (so aber Herzog, ), schon
gar nicht auf den HMS, der ja auch “die nicht seienden Dinge” anspricht, an die man nun
schwerlich Schrittweite oder Armspanne anlegen kann.
. Zecha, Spiel, Anm.. War Leonardos Schaffen freilich tatsächlich im Einklang mit
der platonischen Homoiosis-Lehre? Dazu Michael Hoff, Epiphanie im non-finito. Nichtvoll-
endung als Strategie der Frömmigkeit und Auslöser von Sinnzuschreibungen in der Kunst
der Florentiner Renaissance, in: Friedrich Weltzien/Amrei Volkmann (Hg.), Modelle künstle-
rischer Perfektion, Berlin , –, : “Auch die Mühe von Entwurf und Ausführung,
die bei Leonardo vor allem an den Bildern mit einer religiösen Thematik hervortritt, sein
Spott über Botticellis Landschaften und sein forschender Eifer für eine naturgetreue Darstel-
lung von Felsen, Licht und affektgetriebenen Figuren können so als Symptome eines Wider-
standes gegen jene fromme Ideologie gedeutet werden, die eine Verwirklichung der Gott-
ähnlichkeit des Menschen in der diesseitigen Perfektion der Kunst ablehnen musste.” Im
Übrigen ist es verfehlt, Renaissance mit proportionaler Strukturiertheit gleichzusetzen,
diese Epoche brachte auch groteske Kunst hervor, wie die von Raffael ausgemalten Pfeiler-
flächen der päpstlichen Loggien beweisen; Wolfgang Kayser, Das Groteske. Seine Gestaltung
in Malerei und Dichtung, Oldenburg–Hamburg , .
. Vgl. Zecha, Spiel, . Diese Negativ-Rezeption der Aufklärung einerseits sowie die Beru-
fung auf Neil Postman andererseits (Zecha, Spiel, Anm., ), der den Geist der Auf-
klärung wiederbeleben wollte (vgl. N.P., Die zweite Aufklärung: vom . ins .Jahrhundert,
deutsch von H.Jochen Bußmann, Berlin ) und für den Platon übrigens “der erste sys-
tematische Faschist der Weltgeschichte” war (a.a.O., ) erscheint (ohne genauere Erklä-
rung) als nicht nachzuvollziehender Widerspruch.
. Ein erschütterndes Beispiel bei Johannes Sachslehner, Geschichte Österreichs, Band IV:
Barock und Aufklärung, Wien , ff.
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
. Die im Text zitierte Dialogpassage stammt übrigens vom genialen Orson Welles selbst,
nicht aber von Drehbuchautor Graham Greene (vgl. dessen Vorwort zu Der dritte Mann,
dt. von Fritz Burger und Käthe Springer, München , ); vgl. dazu auch Peter von Matt,
Kultur und Krieg und Kuckucksuhren, Neue Zürcher Zeitung vom .Dez..
. “Und nimm mal an, man müßte tatsächlich nach diesen [ästhetischen] Kriterien urteilen,
was täte denn dann ein Blinder, der philosophieren wollte? […] Dabei hätten gerade sie [scil.
die Blinden] die Philosophie bitter nötig, damit sie nicht über ihrem Schicksal verzweifeln.
Aber die Sehenden, was könnten denn die, selbst die Scharfsichtigsten unter ihnen, vom In-
neren der Seele erspähen aufgrund nur dieses äußeren Aussehens”; Lukian, Hermotimos oder
Lohnt es sich, Philosophie zu studieren? (hg., übers. u. erl. v. Peter von Möllendorff, Texte zur
Forschung Band , Darmstadt ), Kap.; vgl. Plutarch, Moralia c (Maxime cum
principibus philosopho disserendum est): “Die Lehren der Philosophie wollen nicht wie
die Bildhauer leblose Statuen schaffen, die, um mit Pindar zu reden, unverrückbar auf ihrem
Postament stehen, nein, sie wollen beleben, tätig und wirksam machen […]” (zitiert nach:
Plutarch, Von der Ruhe des Gemüts, übertr.v.Bruno Snell, Zürich , ).
. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Hamburg , ; Giovanni Pico
della Mirandola, De hominis dignitate/Von der Würde des Menschen, hg. und übers. von Gerd
von der Gönna, Stuttgart , f.
PETER DANIEL MOSER
Krüppel gegenübersaß, reichte seinem Begleiter einen Zettel herüber, darauf stand,
der Anblick sei niemandem zuzumuten und die beiden möchten so gut sein und
das Abteil verlassen.” Jeder einigermaßen fühlende Mensch hätte als der ange-
sprochene Begleiter wohl Mühe gehabt, dem Ansinnen jener “jungen Dame” be-
sonnen zu begegnen. Wenn wir aus einer solchen Erzählung eine Einsicht gewin-
nen können, dann die, dass die Idee der Menschenwürde gerade darin besteht, dass
sich darauf auch die berufen können sollen, die nichts haben, worauf sie sich sonst
berufen könnten: weder Privilegien des Geldes noch des Standes oder eben einer
äußern Gestalt, die dem Ideal des “Goldenen Schnitts” entsprechen würde. Und
das heißt: Ästhetische oder gar anthropometrische Kriterien haben mit dem Kon-
zept der Menschenwürde nichts zu schaffen.
Hingegen hat die Menschenwürde sehr wohl mit dem demokratischen Rechts-
staat zu tun. Was Zecha zu diesem zu sagen hat, erscheint insofern eigenartig, als
er den gemäßigten ethischen Relativismus als “die (problematische) Basis der de-
mokratischen Rechtstaatlichkeit” bezeichnet, “weil die Mehrheit der Stimmberech-
tigten die Bestellung der Machthaber bestimmt und damit, wenn auch indirekt,
maßgebend auf die Legislative einwirkt”. Soweit es die Begründung betrifft, geht
diese aber an der Realität vorbei, da es sich in dem in Österreich und Deutschland
geltenden System des Parlamentarismus genau umgekehrt verhält: Die Gesetz-
gebungskörper werden gewählt und damit indirekt die Regierungen bestimmt.
Freilich ist nicht der formale Aspekt das Problem, sondern der Umstand, dass
Zecha Wesen und Wert des demokratischen Rechtsstaats zu verkennen scheint.
Dieser ist keine Abstimmungsmaschine, keine Diktatur der Mehrheit, sondern die
einzige Staatsform, in der auch Minderheiten Rechte haben. Von daher ist Ze-
chas Argumentation auch widersprüchlich, da nur der demokratische Rechtsstaat
jedem einzelnen Gewähr bietet, dass Gott nicht “abgeschafft” wird. Im Absolutis-
mus ist Religionsfreiheit – ich erinnere an das Edikt von Nantes – vom Gnaden-
akt des Herrschers abhängig, und in einer Theokratie (wie z.B. in einigen islami-
schen Ländern) gibt es ebenfalls keine Religionsfreiheit. Sofern Zechas Argumen-
tation überdies auf einen Gegensatz von Demokratie und Religion hinausläuft,
ist dem freilich aber auch Alexis de Tocqueville entgegenzuhalten, der schon
(!) festgestellt hat, es sei “ein großer Irrtum zu glauben, daß eine demokratische
Gesellschaft der Religion von Natur feindselig gesinnt sei”.
Aber Zechas Gedankengang ist noch aus andern Gründen verfehlt. Er, der an-
getreten war, den ethischen Relativismus des Protagoras zu widerlegen, macht sich
. Marie Luise Kaschnitz, Wer kennt seinen Vater, in: dies., Ferngespräche. Erzählungen, Frank-
furt/M. , –, .
. Zecha, Spiel, .
. In: Der alte Staat und die Revolution. Zitiert nach: Wolfhart Pannenberg, Christlicher
Glaube und Gesellschaft, in: ders., Beiträge zur Ethik, Göttingen , –, .
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
selbst eines gefährlichen Relativismus schuldig, indem er die moralischen Übel von
liberalen Gesellschaften mit den Verbrechen faschistischer und kommunistischer
Regimes des .Jahrhunderts in einen Topf wirft. Denn wer sozialphilosophisch
argumentiert, hat die in der Sozialphilosophie anerkannten Unterscheidungen zu
beachten. Wie insbesondere jene, auf die Karl Popper aufmerksam gemacht hat:
nämlich die zwischen Demokratie und Diktatur. In der Demokratie kann das Volk
die Regierung ohne Blutvergießen loswerden, in der Diktatur ist das nicht der
Fall. Wer diese kategoriale Differenzierung relativiert oder ganz aufgibt, verletzt
das schon auf Aristoteles zurückführbare Gebot wissenschaftlicher Gegenstands-
gerechtigkeit. “Unmäßiger Lebensgenuss” (was auch immer das sein mag) ist
nicht im selben Maße moralisch problematisch wie eine Abtreibung – und diese
schon gar nicht vergleichbar mit dem systematisch betriebenen nationalsozialisti-
schen und stalinistischen Massenmord! Aber ebensowenig wie ein positiv formu-
lierter Relativismus – alle Wertvorstellungen und darauf gegründeten Handlungs-
weisen sind gleichermaßen richtig – inakzeptabel ist, gilt dies meines Erachtens
umgekehrt auch für eine negative Formulierung des ethischen Relativismus, die
in der Antike unter dem Stichwort “omnia peccata esse paria” bekannt war. Nicht
alle mit unseren Wertvorstellungen kollidierenden Handlungsweisen sind in glei-
chem Ausmaße unrichtig beziehungsweise falsch.
Letztlich beruht Zechas Position auf seiner leider verfehlten Gleichsetzung
Das angesprochene Prinzip der Menschenwürde ist nicht als “Schiboleth aller rath-
und gedankenlosen Moralisten” zu begreifen, also als Zauberwort, mit dem sich
alle Probleme der Menschheit lösen ließen. Die Menschenwürde stellt keine hin-
reichende Bedingung, aber eine notwendige, dar. Insofern in ihr die Begründung
für unveräußerliche Menschenrechte zu finden ist, fundiert sie das einzige uni-
versell anerkannte Referenzsystem, das wir haben, um Auswüchse von ethischem
und kulturellem Relativismus zu verhindern.
In diesem Sinne lässt sich der HMS (in der Diktion Ortega y Gassets) also “ret-
ten”, indem wir ihn – zu unserer eigenen Rettung – als Hinweis auf die Menschen-
würde verstehen.
Die Würde jedes einzelnen Menschen ist das Maß aller Dinge.
Daher ist die Weltgesellschaft verpflichtet, dafür zu sorgen, dass jene Millio-
nen Menschen, die keine Schule besuchen können, dies tun können, dass die
. Grundlegend dazu Theo Mayer-Maly, Werte im Pluralismus, Juristische Blätter ,
bis . Mayer-Maly steht nun keineswegs links, ist aber im Gegensatz zu Zecha um “ein rea-
listisches Gesamtkalkül” () bemüht. Er legt plausibel nahe, dass eine wertfreie Rechts-
ordnung “blanke Theorie, ja noch mehr schiere Utopie ist” (), reiche geschichtliche Er-
fahrung spricht vielmehr “für beträchtliche Wertkonstanz” (a.a.O.). Auf Mayer-Maly auf-
bauend analysiert Georg Graf überzeugend Gleichheit, Freiheit und Toleranz als pluralisti-
sche Werte; Das bürgerliche Recht und die Moral der Bürger: Überlegungen zum Verhältnis
von Moral und Zivilrecht, in: Beck-Mannagetta/Böhm/Graf, a.a.O., –, insb. .
. So zutreffend Otfried Höffe, Erwiderung, in: Stefan Gosepath/Jean-Christophe Merle
(Hg.), Weltrepublik. Globalisierung und Demokratie, München , –, .
. Schopenhauer, a.a.O., . Zu Definition, Belastbarkeit und Grenzen des Menschen-
würde-Konzepts vgl. nunmehr Michael Fischer (Hg.), Der Begriff der Menschenwürde. Hel-
mut Schreiner zum Gedenken (–), Frankfurt/M. . Schopenhauers Alternativ-
konzept, die Mitleidsethik, erfährt heute wieder vermehrt Zuspruch; vgl. etwa Siegfried Höf-
ling, Eine Parabel über Werte und Normen. Zum Sittenbild in Händels Oper Ariodante, in:
Hanspeter Krellmann/Jürgen Schläder (Hg.), “Der moderne Komponist baut auf der Wahr-
heit” – Opern des Barock von Monteverdi bis Mozart, Stuttgart–Weimar , –, :
“Wenn man den Zukunftsauguren glauben darf, dann gelingt die Etablierung einer huma-
nen Gesellschaft im .Jahrhundert nur, wenn ein neues Wertesystem geschaffen werden
kann, das neben den individuellen Werten wie Freiheit, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit
und persönlicher Würde auch für die Werte des Gemeinschaftlichen, des Zwischenmensch-
lichen und Empathischen breiten Konsens findet.”
IST PROTAGORAS SCHULD AM VERLUST DER WERTE?
Millionen Unterernährten genügend zu essen bekommen, und dass jenes Viertel (!)
der Menschheit, das keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser hat, mit diesem ver-
sorgt wird. Und auf kommunaler Ebene ist zum Beispiel dafür zu sorgen, dass
alle Menschen, die vom ästhetischen und funktionellen Idealmaß derart abwei-
chen, dass sie einen Rollstuhl benützen müssen, gleichen Zugang zu öffentlichen
Einrichtungen erhalten.
Wenn wir den HMS in diesem Sinne verstehen, so tun wir dies in der Gefolg-
schaft zweier bedeutender – leider immer mehr dem Vergessen anheimfallender –
Persönlichkeiten der österreichischen Geistesgeschichte. Leopold Kohr ( bis
), dessen Überlegungen über den Vorzug der Kleinheit gerade deswegen heute
lesenswert sind, weil die politische Entwicklung in die andere Richtung gegangen
ist, nahm dabei expressis verbis auf Protagoras Bezug und schrieb: “Das Maß aller
Dinge ist daher der Mensch, nicht die Menschheit, die Gesellschaft, die Nation
oder der Staat. Da der Mensch klein ist, müssen auch seine Institutionen – Fami-
lie, Betrieb, Wirtshaus, Spital, Dorf, Stadt, Gesangverein – relativ klein bleiben,
wenn sie ihn nicht zerquetschen sollen.”
Am schlimmsten zerquetscht wird das Individuum Mensch im Krieg, den die
engagierte Sozialreformerin und Vorkämpferin der Frauenbewegung Rosa Mayr-
eder als “die letzte und furchtbarste Konsequenz der absoluten männlichen
Aktivität” umriss. Vor allem auch in diesem Sinne sind ihre in protagoreischer
Diktion gehaltenen Sätze zu verstehen: “Bisher war der Mann das Maß aller Din-
ge; es könnte aber wohl sein, dass in Hinkunft die Auffassung bestimmend wer-
den muss: die Frau ist das Maß aller Dinge.” Ich denke, wenn dies gleichbe-
deutend mit der Abschaffung des Krieges wäre, sollten ein knappes Jahrhundert
. Zahlen nach Klaus Zwickel, Dimensionen einer gerechten Gestaltung der Globalisierung,
in: Susan George u.a. (Hg.), Globalisierung oder Gerechtigkeit? Politische Gestaltung und so-
ziale Grundwerte, Hamburg , –, .
. Das Ende der Großen – Zurück zum menschlichen Maß (übers.v.Edgar Th.Portisch, hg. v.
Ewald Hiebl u. Günther Witzany), Vorwort zur deutschen Ausgabe (), Salzburg–Wien
, . Zu Kohrs Protagoras-Rezeption als Innovationsreservoir: Karl Lahmer, Antike
Philosopheme bei österreichischen Denkern des .Jahrhunderts, in: Festschrift Jahre
Akademisches Gymnasium –, Salzburg , –, ff., .
. Da ich anlässlich der Podiumsdiskussion am .Apr. zu meinem Erstaunen feststellen
musste, dass Rosa Mayreder (–) heute nicht einmal mehr jedem Universitätsprofes-
sor einer österreichischen philosophischen Fakultät bekannt ist – was umso unverständli-
cher sein dürfte, als sie bis Ende auf einer österreichischen Banknote abgebildet war –
, verweise ich auf das knappe Porträt bei William M.Johnston, Österreichische Kultur- und
Geistesgeschichte, übers. v. Otto Grohma, Graz , –, .
. Rosa Mayreder, Geschlecht und Sozialpolitik, in: dies., Geschlecht und Kultur. Essays, Wien
(Erstdruck: Jena–Leipzig ), –, .
. Dies., Zivilisation und Geschlecht, a.a.O., –, .
PETER DANIEL MOSER
Guthrie resümiert den HMS mit den Worten “there is nothing either good or bad,
but thinking makes it so”.
Diesen Satz der antiken Philosophie, der nun eigentlich nicht dem Protagoras
gehört, zitiert der unglückliche Dänenprinz Hamlet, der tatsächlich nicht
nur Züge eines Montaigne, sondern auch eines Protagoras trägt.
Neben Shakespeare gibt es noch einen zweiten literarischen Gründungsvater der
Moderne: Cervantes. Auch seinem Helden, Don Quijote, sind die Dinge, etwa
Windmühlen, wie sie ihm erscheinen: Riesen. Und ebenso die Menschen. Das
einfache Bauernmädchen Aldonza Lorenzo ist für ihn die herrliche Prinzessin Dul-
cinea del Toboso.
Don Quijotes Liebe zu Dulcinea mag etwas Verrücktes haben, aber an diesem
extremen Beispiel erkennen wir:
Liebe ist – dass jemand für uns so ist, wie (nur) sie/er (nur) uns erscheint. Und
hielte die Liebe uns nicht …
Ich frage: Gibt es einen besseren und schöneren Beweis dafür, dass der Satz des
alten Protagoras nicht nur ein “Slogan” ist, sondern doch eine Wahrheit?
. Wegen der besseren Universalisierbarkeit ist freilich eine Begründung ohne Rückgriff auf
religiöse Prämissen zu bevorzugen; ähnlich Mayer-Maly, a.a.O., .
. Guthrie, a.a.O., .
. Sextus Empiricus, adv.Math. XI , schreibt ihn dem Skeptiker Timon (?–?) zu.
. . Akt, . Szene, v. f.
. Vgl. Anthony Burgess, Shakespeare. Eine Biographie, übers. v. Eugen Schwarz, Düsseldorf
, .
. Nicht nur, dass ihm der Hof als Gefängnis erscheint (II ), wird er in der Szene auf dem
Schlachtfeld auch Zeuge, dass . Mann der Feldzug wie ein Gang zu Bett erscheint
(IV , v.–).
. Dies gegen Jörg Hardy, Der Dialektiker und die “Richtigkeit der Bezeichnungen” in Pla-
tons Kratylos, Philologus (), –, .
MENSCHLICHKEIT
ÜBERLEGUNGEN ZU EINEM MASS DES ETHISCHEN
Clemens Sedmak
Der Satz “Der Mensch ist das Maß aller Dinge” ist philosophisch verdächtig. Geht
es in der Philosophie doch (wie es heißt) darum, die Dinge sub specie aeternitatis
zu sehen und auf diese Weise einzuordnen. Es geht um die Überwindung mensch-
licher Perspektiven hin auf regulative Ideale einer “Sicht von Nirgendwo”. Es geht
um die Suche nach einer Perspektive, die gerade den Menschen in seiner geschicht-
lichen und gesellschaftlichen Bestimmtheit übersteigt und von diesen Partikulari-
täten absieht. Eine kritische Philosophie soll bekanntlich die Idee, dass sich die
Sonne um die Erde dreht, überwunden haben. Philosophisch verdächtig ist jener
Satz auch deshalb, weil hier insinuiert wird, dass alle Dinge nach ein- und demsel-
ben Maß gemessen werden können. Kann ein Maßstab an alles angelegt werden?
Der Satz “Der Mensch ist das Maß aller Dinge” ist theologisch verdächtig.
Scheint darin doch eine Anmaßung zu liegen, die Anmaßung eines Standpunktes
von Gültigkeit und Zentralität in einem Universum, dessen Ausgangs-, Bezugs-
und Zielpunkt nach theologischem Ermessen eine übermenschliche Größe ist.
Der Satz “Der Mensch ist das Maß aller Dinge” ist wohl auch kulturwissenschaft-
lich verdächtig. Der Mensch ist nicht “der Mensch”, sondern wir haben es mit vie-
len Menschen zu tun, die in je spezifischen geschichtlichen und gesellschaftlichen
Kontexten stehen. Das menschliche Leben ist durch Individualität, durch die
Sphäre des Praktischen, in der sich der Mensch bewegt, durch Partikularität aus-
gezeichnet. Wie will man hier mit einem Maße messen?
Derlei Verdachtsmomente mahnen zur Behutsamkeit im Umgang mit dem Satz
“Der Mensch ist das Maß aller Dinge”, der also delikater Natur ist. Das Wort “ecce
homo!” sagt viel darüber aus, was es bedeutet, Dinge mit dem Menschlichen als
Maß zu messen. Es ist ein dehnbares Maß – ein Maß, das das Allzumenschliche
und die Idee des Übermenschlichen, das Menschenmögliche und die Faktizität des
Menschseins einschließt. Einer Bemerkung von Wittgenstein gemäß verlöre “die
Prozedur, ein Stück Käse auf die Waage zu legen und nach dem Ausschlag der
Waage den Preis zu bestimmen”, ihren Witz, “wenn es häufiger vorkäme, daß sol-
che Stücke ohne offenbare Ursache plötzlich anwüchsen, oder einschrumpften.”
CLEMENS SEDMAK
Wenn wir nun “den Menschen” als Maß ansehen – wer wollte leugnen, dass dieses
Maß plötzlich anwüchse oder einschrumpfte, selbst wenn die Stücke, die wir mes-
sen wollen, solchen Veränderungen nicht unterliegen?
Wenn es sich aber so verhält, dann folgt daraus, dass die Anwendung des Maßes
eine Angelegenheit der Urteilskraft ist, dass das Maß selbst mit Augenmaß ge-
braucht werden muss, um seinen Zweck erfüllen zu können. Es ist nicht ein Maß,
das ich jeder beliebigen Person in die Hand drücken kann, sondern ein Maß, des-
sen Einsatz die Fähigkeit einschließt, Dinge in Proportionen zueinander zu setzen,
Allgemeines und Besonderes miteinander zu verbinden. Kurz, es ist ein Maß, das
nur mit Weisheit, also mit einem sicheren Gespür für Maß und Mäßigung, ge-
braucht werden kann. Es bedarf gebildeter Urteilskraft, um ein Maß anzuwenden
und sich auf jenen überpersönlichen Standpunkt hin zu entwickeln, der in Fragen
der Einschätzung geboten scheint. Um die Dringlichkeit der Urteilskraft und die
Fähigkeit, vom eigenen Empfinden methodisch abstrahieren zu können, an einem
Beispiel zu illustrieren: Primo Levi bezieht sich in einer Bemerkung auf die Brot-
ausgabe in Auschwitz: “…in fünf Minuten wird Brot ausgegeben, Brot-Broit-
chleb-pane-pain-lechem-kenyér, dieser heilige, graue Würfel, der dir in der Hand
deines Nächsten so riesig vorkommt und in deiner eigenen so klein, daß du wei-
nen könntest.” Fragen des Maßes und des Maßstabs sind sensible Fragen, die be-
hutsames Vorgehen nahelegen, wie es die Urteilskraft als Fähigkeit, das Allgemei-
ne und das Besondere zusammenzudenken, verfolgt.
Zu diesen Verdachtsmomenten könnten Alternativelosigkeiten gestellt werden.
Der Satz “Der Mensch ist das Maß aller Dinge” drückt insofern eine Banalität aus,
als wir uns fragen könnten: Welches andere Maß sollen wir Menschen denn zur
Einordnung der Dinge heranziehen? Können wir denn mit einem anderen als mit
einem menschlichen Maß messen? Mögliche Alternativen wären wohl jene Sicht-
weisen, die sich als Gegenprogramme zu anthropozentrischen Perspektiven verste-
hen, wie etwa biozentrische Betrachtungsweisen, eine “view from nowhere”, ein
Blickwinkel “sub specie aeternitatis” u.ä. Bei diesen Alternativen bleibt bekannt-
lich die Schwierigkeit, dass selbst eine Überwindung des Anthropozentrismus mit
menschlichem Maße definiert werden muss und dass man sogar sagen könnte, ein
methodisches Absehen von subjektiven Momenten im Sinne einer Annäherung
an eine “view from nowhere” sei dem Menschen eigentümlich. Der Mensch, der
den Menschen unendlich übersteigt, ist dann das Maß aller Dinge.
Es ist charakteristisch für den Menschen, dass er eine “Sicht von Nirgendwo”
als regulatives Ideal betrachten und methodisch von bestimmten Faktizitäten ab-
sehen kann. All das gehört zum Menschlichen. Dieses Menschliche lässt sich nicht
abschütteln. Das gilt wohl auch für die Theologie. Manche vertreten die These,
. P. Levi, Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Neuausg. Frankfurt/Main , .
MENSCHLICHKEIT
dass der Gegenstand der Theologie “Gott” sei. Ich halte dies für unrealistisch, weil
das, was den Menschen übersteigt, nicht unabhängig vom Menschen untersucht
werden kann, auf die Sezierbank gelegt werden könnte. Gegenstand der Theologie
ist allemal die Beziehung des Menschen zu Gott, wir können vom Relationsterm
“Mensch” nicht absehen.
In jedem Fall bleibt die Angemessenheit der Behutsamkeit im Umgang mit dem
Satz. Im Sinne der Prinzipien wohlwollender Interpretation soll dieser Satz nicht
primär auf seine Verdachtsmomente, sondern auf seine berechtigten Anliegen hin
untersucht werden. Einen entsprechenden Versuch, diesen Satz ernst zu nehmen,
möchte ich in diesem Beitrag unternehmen: Ich will im Folgenden in aller Kürze
den Begriff der Menschlichkeit als ethisch relevanten Begriff skizzieren und als
Maß für die ethische Beschaffenheit einer Gesellschaft prüfen. Wenn der Mensch
das Maß aller Dinge ist, dann ist er auch das Maß für die ethische Qualität einer
Gesellschaft. Dieser Herausforderung will ich nachgehen.
Alle Versuche, den Himmel auf die Erde zu bringen, haben dazu geführt, dass die
Hölle auf Erden entstanden ist. Das ist ein weiser Hinweis Poppers. Es scheint sei-
ne Tücken zu haben, eine “ideale Gesellschaft” konstruieren zu wollen. Sollten wir
uns nicht vielmehr an eine “Gesellschaft nach menschlichem Maße” halten? Sonst
könnte es uns so ergehen wie Gulliver, der in ein Land ethischer Idealität kommt,
wo für ihn als menschlichem Zwerg die Dinge unerreichbar groß erscheinen, über-
dimensioniert und damit unbrauchbar. Wir könnten also die Fragestellung herab-
schrauben. Dieser Gedanke ist nicht neu: Avishai Margalit hat darauf hingewiesen,
dass die Frage nach einer “anständigen Gesellschaft” der Frage nach einer gerech-
ten Gesellschaft vorzulagern wäre. Die Rede von einer anständigen Gesellschaft
könnte die Latte realistischer legen, nicht etwa so hoch wie manche “ethische
Theorien für Riesen”, dass sie nicht mehr übersprungen werden können.
Wenn man den Menschen als Maß aller Dinge und mithin als Maß für die ethi-
sche Qualität einer Gesellschaft ansehen möchte, dann wird dieses menschliche
Maß dazu dienen, eine Gesellschaft “mit menschlichem Antlitz” in den Blick zu
nehmen. Ergebnis einer solchen Messung könnte eine bestimmte Sozialphilo-
sophie sein, eine “social philosophy with a human face”. Darunter könnte man
eine Form des Philosophierens verstehen, die (i) jenes Maß an Genauigkeit, das
für die Behandlung eines Gegenstandes sinnvoll scheint, einhält, (ii) Fragen und
Nöte der Menschen ernst nimmt, (iii) die Diskussion philosophischer Fragen ein-
bettet in den Kontext der Frage nach dem Ganzen des menschlichen Lebens. Eine
“Philosophie nach menschlichem Maße” könnte in diesem Sinne als ein berechtig-
tes Anliegen verstanden werden. Ich vermute, dass das Maß der Menschlichkeit ge-
eignet sein könnte, den Satz “Der Mensch ist das Maß aller Dinge” auf seine sozial-
philosophische Tauglichkeit hin zu prüfen und eine Form von Philosophie zu be-
treiben, die als “philosophy with a human face” verstanden werden könnte.
Gehen wir dem Maß des Menschlichen nach. Dieses Maß kann sehr nützlich
sein; schließlich hätte es viele Vorteile, wenn man in der Lage wäre, die ethische
Entwicklung einer Gesellschaft oder Kultur zu ermessen. Das Maß der Mensch-
lichkeit soll also, wenn an eine Gesellschaft oder Kultur angelegt, dazu dienen, dass
wir fähig sind, Aussagen über die ethische Beschaffenheit einer Struktur mensch-
lichen Zusammenlebens zu machen.
Der Begriff der Menschlichkeit ist doppeldeutig, und diese Doppeldeutigkeit
wollen wir uns zunutze machen: Zum einen verstehen wir unter Menschlichkeit
das, was dem Menschen eigentümlich ist, was dem Menschen zukommt. Dies ist,
wenn man so will, der deskriptive Aspekt des Begriffs, geht es doch in diesem Falle
darum, die conditio humana zu beschreiben, festzuhalten, was zum Menschen ge-
hört. Zum anderen drückt der Begriff der Menschlichkeit etwas Normatives aus,
hat mit “Wohlwollen” zu tun, mit “Barmherzigkeit”, mit “Menschenfreundlich-
keit”, im Gegensatz zum Unmenschlichen. Dieser zweite Aspekt des Begriffs lässt
diesen Begriff als geeignet erscheinen, um das Maß der Menschlichkeit als ethi-
schen Maßstab zu verwenden. Dennoch ist, wie erwähnt, die Doppeldeutigkeit
von Belang: Ich muss wissen, was die conditio humana ausmacht, ich muss wissen,
was dem Menschen eigentümlich ist, ehe ich weiß, was ich von Menschen in ethi-
scher Hinsicht erwarten und verlangen darf. Der deskriptive Aspekt des Begriffs
der Menschlichkeit sorgt dafür, dass es sich um ein realistisches Maß handelt, das
an die Gesellschaft oder Kultur angelegt wird. Dieses Maß hilft dabei, Ethik un-
ter unidealen Bedingungen zu betreiben.
Wie soll man einen Begriff von Menschlichkeit entwickeln? Der für diesen Be-
griff relevante Horizont scheint uferlos zu sein; das Problem erinnert an die
Schwierigkeit, einen Begriff von “Sprache” zu entwickeln. Wittgenstein hatte sei-
nerzeit das Problem dadurch gelöst, dass er den Begriff “Sprachspiel” – wie etwa
im Blue Book – eingeführt hat, zunächst als Begriff für überschaubare Kontexte
von Sprachgebrauch. Wittgenstein hat also erstens empfohlen, Sprache anhand
von einfachen, überschaubaren Kontexten von Sprachgebrauch zu untersuchen.
. Vgl. L. Wittgenstein, Das Blaue Buch, in: Werkausgabe, Bd. . Frankfurt/M. , f.
MENSCHLICHKEIT
() Der Begriff der Menschlichkeit kann nicht getrennt werden vom Begriff des
Menschseins. Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Ecce homo! Eine Theorie der
Menschlichkeit darf nicht außer Acht lassen, wessen der Mensch – im Guten wie
im Bösen – fähig ist. Avishai Margalit hat davon gesprochen, dass wir die Pflicht
haben, uns an das radikal Böse zu erinnern. Wir dürfen nicht vergessen, zu wel-
cher Fratze sich das Antlitz des Menschen verzerren kann. Andererseits, so scheint
mir, dürfen wir auch nicht vergessen, was wir an beispielgebender Lebenspraxis
kennen. Das fundamental Gute, zu dem Menschen fähig sind, ist ebenso Gegen-
. Dabei verwende ich folgende Abkürzungen: LM: Primo Levi, Ist das ein Mensch? Erinne-
rungen an Auschwitz, Neuausgabe, Frankfurt/M. ; LA: Primo Levi, Die Atempause,
. Aufl., München ; ST: Jorge Semprun, Der Tote mit meinem Namen, Frankfurt/M.
.
. Abkürzungen: CM: J. M. Coetzee, Leben und Zeit des Michael K, .Aufl., Frankfurt/M.
; CS: J.M.Coetzee, Schande, .Aufl., Frankfurt/M. ; WB: J.M.Coetzee, Warten
auf die Barbaren, Frankfurt/M. .
. Vgl. A. Margalit, Ethik der Erinnerung, Frankfurt/M. , .
CLEMENS SEDMAK
stand einer Ethik der Erinnerung. Beide, die “best examples” und die “worst
cases”, geben Anlass zu Verwunderung, zum Staunen, zum Entsetzen. Der Blick
auf die vielen Gesichter des Menschen, der immer und immer wieder sagen lässt
“Ecce homo”, dieser Blick erinnert an Wittgensteins viel zitierten Ratschlag:
“Denk nicht, sondern schau!” Dieser Blick auf das, was der Mensch war, ist, sein
könnte – dieser Blick kann sich nicht abwenden, wenn es darum geht, sich Klar-
heit über das Menschliche zu verschaffen. Dieser Blick auf den Menschen ist dem
Menschen zumutbar.
Primo Levi hat immer wieder darauf hingewiesen, dass dieses Staunen, ja Ent-
setzen darüber, was möglich ist, nicht abstumpfen dürfe. Wir dürfen nicht verges-
sen, “was in Auschwitz Menschen aus Menschen zu machen gewagt haben” (LM
). Es geht hier auch um die Erhaltung eines moralischen Empfindungsgefühls,
einer moralischen Sensibilität, es geht um Scham, etwa “die Scham über Ausch-
witz, die Scham, die jeder Mensch darüber empfinden müßte, daß es Menschen
waren, die Auschwitz erdacht und errichtet haben” (LM ). Es ist erstaunlich,
dass wir Situationen herstellen können, in denen sich ethisch relevante Fragen nach
dem Begriff des sinnvollen Verhaltens stellen: “Dort erwarteten uns Zug und Be-
wachung. Und dort bekamen wir die ersten Schläge. Das war so neu für uns und
so unsinnig, daß wir keinen Schmerz empfanden, weder körperlichen noch seeli-
schen. Nur tiefe Verwunderung: Wie kann man einen Menschen ohne Zorn schla-
gen?” (LM f.). Die Willkür erschüttert, es fehlt die Zuweisbarkeit zu Regelhaf-
tem. Sinnvolles Verhalten ist Verhalten, das wir unter eine Regel stellen können.
Eine moralisch relevante Regel ist eine solche, die von einem überpersönlichen
Standpunkt aus gerechtfertigt und reflexiv, d.h. auf den Konstrukteur der Regel
hin angewendet werden kann.
Wir dürfen nicht vergessen, wozu ein Mensch imstande ist. Das ist eine Frage
der Ethik der Erinnerung. Wir dürfen die “best examples” nicht vergessen. Sie ge-
ben Kraft, sind Anlass zu begründeter Hoffnung, stiften Orientierung, Wir dürfen
die beispielgebende, fundamentale Praxis nicht vergessen, zu der Menschen fähig
sind, die durch das Zeugnis ihres Lebens einen Blick auf das Leben als ganzes er-
lauben und aufzeigen, was der Mensch sein könnte. Bildungseinrichtungen sind
Teile dieser Ethik der Erinnerung. Es ist Aufgabe der Universität, die Erinnerung
an das Menschliche lebendig zu erhalten. Wir dürfen aber auch die “worst cases”
nicht aus den Augen verlieren. Sie drücken Warnung aus, Mahnung, zeigen das
Gewicht menschlichen Handelns auf. Wir dürfen nicht vergessen, dass es Men-
schen sind, die anderen Menschen die Hölle bereiten können: “Dies ist die Hölle.
Heute, in unserer Zeit, muß die Hölle so beschaffen sein, ein großer, leerer Raum,
und müde stehen wir darin, und ein tropfender Wasserhahn ist da, und man kann
das Wasser nicht trinken, und uns erwartet etwas gewiß Schreckliches, und es ge-
schieht nichts und noch immer geschieht nichts. Wie soll man da Gedanken fas-
sen? Man kann keine Gedanken mehr fassen; es ist, als seien wir bereits gestor-
ben” (LM ). Der Begriff der Hölle hat wesentlich mit Identitätsverlust zu tun.
Es ist dem Menschen möglich, anderen Menschen Identität abzusprechen, Identi-
tät auszulöschen, Namen zu tilgen, Existenzen zu vernichten, Leben zu zerstören,
Lebenspläne zunichte zu machen. Das Böse ist nicht unmenschlich, sondern –
kantisch gesprochen – Ausdruck der menschlichen Freiheit.
Das Menschliche, Allzumenschliche ist Teil der conditio humana. Jorge Sem-
prun beschreibt das Lächeln eines SS-Mannes. “Ein entzücktes, grausames Lä-
cheln: ein menschliches, allzu menschliches. Das unnachahmliche Lächeln der
menschlichen Lust am Bösen” (ST ). Das Allzumenschliche, das Unmenschliche
sind Teil dessen, was den Begriff des Menschen und den Begriff des Menschseins
ausmacht. Daraus ergibt sich eine Komplexität des Begriffs, der nicht auf eine sau-
bere Formel gebracht oder auf wenige allgemeine Prinzipien reduziert werden
kann. Wenn wir den Satz “Der Mensch ist das Maß aller Dinge” bedenken wol-
len, können wir nicht von allem Widersprüchlichen absehen, das im Begriff des
Menschlichen mitschwingt. Die Anerkennung der Komplexität des Menschseins,
des Menschlichen, führt zu einer Behutsamkeit im Umgang mit entsprechenden
Begriffen, im Fällen von Urteilen, in der Anwendung von Maßstäben und der
Durchführung von Messungen. Komplex wird das Maß des Menschlichen, wenn
wir es anwenden.
J.M.Coetzee beschreibt in seinem Roman Waiting for the Barbarians, der durch-
aus als eine Studie in Unmenschlichkeit angesehen werden kann, den ranghohen
Offizier einer Sondereinheit, der auch für Folter zuständig ist. Es ist ein komplexes
Bild, das hier gezeichnet wird: “Sein Gesicht ist nackt, reingewaschen, vielleicht
vom fahlen Mondlicht, vielleicht durch körperliche Erschöpfung. Ich starre seine
blasse hohe Stirn an. Dieser Bienenkorb beherbergt Erinnerungen an die weiche
Brust seiner Mutter, an das leichte Zerren seines ersten Drachens, den er am Strick
hielt und steigen ließ, genauso wie an die intimen Grausamkeiten, für die ich ihn
verabscheue” (WB ). Es ist mühsam und schmerzhaft, dieser Komplexität ge-
recht zu werden. Erstens, weil damit eine Langsamkeit der Untersuchungen ver-
bunden ist, zweitens, weil damit die Eindeutigkeit von Urteilen, die Treffsicherheit
von Aussagen erschüttert wird, drittens weil diese Art von Untersuchung kaum zu
. “The complete loss of one’s identity is, with all propriety of theological definition, hell”
(J. C. Murray, We Hold These Truths, New York , ).
CLEMENS SEDMAK
einem Ende kommen kann. Das ist der Preis, der für den Realismus eines Begriffs
des Menschlichen gezahlt werden muss. Ecce homo! Denk nicht, sondern schau!
() Es ist Teil der conditio humana, dass wir in Strukturen der Geschichtlichkeit le-
ben, dass wir eine Geschichte haben, die wir mit uns tragen und nicht abschüt-
teln können. Natürlich gibt es die Sehnsucht nach heilsamem Vergessen, nach ei-
nem radikalen Neuanfang, der Wurzel, Stamm und Äste des individuellen und kol-
lektiven Lebensbaums erneuert. Nach Grausamkeiten sind diese Sehnsüchte be-
sonders stark, wie Coetzee mit eindrucksvollen Worten ausdrückt. Den so genann-
ten Barbaren wurde Unmenschliches angetan und das Leiden der Opfer fällt auf
die Täter zurück: “Es wäre das Beste, wenn dieses dunkle Kapitel der Weltgeschich-
te sofort beendet würde, wenn diese häßlichen Menschen vom Angesicht der Erde
beseitigt würden und wir geloben würden, einen neuen Anfang zu machen und ein
Reich zu gründen, in dem es keine Ungerechtigkeit, keinen Schmerz mehr gäbe.
Es würde wenig kosten, sie hinaus in die Wüste marschieren zu lassen (nachdem
man ihnen zunächst eine Mahlzeit verabreicht hätte, um den Marsch zu ermög-
lichen), sie dazu zu bringen, mit ihrer letzten Kraft eine Grube auszuheben, groß
genug, damit alle darin Platz fänden, (oder die Grube sogar für sie auszuheben!)
und sie dort begraben sein zu lassen für alle Ewigkeit, um dann zur ummauerten
Stadt zurückzukehren voller neuer Vorhaben, neuer Vorsätze” (WB ). Doch Ver-
gangenheit kann man nicht ungeschehen machen; es ist Teil des Menschlichen,
dass wir irreversible Akte setzen können, dass Geschehenes nicht ausradiert wer-
den kann, wohl aber: erinnert, korrigiert.
Jeder Mensch hat seine eigene, besondere, unverwechselbare Geschichte.
Menschliches Leben wird als bestimmtes, als besonderes, als “mein” Leben gelebt.
. Diese Irreversibilität kann zur Last werden, die kaum abgedient werden kann, wie Primo
Levi, der Selbstmord beging und bis zuletzt mit den Erfahrungen von Auschwitz ge-
rungen hatte, festhält. Er beschreibt die Stunde der Befreiung aus dem KZ: “So schlug auch
die Stunde der Freiheit für uns ernst und lastend und erfüllte unsere Seelen mit Freude und
zugleich einem schmerzlichen Schamgefühl, um dessentwillen wir gewünscht hätten, unser
Bewußtsein und unser Gedächtnis von dem Greuel, den es beherbergte, reinzuwaschen: und
mit Qual, weil wir spürten, daß es nicht möglich war, daß nie irgend etwas so Gutes und Rei-
nes kommen könnte, das unsere Vergangenheit auslöschen würde, und daß die Spuren der
Versündigung für immer in uns bleiben würden, in der Erinnerung derer, die es miterlebt ha-
ben, an den Orten, wo es geschehen war, und in den Berichten, die wir darüber abgeben wür-
den. Daher … hat niemals jemand besser als wir die unheilbare Natur der Versündigung be-
greifen können, die sich ausbreitet wie eine ansteckende Krankheit. Es ist unsinnig, zu glau-
ben, sie könne durch menschliche Gerechtigkeit getilgt werden. Sie ist eine unerschöpfliche
Quelle des Bösen: Sie zerbricht Körper und Seele der Betroffenen, löscht sie aus und ernied-
rigt sie; sie fällt als Schande auf die Unterdrücker zurück, schwelt als Haß in den Überleben-
den fort und wuchert weiter auf tausend Arten, gegen den Willen aller, als Rachedurst, als
moralisches Nachgeben, als Verleugnung, als Müdigkeit und als Verzicht” (LA ).
MENSCHLICHKEIT
. Vgl. A.Assmann, Erinnerungsräume, München ; H.Weinrich, Lethe, München .
CLEMENS SEDMAK
(CS ). Das Leben in der Welt hat sich durch diese Erfahrung nachhaltig für
Coetzee verändert, Unumkehrbares ist geschehen, eine Wunde ist geschlagen, die
als Narbe – wenn sie vernarbt – stets präsent bleiben wird.
