Sie sind auf Seite 1von 2

22.01.2022: Ostmoderne Formensprache (Tageszeitung junge Welt) 21.01.

22, 19:48

Ostmoderne Formensprache
Dem Abriss ein Ende: Ein Band zur Architektur der DDR bietet
Hilfestellung für ihren denkmalpflegerischen Erhalt

Martin Küpper

Das Leitbild der europäischen Stadt erlebte in den 90er Jahren Hochkonjunktur. Auf Tagungen, in
Publikationen und in Programmen breitete sich der Begri! »europäische Stadt« inflationär aus. Für
den Denkmalschutz bedeutete das meist den Erhalt der Gebäude zwischen dem Beginn und dem
Ende des Deutschen Kaiserreichs, für die Stadtplanung die Orientierung auf Mischnutzung,
Quartiersentwicklung und Innenstadtausbau. Scharf umrissen wurde der Begri! nie, als schillernde
Metapher evoziert er Emotionen, die sich mit der weitverbreiteten Vorliebe für Altbauwohnungen
vergleichen lässt.

Er war jedenfalls das Gegenstück zur funktionalistischen Moderne der 20er Jahre, korrespondierte
mit der Delegitimierung der DDR, bei welcher die Bandbreite von der Zerstörung bis zur
Gleichgültigkeit gegenüber deren gebauten Erzeugnissen reichte. Im Feld dieser Geringschätzung
wuchs aber auch das Interesse an der sogenannten Nachkriegsmoderne in Ost und West. Akteure wie
das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz, lokale Initiativen, Künstler und Architekten
initiierten zu Beginn des neuen Jahrtausends einen Prozess der Wiederaneignung ostdeutscher
Architektur, die mittlerweile in bau- und kunstgeschichtlicher Forschung, der Populärkultur sowie in
der Praxis der Denkmalpflege einen regen Niederschlag findet und als Interesse an der »Ostmoderne«
firmiert.

Ein Sammelband zieht nun eine erste Bilanz und widmet sich den Facetten der modernen Architektur
in gestalterischer, konstruktiver und denkmalpflegerischer Hinsicht. Verständlich, äußerst sachlich
und reich bebildert, führt der Band in die Besonderheiten der modernen Architektur der DDR nach
der kurzen Phase der nationalen Bautradition, ihren Städtebau und ihre Bauweisen wie Großtafelbau
(vulgo Plattenbauweise) ein. Dabei wird deutlich, dass nicht nur die Ausnahmen wie die Karl-Marx-
Allee in Berlin ihre berechtigte Aufmerksamkeit verdienen, sondern auch die verbreiteten, durch
Typisierung und Vorfabrikation charakterisierten Architekturen.

Die Gesamtschau zeigt, dass die Baukultur der DDR – so der Bauforscher und Architekturhistoriker
Roman Hillmann – eine Skala darstellte, die von einer an Einfachheit orientierten Formensprache bis
zu einer künstlerisch und symbolisch aufgeladenen Eigenwilligkeit reichte. Letzteres ist vor allem
repräsentiert durch die immensen Aufwendungen für baubezogene Kunst oder besondere
Gesellscha"sbauten wie Theater, Museen oder Mahn- und Gedenkstätten. Dieses Changieren

https://www.jungewelt.de/artikel/print.php?id=419067 Seite 1 von 2


22.01.2022: Ostmoderne Formensprache (Tageszeitung junge Welt) 21.01.22, 19:48

zwischen Architektur als Kunst und Architektur als Raum für gesellscha"liche Praxis fand sich auch in
der Theoriebildung wieder. Die damit verbundene Vielfalt und Polarität der Zugänge und Entwürfe
wird zwar genannt, aber nicht in ihren Besonderheiten eingehend analysiert. Voreilig werden die
Kunsttheorie des Sozialistischen Realismus und die philosophische Widerspiegelungstheorie als
Propagandaphrasen abgetan.

Ziel des Bandes ist es – und das macht seinen praktischen Wert aus –, die Kriterienfindung für die
»denkmalschützerische Gestaltung« anzustoßen. Dafür werden die Architektur und der Städtebau
neben ihrer künstlerischen Bedeutung auch als »historische Belege soziokultureller Entwicklungen«
begri!en. Im zweiten Teil werden daher, neben einem historischen Abriss der Entwicklung der
Denkmalpflege vor und nach ’89, anhand von konkreten Objekten und Ensembles Vorschläge für die
Inventarisations- und Pflegepraxis unterbreitet. Durch die Zusammenarbeit von
Landesdenkmalämtern, aber auch externen Spezialisten und Institutionen gilt es, ein »genaueres Bild
des Bauens in der DDR« zu vermitteln und somit der »empfindlich einschneidenden Abriss- und
Sanierungsperioden der letzten drei Jahrzehnte« mittels einer »ausgewogenen und repräsentativen
Denkmalliste« ein Ende zu bereiten. Die Liste der möglichen denkmalwürdigen Objekte umfasst dabei
Typenbauten im Wohnungs- und Gesellscha"sbau, städtebauliche Ensembles sowie besondere
Industriebauten und -kons​truktionen. Das Plädoyer der Autoren ist eindeutig: Es darf nicht mehr
lange gezögert werden, wenn »zwischenzeitlich nicht noch mehr längst erkennbare Werte«
verlorengehen sollten.

Wüstenrot-Sti"ung, Roman Hillmann (Hg.): Moderne Architektur der DDR. Gestaltung, Konstruktion,
Denkmalpflege. Spector-Books, Leipzig 2021, 324 Seiten, 28 Euro

https://www.jungewelt.de/artikel/419067.architektur-ostmoderne-formensprache.html

https://www.jungewelt.de/artikel/print.php?id=419067 Seite 2 von 2

Das könnte Ihnen auch gefallen