Es gehört zum Menschsein, dass wir Dinge erleben können, die uns für den
Rest unseres Lebens prägen. Jean Améry hat darauf hingewiesen, dass derjenige,
der einmal gefoltert wurde, für immer gefoltert wurde. Es gibt Erfahrungen, die
Lasten aufbürden, die nicht mehr abgeschüttelt werden können. Es ist mensch-
lich, mit der eigenen Geschichte zu leben. Es ist ein Faktum der conditio humana,
dass Menschen sich in geschichtlichen Begriffen begreifen; es ist eine ethische
Herausforderung, mit Fragen der Ethik der Erinnerung und der Ethik der eigenen
Geschichte umzugehen. Es ist eine ethische Herausforderung, mit vorgegebenen
Ausgangspunkten, mit Altlasten und Erbschaften zu leben; es ist eine ethische
Herausforderung, Identität in Geschichtlichkeit zu erarbeiten. Eine Interpretation
des Satzes “Der Mensch ist das Maß aller Dinge” wird nicht absehen können von
der Geschichtlichkeit menschlicher Existenz; damit wird das Maß des Menschen
zu einem geschichtlichen Maß, wiewohl auch: zu einem Maß der Geschichte.
() Es ist Teil des Menschseins, “irgendwo” zu sein, das Leben “(from) some-
where” zu leben. Wir könnten diesen Aspekt mit dem etwas öden Begriff der Kon-
textualität bezeichnen. Ein Mensch zu sein, bedeutet, eine “Sicht von Irgendwo”
einzunehmen, ein bestimmtes Leben unter bestimmten Umständen zu leben.
Ähnlich wie – im Sinne einer Sachverhaltsontologie – Gegenstände nicht
schlechthin, als solche und “einfach so” vorkommen, sondern stets im Rahmen
von Sachverhalten, leben Menschen ihr Leben in bestimmten Kontexten. Über
diese Kontexte können wir nicht so ohne weiteres frei verfügen. Die Mikro-
existenz des Einzelnen ist mit Makrostrukturen verknüpft. Diese Erfahrung macht
Lucy, die weibliche Hauptfigur in Coetzees Disgrace, sie wird – darauf wurde im
vorigen Punkt Bezug genommen – als weiße Südafrikanerin von drei schwarzen
Männern vergewaltigt:
“‘Warum haßten sie mich so? Ich hatte sie nie zuvor gesehen.’
Er wartet, daß etwas folgt, aber es folgt nichts, für den Augenblick. ‘Die Ge-
schichte hat durch sie gesprochen’, bietet er schließlich als Erklärung an. ‘Eine
Geschichte des Unrechts.’” (CS )
Lucy ist Teil eines Kontextes, über den sie nicht verfügt, den sie nicht nach Be-
lieben manipulieren kann und der ihr doch Identität verleiht. Mit der Einbettung
. Vgl. J. Améry, Jenseits von Schuld und Sühne, .Aufl., Stuttgart , .
. Vgl. H.Kraml, “States of Affairs”, in: Erkenntnis (), –.
MENSCHLICHKEIT
in einen Kontext hängt die Sehnsucht zusammen, diesen Kontext zu gestalten, die-
sen Kontext als identitätsstiftend erfahren zu können, irgendwo beheimatet zu sein.
Es gehört zu Strukturen der Unmenschlichkeit, einem Menschen all das zu neh-
men, was ihm Heimat sein kann. Primo Levi hat diese Erfahrung in Auschwitz ge-
macht: “Ich fragte ihn (mit einer Naivität, die mir einige Tage später schon sagen-
haft vorkommen wird), ob wir denn wenigstens unsere Zahnbürsten zurückerhal-
ten werden. Darüber lacht er nicht, sondern macht ein verächtliches Gesicht und
wirft mir die Worte hin: ‘Vous n’êtes pas à la maison.’ Das aber ist der Kehrreim,
den wir uns von allen immer und immer wieder sagen lassen müssen” (LM ). In
einem Kontext beheimatet zu sein, heißt: auf Vertrautes zurückgreifen zu können;
Vertrauen in die Strukturen des betreffenden Kontextes zu haben; diesen Kontext
identifizieren und sich selbst anhand dieses Kontexts bestimmen zu können. Ent-
scheidende Faktoren für diese Vertrautheit sind Namen, Benennen, Benennun-
gen. Dadurch rücken die Konturen des Kontexts als bestimmte und besondere
Konturen in den Blick, werden verbunden mit einem “je meinen” Lebenslauf und
einer je besonderen Weise, Mensch zu sein. Die “Sicht von Irgendwo” ist Sicht von
einem bestimmten “Wo”, und verweist auf die viel diskutierte Irreduzibilität der
subjektiven Perspektive.
Die “Sicht von Irgendwo” kann auch in Begriffen von “Dasein” übersetzt wer-
den. Wir Menschen sind nicht einfach, wir sind “da”. Wir leben nicht nur in
einer Welt, sondern in einer Umwelt, menschliches Sein ist, wenn man sich so
poetisch ausdrücken will, angewiesen auf “Umsein”. Wir brauchen Strukturen, die
das Rückgrat unseres Lebens bilden; menschliches Leben nimmt eine Form an,
menschliches Leben ist Lebensform. Menschliche Existenz ist nicht punktuelle
Existenz in einem Vakuum, wir können nicht auf eine leere Insel geworfen wer-
den und dort überleben, Robinson Crusoe war angewiesen auf Strukturen, die er
auf seiner Insel fand. Man könnte diesen Umstand, dass menschliches Dasein die
Gestalt einer Lebensform annehmen muss und auf Strukturen angewiesen ist,
. Es ist Teil des Menschen, irgendwo jemand sein zu können, jemand ganz Bestimmter und
einen Namen zu haben:
“…in meinem Kameraden, der heute mit mir unter demselben Joch arbeitet, sehe ich weder
einen Feind noch einen Rivalen.
Es ist Null Achtzehn. Nur so heißt er: Null Achtzehn, die letzten drei Ziffern seiner Num-
mer; als sei sich ein jeder bewußt geworden, daß nur ein Mensch es verdient, einen Namen
zu haben und daß Null Achtzehn kein Mensch mehr ist. Ich glaube, er selber hat seinen
Namen vergessen, denn so benimmt er sich. Seine Sprache und sein Blick erwecken den
Eindruck, als sei sein Inneres leer, als bestehe er nur noch aus der Hülle, wie die Reste man-
cher Insekten, die man, mit einem Faden an einem Stein hängend, an den Ufern der Tei-
che findet, und der Wind hat sein Spiel mit ihnen” (LM ).
Zur Bedeutung von Namen im Kontext einer Ethik der Erinnerung vgl. Margalit, Ethik
der Erinnerung, ff.
CLEMENS SEDMAK
. Illustrierend: Coetzee lässt seine Hauptfigur, die in Einzelhaft gehalten ist und unmenschli-
che Lebensstrukturen auferlegt bekommt, auf diese Gemeinschaftsverwiesenheit aufmerksam
machen. “Nach zwei Tagen Einsamkeit erscheinen mir meine Lippen schlaff und nutzlos,
meine eigene Rede ist mir fremd. Der Mensch wurde wahrhaftig nicht geschaffen, um al-
lein zu sein! Unvernünftigerweise organisiere ich meinen Tag um die Stunden herum, an
denen ich Essen bekomme. Ich schlinge mein Essen wie ein Wolf hinunter. Ein tierisches
Leben verwandelt mich in ein Tier” (WB ). Ein Verlust von Gemeinschaftsbezug ist
gleichzusetzen mit Entmenschlichung.
. Manche Menschen können einen solchen Lebensplatz nicht ausfindig machen oder treffen
auf Hindernisse, die ihnen Lebensplätze vorenthalten. Man kann sich manche Gesellschaf-
ten durchaus in dem Sinne vorstellen, dass hier Tickets für Lebensplätze vergeben werden.
Es liegt eine ungeheure Tragik darin, “niemand” zu sein, keinen Lebensplatz zu haben und
damit: keine Identität. Diese Tragik wird deutlich am Beispiel von Hurbinek, einem Kind in
Auschwitz: “Hurbinek war ein Nichts, ein Kind des Todes, ein Kind von Auschwitz. Unge-
fähr drei Jahre alt, niemand wußte etwas von ihm, es konnte nicht sprechen und hatte kei-
nen Namen: Den merkwürdigen Namen Hurbinek hatten wir ihm gegeben; eine der Frauen
hatte mit diesen Silben vielleicht die unartikulierten Laute, die der Kleine manchmal von
sich gab, gedeutet. Er war von den Hüften abwärts gelähmt, und seine Beine, dünn wie
Stöckchen, waren verkümmert” (LA f.). “Hurbinek, drei Jahre alt und vielleicht in Ausch-
witz geboren, Hurbinek, der nie einen Baum gesehen hatte und der bis zum letzten Atem-
zug gekämpft hatte, um Zutritt in die Welt der Menschen, aus der ihn eine bestialische
Macht verbannt hatte, zu erhalten; Hurbinek, der Namenlose, dessen winziges Ärmchen
doch mit der Tätowierung von Auschwitz gezeichnet war – Hurbinek starb in den ersten
Tagen des März , frei, aber unerlöst. Nichts bleibt von ihm: Er legt Zeugnis ab durch
diese meine Worte” (LA ). Die ultimative Konsequenz daraus, über keinen Lebensplatz
zu verfügen, ist der Tod. Gustavo Gutiérrez hat Menschen, die keinen Lebensplatz bekom-
men, als “los pobres” charakterisiert und den berühmten Satz geprägt: “Die Armen sterben
MENSCHLICHKEIT
vor der Zeit.” Sie sterben vor Entfaltung ihres Potenzials, sie sterben vor einem Zugang zu
Fähigkeiten, Gelegenheiten, Gütern. Vgl. G.Gutiérrez, Theologie der Befreiung, ., erw.
und neubearb. Aufl., Mainz .
. Diese Situation beschreibt Coetzee, der den Bewohner eines Lagers, das sich in der Nähe
der Stadt befindet, erbittert sagen lässt: “Die wollen kein Lager so nahe an ihrer Stadt. Haben
sie noch nie gewollt. Gleich von Anfang an haben sie ’ne große Kampagne gegen das Lager
geführt. Wir sind ein Krankheitsherd, haben sie gesagt. Keine Hygiene, keine Moral. Ein
Nest des Lasters, Männer und Frauen alle zusammen … Was sie wirklich gern hätten – das
ist meine Meinung –, ist, daß das Lager meilenweit draußen im Koup läge, außer Sichtweite.
Dann könnten wir um Mitternacht kommen, auf Zehenspitzen, und ihnen ihre Arbeit ma-
chen wie die Heinzelmännchen, die Gärten umgraben und die Töpfe abwaschen, und am
Morgen wären wir dann weg, und alles wär hübsch ordentlich und sauber” (CM f.).
CLEMENS SEDMAK
du hast ein Bett. Du hast einen Job. Die Menschen in der Welt da draußen haben
ein schweres Leben, du hast es selber gesehn, ich brauch’ dir das nicht zu sagen”
(CM ). Es reicht nicht aus, dass eine bestimmte Infrastruktur zur Sicherung
und Ermöglichung einer menschlichen Existenz geboten wird; es ist auch not-
wendig, dass innere Bedingungen erfüllt sind. Einen Lebensplatz zu haben, bedeu-
tet nicht nur, sich auf eine Infrastruktur stützen zu können, sondern auch, (s)einen
Platz im Kosmos gefunden (d.h. hinreichende Orientierungsleistungen erbracht)
zu haben.
Der Satz “Der Mensch ist das Maß aller Dinge” kann nicht absehen von all
dem, was zum menschlichen Dasein gehört. Am Maße des Menschlichen hängen
all jene Faktoren, die mit dem “Lebensplatz” eines Menschen zusammenhängen.
Eine ethische Herausforderung besteht dann darin, den “Zugang zu Lebensplät-
zen” zu garantieren. In einer menschlichen Gesellschaft wird jedem Menschen
Zugang zu einem Lebensplatz und damit zur Möglichkeit, an einem bestimmten
Ort ein bestimmtes Leben zu führen, eingeräumt.
() Menschlichkeit heißt: nicht indifferent zu sein. Ein Mensch ist ein Wesen, das
sich rühren und berühren lässt. Wir könnten diesen Aspekt von Menschlichkeit
Tangibilität nennen. Avishai Margalit macht darauf aufmerksam, dass wir Moral
deswegen brauchen, um gegen unsere Gleichgültigkeit anzukommen. Sich in
einer bestimmten Situation menschlich zu verhalten, bedeutet, das Besondere an
einer Situation zu sehen und den in dieser Situation sich zeigenden Herausforde-
rungen nicht gleichgültig gegenüber zu stehen. Ex negativo folgt daraus, dass
Strukturen der Unmenschlichkeit sich an mangelnder Bereitschaft zum Einsatz
von Urteilskraft zeigen: Es ist unmenschlich, systematisch vom besonderen Ge-
wicht des Einzelfalls abzusehen. Ein Beispiel aus einem Roman von Coetzee:
“‘Wie können Sie Strafexerzieren mit ihm machen? Er ist schwach wie ein Baby,
das sieht man doch.’
‘Dienstvorschrift’, erwiderte er.” (CM )
ranz für Abweichungen und strikte Standardisierung herrscht, dass kein Spielraum
vorhanden ist, um einen Einzelfall als Einzelfall würdigen zu können. Wir kom-
men im Abschnitt noch auf diesen Aspekt zurück. Es ist unmenschlich, wenn
keine Zeiten und Räume für den Einzelnen aufgeboten werden, wenn die Frei-
räume und Spielräume für Verständigung fehlen, wenn sich der Einzelne nicht
verständlich machen kann. Primo Levi hat dies in Auschwitz erfahren: “Die
Sprachverwirrung gehört zu den Hauptbestandteilen der Lebensweise hier unten;
man ist von einem fortwährenden Babel umgeben, wo sie alle in niemals zuvor ge-
hörten Sprachen Befehle und Drohungen schreien, und wehe dem, der nicht im
Flug begreift! Keiner hat hier Zeit, und keiner hat Geduld, und keiner hört dich
an” (LM ). Hier paart sich Indifferenz mit einer Einengung des Spielraums.
Dass Unmenschlichkeit mit Indifferenz zu tun hat, zeigt sich auch daran, dass
das Ende der eigenen Menschlichkeit dann und dort erreicht ist, wo die Dinge
gleich-gültig werden. Diese Erfahrung macht Fosca, die Hauptfigur von Simone de
Beauvoirs Roman Alle Menschen sind sterblich. Fosca hat ein Unsterblichkeitselixier
konsumiert und lebt nun auf einen ewigen Horizont hin; alles erscheint ihm
gleichgültig, ihm entgleitet die Motivation, zu handeln. Dadurch bekommt er
unmenschliche Züge. Berichte aus den Konzentrationslagern halten fest, dass das
Ende der menschlichen Existenz dann erreicht ist, wenn ein Zustand der Indiffe-
renz eingesetzt hat: “Hätten wir mit diesen allmorgendlichen Verrichtungen aufge-
hört, diesen völlig gedankenlosen Gesten, so wäre dies der Anfang vom Ende ge-
wesen, der Beginn der Selbstaufgabe, das erste Anzeichen einer angekündigten Nie-
derlage. Wenn man merkte, daß ein Kumpel es unterließ, seine morgendliche Toi-
lette zu machen und daß überdies sein Blick erlosch, mußte man sofort eingrei-
fen. Mit ihm sprechen, ihn zum Sprechen bringen, dafür sorgen, daß er sich von
neuem für die Welt, für sich selbst interessierte” (ST ).
Menschlichkeit hat mit Interesse und Anteilnahme, mit Teilhaben und Teilnah-
men, mit der Wahrnehmung von Differenzen zu tun. Auch das von Coetzee be-
schriebene Schicksal von Michael K. ist von dieser Einebnung von Unterschieden
betroffen: “An die Ausgangssperre hielt er sich nicht mehr. Er glaubte nicht, daß
menschliche Seele außerhalb von Klassifikationen, als eine von Doktrin, von Geschichte
gnädig verschonte Seele, die ihre Schwingen regt in diesem schwer beweglichen Sarkophag,
die murmelt hinter ihrer Clownsmaske” (CM ).
. Vgl. C.Sedmak, Kleine Verteidigung der Philosophie, München , ff.
. Der Boden der menschlichen Existenz ist erreicht, wenn der Lauf der Welt keinen Unter-
schied mehr macht: “Alles ist ihm so gleichgültig, daß er sich gar nicht mehr darum küm-
mert, Mühen und Schläge zu vermeiden oder Nahrung zu suchen. Er führt jeden Befehl aus,
den er bekommt, und wenn sie ihn in den Tod schicken werden, so wird er wahrscheinlich
mit derselben völligen Gleichgültigkeit hingehen” (LM ). “…was mich … selbst betrifft,
so bin ich jetzt dermaßen erschöpft …, daß … mir alles gleichgültig erscheint” (LM ).
Primo Levi schreibt auch von “unserem gleichgültig gewordenen Blick” (ST ).
CLEMENS SEDMAK
ihm etwas zustoßen könnte; und wenn ihm etwas zustieße, wäre es nicht wich-
tig” (CM ). “Seine Teilnahmslosigkeit wollte nicht weichen. Sollen die doch
kommen, dachte er, was macht das schon” (CM ) – Menschlichkeit hat mit der
Überwindung von Teilnahmslosigkeit zu tun. Menschlichkeit bedeutet, eine “In-
sider’s View” einzunehmen, eine Beteiligtenperspektive. Menschlichkeit hat mit
Fragilität zu tun, damit, dass sich Menschen rühren und berühren lassen, damit,
dass Verletzlichkeit und Verwundbarkeit in die Interaktion einfließen. Menschlich-
keit hat etwas mit Involviertheit zu tun, mit einem “Sich Be-Rühren-Lassen”, also
damit, dass die Qualität der Interaktion, die Eigenart des Geschehnisses, die Spezi-
fität der Erfahrung einen Unterschied machen. Menschlichkeit hat damit zu tun,
dass Menschen Empfindungen haben und zeigen.
Menschlichkeit hat mit “Personalität” zu tun, damit, dass sich eine Qualität per-
sönlichen Handelns im Umgang mit Menschen zeigt und Interaktionen zwischen
Menschen nicht allein im Rahmen institutionellen Handelns stattfinden, in dem
der Einzelne hinter seine Rolle zurücktritt und damit austauschbar wird. Der Ver-
lust eines individuellen Moments zugunsten institutioneller Verfasstheit erzeugt
Unmenschlichkeit. In Coetzees Szenario erfährt dies der Magistrat in der Begeg-
nung mit dem Obersten der Abteilung III: “Joll erwidert mein Lächeln nicht. Vor
Gefangenen bewahrt man offenbar eine bestimmte Haltung” (WB ). Institutio-
nelles Handeln ist ein Schutz, die einzunehmende Rolle mit den damit verbunde-
nen Regeln erzeugt Sicherheit und hilft über Fragen der Handlungsgestaltung hin-
weg: “Vom zweiten Tag seines Hierseins an hat mich seine Anwesenheit zu sehr be-
unruhigt, als dass ich mich ihm gegenüber anders als rein korrekt verhalten hätte”
(WB ). Entscheidend für die Menschlichkeit einer Gesellschaft wird deshalb eine
Ethik der Institution sein, eine Ethik institutionellen Handelns.
Institutionell verfasstes Dasein hat mit Regeln zu tun, die Stabilität geben, aber
auch die Gefahr der Rigidität bergen: “Trotz seiner gewinnenden Art hat sein Den-
ken eine Starrheit, die von seiner militärischen Erziehung stammen muss” (WB
). So heißt es denn auch: “Wir haben feste Prozeduren, die wir anwenden” (WB
), “ich habe einen Auftrag zu erfüllen” (WB ). Wenn man die Menschlichkeit
einer Gesellschaft prüft, wird man besonderes Augenmerk auf das institutionelle
Handeln, auf “offizielles Auftreten” richten. Menschen, die sich ausschließlich im
Rahmen institutionellen Handelns begreifen und verständlich machen, tragen zur
Entmenschlichung einer Gesellschaft bei.
Menschlichkeit hat damit zu tun, dass sich ein Mensch von einem anderen
Menschen rühren lassen kann. Dies erfährt der Magistrat im Umgang mit einem
Folteropfer, einer jungen Frau, die gleichmütig alles mit sich machen lässt. Diese
Indifferenz macht ihm zu schaffen: “Ich bin beunruhigt. ‘Was muss ich tun, um
dich zu rühren?’ – das sind die Worte, die ich in meinem Kopf als unterschwel-
liges Gemurmel höre, das allmählich eine Unterhaltung ersetzt. ‘Kann dich denn
keiner rühren?’” (WB ). Menschlichkeit hat mit Rühren und Berühren zu tun.
MENSCHLICHKEIT
() Menschlichkeit hat mit Anerkennung zu tun, mit der Anerkennung des Mit-
gliederstatus in der Menschheitsfamilie. Es ist unmenschlich, aus der Menschheits-
familie ausgeschlossen zu werden, nicht als Mensch unter Menschen anerkannt zu
werden, nicht als “Seinesgleichen unter Seinesgleichen” behandelt zu werden. Es
geht um die Anerkennung von Gemeinsamkeiten vor der Konstatierung von Diffe-
renz. Diese Anerkennung hat Implikationen – die Implikation etwa, dem Anderen
. Der grundsätzliche Standpunkt ist ein Standpunkt der Nichtinvolviertheit: “Wenn ich aus
dem Leben scheide, hoffe ich, mir drei Zeilen Kleingedrucktes im Reichsblatt verdient zu
haben. Ich wollte nie mehr als ein ruhiges Leben in ruhigen Zeiten” (WB ).
. Margalit versteht Demütigung als Ausschluss eines Menschen aus der Familie der Men-
schen; vgl. Margalit, Politik der Würde, ff.
CLEMENS SEDMAK
ein kulturell gestaltetes Leben zu ermöglichen. Es geht um eine Form der Aner-
kennung, die nicht nur die Existenz des Anderen zur Kenntnis nimmt, sondern
auch das Dasein des Anderen als Mit-Sein auf geteilter Grundlage anerkennt. Es
geht sozusagen um “Ko-Rekognition”, um “Mit-Anerkennung”. Hier sind Identi-
tätsfragen berührt.
Coetzees Waiting for the Barbarians ist eine Studie in der Verweigerung von
Anerkennung. Der frühere Magistrat wird von der Autoritätsperson zum Häft-
ling.
“Das Abendessen wird mir vom kleinen Enkelsohn der Köchin gebracht. Ich
bin sicher, dass es ihn wundert, dass der alte Magistrat ganz allein in einen dunk-
len Raum gesperrt wurde, aber er stellt keine Fragen. Er kommt sehr aufrecht
und stolz herein und trägt das Tablett, während der Wachsoldat die Tür aufhält.
‘Ich danke dir’, sage ich, ‘ich bin so froh, dass du gekommen bist, ich habe
solchen Hunger bekommen …’ Ich lasse meine Hand auf seiner Schulter liegen
und fülle den Raum zwischen uns mit menschlichen Worten, während er ernst
darauf wartet, dass ich das Essen koste und gut finde. ‘Und wie geht es deiner
Großmutter heute?’.” (WB ).
() Menschlichkeit hat zu tun mit Achtung vor dem Begriff des Menschen. Dazu
gehört einerseits die Fähigkeit, einen allgemeinen Begriff des Menschen und des
Menschlichen zu entwickeln und über einen überpersönlichen Standpunkt zu
verfügen, andererseits die Fähigkeit, grundlegende Gesetze des Lebens erkennen
und respektieren zu können. Diese beiden Aspekte hängen insofern zusammen,
als ich über einen allgemeinen Begriff des Menschen und des Menschlichen ver-
fügen muss, um grundlegende Gesetze des Lebens erkennen und formulieren zu
. Die Verknüpfung von Fragen der Anerkennung, Identitätsfragen und Moral verfolgt Axel
Honneth, der Moral versteht als: “Inbegriff der Einstellungen, die wir wechselseitig einzu-
nehmen verpflichtet sind, um gemeinsam die Bedingungen unserer persönlichen Identität
zu sichern” (A.Honneth, Zwischen Aristoteles und Kant. Skizze einer Moral der Anerken-
nung. In: W.Edelstein/G.Nunner-Winkler (Hg.), Moral im sozialen Kontext, Frank-
furt/M. , –, hier: ).
MENSCHLICHKEIT
können. Und umgekehrt verlangt eine Erarbeitung eines allgemeinen Begriffs des
Menschen die Einsicht in grundlegende Gesetze des Lebens.
Der erste Aspekt – die Fähigkeit, einen allgemeinen Begriff des Menschen zu
erarbeiten – tangiert die Ehrfurcht vor dem Menschen, vor dem, was den Men-
schen ausmacht. Ein allgemeiner Begriff des Menschlichen ermöglicht eine Hal-
tung von Ehrfurcht gegenüber dem Menschen und eine Sensibilität gegenüber
dem Symbolischen, den großen Zusammenhängen, in denen das Einzelne steht.
Bücherverbrennungen sind zutiefst symbolische Handlungen, ebenso die öffent-
liche Erniedrigung von Menschen. Wer Ehrfurcht vor dem Menschen hat und dies
von einem überpersönlichen, überindividuellen Standpunkt aus, der wird be-
stimmte Handlungen aufgrund ihres symbolischen Gewichts nicht zulassen. Ein
Beispiel aus Coetzees Roman:
“Ich zeige auf die vier Gefangenen, die gefügig auf der Erde liegen, die Lippen
an der Stange, die Hände wie Affenpfoten ans Gesicht gedrückt, sie ahnen
nichts vom Hammer, sie wissen nicht, was hinter ihnen geschieht, sie sind er-
leichtert, dass das anstößige Zeichen von ihrem Rücken geprügelt worden ist,
und hoffen, dass die Bestrafung zu Ende ist. Ich recke die gebrochene Hand gen
Himmel. ‘Seht her’, schreie ich. ‘Wir sind das Wunderwerk der Schöpfung! Aber
von manchen Schlägen kann sich dieser wunderbare Körper nicht erholen!
Wie – !’ Mir fehlen die Worte. ‘Seht diese Menschen an!’, fange ich wieder an.
‘Menschen!’ Wer in der Menge in der Lage dazu ist, reckt den Hals, um auf die
Gefangenen zu schauen, sogar auf die Fliegen, die sich nun auf blutenden Strie-
men niederlassen.” (WB f.)
. Zum Begriff des Rechts auf moralisches Handeln vgl. O.Neumaier, Moralische Rechte
und universalistische Ethik. In: R.Born/O.Neumaier (Hg.), Philosophie – Wissenschaft –
Wirtschaft, Wien , –, hier: f.
CLEMENS SEDMAK
sches Handeln, nicht wahrgenommen werden können. Coetzee stellt dies am Bei-
spiel einer Vater-Tochter-Beziehung dar. Ein Vater wurde von den Folterern vor
den Augen der Tochter entblößt und gequält, bis er vor Schmerzen schreien muss-
te. Dann wurde der Tochter Schmerz zugefügt, “und er konnte sie nicht hindern
… Danach war sie kein vollwertiger Mensch mehr, uns allen verschwistert. Gewisse
Gefühle starben, gewisse Regungen des Herzens waren ihr nicht mehr möglich”
(WB ). Auf diese Weise wurde Unmenschlichkeit in die Tochter hineingetra-
gen, eingebrannt, da ein Teil ihres Menschseins abgestorben ist und sie nun nicht
mehr über das Gefühlsspektrum verfügte, das ihr vor der Folterung eigen war.
Coetzee beschreibt diese traumatische Unrechtserfahrung als Verletzung elemen-
tarer Gesetze des Menschlichen:
“Viele Stunden sitze ich mit geschlossenen Augen mitten auf dem Boden im
schwachen Tageslicht und versuche das Bild dieses Mannes, an den ich mich
nur schwach erinnern kann, heraufzubeschwören. Was ich sehe, ist nur eine
Gestalt, genannt Vater, und sie könnte die Gestalt jeden Vaters sein, der weiß,
dass sein Kind geschlagen wird, es aber nicht beschützen kann. Einem gelieb-
ten Menschen gegenüber kann er seine Pflicht nicht erfüllen. Er weiß, das
wird ihm nie vergeben werden. Dieses Wissen der Väter, dieses Wissen, dass
er sich schuldig macht, ist mehr, als er ertragen kann … Ich habe dem Mäd-
chen meinen Schutz gegeben, habe ihr auf meine zweideutige Art angeboten,
ihr Vater zu sein. Aber ich bin zu spät gekommen – sie glaubt nicht mehr an
Väter.” (WB )
An diesem Beispiel kann man deutlich erkennen, welchen Wert der Satz “Der
Mensch ist das Maß aller Dinge” haben kann. Hier kann man an menschenge-
rechte Institutionen (Primat der Person vor der Institution) denken, an menschen-
gerechte Gesetze und Regelungen (der Sabbat ist für den Menschen da und nicht
der Mensch für den Sabbat…), an Handlungsweisen, die dem Menschen gerecht
werden und fundamentale Gesetze des Menschlichen nicht verletzen.
() Menschlichkeit hat mit Respekt vor den Grenzen des Menschen zu tun. Dieser
Punkt hängt sehr eng mit dem vorhergenannten zusammen. Der Umgang mit
Grenzen ist ein Lackmustest für Menschlichkeit. Die Frage nach der Einstellung
gegenüber Grenzen ist eine Kernfrage, an der man etwa Weisheit und Torheit
scheiden kann. Weisheit könnte man durchaus als die Fähigkeit charakterisie-
ren, die eigenen Grenzen und die Grenzen anderer erkennen und respektieren
zu können. Das Leben mit Begrenztheiten ist die conditio humana. Am Umgang
mit Grenzen zeigt sich auch der Respekt gegenüber einem Menschen, den Gren-
zen legen Verwundbarkeiten frei und erfordern eine Haltung der Rücksichtnah-
me.
MENSCHLICHKEIT
Die Grenzen des Menschen hängen wesentlich auch mit seiner Körperlichkeit
zusammen. Hier zeigen sich die Beschränktheit, Angewiesenheit, das Ausgeliefert-
sein am deutlichsten. Aus der Körperlichkeit ergeben sich eine Abhängigkeit von
äußeren Bedingungen, Fragilitäten und damit Risiken im menschlichen Um-
gang. Coetzee schildert Strukturen der Unmenschlichkeit, die sich im Mangel an
Respekt vor Körperlichkeit, in der Verletzung der körperlichen Integrität zeigen:
“Bei der monotonen Diät von Suppe und Haferbrei und Tee ist es eine Qual für
mich geworden, mich zu entleeren. Tagelang schiebe ich es auf, leide an Verstop-
fungen und Blähungen, bis ich mich überwinden kann, mich über den Eimer zu
hocken und die stechenden Schmerzen und das Reißen von Gewebe, das mit die-
sen Entleerungen verbunden ist, zu ertragen” (WB ).
Die Reduktion des Menschen auf seine Körperlichkeit ist Strategie der Ent-
menschlichung:
“Meine Folterer waren nicht an Schmerzgraden interessiert. Sie waren nur daran
interessiert, mir zu zeigen, was es hieß, in einem Körper zu leben, als Körper
zu leben, ein Körper, der nur so lange Vorstellungen über Gerechtigkeit haben
kann, wie er heil und gesund ist, der sie sehr bald vergisst, wenn man seinen
Kopf festklammert und ein Schlauch gewaltsam in die Speiseröhre geschoben
wird und literweise Salzwasser hindurchgegossen wird, bis er hustet und würgt
und um sich schlägt und sich entleert. Sie kamen nicht, um aus mir herauszu-
pressen, was ich zu den Barbaren gesagt hatte und was die Barbaren zu mir ge-
sagt hatten. Daher hatte ich keine Gelegenheit, ihnen die hochtrabenden Worte
ins Gesicht zu schleudern, die ich mir zurecht gelegt hatte. Sie kamen in meine
Zelle, um mir zu zeigen, was es bedeutet, menschlich zu sein, und im Verlauf
einer Stunde haben sie mir sehr viel gezeigt.” (WB )
Ecce homo! Der Mensch als Maß aller Dinge ist eben nicht nur ein Begriff,
sondern auch eine körperliche Realität. Hier möchte man fragen: Wie kann mit
einem zerbrechlichen Maß gemessen werden?
Strukturen der Erniedrigung und Entwürdigung zeigen sich an der Verweige-
rung des Respekts vor den Grenzen des Menschen. Höflichkeit hat nach einer klas-
sischen Definition damit zu tun, die eigenen Körperfunktionen zu kontrollieren
und auch mit den körperlichen Schwächen der Mitmenschen taktvoll umzugehen.
Die Kontrolle über die eigenen Körperfunktionen setzt einen Spielraum voraus,
der in Strukturen der Unmenschlichkeit vielfach systematisch reduziert wird. Ent-
würdigung und Demütigung haben in vielen Fällen mit der Verletzung der körper-
lichen Integrität zu tun, mit der Verachtung der Bedürfnisse und damit der Ab-
hängigkeiten, Fragilitäten und Grenzen des Menschen. In den Konzentrations-
lagern wurden diese Formen der Demütigung systematisch organisiert: “Wir sind
voller Flöhe, und oft kratzen wir uns in schamloser Weise; es ist demütigend, wie
CLEMENS SEDMAK
häufig wir darum bitten müssen, zur Latrine zu gehen” (LM ). Es ist erschüt-
ternd, was aus einem Menschen gemacht werden kann, wenn die menschlichen
Grenzen missachtet werden. Die ethische Qualität einer Gesellschaft, die ethische
Qualität von Menschen zeigt sich im Umgang mit den Grenzen des Menschen.
“Der Mensch als Maß aller Dinge” wird vor dem Hintergrund dieser Überle-
gungen und Illustrationen zu einem begrenzten Maß. Es ist kein maßloses Maß,
es ist nicht unbegrenzt, es kann deswegen das Unbegrenzte, das Unendliche, so
scheint es, nicht messen. Ethisch relevant ist denn auch der Umgang mit der
Begrenztheit des menschlichen Maßes. Stoßen wir hier wiederum auf Gründe für
eine Selbstbescheidung? Es gibt Dimensionen und Dinge, die das Maß des Men-
schen und die Möglichkeiten menschlicher Messung übersteigen.
. Deutlich an zwei Stellen in Waiting for the Barbarians, die den Niedergang des Magistrats
schildern: “Ich liege im Gestank von altem Erbrochenem und kann nur noch an Wasser den-
ken. Seit zwei Tagen habe ich nichts zu trinken bekommen. An meinem Leiden ist nichts
Erhebendes. Wenig von dem, was ich Leiden nenne, ist wirklich Schmerz. Was man mich
durchmachen lässt, ist die Unterwerfung unter die elementarsten Bedürfnisse meines Kör-
pers: zu trinken, sich zu erleichtern, die Lage zu finden, in der er am wenigsten weh tut” (WB
). Und: “Inzwischen bin ich, der alte Clown, der den letzten Rest an Autorität an dem
Tag verloren hat, als er im Unterrock einer Frau an einem Baum hing und um Hilfe schrie,
die dreckige Kreatur, die eine Woche lang das Essen wie ein Hund von den Fliesen leckte,
weil die Hände den Dienst versagten, nicht mehr eingesperrt. Ich schlafe in einem Kasernen-
hofwinkel; ich krauche in meinem schmutzigen Kittel herum; wenn einer mir mit der Faust
droht, ducke ich mich. Ich lebe wie ein halb verhungertes Tier an der Hintertür, man lässt
mich nur am Leben als Beweis für das Tier, das in jedem Barbarenfreund lauert” (WB ).
. Martha Nussbaum – um nur ein Beispiel zu nennen – zählt mehr als zehn Koordinaten auf,
um die conditio humana zu charakterisieren; vgl. M.Nussbaum, Menschliches Tun und
soziale Gerechtigkeit, in: H.Steinfath (Hg.), Was ist ein gutes Leben? Frankfurt/M. ,
–, hier: –.
MENSCHLICHKEIT
kann. Blickt man auf die Menschlichkeit einer Gesellschaft, so nimmt man die
Menschenfreundlichkeit oder Menschengerechtigkeit dieser Gesellschaft in den
Blick. Man kann auf diese Weise gewissermaßen die ethische Qualität einer Ge-
sellschaft ermessen.
Stichwortartig will ich fünf Kriterien nennen, nach denen die Menschlichkeit
einer Gesellschaft, die ethische Qualität einer Gesellschaft gemessen werden kann:
(i) die Frage nach den Grenzen nach außen: Wie geht eine Gesellschaft mit den-
jenigen um, die nicht Mitglied dieser Gesellschaft sind?
(ii) Frage nach dem Zusammenhalt nach innen: Wie geht eine Gesellschaft mit
ihren schwächsten Mitgliedern (etwa: Kinder, Kranke, Alte) und mit “devian-
ten” und kritischen Mitgliedern um? (Der Strafvollzug, der Umgang mit Straf-
fälligen ist ein wichtiger Indikator dafür, wie in einer bestimmten Gesellschaft
die Menschenwürde geachtet wird).
(iii) die Frage nach der “ Menschenfreundlichkeit” und dem Grundvertrauen: Ver-
steht man unter Ethik jene Regeln, die “enge Beziehungen”, den Umgang mit
Nahestehenden und das Verhalten im intimen Raum anleiten und unter Moral
jene Regeln, die “lose Beziehungen”, “zufällige Beziehungen” und Begegnun-
gen im öffentlichen Raum koordinieren, dann ist eine Gesellschaft daraufhin
zu prüfen, ob die Kluft zwischen Ethik und Moral nicht zu groß wird.
(iv) die Frage nach der Anständigkeit der Institutionen, die in einer Gesellschaft
arbeiten: Sind die Institutionen dieser Gesellschaft so geartet, dass sie den Pri-
mat des Menschen vor der Institution anerkennen, Spielraum für den Respekt
vor Einzelfällen lassen und den Menschen nicht demütigen?
(v) die Frage nach den Räumen und Zeiten für Freundschaft: in einer menschli-
chen Gesellschaft, so wie ich sie verstehe, ist die Lebensform so strukturiert, dass
Räume und Zeiten für die Bildung und Pflege von Freundschaften gegeben
sind. Eine Gesellschaft, in der kein Raum für Intimität und keine Zeit für Pri-
vatheit besteht, ist unmenschlich. Eine menschliche Gesellschaft ist denn auch
eine solche, in der Bedingungen der Möglichkeit für übergebührliche Hand-
lungen gegeben sind.
Diese fünf Kriterien müsste man weiter ausführen und näher begründen, doch ist
das eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll. Kehren wir zum
Satz zurück, der uns beschäftigt hat: “Der Mensch ist das Maß aller Dinge.” Es
wurde auf einige Verdachtsmomente hingewiesen und für Behutsamkeit in der An-
. Die Frage nach der Anständigkeit von Institutionen ist die Kernfrage in Margalits Politik
der Würde. Margalit schlägt vor, die “decency” einer Institution anhand der Frage zu mes-
sen, ob durch diese Institution Menschen gedemütigt werden.
CLEMENS SEDMAK
wendung dieses Maßes plädiert. Es wurden die Pluralität und Fragilität sowie auch
die Begrenztheit dieses Maßes angedeutet. Deutlich wurde – so hoffe ich – jedoch,
dass man dieses Maß auch auf Gesellschaften hin anwenden und sich mit Hilfe
dieses Maßes Gedanken über die ethische Qualität einer Gesellschaft machen
kann. Unter einer menschlichen Gesellschaft könnte man eine menschengerech-
te und menschenfreundliche Gesellschaft verstehen – und um Menschengerechtig-
keit und Menschenfreundlichkeit ermessen zu können, brauche ich jenes Maß, von
dem der Satz “Der Mensch ist das Maß aller Dinge” spricht.
“DER MENSCH IST DAS MASS ALLER DINGE”?
Rupprecht Düll
. Euripides (– v.Chr.) gehört mit Aischylos und Sophokles zu den drei großen at-
tischen Trauerspieldichtern. “Seine Dichtung betont die Loslösung von der alten Über-
lieferung in Glaube und Sitte…” (Brockhaus : f.).
. “Er lehrte vorzüglich in Athen und man kann ihn als einen der ersten Sophisten betrach-
ten, die in Griechenland umherzogen, ihre Schriften verlasen, öffentliche Diskurse anstell-
ten und für Geld die Jugend zu bürgerlichen Geschäften tüchtig zu machen versprachen.”
(Brockhaus : ).
RUPPRECHT DÜLL
nen.” Der Satz habe in erster Linie erkenntnistheoretische Bedeutung! Sein Wir-
ken ist offenbar nicht als “zersetzend oder niederreißend” empfunden worden;
denn im Jahr v.Chr. erhielt Protagoras sogar den “ehrenvollen Auftrag, der
neugegründeten Stadt Thurioi Verfassung und Gesetze zu geben”.
Das Verhalten der Sophisten zur damaligen Zeit ist meines Erachtens ein histo-
risches Beispiel für die Auswirkung eines eigentümlichen Macht- und Überhö-
hungstriebes, der die Menschen zu neuen Ufern aufbrechen lässt, oft aber auch
in ihr Verderben. Gibt es eine Erklärung für diesen “Mechanismus” des geistig
lustvollen Überbordens von vorwärtsdrängenden Ideen und Verhaltensweisen,
durch welche Tradition und Glauben erschüttert werden?
Allem Anschein nach ist dies die Auswirkung des genetisch im Menschen an-
gelegten übersteigerten Selbsterhaltungstriebes mit seiner lustvollen Überschwin-
gungsvariante, die auch die geistige Sphäre erfasst, alte Schranken zerbricht und in
“Neuland” vorstoßen will, um neue Lebensbereiche zu erobern mit dem vollen
Risiko der Möglichkeit, auch zu scheitern. Die Wirkungsweise entspricht der
Funktion des lebenserhaltenden Metabolismus auf geistiger Ebene, bei dem “ge-
ringwertige”, überholte Ideen, auch Glaubensformen, abgeworfen werden, mit
dem Versuch, einer neuen Auffassung “höherwertiger” Erkenntnisse Platz zu
schaffen.
Nach Max Weber ist die Erringung von Macht das Bedürfnis zur Selbsterhö-
hung und Selbstbehauptung, und “die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung
den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf die-
se Chance beruht” (vgl. Hartfiel : ).
Jedenfalls wurde dieser menschliche Macht- und Überhöhungstrieb gerade in
jener Zeit – wie in den Jahrhunderten danach so oft – Auslöser nicht nur politi-
scher Willkür, Kriegsgeschrei und Zerstörung, sondern auch revolutionärer, gei-
stiger Neuorientierung, die sich in den sophistischen Lehren andeutete. Damals
blieb jedoch im Hintergrund das Gefühl für Ordnung, religiöse Tradition und
Verpflichtungen, wie sie etwa im Chor der klassischen Tragödie und in den Fest-
umzügen, z.B. den Panathenäen, erhalten blieben, bestehen.
In den sophistischen Ideen zeigte sich die Auswirkung eines Phänomens, das die
einzelnen Menschen, ebenso wie ganze Völker, immer wieder bis in unsere Zeit
gegeneinander in oft verderblichen Widerstreit geraten lässt, wenn die Menschen
ihren traditionellen Verhaltensspielraum mit Gewalt überschreiten. Der Mensch
lebt ja – wie ich das nenne – in einem “Verhaltenskorridor” , dessen Grenzen in
animalischer Vorzeit noch weitgehend von der Umwelt aufgezwungen wurden. Die
Menschheitsentwicklung ist dann gekennzeichnet durch eine ganz allmähliche –
allerdings oft schubweise vorangehende – Überwindung dieser passiven Phase.
Die der passiven Phase der Menschheitsentwicklung folgende aktive Phase wur-
de anscheinend vorangetrieben durch die Wirkung des bereits erwähnten Macht-
triebes, dessen “Weiterzüchtung” aus dem Selbsterhaltungstrieb während der bio-
logischen Evolution durch Steigerung der Lustvariante vorstellbar ist. Das Ge-
fühl der Lust kann dabei eine emergente Erscheinung sein, die bei den physio-
logisch-kybernetisch erklärbaren Überschwingungen während der Regelungsvor-
gänge zur Bewältigung der Umweltanforderungen auftritt.
Der Antrieb hierzu ist genetisch in den einzelnen Menschen in sehr unterschied-
licher Stärke angelegt und wirkt sich, gegenseitig abgesichert und verstärkt in
Gruppe oder Volk bzw. allgemein in einer Population aus. Das lustvolle Über-
schwingen der zugrunde liegenden Regelkreise physiologisch und psychologisch
erklärbarer Art wirkt in Richtung auf eine stetige Vergrößerung des menschlichen
Einflusses, indem sie systematisch die bereits vorliegenden Grenzbereiche über-
schreiten. Auch hier gilt offenbar das Nietzsche-Wort: “Doch alle Lust will Ewig-
keit!” (Nietzsche : ).
In diesen dynamisch angelegten Sollwerten liegt eine Wertsetzung, nämlich die
Bestimmung über das Maß, mit dem der Mensch seine Umgebung zügelt und
dienstbar macht. Der Mensch möchte seine Macht vergrößern, indem er für die
Anderen (und das Andere – in steigendem Maße für die Technik) die Sollwerte,
das Maß festsetzt und die Durchführung fordert. Einen geistigen Höhepunkt
dieser Entwicklung hat, wie mir scheint, Protagoras in seinem “Homo-mensura”-
Satz artikuliert.
Kräfte und Ressourcen des einzelnen Subjekts gegeben, als auch von außen her eingeschränkt
und normativ geleitet durch die jeweilige Gruppenmoral, Gewohnheiten und Traditionen.
Diesem vitalen Spielraum entspricht ein geistiger Korridor des Denkens, der durch Anlage,
Prägung, Lernen und Erfahrung in jedem Menschen entstanden ist und von ethischen Auf-
fassungen kontrolliert wird. Die Toleranzgrenzen des Verhaltenskorridors kennzeichnen
auch “Übermaß und Mangel”, das Zuviel und Zuwenig, wie es schon von Aristoteles (Niko-
mach.Ethik: a) zur Abgrenzung des Tugendhaften erkannt worden ist.
. Zu dem Anreiz der Lebensvorgänge durch überschwingende physiologische Regelkreise er-
innert Keidel (: ) an die grundlegenden Arbeiten von Richard Wagner: “R.Wagner
weist mit Recht darauf hin, dass diese Ist-Sollwert-Differenzen geradezu notwendige Prämis-
sen für alle Lebewesen, besonders den Menschen, für die Erhaltung des Lebens sind: denn
nur durch sie entsteht die Motivation zur Fortsetzung lebendiger Aktion – ein Kennzeichen
des Lebens –, in diesem Fall zur Minimalisierung der Ist-Sollwert-Differenz, besonders dann,
wenn diese Regelungsvorgänge bewusst werden. Allerdings ist dabei zu beachten, dass zu
große Differenzen bei Entgleisung der Automatie der Regelungen die gegenteilige Wirkung
haben können, sie entmutigen, können zu Panik führen, zu Frustration und Resignation.”
RUPPRECHT DÜLL
. Eine Rückkopplung wirkt so, dass Soll- und Istwert, also der geforderte Wert und der be-
stehende Wert, miteinander verglichen werden und die Differenz zwischen beiden Werten
als positiver beziehungsweise negativer Impuls, die Differenz verstärkend oder abschwä-
chend auf die Einstellung des Systems zurückwirkt. “Die Rückwirkung auf sich selbst ist
ein besonderes Charakteristikum sämtlicher Lebensvorgänge” (R.Wagner : ).
. “Diese Kreativität […] ist ein Phänomen, das die ganze Menschheit umfasst, keine Zeit und
keine Gesellschaft verlässt, und somit nach dem biogenetischen Grundgesetz den Schluss
zulässt, dass sie, weil immer und überall vorhanden, lebenskonstitutionell sein müsse, also
feststehender Teil der menschlichen Existenz” (M.Wagner : ).
. “In einer Rangordnung kann man nicht mehr als der Oberste sein. Macht kann man unbe-
grenzt anhäufen. Waffen, Gefolgsleute, Geld, Information sind unbegrenzbar vermehrbare
Mittel der Macht. Und da der Gegner ebenfalls unbegrenzte Mittel anhäufen kann, besteht
in der Sphäre der Macht ein objektiver Zwang zum Wettlauf, zur Konkurrenz, die letztlich
nur mit Sieg oder Niederlage enden kann” (C.F.v.Weizsäcker : ).
RUPPRECHT DÜLL
. Die Freude an diesem rivalisierenden Überholen ist besonders eindrucksvoll bei sportlichen
Gruppenveranstaltungen. Auf der Ebene des Spiels wird hier das Rivalisieren und Überholen
etwa beim Skilanglauf, bei Schwimmwettkämpfen oder bei Autorennen, nicht zuletzt bei
Fußballspielen – um nur einige wenige Beispiele zu nennen – trainiert und zur hemmungs-
losen Freude der Zuschauer immer wieder vorgeführt – beispielhaft für das Verhalten im
sogenannten “Daseinskampf ”.
. “Die Selbstlosigkeit, der Altruismus, zwischen miteinander verbundenen Organismen ist
demnach eine geschickte Taktik der Gene um ihre eigene Vervielfältigung und ihr Über-
leben zu sichern” (Dahl : ).
. “Unser gesamtes gesellschaftliches Leben [wird] in relativ einfacher Weise kopiert, von der
Wirtschaft zur Erhöhung ihres Profits genutzt” – es “wird alles relativ leichtsinnig einem
Markt überlassen, dessen einziges Ziel die Profitmaximierung ist. […] Es sei nicht anzu-
nehmen, dass die Marktproduzenten selbst andere Interessen als ihre eigene Quoten-
steigerung besitzen” (M.Wagner, : ).
“DER MENSCH IST DAS MASS ALLER DINGE”?
Der Mensch ist ein selbsterhaltendes System, das sich entgegen den überall wir-
kenden, abbauenden Kräften der Entropie durchsetzen muss, um am Leben zu
bleiben. Er muss also zum Beispiel für die Aufnahme ausreichender Energie und
Aufbaustoffe sorgen. Die Nahrungsaufnahme und die Entsorgung der Abfälle be-
stimmt täglich seine Sorge. Das entspricht dem Metabolismus, der Einfuhr höher-
wertiger materieller und geistiger Nahrung, wie Information und der Abgabe ge-
ringwertigen Gutes. Sobald das Gleichgewicht von Aufnahme und Abgabe gestört
ist, etwa durch eine zu geringe Aufnahme höherwertigen Gutes, so leidet dieses
selbsterhaltende System.
Während der biologischen Evolution hat sich daher ein häufiges Überschwin-
gen der Regulationsvorgänge, die für die Einfuhr und Vermehrung höherwerti-
ger Energie und Information, aber auch die Stärkung der eigenen Position auf
Dauer sorgen, bewährt (vgl. auch Anm.).
Schon im Pflanzenreich besteht das Bestreben, etwa durch Verstreuen unzähli-
ger Samen, die Erhaltung und Ausbreitung der eigenen Pflanzengruppe zu si-
chern; wie schon bei der einzelnen Pflanze der Wuchs bei gutem Nährboden und
ausreichender Feuchtigkeit unablässig gefördert wird.
Beim Menschen äußert sich dieser Trieb im Verlangen, mehr haben zu wollen,
an Macht, Bedeutung, Einfluss, Energie jeder Art und Information. Dieses “Prin-
zip der Selbsterregung der lebenden Substanz” kann man sich, wie schon er-
wähnt, so vorstellen, dass der die Selbsterhaltung anstrebende Regelkreiskomplex
stets zu einer gewissen Überschwingung programmiert beziehungsweise während
der biologischen Evolution “herausgezüchtet” worden ist, um die abbauenden
Störeinflüsse der Umwelt zu kompensieren. Nur so konnte sich das Leben lang-
fristig durchsetzen, wie es in unseren Genen vorprogrammiert ist.
In den vergangenen hunderttausend Jahren hat das menschliche Gen diesen
Funktionsmechanismus offenbar mit großem Erfolg benutzt, um die Menschen-
zahl zu vergrößern, wie der Anstieg auf über sechs Milliarden Erdbevölkerung
zeigt!
Die Auswirkung wird deutlich in der Neigung der einzelnen Menschen, ebenso
wie ganzer Gruppen (auch Völker, Religionsgemeinschaften, Wirtschaftskonzer-
nen und ähnlicher Gruppierungen), immer mehr Macht, Besitztum und Einfluss
anzusammeln, sobald die geringste Möglichkeit dazu besteht, und dabei Werte zu
setzen, die ihrer Erhaltung günstig sind; wie das früher ja auch bei den Fürsten
und Adelsgeschlechtern der Fall war. Damit wird die überschwingende, anrei-
. “Wie nahe bereits die alten Griechen dieser Problematik von der Rückwirkung auf sich
selbst, also dem Prinzip der Selbsterregung der lebenden Substanz waren, geht aus der Pro-
metheussage hervor, wenn sie glaubten, dass Prometheus den Göttern das Feuer, diesen
Selbsterregungsprozess, stehlen musste, um seine aus Erde geformten Leiber zu beleben”
(R.Wagner : ).
RUPPRECHT DÜLL
gert in unfehlbare, geistige Höhen, deren Strahlungskraft dem einfachen Volk die
Gottesnähe signalisieren soll.
Protagoras, der in seiner Schrift “Über die Götter” den Aufstand wagte, erhebt
sich seinerseits – selbstherrlich – in eine geistige Höhe, wo er die Relativität all-
gemein gültiger Wahrheit verkündet (vgl. Schischkoff : ) und den Men-
schen selbst für seine Wertsetzungen verantwortlich macht.
Das Fazit lautet für mich: Protagoras hat den Traum des Menschen ausgespro-
chen, die für ihn greifbare und begreifbare Welt zu beherrschen und nach seinen
Wertmaßstäben zu verändern. Hoffentlich findet der Mensch noch rechtzeitig das
richtige Maß der “Wertverwirklichung”, die Gerhard Zecha (: ) im letzten
Kapitel seiner Ausführungen über: “Das Spiel mit der Antike wird ernst” aus-
spricht. Jedoch sind wir auf diesem Wege möglicherweise der Gefahr ausgesetzt,
abzustürzen oder uns zu verirren. Das gilt besonders für die nächste Phase der
Menschheitsentwicklung, wenn der Mensch sich genetisch selbst verändern wird.
Nach welchem Wertesystem sollen die Gene verändert werden? Nach welchem
Maß wird er sich dann richten, wenn übergeordnete Kontrollinstanzen, etwa auch
religiöser Art, fehlen?
RUPPRECHT DÜLL
LITERATUR
Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. und hg. von Olof Gigon. Zürich .
Brockhaus (): Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände,
.Aufl., Bd., Leipzig, S. f., s. v. Euripides.
Brockhaus (): Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände,
.Aufl., Bd., Leipzig, S. , s. v. Protagoras.
Brockhaus (): Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände,
.Aufl., Bd., Leipzig, S. –, s. v. Sophisten.
Dahl, Edgar (): Im Anfang war der Egoismus, Düsseldorf–Wien–New York.
Düll, Rupprecht (): Zur Regulation der Harmonia (Conceptus-Studien ),
Sankt Augustin.
Hartfiel, Günter (): Wörterbuch der Soziologie, . Aufl., Stuttgart.
Keidel, Wolf D. (): Biokybernetik des Menschen, Darmstadt.
Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly's Realencyclo-
pädie der classischen Altertumswissenschaft bearb. und hg. von Konrat Ziegler,
Bde., Stuttgart –.
Nietzsche, Friedrich (): Werke, Bd. : Zarathustra, Leipzig.
Schischkoff, Georgi, Hg. (): Philosophisches Wörterbuch, begründet von Hein-
rich Schmidt, .Aufl., Stuttgart.
Wagner, Manfred (): Stoppt das Kulturgeschwätz! Wien–Köln–Weimar.
Wagner, Richard (): Über ein Grundprinzip biologischer Regulationen, in:
Wiener klinische Wochenschrift .
Wagner, Richard (): Probleme und Beispiele biologischer Regelung, Stuttgart.
Wagner, Richard (): Zur Bedeutung des Restreizes in biologischen Regel-
systemen, sowie über die Zukunftsträchtigkeit des Lebenden als physikalisches
Problem, in: Wiener, Norbert/Schade, I.P., Hg. (): Progress in Biocybernetics,
Bd., Amsterdam–London–New York.
Weizsäcker, Carl Friedrich von (): Der Garten des Menschlichen, München.
Zecha, Gerhard (): Das Spiel mit der Antike wird ernst: Ist der Mensch
wirklich das Maß aller Dinge? In: Düll, Siegrid/Neumaier, Otto/Zecha, Ger-
hard, Hg. (), Das Spiel mit der Antike: zwischen Antikensehnsucht und All-
tagsrealität, Möhnesee, –.
BIOMEDIZINISCHE FORSCHUNG UND
MENSCHLICHES SELBSTVERSTÄNDNIS
Johannes C. Huber
Wenn wir die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiete der Biomedizin betrach-
ten, gewinnen wir zunächst den Eindruck, dass die in verschiedenen Teilen der
Welt damit befassten Wissenschaftler mit vereinten Kräften eine medizinische Re-
volution herbeiführen, welche die systematische Beeinflussung bzw. Veränderung
menschlichen Erbgutes zur Folge hat. Der Griff nach den Genen – mit einem
Verfahren, das bei Tieren schon lange angewandt wurde – ist auch beim Men-
schen möglich geworden. In den Labors gibt es bereits ganze Armeen von gene-
tisch veränderten Mäusen, und Wissenschaftler weisen darauf hin, dass es ge-
rechtfertigt sei, in das Erbgut von Menschen einzugreifen, wenn dadurch z.B. ihre
Kinder vor einem schweren Erbleiden bewahrt werden können.
Und doch weist diese Entwicklung Aspekte auf, die nicht nur bei “einfachen”
Menschen Ängste erwecken, sondern auch von den an den Forschungen beteilig-
ten Wissenschaftlern ganz unterschiedlich eingeschätzt und bewertet werden. Dies
gilt vor allem für die wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet des Klonens
und der Stammzellen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit Chimären, d.h. Indi-
viduen, die aus genetisch unterschiedlichen, auch von Menschen und Tieren stam-
menden Teilen bestehen.
Die Gründe für die oft diametralen Gegensätze in der ethischen Bewertung bio-
medizinischer Forschungsprojekte sind vielfältiger Natur, hängen aber oft mit
Unterschieden der kulturellen Traditionen zusammen.
Der Humanismus der europäischen Weltanschauung wurzelt in der griechisch-
römischen und der vorder-orientalischen Geistigkeit, aus der, nach einem langen
und oft nicht gewaltfreien Ringen, das von der Aufklärung geprägte abendländi-
sche Menschenbild entstand. Auf anderen Kontinenten stehen dem Weltanschau-
ungen gegenüber, die der europäischen Wertordnung nicht unmittelbar entgegen-
gesetzt sind, aus denen heraus biomedizinische Fragestellungen aber anders beur-
teilt und bewertet werden als in deren Rahmen. Der Hinduismus, in dem es keine
feste Grenze zwischen Tier und Mensch gibt, wäre unter Umständen aufgrund sei-
ner philosophischen Konstruktion derartig konditioniert, dass Chimärenbildung
und Klonen ein anderes ethisches Echo hervorrufen als bei uns.
JOHANNES C. HUBER
Ob die erwähnte “Grauzone” zwischen Mensch und Tier, die von Jahr zu Jahr grö-
ßer wird, eine Auswirkung auf die Anthropologie haben wird, bleibt abzuwarten;
JOHANNES C. HUBER
Das humane Genom-Projekt schreitet voran und in seinem Gefolge auch ein noch
nicht bemerkter Generalangriff auf das, was in Europa Individuum und freier
Wille bedeutet. Neben dem Genom-Mapping setzt sich das Brain-Mapping durch,
das die kleinen Unterschiede in den Genen verwendet, um unterschiedliche Ver-
haltensweisen einzelner Menschen zu erklären, etwa die sehr verschiedene Weise,
wie Menschen auf Stress reagieren; solche Unterschiede sind teilweise durch Poly-
morphismen in den Genen von Neurotransmittoren vorhersagbar. Ebenso wird
versucht zu erklären, wie ausgeprägt eine Ängstlichkeit ist, die reaktiv auf Stress-
Situationen entsteht; auch hier gibt es Gen-Veränderungen, die eine unterschied-
liche Klasseneinteilung innerhalb der Gestressten erlaubt. Aber auch die physio-
JOHANNES C. HUBER
logische Wirkung von Sexualsteroiden im Gehirn ist von Mensch zu Mensch völ-
lig unterschiedlich und kann teilweise bereits jetzt aufgrund von polymorphen
Gen-Strukturen vorausgesagt werden.
Angesichts solcher Gegebenheiten wird über die Freiheit des Menschen – gene-
tisch oder durch die Umwelt determiniert – neu diskutiert werden müssen. Wie
durch die neuesten Forschungen gezeigt wird, ist nicht zuletzt zu berücksichtigen,
dass es auch einen Umwelteinfluss auf das Genom gibt, und zwar über die Epi-
genetik, die das Ablesen des genetischen Codes regelt. Die biomedizinischen For-
schungen stellen uns mithin vor enorme ethische Herausforderungen in Theorie
und Praxis:
Sind einerseits Genetik und Epigenetik wirklich gut aufeinander eingespielt,
wie aufgrund der neueren Forschungen anzunehmen ist, so ist der Entscheidungs-
spielraum des einzelnen Individuums, in Freiheit Taten setzen zu können, relativ
klein.
Andererseits ist die Gefahr zu bedenken, dass dieses biomedizinische Modell
auch von politischen, wirtschaftlichen oder anderen Machthabern missbraucht
wird, um menschliche Freiheit in einem Sinne einzugrenzen, der durch die For-
schungsergebnisse nicht gedeckt ist bzw. mit diesen kaum etwas zu tun hat.
Derlei Überlegungen sind noch mit der Unsicherheit behaftet, dass wir in vie-
lerei Hinsicht noch nicht mit Recht Wissen beanspruchen können, sondern darauf
angewiesen sind, die vorliegenden Ergebnisse so plausibel wie möglich zu deuten
und auf dieser Grundlage Vermutungen anzustellen. Freilich wird auch auf dieser
Grundlage bereits klar, vor welche Herausforderungen uns die biomedizinischen
Forschungen stellen: Zum einen macht die erwähnte, sich ausdehnende “Grau-
zone” zwischen Tier und Mensch mehr denn je notwendig zu klären, was es denn
überhaupt heißt, Mensch zu sein; zum anderen aber zeigt sich die Unumgänglich-
keit ethischer Reflexion, denn gerade die Möglichkeiten der biomedizinischen
Forschung sind – ganz im Gegensatz zur erwähnten Tendenz, diese in einen “Tanz
um das Goldene Kalb” münden zu lassen – nicht egoistisch realisierbar.
Ein rein egoistisches Verständnis der Möglichkeiten biomedizinischer For-
schung würde in ein menschliches und gesellschaftliches Desaster führen sowie
den politischen Kollaps unserer Staaten zur Folge haben. Gefragt (und keineswegs
im Gegensatz zum erwähnten Zusammenspiel von Genetik und Epigenetik) sind
Altruismus, Solidarität und das Vertrauen in Werte, die dann auch in Recht und
Gesetz wie in das Alltagsverhalten umgesetzt werden müssen. Sie sind die einzi-
gen Schlüssel zur Lösung der Probleme, die auf uns zukommen.
WO FÄNGT DER MENSCH AN?
HOMINISATION IM LICHTE DER EVOLUTIONSTHEORIE
Hans Mohr
Einige Vorbemerkungen
In der Entwicklungsbiologie gilt die Devise, dass eine Funktion oder Struktur erst
dann “verstanden” ist, wenn man ihre Entstehung kennt. Entsprechend bedeut-
sam ist die Menschwerdung, die Hominisation, wenn es um die Frage geht: Was
ist der Mensch?
Die Evolutionstheorie, und damit auch die Theorie der Hominisation, ist eine
naturalistische Theorie. Dies bedeutet: Es gibt in der Evolutionstheorie keine über-
natürlichen Kräfte.
Aufgrund der neuen Fossilfunde und der Genomanalysen wird die Grenze zwi-
schen den Menschenaffen und den Hominiden immer unschärfer. Das gleiche
gilt für die Grenzziehungen innerhalb des Hominidenstammes. Vor zwei Jahrzehn-
ten glaubten viele Forscher noch an eine Hauptentwicklungslinie bei den Homi-
niden. Diese führte sozusagen direkt zum modernen Menschen. Heute rechnet
man – aufgrund neuer Erkenntnisse – weder den Homo neanderthalensis noch
den euro-asiatischen Homo erectus zu unseren Vorfahren.
Die Darwin’sche Lehre hat das Konzept der “Artkonstanz” ins Wanken ge-
bracht. Mit Recht: Das Konzept stammt aus der Vorstellungswelt der Schöpfungs-
mythen, als man an die “Unwandelbarkeit der Arten” glaubte. Heute wissen wir,
dass der evolutive Wandel im ganzen Reich des Lebens gilt, von den Mikroben
bis hin zum Menschen.
Der Mensch ist aus der biologischen Evolution hervorgegangen. Dies ist eine wis-
senschaftliche Tatsache. Das Forschungsfeld, das die Herkunft des Menschen im
Detail untersucht, ist breit gefächert. Es reicht von der Geophysik bis hin zur Mo-
lekularbiologie. Den Fossilien und den Geschichten, die sie erzählen, gilt aber
immer noch das besondere Interesse der Anthropologen.
. Zum Folgenden vgl. Elsner (), Picq () und Reichholf ().
HANS MOHR
Die Gesetze der Genetik gelten uneingeschränkt auch für den Menschen. Auch
dies ist unbestritten. Aus der Sicht der Populationsgenetik zum Beispiel ist der
Mensch keine ungewöhnliche Erscheinung. Der rezente Mensch gliedert sich, wie
andere Tier- und Pflanzenarten auch, in Populationen (“Rassen”). “A human race
is a large population of historically related persons who share a gene pool that dif-
fers significantly from the gene pool of other populations” (Vogel/Motulsky ).
Heutige Schätzungen besagen, dass das menschliche Genom ungefähr
für Proteine kodierende Gene enthält. Die genetischen Unterschiede zwischen den
menschlichen Populationen sind erwartungsgemäß gering. Sie bestätigen aber im
Großen und Ganzen das Populationskonzept der klassischen Anthropologen.
Die genetische Verwandtschaft mit den Primaten ist erwartungsgemäß eng:
“From a genetic stand point, humans are essentially African apes”. Die bislang
sequenzierten Erbgutabschnitte von Gorilla, Schimpansen und Orang-Utan unter-
scheiden sich nur wenig von den entsprechenden Sequenzen des menschlichen
Genoms. Die beiden Schimpansenarten sind mit uns besonders nahe verwandt –
ebenfalls keine Überraschung.
Allem Anschein nach haben sich die rezenten Rassen historisch innerhalb kurzer
Zeiträume entwickelt. Nach heutiger Auffassung ist der moderne Mensch (Homo
sapiens) vor etwa Jahren in Afrika aus dem Hominidenstammbaum ent-
standen. Der afrikanische Homo erectus gilt als Vorfahre des Homo sapiens. Der
Zweig der Hominiden hatte sich erst fünf Millionen Jahre vorher vom Schim-
pansenzweig getrennt, in den Zeitdimensionen der Evolution eine kurze Spanne.
Demgemäß stimmen wir im Erbgut weitgehend mit den beiden rezenten Schim-
pansenarten überein. Vor ungefähr Jahren wanderten Menschengruppen
aus dem Ursprungsgebiet aus, zunächst in die Levante und von dort in die ge-
samte Alte Welt. Vor etwa Jahren erreichten einige “Sippen” des moder-
nen Menschen Westeuropa.
Damit es nach dem Auszug aus Afrika zur Rassenbildung kommen konnte,
mussten auch beim Menschen Mechanismen wirksam werden, die den Genfluss
zwischen den Populationen stark einschränkten. Geographische Isolierungen und
Trennungen durch weiträumige Wanderbewegungen dürften die entscheidende
Rolle gespielt haben. Die rasche Evolution der Rassen des Homo sapiens im spä-
ten Pleistozän dürfte vorrangig eine Folge hoher und unterschiedlicher Selek-
tionsdrücke gewesen sein.
Auch heute ist die Evolution des Menschen (im Sinn einer Änderung von Gen-
frequenzen in Populationen) nicht abgeschlossen. Aber es handelt sich, zumindest
seit der Neuzeit, nicht mehr um eine darwinische (“natürliche”) Evolution, da die
heutigen Selektionsbedingungen von denen der natürlichen Evolution abweichen.
Zum Beispiel wird in aller Regel in den modernen Industriegesellschaften die Re-
produktionsrate (Fitness) nicht mehr von den biologischen Faktoren bestimmt.
Der Homo neanderthalensis gilt heute als eine eigene Art innerhalb der Gattung
Homo. Der Neandertaler dürfte sich vor etwa Jahren in der alten Welt
aus dem nur spärlich dokumentierten Homo heidelbergensis (einem Homo erectus)
entwickelt haben. Der Frühmensch Homo erectus – lange Beine, großes Gehirn,
Artefakte aus Stein – war über einen längeren Zeitraum in der ganzen Alten Welt
verbreitet. Auch er entstand in Afrika, vor rund , Mio Jahren, und marschierte
von dort in die Alte Welt. Die in Afrika verbliebene Population, die man heute
Homo ergaster nennt, brachte später den Homo sapiens hervor (s.o.).
Die Neandertaler-Populationen haben in Europa und Westasien gelebt und hier
die dramatischen Klimaschwankungen in der Endphase der Eiszeit überdauert.
Vor etwa Jahren ist die Spezies erloschen. In den letzten Jahren
seiner Existenz lebten die Neandertaler in unserer Region Seite an Seite mit dem
sich ausbreitenden, anatomisch modernen Cro-Magnon-Menschen, dem Homo
sapiens, der vor etwa Jahren erstmals aus Afrika ausgewandert war. Es ist
unwahrscheinlich, dass die Neandertaler durch Kreuzung mit dem Homo sapiens
ihre Identität verloren haben: Beim Vergleich mitochondrialer DNA aus Fossilien
des Neandertalers mit mtDNA des Menschen ergaben sich laut Klein () keine
Hinweise dafür, dass Erbgut des Neandertalers in den Genpool des rezenten Men-
schen eingeflossen ist.
Die Gattung Homo ist nach allen Indizien innerhalb eines relativ engen Zeit-
fensters vor etwa vier bis zwei Mio Jahren entstanden, und zwar in (Ost-) Afrika.
Es scheint, dass sich die frühen Hominiden rasch über den afrikanischen Kon-
tinent verbreitet haben. Die Abgrenzung zur Gattung Australopithecus hat sich
zwar bestätigt, aber die Basis des Stammbaums vor dem Erscheinen der Gattung
Homo ist nach wie vor unübersichtlich. Als älteste Fossilien eines Hominiden (,
Mio Jahre alt) gelten derzeit jene des Sahelanthropus tschadensis. Er besaß offenbar
Hominiden-Zähne und soll bereits den aufrechten Gang beherrscht haben.
Auf der anderen Seite möchten einige Forscher sowohl den Homo habilis als
auch den Homo rudolfensis nicht länger der Gattung Homo zuordnen, sondern
noch den Australopithecinen. Danach wäre Homo ergaster, eine Frühform des ost-
afrikanischen Homo erectus, der erste “echte” Mensch gewesen, u.s.w.
Die “Artkonstanz” war ein falsches Konzept. Die darwinische Evolution ist
längst an seine Stelle getreten.
Es gab keine Hauptentwicklungslinie bei den Hominiden, die direkt zum mo-
dernen Menschen führte. Vielmehr sind die rezenten Populationen des Homo sa-
piens als die Überreste des Hominidenstammbaums aufzufassen. Alle anderen Ho-
miniden – auch der Homo ergaster, das missing link zwischen dem Homo erectus
und dem Homo sapiens – sind wieder ausgestorben.
Das Rassenkonzept beruht nicht auf einem Vorurteil. Natürlich gibt es “Ras-
sen”! Bei Pflanzen, Tieren und Menschen! Niemand wird ernsthaft behaupten, ein
Eskimo sehe einem Pygmäen zum Verwechseln ähnlich. Es gibt in diesem Fall
auch keine Übergangsformen. Die klassische Gliederung des rezenten Homo sa-
piens in Populationen (“Rassen”), die sich in charakteristischen Merkmalen unter-
scheiden, ist genetisch, evolutionär und geographisch begründet. Von “Rassis-
mus” sollte man nur dann sprechen, wenn die unterschiedlichen Rassen kulturell
bewertet oder stigmatisiert werden.
In der modernen Welt kommt es nicht mehr auf Populationen oder Ethnien an,
sondern auf das Individuum.
Der Homo sapiens mit derzeit fast Mrd Artgenossen war biologisch und kultu-
rell bislang ungeheuer erfolgreich. Die übrigen Hominiden hingegen waren sub
specie evolutionis eher Versager.
Der rezente Mensch erscheint uns deshalb so einzigartig, weil seine näheren Ver-
wandten, die Hominiden, allesamt wieder ausgestorben sind. Es gibt keinen
Grund zu der Annahme, dass jene Merkmale, die den heutigen Menschen kenn-
zeichnen, bei unseren nächsten Verwandten nicht bereits angelegt waren. Wo
fängt der Mensch an?
Die Art Homo sapiens ist genetisch in Populationen aufgegliedert, aber auch
innerhalb der Populationen ist die genetische Varianz erheblich. Den Menschen
gibt es also genetisch nicht. Den idealen Menschen, den Prototyp, gibt es erst recht
nicht. Der Mensch ist ein philosophisches Konstrukt, dem keine biologische En-
tität entspricht.
Die Situation, auf die wir bei der Inspektion der Hominisation gestoßen sind,
ist in der Paläontologie bereits bekannt. Analog zur Hominisation spricht man
zum Beispiel von einer Phase der “Ornithisation”, um das Übergangsfeld von den
Die meisten Fachleute teilen die Auffassung, dass sich die Sprachen erst mit dem
anatomisch modernen Menschen, mit dem Homo sapiens, aus altbewährten vor-
sprachlichen Kommunikationsweisen entwickelt haben. Nur bei ihm findet sich
der funktionell entscheidend wichtige Abstieg des Kehlkopfes, der eine voll artiku-
lierte Sprechweise erlaubt. Der ungeheure soziobiologische und kulturelle Erfolg
des Homo sapiens dürfte vor allen anderen Faktoren auf seine Sprachkompetenz
(und die mit ihr verbundene Intelligenz) zurückzuführen sein.
Aber natürlich ist auch unser Sprachvermögen das Ergebnis eines evolutiven
Prozesses, der im Vollzug der Hominidenevolution von dem ‘Bedürfnis’ nach
Kommunikation angetrieben wurde. Im Tierreich insgesamt gibt es keinen einheit-
lichen Code für Kommunikation, vergleichbar etwa mit dem universell gültigen
entwicklungsgenetischen Code. In den einzelnen Tiergruppen haben sich viel-
mehr recht unterschiedliche Kommunikationsformen entwickelt. Keine davon ist
mit der menschlichen Sprache zu vergleichen. Wenn man bei Tieren von ‘Spra-
che’ spricht, ist dies stets metaphorisch gemeint (“Die Sprache der Bienen”).
Ist die Fähigkeit zur Erkenntnisgewinnung natürlich entstanden und damit wissen-
schaftlich erklärbar? Oder sind wir auf religiöse und philosophische “Erklärun-
gen” angewiesen, die besondere “Schöpfungsakte”, zum Beispiel das Essen vom
Baum der Erkenntnis, voraussetzen? Die heutige Biologie geht davon aus, dass wir
nicht nur mit unseren physischen Eigenschaften fest in der darwinischen Evolu-
tion verankert sind, sondern auch mit unserem geistig-seelischen Vermögen und
damit mit unserem Denken und Verhalten. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie
erhebt den Anspruch, sie könne zumindest im Grundsätzlichen, d.h. auf der Ebe-
ne der kognitiven Universalien, die Genese unseres Erkenntnisvermögens natura-
listisch erklären.
Im Prinzip lautet die Argumentation: Unser Gehirn und unser Denken sind
evolutiv entstanden und haben sich demgemäß im Lauf der Evolution an die
‘Strukturen’ der realen Welt angepasst. Die Selektion hat für uns die der Natur
gemäßen – und damit brauchbaren – Denkmuster ausgelesen. Diese Denkmuster,
diese kategorialen Voraussetzungen möglicher Erkenntnis, brauchen wir nicht zu
lernen. Sie sind in unseren Genen verankert, sie sind genetische Information.
Aber wir sitzen in einer kognitiven Nische. Unsere Anschauungsformen und
Kategorien und ebenso unsere natürlichen Sprachen erfassen nur einen Ausschnitt
der Welt, den Bereich der mittleren Dimensionen, den Mesokosmos. Der Grund
für unsere kognitiven Grenzen ist leicht einzusehen: Auch unsere Vorfahren kön-
nen Erfahrungen über die reale Welt nur über ihre Sinneseindrücke gemacht ha-
ben. Die kognitive Evolution der Menschen hing somit ab von der Struktur und
Auflösungskraft unserer Sinnesorgane, die ihrer prinzipiellen Konstruktion nach
viel früher in der tierischen Evolution angelegt waren und kaum noch verbessert
werden konnten. Deshalb war die genetische Evolution der Hominiden in den
letzten zwei Millionen Jahren in erster Linie eine Evolution des Gehirns, eine Evo-
lution der Datenverarbeitung. Die Verbesserung der Datenverarbeitung wurde
aber stets begrenzt durch die Verfügbarkeit von Daten aus der realen Welt. Die
Auflösungskraft unseres Sehvermögens zum Beispiel war nie besser als / mm
im Raum und / s in der Zeit. Bedingt durch die Grenzen des sensorischen Ap-
parats, hat sich somit unser kognitiver Apparat während der biologischen Evolu-
tion nur an einen Ausschnitt der realen Welt, an die Welt der mittleren Dimen-
sionen, angepasst. Dieser Mesokosmos wurde unsere evolutionsbewährte kogni-
tive Nische.
Noch im Mittelalter – etwa bei Thomas von Aquin – war es die vorherrschen-
de Lehrmeinung, dass unsere Sinne die Welt im Wesentlichen zutreffend und
erschöpfend wiedergeben. Erst beim Vorstoß der Physik in die kleinen und gro-
ßen Dimensionen von Raum, Zeit und Energie machte sich die mesokosmische
Provinzialität unseres Erkenntnisvermögens bemerkbar. Verlass war nur noch auf
die Strukturen der Mathematik, die – so stellte sich heraus – nicht nur im Meso-
kosmos, sondern überall gelten. Mit ihnen allein konnte man über den Meso-
kosmos nach oben und nach unten hinausgreifen. Wissenschaftliche Erkenntnis
schränkte sich, außerhalb der mittleren Dimensionen, auf das ein, was man mit
Hilfe mathematischer Strukturen erfassen kann. Mathematik wurde die Sprache
der Physik. Unser Anschauungs- und Vorstellungsvermögen hingegen blieb meso-
HANS MOHR
kosmisch. Niemand ist in der Lage, sich Strings, Photonen oder Lichtjahre vorzu-
stellen. Wir können über die Dimensionen außerhalb des Mesokosmos allenfalls
metaphorisch reden, aber unsere Metaphern stammen aus den mittleren Dimen-
sionen.
Dies gilt nicht nur für die Wissenschaft. Den gleichen, prinzipiell unüberwind-
lichen Schwierigkeiten begegnen wir zum Beispiel in der abstrakten Kunst. Hier
wird der Versuch gemacht, das gemeinte Abstrakte, die tieferen Schichten, den
Zustand des Glücks – wie es Mondrian nannte – darzustellen, – mit den Mitteln
der mittleren Dimensionen! Ein Zitat von Malewitsch: “In meinem verzweifel-
ten Bemühen, die Kunst vom Ballast der gegenständlichen Welt zu befreien, floh
ich zur Form des Quadrats.” (Ausgerechnet zum Quadrat, einem durch und
durch mesokosmischen Konstrukt!)
Ähnliches gilt für die Theologie, für das Nachdenken über Gott. Der trans-
zendente Gott der Philosophen wird dadurch zum lebendigen Gott, dass ihm die
Attribute der mittleren Dimensionen verliehen werden. “Und Gott schuf den
Menschen ihm zum Bilde” (. Mose .) kennzeichnet treffender als jede andere
Metapher das Eingesperrtsein der menschlichen Vorstellungskraft in den mittleren
Dimensionen. (Der mesokosmisch fixierte Mensch schuf sich ‘Gottvater’ nach
seinem Bilde.)
Die evolutionäre Erkenntnistheorie bietet einerseits, zumindest im Grundsätz-
lichen, eine naturalistische Erklärung für die Genese unseres Erkenntnisvermö-
gens; andererseits aber erklärt die evolutionäre Erkenntnistheorie auch unsere
kognitiven Grenzen. Sie stutzt die intellektuelle Hybris des Menschen zurück auf
seine mesokosmische Provinz. Schwerlich lässt sich daraus der Anspruch ableiten,
der Mensch sei das Maß aller Dinge.
Der Mensch ist auf das Leben in einer Gemeinschaft (Sozietät) angelegt. Er ist
deshalb darauf angewiesen, dass die Grundlinien des Verhaltens seiner Mitmen-
schen – und seines eigenen Verhaltens – vorhersehbar sind. Dies wird von der
Moral geleistet (lateinisch mores = Sitten, Gebräuche). Ohne ein bestimmtes Maß
an Moral, an “Regelbefolgung”, an Orientierungssicherheit gibt es keine Gemein-
schaft, kein sozietäres Leben. Die Voraussagbarkeit des moralischen Handelns setzt
Vertrauen voraus, das Menschen anderen Menschen entgegenbringen. Vertrauen
. Mit diesem Thema befasse ich mich ausführlicher in Mohr ( c).
. Diese berühmt gewordene Äußerung zitiert z.B. Haftmann (: ).
. Vgl. zum Folgenden auch Mohr ( d).
WO BEGINNT DER MENSCH?
beinhaltet die erfahrene Annahme, dass sich der andere in Übereinstimmung mit
der moralischen Struktur verhalten wird.
Als Biologen gehen wir von dem (in der Wissenschaft) unbestrittenen Sach-
verhalt aus, dass der Mensch ein Ergebnis der biologischen Evolution darstellt.
Alle wissenschaftlichen Einsichten in das menschliche Sozialverhalten weisen da-
rauf hin, dass unser moralorientiertes Verhalten zu einem guten Teil biologisches
Erbe ist. Die Erfahrungen der sozietären Evolution sind erwartungsgemäß in un-
serem Erbgut konserviert. Dieses moralische Vorwissen bildet den vorauszuset-
zenden inhaltlichen Kern für das, was Immanuel Kant (: § , A) als die ei-
gene und dennoch allgemeine Gesetzgebung bezeichnete: “Handle so, daß die
Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetz-
gebung gelten könne”.
Unser genetisch verankertes moralisches Orientierungswissen ist das Studien-
objekt der Evolutionären Ethik. Wie jede wissenschaftliche Theorie versteht sich
die Evolutionäre Ethik als eine beschreibende oder erklärende, nicht als eine be-
gründende oder normative Theorie. Aufgabe der Evolutionären Ethik ist es dem-
nach, die historische Genese des moralorientierten Verhaltens wissenschaftlich zu
analysieren. Wie ist es im Zuge der Evolution dazu gekommen? Welche Funk-
tion kommt der Moral “von Natur aus” zu? Inwieweit sind die praktizierten Mo-
ralen durchdacht (durch Reflexion geläutert) und damit von den unreflektierten
Protomoralen im Tierreich unterschieden?
Warum bildeten sich überhaupt Gemeinschaften, Sozietäten? Sozietäten sind
in der biologischen und kulturellen Evolution wegen der Synergieeffekte, die Ko-
operation (gemeinsames Handeln) mit sich bringt, entstanden. Kooperation in
Richtung Sozietät evolviert dann, wenn die gesteigerte Leistungsfähigkeit koope-
rierender Gruppen die aufaddierten Vorteile der egoistischen Nutzenmaximierung
innerhalb der Gruppe übersteigt.
Den Vorzügen der Synergieeffekte (und damit der sie gewährleistenden Moral)
stand aber stets die Attraktivität der egoistischen Nutzenmaximierung gegen-
über. Die tagtäglichen Erfahrungen mit dem Egoismus – unserem eigenen und
dem der anderen – sind uns wohl vertraut. Trittbrettfahrer sind solche, denen es
gelingt, vom Synergieeffekt der Sozietät zu profitieren, ohne den entsprechenden
Tribut an die Moral (bei den Tieren an die unreflektierte Protomoral) zu entrich-
ten. Im wechselnden Ausmaß sind wir alle Trittbrettfahrer. Wir folgen in unse-
rem Verhalten der Devise: Loyalität gegenüber der Moral soweit wie nötig, egois-
tische Nutzenmaximierung soweit wie möglich. Dies nennt man evolutionsbio-
logisch eine “gemischte Strategie”.
Aus vielen Beobachtungen zur Protomoral bei Tieren haben die Ethologen ge-
lernt, dass die natürliche Selektion regelmäßig evolutionsstabile Mischstrategien
des Verhaltens erzeugt. Von einer Mischstrategie spricht man dann, wenn Strate-
gie A durch die Strategie B geschwächt wird, andererseits aber Strategie B nur auf
HANS MOHR
der Basis von Strategie A existieren kann. Eine genetisch determinierte Strategie
ist dann evolutionär stabil, wenn in einer Population keine Strategievariante sich
auf die Dauer durchsetzen kann. Nimmt zum Beispiel der Egoismus überhand,
bricht die Sozietät zusammen. Aber ohne Egoismus ist die Sozietät auch nicht kon-
kurrenzfähig, da sie ihre volle Leistungskraft nicht ausspielen kann, wenn Versu-
che zur egoistischen Nutzenmaximierung nicht zugelassen werden.
Der Mensch ist auf gemischte Verhaltensstrategien und damit auf Interessen-
konflikte hin angelegt: Altruismus und Eigennutz, Altruismusbereitschaft und
Rivalität, Liebe und Hass, Verzicht und Bereicherung, Mitleid und Schaden-
freude, Milde und Gewalttätigkeit, Empathie und Borniertheit – wir tragen bei-
des in unseren Genen, wenn auch mit individuell unterschiedlicher Stärke. Was
sich nach außen manifestiert, ist eine kontextabhängige Variation unseres Verhal-
tens.
Die Kulturgeschichte bietet viele Beispiele für die situative Expression gemisch-
ter Strategien. Betrachten wir das Paar Wahrhaftigkeit/Lüge. In der Regel gelten
Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit als Tugenden (“Lügen haben kurze Beine”, “Ehr-
lich währt am längsten”), aber im Fall von Odysseus war das Attribut “listen-
reich” keineswegs ehrenrührig.
Erst allmählich in der Kulturgeschichte (und Etymologie) entwickelte “List”
einen üblen Nebensinn. Aus der bewundernswürdigen Täuschung (“Kriegslist”)
wurden Arglist und Hinterlist.
Derzeit beobachten wir in Deutschland den gegenläufigen Trend, besonders bei
der moralischen Einstellung zu Institutionen der Solidargemeinschaft. Die morali-
sche Bewertung von Ladendiebstahl, Versicherungsbetrug, Steuerhinterziehung
oder Missbrauch von Sozialleistungen hat sich gravierend verändert. Der Anteil
der Bevölkerung, der diese Delikte strikt verurteilt, ist in den letzten Jahren steil
gesunken.
Mit einer gemischten Verhaltensstrategie von großer politischer Brisanz sind
wir konfrontiert, wenn wir uns fragen, warum Gruppensolidarität im Kleinen
funktioniert, im Großen hingegen nicht. Auf diese Frage erlaubt das von Hamil-
ton () vorgeschlagene Konzept der Gesamtfitness (inclusive fitness) eine prä-
zise Antwort. Es berücksichtigt die besondere Solidarität genetisch Verwandter
(Sippen).
Das Konzept besagt, dass bei sozial lebenden Arten neben der Individual-
Selektion eine Sippen-Selektion wirksam ist. Demgemäß muss die Fitness eines
Individuums nicht nur am Überleben und am Reproduktionserfolg seiner selbst
gemessen werden, sondern auch an der Förderung der Fitness genetisch Ver-
wandter. Aus der Individualfitness wird inclusive fitness, Gesamt-Fitness. Eine vom
Grad der Verwandtschaft abhängige Hilfeleistung bedeutet zum Beispiel einen
Selektionsvorteil für die genetisch verknüpfte Sippe. Der Sippenaltruismus zahlt
sich für die Fitness der Kinship aus.
WO BEGINNT DER MENSCH?
. Bei den eusozialen Tieren finden sich drei Tierformen: ein oder wenige geschlechtsreife
Weibchen (Königinnen), Weibchen mit zurückgebildeten Gonaden (Arbeiterinnen) und
geschlechtsreife Männchen. Als Prototypen eusozialer Tiere gelten die staatenbildenden In-
sekten und unter den Säugetieren die unterirdisch lebenden Nacktmulle.
. Vgl. Mohr ( b).
. Ebd.
HANS MOHR
schützt das Recht auch die angeborenen moralischen Überzeugungen der bio-
logischen Evolution, z.B. die uns innewohnende Goldene Regel, unser Bedürfnis
nach Gerechtigkeit und Fairness, unser Streben nach Eigentum, unsere Sehn-
sucht nach Geborgenheit in Familie, Sippenverband oder Freundschaft. Aber
entscheidend für die Wirksamkeit des positiven Rechts war und ist, neben Ko-
härenz und Konsistenz, die Adäquatheit gegenüber der jeweiligen soziokulturel-
len Komplexität.
Die Menschen haben das Recht nicht nur an die jeweilige soziokulturelle Kom-
plexität, sondern auch an ihr Weltbild, an ihre jeweilige Weltsicht, angepasst. Cha-
rakteristisch für das archaische Rechtssystem der Germanen, Kelten und Slawen
war zum Beispiel das Fehlen jeglicher Abstraktion in der Begrifflichkeit. Ihr Recht
war anschauungsgebunden, ausgerichtet auf die Bedürfnisse ihres bäuerlichen All-
tags. Erst mit zunehmender Abstraktion der Weltsicht erfolgte auch die Abstrak-
tion des Rechts. Das römische Recht basierte bereits auf überpositiven, abstrakten
Grundsätzen. “Tugenden” waren Richtschnur und Kontrollinstanzen des Rechts.
Entsprechend leiten die überpositiven rechtsimmanenten Grundsätze “richtiger”
Ordnung die Entwicklung des modernen positiven Rechts und bestimmen den
normativen Erwartungshorizont der rechtsunterworfenen Bürger.
Rechtsgrundsätze sind in der heutigen Welt die höchste Form des Orientie-
rungswissen, das uns eine Antwort gibt auf die Frage nach der richtigen Führung
unseres Lebens. Die Ordnung des Zusammenlebens durch Rechtsgrundsätze und
Sanktionen bedeutet eine gewaltige Kulturleistung des Homo sapiens, dessen ver-
haltensbestimmendes Erbgut im Pleistozaen (Sammler und Jäger) und im post-
glazialen Neolithikum (Anfänge von Viehzucht und Ackerbau) auf dem Niveau
der Sippenmoral entstanden ist. Diese Integrationsleistung konnte nur gelingen,
weil der Homo sapiens in seiner kulturellen Evolution seit dem Neolithikum posi-
tiv gestaltend und nicht grundsätzlich negierend an seine evolutionär geprägte
Neigungsstruktur (Prädisposition) anknüpfte.
Bewusstsein (oder Geist) wird vielfach als eine emergente Eigenschaft des Men-
schen angesehen, die nur ihm zukomme. Dies ist eine unbegründete Spekulation.
Alle relevanten Indizien sprechen vielmehr dafür, dass das uns vertraute “Bewusst-
sein” im Zuge der Primaten- und Hominidenevolution allmählich entstanden
ist. Das intentionale Handeln zum Beispiel setzt Bewusstsein voraus.
Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass dem Neandertaler oder dem Homo
erectus, die bereits zur Bildung von Artefakten und zum Gebrauch des Feuers fä-
hig waren, ein Bewusstsein abging. Die Verhaltensäußerungen von Schimpansen
und Bonobos lassen sich ebensowenig ohne die Annahme von Bewusstsein deu-
ten wie das Verhalten meiner menschlichen Nachbarn.
Wie sieht der Biologe, kurz zusammengefasst, das Problem “Bewusstsein” im
Lichte der Evolutionstheorie?
Als Biologen gehen wir (selbstverständlich?) davon aus, dass jedem Bewusst-
seinsakt ein neurophysiologischer Vorgang entspricht. Die meisten von uns ge-
hen noch einen Schritt weiter: Bewusstsein, Seele, Geist werden als Funktion
des Zentralnervensystems, insbesondere des Gehirns, aufgefasst. Dieser ‘Funk-
tionalismus’ ist wohlbegründet. Zahllose Experimente und ‘kontrollierte Beob-
achtungen’ haben gezeigt, wie eng in der Tat die Beziehungen zwischen Gehirn-
und Bewusstseinsprozessen sind. Jedermann weiß, welch ungeheure Wirkung
auf das Bewusstsein von einfachen Molekülen wie Alkohol, Narkotika, Psycho-
pharmaka ausgehen kann. Die biochemische Therapie von Geisteskrankheiten,
beispielsweise Schizophrenie, spricht ebenso für eine enge Beziehung wie die
Erblichkeit geistig-seelischer Eigenschaften und Erkrankungen. Vermutlich ist
Bewusstsein ein Korrelat hoher Systemkomplexität; allerdings besteht derzeit
keine Klarheit darüber, ob die Zahl der Neuronen und ihr Vernetzungsgrad die
mit dem Auftreten von Bewusstsein korrelierte ‘Struktur’ hinreichend beschrei-
ben.
Der Besitz eines subjektiven Bewusstseins hat komplexen Nervensystemen of-
fenbar in der Bilanz einen evolutionären Vorteil verschafft, vor allem im Zusam-
menhang mit der Evolution der Intentionalität und des teleologischen Denkens.
Die Fortschritte der Neuro- und Kognitionswissenschaften werden eine neue Be-
wusstseinskultur hervorbringen und vermutlich unser immer noch cartesianisch
geprägtes Menschenbild und den Mensch-Tier-Dualismus der jüdisch-christli-
chen Tradition umgestalten: Wenn sich ‘Bewusstsein’ im Vollzug der Evolution
graduell entwickelt hat, muss es in unterschiedlichem Maße auch Tieren zuge-
standen werden.
Es liegt auf jener Ebene des Bewusstseins, auf der “Willensfreiheit” und “Verant-
wortung” ins Spiel kommen.
Wie gesagt: Wir sind als Biologen überzeugt von der faktisch unbezweifelbaren
biologischen Natur des Menschen. Die Evolutionstheorie, “The Modern Syn-
thesis”, schließt den Menschen fraglos ein. Gleichzeitig aber machen wir Imma-
nuel Kant das Zugeständnis, dass der Glaube an das moralische Gesetz in uns und
an einen autonomen freien Willen eine notwendige Voraussetzung für sittliches
Verhalten und damit für die Würde des Menschen sei. Es gibt keine geradlinige,
intellektuell befriedigende Lösung für dieses uralte Dilemma. Die Dualisten
konnten nie erklären, wie der immaterielle und also energielose Geist kausal das
Gehirn beeinflussen soll. (Es gibt in der Wissenschaft keine Kausalität ohne Ener-
gieübertrag!) Die Monisten können sich Freiheit und Würde nicht bewahren.
Das Leib-Seele-Problem bleibt als Aporie – als prinzipiell unlösbares Problem –
in der Schwebe.
Im Lichte der Evolutionstheorie kann man die Aporie wie folgt formulieren:
Natürlich ist der Wille des Menschen nicht frei, aber es ist wichtig, dass wir
unseren Willen für frei halten. Auch wenn wir dem naturalistischen Argument
des Determinismus anhängen, also keine kausale Wirksamkeit geistiger Zustände
akzeptieren, denken und handeln wir (in der Regel) so, als wären wir freie Men-
schen. Dies ist evolutionsbiologisch zu erklären: Der freie Wille erwies sich als ein
wesentlicher, wenn auch fiktiver Faktor bei der Bewältigung der Lebensumstände
im Vollzug der Hominidenevolution.
Aus der Hominidenevolution ist ein solches (Wert-) Urteil nicht abzuleiten.
Auch die Kulturgeschichte bietet ein ambivalentes Bild: “Aberglauben, Angst-
religionen und sich an Absurdität wechselseitig überbietende Ideologien haben
die Entwicklung des Menschen begleitet; sie bildeten die negative Seite des kul-
turellen Fortschritts. Heute sind sie zu einer planetarischen Lebensgefahr gewor-
den.”
Der Skepsis des Philosophen halte ich den Optimismus des Naturwissenschaft-
lers entgegen: Es gibt keine kulturellen Defizite, die sich im Rahmen und mit dem
Rüstzeug unserer wissenschaftlich-technischen Welt nicht bewältigen ließen.
Voraussetzung ist allerdings, dass uns jene geistig-moralischen Kräfte nicht ver-
lassen, die seit dem Neolithikum den kulturellen Fortschritt angetrieben haben.
Aber es ist ein Fortschritt ohne Teleologie. Weder die biologische noch die so-
ziokulturelle Evolution lassen ein vorgegebenes Ziel erkennen. Der Mensch als
Krone der Schöpfung – diese Metapher ist uns ebenso fremd geworden wie der
Schöpfungsakt selber. Gewiss, es gab in der menschlichen Geschichte langfristige
Trends, die teleologische Interpretationen nahelegten. Aber keine dieser “Erklä-
rungen” kann uns heute noch überzeugen. Die Weltgeschichte ist, so müssen wir
uns eingestehen, die Geschichte menschlicher Akteure, die letztlich aus einem uni-
versalen Evolutionsgeschehen stammen, das unserem mesokosmisch beengten
kognitiven Vermögen nicht mehr zugänglich ist.
Aber die Sonderstellung des Menschen steht für mich außer Zweifel. Es gibt
die Konstrukte des Rechts, die großen wissenschaftlichen Theorien, die Schöp-
fungen der Kunst, die Kreationen der Ingenieure, unsere Fähigkeit zur Güte…
Wenn ich bei Aristoteles über Solon nachlese oder die Deklaration der Men-
schenrechte von Lafayette bewundere, wenn ich die Logik der Quantenmechanik
nachvollziehe oder Bruckners Neunte höre, wenn ich mich daran erinnere, wie
mir ein französischer Militärarzt mit seiner letzten Packung Penicillin G das
Leben gerettet hat, dann weiß ich, dass der Mensch etwas Besonderes ist.
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KOSMOS UND MENSCHLICHES MASS
DIE ORDNUNG DER DINGE ALS LEISTUNG
DER MENSCHLICHEN ERFAHRUNG *
Christian G.Allesch
“Was ist es, das mich wie eine Erleuchtung trifft und mein Herz erschüttert,
ohne es zu verletzen, dass ich erschaudere und zugleich entbrenne? Erschaudere,
insofern ich ihm unähnlich bin, und entbrenne, insofern ich ihm ähnlich bin.”
Wilhelm J. Revers, der dem Phänomen des Staunens eine eigene psychologische
Studie gewidmet hat, zieht dieses Zitat heran, um die Eigenart jenes Phänomens
zu beschreiben. Was unser Staunen erregt, zieht uns an durch die intuitive Erfah-
rung einer nicht weiter konkretisierbaren Bedeutsamkeit, und es distanziert uns zu-
gleich durch das offensichtliche Versagen vertrauter Deutungskategorien. Im Stau-
nen, so formuliert es Philipp Lersch, mutet uns die Welt an als Gegenstand mög-
lichen Fragens; es ist das Urerlebnis der Philosophie und des menschlichen Fragens
schlechthin. Es ist, wie Revers meint, eine Form des Erkennens, aber – so Revers –
ein “pathisches Erkennen”, ein Erkennen, das “ursprünglicher ist als die planvolle
Erkenntnisgeschäftigkeit der Wissenschaft, die wir gewohnt sind”.
Was wir im alltäglichen Verständnis “Kosmos” nennen, jene makroskopische
Ordnung der Dinge, die es uns erlaubt, raum-zeitliche Strukturen und Dimen-
sionen begreifend zu erfassen, die jede Anschaulichkeit übersteigen, zählt zu den
frühesten Gegenständen menschlichen Staunens wie auch menschlicher Wissen-
* Dieser Text stellt eine aktualisierte Fassung eines Vortrags dar, der am .Mai beim Sym-
posion “Lépték és mérték’’ (Maßstab und Maß) der INTART-Gesellschaft und des österrei-
chischen Kulturinstituts Budapest in Budapest gehalten wurde. Er ist als kritische Anti-
these zu dem im Eröffnungsvortrag dieses Symposions von Rudolf Haase vertretenen “har-
monikalen Pythagoreismus” Hans Kaysers zu verstehen. Die ursprüngliche Fassung dieses
Vortrags ist in den Akten dieses Symposiums (E.Tusa (Ed.), Lépték és mérték. Budapest
) in ungarischer Sprache erschienen.
. Augustinus, Confessiones XI,.
. W.J.Revers, Über das Staunen. In: Wirklichkeit der Mitte. Beiträge zu einer Strukturanthropo-
logie. Festgabe für August Vetter. Freiburg/Br. , S. –.
. Ph. Lersch, Aufbau der Person. München (), S. .
. W. J. Revers, a. a.O., S. .
CHRISTIAN G. ALLESCH
schaft. Wenngleich die Entwicklung der Wissenschaft vieles dem spekulativen und
bildhaften Begreifen des Mythos entrissen und zum Gegenstand prüfbarer Hypo-
thesen und Theorien gemacht hat, so bleibt doch nirgendwo sonst so hartnäckig
ein Rest an rationaler Unbegreiflichkeit, der uns zunächst zum Staunen nötigt, zur
unmittelbaren, einfühlenden Erfahrung verführt, ehe wir bereit sind, die kosmi-
schen Gesetzmäßigkeiten zum Gegenstand nüchterner wissenschaftlicher Empirie
zu machen und unseren empirischen Zugang zu den Erscheinungen des Kosmos
der Prüfung durch die Erkenntniskritik zu unterwerfen.
Das Verhältnis des Menschen zum Kosmos und seinen Strukturen war daher
im Allgemeinen ein anderes als das zu den Gegenständen seiner Lebenswelt, die
er durch sein unmittelbares Handeln zu beeinflussen vermochte. Sosehr die abend-
ländische Wissenschaftstradition unter dem Einfluss des platonischen Erbes den
Wert und die Objektivität der sinnlichen Erfahrung bezweifelte, so sicher war sie
sich ihrer Wirklichkeitserfahrung, wenn sie den Blick von den Niedrigkeiten und
Widrigkeiten des irdischen Lebens zu den Sternen richtete.
Der Siegeszug der empirischen Naturwissenschaft und die Entdeckungen eines
Kopernikus oder eines Kepler befreiten das kosmologische Denken von der Per-
spektivität und Relativität des geozentrischen Weltbilds, sie verstärkten aber auch
jenen naiven Realismus, der die empirischen Tatbestände der kosmischen Struk-
turen gleichsam mühelos zu Objekten der Wesensschau einer metaphysischen, un-
abhängig von der Erfahrung und den Bedingungen ihrer Möglichkeit existie-
renden Wirklichkeit verklärte.
Die kopernikanische Wende der Kantschen Erkenntniskritik zerstörte diese
naive Illusion. Dem naiven erkenntnistheoretischen Realismus stellte Kant sein
Postulat entgegen, die Vorstellung des Raumes könne “nicht aus den Verhältnis-
sen der äußern Erscheinung durch Erfahrung erborgt sein”, sondern diese äußere
Erfahrung sei selbst erst durch die notwendige, apriorische Vorstellung des Rau-
mes möglich. So wie die transzendentalphilosophische Sichtweise Kants zu einer
völlig neuen Sichtweise der Ästhetik führt, nämlich vom Bezug auf die empiri-
schen Tatbestände der Künste zur Beschäftigung mit der Funktion von Sinnlich-
keit schlechthin, so führte sie auch zu einer grundsätzlichen Neubestimmung
der Kosmologie, als deren Gegenstand Kant die Welt als “Inbegriff aller Erschei-
nungen” bestimmt, der durch die “absolute Einheit der Reihe der Bedingungen
der Erscheinung” hergestellt wird.
Der “Kosmos”, jene faszinierende Ordnung, in der sich uns die Erscheinungs-
welt präsentiert, ist also zunächst die Form unserer Wirklichkeitserfahrung. Die
. Vgl. dazu W@adys@aw Tatarkiewicz, Objectivity and Subjectivity in the History of Aesthe-
tics. In: Philosophy and Phenomenological Research (), S. –.
CHRISTIAN G. ALLESCH
Analyse führt daher auch nicht zum musikalischen Erleben, sondern nur zu des-
sen formalem Anlass und lässt das eigentliche, das anthropologische Problem der
Musik noch offen, oder, wie Robert Musil es ausgedrückt hat: “Das menschliche
Geheimnis der Musik ist ja nicht, dass sie Musik ist, sondern dass es mit Hilfe
eines getrockneten Schafdarms gelingt, uns Gott nahe zu bringen”.
Wo immer jene Erfahrungsweisen ins Spiel kommen, die uns als Künstler, als
Philosophen oder als Humanwissenschaftler interessieren, gerät unweigerlich die
strukturbildende Funktion der menschlichen Subjektivität ins Blickfeld und ver-
wehrt uns jede Analogie mit technischen Systemen, aber auch jede Betrachtungs-
weise, die die Bedeutung von “Kosmos” von Ordnung abseits der menschlichen
Erfahrung erklären will. Man mag Computern alle möglichen Wunderdinge in
Bezug auf die formale Analyse von Klangstrukturen zutrauen, aber musikalisch
sind sie wohl nicht. Das Gleiche gilt auch für viel basalere menschliche Fähig-
keiten: Computer mögen ein phantastisches Gedächtnis besitzen, aber sie sind
nicht in der Lage, sich zu erinnern. Der Abruf von Information aus einem elektro-
magnetischen “memory” hat nur wenig mit dem gemein, was schon Augustinus
als “recordatio” (Erinnerung), von der “memoria”, dem materialen Gedächtnis
unterschied, desgleichen Aristoteles als ånámnhsiß (anámnesis) vom “Material-
gedächtnis” der mnªmh (mnéme). Die Informationsverarbeitung des Computers
verläuft in der Zeit, aber die Maschine verfügt nicht über die Zeit: der Computer
hat keine Zeit und er kennt deshalb auch keine Musik.
James Gibson hat in seinem Buch Die Sinne und der Prozess der Wahrnehmung
überzeugend dargelegt, dass das Modell der Reizverarbeitung den komplexen Pro-
zess der Wahrnehmung nicht zu erklären vermag. Die menschliche Wahrnehmung
wird erst verständlich, wenn man den Menschen nicht nur als informationsverar-
beitendes, sondern als informationsbedürftiges Wesen begreift und seine Sinne
als hochspezialisierte Systeme zur Erfassung von Ordnung, d. h. von Invarianzen
in der chaotischen Flut der einströmenden physikalischen Informationen. Das
Missverständnis der menschlichen Wahrnehmungssysteme als passive “Sinnes-
kanäle” hat wohl nicht zuletzt dazu beigetragen, dass man den Grund für die
Ordnungen der menschlichen Erfahrungswelt meist stärker in den formalen Eigen-
schaften physikalischer Reize sah als in der gestaltenden Funktion der menschli-
chen Sinnlichkeit und dass man das kosmische Prinzip als metaphysisches Prin-
zip verstand und nicht im Sinne Kants als Form der menschlichen Erfahrung.
Wie sehr uns jedoch auch die empirische Erfahrung nötigt, die Ordnung der
Dinge unserer Erfahrungswelt als Leistung des menschlichen Geistes zu begreifen,
möchte ich an zwei Beispielen demonstrieren. Das erste, visuelle Beispiel ent-
stammt der Gestaltpsychologie, die schon in den ersten Jahrzehnten des . Jahr-
hunderts der herrschenden Assoziationspsychologie die Überzeugung von der
strukturschaffenden Funktion in der menschlichen Psyche verankerter Gestalt-
prinzipien entgegensetzte und damit im Wesentlichen bereits kannte, was die
heutige kognitive Psychologie nach dem Einbruch des Behaviorismus als “konzept-
gesteuerte Wahrnehmung” wiederentdeckte. Das Beispiel stammt von Kurt Gott-
schaldt. Betrachten wir die Figur in Abb. a, so ordnen wir im Regelfall die Li-
nien der Figur zu vier kreuzförmig angeordneten Sechsecken auf einem “unter-
legten” Rechteck. Machen wir jedoch die Figur b zur “Suchfigur”, so ordnet sich
die Zusammengehörigkeit der Linien schlagartig um. Mit einiger Bemühung ist
die Zielfigur b sogar in der Abb.c unmittelbar wahrzunehmen, obwohl uns eine
derartige Interpretation der Konfiguration c ohne Vorgabe der Suchfigur wohl
kaum in den Sinn gekommen wäre.
. K.Gottschaldt: Über den Einfluss der Erfahrung auf die Wahrnehmung von Figuren. In:
Psychologische Forschung (), S.–, u. (), S.–.
CHRISTIAN G. ALLESCH
Je nach der Einstellung des Betrachters lässt sich in der Darstellung das Bild einer
nach links vorne gewandten älteren Frau oder die Darstellung einer nach hinten
über die Schulter schauenden jungen Dame erblicken. Auch hier löst ein und die-
selbe äußere Ordnungsstruktur durchaus unterschiedliche Gestaltwahrnehmun-
gen aus.
Das zweite Beispiel entstammt der kognitiven Musikpsychologie. Diana
Deutsch bot Versuchspersonen eine Abfolge von Zweiklängen dar, die sich von
einer Oktave diatonisch auf eine Sekund verkleinerten und wieder auf eine Ok-
tave anwuchsen, wobei im ersten Zweiklang der hohe Ton nur über den rechten
und der tiefe Ton nur über den linken Kopfhörer dargeboten wurde, im zweiten
genau seitenverkehrt, im dritten wieder wie im ersten und so weiter (Abb. a).
Das erstaunliche Ergebnis war, dass die Versuchspersonen über das rechte Ohr
eine in Sekundschritten abwärts und wieder aufwärts verlaufende Melodie hör-
ten und über das linke Ohr eine spiegelbildliche, vom tiefen Anfangston nach
oben und wieder nach unten verlaufende Melodie (Abb. b). Das Bedürfnis, die
einlangenden akustischen Reize zu einer einfachen Gestalt zu strukturieren, ist
also offenbar so dominierend, dass dadurch sogar eine so fundamentale und evo-
lutiv bedeutsame Funktion wie das Richtungshören “überlistet” wird.
Das Ordnungsbedürfnis der menschlichen Wahrnehmung und Phantasie ist
also so stark, dass wir selbst dort, wo uns die physikalische Welt mit unklaren oder
verwirrenden Strukturen entgegentritt, uns unseren eigenen “Kosmos” zurecht-
sehen und zurechthören. Dies bestärkt mich in meiner Annahme, dass das, was wir
“Kosmos” nennen, in einem viel höheren Maß durch unsere Sinne und unsere ord-
nende Vernunft bewirkt wird als durch eine “objektive” Ordnungsstruktur der
Wirklichkeit. Der bedeutende Kunsthistoriker und Kunsttheoretiker Ernst Gom-
brich ging so weit, die Phänomene der Wahrnehmung im Wesentlichen überhaupt
auf einen fundamentalen “Ordnungssinn” zurückzuführen. Gerade in der ästhe-
tischen Wirkung des Ornaments wird, wie Gombrich meinte, das anthropologi-
. D.Deutsch: Grouping Mechanisms in Music. In: D.Deutsch (ed.); The Psychology of
Music. nd ed. San Diego/CA , S. –.
. E.Gombrich, Ornament und Kunst: Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des
künstlerischen Schaffens. Stuttgart (engl. Orig. The Sense of Order. Oxford ).
KOSMOS UND MENSCHLICHES MASS
sche Bedürfnis nach Ordnung ebenso unmittelbar augenfällig wie der “Schmuck-
trieb”, der wie das Ornament zu den ältesten Kulturerscheinungen zählt.
Hannes Böhringer hat, von den Gedanken Gombrichs ausgehend, die interes-
sante Frage aufgeworfen, ob der Mensch überhaupt Unordnung erkennen könne,
oder ob er nicht immer nur gestörte Ordnungen erkennt. Auch diese Bemer-
kung weist darauf hin, dass es legitim ist, die Frage nach dem Ursprung der Ord-
nung der menschlichen Erfahrungswelt, nach dem Wesen von Harmonie und
Symmetrie, nach dem Wesen von Kosmos und Chaos an die Frage nach der Struk-
tur der menschlichen Sinnlichkeit zu knüpfen und nicht an die Frage nach dem,
was Ordnungen jenseits unserer Erfahrungswelt repräsentieren.
Auch die neuere experimentelle Ästhetik hat nach vielen fehlgeschlagenen Ver-
suchen, das Erleben von Ordnung und ästhetischer Wohlgefälligkeit an der forma-
len Ordnungsstruktur der Wahrnehmungsgegenstände festzumachen, die Bedeu-
tung der menschlichen Subjektivität wieder entdeckt. Es war für mich sehr bemer-
kenswert, dass gerade ein am informationstheoretischen Paradigma orientierter
Experimentator wie Erich Raab in einer selbstkritischen Reflexion seines Vorge-
hens eingesteht, dass “das subjektive Ordnungserleben keineswegs mit den objek-
tiv gegebenen Ordnungscharakteristika der Konfiguration gleichzusetzen ist.” Es
bedürfte aber wohl eines stärker dialektischen Verständnisses von “Objektivität”
und “Subjektivität” überhaupt, um diese Probleme befriedigend zu lösen, die wir
uns durch die cartesianische Spaltung der Wirklichkeit in eine extensionale Welt
der Dinge und eine nichtextensionale Welt des Geistes selbst geschaffen haben.
Kehren wir nochmals zurück zu Aurelius Augustinus und seinem ergriffenen
Staunen angesichts des Kosmos, der faszinierenden Allgegenwart von Ordnung
in der Welt der erfahrbaren Dinge. Wir finden in der impulsiven Sprache dieses
frühmittelalterlichen Psychologen vorgeformt, was uns spätere wissenschaftliche
Versuche bestätigten, dass es nämlich einer Übereinstimmung unserer sinnlich-
geistigen Ordnungsfunktionen mit der sinnlichen Reizstruktur bedarf, damit die
Gegenstände unserer Wahrnehmung einfühlbar, begreifbar und damit positiv affi-
zierbar werden, und dass uns nicht zuletzt dort Angst und Schwindel ergreift, wo
wir, wie auf dem schwankenden Boden eines schlingernden Schiffes, die Struktur
der uns umgebenden Wahrnehmungswelt nicht mehr mit den eigenen Ordnungs-
strukturen in Einklang zu bringen vermögen.
In diesem Sinne haben wir die Ordnung der Dinge als eine immer wieder neu
zu erbringende menschliche Leistung zu betrachten, und in diesem Sinne ist
. H.Böhringer, Stil und Sachlichkeit. Gedanken zum Ornament. In: Merkur (),
S.–.
. E.Raab, Informazione strutturale e arte astratta. In: Rivista di Psicologia dell’Arte (),
n./, S. –; ebd. S. .
CHRISTIAN G. ALLESCH
“Kosmos” nicht etwas außer uns, nicht etwas von der menschlichen Subjektivität
Abtrennbares und auch nicht etwas schlechthin “Objektives” und damit nur in
“kosmischen” Dimensionen Erfassbares. Das Maß, mit dem wir den Kosmos, die
Ordnungsstruktur der Dinge, zu erfassen suchen, sei es im Makrokosmos des
Universums, sei es im Mikrokosmos der lebenden Zelle oder der atomaren Struk-
turen, ist stets zugleich das menschliche Maß unseres ordnenden Verstandes. Ob
wir uns dem Rätsel der Weltordnung durch den disziplinierten Zugriff der empi-
rischen Wissenschaft nähern oder durch die pathische Erkenntnisform des Stau-
nens, stets führt uns eine erkenntniskritisch fundierte Reflexion zurück auf das
Rätsel der eigenen Subjektivität: In der wissenschaftlichen Betrachtung weist sie
uns die Grenzen unseres Erkennens, im Staunen über die Dinge widerfährt uns
stets auch die Unauslotbarkeit unserer menschlichen Existenz.
Vor diesem Hintergrund verkehrt sich die platonistische Volte, den Satz des
Protagoras, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, als Leitsatz anthropo-
zentrischer Hybris zu entlarven, in ihr Gegenteil: Die Einsicht, dass der Blick in
den “Kosmos” zunächst unser eigenes Spiegelbild erfasst, unsere in der Evolution
entwickelten Strategien, die verwirrende Vielfalt sinnlicher Informationen zu ord-
nen, aber auch unser Bedürfnis nach Ordnung und unsere daraus erwachsenden
Projektionen, ist von “Hybris” viel weiter entfernt als die Erkenntnissicherheit
vermeintlicher “Wesensschau”.
PROTAGORAS UND POLYKLEITOS
PERSPEKTIVEN ZUM VORBILDLICHEN MASSSTAB IN ATHEN
Siegrid Düll
Die Stoa Poikile (Bunte Halle) wurde noch vor Beginn des Peloponnesischen
Krieges mit aufwendigem Bildschmuck versehen. An den Wänden reihten sich
Bilder der griechischen Mythologie auf der Höhe der Zeit, das heißt, in den opti-
malen Maßverhältnissen der in Athen geschätzten Proportionslehre. Den Betrach-
ter empfing geradezu ein Hymnos auf das richtige und schöne Maß der Bildge-
staltung, mit der sich das urteilende, wertende, gliedernde Einordnen offenbart,
das viele schöne Teile (tà kalá) mit dem Schönen an sich (tò kalón) verbindet.
Unter den Tafelbildern befand sich auch die Ilioupersis des Polygnotos. Protago-
ras, der die Werke dieses Malers kannte, fühlte sich in seiner These bestätigt:
Pánton chremáton métron estìn ánthropos (Aller Dinge Maßstab ist der Mensch).
Als er an dem Tafelbild der traurig-schönen Seherin Kassandra vorbeischreitet,
die gefesselt aus der Schar der gefangenen Trojanerinnen hervorragt, hält er den
Schritt inne. Und auch Polykleitos, der Erzgießer aus Sikyon, der eigentlich vor-
bei gehen wollte, bleibt stehen.
Protagoras dreht sich um: “Sei gegrüßt mein Freund, wohin lenkst du so eilig
deine Schritte?” Polykleitos weicht aus, begutachtet fachmännisch die griechischen
Helden vor Troja und meint, diese seien zwar geschickt gruppiert, aber in ihrem
. Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. , Stuttgart–Weimar , Sp. -, s.v.
Polygnotos (Stoa Poikile).
. Hanna Philipp: Zu Polyklets Schrift “Kanon”, in: Polyklet. Der Bildhauer der griechischen
Klassik. Ausstellung im Liebighaus, Museum alter Plastik, hg. von Herbert Beck und Peter
C.Bol, Frankfurt am Main (.. – ..), Mainz , –, s. besonders S.
u. .
. Zu Polygnotos, Polykleitos und Protagoras s. Der Neue Pauly, wie oben Anm., Bd. ,
Stuttgart–Weimar , Sp. ff.; –; ff.
SIEGRID DÜLL
. Vgl. Wolf Koenigs: Maße und Proportionen in der griechischen Baukunst (Kat.), in:
Polyklet…, wie oben Anm., S.–. S. auch Wolfgang Sonntagbauer: Das Eigentliche
ist unaussprechbar. Der Kanon des Polyklet als “mathematische Form”, Diss. Salzburg (Euro-
päische Hochschulschriften, Reihe XV, Ser. ), Frankfurt/M. .
. Peter Robert Franke: Die griechische Münze, München , s.v. Athen, Abb. –.
. Renate Bol: Die Amazone des Polyklet, in: Polyklet…, wie oben Anm. (Kat. –),
S. –; Andreas Linfert: Die Schule des Polyklet (Kat. –), ebd., S. –, zur
Aphrodite von Epidauros s. besonders S. –, Abb. –.
. Ernst Berger: Zum Kanon des Polyklet, S.–; Hans von Steuben: Der Doryphoros
(Kat. –), S.–, in: Polyklet…, wie oben Anm. .
PROTAGORAS UND POLYKLEITOS
Protagoras: “Das weiß ich wohl, aber sag mir, was wirst du nun schaffen?”
Polykleitos senkt den Kopf: “Nichts. Du weißt gar zu gut, seitdem sich Alkibia-
des mit seinen Schiffen auf die Expedition nach Syrakus vorbereitet, gibt es kein
Erz und keine Auftraggeber mehr! Man sagt, dass diese Expedition scheitern
werde. Alkibiades überzieht das ‘Maß’, er ist größenwahnsinnig geworden!” “Ja”,
bestätigt Protagoras, “der Mensch ist auch der Maßstab für das Misslingen, kein
Gott wird ihm bei seiner Dummheit helfen, er muss es versuchen aus eigener
Kraft.” “Ist das nicht zu kühn?” fragt Polykleitos. “Weißt du nicht, dass du des
Todes sein wirst, wenn du öffentlich die Götter verkennst?” Protagoras: “Kühn
mag es sein, doch beginnen die Götterbilder zu fallen, wenn unsere Athener
weiter gegen Sparta in den Krieg ziehen, und nicht nur die Götter auch die
Freiheit der Ideen werden wir verlieren, gepriesenes Gut, für jeden, der sie kennt,
verfemtes Gut für jeden, der sie missbraucht.” Polykleitos: “Du meinst, wir er-
leben das noch?”
Im Auf und Ab der wogenden Gestalten – ohne Körper, ohne Tränen, ohne Ge-
wicht wanken sie wie Puppen durch die Nebel der Unterwelt – , stehen sich
plötzlich Protagoras und Polykleitos gegenüber. Protagoras beginnt zu sprechen:
“Sei gegrüßt, mein Freund, wir befanden uns doch damals in Athen!” Polykleitos
erkennt Protagoras an der Stimme, die etwas hohlklingend ihr lebhaftes Kolorit
bewahrt hat. Er kann die Stirn nicht runzeln: “Ob Freund oder Feind, wir hatten
uns damals nicht mehr viel zu sagen in Athen! Der Krieg hatte uns matt und
krank gemacht. Bald fielen wir ins Grab und mit uns die achtbaren Gesetze der
Demokratie. Unsere Körper verbrannten nacheinander und zerfielen in namen-
losem Staub, der uns nun, mein Protagoras, nach über Jahren wieder zu-
sammentreibt!”
Protagoras: “Ja, Staub sind wir, weil es der Menschen Wille war, uns zu
verbrennen. Von unseren Traktaten blieben nur Fragmente, nur Gedankensplit-
ter erhalten. Die Archäologen sprechen vom “Kanon des Polyklet”, die Philoso-
phen vom Maßstab (tò métron) des Protagoras. Ich bin’s zufrieden, dass meine
These nicht verloren ging. Für die Lateiner ist es der “homo-mensura-Satz”. Es
. Der Neue Pauly, wie oben Anm. , Bd. , Sp. –, s.v. Alkibiades [].
. Die spätere Anklage wegen Gotteslästerung ist nicht gesichert: Diogenes Laërtios IX ().
. Vgl. Gerhard Zecha: Das Spiel mit der Antike wird Ernst: Ist der Mensch wirklich das Maß
aller Dinge?, in: Das Spiel mit der Antike. Zwischen Antikensehnsucht und Alltagsrealität, hg.
von Siegrid Düll, Otto Neumaier, Gerhard Zecha (Arianna, Bd.), Möhnesee , S.–
.
SIEGRID DÜLL
. Caterina Maderna-Lauter: Polyklet in hellenistischer und römischer Zeit (Kat.–), in:
Polyklet…, wie oben Anm. , S. –; s. bes. S. ff. (Polyklet in Rom).
. Götz Lahusen: Polyklet und Augustus (Kat. .). Zur Rezeption polykletischer Gestal-
tungsmuster in der römischen Bildniskunst, S. –, in: Polyklet…, wie oben Anm. .
. Siegrid Düll: Götter auf makedonischen Grabstelen, in: Essays in Memory of Basil Laourdas,
Thessaloniki , –. – Henning Wrede: Consecratio in formam deorum. Vergöttlichte
Privatpersonen in der römischen Kaiserzeit, Mainz . Gemeint sind zunächst die Porträts
der Frauen aus freigelassenen Familien in Rom, die seit dem .Jh. n. Chr. auf die Kopien
berühmter Venusstatuen aufgesetzt wurden.
. Frank Zöllner: Policretior manu – zum Polykletbild der frühen Neuzeit (Kat. ), in:
Polyklet…, z.B. S., wie oben Anm. .
PROTAGORAS UND POLYKLEITOS
Selbst faschistische Frauen wie Leni Riefenstahl haben sich noch um deine Pro-
portionen gekümmert. Ihr Favorit war allerdings der Diskuswerfer des Myron.”
Aber Polykleitos verweist auf seinen Traktat über den Kanon, es sei nicht nur
die Statue allein, es gehe auch um den Raum, der sie umgibt und in den sie aus-
greift. Das spüre man sogar bei der bronzenen Nachbildung des Doryphoros, der
heute in der Ludwig-Maximilians-Universität in München steht. Der Raumbezug
schmilzt jedoch und die Raumwirkung geht verloren, wenn man die Zahlen-
harmonie der Maße untereinander und zum Ganzen bezogen nicht begreift und
bei der Nachformung die Aufstellung nicht berücksichtigt. Erst der Standort
führe zur wahren Identität eines Bildwerkes im Tempel, in der Stoa oder in der
Palästra, erfülle die Kriterien zu seiner Bedeutung und Wirkung, im funktiona-
len wie im ästhetischen Sinne. Protagoras: “Also bedarf es nach deinen Erfah-
rungen doch eines göttlichen Planes, dass ein Kunstwerk gelingt?”
Polykleitos: “Du weißt, mein Protagoras, dass wir nun durch die Nebel der Un-
terwelt schreiten, das wir alles abwerfen mussten, was uns nutzte und erbaute und
keinem Lebenden zeigen können, was uns betrübt oder freut. Das ist das Eine.
Davor bedurfte es nach meinen Erfahrungen eines technisch geübten und genialen
Gestalters! Das ist das Andere. Die Idee vom Göttlichen oder Nichtgöttlichen war
und ist eine Behauptung; wenn man sie verbalisiert, stellt man u.U. ihre Wir-
kung in Frage. Vielleicht erinnerst du dich an die Pythagoräer? Sie sagen, wer die
Harmonia der Zahlenverhältnisse erforsche, vollziehe sie in sich nach. Für sie ist
der Gott – der ja als Mathematiker den Himmel nach mathematischen Gesetzen
kreisen lässt – Vorbild des Menschen, ihm solle er folgen! Ich meine nur, man
kann die göttliche Abkunft nicht erzwingen, aber wenn ein Höchstmaß in der
Kunst erreicht worden ist und weiter gereicht wird, dann mag eine Kraft inne-
wohnen, die unsere Olympier sich mit dem Einzigen Gott, wo auch immer er ver-
ehrt wird, teilen oder die sich namenlos – aber keinesfalls regellos – im Kosmos
der Natur zu erkennen gibt.”
. Leni Riefenstahls Filmberichte über die Olympischen Spiele in Deutschland, Berlin :
“Fest der Schönheit/Fest der Völker”.
. Siegrid Düll: Die Götterkulte Nordmakedoniens in römischer Zeit. Eine kultische und typo-
logische Untersuchung anhand numismatischer, epigraphischer und archäologischer Denkmäler,
München , S.– (Wertung des Fundmaterials). – Klaus Stemmer (Hg.): Standorte –
Kontext und Funktion antiker Skulptur, Ausstellungskatalog, Berlin .
. Der Neue Pauly, wie oben Anm., Bd. , Sp. –, s.v. Pythagoreische Schule, s. bes.
Sp. f. (Naturlehre und Kosmogonie). Vgl. Sonntagbauer, wie oben Anm. , Kap. II (ma-
thematisch-musiktheoretisch-philosophischer Hintergrund des Kanon).
SIEGRID DÜLL
Falls Protagoras und Polykleitos auch noch Goethe begegnet wären, hätte letzte-
rer vielleicht an die Zeilen aus einem seiner vielen Gedichte erinnert, die wie Sta-
tuen und Traktate den deutschen Parnass verzieren:
Aus diesen Zeilen leuchtet ganz allgemein die Bindung an eine höhere Ganzheit,
die ja auch im Protagoras-Satz “Das Maß aller Dinge ist der Mensch” nicht unbe-
dingt verneint wird. Denn es ist ja vom “Maß” die Rede und nicht vom “höchs-
ten Maß” und von “allen Dingen”, die er wahrnehmen und beeinflussen kann. Der
Mensch als Mittler? In der Vorstellung von Protagoras kann er nur das erkennen,
was er erfahren und gelernt hat, verkörpert er selbst die Maße, die er anwenden
wird. Denn “die griechischen Vergleichsgrößen für die Längen konkreter Gegen-
stände, also die Elle, der Fuß, und ihre Teilgrößen Hand- und Fingerbreite (dák-
tylos) sind orientalischem Brauche folgend von den Gliedmaßen des Körpers ab-
geleitet.” Ist es da verwunderlich, den “Menschen, dessen Gliedmaßen schon dem
konkreten Messwesen zugrunde liegen, auch als philosophische und ethische Be-
zugs- und Ausgangsgröße zu sehen”?
Was die obige These immer wieder aktuell macht, ist ihre Subjektivität und
auch die Eleganz ihrer Formulierung – denn die orthoépeia, die richtige Wort-
wahl, war ein großes Anliegen gelehrter Sophisten –, die sie dem Vollkommen-
heitstreben der Bildhauer und Erzgießer ihrer Zeit entgegensetzten. Wie ernst-
haft oder wie spielerisch nun diese Formulierung gemeint war, sei der weiteren
Diskussion überlassen. Feststeht, dass sie die religiöse Verankerung der Ethik im
Göttlichen zumindest scheinbar in Frage stellte.
Wie der vorliegende Band aufzeigt, wurde der “homo-mensura-Satz” seit Platons
Dialog Theaitetos (a) von Philosophen viel erörtert. Um einer Deutung nach
über Jahren vorurteilsfreier gegenüber treten zu können, bedarf es aus ar-
chäologischer Sicht weiterer Perspektiven, um das überlieferte Gedankengut und
den ehemaligen Lebensraum anschaulich zu machen. Daher der fiktive Diskurs
zwischen Protagoras und Polyklet, denn ohne den bildgewordenen Maßstab
Polyklets wäre die Aussage des Protagoras um vieles ärmer.
. Aus Goethes Text “Was wir bringen. Vorspiel bei Eröffung des neuen Schauspielhauses zu
Lauchstädt” (), Worte der Nymphe am Ende des .Auftrittes, in: Goethes Werke (Wei-
marer Ausgabe), Abt.I, Bd. , Tl. , Weimar , S. –, hier: S. .
. Koenigs, wie oben Anm. , S. f. (nach Vitruv: De architectura III ,–),
PROTAGORAS UND POLYKLEITOS
Zum Neuen in der statuarischen Kunst gehörte jedenfalls die maßgerechte Dar-
stellung von Göttern, die ohne das ‘Rauschen ihrer Heiligkeit’ dem Tempel-
besucher gegenüberstehen und sich mit Ausnahme der sie kennzeichnenden
Gegenstände kaum von der gleichzeitigen Darstellung von Epheben unterschei-
den. Andererseits löste die mathematisch begründete Ästhetik in ihrer gelungens-
ten Form durchaus philosophisch-religiöse Erwartungen aus, die bis in die deut-
sche Klassik nach Winckelmann spürbar sind.
Als sich etwa vier Jahrhunderte später in Rom “polykletische Gestaltungs-
muster” im Bildnis des Augustus wiederfinden, ist dies – in Bewunderung grie-
chischer Klassik – “ein konsequent geistiger Habitus, (das) Streben nach Maß und
Ordnung, also ein Programm, das sich auf überzeitliche Werte stützt, Normen
setzt, Gegensätzliches ausschließt und mit erzieherischem Anspruch auftritt”.
Wohl wissend, dass die Griechen Maß und Zahl als Grundlage ästhetischer und
ethischer Qualitäten ansahen.
Immerhin erkennt Protagoras anders als andere Sophisten mit seinem Satz
“für die seienden (Dinge), dass sie sind” die Realität der Dinge an, und Polyklet
ist mit seinem dinglichen Traktat über den Kanon eine verhaltene Distanz zum
Nichtrealen nicht ganz abzusprechen. Und doch lässt sich Polyklet vor dem Nach-
ruhm seiner Werke schwerlich als Sophist bezeichnen, so wenig wie der eloquente
Protagoras ein bildender Künstler ist. Einerseits steht Polyklet, ausgehend von der
symmétria aller Teile der menschlichen Darstellung, am Ende einer langen Tradi-
tion, andererseits versucht er, jene durch Stand- und Spielbein aufzulockern, stets
bemüht, diese Abweichung kontrapostisch in die kompositionelle Einheit zurück-
zuführen (s. Abb. S.f.). Bei der Begegnung mit Protagoras stößt also geregelte
Gegensätzlichkeit auf subjektive Innovationslust, die im Wechsel der Vorbilder ihre
Balance findet. Der vorausgehende Diskurs ist nur ein Versuch, dem Wort “Maß”
bzw. “Maßstab” nach antiken Quellen eine größere Aussagekraft zu gewähren, als
dies gemeinhin bei philosophischen Diskursen der Gegenwart der Fall ist.
Die Thematik des vorliegenden Bandes “Ist der Mensch das Maß aller Dinge?”
wäre dann eine sophistisch-neuzeitliche Fragestellung, die das Wort “Mensch” in
den Mittelpunkt stellt und die den traditionsgebundenen Anspruch einer wohl-
geordneten, kosmisch bestimmbaren Ganzheit durchbricht und Problemfeldern
unserer Gegenwart Raum gibt.
. Siegrid Düll: “Minerven’s Geburt” – nur ein Schattenspiel? Siegmund von Seckendorffs
Geburtstagsüberraschung für Johann Wolfgang Goethe ()”, in: Das Spiel mit der Anti-
ke…, wie Anm. , S. –, s. besonders S. f. – Rupprecht Düll: Herder und die
Sirenen, ebenda, S. –.
. Zitat Tonio Hölscher (Römische Bildsprache als semantisches System. Abh.Heidelb.Akad.
Wiss. [], S. ) aus Götz Lahusen, wie oben Anm. , S. .
. Koenigs, wie oben Anm. , S. .
Abb. : Frontispiz aus Marcus Vitruvius Pollio: Les dix livres d'Architecture, …
corrigez et traduits … en François, avec des notes et des figures. Paris .
ANTHROPOMORPHISMUS
DAS MASS DES MENSCHEN IN DER ARCHITEKTUR
VON VITRUV BIS LE CORBUSIER
Frank Zöllner
“Wenn Ochsen malen könnten, würden sie die Welt nach dem Bilde des Ochsen
malen” – mit diesem Sprichwort verwies der Sprachphilosoph Fritz Mauthner zu
Beginn des .Jahrhunderts auf jenen anthropomorphistisch geprägten Grund-
zug menschlichen Denkens und Sprechens, dem sich selbst ein kritischer Diskurs
kaum zu entziehen vermag. Der Anthropomorphismus ist unausweichlich, er findet
sich immer und überall. Selbst auf einem per se so anorganischen Gebiet wie der
Baukunst hat er als Denkform immer wieder eine bedeutende Rolle gespielt. Vor
allem bei theoretischen Reflexionen über das Gebäude und seine Teile bedienten
sich Architekten, Architekturtheoretiker und architektonisch interessierte Laien der
Metapher des menschlichen Körpers, der für lange Zeit sogar als ein unmittelbares
symbolisches Abbild der Architektur und ihrer Teile galt. Im Sinne dieser anthropo-
morphistischen Architekturauffassung wurden sowohl der menschliche Körper als
auch das Gebäude mithilfe von Maßen, Zahlen, Proportionen und geometrischen
Figuren exakt definiert, vor allem aber metaphorisch umschrieben.
. Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, Bde., Zürich [zuerst /], II, S..
Das Sprichtwort geht auf Xenophanes (, fr.) zurück und lautet dort: “Wenn Kühe, Pfer-
de oder Löwen Hände hätten und damit malen und Werke wie die Menschen schaffen könn-
ten, dann würden die Pferde pferde-, die Kühe kuhähnliche Götterbilder malen und solche
Gestalten schaffen, wie sie selber haben.” Zitiert nach Wilhelm Capelle (Hg. u. Übers.),
Die Vorsokratiker, Stuttgart , S. .
. Die umfangreiche Literatur zum architektonischen Anthropomorphismus ist größtenteils
unkritisch. Symptomatisch hierfür sind auch neuere Publikationen, so die meisten Beiträge
zu diesem Thema im Band () von Daidalos oder Oswald Mathias Ungers, “Ordo,
pondo et misura”: criteri architettonici del Rinascimento, in: Henry Millon/Vittorio Mag-
nago Lampugnani (Hg.), Rinascimento da Brvnelleschi a Michelangelo. La Rappresentazione
dell’Architettvra, Venedig , S.–. – Weitere Literatur findet sich vor allem bei Maria
Brzóska, Anthropomorphe Auffassung des Gebäudes und seiner Teile, Jena ; Suzanne Preston
Blier, Houses Are Human: Architectural Self-images of Africa’s Tamberma, in: Journal of the
Society of Architectural Historians (), S.–; Paul von Naredi-Rainer, Architektur
und Harmonie. Zahl, Maß und Proportion in der abendländischen Baukunst, Köln ;
Frank Zöllner, Vitruvs Proportionsfigur. Quellenkritische Studien zur Kunstliteratur des .
und .Jahrhunderts, Worms ; John Onians, Bearers of Meaning. The Classical Orders
in Antiquity, the Middle Ages and the Renaissance, Princeton , S.– und passim;
Bruno Reudenbach, Die Gemeinschaft als Körper und Gebäude. Francesco di Giorgios
FRANK ZÖLLNER
“Die Formgebung der Tempel beruht auf Symmetrie, an deren Gesetze sich die
Architekten peinlichst genau halten müssen. Diese aber wird von der Proportion
erzeugt, die die Griechen Analogia nennen. Proportion liegt vor, wenn den Glie-
dern am ganzen Bau und dem Gesamtbau ein berechneter Teil als gemeinsames
Grundmaß zu Grunde gelegt ist. Aus ihr ergibt sich das System der Symmetrien.
Denn kein Tempel kann ohne Symmetrie und Proportion eine vernünftige
Stadttheorie und die Visualisierung von Sozialmetaphern im Mittelalter, in: Klaus Schrei-
ner/Norbert Schnitzler (Hg.), Gepeinigt, begehrt und vergessen. Symbolik und Sozialbezug des
Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München , S.–; R.Weber/
Sh.Larner, The Concept of Proportion in Architecture: An Introductory Bibliographic
Essay, in: Art Documentation / (), S. –; Ivan Muchka, Anthropomorphismus
in der Architektur um , in: Lubomír Konecny u.a. (Hg.), Rudolf II, Prague and the
World, Prag , S. –.
. Zu Vitruv und dessen Überlieferung siehe Lucia A.Ciapponi, Vitruvius, Catalogus trans-
lationum et commentariorum, ed. F.E.Cranz, III, Washington , S.–; Georg Ger-
mann, Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, Darmstadt ; L.Callebat,
P.Bouet et al., Vitruve, De architectura. Concordance, Hildesheim etc., ; Heiner Knell,
Vitruvs Architekturtheorie, Darmstadt ; Pier Nicola Pagliara, Vitruvio da testo a canone,
in: Salvatore Settis (Hg.): Memoria dell’antico nell’arte italiana. Bde., Turin –, III,
S. –.
. Vitruv, De architectura, II., proem.
. Ebd., ... Vgl. hierzu Onians, Bearers of Meaning.
ANTHROPOMORPHISMUS IN DER ARCHITEKTUR
“Ferner ist natürlicherweise der Mittelpunkt des Körpers der Nabel. Liegt näm-
lich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt
man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann
werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehenspitzen
berührt. Ebenso wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur
des Quadrats an ihm finden. Wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum
Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die ausgestreckten Hände an,
so wird sich die gleiche Breite und Höhe ergeben, wie bei Flächen, die nach dem
Winkelmaß quadratisch angelegt sind.”
Besonders die Angaben hinsichtlich der Figuren von Kreis und Quadrat, des
“homo ad circulum” und “homo ad quadratum”, haben dem sogenannten Vitruv-
mann zu unglaublicher Berühmtheit verholfen. Seit dem erschienenen Buch
von Rudolf Wittkower, Architectural Principles in the Age of Humanism, gilt diese
Figur als ein Symbol der Architektur im Allgemeinen und der Baukunst der Re-
naissance im Besonderen. Bei genauerem Hinsehen allerdings stellt sich heraus,
Vitruvs Angaben zu den Maßen des menschlichen Körpers beruhen auf der an-
tiken Baupraxis und auf der griechischen Metrologie – der Lehre von den Maßen
also. Die zentralen Begriffe Vitruvs sind “symmetria”, “proportio” und “euryth-
. Zöllner, Vitruvs Proportionsfigur. Zu dieser These siehe auch die Rezensionen von John
Onians, in: Newsletter of the Society of Architectural Historians of Great Britain, Winter ;
Günter Binding, in: Archiv für Begriffsgeschichte (), S.–; Carolyn Kolb, in:
Journal of the Society of Architectural Historians (), S.–, und meine Erwiderung,
ebd., (), S..
. Preston Blier, Houses Are Human (wie Anm. ); Jan Pieper, Houses of Narzissus. Archi-
tecture According to the Image of Man, in: Daidalos (), S.–.
. Vitruv, De architectura, ..; ..–; ..; ..; ... – Zur antiken Metrologie vgl. Fried-
rich Hultsch, Griechische und römische Metrologie, .Auflage, Berlin , bes. S.–;
J.A.Cane, The Ancient Building Science, Ann Arbor ; Eivind Lorenzen, Technological
Studies in Ancient Metrology, Kopenhagen ; Th.Thieme, Metrology and Planning in
the Basilica of Johannes Stoudios, in: Le Dessin d’architecture dans les sociétés antiques. Actes
FRANK ZÖLLNER
mia”; ihre Bedeutung unterscheidet sich zum Teil erheblich von der heutigen. So
gebraucht er den Begriff “symmetria” nicht im heutigen Sinne als Bezeichnung für
Achsialsymmetrie (s.u.), sondern als “terminus technicus”, der die Bedeutung der
anthropomorphen, vom Menschen abgeleiteten Maßeinheiten für die Architektur
beschreibt. “Symmetria” sei – so Vitruv – für die Formgebung (compositio) der
Gebäude unerlässlich und müsse daher von den Architekten sehr genau eingehal-
ten werden. Sie ergebe sich aus einem festgelegten Maß, das allen anderen Maßen
zugrundeliege und sich oft als Modul in einem Teil des Gebäudes wiederfinde.
Im Tempelbau etwa dient als Modul meistens der Durchmesser der Säule. Diesem
System folgend gibt Vitruv die Symmetrien des Eustylos – hier in der Illustration
Claude Perraults (Abb. ) – folgendermaßen an: Bei der kleinsten Variante dieses
Typs messe die Tempelfront / Moduln, der Zwischenraum zwischen den bei-
den zentralen Säulen betrage Moduln und der zwischen den außenstehenden
Säulen / Moduln. Ähnlich seien die Symmetrien auch in anderen Tempel-
typen zu berechnen, ja sogar beim Schiffsbau oder bei der Konstruktion von
Kriegsgeräten. Beim Bau von Ruderschiffen etwa dient als Modul für die Berech-
nung der “Symmetrie” der Abstand zwischen zwei Ruderzapfen, bei der Konstruk-
tion von Kriegsmaschinen das Kaliber des Geschosses oder des Bohrlochs, das die
zum Spannen des Geschützes notwendigen Sehnen aufnimmt.
Mit dem Begriff “symmetria” bezeichnete Vitruv also ein zugrundeliegendes
Maß und ein hieraus folgendes Maßsystem. Diese Bedeutung ergibt sich auch aus
dem eigentlichen Wortsinn; “sym-metria” leitet sich ab aus “sym-metron”, mit-
Maß, lateinisch “con-mensura”, oder “commensuratio”, mit-Maß. Als symme-
trisch gelten also alle mit Maß produzierten Gegenstände; als Metapher für diese
“symmetria” fungiert Vitruvs Beschreibung des menschlichen Körpers. Der Körper
ist aber gleichzeitig mehr als nur eine Metapher für die Harmonie der Teile eines
Organismus, sondern gleichzeitig auch Grundlage der Maße selbst. Die Gesamt-
körpergröße und die einzelnen Glieder wie Finger, Hand, Fuß und Unterarm lie-
fern nämlich die Bezeichnungen für die einzelnen Dimensionen des anthropo-
morphen Maßsystems. Und tatsächlich stellen die entsprechenden, bei Vitruv aus-
führlich beschriebenen Maße Annäherungswerte an die realen Abmessungen der
genannten Körperteile dar. Von diesen anthropomorphen Maßen nennt Vitruv
im ersten und im dritten Buch “digitus”, “palmus”, “pes” und “cubitus”, zu deutsch
also Fingerbreite, Palm (Handbreit), Fuß und Elle: sie seien die wichtigsten der in
du colloque de Strassbourg – janvier , Straßburg , S. –; Eric Fernie, His-
torical Metrology and Architectural History, in: Art History (), S.–; Zöllner,
Vitruvs Proportionsfigur, S. –; Gros (ed.), Vitruve. L’architecture, III, S. –.
. Vitruv, De architectura, .. und ...
. Ebd., ..–.
. Ebd., .. und .–; Philon Byzantinus, Belopeika, .–..
ANTHROPOMORPHISMUS IN DER ARCHITEKTUR
der Meter, in keiner Beziehung mehr zum menschlichen Körper. Vielmehr wurde
der Meter als der vierzigmillionste Teil eines Erdmeridians festgesetzt. Gleichzeitig
änderte man auch die Unterteilung der einmal festgelegten Maßeinheit, des Me-
ters. Im metrischen System erfolgen nämlich alle Unterteilungen und Verviel-
fachungen auf der Grundlage des Dezimalsystems, d.h. basierend auf der Unter-
teilung der Grundeinheit in Teile oder in ein Vielfaches von Teilen. Dement-
sprechend rührt auch der Name des Dezimalsystems vom lateinischen Wort zehn,
“decem”, her.
Früher, vor der Einführung des Meters und des Dezimalsystems, bediente man
sich anderer Berechnungssysteme, namentlich des Sexuagesimalsystems und des
Duodezimalsystems; deren Unterteilungen hingen nicht von der Zahl ab, son-
dern von der Sechs und der Zwölf. Die Berechnung erfolgte in erster Linie unter
Verwendung von Zahlen, die eine glatte Teilung der Zwölf gewährleisteten, also
vor allem die Zahlen , , und oder deren Vielfache (siehe Appendix ). Dem-
entsprechend unterteilte man die Grundmaße vor allem mithilfe der genannten
Zahlen: die Elle (cubitus) in “palmi”, den Fuß in “palmi” oder Zoll (digiti),
den “palmus” in Zoll. Die Gesamtkörperhöhe eines Menschen in diesem auch
von Vitruv verwendeten System hat demnach “digiti”, oder “palmi” oder
Fuß oder Ellen. Es handelt sich also durchweg um gerade, der Kalkulation des
duodezimalen Systems angehörige Zahlen. Diesen Zahlen wiederum entsprach
eine metrologische Nomenklatur, die in den meisten Fällen den anatomischen Be-
zeichnungen des Körpers entnommen war.
In dem genannten Maßsystem konnte die Angabe der Einzelmaße auf verschie-
dene Weise erfolgen. Einerseits wurde ein Maß in Vielfachen einer kleineren Ein-
heit, etwa der Fingerbreite, ausgedrückt: Beispielsweise zählt der Fuß Finger
oder “digiti”, er misst also das -fache der kleineren Einheit, des “digitus”. Diesem
System der antiken Maßkunde folgend spricht Vitruv von einer Elle (cubitus), die
aus vier Handbreiten (palmi) oder Fingerbreiten (digiti) besteht; die Gesamt-
länge des Körpers ist gleich Fuß oder gleich großen Handspannen oder
Handbreiten oder Zoll. Andererseits definiert Vitruv die einzelnen Maßeinhei-
ten nicht nur als Vielfache des “digitus”, sondern auch als Bruchteile der größten
angegebenen Einheit, des Klafters. Dieses Maß war im Lateinischen als “passus” be-
kannt und entspricht jener Entfernung, die bei ausgebreiteten Armen von der Fin-
gerspitze der einen bis zur Fingerspitze der anderen Hand gemessen wird. Vitruv
bezog sich hierbei allerdings nicht auf den kleineren römischen, sondern auf den
griechischen Klafter, “orguia”. Außerdem nennt Vitruv diese Maßeinheit nicht
wörtlich, doch sie resultiert aus seiner Beschreibung des “homo ad quadratum”.
Dessen Gestalt ergibt sich aus dem Umstand, dass die Entfernung zwischen den
Fingerspitzen der waagerecht ausgebreiteten Arme eines erwachsenen Mannes ex-
akt seiner Körperhöhe entspricht. Hieraus resultiert nicht allein ein Quadrat, son-
dern auch die mit Klafter bezeichnete Maßeinheit. Auf diese Maßeinheit bezieht
ANTHROPOMORPHISMUS IN DER ARCHITEKTUR
sich Vitruv, wenn er die weiteren Proportionen des Menschen definiert: Brust und
Unterarm messen ein Viertel der Körperhöhe und damit des Klafters, der Fuß ein
Sechstel, der Kopf vom Kinn zum Scheitel ein Achtel, das Gesicht ein Zehntel.
Aus den Angaben Vitruvs sowie aus griechischen und römischen Quellen zur
Metrologie ergibt sich schließlich ein vollständiger Kanon von Maßen, wie sie
unten auf einer Übersichtstabelle (Appendix ) zusammengestellt sind. Schließlich
definiert Vitruv in seiner Darlegung der Proportionen des menschlichen Körpers
zunächst alle Maße als Bruchteile des Klaftermaßes, also der griechischen “or-
guia” von Fuß Länge. Diese in Bruchteilen einer größeren Maßeinheit vorge-
nommene Definition hängt mit dem Umstand zusammen, dass in der antiken
Baupraxis durch die Bruchteile eines Maßstabes oder eines Gebäudeteils die Pro-
portionierungen der Gebäude berechnet werden konnten. Vitruvs Angaben der
Maße in Bruchteilen oder Brüchen eines größeren Bezugsmaßes verweisen also
auf eine Methode zur Berechnung der Proportionen der Gebäude oder der Ge-
bäudeteile, sie hatten einen konkreten praktischen Hintergrund.
Wenn man nun die von Vitruv genannten Maße auf ein Schema überträgt,
dann resultiert daraus ein nach den Regeln des Duodezimalsystems aufgeteilter
Maßstab (griechisch “kanon”, lateinisch “regula”), wie er aus antiken Quellen be-
kannt ist und beim Bau von Gebäuden und Kriegsmaschinen Verwendung fand
(Appendix ). Aus antiken Quellen und aufgrund neuerer Ausgrabungen wissen
wir, dass diese Form eines Maßstabes zur Übertragung der Maßverhältnisse von
Vorzeichnungen und Modellen auf die einzelnen Gebäudeteile benutzt wurde.
Auf einem Maßstab oder Richtscheit war jedes Maß als Bruchteil der Gesamtlänge
. Vgl. A.Marquand, Greek Architecture, New York , S.–; J.A.Bundgaard, Mne-
sicles. A Greek Architect at Work, Kopenhagen , S.; J.J.Coulton, Towards Under-
standing Greek Temple Design: General Considerations, in: Annual of the British School at
Athens (), S.–. – Zum Gebrauch von Brüchen, etwa beim Entwurf des ionischen
Frieses siehe Vitruv, De architectura, ..–; allgemein siehe auch Philon von Byzanz, Belo-
poeika, .–. (vgl. auch E.W.Marsden, Greek and Roman Artillery. Technical Treatises,
Oxford , S.–); Heron Alexandrinus, Stereometrica, .–. – Nicht Brüche, sondern
Standardmaße verwendet Vitruv selbst vor allem für Baumaterialien, Standarddimensionen
und für absolute Gebäudegrößen oder für Maximaldimensionen (Vitruv, De architectura,
.. und ..; ..; .–, .. und ..; ..., .. und ..–); allgemein zu
Standardmaßen beim Entwurf vgl. Wolf Koenigs, Zum Entwurf Dorischer Hallen, in:
Istanbuler Mitteilungen (), S.–.
. Zöllner, Vitruvs Proportionsfigur, S. –.
. Phylon Byzantinus, Belopoeika, .–.; Dio Chrysostomos, Orationes, .; Pollux,
Onomasticon, .; Galen, De optima doctrina , ed. Kühn, Bd. , S. .
. Vgl. A. Petronotis, Das Problem der Bauzeichnung bei den Griechen, Athen , S. , und
Lothar Haselberger, Bericht über die Arbeit am Jüngeren Apollontempel von Didyma, in:
Istanbuler Mitteilungen (), S.–, sowie weitere Literaturangaben bei Zöllner,
Vitruvs Proportionsfigur, S. .
FRANK ZÖLLNER
. Ebd., S.. – Zur größeren und variablen “pertica”, deren Variabilität mit dem unter-
schiedlichen ökonomischen Wert der mit ihr zu vermessenden Ländereien zusammenhing,
siehe Isidor von Sevilla, Etymologiae, ., und Peter Kidson, A Metrological Investigation,
in: Journal of the Warburg and Cortauld Institutes (), S.–, bes. S., und .
ANTHROPOMORPHISMUS IN DER ARCHITEKTUR
die ein erwachsener Mann mit über dem Kopf erhobenen Armen erreicht, wurde
z.B. in der byzantinischen Metrologie in Form eines Messseils verwendet, und so-
gar noch im .Jahrhundert (etwa bei Vincenzo Scamozzi) nennen mitteleuropäi-
sche Quellen die gleiche Länge als Messlatte der Architekten. Auch in der “Ma-
nasara”, einer im . bis . nachchristlichen Jahrhundert niedergeschriebenen und
auf wesentlich ältere Überlieferungen zurückgehenden indischen Quelle zur Bau-
technik, taucht dieses Maß auf. In dieser Sammlung von Bauvorschriften, deren
Maßangaben mit der griechischen Metrologie eng verwandt sind, wurde die fünf
Ellen oder / Fuß messende Dimension dazu verwendet, die Tiefe der Baugrube
zu bestimmen. Die mit dem erhobenen Arm bestimmte Dimension war also ein
Standardmaß, das sich vor allem in der Baupraxis und den dazugehörigen Quellen
verschiedener älterer Epochen nachweisen lässt.
Der “homo ad circulum” veranschaulicht somit nicht nur Bezüge auf die geo-
metrische Figur des Kreises, sondern er verweist ebenso auf antike Messinstrumen-
te wie die / Fuß lange Messleine und auf die ebenso lange Messrute. Daneben
. Architecture of Manasara, translated from original Sanscrit by Prasana Kumar Acharya,
Bde., London–New York o.D. [–], IV, S. .
ANTHROPOMORPHISMUS IN DER ARCHITEKTUR
enthält die Figur im Kreis jedoch noch einen weiteren Verweis auf ein Instrument,
das sowohl beim Messen als auch beim Architekturentwurf von Bedeutung ist.
Tatsächlich spricht Vitruv in dem oben zitierten Text nicht vom Kreis selbst,
sondern von einer “schema rotundationis”, die durch den Gebrauch des Zirkels
(d.h. durch den Zirkelschlag) entstehe. Hiermit ist das Instrument selbst genannt,
der Zirkel, der den Architekten und Bauhandwerkern nicht allein zur Konstruk-
tion des Kreises diente, sondern ebenso zur Übertragung der Maße, etwa von ei-
nem Modell auf einen Teil des Baus. Einen ähnlichen Verweis auf ein Instrument
des Architekten könnte man auch in der Beschreibung des “homo ad quadratum”
sehen, denn hier ist von Flächen die Rede, “die nach dem Winkelmaß quadratisch
sind” – “quae ad normam sunt quadratae.” Hiermit wäre also ein weiteres Instru-
ment des Architekten benannt, die “norma”, das Winkelmaß, das der Überprüfung
rechter Winkel dient. Mit seiner Proportionsfigur betont Vitruv also sowohl die
Bedeutung des anthropomorphen, im Duodezimalsystem berechneten exakten
Maßes als auch die Funktion der wichtigsten Instrumente des Architekten: Zir-
kel (circinus), Maßstab (regula) und Winkelmaß (norma).
Die herausragende Bedeutung des genauen Maßes unterstreicht Vitruv an an-
derer Stelle mit dem Hinweis darauf, dass die durch Maß und Proportion entstan-
dene Anmut des Gebäudes für den Ruhm des Architekten ausschlaggebend sei.
Eine Erklärung für diese außerordentlich starke Betonung von Maß und Propor-
tion, die Vitruv seinem Buch über den Tempelbau voranstellte, ergibt sich aus ei-
ner Bautechnik, auf die er sich letztlich bezieht. Der römische Architekt schöpfte
aus griechischen Quellen zum Sakralbau, und auch das dem Proportionskanon
zugrundeliegende Maßsystem war größtenteils griechischen Ursprungs (s.o.).
Ebenso erklärt sich der Zweck seiner Betonung des exakten Maßes aus den Anfor-
derungen an Genauigkeit, wie sie vor allem für die in Griechenland zu höchster
Blüte entwickelte Quaderbautechnik galt. Da bei diesem Bauverfahren die einzel-
nen Quader einander unmittelbar berühren und mit Dübeln und Klammern zu-
sammengehalten werden, können eventuelle Ungenauigkeiten nicht durch Varia-
tionen beim Auftragen des Mörtels ausgeglichen werden, wie dies in der Ziegel-
bautechnik möglich ist. Vitruvs Betonung der genau einzuhaltenden Symmetrien
in der Sakralarchitektur war also nicht nur eine Würdigung der Götter, denen die-
se Tempel gewidmet waren, sondern auch ein Hinweis auf die besonders in der
Sakralarchitektur verwendete Quaderbautechnik, die eine hohe Genauigkeit er-
forderte.
Der metaphorisch gemeinte Vergleich zwischen Körper und Baukörper war eine
Auffassung, die auch im Mittelalter völlig unabhängig von Vitruv formuliert wor-
den war und auch dort nicht als Planungsschema diente, sondern lediglich als
Grundlage für “a posteriori” vorgenommene Interpretationen bereits fertiggestell-
ter Gebäude. In dieser Tradition standen noch die meisten der handwerklich aus-
gebildeten Architektur- und Kunsttheoretiker des Quattrocento, so z.B. der Siene-
ser Architekt, Ingenieur und Maler Francesco di Giorgio Martini (–), der
den anthropomorphistischen Vergleich zwischen Gebäude und Körper vor allem
in der intellektuell noch weniger ausgereiften frühen Version seines Architektur-
traktates heranzog (Abb.). Als Francesco di Giorgio um den Aufriss und
Grundriss des Gebäudes direkt mit der Figur des Menschen in Beziehung setzte,
verband er hierbei die mittelalterliche Formulierung des Anthropomorphismus mit
der Proportionsfigur Vitruvs. Unter dem Gesichtspunkt einer anthropomorphis-
tischen Architekturvorstellung bot Vitruvs Proportionsfigur dem Sieneser Inge-
nieur und Baumeister zwar nichts wesentlich Neues, doch für Francesco di Gior-
gio Martini ergab sich hierbei die Gelegenheit, den Anthropomorphismus des
Mittelalters mit einem antiken Etikett zu versehen. Dieser Versuch, die Propor-
tionslehren der mittelalterlichen Künstlerwerkstätten in die als vorbildlich ange-
sehene Tradition des klassischen Altertums zu stellen, findet sich zum Beispiel
auch in anderen kunst- und architekturtheoretischen Abhandlungen des Quattro-
cento, etwa in den “Commentarii” des Florentiner Bildhauers Lorenzo Ghiberti
. Vgl. die mittelalterlichen Quellen bei Victor Mortet, Recueil de textes relatifs à l’histoire de
l’architecture et à la condition des architectes en France en Moyen Age, Bde., Paris –,
I, S.–, II, S.–; Hans Liebeschütz, Das Weltbild der Heiligen Hildegard von Bin-
gen (Studien der Bibliothek Warburg ), Leipzig–Berlin S.–; Günter Bandmann,
Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin , S.; Bruno Reudenbach, “In
mensuram humani corporis”. Zur Herkunft der Auslegung und Illustration von Vitruv III
im . und .Jahrhundert, in: Christel Meuer/Uwe Ruberg (Hg.), Text und Bild. Aspekte
des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, Wiesbaden ,
S.–, S. –.
. Vgl. Mortet, Recueil, I, S. –, Anm. . – Die Argumentation dieser und der folgenden
Ausführungen folgt größtenteils Zöllner, Vitruvs Proportionsfigur, S. –.
. Francesco di Giorgio Martini, Trattati di architettura ingegneria e arte militare, ed. Corrado
Maltese, Bde., Mailand , I, S. . – Vgl. auch Richard Johnson Betts, The Architec-
tural Theories of Francesco di Giorgio Martini (Phil.Diss., Princeton ), Ann Arbor ,
S.– und S.; Lawrence Lowic, The Meaning and Significance of the Human Analogy
in Francesco di Giorgio’s Trattato, in: Journal of the Society of Architectural Historians
(), S.–; Zöllner, Vitruvs Proportionsfigur, S.–; Reudenbach, Gemeinschaft
als Körper und Gebäude, bes. S.– (wie Anm. ); Francesco Paolo Fiore/Manfredo
Tafuri, Francesco di Giorgio architetto, Mailand , Nr.XX., S. –.
ANTHROPOMORPHISMUS IN DER ARCHITEKTUR
. Antonio Averlino detto il Filarete, Trattato di architettura, ed. Anna Maria Finoli/Liliana
Grassi, Bde., Mailand , I, S. , und (fols. v– r und r).
. Lorenzo Ghiberti, Denkwürdigkeiten (I Commentarii), ed. Julius von Schlosser, Bde., Ber-
lin , I, S. –, bes. S.; Klaus Bergdolt, Der dritte Kommentar Lorenzo Ghibertis,
Berlin , S. –, –, und S.XXXI–XXXII, LXI, LXVII, LXXVI–LXXVII,
XCI–XCIV.
FRANK ZÖLLNER
Im Sinne eines niedrigeren Niveaus der Theoretisierung ist auch die umfangrei-
che Erläuterung der Proportionsfigur Vitruvs durch den publizierten Vitruv-
kommentar Cesare Cesarianos zu verstehen, der Vitruvs Anthropomorphismus
intuitiv verstanden zu haben scheint. Cesariano entstammte ungefestigten sozialen
Verhältnissen und litt unter den Nachstellungen seiner Stiefmutter, hatte sich aber
im Laufe der Jahre in Mailand und in anderen oberitalienischen Orten als Feldver-
messer und Architekt ein moderates Ansehen erworben. Ebenso wie sein Vorbild
Vitruv versuchte er, mithilfe literarisch-theoretischer Arbeiten sein künstlerisches
Selbstverständnis zu stärken und seinen sozialen Status zu erhöhen. Diesen Versuch
der sozialen Nobilitierung illustriert Cesariano im sogenannten autobiographi-
schen Blatt seines Vitruvkommentars, einem großformatigen Holzschnitt mit der
allegorischen Darstellung seines eigenen Lebensweges (Abb. ). Der Autor, darge-
stellt in der Mitte der Illustration, lässt sich von der Kühnheit (audacia) zu den
Sphären höheren Glückes und gehobenen sozialen Ranges führen. In der Hand
hält er die für den Architekten notwendigen Utensilien, nämlich Zirkel und Richt-
scheit, deren Bedeutung für die Vermessung von Bauplatz, Architekturmodell und
Gebäude er an anderer Stelle erläutert. Unter dem Arm trägt er ein Buch, womit
sein Vitruvkommentar selbst gemeint ist. Im dazugehörigen Text schreibt Cesaria-
no: Ausgerüstet mit den beiden Messinstrumenten Zirkel und Richtscheit sowie
mit dem Vitruvkommentar, habe er sich der Kühnheit angeschlossenen, um der
Armut und den bösen Umtrieben seiner Stiefmutter zu entfliehen. Ausgerechnet
mit den Instrumenten, die das richtige Maß in der Architektur garantierten, ver-
suchte Cesariano also seinen sozialen Aufstieg voranzutreiben.
Anlässlich seiner Auseinandersetzung mit Vitruvs Proportionsfigur erläutert Ce-
sariano die Bedeutung der exakten anthropomorphen Maße für den Architektur-
entwurf und für das Aufmaß des Gebäudes auf dem Bauplatz sowie die Relevanz
der hierfür notwendigen Instrumente: Der Mann im Quadrat verdeutliche die
“symmetriata quadratura”, d.h., er veranschaulicht die Möglichkeit, mithilfe der
Geometrie und der anthropomorphen Maße die Größe aller Flächen zu bestim-
men (Abb. auf Seite ). Als Messinstrumente nennt Cesariano unterschiedlich
dimensionierte Maßstäbe, so den “bacculo ligneo” von einer Elle Länge. Daneben
zählt er die längeren Messinstrumente auf, so den sechs Fuß messenden “trabuc-
co”, den bei Vitruv im “homo ad quadratum” veranschaulichten Klafter (griechisch
“orguia”) sowie die hier nicht mehr /, sondern Fuß messende “pertica” als
. Cesare Cesariano, Di Lucio Vitruvio Pollione de Architectura Libri Dece traducti de latino
in Vulgare […], Como (Reprint München ), fols. r– v.
. Cesariano, Vitruvio, fol. .
. Ebd., fols. v– r. – Siehe auch Carol Herselle Krinsky, Cesare Cesariano and the Como
Vitruvius Edition of , Ann Arbor , S.–, und Paolo Verzone, Cesare Cesariano,
in: Arte Lombarda (), S.–.
ANTHROPOMORPHISMUS IN DER ARCHITEKTUR
Cesarianos Text offenbart ein unmittelbar mit den Ansichten Vitruvs kompa-
tibles Verständnis der anthropomorphen Maße und der Vermessungspraxis. Dieses
genaue Verständnis erklärt sich vor allem aus dem Umstand, dass Cesariano ein
handwerklich geschulter Architekt und zugleich ein ausgebildeter Landvermesser
war. Er verfügte also über detaillierte Kenntnisse in der Vermessungspraxis, die
ANTHROPOMORPHISMUS IN DER ARCHITEKTUR
. Leon Battista Alberti, De re aedificatoria, Florenz , benutzt in der Ausgabe von Max
Theuer, Leipzig , .– (Musikharmonie) und . (Anthropomorphismus). Vgl. auch
Peter Hugh Schofield, The Theory of Proportion in Architecture, Cambridge , S.; Joseph
Rykwert/Anne Engel (Hg.): Leon Battista Alberti, Mailand , S.– (Paul von Na-
redi-Rainer) und S.– (Robert Tavernor).
. Andrea Palladio, I Qvattro libri dell’architettvra, Venedig (Reprint Mailand ), I,
S. (., Anthropomorphismus) und II (musikalisch bestimmte Proportionsreihen). – Zum
Problem der Proportionssysteme bei Palladio siehe Wittkower, Architectural Principles,
S.–; Deborah Howard/Malcom Longair, Harmonic Proportion and Palladio’s Quattro
Libri, in: Journal of the Society of Architectural Historians (), S.–; Branko Mitro-
vic, Palladio’s Theory of Proportions and the Second Book of the Quattro Libri dell’Archi-
tettura, in: Journal of the Society of Architectural Historians (), S.–.
FRANK ZÖLLNER
des Menschen traten nun zunehmend sehr ernst gemeinte Versuche, ganze Ge-
bäude und deren Teile aufgrund von Maßverhältnissen zu gestalteten, die exakt
den musikalischen Harmonien wie Quarte, Quinte und Oktave entsprachen
oder entsprechen sollten (das bekannteste Beispiel hierfür ist die Kirche San
Francesco della Vigna in Venedig). Angesichts dieser und ähnlicher Versuche,
die Theoriebildung auf ein abstrakteres (hier: musikalisches) Niveau zu heben,
hatte der direkte Vergleich des Gebäudes mit dem menschlichen Körper nicht
mehr die Bedeutung wie noch bei den handwerklich ausgebildeten Theoretikern
des Quattrocento oder bei dem ebenfalls aus dem Handwerk stammenden Ce-
sare Cesariano.
Auch der Verfasser des bedeutendsten Vitruvkommentars des . Jahrhunderts,
Daniele Barbaro, maß der anthropomorphistischen Architekturauffassung eine
geringe Bedeutung bei; in der zweiten Ausgabe seiner zuerst auf lateinisch
und dann auf italienisch erschienenen Vitruvedition widmete er der Propor-
tionsfigur nicht einmal mehr eine Illustration. Zudem ersetzte Barbaro die von
Vitruv genannten anthropomorphen Maße vollständig durch ein Proportions-
system, das auf den musikalischen Harmonien beruhte und keine Verbindung
mehr mit den antiken Maßsystemen aufwies. Das in ähnlicher Form schon von
Leon Battista Alberti im .Jahrhundert propagierte und auf musikalischen Har-
monien rekurrierende Proportionssystem Barbaros fand schließlich seine voll-
ständigste theoretische Rezeption und praktische Anwendung durch den vicen-
tinischen Baumeister Andrea Palladio, in dessen Architekturtraktat der Anthro-
pomorphismus keine Bedeutung mehr hatte. Dieser Bedeutungsverlust hing vor
allem damit zusammen, dass intellektuell gewandte Autoren wie Palladio und
seine Vordenker Alberti und Barbaro an die Stelle einer anthropomorphistisch
gedachten Bauideologie die rational kalkulierte Proportionsauffassung der Mu-
siktheorie setzten, die sich baupraktisch auch umsetzen ließ und glaubwürdig
mit den ebenfalls musikalisch gedachten Harmonien des Kosmos in Verbindung
gebracht werden konnte.
. Vgl. Wittkower, Architectural Principles, S.–; Antonio Foscari/Manfredo Tafuri, L’ar-
monia e i conflitti. La chiesa di San Francesco della Vigna nella Venezia dell’, Turin ,
S.–.
. Daniele Barbaro, I dieci libri dell’architettvra di M.Vitruvio. Tradotti & commentati […],
Venedig (Reprint Mailand , ed. Manfredo Tafuri und Manuela Morresi), S.–.
Vgl. Diego Horacio Feinstein, Der Harmoniebegriff in der Kunstliteratur und Musiktheorie
der italienischen Renaissance, Phil.Diss., Freiburg/Br. , S.–; Zöllner, Vitruvs Pro-
portionsfigur, S. –. – Zu Barbaro siehe auch Manfredo Tafuri, Venezia e il Rinasci-
mento, Turin , S. –.
. Howard/Longair, Harmonic Proportions.
. Wittkower, Architectural Principles, S. –.
ANTHROPOMORPHISMUS IN DER ARCHITEKTUR
Obwohl der Vergleich zwischen dem Bau einerseits und dem menschlichen Kör-
per andererseits durch die musikalischen Proportionssysteme Leon Battista Alber-
tis, Daniele Barbaros und Andrea Palladios den größten Teil seiner Relevanz ein-
gebüßt hatte, erfolgte eine explizit ausgesprochene Infragestellung der anthropo-
morphen Architekturauffassung erst in der französischen Architekturtheorie des
.Jahrhunderts. Vollzogen wurde diese Infragestellung am deutlichsten in der zu-
erst und erneut erschienenen französischen Vitruvübersetzung Claude
Perraults. Perrault nutzte den Kommentar seiner Vitruvedition vor allem dazu,
seine eigenen Ansichten zur Schönheit und zu den richtigen Proportionen des Bau-
werks zu propagieren. Diesen Anspruch auf die Darstellung eigener architektur-
theoretischer Anschauungen verdeutlicht bereits das großartige Frontispiz der
Ausgabe von (Abb. auf Seite ). Im unteren linken Teil dieser Darstellung
findet sich Perraults eigener Entwurf für ein Kapitell der von ihm selbst erfunde-
nen französischen Säulenordnung, mit der er die kanonischen “Ordnungen” der
Baukunst – tuskisch, dorisch, ionisch, korinthisch und komposit – um eine neue
Variante ergänzte. Im Hintergrund des Frontispizes erscheint die von ihm pro-
jektierte Fassade des Louvre, darüber, nur noch schemenhaft sichtbar, sein eben
im Bau befindliches Observatorium. Am linken Rand schließlich erhebt sich der
von Perrault entworfene, begonnene, aber nie vollendete Triumphbogen für
Ludwig XIV. auf der Place du Tróne. In den Fußnoten zum Text Vitruvs erläu-
tert Perrault seine eigenen Anschauungen zur Proportion, die im Gegensatz zu
traditionellen Auffassungen stehen. Eine für die Architektur gültige Proportions-
lehre, die wie ein Naturgesetz gilt und aus der Tradition übernommen ist, lehnt
Perrault kategorisch ab. In seinem Kommentar zur Entstehung der dorischen
Säule, deren Proportionen Vitruv aus der Länge des menschlichen Fußes ableitet
(s.o.), wendet er sich sogar explizit gegen die bis dahin vorherrschende Auffas-
sung, denn er schreibt: Die Proportionen in der Architektur seien nichts Natür-
liches, sie folgten nicht unumstößlichen Regeln, wie sie sich etwa aus den Dimen-
sionen der Sterne ergäben oder wie sie aus den Teilen des menschlichen Körpers
resultierten. Vielmehr würden die Architekten die Proportionen der Gebäude
aufgrund einer Übereinkunft, aufgrund eines Konsens’ festlegen (consentement),
der sowohl durch Tradition als auch durch die Gewohnheit bestimmt werde. Die
. Claude Perrault, Les dix livres d’architecture de Vitruve corrigez et tradvits nouvellement en
François […], Paris (Reprint Paris ). Vgl. Wolfgang Herrmann, The Theory of
Claude Perrault, London ; Antoine Picon, Claude Perrault – ou la curiosité
d’un classique, Paris , S.–; Henry Millon, The French Academy of Architecture.
Foundation and Program, in: June Hargrove (Hg.): French Academy, Classicism, and its
Antagonists, London–Toronto etc. , S. –.
FRANK ZÖLLNER
Schönheit leite sich also weniger aus Regeln wie denen der menschlichen Propor-
tion ab, sondern vielmehr aus einem weniger genau als die Proportion zu bestim-
menden Prinzip der Gewohnheit.
Perrault hatte durch seine Ausführungen die absolute Gültigkeit eines aus den
Maßen des menschlichen Körpers abgeleiteten Proportionskanons und dessen Be-
deutung für die Architektur grundsätzlich in Frage gestellt. Dementsprechend radi-
kal fällt auch sein Umgang mit Vitruvs Proportionsfigur aus. So weicht er schon
mit seiner Übersetzung von Vitruvs Erläuterung der Proportionen entscheidend
vom Originaltext ab, indem er den lateinischen Begriff “symmetria” durch das
französische “proportion” ersetzt und somit Vitruvs Unterscheidung der beiden
Fachausdrücke eliminiert. Die “symmetria” war nämlich im . Jahrhundert im
französischen Sprachgebrauch als Axialsymmetrie verstanden worden. Der Be-
griff bezeichnete – wie heute noch – die genaue spiegelbildliche Entsprechung
einander gegenüberliegender Architekturteile und stand daher nicht mehr für die
Bezeichnung eines metrologisch begründeten Proportionssystems zur Verfügung.
Den Proportionsfiguren Vitruvs selbst bringt Perrault ein eher archäologisches als
praktisches Interesse entgegen (Abb.). Er versucht, einige der antiken Maße
Vitruvs zu rekonstruieren und vergleicht deren tatsächliche Länge mit dem ge-
bräuchlichsten französischen Maß seiner Zeit, dem “pié de Roy”, der länger sei als
der römische und der griechische Fuß. Hierbei gelangt Perrault aber zu keiner
kompletten Rekonstruktion von Vitruvs Proportionssystem.
Perraults offener Bruch mit einer Doktrin der uneingeschränkt gültigen und
durch den Bezug auf den menschlichen Körper hergeleiteten Proportion in der
Architektur blieb natürlich nicht unwidersprochen, doch er wirkte noch in den
Theorien des . bis .Jahrhunderts fort. So widmete Berardo Galiani in sei-
nem erschienen Vitruvkommentar der Frage der menschlichen Proportionen
und der Proportionsfigur Vitruvs vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit, denn sei-
ne beiden Illustrationen können im Sinne einer messtechnischen Relevanz dieser
. Perrault, Les dix livres d’architecture de Vitruve, S. –; vgl. auch ebd., S. . – Zu Per-
rault und seiner Theorie siehe auch Schofield, Theory of Proportion in Architecture, S.–;
Walter Kambartel, Symmetrie und Schönheit. Über mögliche Voraussetzungen neueren Kunst-
bewußtseins in der Architekturtheorie Claude Perraults, München ; Alberto Pérez-Gómez,
Architecture and the Crisis of Modern Science, Cambridge/MA–London , S. –.
. Perrault, Les dix livres d’architecture de Vitruve, S. –.
. Walter-Hanno Kruft, Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart,
München , S. .
. Perrault, Les dix livres d’architecture de Vitruve, S. –.
. Pérez-Gómez, Architecture and the Crisis of Modern Science, S. –; Kruft, Geschichte der
Architekturtheorie, S. –.
. Schofield, Theory of Proportion in Architecture, S. –.
ANTHROPOMORPHISMUS IN DER ARCHITEKTUR
Figur kaum noch ernst genommen werden (Abb. ). Der Mann im Kreis wird
bei Galiani sogar zum Kind, wohl weil ihm Kinder noch eher für diese schwierige
Abb. : Pietro Cataneo, Proportionsfigur mit Kirchengrundriss, Architekturtraktat von
Ein vom Vergleich mit dem menschlichen Körper mehr und mehr abstrahieren-
der Gebrauch von Maß und Proportion war also im . und . Jahrhundert sehr
deutlich zu beobachten, und diese Abkehr vom Mensch als Maß aller Dinge ver-
. L’architettura di M. Vitruvio Pollione colla traduzione italiana e commento del Marchese Ber-
ardo Galiani, Neapel , S. und Tafel ; Pietro Cataneo, I quattro primi libri di archi-
tettura, Venedig , fol., und ders., L’architettura libri otto, Venedig (Reprint Bo-
logna ), S. –.
FRANK ZÖLLNER
stärkte sich noch durch die Einführung des Meters im . Jahrhundert. In allen
großen europäischen Staaten mit Ausnahme Großbritanniens trat an die Stelle der
anthropomorphen Maße und deren Kalkulation im Duodezimalsystem der im
Dezimalsystem berechnete Meter. Ein am menschlichen Körper orientiertes Pro-
portionssystem büßte somit endgültig seine reale Grundlage ein. Zwar wurde auch
weiter gelegentlich der menschliche Körper mit dem Gebäude und seinen Teilen
verglichen, doch der Anthropomorphismus in der Architektur hatte selbst als
Metapher eine immer geringere Bedeutung. So bestritt Jean-Nicolas-Louis Durand
(–) zu Beginn des .Jahrhunderts den Zusammenhang des menschlichen
Körpers mit der Architektur. Er lehnte zum Beispiel die Herleitung der Proportio-
nierung der Säulen aus den Maßen des menschlichen Körpers ab und schlug dafür
beliebige Proportionierungen vor. Andere Theoretiker formulierten einen Pro-
portionsbegriff, der eher von der Statik und der Geometrie abhängig war – so Eu-
gène Emmanuel Viollet-Le-Duc (–) und Auguste Choisy (–).
Ähnlich argumentierten englische Theoretiker seit dem . Jahrhundert. Zwar
behielten im anglo-amerikanischen Kulturkreis das anthropomorphe Maß und
dessen duodezimale Berechnung ihre Bedeutung bis ins .Jahrhundert, doch eine
empirische, rationalistisch bestimmte Grundhaltung sorgte hier für eine Abkehr
vom traditionellen Anthropomorphismus. Als Beispiel sei erneut Joseph Gwilts
Encyclopedia of Architecture von genannt, die in der Neuauflage von
durch Edward Cresys Ausführungen zu den “Principles of Proportion” ergänzt
wurde. Das Maß des Menschen findet hier nur noch in einem allgemeinen Kapi-
tel über das Zeichnen Berücksichtigung. In den umfangreichen Ausführungen
zur Schönheit der Gebäude lässt der Autor lediglich eine sehr entfernte metapho-
rische Beziehung zu den Proportionen des Menschen gelten: Im einzelnen resul-
tiere eine Proportionierung aus den Anforderungen von Tragen und Lasten, d.h.,
das Gewicht eines lastenden Elements wie das der Entabulatur müsse in einem
bestimmten Verhältnis zu einem tragenden Teil, etwa der Säule, stehen. Die
. Siehe z.B. Joseph Gwilt, The Encyclopedia of Architecture, New York (Reprint New
York ), S. und ; Kruft, Geschichte der Architekturtheorie, S. .
. Jean-Nicolas-Louis Durand, Précis de leçons d’architecture données à l’Ecole Royale Poly-
technique, Paris – (zuerst –, Reprint Nördlingen ), S. – und .
. Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc, Dictionaire raisonné de l’architecture française du XIe au
XVIe siècle, Bde., Paris – (Reprint Paris ), VII, S.; Auguste Choisy, His-
toire de l’architecture, Bde., Paris (Reprint Genf–Paris ), II, S., nach Kruft,
Geschichte der Architekturtheorie, S. und .
. Schofield, Theory of Proportion in Architecture, S.–; Heinz Bienefeld, Bedeutung und
Verlust des Schönen in der Kunst: Proportion und Material als Wesensmerkmale der
Architektur, in: Das Münster / () S.–.
. Gwilt, Encyclopedia of Architecture, S. .
. Ebd., S. und –.
ANTHROPOMORPHISMUS IN DER ARCHITEKTUR
. Le Corbusier, Der Modulor, .Aufl., Stuttgart (zuerst französisch ), S.–.
ANTHROPOMORPHISMUS IN DER ARCHITEKTUR
der Öffentlichkeit vor, im Februar des folgenden Jahres publizierte Matila Ghyka
eine Erklärung des Modulor in der Zeitschrift The Architectural Review. Ebenfalls
veröffentlichte Jerzy Soltan eine präzise Erläuterung des Modulor in der ita-
lienischen Zeitschrift Domus. Im Jahre schließlich erschien Le Corbusiers
Buch Le Modulor – Essai sur une mesure harmonique à l’échelle humaine applicable
universellement à l’architecture et à la mécanique. Den endgültigen Gesamttext hat-
te Le Corbusier allerdings schon zwischen August und November verfasst.
Die Entstehungsbedingungen des “Modulor” beschreibt Le Corbusier folgen-
dermaßen: Während des Krieges und der deutschen Besetzung Frankreichs habe es
keine Aufträge gegeben, und daher habe er sich mit Architekturtheorie beschäf-
tigen können. Der “Modulor” sei also letztlich aufgrund geistiger Bedrängnis und
materieller Not entstanden. Das in dieser Situation entwickelte Maßsystem sollte
folgende Voraussetzungen erfüllen: Es musste der durchschnittlichen Abmessung
des Menschen Rechnung tragen sowie auf einer mathematischen Grundlage und
auf einem Proportionsgesetz der Natur basieren. Zudem hoffte Le Corbusier,
durch sein neues Maßsystem den Gegensatz zwischen dem Meter und dem in der
anglo-amerikanischen Kultur verwendeten anthropomorphen Maßsystem von Fuß
und Zoll zu überwinden. Die Anforderungen mathematischer Exaktheit und die
Bedingung einer naturgegebenen Proportion versuchte er mit der Anwendung des
Goldenen Schnitts zu gewährleisten. Diesen übertrug er auf die Dimensionen des
menschlichen Körpers, womit das Maß des Menschen automatisch zum Bestand-
teil seines Proportionssystems wurde. Die Dimensionen oder Maße dieses Systems
wiederum sollten als Modul, als grundlegendes Maß einer normierten, standardi-
sierten Massenproduktion dienen.
Ausgangspunkt der Berechnungen und Experimente Le Corbusiers war zu Be-
ginn ein Mann mit der Körperhöhe von cm, dessen Nabel sich cm über
dem Boden befindet. Bei Verdoppelung des letzten Maßes ergeben sich cm,
was der Höhe eines Mannes entspricht, der seinen Arm über den Kopf erhebt.
In einem zweiten Versuch entwarf Le Corbusier einen cm größeren „Modulor“,
dessen Körperhöhe vom Scheitel bis zur Sohle nicht cm, sondern cm be-
trägt (Abb. ). Bei über dem Kopf erhobenem Arm ergibt sich die Strecke von
cm; die Entfernung zwischen Nabel und Fußsohle misst nun cm. Der
. Stanislaus von Moos, Le Corbusier. Elemente einer Synthese, Frauenfeld–Stuttgart , S.
bis ; Kruft, Geschichte der Architekturtheorie, S. und –; Le Corbusier, une ency-
clopédie, Paris (Centre Pompidou) , S. –. – Zu den ersten Varianten siehe auch
Le Corbusier, Sketchbooks, Bde., New York–Cambridge/MA , Bd. (–), pas-
sim, zur Rezeption Eva-Marie Neumann, Architectural Proportion in Britain -, in:
Architectural History (), S.–.
. Le Corbusier, Der Modulor, S. und .
. Ebd., S.–.
FRANK ZÖLLNER
Abb. : “Modulor” mit Konstruktion des Goldenen Schnitts (Rekonstruktion F.Z.)
aus der blauen Proportionsreihe genommenen Maße nicht mehr im Verhältnis des
Goldenen Schnitts zueinander. Das heißt, ein Maß der roten Reihe steht nur zu ei-
nem anderen Maß aus derselben roten Reihe im Verhältnis des Goldenen Schnitts,
nicht aber zu einem Maß aus der blauen Reihe. Sobald man also die Maße aus
beiden Reihen miteinander vermengt, befindet man sich nicht mehr innerhalb des
harmonischen Teilungsprinzips des Goldenen Schnitts. Diese inkonsequente
Handhabung des “Modulor” ist ein eklatanter Schwachpunkt des gesamten Pro-
portionssystems, denn dessen Wert sollte ja auf einer konsequenten Anwendung
der Harmonie des Goldenen Schnitts beruhen. Auch hier, wie schon im Falle der
Begründung Le Corbusiers für die Auswahl der durchschnittlichen Körpergröße
(s.o.), ist das Proportionssystem des Modulor nicht ganz ernst zu nehmen.
Der “Modulor” weist noch weitere Probleme auf. Der Goldene Schnitt ist ein
Proportionierungsverfahren, das aufgrund einer geometrischen Vorgehensweise
häufig zu irrationalen, d.h. also zu nicht ganzzahligen Verhältnissen führt. Auf-
grund dieser irrationalen Zahlenverhältnisse sind die nach dem Goldenen Schnitt
ermittelten Proportionen für die architektonische Praxis kaum geeignet. Daher
wurde der Goldene Schnitt in der Architektur auch sehr selten angewendet. Ledig-
lich in Form einer auf- oder abgerundeten Zahlenreihe, der sogenannten Fibo-
nacci-Reihe, scheint sie zumindest in einem Fall benutzt worden zu sein. Das
Aufrunden und Abrunden der Zahlen liegt letztlich auch Le Corbusiers “Modu-
Abb. : Le Corbusier, Stele unter der Unité d’Habitation in Marseille mit “Modulor”, S.
lor” zugrunde, etwa in seiner Dimension für die Körperhöhe, die er von , cm
auf cm aufrundete. Der “Modulor” war zudem keineswegs so innovativ, wie
es die brilliante Rhetorik Le Corbusiers vermuten ließe. Die zugrundliegende Idee
stammte zunächst aus Matila Ghykas bereits erschienener Schrift Esthétique
des proportions. Ghyka wiederum schöpfte aus älteren Quellen wie Luca Pacioli und
Adolf Zeising. Zeising und Ghyka waren davon überzeugt, dass der Goldene
Schnitt als Proportionsgesetz den Gebäuden ebenso wie allen Schöpfungen der
. Luca Pacioli, Divina proportione. Die Lehre vom Goldenen Schnitt, nach der Ausgabe Vene-
dig , ed. Konstantin Winterberg, Wien ; Adolf Zeising, Neue Lehre von den Propor-
tionen des menschlichen Körpers, Leipzig ; ders., Der Goldene Schnitt, Leipzig .
FRANK ZÖLLNER
Abb. : Le Corbusier, Grundriss der Eingangshalle der Unité d’Habitation mit “Modulor”
Natur zugrundeliege. Ghyka versuchte daher auch, die Schönheit des männlichen
Körpers mithilfe des Goldenen Schnitts zu ergründen; dieses Verfahren wieder-
um war bereits von Ernst Neufert in seiner Bauentwurfslehre zur Begründung
eines architektonisch brauchbaren Proportionssystems verwendet worden. Die
vom Goldenen Schnitt abhängigen und auf die Architektur angewandten Verfah-
ren basieren zunächst auf der irrigen, inzwischen nicht mehr akzeptierten Annah-
me, dass die Renaissance den Menschen nach eben jenem Goldenen Schnitt ge-
messen habe. Überdies sind Proportionierungen nach dem Goldenen Schnitt oft
nur aufgrund ungenauer Messungen und einer willkürlichen Festlegung der Mess-
punkte möglich, so bei den genannten Versuchen Ghykas. Daher wurde die Pro-
. Matila Ghyka, Esthétique des proportions dans la nature et dans les arts, Paris , Tafeln
– und –.
. Ernst Neufert, Bauentwurfslehre, .Aufl., Wiesbaden (zuerst ), S. . Neufert be-
zog sich nicht auf Ghyka, sondern auf ähnliche Theorien von Zeising und von Ernst
Mössel, Die Proportion in Antike und Mittelalter, München . In die Neuauflagen der
Bauentwurfslehre nahm Neufert dann auch Le Corbusiers “Modulor” auf.
. Kruft, Geschichte der Architekturtheorie, S. .
ANTHROPOMORPHISMUS IN DER ARCHITEKTUR
. Carlo dell’Antonio, Verhältnislehre, plastische Anatomie und Ausdruckslehre des menschli-
chen Körpers […], Ulm (zuerst ), S..
FRANK ZÖLLNER
Le Corbusiers Verwendung des Goldenen Schnitts war nicht sein einziger Rück-
griff auf eine alte Tradition. Die Bestimmung der Körpergröße leitet er wie vor ihm
schon Vitruv daraus ab, dass ein ausgewachsener Mann sechs Fuß groß sei. Und
auch der Mann mit dem erhobenen Arm war ein alter Bekannter, denn bereits
Vitruv dürfte diese Figur mit seinem “homo ad circulum” gemeint haben (s.o.).
(Abb. ) Als anthropomorphes Maß war es – wie wir gesehen haben – sowohl in
der antiken, hinduistischen und byzantinischen Metrologie als auch in der neu-
zeitlichen Baupraxis geläufig. Le Corbusier stand also sowohl mit seiner Propagie-
rung des Goldenen Schnitts als auch mit seiner Proportionsfigur in einer alten Tra-
dition, deren Gültigkeit allerdings mehrfach in Frage gestellt worden war.
Le Corbusiers Versuch, das menschliche Maß wieder in die Architektur einzu-
führen, war eine zutiefst polemisch bestimmte Angelegenheit. Er richtete sich mit
dem “Modulor” nämlich ausdrücklich gegen die Einführung des Meters und des
Dezimalsystems. So schreibt Le Corbusier, der Meter sei abstrakt, blutleer und ge-
fühllos, und sein Gebrauch hätte die Architektur verrenkt, er hätte die Baukunst
letztlich sogar erschlaffen lassen. Man kann sich allerdings fragen, ob Le Corbu-
siers Bemühungen um eine Rehabilitierung des anthropomorphen Maßes nicht ei-
nen Versuch darstellte, die moderne Architektur gegen ihre Kritiker zu verteidi-
gen. Denn tatsächlich war diese Architektur aufgrund ihres Verzichts auf das Or-
nament sowie angesichts ihrer Funktionalität und Maschinenhaftigkeit bereits in
den er und er Jahren als kalt, leer, langweilig, trivial und seelenlos bezeichnet
worden, so von dem in die USA emigrierten deutschen Philosophen Ernst
Bloch. In diesem Sinne hätte Le Corbusiers Rückgriff auf das Maß des Men-
schen also eine bessere, weil menschlichere und dem Organischen verpflichtete
Architektur garantieren sollen. Ob Le Corbusiers Forderung nach dem Maß des
Menschen allerdings als Garant für eine bessere Baukunst dienen kann, mag an-
gesichts der Folgen seiner Theorien bezweifelt werden. Eher noch könnten wir den
in Gestalt des “Modulor” wiederauferstandenen Anthropomorphismus als eine
Utopie verstehen, die dem Wunsch nach menschlicher Architektur Ausdruck ver-
leiht. Tatsächlich hat Ernst Bloch anlässlich seiner Kritik der modernen Architek-
tur denselben Wunsch thematisiert und dem architektonischen Anthropomorphis-
mus mit dem Begriff Ornament des menschlichen Lebensbaums ein philosophi-
sches Äquivalent zur Seite gestellt:
in Proportion und Ordnung. Architektur sieht […] ihre Aufgabe darin, die
anorganische Natur so zurechtzuarbeiten, dass sie als kunstgemäße Außenwelt
dem Geiste verwandt wird. […] Das Kristall ist der Rahmen, ja der Horizont
der Ruhe, aber das Ornament des menschlichen Lebensbaums ist der einzig
wirkliche Inhalt dieser umschließenden Ruhe und Klarheit.”
APPENDICES
Sabine Coelsch-Foisner
. Carrolls Illustrationen werden u. a. behandelt in zwei Aufsätzen von Nina Auerbach, “Fal-
ling Alice, Fallen Women, and Victorian Dream Children”, English Language Notes :
(), –, und “Alice and Wonderland: A Curious Child”, Victorian Studies (Sept.
), –.
. Erschienen in Critique / (), –; hier: .
SABINE COELSCH-FOISNER
Frankenstein ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Experiment. Victor Franken-
stein, der aus einer wohlhabenden Schweizer Familie stammt, ist fasziniert von den
Lehren des Albertus Magnus und Paracelsus (), geht zum Studium der Natur-
wissenschaften nach Deutschland und verschreibt sich in jahrelanger Laborarbeit
der Physiologie des menschlichen Körpers. Frankenstein ist ein Prometheus der
Moderne, besessen von der Idee, tote Materie zum Leben zu erwecken. Abgese-
hen von einzelnen Verweisen auf Blitzschlag und Elektrizität, erhält der Leser keine
präzisen Hinweise zu seiner Methode – anders als in Kenneth Branaghs Film-
version aus dem Jahr (Columbia Tristar), wo Frankensteins technisches Ver-
fahren für spektakuläre filmische Effekte sorgt. Vielmehr bezieht der Roman seine
Spannung aus der mystisch-menippäischen Atmosphäre, die Frankensteins Unter-
fangen jenseits des Möglichen ansiedelt und die Psychologie des Forschers ins
Wahnhafte rückt (“a resistless, and almost frantic, impulse urged me forward”,
). Er will das ‘Geheimnis des Lebens’ lüften und den Tod überwinden. Der
Traum von der Unsterblichkeit des Menschen, Heldentum und Geniekult werden
karnevalistisch ins Groteske, Schaurige verkehrt. Frankenstein selbst spricht von
einer ‘schmutzigen Schöpfung’ (). Pietätlos wühlt er auf Friedhöfen herum, stö-
. Alle Zitate sind der folgenden Ausgabe entnommen: Ware: Wordsworth Classics, .
WENN DER MENSCH NICHT DAS MASS ALLER DINGE IST
. “His limbs were in proportion, and I had selected his features as beautiful. Beautiful! – Great
God! His yellow skin scarcely covered the work of muscles and arteries beneath; his hair
was of a lustrous black, and flowing; his teeth of a pearly whiteness; but these luxuriances
only formed a more horrid contrast with his watery eyes, that seemed almost of the same
colour as the dun white sockets in which they were set, his shrivelled complexion and straight
black lips. [….] now that I had finished, the beauty of the dream vanished, and breathless
horror and disgust filled my heart.” ().
. Zur Idee des ‘noble savage’, siehe z.B. Milton Millhauser, “The Noble Savage in Mary Shel-
ley’s Frankenstein”, Notes and Queries, (.Juni ), –.
SABINE COELSCH-FOISNER
ist größer als der Mensch, schneller, stärker, ausdauernder und unempfindlicher
gegenüber extremen Witterungsverhältnissen (Kälte, Eis). Es ist intelligenter und
gebildeter, grausamer und liebesbedürftiger zugleich als der Mensch. Franken-
steins Monster weiß zunächst nicht um seine Andersartigkeit. Erst aus den Re-
aktionen der Menschen, die vor ihm fliehen, ihn verprügeln und verjagen, lernt
er um seine Missgestalt und leidet – ähnlich wie Polyphem. Erst sehr viel später
entdeckt Frankensteins Monster sein Spiegelbild in einem Teich und urteilt über
sich selbst so, wie die Menschen es tun (). Als er sich seiner unendlichen Ein-
samkeit bewusst wird (“I was wretched, helpless, and alone”, ), als sein erstaun-
lich humanistisches Streben nach einem erfüllten Dasein als Mensch scheitert,
wird er zum Massenmörder und rottet systematisch Frankensteins Familie aus.
Shelleys Kreatur ist nicht zum Mörder geschaffen, sondern wird zum Mörder ge-
macht, weil ihm durch den Menschen all das vor Augen geführt wird, was er nicht
ist und nie sein wird: Mann, Vater, Freund, in Gottes Hand: “I am malicious
because I am miserable” (). Die Kreatur wird zum “fiend” (), “monster”
(), “hideous enemy” (), “devil” (). Sie ist die fantastische Dimension –
die Überschreitung des Menschlichen, ohne Bezug zum Göttlichen:
“Accursed creator! Why did you form a monster so hideous that even you
turned from me in disgust? God, in pity, made man beautiful and alluring,
after his own image; but my form is a filthy type of yours, more horrid even
from the very resemblance. Satan has his companions, fellow-devils, to admire
and encourage him; but I am solitary and abhorred.” ()
In der Einsamkeit des Monsters wird das nihilistische Potenzial der Transgression –
als Gegenpol zur Transzendenz – deutlich. Laut Foucault, der den transgressiven
Gestus in der säkularisierten Fantasie mit dem, was einst die Religion dem Men-
schen bedeutete, vergleicht, beschäftigen sich beide – das Fantastische und die
Religion – mit Grenzen der Existenz. Die Transgression jedoch verfolgt kein klar
definiertes Ziel oder Ideal, keinen Sinn, keine letzte Ordnung, Wahrheit oder
Gottheit, wie sie dem Numinösen, Mystischen, Transzendenten, Metaphysischen,
Symbolischen – wie immer wir diese Tendenz benennen – anhaftet. Die Trans-
gression birgt in sich ein Verlangen nach einem “space of non-being, an absence”
(“vide ontologique”, ), a “nonrelationship of zero, where identity is meaning-
less”. Das Fantastische meint die Sphäre nicht-religiöser Grenzüberschreitung
. Ovid, Metamorphosen, Buch XIII, –. Hg. Niklas Holzberg, übers. Erich Rösch (Zü-
rich: Artemis & Winkler, ).
. Rosemary Jackson, Fantasy: The Literature of Subversion (London: Routledge, ), .
Vgl.: “En replaçant l’expérience du divin au cœur de la pensée, la philosophie depuis
Nietzsche sait bien, ou devrait bien savoir, qu’elle interroge une origine sans positivité et
WENN DER MENSCH NICHT DAS MASS ALLER DINGE IST
une ouverture qui ignore les patiences du négatif. […] Peut-être l’émergence de la sexualité
dans notre culture est-elle un évènement à valeur multiple: elle est liée à la mort de Dieu
et à ce vide ontologique que celle-ci a laissé aux limites de notre pensée …” (Foucault, ;
).
. Eine ähnliche Polarisierung finden wir bei Maurice Lévy – “fantastic is a compensation that
man provides for himself, at the level of imagination [l’imaginaire], for what he has lost at
the level of faith”. (Le roman gothique anglais – (Toulouse, ), , übers. Jack-
son, .) Oder denken wir an Sartre, für den das Fantastische die umfassendere Kategorie
bedeutet, weil sie keine eskapistische oder transzendentale Funktion hat, sondern weil sie
eine natürliche Welt in etwas Fremdes, Anderes umformt [“presents a natural world in-
verted into something strange, something ‘other’”].( Jean Paul Sartre, “Aminadab’ or the fan-
tastic considered as a language’, in Situations I (Paris, ), –, zit./übers. Jackson, .)
Das Fantastische bedeutet für Sartre eine Literatur, in der es keine endgültigen Bedeutun-
gen gibt: Objekte dienen keinem transzendentalen Zweck. Die Mittel ersetzen den Zweck
[“in which definitive meanings are unknown: objects no longer serve transcendent pur-
poses, so that means have replaced ends”, Jackson, ].
. Jeffrey Jerome Cohen, Monster Theory (Minneapolis: University of Minneapolis Press, ),
ix–x.
SABINE COELSCH-FOISNER
hender Grenzen. Das wird deutlich, wenn wir uns das Titanische, bzw. Faustsche
Motiv des Romans näher ansehen.
Frankenstein ist eine Rahmenerzählung, die konzentrisch angelegt ist: Der Ro-
man beginnt und endet im arktischen Eis, also jenseits der Grenzen menschlichen
Lebens. Erzähltechnisch schafft die Polarexpedition des Robert Walton den Ein-
stieg. In Form von Briefen an seine Schwester Mrs Saville schildert er seine selt-
same Begegnung mit Victor Frankenstein, dessen Geschichte er aufzeichnet und
im Nachfolgenden erzählt. Innerhalb dieser Erzählung schildert Frankensteins
Monster seinen Werdegang vom unschuldigen Geschöpf zum Serienmörder. In-
nerhalb dessen Geschichte wiederum hören wir die Lebensgeschichte jener
Waldbewohner, bei denen Frankensteins Monster Unterschlupf gefunden hatte.
Schließlich verschmilzt Waltons Erzählung mit der erlebten Wirklichkeit – als er
nämlich Zeuge von Frankensteins Tod und der gewaltsamen Selbstzerstörung des
Monsters wird.
Schicht um Schicht enthüllt Shelleys Roman das Drängen des Individuums,
die eigene räumliche und zeitliche, biologische und emotionale Wirklichkeit zu
überschreiten. Bezeichnenderweise wird im Vorwort zur ersten Ausgabe ()
die Erzählung selbst als eine Art Transgression – ein Vordringen in geistiges Neu-
land – bezeichnet:
Im ersten Kapitel stellt sich Robert Walton vor. Getrieben von einer ‘brennenden
Neugier’, will er ins unerforschte Polareis vordringen:
“…we may be wafted to a land surpassing in wonders and in beauty every region
hitherto discovered on the habitable globe. Its productions and features may
be without example, as the phenomena of the heavenly bodies undoubtedly are
in those undiscovered solitudes. What may not be expected in a country of
eternal light? I may there discover the wondrous power which attracts the
needle; and may regulate a thousand celestial observations, that require only
this voyage to render their seeming eccentricities consistent for ever. I shall
satiate my ardent curiosity with the sight of a part of the world never before
visited, and may tread a land never before imprinted by the foot of man. These
are my enticements, and they are sufficient to conquer all fear of danger or
death, and to induce me to commence this laborious voyage with the joy a child
feels when he embarks in a little boat, with his holiday mates, in an expedition
of discovery up his native river.” ()
WENN DER MENSCH NICHT DAS MASS ALLER DINGE IST
In Victor erfährt diese kindliche Lust, die Welt zu entdecken, eine monströs-exis-
tenzielle Dimension. Er ist Gefangener einer ‘überirdischen’ Leidenschaft, die ihn,
der den Tod bezwingen will, von Anfang an dem Tod näher bringt.
“Whence, I often asked myself, did the principle of life proceed? […] I revolved
these circumstances in my mind, and determined thenceforth to apply myself
more particularly to those branches of natural philosophy which relate to phy-
siology. Unless I had been animated by an almost supernatural enthusiasm, my
application to this study would have been irksome, and almost intolerable. To
examine the causes of life, we must first have recourse to death. […] Now I was
led to examine the cause and progress of this decay, and forced to spend days
and nights in vaults and charnel-houses. My attention was fixed upon every ob-
ject the most insupportable to the delicacy of human feelings. I saw how the fine
form of man was degraded and wasted; I beheld the corruption of death suc-
ceed to the blooming cheek of life; I saw how the worm inherited the wonders
of the eye and brain. I paused, examining and analysing all the minutiae of
causation, as exemplified in the change from life to death, and death to life,
until from the midst of this darkness a sudden light broke in upon me – a light
so brilliant and wondrous, yet so simple, that while I became dizzy with the
immensity of the prospect which it illustrated, I was surprised, that among so
many men of genius who had directed their inquiries towards the same sci-
ence, that I should be reserved to discover so astonishing a secret. […] I suc-
ceeded in discovering the cause of generation and life; nay, more, I became
myself capable of bestowing animation upon lifeless matter.” ()
Schließlich schafft die im Vorwort () angedeutete sublime Ästhetik der Ro-
mantik den topographischen Hintergrund für derartige Vorstöße ins Ungewisse:
In den schneebedeckten Gipfeln der Schweizer Alpen, in der Einsamkeit der Ork-
neys und dem ewigen Eis des Polarmeeres drückt sich topographisch die Begeg-
nung mit dem Unfassbaren aus. Im Sublimen findet der Mensch keine Bleibe.
Victors Endlichkeit begegnet dem Unendlichen: “The immense mountains and
precipices that overhung me on every side – the sound of the river raging among
the rocks, and the dashing of the waterfalls around, spoke of a power mighty as
Omnipotence …” (). In Frankenstein gibt es keine Lösung für die Konfronta-
tion zwischen dem Irdischen und dem Sublimen. Statt dessen wird dem Leser die
totale, wechselseitige Zerstörung von Eis und Feuer bildhaft vor Augen geführt.
Die Kreatur verbrennt sich selbst im arktischen Eis und ermöglicht damit dem
Leser die sichere Rückkehr in die Welt vertrauter Ordnungen. Die Grenze zwi-
schen Leben und Tod, die der Protagonist zunächst durchbricht (“Life and death
appeared to me ideal bounds, which I should first break through, and pour a tor-
rent of light into our dark world, ), ist somit wieder hergestellt.
SABINE COELSCH-FOISNER
Alice’s Adventures in Wonderland , von Lewis Carroll verfasst, ist – obgleich
auf spielerische Art – nicht minder kompromisslos. Hier erlebt die Protagonistin
selbst den Verlust eines menschlichen Bezugspunktes. Dauernd ändert sich ihre
Größe, dauernd verschieben sich die Proportionen, und dauernd wird sie als etwas
gesehen, was sie nicht ist. Alice gerät in eine Maschinerie des Verwandelns. Ihr ei-
gener Körper sprengt die Grenzen des Vertrauten und Möglichen. Episode um
Episode führt uns Carroll in eine aus den Fugen geratene Welt, in der Größen-
relationen, Kausallogik und Zeitgefühl abhanden gekommen sind. Es gibt keine
festen Grenzen zwischen Mensch und Tier, Geist und Körper, ich und du, heute,
gestern, morgen. Gleich eingangs, in jener Schlüsselstelle, als ein weißer Hase
. Stephan Berg, Schlimme Zeiten, böse Räume: Zeit- und Raumstrukturen in der phantasti-
schen Literatur des . Jahrhunderts (Stuttgart: Metzler, ), .
. Lewis Carroll, Alice’s Adventures in Wonderland (London: Walker, ).
. Sabine Coelsch-Foisner: “Körpertransformationen: Die Metamorphose als Lesart des Fantas-
tischen am Beispiel von Alice in Wonderland”, Das Konzept der Metamorphose in den Geistes-
wissenschaften, hg. Herwig Gottwald und Holger Klein (Heidelberg: Winter, im Druck).
. Vgl. Stephan Bergs Beschreibung der fantastischen Literatur als ein Terrain, auf dem “es nicht
nur um etwas, das es nicht gibt, [geht,] was strukturell schließlich jede Literatur kennzeich-
net, sondern um etwas, was es nicht geben kann.” ().
WENN DER MENSCH NICHT DAS MASS ALLER DINGE IST
Alices Weg kreuzt, wird der transgressive Gestus der Erzählung deutlich, wie sehr
auch der Erzähler darüber hinwegtäuschen mag:
“Alice was beginning to get very tired of sitting by her sister on the bank, and of
having nothing to do: once or twice she had peeped into the book her sister was
reading, but it had no pictures or conversations in it, “and what is the use of a
book,” thought Alice, “without pictures or conversation?” So she was consider-
ing in her own mind (as well as she could, for the hot day made her feel very
sleepy and stupid) whether the pleasure of making a daisy-chain would be worth
the trouble of getting up and picking the daisies, when suddenly a White Rab-
bit with pink eyes ran close by her. There was nothing so very remarkable in
that; nor did Alice think it so very much out of the way to hear the Rabbit say
to itself, “Oh dear! Oh dear! I shall be too late!” (when she thought it over after-
wards, it occurred to her that she ought to have wondered at this, but at the time
it all seemed quite natural); but when the Rabbit actually took a watch out of its
waistcoat-pocket, and looked at it, and then hurried on, Alice started to her feet,
for it flashed across her mind that she had never before seen a rabbit with either
waistcoat-pocket or a watch to take out of it, and burning with curiosity, she
ran across the field after it, and fortunately was just in time to see it pop down
a large rabbit-hole under the hedge. In another moment down went Alice after
it, never once considering how in the world she was to get out again. The rab-
bit-hole went straight on like a tunnel for some way, and then dipped sud-
denly down, so suddenly that Alice had not a moment to think about stopping
herself before she found herself falling down a very deep well.” (–)
Als Alice gedankenlos dem Hasen folgt, begeht sie damit jenen entscheidenden
Schritt in eine schrankenlose Welt, in der alles möglich, veränder- und verwan-
delbar ist – ein Prinzip, das sie sogleich am eigenen Körper erfährt.
Alices Verwandlungen sind widernatürlich, oder wie sie selber sagt: “puzzling”,
“confusing”, “curious”, “queer”. Die Begegnung mit der blauen Raupe ist ein Pa-
radebeispiel für den fantastischen Status ihrer Metamorphosen, die hier explizit
von der biologischen (vorhersagbaren, nach klaren Regeln ablaufenden) Meta-
morphose abgegrenzt werden. Die winzige Alice trifft im Wald auf eine große
blaue Raupe, bei der sie sich über ihre unzähligen, für sie unbegreifbaren Größen-
verwandlungen beklagt:
. Wir erfahren nur, dass Alice sich ‘nie darüber Gedanken machte, wie sie je wieder aus dem
Hasenbau herauskommen sollte’. Damit täuscht der Erzähler geschickt über die erste Frage
hinweg, die sich der Leser wohl stellen muss: Wie konnte Alice je in den Hasenbau hinein-
gelangen?
SABINE COELSCH-FOISNER
“‘I’m afraid I can’t put it more clearly,’ Alice replied very politely, ‘for I can’t
understand it myself to begin with; and being so many different sizes in a day
is very confusing.’
‘It isn’t,’ said the Caterpillar.
‘Well, perhaps you haven’t found it so yet,’ said Alice, ‘But when you have to
turn into a chrysalis – you will some day, you know – and then after that into
a butterfly – I should think you’ll feel it a little queer, won’t you?’
‘Not a bit,’ said the Caterpillar.
‘Well, perhaps your feelings may be different,” said Alice, “all I know is, it
would feel very queer to me.’” ()
“La transgression porte la limite jusqu’à la limite de son être; elle la conduit à
s’éveiller sur sa disparition imminente, à se retrouver dans ce qu’elle exclut (plus
exactement peut-être à s’y reconnaître pour la première fois), à éprouver sa véri-
té positive dans le mouvement de sa perte.” ()
Dieser Gedanke lässt sich deutlich in Alice in Wonderland nachvollziehen. Der stän-
dige Größenwandel verwischt die Konturen ihrer Identität. Alice ist nicht mehr
ein Kind, das sich in einem biologischen Wachstums- und Alterungsprozess wieder
erkennen könnte. Wachsen (Körper) und Erwachsensein (Geist) stehen in keinem
Verhältnis zueinander:
“‘And when I grow up, I’ll write one [a book on her curious adventures] – but
I’m grown up now,’ she added in a sorrowful tone – ‘at least there’s no room
to grow up any more here.’ ‘But then,’ thought Alice, ‘shall I never get any
older than I am now? That’ll be a comfort, one way – never to be an old
woman – …’” ().
. Jean Bellemin-Noël, “Des formes fantastiques aux thèmes fantasmatiques”, Littérature
(Mai ), –, hier –, übers. Jackson, .
WENN DER MENSCH NICHT DAS MASS ALLER DINGE IST
In dem Maß, als es Alice nicht mehr gelingt, ihre Identität über ihren Körper zu
definieren, kommt es zum Zusammenbruch der Grenze zwischen Ich und Welt
– “I must be Mabel after all…” () – bis die Gestalt schließlich ganz beliebig
wird: “Who am I then? Tell me that first, and then, if I like being that person,
I’ll come up: if not, I’ll stay down here till I’m somebody else…”. () Das Ich
ist nicht mehr an einen oder einen bestimmten Körper gebunden. Metamorphose
bedeutet somit auch ein Überschreiten der Grenze zwischen Geist und Körper,
wie Todorov anmerkt: “The metamorphoses too, therefore, constitute a trans-
gression of the separation between matter and mind as it is generally con-
ceived.”
Alices Metamorphosen stellen eine Verfremdung dar, die sie bei vollem Be-
wusstsein erlebt. So verabschiedet sie sich einmal von ihren Füßen, als ihr Körper
teleskopartig in die Höhe schießt: “‘now I’m opening out like the largest tele-
scope that ever was! Good-bye, feet!’ (for when she looked down at her feet, they
seemed to be almost out of sight, they were getting so far off)” (). Ein anderes
Mal spürt sie, wie ihre Füße gegen ihr Kinn drücken, weil Rumpf und Glied-
maßen auf ein verschwindendes Maß geschrumpft sind. Gleich darauf sucht sie
vergeblich ihre Schultern, weil ihr Hals zu lang geworden ist. Wo sitzt Alices Be-
wusstsein? In der fantastischen Literatur kann beliebig am Körper herumexperi-
mentiert werden, ohne dass dies notwendigerweise das Bewusstsein beeinträchtigt.
Denken wir nur an Death Becomes Her (Der Tod steht ihr gut), wo Meryl Streep
und Goldie Hawn einander leidenschaftlich verstümmeln. Ob Loch im Bauch,
Genickbruch oder Gelenksluxation, es handelt sich immer nur um Schönheits-
fehler, die keinerlei Bewusstseinsveränderung zur Folge haben.
Im Extremfall führt das Ausloten von Grenzen zu einem Geist ohne Körper.
Die Selbstauslöschung ist die radikalste Form der Körperverwandlung: “…
transgression takes limit to the edge of its being, to the point where it virtually
disappears, in a movement of pure violence”. Alice ist sich dieses Problems be-
wusst. Bei jedem Schrumpfungsprozess schwingt die Möglichkeit des Verschwin-
dens mit: “‘For it might end, you know,’ said Alice, ‘in my going out altogether,
like a candle. I wonder what I should be like then?’ And she tried to fancy what
the flame of a candle is like after it is blown out, for she could not remember ever
having seen such a thing.” () Die Metamorphose wird zum Flirt mit dem
Nichts. Das beste Beispiel dafür liefert die Cheshire Cat, deren Existenz keiner
physischen Präsenz bedarf. Eines Tages blendet sie ihre Gestalt ganz langsam aus.
Übrig bleibt ihr Grinsen. Seither haben sich große Namen in der Bewusstseins-
. Tzvetan Todorov, The Fantastic: A Structural Approach to a Literary Genre (), übers. Ri-
chard Howard (Ithaca/NY: Cornell UP, ), .
. Jackson, ; vgl. Foucault, , .
SABINE COELSCH-FOISNER
. Nicholas Humphrey, A History of the Mind (London: Chatto & Windus, ), ; Lars
Hertzberg, “Imagination and the Sense of Identity”, in David Cockburn, hg., Human
Beings (Cambridge et al.: CUP, ), –; hier: . Vgl. dazu Roger W.Holmes, “The
Philosopher’s Alice in Wonderland” (), in Robert Phillips, hg., Aspects of Alice: Lewis Car-
roll’s Dreamchild as seen through the Critics’ Looking-Glasses – (London: Victor Gol-
lancz, ), –: Holmes führt in seinem Artikel eine Fülle an logischen und philo-
sophischen Fragen an, die Carrolls Alice Bücher aufwerfen, z.B. “Have you ever seen No-
body? What would your world be like if objects had no names?” ()
. Terry Eagleton, “Alice and Anarchy”, New Blackfriars (), –; hier: .
WENN DER MENSCH NICHT DAS MASS ALLER DINGE IST
Alice in Wonderland ist eine Herausforderung und ein Testen von Normen, Sys-
temen, Denkweisen und Konventionen. Pausenlos werden Logik und Ordnung
demontiert – ohne ein alternatives Sinngefüge zu schaffen. Das meint Bachtin mit
Polyphonie: “the essence of polyphony lies precisely in the fact that the voices re-
main independent”. In dieser ungeordneten Pluralität weist ‘Wonderland’ ein-
deutig karnevalistische Züge auf: Es ist eine verkehrte Welt, die sämtliche Regeln
auf den Kopf stellt. Nichts verläuft nach Schema. Auch die ständigen Beschimp-
fungen, die Alice von den mürrischen, aber gleichzeitig recht empfindlichen, Krea-
turen ertragen muss, lassen sich als typisch karnevalistische Erniedrigungen deuten.
Ebenso die Umkehr sozialer Hierarchien: Alice wird ständig herumkommandiert:
“How the creatures order one about…” (); “I never was so ordered about in all
my life, never!” (). Schon ihr Kontakt zu Hase, Maus oder Mock-Turtle ist Aus-
druck für ein karnevalistisches Durcheinander.
In ‘Wonderland’ “vereinigt, vermengt und vermählt” sich “das Geheiligte
mit dem Profanen, das Hohe mit dem Niedrigen, das Große mit dem Winzi-
gen, das Weise mit dem Törichten”: “Alles, was durch die hierarchische Welt-
anschauung außerhalb des Karnevals verschlossen, getrennt, voneinander ent-
fernt war, geht karnevalistische Kontakte und Kombinationen ein.” Als Bei-
spiele seien nur genannt die vielen Dialoge, in denen Sinn nahtlos in Unsinn
übergeht, die verkehrten Größenrelationen (Alice und Raupe, Alice und March
Hare), die Profanisierung des Königspaares als Spielkarten, die (an sich logi-
sche) Diskussion um die Enthauptung eines Hauptes ohne Körper, die Verkeh-
rung menschlicher Beziehungen (dem Kind der Duchess wird sämtlicher Haus-
rat um die Ohren geworfen), das Verhältnis von Duchess und Ferkel – eine Art
mésalliance – und die Hinrichtungsorgien der Königin, die wiederum ganz im
Sinne einer menippäischen Aufhebung der Grenze zwischen Leben und Tod zu
verstehen sind.
. Problems of Dostoevsky’s Poetics (), übers. Caryl Emerson (Minneapolis: University of
Minnesota Press, ), . Vgl: Henryk Markiewicz’ Definition: “[an] unresolved dispute
of ideological subjects of equal authority”. “Polyphony, Dialogism and Dialectics: Mikhail
Bakhtin’s theory of the novel”, in Joseph P. Strelka, ed., Literary Theory and Criticism: Fest-
schrift Presented to René Wellek in Honor of his Eightieth Birthday (Frankfurt et al.: Peter Lang,
; ), –, hier: .
. Michail M.Bachtin, Literatur und Karneval: Zur Romantheorie und Lachkultur (Frankfurt
am Main: Fischer, ), .
. Vgl. dazu Northrop Frye, “The Alice books are perfect Menippean satires …”. Anatomy
of Criticism (Princeton: Princeton UP, ), ; und Clara Mucci, “Alice’s Jouissance: The
Predominance of the Letter and / as Wonderland”, Rivista di Studi Vittoriani : (),
–.
SABINE COELSCH-FOISNER
Alice selbst vereint zentripetale und zentrifugale Kräfte (um bei Bachtins Termi-
nologie zu bleiben). Ihr sich ständig verwandelnder Körper verhält sich wider-
läufig zu ihren Versuchen, diese umgestülpte Welt nach ‘normalen’ Ordnungs-
kriterien zu deuten. Zwar gelingt es ihr, gewisse irrationale Zusammenhänge her-
zustellen – Nahrungsaufnahme bedeutet Größenverwandlung – doch Gewiss-
heit über das, was passieren wird, hat sie nicht: “I’m never sure what I’m going
to be, from one minute to another!” () Bei der abschließenden Gerichtsverhand-
lung genügt schon der Anblick der Plätzchen, um Alice – wider ihren Willen –
wachsen zu lassen. Die Anarchie in ‘Wonderland’ deutet auf eine Verwandtschaft
zwischen Metamorphose und Karneval. Um in die fantastische Welt der ständigen
Größenverwandlungen eintreten zu können, bedarf es selbst einer Verwandlung,
die den Beginn der karnevalistischen Abenteuer signalisiert. Jedoch meint Karne-
val den zeitlich begrenzten Aufenthalt in einer dem Diktat des Irrationalen unter-
worfenen Welt. Dieser Aufenthalt ist intendiert, inszeniert und letztlich Bestand-
teil einer Ordnung. Karneval ist eine legalisierte Anarchie. In ihrer zeitlichen Be-
grenztheit und in ihrer subversiven Dimension lenkt somit die karnevalistische
Orientierungslosigkeit in Wonderland, ähnlich wie das sich nach einem Mensch-
sein sehnende Monster in Frankenstein, den Blick unweigerlich auf den Status quo
zurück, das heißt auf den Menschen als das Maß aller Dinge.
. Zu Bachtins Terminologie siehe Ann Jefferson, “Literariness, Dominance and Violence in
Formalist Aesthetics” in Peter Collier and Helga Geyer-Ryan, hg., Literary Theory Today
(Ithaca/NY: Cornell UP, ), –; hier: –.
. Bevor sie es wagt, das Haus des Hasen zu betreten, isst sie ein kleines Pilzstück, um etwas
größer zu werden: “… and raised herself to about two feet high” (AW ).
. Zitiert nach der Ausgabe Stuttgart: Reclam, .
WENN DER MENSCH NICHT DAS MASS ALLER DINGE IST
deren Reise erwarten würde: “The Time Traveller paused, put his hand into his
pocket, and silently placed two withered flowers […] upon the little table” ().
Die Erzählung des Zeitreisenden ist gespickt mit derartigen rhetorischen Tricks,
die alle darauf abzielen, seine unglaublichen Abenteuer als herkömmlichen Reise-
bericht zu tarnen:
“But while such details [drains, wells, modes of conveyance …] are easy enough
to obtain when the whole world is contained in one’s imagination, they are
altogether inaccessible to a real traveller amid such realities as I found there.
Conceive the tale of London which a negro, fresh from Central Africa, would
take back to his tribe!” (–)
Eigenartigerweise ist auch das einzige Indiz für die wundersame Zeitreise das ver-
wahrloste Äußere und der enorme Hunger des Zeitreisenden – harmlose Folgen
angesichts eines so riskanten Abenteuers. Immerhin hat er Jahrtausende lang nichts
gegessen, wurde seiner Zeitmaschine verlustig und wäre um Haaresbreite einer
Horde von Kannibalen zum Opfer gefallen. Aber auch hier stellt sich die Frage,
wie denn eine Reise in die Zukunft überhaupt sichtbare Spuren hinterlassen kann,
wenn doch die Jetztzeit, in die er heil zurückgekehrt ist, im normalen Tempo ver-
läuft. Von der Dimension seines Gedächtnisses ganz zu schweigen. Während Wells’
Protagonist über das zeitliche Maß des Menschen hinausschießt, sind dessen Be-
dürfnisse in der Jetztzeit verblieben, ebenso wie sein Körper, sein Denken und
politisches Bewusstsein. Darin liegt der zweite transgressive Aspekt: Der Zeit-
reisende bleibt Mensch in einer Zeit, in der es keine Menschen mehr gibt. Aus er-
zähltechnischer Sicht mag man diesen Umstand als Notwendigkeit ansehen, denn
nur so hat der Autor Gelegenheit, einen gesellschaftskritischen Kommentar zum
Status quo abzugeben, welchen er im Zuge seiner Erlebnisse stets revidieren muss.
Thematisch steht, wie in den beiden bereits analysierten Werken, die Konfronta-
tion mit dem Fremden im Vordergrund. Wells’ Zeitreisender trifft auf eine in zwei
Rassen gespaltene ‘Menschheit’, die sich – für den Viktorianischen Betrachter –
aus der Klassengesellschaft seiner Zeit ableiten lässt. Die Oberschicht und die Ar-
beiterschicht sind auseinandergeklafft und weisen in ihrer extremen Polarisierung
nur noch rudimentär menschliche Züge auf. Beide Rassen, die Eloi und die Mor-
locks, haben das auf das Individuum ausgerichtete Menschenbild des . Jahr-
hunderts hinter sich gelassen. Statt Individuen gibt es zwei homogene Rassen,
innerhalb welcher alle Identitätsmerkmale wie Geschlecht, Aussehen, Kleidung,
Status, etc. aufgehoben sind.
Die Eloi sind kleine schöne, porzellanähnliche Wesen, die den Tag damit ver-
bringen, Blumenkränze zu binden. Sie sind friedvoll, kindlich, genügen sich selbst
und zeigen keinerlei Aggression, Tatendrang, Intellekt oder Zielstrebigkeit. Aus
dem kulturgeschichtlichen Kontext, aus dem heraus die Time Machine geschrie-
SABINE COELSCH-FOISNER
ben wurde, könnte man sie als überzüchtete Produkte einer ästhetizistischen Welt-
fremdheit interpretieren. Sie sind kraftlos, haben (scheinbar) keine Bedürfnisse und
keinen Ehrgeiz, sich aus eigenem Antrieb zu organisieren oder zu entwickeln. Erst
im Laufe der Zeit lernt der Zeitreisende, dass diese zierlichen Kunstgestalten nur
die eine Hälfte einer physiologisch zweigeteilten Gesellschaft sind, und das primi-
tivistische Arkadien, das sie bevölkern, nur die sichtbare Hälfte eines topogra-
phisch zweigeteilten Landes ist. Unter der Oberfläche verbergen sich die dunklen
Fabrikshallen der einstigen Weltmacht England. Hier werken die Morlocks, die
hässlichen Nachtgeschöpfe. Rastlose, vom Fehlen des Sonnenlichts bleiche, affen-
ähnliche Körper hetzen in diesen unterirdischen Gängen herum, wo sie ihre eins-
tigen Artgenossen verschlingen.
Wells musste nicht weit suchen, um diese Kreaturen zu erschaffen. Regierungs-
berichte und realistische Schilderungen der Arbeiterschicht im Viktorianischen
England liefern genügend Anhaltspunkte für seine Beschreibung des Untertage-
volkes. In Charles Kingsleys “Men Who Are Eaten” aus Alton Locke, zum Beispiel,
werden die Arbeiter (hier die Landarbeiter) als blasse, hagere, gebückte Kreaturen
mit schlurfenden Schritten beschrieben – eine homogene Masse, der jegliche In-
dividualzüge fehlen:
“As we pushed through the crowd, I was struck with the wan, haggard look of
all faces; their lack-lustre eyes and drooping lips, stooping shoulders, heavy, drag-
ging steps, gave them a crushed, dogged air, which was infinitely painful, and
bespoke a grade of misery more habitual and degrading than that of the ex-
citable and passionate artisan.”
Auch der dumpfe Lärm in den Höhlen der Morlocks erinnert an die dröhnenden
Maschinen, die wir aus den Reiseberichten und Aufzeichnungen der Gesund-
heits- und Arbeitsinspektoren des .Jahrhunderts kennen. Die Morlocks haben
. Wiedergedruckt in Gordon S.Haight (Hg.), The Portable Victorian Reader (; Har-
mondsworth: Penguin, ), –; hier: .
. Zum Beispiel Alexis de Tocquevilles Bericht über Manchester: “These vast structures [huge
palaces of industry] keep air and light out of human habitations which they dominate; they
envelope them in perpetual fog. […] A sort of black smoke covers the city. The sun seen
through it is a disc without rays. Under this half-daylight , human beings are cease-
lessly at work. A thousand noises disturb this dark, damp labyrinth, but they are not at all
the ordinary sounds one hears in great cities. The footsteps of a busy crowd, the crunching
wheels of machinery, the shriek of steam from boilers, the regular beat of the looms, the hea-
vy rumble of carts, those are the noises from which you can never escape in the sombre half-
light of these streets.” Aus Journeys to England and Ireland (), übers. G.Lawrence and
K.P.Mayer (), in Christopher Harvie, Graham Martin, und Aaron Scharf (Hg.), Indus-
trialisation and Culture (London–Basingstoke: Macmillan–Open UP, ), –; hier: .
WENN DER MENSCH NICHT DAS MASS ALLER DINGE IST
. “Having been subjected to the prolonged labour of an animal – his physical energy wasted
– his mind in supine inaction – the artizan has neither moral dignity nor intellectual nor
organic strength to resist the seductions of appetite. His wife and children, too frequently
subjected to the same process, are unable to cheer his remaining moments of leisure. […]
Himself impotent of all the distinguishing aims of his species, he sinks into sensual sloth, or
revels in more degrading licentiousness.” James Phillips Kays’s Bericht über “The Man-
chester Cotton Workers” aus “The Moral and Physical Conduct of the Working Classes
employed in the Cotton Manufacture in Manchester” (), in Harvie et al., –.
SABINE COELSCH-FOISNER
Welt eines kleinen Viktorianischen Mädchens, der nur in der Erzählung weiter
bestehen kann.
Ähnlich gestaltet sich Frankenstein als Kette von Erzählern und Zuhörern. Victor
erzählt dem Expeditionsleiter Robert Walton seine Geschichte. Er selbst wird Zu-
hörer der Lebensbekenntnisse seines Monsters, und das Monster hört die Ge-
schichte seiner Gastfamilie. Auch hier entstehen durch die Präsenz von Zuhörern
Rahmen, die ein Gegengewicht zur Fantastik schaffen. Schließlich löst das Mons-
ter selbst jenen Distanzierungsmechanismus aus, den Traum und Zukunftsvision
in den anderen beiden Werken erfüllen. Alle abgründigen, verdrängten Ängste,
Triebe und Sehnsüchte werden in das Monster hineinprojiziert. Laut Cohen ist das
Monster der Sündenbock, der rituell zerstört wird:
“Monsters may still function, however, as the vehicles of causative fantasies […]
What Bakhtin calls ‘official culture’ can transfer all that is viewed as undesir-
able in itself into the body of the monster […] the scapegoated monster is per-
haps ritually destroyed…” ().
Durch die Zerstörung des Monsters (und seines monströsen Schöpfers) erhält Shel-
leys Roman die für die Romantik typische Dynamik des ‘going out and return-
ing’. Die Erzählung führt die Leser jenseits der Grenzen menschlicher Existenz,
um sie am Schluss wieder innerhalb diese Grenzen zurückzuholen. In ihrem
“Cyborg Manifesto” beschreibt Donna Haraway die Rolle des Monsters auf ähn-
liche Weise:
. Donna Haraway, Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature (New York: Rout-
ledge, ), .
SABINE COELSCH-FOISNER
ten. Somit erhält das menschliche Maß seine Bestimmung nicht zuletzt durch die
fantastische Transgression. Wie weit diese Ambiguität von Grenzüberschreitung
und Grenzziehung ein Spezifikum des .Jahrhunderts ist und im besonderen aus
dem Regelungsbedürfnis der Viktorianischen Gesellschaft bzw. aus den litera-
risch-ästhetischen Verfahren der Hoch- und Spätromantik her zu erklären ist,
oder aber im Sinne der notwendigen Doppelbindung der fantastischen Literatur
an das Unmögliche und an das Mögliche auch jenseits des . Jahrhunderts kul-
turhistorisch und formalästhetisch festgemacht werden kann, ist derzeit Gegen-
stand eines breit angelegten, Epochen übergreifenden Forschungsprojekts am
Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Salzburg.
. Vgl. Rosemary Jackson, op.cit.: “… the fantastic is a mode of writing which enters a dia-
logue with the ‘real’ and incorporates that dialogue as part of its essential structure. […] fantasy
is ‘dialogical’, interrogating single or unitary ways of seeing.” () Siehe dazu auch Floyd
Merrell, Pararealities: The Nature of Our Fictions and How We Know Them, Purdue Uni-
versity Monographs in Romance Language (Amsterdam und Philadelphia, ); Umberto
Eco, Apokalyptiker und Integrierte: Zur kritischen Kritik der Massenkultur (Frankfurt: Fi-
scher, ); Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer An-
thropologie (Frankfurt: Suhrkamp, ).
. Dieses Projekt widmet sich Körpertransformationen in der britischen fantastischen Erzähl-
prosa von der Mitte des .Jahrhunderts bis in die Gegenwart und stellt diese in Bezug zu
dem sich ständig wandelnden Körperverständnis im jeweiligen kulturellen Umfeld. Für
Hinweise zu Primär- und Sekundärtexten bin ich dankbar. Meine E-mail Adresse lautet:
sabine.coelsch-foisner@sbg.ac.at.
MYTHOS MENSCH UND PÄDAGOGISCHE DIFFERENZ
Andrea Bramberger und Edgar Forster
Der prekäre Status dessen, was wir ‘den Menschen’ nennen, bildet den Kern einer
modernen Geschichte der Pädagogik, die sich als Problematisierung der Diffe-
renz zwischen Erwachsenem und Kind zeigt. Spätestens seit der Aufklärung wird
Erziehung durch jene unaufhebbare pädagogische Differenz angetrieben, in der
der Erzieher nicht nur das Maß aller Dinge für den Zögling benennt, sondern
auch das Ideal des Menschen festschreibt. Damit inthronisiert er sich als jene
göttliche Instanz, die darüber wacht, was der Mensch in seiner Vollkommenheit
ist, und er formt sich damit zum Bild dieser Vollkommenheit, weil er, wo er nicht
vollkommen ‘ist’, doch ein Wissen dieser Vollkommenheit zu besitzen vorgibt.
Die pädagogische Differenz schafft einen seltsamen Abstand des Zöglings zu sei-
nem Lehrmeister, denn dieser Abstand, dessen Aufhebung durch Erziehung und
Bildung angestrebt wird, entpuppt sich als ein im Rahmen des traditionellen Er-
ziehungsverhältnisses nicht auflösbarer Abstand des Zöglings zum Menschsein.
In einem Handbuch zur Erziehung von wird diese Auffassung ohne jegliche
Trübung dargelegt:
“An gegenwärtiger Stelle fassen wir Zucht hauptsächlich als einen Begriff aus
dem Gebiet des Haus- und Schullebens, als Bestandteil des Tuns, durch wel-
ches der unmündige Mensch zur sittlichen Vollkommenheit geleitet werden
soll. Als solche beginnt sie mit dem Leben selbst. Der Säugling braucht und
empfängt Zucht. […] Der Gegenstand der Zucht ist der sittliche Wille in der
Ungleichmäßigkeit, Schwäche und Verkehrtheit seiner Lebensäußerungen. Der
Wille des Kindes muß gebrochen werden, d.h. es muß lernen, nicht sich selbst,
sondern einem andern zu folgen. Daß eine solche Notwendigkeit vorliegt, ist
ein Beweis von der angeborenen Verderbnis des menschlichen Wesens. Anders
würde es nicht zu einem Brechen des Willens kommen müssen, sondern nur
zum Verknüpfen desselben mit dem stärkeren und besseren Willen; der letztere
würde den ersteren an sich ziehen, wie der Magnet das Eisen. Das Individuum
ist in seiner ursprünglichen Beschaffenheit dem Gesetz nicht entsprechend,
sondern auch der Selbstgewöhnung an das sittliche Ideal nicht fähig und statt
dessen von einem eigentümlichen Gesetz regiert, das mit dem Gesetz des Guten
im Widerspruch steht. Wäre keine Sünde, so bedürfte es keiner Zucht. […]
In der Schule speziell geht Zucht vor Unterricht. Fester steht kein Satz in der
Pädagogik, als daß Kinder zuerst erzogen sein müssen, ehe sie unterrichtet wer-
den können. Es gibt wohl eine Zucht ohne Lehre […], aber keine Lehre ohne
ANDREA BRAMBERGER & EDGAR FORSTER
Zucht. Jeder Unterricht beginnt mit einer Willenshandlung von seiten des
Lehrers und von seiten des Schülers, und jeder einzelne Teil des Unterrichts
setzt die Erneuerung dieser Willenshandlung voraus, und je höher der Grad
der Zucht, desto sicherer der allseitige Erfolg des Unterrichts […].” (Zit. nach
Rutschky : f.)
Dass die Position des Erziehers eine diskursive Position darstellt, die im Laufe der
Geschichte unterschiedlich besetzt worden ist, lässt sich daran zeigen, dass auch
die scheinbare Umkehrung des Erziehungsverhältnisses möglich ist. Ellen Key, die
das .Jahrhundert zum ‘Jahrhundert des Kindes’ erhoben hat, sieht das Kind als
Lehrmeister des Erwachsenen (vgl. Key ).
“Bevor nicht Vater und Mutter ihre Stirne vor der Hoheit des Kindes in den
Staub beugen; bevor sie nicht einsehen, daß das Wort Kind nur ein anderer
Ausdruck für den Begriff Majestät ist; bevor sie nicht fühlen, daß es die Zu-
kunft ist, die in Gestalt des Kindes in ihren Armen schlummert, die Geschich-
te, die zu ihren Füßen spielt – werden sie auch nicht begreifen, daß sie eben-
sowenig die Macht oder das Recht haben, diesem neuen Wesen Gesetze vor-
zuschreiben, wie sie die Macht oder das Recht besitzen, sie den Bahnen der
Sterne aufzuerlegen. Aber wenn die Mutter von derselben Ehrfurcht von den
unbekannten Welten, die ihr in den großen Blicken des Kindes begegnen,
durchbebt wird, wie vor den Welten, die ihre weissen Blüten über das blaue
Dunkel des Himmels rieseln lassen; wenn der Vater in seinem Kinde den
Königssohn sieht, dem er in Demut mit seinen eigenen besten Kräften dienen
soll – dann kommt das Kind zu seinem Rechte!” (Key : )
Freilich, die Idee vom göttlichen Kind ist selbst eine – durchaus nicht neue – Er-
wachsenenphantasie, in der Menschsein mit dem Phantasma von Reinheit und
Natürlichkeit, die moderne Kindheitsbilder prägen, in Verbindung gebracht wird.
Der wahre Mensch, der zum Maß aller Dinge stilisiert wird, ist in nuce das reine,
von keinen gesellschaftlichen Einflüssen geprägte Kind. Die Idee der ‘Befreiung’
jenes Kindes von der Welt und den Maßstäben des Erwachsenen rekurriert auf
die unüberbrückbare Differenz von Erwachsenen und Kindern. Die Idee von der
Umkehrung des Erziehungsverhältnisses befestigt die Differenz zwischen dem
. Von Rousseau bis Ellen Key wird dieses Kind als eine Utopie in Szene gesetzt, als eine Uto-
pie, die unmöglich eingelöst werden kann und die deshalb die ‘schwache’, ‘erziehungs-
bedürftige’ Position der Kinder stärkt.
. Jean-Jacques Rousseaus erschienene Erziehungsschrift Emile (: ) beginnt mit den
vielzitierten Worten: “Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles ent-
artet unter den Händen des Menschen.”
MYTHOS MENSCH UND PÄDAGOGISCHE DIFFERENZ
. Ein ähnliches Phänomen konstatiert Christina von Braun (: ) für den Geschlech-
terdiskurs: “Mit Freud vollzog sich […] die Fusion der Geschlechter zu einem” und zwar
insofern, als das eine, das weibliche, die “mißlungene Replik” des anderen, des männlichen
darstellt. Fritz Wittels Idee der ‘Befreiung’ der Frau ähnelt insofern Ellen Keys Idee von der
‘Befreiung’ des Kindes, als in beiden Fällen auf die Idee einer grundlegenden Differenz
insistiert wird, die den Mythos Mensch durchkreuzt und zersetzt.
ANDREA BRAMBERGER & EDGAR FORSTER
keit, die etwa zur Jahrhundertwende eingesetzt und um massiv in Erschei-
nung getreten sei. Diese Unsicherheit betrifft das pädagogische Verhältnis und die
Frage, wie die pädagogische Differenz ausgestaltet werden soll. Zuvor sei Kind-
heit als ein statischer Begriff, als eine unveränderbare Tatsache aufgefasst worden,
und zwar deshalb, weil Kindheit und die relationalen Begriffe zu Kindheit nicht
in dieser Form als ‘Problem’ begriffen worden seien.
‘Kindheit’, wie sie heute verstanden wird, wird etwa im . Jahrhundert ‘ent-
deckt’ (vgl. Ariès ) oder ‘erfunden’ (vgl. Postman ). Ab der zweiten Hälf-
te des .Jahrhunderts engagiert sich die abendländische Gesellschaft vermehrt
und in nie zuvor da gewesenem Ausmaß am Kind. Darüber herrscht weitgehend
Einigkeit in den unterschiedlichen ‘Geschichten der Kindheit’. Dieter Richter
(: ) spricht von einer “wachsende[n] Bedeutung des sozialen und kulturellen
Status Kindheit im historischen Prozeß der Neuzeit”. Seit damals wurde Kindheit
als eine ‘Totalität’ und nicht mehr länger als ein ‘Noch-Nicht’ (vgl. Ewers )
begriffen. Kindheit besitzt nun einen eigenen sozialen, gesellschaftlichen und
gleichsam allgemeingültigen Status und sie wird – das ist entscheidend – als eine
“eigenständige, von der Erwachsenenwelt unterschiedene Lebensphase” (Rath-
mayr : ) konstituiert. Mit der Herausbildung von Kindheit als einem eigen-
ständigen Lebensabschnitt und der damit verbundenen Konstruktion des Kindes
als eines ‘Anderen’ zum Erwachsenen, vollzieht sich implizit eine Abgrenzung ge-
gen eben dieses Kind, weshalb Dieter Richter auch vom ‘fremden Kind’ spricht.
Um das ‘neue’ Kind herum etablieren sich pädagogische Techniken, professio-
nelle Ratgeber und eine Wissenschaft von der Erziehung, die auf die prinzipielle
Trennung von ‘Erwachsenen’ und ‘Kindern’ insistieren. Die Pädagogik begreift die-
ses Verhältnis als Opposition und erhebt diese Idee zur grundlegenden Prämisse
. Vgl. Postman (, ). erschien in Amerika Benjamin Spocks Erziehungsratgeber
Baby and Child Care. Donata Elschenbroich () nennt ihn den “größte[n] amerikani-
sche[n] Bestseller”, der bis heute eine Gesamtauflage von Millionen erreicht hat und in
über Sprachen übersetzt worden ist, und der, so Spock, in jedem amerikanischen Haus-
halt zu finden sei. Spock () führt den Erfolg des Buches auf massive Unsicherheiten
und auf die Sehnsucht nach Sicherheit im Umgang mit Kindern zurück.
. Zu Kindheitsbildern vor der Aufklärung vgl. etwa Schultz (), Norden (), Ladurie
Le Roy ().
. Das Kind stellt wohl ein Konstrukt von Andersartigkeit dar, das aber radikal völlig diffe-
rent nicht gedacht werden kann. Es ist, wie Emmanuel Lévinas () ausführt, etwas ganz
anderes und zugleich dasselbe, wie der Erwachsene.
. Vgl. Richter (). Während Philippe Ariès und Lloyd de Mause davon ausgehen, dass die
wachsende Nähe zum Kind die wachsende Bedeutung von Erziehung evozierte, geht Die-
ter Richter umgekehrt davon aus, dass die mit der “Durchsetzung einer bürgerlichen Pro-
duktions- und Lebensweise zunehmende Distanz zwischen der Welt der Kinder und der
Erwachsenen” (Honig : ) mit der Erziehung “überbrückt” werde.
MYTHOS MENSCH UND PÄDAGOGISCHE DIFFERENZ
ihrer Forschung. Rolf Nemitz nennt diese Differenz Erwachsener-Kind des päd-
agogischen Alltagsverständnisses wie der traditionellen pädagogischen Theorie-
bildung einen ‘binären Code’: “Unbestreitbar ist die Unterscheidung von Kin-
dern und Erwachsenen eine binäre Struktur oder, wenn man so will, ein binärer
Code” (Nemitz : ). Man kann nicht Erwachsener und Kind zugleich sein:
Man ist entweder Erwachsener oder man ist Kind. Das ist die Differenz in der
Pädagogik (vgl. Honig ).
Wer aber ist dieses ‘Kind’, das als ein ‘Anderes’ zum Erwachsenen, als ein in die
Kindheit eingebettetes Medium der Pädagogik begriffen wird? Gibt es ‘das Kind’
hinter oder jenseits aller ‘Bilder’ vom Kind? Woran lässt sich die Differenz Er-
wachsener-Kind festmachen? Handelt es sich um ein evidentes Faktum, das nicht
erklärungsbedürftig ist, wie Luhmann (: ) meint, wenn er schreibt: “Der
Vorteil der Unterscheidung Kinder/Erwachsene liegt in ihrer Offensichlichkeit”?
Woran macht sich diese ‘Offensichtlichkeit’ fest? An Begriffen wie ‘Größe’, ‘Ent-
wicklung’, ‘Reife’? Dieter Lenzen macht deutlich, dass eine Unterscheidung von
Kindern und Erwachsenen, die Kriterien wissenschaftlicher Überprüfbarkeit
standhalten würde, nicht möglich ist.
“Man spricht nicht nur über sich als Erwachsenen, wenn man vom Kind
spricht. Wir ‘konzipieren’ uns als Erwachsene, wenn wir behaupten, daß es
Kinder gibt. Wenn wir beschreiben, was ein Kind ausmacht, dann beschreiben
wir unausgesprochen auch, was ein Erwachsener ist. Noch weiter: Wenn wir
behaupten, die Organismen, die wir Menschen nennen, durchliefen eine Le-
bensphase, die durch die Abwesenheit bestimmter Merkmale gekennzeichnet
ist, dann konstruieren wir ein Bild vom normalen Menschen. Zu definieren,
was ein Kind ist, heißt also etwas zu konstruieren, das Kind, den Erwachse-
nen, den Menschen. Das Ergebnis sind Konstrukte. Was bedeutet das für die
wissenschaftliche Auffassung davon, was ein Kind ist? Das Konstrukt ‘Kind’
(und damit ‘Erwachsener’, ‘Mensch’) ist nicht im empirischen Sinn wahr-
heitsfähig. Denn es gibt keine wissenschaftliche Forschungsmethode, mit der
man zweifelsfrei nachweisen könnte, was ein Kind ist und was nicht. Da sich
in das Verständnis vom Kind, wie gesagt, immer eine Normalvorstellung ein-
schleicht, reden wir also nicht nur über das, was ist, sondern auch darüber, was
der Fall sein soll. Es ist deshalb vom Boden der Wissenschaft aus nicht mög-
lich zu definieren, was ein Kind ist.” (Lenzen : )
Die Konstrukte sind in der Regel machtvolle Mythen, die ihre Stabilität jener Na-
turalisierung verdanken, die die Voraussetzung dafür bildet, dass sie zum Maß wer-
den können. Wenn aber weder Kinder noch Erwachsene wissenschaftlich fassbar
sind, wie lässt sich dann deren Unterscheidung zueinander festmachen? “Der Un-
terscheidung von Kindern und Erwachsenen entspricht im Rahmen der Pädagogik
kein wirklicher Sachverhalt. Es handelt sich tatsächlich um ein Konstrukt […].
Erstens ist nicht nur das Kind ein Konstrukt, sondern die Kind-Erwachsenen-Dif-
ferenz insgesamt”, schreibt Rolf Nemitz (: ) und schlägt vor, das Verhält-
nis Erwachsener-Kind als ein relationales zu begreifen und nicht allein über die
Unterschiedenheit zu diskutieren, sondern vor allem darüber, was die Unterschei-
dung hervorbringt.
Unmittelbar an die Einsicht in den Konstruktionscharakter der pädagogischen
Differenz knüpft sich Einsicht in jene Mythenproduktion, die sich mit der pädago-
gischen Differenz verbunden sieht: Mythen vom göttlichen und teuflischen Kind
(vgl. Bramberger : ff .), Mythen vom Erwachsenen und Mythen, die die
pädagogische Differenz organisieren – dies sind immer auch Mythen vom Men-
schen und seiner ‘Menschwerdung’. Der Mythos Mensch funktioniert in zwei
Zeiten: “Zunächst bekräftigt man die Unterschiede der menschlichen Morpho-
logien, man unterstreicht den Exotismus, hebt die Unendlichkeit der Variationen
der Art hervor, die Verschiedenheit der Hautfarben, der Schädelformen und der
Gebräuche, man ‘babelisiert’ nach Belieben das Bild von der Welt. Dann gewinnt
man auf magische Weise aus diesem Pluralismus eine Einheit: der Mensch wird ge-
boren, arbeitet, lacht und stirbt überall auf die gleiche Weise, und wenn in diesen
Akten noch irgend eine ethnische Besonderheit steckt, so gibt man zumindest zu
verstehen, daß hinter ihnen eine identische ‘Natur’ liege und daß die Verschieden-
artigkeit nur formalen Charakters sei und der Existenz eine gemeinsame Materie
nicht widerspreche.” (Barthes : ) Der Mythos von der conditio humana
stützt sich auf eine sehr alte Mystifikation, die darin besteht, auf den Grund der
Geschichte die Natur zu setzen. Der klassische Humanismus gelangt sehr schnell
zur tieferen Schicht einer vermeintlichen universalen menschlichen Natur.
Auf der Ebene einer zeitgemäßen wissenschaftlichen Auseinandersetzung wird
die pädagogische Differenz vom Legitimationsproblem berührt (vgl. Lyotard :
ff .): Wer bestimmt, wodurch die pädagogische Differenz organisiert wird? Wer
. Die traditionelle Pädagogik hält an der Differenz fest: “Wenn die Differenz zwischen Er-
wachsenen und Kindern zum Verschwinden gebracht würde, hätten Pädagogen und Erzie-
hung ihren Gegenstand verloren”, schreibt Dieter Lenzen (: ), diagnostiziert aber
an anderer Stelle, dass es in unserer Kultur kaum noch eine Dimension gibt, “in der diese
Differenz noch eine bedeutsame Rolle spielt” (Lenzen : ). Dagegen Nemitz (:
, ): “Mit dem Strukturkern verschwände zugleich der pädagogische Diskurs, keines-
wegs aber Pädagogik und Erziehungswissenschaft, da diese noch aus einer ganzen Reihe von
weiteren Diskursen bestehen. […] Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen ist
eine entdifferenzierende Differenz.”
MYTHOS MENSCH UND PÄDAGOGISCHE DIFFERENZ
ist legitimiert, mit der Behauptung der pädagogischen Differenz immer auch nor-
mative Vorgaben einzuführen? Was ist der Mensch, wenn nicht Statthalter jenes
Platzes, der die pädagogische Differenz organisiert und antreibt? Was ist der
Mensch anderes, als jene Autorität, in deren Namen die Differenz bestimmt wird?
Kann der Mensch diese Autorität nicht nur dann übernehmen, wenn er von
allem Konkreten abgelöst als leere, abstrakte Hülle, als ungeschichtliches ‘We-
sen’, letztlich als Deifikation gedacht wird, als Mythos, dessen Abstand zum je
konkreten Menschen die Voraussetzung für das Funktionieren des homo mensura-
Satzes bildet? Was aber brächte eine Dekonstruktion des Mythos Mensch? Seine
post- oder parahumane Auflösung (vgl. Angerer , Sofoulis )? Welches
Maß gäbe der Mensch, der von seinem Mythos befreit ist? Was hieße das für Er-
ziehung und was für pädagogische Theoriebildung? Wenn man dem Menschen
seine Geschichte entzieht, dann wird jeder Kommentar tautologisch. “Den Tod
oder die Geburt noch einmal sagen, lehrt wörtlich gar nichts.” (Barthes : )
Die Rede vom Humanismus selbst ist vielleicht die eleganteste Weise, der Frage
nach dem Menschen (vgl. Sloterdijk : ) und damit der Frage nach der päd-
agogischen Differenz auszuweichen.
Adornos Schriften zur Mündigkeit dokumentieren eine Kritik der pädagogi-
schen Differenz, ohne den Begriff von Bildung (in kritischer Absicht) aufzugeben:
“Ich möchte es danach riskieren, auf einem Beine stehend, zu sagen, was ich mir
zunächst unter Erziehung überhaupt vorstelle. Eben nicht sogenannte Menschen-
formung, weil man kein Recht hat, von außen her Menschen zu formen; nicht
aber auch bloße Wissensübermittlung, deren Totes, Dinghaftes oft dargestellt wird,
sondern die Herstellung eines richtigen Bewußtseins.” (Adorno : ) Was ist
das ‘richtige Bewusstsein? Ist es ein gleichsam neues Maß an Erkenntnis? Mit-
nichten. Das richtige Bewusstsein lässt sich nicht positiv bestimmen und gestalten.
Es würde den Gedanken der Negativen Dialektik verfehlen, darin eine identitäts-
stiftende Setzung zu sehen. Vielmehr ist der Herstellung des richtigen Bewusstseins
ein tiefes Misstrauen gegenüber Leitbildern und Erziehungszielen eingeschrieben:
“Man fragt sich, woher heute irgend jemand das Recht sich nimmt, darüber zu ent-
scheiden, wozu andere erzogen werden sollen” (ebenda). Die Paradoxie der Posi-
tion Kritischer Theorie bei Adorno besteht gerade darin, “die Forderung, daß
Auschwitz nicht noch einmal sei” (ebenda, ), nicht durch die Formulierung von
Erziehungszielen oder Wertekatalogen, sondern durch negative Dialektik einzu-
lösen, durch ein Denken, das sich selbst überschreitet und deswegen human ge-
nannt werden kann, weil es keiner Identitätslogik mehr folgt (vgl. Adorno ).
Dieser Spur müsste unseres Erachtens eine Pädagogik folgen, die den binären
Code des Pädagogischen in vielfache Differenzen zerstreut, ohne noch einmal das
den Code organisierende Ganze auszuzeichnen und damit die Binarität wieder-
herzustellen. Dieser Spur müsst eine Pädagogik folgen, die nicht auf ‘Mensch-
werdung’ abzielt und dennoch handlungsfähig ist. Die Historische Anthropo-
ANDREA BRAMBERGER & EDGAR FORSTER
logie haucht dem Menschen Geschichte ein und verwirft auf diese Weise die Idee
des Menschen (des Erwachsenen, des Kindes), des Humanen und mit ihm das Un-
menschliche, das Inhumane zugunsten konkreter menschlicher Erfahrungen des
Leids und des Glücks. Der Mensch ist das Maß aller Dinge, aber sein Blick ist ein
anderer: Alle Dinge messend, wird er selber durch nichts gemessen und alle Dinge
vergleichend ist er selbst unvergleichlich. Der Mensch ist das Maß insofern er un-
vergleichlich ist und nicht messbar, durchdrungen von radikaler Fremdheit und
Andersheit. Allein diese “Exteriorität” (vgl. Lévinas ) überwindet Inklusion
und Exklusion, mit denen der “Ausnahmezustand” (vgl. Agamben ) und da-
mit die Barbarei anhebt.
MYTHOS MENSCH UND PÄDAGOGISCHE DIFFERENZ
LITERATUR
Sofoulis, Zoë (): Post-, nicht- und parahuman. Ein Beitrag zu einer Theorie
soziotechnischer Personalität. In: Marie-Luise Angerer/Kathrin Peters/Zoë So-
foulis (Hg.): Future Bodies. Zur Visualisierung von Körpern in Science und Fiction.
Wien–New York, –.
Spock, Benjamin (): Der gute Vater amerikanischer Familien. In: Deutsches
Jugendinstitut (Hg.): Was für Kinder. Aufwachsen in Deutschland. Ein Hand-
buch. München, –.
Entführung der Europa, nach der Abbildung auf dem Glockenkrater RC
des “Berliner Malers”, um v. Chr., Gesamthöhe des Kraters , cm,
Tarquinia, Museo Archeologico
Aus: J. Boardman/J.Döring/W.Fuchs/M.Hirmer: Die griechische Kunst, .Aufl.,
München: Hirmer, , Taf.XXIII
DER MANN ALS MASS ALLER DINGE!?
DIE WÜRDE VON FRAUEN UND DIE NEUE “WHY-EQUALITY?”-DEBATTE
Anne Siegetsleitner
Platon berichtet über Protagoras: “Er sagt nämlich, der Mensch sei das Maß aller
Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind” (Theaite-
tos a). Über die Bedeutung fast jedes Wortes dieses berühmten Homo-mensura-
Satzes wurde in der Philosophiegeschichte gestritten. Mein Anliegen ist hier auch
keine Textexegese, sondern die bedeutungsvolle Rolle einer Interpretation dieses
Satzes in der feministischen Bewegung: Der Mann als Maß aller Dinge!? Ich werde
in diesem Beitrag einen Weg aufweisen, auf dem die Irrwege der Gleichheit/Dif-
ferenz-Debatte, in die sich die feministische Theorie verstrickte, durch neue An-
sätze aus der “Why-Equality?”-Debatte vermieden werden und die Einsichten aus
der Infragestellung von Gerechtigkeit als Gleichheit für eine feministische Gerech-
tigkeitskonzeption herangezogen werden können. Mein Unterfangen mit diesen
Ausführungen ist es, damit feministische Forderungen besser verstehen zu können.
Insofern stellen sie ein Angebot dar und keine Forderungen auf. Als zentrales Ele-
ment werde ich ein humanistisches Verständnis von Würde aufweisen, das Pico
della Mirandola zu Beginn der Neuzeit prägte und das meines Erachtens den
Kernpunkt feministischer Anliegen besser erfasst als ein Streben nach Gleichheit
oder Differenz um ihrer selbst willen.
ANNE SIEGETSLEITNER
Wer sich mit der politischen Philosophie der letzten Jahrzehnte befasst, kann mit
Angelika Krebs unumwunden feststellen, dass in den siebziger und achtziger Jah-
ren die Gleichheitstheoretiker John Rawls, Ronald Dworkin, Amartya Sen, Tho-
mas Nagel oder Richard Arneson – von Libertären wie Robert Nozick einmal ab-
gesehen – die Plattform der politischen Philosophie fast für sich allein hatten (und,
so möchte ich dem hinzufügen, Jahre darüber hinaus noch die philosophischen
Vorlesungssäle). Man stritt sich in dieser Zeit nicht um die Frage, ob Gerechtig-
keit als Gleichheit zu verstehen sei. Das war kein Thema, da ohnehin klar. Man
stritt sich nur darum, wie die Idee der Gleichheit genauer zu fassen sei, ob als
Gleichheit des Wohlergehens, der Gelegenheit zu Wohlergehen, der Ressourcen,
der Funktionsfähigkeit oder dergleichen. Diese interne Debatte war eine “Equa-
lity-of-what?”-Debatte (Krebs : ). Zu dieser Zeit wurde in der politischen
Philosophie davon ausgegangen, dass Gerechtigkeit relational als die Gleichheit der
einen mit den anderen zu fassen war. Diese egalitaristische Konzeption versteht
Gerechtigkeit wesentlich als Gleichheit und sieht letztere als ein zentrales und un-
abgeleitetes Ziel von Gerechtigkeit, als moralischen Selbstzweck oder Eigenwert.
Das jeder/jedem gerechtermaßen Zustehende bemisst sich wesentlich relational
oder komparativ mit Blick auf andere (Krebs b: ).
Die Forderungen von Feminist(inn)en wurden häufig im Rahmen des Egalita-
rismus interpretiert. Die Frage der Geschlechtergerechtigkeit wurde verstanden
als die Frage nach dem Verhältnis von Männern zu Frauen und in welcher Hin-
sicht eine Angleichung erstrebt werden sollte. Verfügung über gleich viele Res-
sourcen oder Grundgüter? Gleichheit der Gelegenheit zu Wohlergehen? Gleichheit
der Funktionsfähigkeit? Von außen als kritische Fragen an Feminist(inn)en heran-
getragen, führten diese Fragen durchaus auch zu Zweifel bei Feminist(inn)en
selbst: Wollen wir für Frauen eine solche Gleichheit? Wohin führt denn diese
Gleichheit? Willst du wirklich so werden wie die Männer? Sollen Männer so wer-
den wie Frauen? Sollen wir einer neuen gemeinsamen Norm nachjagen? Ist es
dies, was Frauen fordern, wenn sie Gerechtigkeit fordern? Und zunächst musste
in dieser Herangehensweise das Verhältnis zu den Männern bestimmt werden,
was, wie im vorigen Abschnitt geschildert, keineswegs von allen als lohnenswerte
Aufgabe gesehen wurde, da das Männliche gleichzeitig als Norm fungierte. Wenn
Differenz festgestellt wurde, so war aber auch den Forderungen nach gleichen
Zuwendungen der Boden entzogen.
. Für einen Überblick über die “Equality-of-what?”-Debatte vgl. Cohen, Gerald: Equality of
What? Welfare, Goods, and Capabilities. In: Nussbaum, Martha und Amartya Sen (Hg.):
The Quality of Life. Oxford , –.
ANNE SIEGETSLEITNER
Seit ein paar Jahren hat die Selbstverständlichkeit der egalitaristischen Sicht von
Gerechtigkeit Risse bekommen. Der Nonegalitarismus bestreitet, dass Gleichheit
ein zentrales und unabgeleitetes Ziel von Gerechtigkeit darstellt. Er versteht Ge-
rechtigkeit vielmehr wesentlich über absolute Standards. Je nachdem, welche ab-
soluten Standards das sind, ergeben sich verschiedene Varianten einer nonegali-
taristischen Gerechtigkeitskonzeption (Krebs b: f.). Ich werde weiter unten
eine humanistische Würdekonzeption vorstellen.
Der Unterschied zwischen relationalen und absoluten Standards ist folgender.
Relationale Standards zielen, wie erwähnt, auf Gleichheit. Sie funktionieren wie
eine Balkenwaage, die nur messen soll, ob die betrachteten Objekte gleich schwer
sind, aber nicht, wie schwer jedes für sich genommen ist. Absolute Standards funk-
tionieren dagegen wie eine Dezimalwaage, die messen soll, ob jedes Objekt einen
bestimmten Messwert erreicht (Krebs b: ).
Dabei kann Gleichheit im Nonegalitarismus durchaus eine Rolle spielen. Es
ist nicht ausgemacht, dass eine nonegalitaristische Gerechtigkeitsposition im End-
effekt auf weniger Gleichheit hinausläuft als eine egalitaristische. Und bei einem
Teil unserer praktischen Gerechtigkeitsforderungen wird es keinen Unterschied
machen, ob man sie über einen Rückgriff auf Gleichheit begründet oder nicht.
Man erreicht sie auf beiden Wegen. Andere Gerechtigkeitsforderungen wird man
nur auf dem egalitaristischen Weg erreichen und wieder andere nur auf dem
nonegalitaristischen Wege.
Bei diesen kontroversen Gerechtigkeitsforderungen macht es einen Unter-
schied, wo man in der Grundsatzfrage steht (Krebs b: f.). Es geht also
nicht darum, relative Standards durch absolute zu ersetzen, sondern darum, auch
absolute Standards als Gerechtigkeitsforderungen verstehen zu können. Als einen
solchen absoluten Standard betrachten einige Nonegalitarist(inn)en die Men-
schenwürde. Die Renaissance, die Begriffe wie “Menschenwürde”, “Anerkennung”
und “Bürgerschaft”/”citizenship” derzeit erleben, sieht Angelika Krebs deshalb als
ein Indiz für die kritische Abwendung vom Gleichheitsideal in der politischen
Philosophie (vgl. Krebs b, ).
. Proponent(inn)en dieser Abwendung sind u. a. Michael Walzer, Joseph Raz, Harry Frank-
furt, Claudia Card, David Miller, Derek Parfit und Elizabeth Anderson. Auch Avishai
Margalits Bestseller Politik der Würde übt dieselbe Kritik, ohne ausdrücklich auf diese aka-
demische Diskussion einzugehen.
DER MANN ALS MASS ALLER DINGE!?
Es ist keinesfalls so, dass es in der feministischen Theorie keine Versuche gegeben
hätte, aus der Gleichheit/Differenz-Sackgasse herauszukommen, und meines Er-
achtens ist ein Großteil der Debatte selbst genau dieser Versuch, aber zumindest
auf der Forderung nach einer Behandlung von Frauen “als Gleiche” wollten Fe-
minist(inn)en nicht verzichten, d.i. die Forderung, die Ansprüche von Frauen in
gleicher Weise zu berücksichtigen wie jene der Männer (vgl. Pauer-Studer :
).
Aufschlussreich für die feministische Theorie sollte in dieser Hinsicht der Hin-
weis von Seiten der Nonegalitarist(inn)en an die Egalitarist(inn)en sein, dass sie
‘Allgemeinheit’ mit ‘Gleichheit’ verwechseln. Was ist damit gemeint? Wenn etwa
gefordert werde, dass alle genug zu essen hätten und im Krankheitsfall auf me-
dizinische Grundversorgung zählen könnten, so werde damit zwar die Gleichheit
aller hinsichtlich dieser Güter gefordert, diese Gleichheit sei aber nicht das Ziel,
sondern nur das Nebenprodukt. Das Ziel sei, dass niemand unter Hunger oder
Krankheit leiden müsse. Gleichheit sitzt hier auf Allgemeinheit auf. Die Gleich-
heitsterminologie ist redundant. Es geht nichts verloren, wenn man anstelle von
“Alle Menschen sollen gleichermaßen genug zu essen haben” einfach nur sagt: “Alle
Menschen sollen genug zu essen haben”. Auch der Grundsatz formaler Gerechtig-
keit “Gleiche sollen gleich behandelt werden, Ungleiche ungleich” ist höchstens ein
Gleichheitsgrundsatz im Allgemeinheitssinne. Er fordert dazu auf, dass alle, die in
den Bereich eines Gerechtigkeitsstandards fallen (die also gleich sind darin, dass sie
in den Anwendungsbereich fallen) so, wie der Standard es vorschreibt, behandelt
werden (ihre Behandlungen sich also darin gleichen, dass sie dem Standard gemäß
erfolgen). Härter gesagt ist der Grundsatz formaler Gerechtigkeit nur ein Gleich-
heitsgrundsatz im redundanten Sinne (Krebs : ).
Bei relationalen Standards ist die Gleichheitsterminologie dagegen nicht redun-
dant. Wenn zum Beispiel alle Kinder ein gleich großes Stück Kuchen erhalten
sollen, geht es gerade darum, dass alle Kinder in der relevanten Hinsicht, der
Kuchengröße, gleich gut abschneiden sollen (Krebs : f. und Krebs
b: f.). Wenn Feminist(inn)en fordern, dass auch die Ansprüche von
Frauen berücksichtigt werden sollen, so ist hier die Gleichheitsterminologie
redundant. Sie fordern z.B. keineswegs, dass nur gleiche Ansprüche berücksich-
tigt werden sollen. Gleichheit meint hier nur Allgemeinheit, was die Forderung
nicht weniger gewichtig macht (ganz im Gegenteil, wie sich unten zeigen wird)
oder sie als eine Forderung ausweist, die nicht in den Rahmen der Gerechtigkeit
fällt, aber sie kann nicht mehr als relationaler Standard (miss-)verstanden wer-
den.
ANNE SIEGETSLEITNER
Der Vorwurf der Verwechslung von ‘Allgemeinheit’ mit ‘Gleichheit’ wird von
einer ganzen Reihe von Philosoph(inn)en erhoben, am deutlichsten von Joseph
Raz, Harry Frankfurt und Peter Westen. Sie vertreten darüber hinaus sogar die
Ansicht, dass die besonders wichtigen, elementaren Standards der Gerechtigkeit
nicht-relationaler Art sind und Gleichheit nur als Nebenprodukt ihrer Erfüllung
mit sich führen. Die elementaren Standards der Gerechtigkeit garantieren ihrer
Meinung nach allen Menschen menschenwürdige Lebensbedingungen. Wenn nun
ein Mensch unter Hunger oder Krankheit leidet, ist ihm zu helfen, weil Hunger
und Krankheit für jeden Menschen schreckliche Zustände sind, und nicht des-
wegen, weil es anderen schließlich besser geht als ihm. Ob andere Menschen auch
unter Hunger oder Krankheit leiden, ist für die Frage, was man diesem einen
Menschen schuldet, zunächst einmal nicht von Belang (Krebs : ). Das
Wort ‘zunächst’ gilt es hier zu betonen, da bei knappen Ressourcen für die Ver-
teilung ein relationaler Standard durchaus relevant werden kann.
Ein solch absoluter Standard ist, wie gesagt, beispielsweise Würde bzw. die For-
derung nach deren Achtung. Wenn Feminist(inn)en fordern, dass auch die Würde
von Frauen zu achten sei, so stellen sie keine genuine, sondern nur eine redun-
dante Gleichheitsforderung. Sie fordern nur eine Inklusion – aber diese in einer
sehr grundlegenden Hinsicht.
Viele der neuen Nonegalitarist(inn)en fordern, dass allen Menschen ein men-
schenwürdiges Leben effektiv ermöglicht wird. Ein nonegalitaristisch-humanisti-
scher Feminismus täte meines Erachtens jedoch – im Sinne eines adäquaten Ver-
ständnisses feministischer Anliegen – gut daran, auf die Menschenwürdekonzep-
tion des historischen Humanismus – namentlich der von Pico della Mirandola –
zurückzugreifen und nicht auf essenzialistische neo-aristotelische Konzeptionen.
Welche Konzeption der Würde von Menschen ist damit gemeint?
Als Ausgangspunkt schlage ich eine Konzeption aus der Renaissance vor, die ich
als ‘humanistische’ bezeichnen werde. Die Renaissance wird gemeinhin als ein
Zeitalter gesehen, in dem “der Mensch” in den Mittelpunkt tritt. Eine zentrale
. Unter Rückbezug auf die Antike wurde z.B. in der Architektur das menschliche Maß an-
gestrebt: “The architectural theories of the Early Renaissance frequently use the human
model as a paradigm of good architecture, […]. In Alberti’s De pictura, Filarete (c. –
) reads the Homo mensura-sentence of Protagoras and takes it literally, so that he
derives buildings as far as possible from the human body” (Frings ).
DER MANN ALS MASS ALLER DINGE!?
Diskussion der Renaissance war die Diskussion über die Würde (dignitas) und
das Elend (miseria) des Menschen. Sie entstand im Anschluss an Lotrio Segnis’
(Papst Innozenz III.) Traktat De contemptu mundi, seu de miseria humanae con-
ditionis (). Dieser Traktat spiegelt eine optimistisch-pessimistische Weltauf-
fassung, die den Menschen zwischen zwei Extreme stellt: zum einen Krone der
Schöpfung, zum anderen unvollkommene Kreatur (Fietze : ).
Eine der wichtigsten Konzeptionen der Menschenwürde aus dieser Zeit stammt
vom Grafen Giovanni Pico della Mirandola (–). Pico della Mirandola, der
in seiner umfassenden Ausbildung eine Fülle von Studien (kanonisches Recht, Phi-
losophie, humanistische Fächer, Hebräisch, Arabisch, Studium der Kabbala) ver-
einte, veröffentlichte seine Thesen (Conclusiones nongentae). Als Grund-
lage für einen weltweiten Gelehrtenkongress in Rom gedacht, hatten die The-
sen das Ziel, zwischen allen unterschiedlichen philosophischen und religiösen
Weltanschauungen eine grundlegende Übereinstimmung zu erweisen. Der Kon-
gress fand wegen dreizehn kirchlicherseits indizierter Thesen jedoch nicht statt;
nach Picos Apologia wurden alle als häretisch verurteilt.
Das programmatische Vorwort Oratio de hominis dignitate (Über die Würde des
Menschen) wurde jedoch berühmt (Gerl-Falkovitz : ). Dieses Vorwort, das
vor allem eine Befürwortung philosophischer und theologischer Studien ist, wird
mit einer Lobpreisung des Menschen eingeleitet. Nichts sei bewundernswürdiger
als der Mensch. Der Mensch nehme in der Schöpfung eine besondere Stellung ein.
Gott schuf, so Pico, den Menschen zuletzt und wünscht, dass er etwas Beson-
deres sei. Er gibt jedoch den Menschen keine spezifische Natur wie den übrigen
Geschöpfen. Pico della Mirandola vertritt im Unterschied zu essenzialistischen In-
terpretationen des Menschseins die Ansicht, dass das Eigentliche des Menschen
darin bestehe, nicht auf bestimmte Eigenschaften festgelegt zu sein, die Natur des
Menschen sei unbestimmt, seine Lebensentfaltung nicht präzise festgelegt. Es gibt
auch keine Hervorhebung der Vernunftnatur mit einhergehender Abwertung des
Körpers. Würde bindet bei Pico nicht, sondern gibt frei. Der Menschen Würde
beruht darauf, frei zu sein, ihre Natur selbst bestimmen zu können. Pico lässt den
Schöpfer zu Adam sagen: “Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam,
kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz,
das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem
Wunsch und Entschluß habest und besitzest. […] Du sollst dir deine [Natur] ohne
jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut
habe, selber bestimmen” (Pico della Mirandola : f.). Bei Pico hängen Würde
und Selbstbestimmung des Menschen aufs engste zusammen: Die Einzigartigkeit
der Menschen – die Grundlage ihrer Würde – besteht gerade darin, dass sie die
Freiheit haben, ihr Leben nach ihren Entwürfen zu formen.
Picos religiöse Begründung ist heute nicht mehr allen zugänglich, aber diese
radikale Interpretation der Würde aufgrund von Selbstbestimmung kommt dem
ANNE SIEGETSLEITNER
feministischen Anliegen näher als frühere, aber auch spätere Konzeptionen, und
mir geht es hier auch nicht darum, eine normative Grundlage für diese Konzep-
tion zu liefern, sondern sie darzulegen. Was Gott hier aufträgt und an Freiheiten
einräumt, klingt für viele Frauen verheißend, auch wenn Gott sich bei Pico della
Mirandola nur an Adam wendet und Eva mit keinem Wort erwähnt wird.
Wenn ich eine Formulierung der Renaissance heranziehe, so will ich damit keines-
wegs vor historischen Gegebenheiten die Augen verschließen. Das selbstbestimm-
te Menschenbild des Renaissancehumanismus richtete sich natürlich an den ver-
mögenden Edelmann, der, wenn nicht im politischen, so doch als Familienober-
haupt oder -mitglied im öffentlichen Leben stand (Fietze : ). Die zeitgenös-
sische Auseinandersetzung um die Würde der Frauen stand nicht unter der Grund-
annahme, dass ihre Bestimmung die Selbstbestimmung sei. Die Bestimmung des
Frauseins erfolgte in der Regel über die Erörterung der Vorzüge oder Mängel des
weiblichen Geschlechts, wobei die Thesen gewöhnlich mit Beispielen aus Mytho-
logie, Bibel, Literatur und Geschichte untermauert wurden (Fietze : ).
Diese berühmte Querelle des Femmes des . bis . Jahrhunderts, die – wie die
Bezeichnung verrät – zuerst in Frankreich ausgetragen wurde, dann aber auf
Deutschland und Italien übergriff, hatte die Bestimmung des Wesens der Frau zum
Gegenstand. Die Stellungnahmen von Männern wie Frauen schwankten dabei
zwischen der These, dass Frauen die besseren Menschen seien und der gehässigen
Anfrage, Ob die Weiber Menschen seyn oder nicht? (Gerl-Falkovitz : f.). Eine
Frau wie Laura Cereta (–), eine der bekanntesten und produktivsten Phi-
losophinnen der italienischen Hochrenaissance, musste sich selbstverständlich
. Im Unterschied dazu taucht Eva im berühmten Gemälde von Michelangelo in der Sixtini-
schen Kapelle “Die Erschaffung Adams”, kurz nach gemalt, auf, nämlich als junge
blonde Frau in den Armen des vollbärtigen, altväterlichen Gottes.
. Eine ausgezeichnete Textauswahl in dt. Übersetzungen bietet dazu Elisabeth Gössmann
(Hg.), Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung, Bde., München
ff.
. Berühmt wurde Cereta durch ihre Schmähschriften zur Verteidigung der Frauenbildung.
Allein fünf Briefe (von über ) widmete sie dieser Thematik. In einem Brief an Bibulus
Sempronius, ein erfundener Name, der soviel wie ‘ewiger Trunkenbold’ bedeutet, entdeckt
sie in der verlogenen Schmeichelei der Männer eine Herablassung ihres Geschlechts. Bibu-
lus vergleicht sie mit den gelehrtesten Männern ihrer Zeit und bezeichnet ihre Gelehr-
samkeit als einzigartig. Dieses Lob empfand Cereta als Beleidigung. Sie wirft ihm vor, ihr
Geschlecht zu hassen und zu versuchen, es aus dem Hinterhalt anzugreifen und herunter-
zusetzen (Meyer : ): “Du gibst vor mich als weibliches Wunder zu verehren, aber es
lauert versüßter Betrug in Deiner Schmeichelei. Du wartest fortwährend im Hinterhalt, um
DER MANN ALS MASS ALLER DINGE!?
gegen den Vorwurf, sie gebe ihres Vaters Werk als das eigene aus, verteidigen.
Schon die erste Frau, von der bekannt ist, dass sie mit Schreiben ihren Lebens-
unterhalt verdiente, Christine de Pizan (–ca.), musste sich die Frage nach
der Authentizität ihrer Werke gefallen lassen, da solche Werke nicht von weibli-
cher Intelligenz geschaffen worden sein könnten. Frauen mussten sich zwischen
einem typischen Frauenleben und dem Leben eines denkenden Menschen ent-
scheiden. Es gab keine gesellschaftlich anerkannte Rolle, die es einer Frau erlaub-
te, “normal” als Frau zu leben und gleichzeitig intellektuellen Interessen nachzu-
gehen (Lerner : ). Soweit zur tatsächlichen Ausgestaltung der Lebenswelt
von Frauen in der Renaissance.
mein liebliches Geschlecht zu verletzen und durch Deinen Haß zu besiegen, versuchst mich
zu Boden zu trampeln und wirfst mich auf die Erde. Es ist eine raffinierte Masche, aber nur
ein niedriger und gemeiner Geist würde denken, man kann Medusa mit Honig aufhalten”
(Cereta : ). Die geringere Zahl gelehrter Frauen gegenüber der der Männer erklärt sie
damit, dass sich Frauen häufiger gegen Bildung und für ein Leben in Äußerlichkeiten ent-
scheiden würden: “Frauen sind von Natur aus in der Lage, außergewöhnlich zu sein, aber sie
haben geringere Ziele gewählt. Denn einige Frauen interessieren sich mehr für ihre korrekt
geteilten Haare, schmücken sich selbst mit hübschen Kleidern oder verzieren ihre Finger mit
Perlen und anderen Gemmen. Andere erfreuen sich daran, sorgfältig komponierte Phrasen
in den Mund zu nehmen, sich dem Tanz hinzugeben oder verwöhnte Kinder zu beaufsichti-
gen (Cereta : ). Sogar ihre Geschlechtsgenossinnen diffamierten sie, was Cereta be-
sonders verärgerte. In einem äußerst aggressiven Brief an Lucilia Vernacula, was soviel wie
‘gemeiner Sklave’ bedeutet, richtete sie sich gegen dumme Frauen, die gebildete Frauen her-
absetzen. Diese Frauen verunglimpfen nicht nur sich selbst, sondern ihr ganzes Geschlecht:
“Ihre geistige Untätigkeit macht diese tobenden Frauen rasend oder eher zu Megären, die es
nicht einmal ertragen können, den Namen einer gelehrten Frau zu hören” (Cereta : ).
. Vom . bis . Jahrhundert versuchten viele britische Schriftstellerinnen, solchen Beschul-
digungen vorzubeugen, indem sie männliche Autoritäten bestätigen ließen, dass sie ihre
Werke selbst verfasst hätten (Lerner : ), oder indem sie unter männlichen Pseudony-
men oder unter dem Namen von Mitverfassern (so beispielsweise im Falle von Harriet Taylor
Mill und ihrem Mann John Stuart Mill) veröffentlichten.
. Vgl. Fietze (: ). Sofern sich die humanistischen Erziehungstraktate zum Frauenstu-
dium äußern, sehen sie für Frauen ein Bildungsprogramm vor, das ein Ausschnitt aus dem
allgemein – für Männer – verbindlichen humanistischen Gesamtstudium ist. Schranke und
Ziel weiblicher Wissbegierde war die Sittlichkeit. Eine gelehrte Frau hatte in erster Linie
Christin zu sein. Ruhm und Nutzen ihrer Ausbildung waren daher, was ihrer Selbstwer-
dung im Rahmen christlicher Ethik frommte. Umgekehrt wurde das Studium der Frauen
ANNE SIEGETSLEITNER
ferte einen Begriff von Würde, der nicht geschlechtsspezifisch gefüllt werden kann,
insofern verschiedenen Geschlechtern geschlechtsspezifische Normen vorgegeben
werden, welche Eigenschaften sie auszubilden hätten. Weder Männer noch Frauen
werden auf die Ausbildung bestimmter Eigenschaften verpflichtet. Es wird den
Frauen weder “der Mann” noch “die Frau”, ja nicht einmal “der Mensch” als Maß
vorgegeben. Ebensolches gilt für Männer. Auch sie werden einer normierten
Männlichkeit enthoben. Niemand kann aus dem Anwendungsbereich der Forde-
rung nach Achtung seiner Würde fallen, weil er bestimmten Vorstellungen des
menschlichen Lebens nicht entspricht, und die Würde achten heißt in dieser Kon-
zeption, Selbstbestimmung zu achten. Die Forderung nach Achtung der Selbstbe-
stimmung ist eine klare Absage an Unterdrückung, deren Überwindung die
Grundforderung der feministischen Bewegung ist, nicht Gleichheit in einem rela-
tionalen Sinn oder gar Angleichung an normierte männliche Lebensmuster.
Damit sind noch viele Fragen offen, die ich hier nicht werde klären können,
aber es lassen sich mit dieser humanistischen Konzeption Fallen vermeiden, in
die viele Feminist(inn)en und deren Gegner(innen) getappt sind, wenn sie ihr
Anliegen als eine Dichotomie von Gleichheit/Differenz sehen (was keineswegs
alle getan haben). Und es ist durchaus naheliegend, dass mit dieser Konzeption
eine Achtung von Würde in vielerlei Hinsicht Gleichheit als Nebenprodukt for-
dert. Geht mit einer Forderung der Achtung von Selbstbestimmung nicht die
Forderung von gleichen Bildungschancen einher, nach gleichem Wahlrecht, nach
gleicher finanzieller Grundversorgung, nach gleichem politischen, gesellschaft-
lichen und wirtschaftlichen Einfluss? So weist Angelika Krebs darauf hin, dass
große Unterschiede zwischen Arm und Reich das Grundrecht eines Teils der Bür-
ger(innen) auf politische Autonomie untergraben können (Krebs : ).
Gleichheit kann auch in einer nonegalitaristischen Gerechtigkeitskonzeption als
Mittel zum Zweck, als Weg zum Ziel, als Teil des Ganzen geboten sein, aber eben
nicht als Selbstzweck.
Für Feminist(inn)en, die den humanistischen Würdebegriff vertreten, ist es al-
les andere als offensichtlich, dass sich Frauen im freien Entwurf ihres Charakters
und ihrer Projekte und den ihnen spezifischen Umständen an Männer angleichen
sollen. Sie wollen wie Gleichheitsfeminist(inn)en, dass auch die Würde von Frau-
en geachtet wird, betonen aber, dass dies in wesentlichen Bereichen eben nicht die
Forderung nach Gleichheit bedeutet, wohingegen Gleichheitsfeminist(inn)en jene
Bereiche betonen, wo die Achtung der Selbstbestimmung von Frauen ihrer Über-
zeugung nach Gleichheit fordert. Feminist(inn)en, die den humanistischen Wür-
wiederum mit der Ausbildung zur Sittlichkeit gerechtfertigt. Die Aussparung der (natur-)wis-
senschaftlichen Bildung für humanistische Frauen war damit verbunden ein zwangsläufiger
Verzicht, für Männer ein freiwilliger (Fietze : f.).
DER MANN ALS MASS ALLER DINGE!?
. Feministische Ansatzpunkte in
nonegalitaristischen Gerechtigkeitskonzeptionen
kann Menschen als bloße Objekte betrachten, als Tiere, als Nummern, als Kin-
der, die nicht erwachsen werden können, und als Untermenschen. Manifestatio-
nen von Ungleichheit können paradigmatische Fälle solcher Demütigung sein,
nicht jede Ungleichheit ist jedoch demütigend. Margalit stellt sogar fest, dass auch
Gleichbehandlung demütigend sein kann (Margalit : ff.). Demütigend ist
für Margalit jedenfalls der Ausschluss aus der Staatsgemeinschaft, inklusive ihrer
Abstemplung zu Bürger(inne)n zweiter Klasse, wie dies bis vor kurzem in einigen
Kantonen der Schweiz durch die Vorenthaltung des Wahlrechts für Frauen der
Fall gewesen sei (Margalit : ). Gleiche Staatsbürgerschaft umfasse nicht nur
politische und legale Rechte, sondern auch soziale Rechte: z.B. die Heilung bei
Krankheit oder die Behebung sozial ausschließender Armut (Margalit :
Kap. ). Ebenso vertritt er die Meinung, dass eine Gesellschaft wie Deutschland
oder die Vereinigten Staaten heute das Label “anständige Gesellschaft” nur ver-
dient, wenn sie das Recht auf Arbeit verwirklicht. Der Grund ist, “daß Menschen
ihre Arbeit für wertvoll halten, wenn sie aus eigenen Kräften, ohne von anderen
abhängig zu sein, für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Durch ihre Arbeit
erlangen Menschen Autonomie und jene ökonomische Staatsbürgerschaft, durch
die sie ihre Menschenwürde wahren können” (Margalit : ). Diese These ist
kultur- und zeitabhängig, denn eine anständige Gesellschaft kann eine Arbeits-
gesellschaft sein, sie muss dies aber nicht. Wenn eine Gesellschaft jedoch eine
Arbeitsgesellschaft ist, dann muss sie das Recht auf Arbeit verwirklichen. Kein
Mensch soll bei Margalit durch soziale Marginalisierung oder das Verbot, seine
Besonderheit zu leben, gedemütigt werden (Krebs : ff .). So weit lässt sich
Margalits Konzeption mit dem humanistischen Würdebegriff in Einklang brin-
gen, auch wenn Geschlechtergerechtigkeit in Politik der Würde kaum Erwähnung
findet.
Harry Frankfurt, ein weiterer Proponent einer nonegalitaristischen Gerechtig-
keitskonzeption, hebt hervor, dass, wer auf Gleichbehandlung zielt, seine Forde-
rungen auf der Grundlage dessen berechnet, was andere besitzen, statt auf der Basis
dessen, was mit seinen eigenen Lebensumständen übereinstimmt und am besten
zu seinen eigenen Interessen und Bedürfnissen passt. Das Verlangen nach Gleich-
heit neigt dazu, Menschen von sich zu entfremden, von sich selbst zu entfernen.
Es verleitet sie dazu, ihre Projekte in Begriffen zu definieren, die nicht durch die
spezifischen Anforderungen des eigenen Wesens und der eigenen Umstände ge-
prägt sind. Es hält von der Einsicht fern, dass wahrhaft authentische Projekte sol-
che sind, die ihren Ursprung im Charakter des eigenen Lebens haben und nicht
solche, die ihnen durch die Bedingungen, unter denen andere kontingenterweise
leben, aufgezwungen werden (Frankfurt : ). In dieser Sichtweise können sich
nicht nur Differenzfeminist(inn)en wiederfinden, die befürchten, dass eine An-
gleichung von Frauen an Männer um der Gleichheit willen, Frauen von sich ent-
fremdet, sondern auch Vertreter(innen) eines humanistischen Würdefeminismus,
DER MANN ALS MASS ALLER DINGE!?
die in diesem Zielen auf Gleichheit um der Gleichheit willen keinen Weg sehen,
auf dem Frauen zu einem selbstbestimmten Leben gelangen.
Die wissenschaftliche Verteidigung der Gleichheit wieder an die Praxis politi-
scher Gleichheitsbewegungen heranzuführen, ist ein zentrales Anliegen von Eliza-
beth S.Anderson. Waren doch die typischen Nutznießer egalitaristischer Fürsorge
dumme, untalentierte und verbitterte Menschen geworden. Was ist aus den Be-
langen der politisch Unterdrückten geworden? Was ist mit den Ungleichheiten der
Rasse, des Geschlechts, der Klasse oder der Kaste geschehen? Was ist hier schief
gegangen? Ihrer Meinung nach rührt dieses Problem von einem fehlerhaften Ver-
ständnis des Gleichheitsgesichtspunktes her (Anderson : f.). Was sie wie-
derzugewinnen versucht, ist ein “demokratischer Egalitarismus”, der trotz des ir-
reführenden Namens eine nonegalitaristische Alternative darstellt (Krebs b:
). Worum es darin gehe, ist, eine Gemeinschaft zu schaffen, in der sich Men-
schen als Gleiche begegnen. Diese Theorie garantiert allen gesetzestreuen Bür-
ger(inne)n jederzeit einen effektiven Zugang zu den sozialen Bedingungen ihrer
Freiheit (Anderson , f.). Für diese in ihren Augen angemessenere Be-
stimmung des Standpunkts der Gleichheit findet sie es hilfreich, sich die Ziele
historischer politischer Gleichheitsbewegungen in Erinnerung zu rufen. Un-
gleichheit war in der Vergangenheit nicht so sehr eine Folge der Güterverteilung
als der Beziehungen zwischen übergeordneten und untergeordneten Personen.
Und sie verweist auf Iris Young, die Marginalisierung, Statushierarchie, Vorherr-
schaft, Ausbeutung und Kulturimperialismus als die Gesichter der Unterdrückung
beschrieben hat. Politische Gleichheitsbewegungen lehnen solche Hierarchien
ab. Negativ gesprochen, versuchen sie, Unterdrückung abzuschaffen. Güter seien
nach Prinzipien und Verfahren zu verteilen, die die Würde jedes Menschen re-
spektieren (Anderson : ff .).
Andersons Gerechtigkeitskonzeption ist also klar eine Würde-Konzeption. Aber
ist sie auch eine humanistische Konzeption? Nach Anderson ist die Herstellung
gleicher Beziehungen die soziale Bedingung für ein freies Leben. Gleiche sind nicht
der willkürlichen Gewalt oder dem physischen Zwang anderer ausgesetzt. Glei-
che werden nicht von anderen marginalisiert. Gleiche sind nicht der Herrschaft
anderer unterworfen. Ihr eigener Wille bestimmt ihr Leben – und genau das sei
Freiheit. Gleiche werden nicht von anderen ausgebeutet. Gleiche sind nicht Opfer
des Kulturimperialismus. Dabei wird aber nicht übersehen, dass Menschen meis-
tens Dinge wollen, die eine Teilnahme an sozialen Aktivitäten einschließt. Die
libertäre Konzeption, dass, sofern die materiellen Mittel und die inneren Fähig-
keiten vorhanden sind, die Nicht-Einmischung anderer zur Erreichung der eige-
nen Ziele genüge, wird zurückgewiesen (Anderson : f.). Würde wird hier
also als Freiheit und Selbstbestimmung definiert. Grundvoraussetzung mensch-
licher Handlungsfähigkeit ist die effektive Verfügung über Mittel, die für den Er-
halt der eigenen biologischen Existenz notwendig ist – Ernährung, Unterkunft,
ANNE SIEGETSLEITNER
Kleidung, medizinische Versorgung. Aber auch das Wissen um die eigenen Um-
stände und Wahlmöglichkeiten, die Fähigkeit, Mittel und Zwecke abzuwägen,
die psychologischen Mittel zu selbständigem Denken und Urteilen, die Freiheit
des Denkens und die freie Ortswahl sind Bedingungen für diese fundamentale
Selbstbestimmung (Anderson : ).
Politische Gleichheitsbewegungen hätten die Vielfalt dieser Themen auch nie
aus den Augen verloren. Feministinnen beispielsweise arbeiten daran, innere Bar-
rieren – Selbstverleugnung, Mangel an Selbstvertrauen, geringes Selbstwertge-
fühl –, die Frauen wegen ihrer Internalisierung bestimmter Normen der Weib-
lichkeit bei Entscheidungen oft im Wege stehen, abzubauen (Anderson : ).
Statt die Verschiedenheit menschlicher Talente zu beklagen, eröffnet diese Kon-
zeption eine Perspektive, aus der die menschliche Vielfalt als Vorteil für alle be-
trachtet und zum Vorteil aller genutzt werden kann (Anderson : ). Damit
bietet auch Anderson einen klaren Ansatzpunkt für feministisch-nonegalitaris-
tische Gerechtigkeitskonzeptionen, die auf dem humanistischen Würdeverständ-
nis aufbauen.
. Schlussbemerkungen
Das feministische Grundanliegen lässt sich, das sollten diese Ausführungen zeigen,
adäquater in einer nonegalitaristischen Gerechtigkeitskonzeption fassen als in einer
egalitaristischen. Vorgeschlagen habe ich dabei einen absoluten Standard der Wür-
de, der wie bei Pico della Mirandola Würde aufs engste mit Selbstbestimmung
verbindet. Weder Mann noch Frau, noch der Mensch werden dabei in einem
essenzialistischen Sinne zum Maß, sondern die Achtung von Selbstbestimmung.
Dass sich daraus viele Gleichheitsforderungen als Nebenprodukt ergeben, liegt
nahe. Hier ist für eine feministische Gerechtigkeitskonzeption die neue “Why-
Equality?”-Debatte hilf- und lehrreich. Feminist(inn)en wollen nicht, dass Frauen
so werden müssen, wie es Männern heute vorgegeben wird, sondern sie fordern
für Frauen Selbstbestimmung und ein Ende der Unterdrückung, die Achtung ihrer
Würde. Deshalb geht es ihnen auch nicht darum, alle Frauen in allen Lebensbe-
langen gegenüber allen Männern als benachteiligt darzustellen. Viele Frauen wer-
den ausreichend mit Brot und Spielen versorgt, obwohl ihnen aus dieser Sicht die
Achtung ihrer Würde vorenthalten wird. Aber auch für nonegalitaristische Ge-
rechtigkeitsansätze lässt sich aus der feministischen Diskussion vieles lernen (wobei
einiges dafür spricht, dass es sich entstehungsgeschichtlich bereits so verhalten hat).
Es hat sich ein großes Feld für fruchtbaren Austausch entwickelt. Vielleicht führt
die “Why-Equality?”-Debatte bald zu einer gemeinsamen “Where-Equality?”-
Debatte.
DER MANN ALS MASS ALLER DINGE!?
LITERATUR
PERSONENREGISTER
Rupprecht Düll, geb. in Küstrin. Studium der Elektrotechnik in Weimar (Ing.). Nach dem Mi-
litärdienst Tätigkeit in einem Entwicklungslabor der Siemenswerke in Berlin sowie nach dem Krieg
in leitender Position im Elektrogeräte-Werk Siemens in Traunreut, Oberbayern. Daneben fotogra-
fische, künstlerische und philosophische Interessen sowie Engagement für Europa-Idee und Espe-
ranto. Gründung des “Archivs für Heimat- und Familienforschung”, Traunreut. Buchveröffent-
lichungen: Zur Regulation der “Harmonia”. Der Regelkreis als Modell ganzheitlicher Organisation unter
dem Aspekt des Bewußtseins (), Die Sonnenspur. Gedichte (), Auf den Flügeln der Verse. Gedich-
te () sowie Geboren in Küstrin. Das Leben in einer versunkenen Stadt ().
KURZBIOGRAPHIEN
Georges Goedert, geb. in Luxemburg. Studien in Luxemburg, Paris, München und Nancy. Pro-
motion an der Universität Nancy II über Nietzsche. Lehrer am Athenäum und Professor für Sozial-
philosophie und Philosophie der Politik am Centre Universitaire in Luxemburg. Mehrmals Gast-
professor an der Universität Salzburg. Derzeit noch Lehrbeauftragter an der Universität Metz. Zwei-
sprachiger Autor. Mitherausgeber der Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch (Amsterdam–New
York). Arbeiten über H. Bergson, A. Camus, K. Jaspers, M.Buber, Schopenhauer und speziell F.
Nietzsche, darunter die Bücher: Nietzsche, critique des valeurs chrétiennes (), Nietzsche, der Über-
winder Schopenhauers und des Mitleids (), Nietzsche — Disciple de Dionysos ().
Johannes C.Huber, geb., Doktorate in Medizin und Theologie. – persönlicher Sekretär
von Kardinal F.König, – Facharztausbildung für Gynäkologie und Geburtshilfe am Wiener
Kaiser-Franz-Josef-Spital, Habilitation. O. Univ.-Prof. und Leiter der klinischen Abteilung für
gynäkologische Endokrinologie und Sterilitätsbehandlung an der Universitätsklinik für Frauenheil-
kunde des AKH Wien, Leiter der Hormon- und der Kinderwunschambulanz. Forschungsschwer-
punkte: Retortenbefruchtung, Pränataldiagnostik, Endokrinologie. Buchveröffentlichungen (Aus-
wahl): Menschen “machen” (), Die Hormontherapie (), Im Bannkreis der Sphinx (), Län-
ger leben – später altern (), Geheimakte Leben. Wie die Biomedizin unser Leben und unsere Welt-
sicht verändert (), Abschied von der Steinzeitmoral. Chancen der Biomedizin (Hg. ) und
Grundlagen der Altersprävention ().
Eva Lidauer, geb. in Salzburg, Univ.-Ass. für Klass.Philologie an der Universität Salzburg.
Mag.phil. in den Fächern Griechisch und Latein; Dr.phil. in Griechisch mit der Dissertation
“Charakterisierung durch Sprache. Die Funktion von sprachlichen Bildern, Sprichwörtern und Zita-
ten in Dialogen Platons” (Buchausg. im Ersch.); Abschluss des Lehramtsstudiums Italienisch.
Forschungsinteressen: griech.Tragödie, Mythos und Religion, antike Ethik, sokratisch-platonisches
Philosophieren, Parömiologie und Symbolik, Nachwirkung der klassischen Antike. Weitere Publika-
tion: “Das Labyrinth als Symbol in Platons Philosophie”, in: Classica Cracoviensia ().
KURZBIOGRAPHIEN
Hans Mohr, Prof. Dr.rer.nat. Dr.h.c.mult., geb. in Altburg/Schwarzwald, Studium der Bio-
logie (Physik und Philosophie), Promotion ; anschließend Stipendiat in den USA. Von bis
zur Emeritierung o. Professor für Biologie an der Universität Freiburg i.Br. Gastprofessuren
in den USA (University of Massachusetts). Von bis Mitglied des Vorstands der Akademie
für Technikfolgenabschätzung in Stuttgart. Forschungsschwerpunkte betreffen u.a. die molekularen
Grundlagen der Entwicklung sowie Biologische Signalreaktionsketten. Buchveröffentlichungen (Aus-
wahl): Wissenschaft und menschliche Existenz (), Structure and Significance of Science (),
Biologische Erkenntnis (), Natur und Moral (), Lehrbuch der Pflanzenphysiologie (Mitverf.
), Biotechnologie – Gentechnik. Eine Chance für neue Industrien (MHg., ), Spannungsfeld
Energie – Probleme und Perspektiven (Hg. ), Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis
(), Wissen – Prinzip und Ressource ().
Peter Daniel Moser, Mag. Dr. iur., geb., ehemaliger Lehrbeauftragter am Institut für Grund-
lagenwissenschaften der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Paris-Lodron-Universität Salzburg
mit dem Schwerpunkt Antike Rechtsphilosophie. Wichtigste Veröffentlichung: Heraklits Kampf ums
Recht. Ein antiker Beitrag zur Rechtsphilosophie (); daneben zahlreiche weitere Arbeiten zu rechts-
und musikwissenschaftlichen Themen.
Otto Neumaier, geb. in Dornbirn, Studium der Philosophie und Germanistik in Innsbruck, seit
am Institut für Philosophie der Universität Salzburg. Arbeitsschwerpunkte: Ethik, Ästhetik und
Philosophische Anthropologie. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Biologische und soziale Voraus-
setzungen der Sprachkompetenz (), Wissen und Gewissen (Hg., ), Wozu Künstliche Intelli-
genz? (MHg., ), Angewandte Ethik im Spannungsfeld von Ökologie und Ökonomie (Hg., ),
Vom Ende der Kunst (), Anfang und Ende des Lebens (MHg., ), Applied Ethics in a Troubled
World (MHg., ), Ästhetische Gegenstände (), Satz und Sachverhalt (Hg., ) und Philoso-
phie im Geiste Bolzanos (MHg., ). Mitherausgeber der Zeitschriften Conceptus und Frame.
Gregor Paul ist apl.Professor für Philosophie an der Universität Karlsruhe, Wissenschaftlicher Bera-
ter des Hauses der Japanischen Kultur in Düsseldorf und Präsident der Deutschen China-Gesell-
schaft. Lektorate und Gastprofessuren in Japan und China. Wichtigste Veröffentlichungen: Der
Mythos von der modernen Kunst (), Mythos, Philosophie und Rationalität (), Philosophie in
Japan (), Philosophische Ästhetik () und Konfuzius ().
Clemens Sedmak, geb., Professor für Erkenntnistheorie und Religionsphilosophie an der Uni-
versität Salzburg; Publikationen: Monographien, zuletzt Kleine Verteidigung der Philosophie ()
und Theologie in nachtheologischer Zeit (), Herausgabe von Sammelbänden: Was ist gute Theo-
logie? () Der Mensch – ein animal rationale? (, gem. mit H.Schmidinger); ca. Artikel,
zuletzt: Weltbild und Wissenschaft. In: Mohrs, T./Roser, A./Salehi, D. (Hg.), Die Wiederkehr des
Idealismus? FS W. Lütterfelds ().
KURZBIOGRAPHIEN
Anne Siegetsleitner, geb. , studierte Philosophie, Pädagogik, Psychologie und Deutsche Philo-
logie in Salzburg. Studien- und Lehraufenthalte in Fribourg, Zürich und Irvine/Kalifornien. Pro-
motion in Philosophie an der Universität Salzburg mit einer Arbeit aus dem Gebiet der Computer-
ethik. Im Anschluss daran Koordinatorin des Forschungsinstituts für Angewandte Ethik an der Uni-
versität Salzburg und wissenschaftliche Mitarbeiterin am dort angesiedelten FWF-Projekt über Pri-
vatsphäre und Internet. Seit Juni wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Angewand-
te Ethik der Universität Jena und Mitarbeit an einem DFG-Projekt über die Ethik Moritz Schlicks.
Buchpublikation: E-Mail im Internet und Privatheitsrechte (). Weitere Publikationen und Lehre
über Feministische Ethik, Cyberethik und Geschichte der Philosophie.
Jean-Claude Wolf, geb. in Davos/Schweiz, Studium der Philosophie und der Literaturwissen-
schaften an den Universitäten Zürich, Bern und Heidelberg. Seit Ordinarius für Ethik und
politische Philosophie an der Universität Freiburg. Arbeitsgebiete: Angewandte Ethik, Rechts-
philosophie, Utilitarismus, Liberalismus, Philosophie des .Jahrhunderts und zeitgenössische Philo-
sophie. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Verhütung oder Vergeltung? Einführung in ethische Straf-
theorien (), Tierethik. Neue Perspektiven für Menschen und Tiere (), Utilitarismus, Pragmatis-
mus und kollektive Verantwortung (), Freiheit – Analyse, Bewertung (), Analytische Moral-
philosophie (; gem. mit P.Schaber), Das Böse als ethische Kategorie (), Ethik und politische
Philosophie ohne Gewissheit (), Zarathustras Schatten - Studien zu Nietzsche ().
Gerhard Zecha, geb. in Innsbruck, Studium der Pädagogik, Philosophie und Psychologie an
den Universitäten in Innsbruck und Salzburg; – Alexander von Humboldt-Forschungs-
stipendiat an der Universität Konstanz; Habilitation an der Universität Salzburg; Ao.Prof.
am Institut für Philosophie der Universität Salzburg, seit Leiter der Abteilung für Wissenschafts-
theorie der Geisteswissenschaften am Internationalen Forschungszentrum für Grundfragen der Wis-
senschaften Salzburg, seit Univ.-Prof. für Philosophie an der Universität Salzburg. Hauptarbeits-
gebiete sind Ethik und Wertphilosophie, Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften, Philoso-
phie der Erziehung sowie Didaktik der Philosophie. Zahlreiche Aufsätze, dazu u.a. Herausgeber von
Critical Rationalism and Educational Discourse (), Mitherausgeber von Das Spiel mit der Antike
() sowie von Rationalität und Angewandte Ethik ().