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Interkulturelle Gegenwartsliteratur:

Migrationsliteratur, Postkoloniale Literatur, Fluchtliteratur,


Postmigrantische Literatur
Gliederung

• Grundbegriffe und Methodik der „Interkulturellen Literaturwissenschaft“


• Postkoloniale Studien
• Von der Migrationsliteratur zur postmigrantischen Literatur
• Migrationsliteratur, Postkoloniale Literatur, Fluchtliteratur, Postmigrantische Literatur
• Migrationsliteratur I:Emine Sevgi Özdamar – Die Brücke vom Goldenen Horn (1997)
• Migrationsliteratur II: Zafer Şenocak – Lyrik
• Postkoloniale Literatur I: Uwe Timm: Morenga (1978)
• Postkoloniale Literatur II: Iliya Trojanow: Der Weltensammler (2008)
• Fluchtliteratur: Abbas Khider: Der falsche Inder (2013)
• Postmigrantische Literatur I: Mithu Sanyal: Identitti (2021)
• Postmigrantische Literatur II: Fatma Aydemir: Dschinns (2022)
• Aktuelle Texte der postmigrantischen Literatur
Einleitung

• Vorstellung des Paradigmas der „Interkulturellen Literaturwissenschaft“


• Bedeutung der Inszenierung kultureller Differenzen in der Literatur
• Mögliche Bezüge: Reiseliteratur, „Orient“ in der deutschsprachigen Literatur, Interkulturalität in der
Weimarer Klassik usw.
• Entwicklung des Paradigmas anlässlich einer Veränderung der deutschsprachigen Literatur durch die
Arbeitsmigration seit den 1960er Jahren; deutsch-türkischen Literatur usw.
• Ausbildung einer „Postkokonialen Literatur“ als Reflexion der deutschen Kolonialgeschichte
• „Fluchtliteratur“: Literatur von Menschen, die nach Deutschland geflogen sind
• „Postmigrantische Literatur“: Literatur einer Gesellschaft, die durch die Migration geprägt ist und die dabei
einen neuen Blick auf Migration entwickelt (Migration nicht mehr als Ausnahme, sondern als Grundtatsache
der Gesellschaft)
Interkulturalität/Postkoloniale Studien
Grundbegriffe der Interkulturellen Literaturwissenschaft

„Interkulturalität“:
• „Kultur": alles, was der Mensch bzw. menschliche Gemeinschaften hervorbringen, was für sie Bedeutung
hat; also Sitten und Gebräuche, Formen der ökonomischen Produktion, Architektur usw., aber auch Sprache,
Kunst und Literatur;
• nach Vorstellung des 19. Jahrhunderts gebunden an Nationen, daher der Plural „Kulturen“;
• Grundlage interkultureller Begegnungen ist die Erfahrung von Diversität/Vielfalt und in dieser Erfahrung
definiert jeder Einzelne Eigenes und Fremdes
• in der jeweiligen interkulturellen Begegnung werden somit bestimmte Differenzen als relevant identifiziert
und gegebenenfalls mit Eigenschaften eines Kollektivs/einer Gruppe verbunden
• Grundlegend ist aber die Erfahrung von Vielfalt/Mischung/Hybridität: es gibt keine „reine“ oder.
„authentische“ kulturelle Identität
Interkulturalität/Postkoloniale Studien
Grundbegriffe der Interkulturellen Literaturwissenschaft

Umgang mit Alterität/ Das Fremde und das Eigene


• das Fremde als das Nicht-Eigene (Abgrenzung; Definition der eigenen Identität A als nicht-B);
• das Fremde als verborgenes Eigenes (Verstehen ist grundsätzlich möglich);
• das Fremde als Erweiterung des Eigenen (Aufnahme ist grundsätzlich möglich),
• das Fremde als das Komplementäre (Verstehen ist nicht immer möglich; das Fremde wird als das Andere
akzeptiert oder als das Inhumane abgelehnt)

Formen des Umgangs mit Alterität


• man beharrt auf die Differenzen (Nationalismus);
• man versucht den Anderen in allen Punkten zu verstehen (naiver Multikulturalismus);
• man akzeptiert die Differenzen und begreift sie als Herausforderung (aufgeklärter Multikulturalismus);
• man überwindet stereotype Vorstellungen von Differenz und lässt „Eigenes“ und „Fremdes“ in einer
spannungsreichen Mischung ineinander übergehen (reflektierte Interkulturalität)
Methodik der Interkulturellen Literaturwissenschaft

• Kulturelle und poetisch-literarische Alterität:


• Literatur bietet eine fiktionale andere Welt;
• insofern übt der Umgang mit Literatur ein in den Umgang mit dem Fremden;
• ich lerne, dass es eine andere Welt gibt als meine eigene (poetisch-literarische Alterität, Norbert
Mecklenburg).
• Literarische Dekonstruktion von Stereotypen
• Literarische Strategien: Polyphonie, Frage nach der Erzählperspektive/Fokalisierung, Humor/Satire/Ironie
Postkoloniale Studien

• Interkulturalität sehr häufig nicht Begegnung zwischen gleichberechtigten Kulturen, sondern hierarchische
Beziehungen zwischen als „überlegenen“ und „unterlegenen“ Kulturen
• Dekonstruktion überkommener hierarchischer Vorstellungsmuster
• Edward Said: Orientalism – der »Orient» als Konstrukt der Europäer (binäres Modell); Europa als überlegen
(Zuordnung positiver Eigenschaften: aktiv, dynamisch, diszipliniert) gegenüber dem Orient (negative
Eigenschaften; passiv, lethargisch, „lüstern“);
• Homi Bhabha: The Location of Culture - im kolonialen Akt gibt es nicht nur Beherrschung, sondern auch
Mimikry; Entstehung hybrider Muster und eines dritten Raumes
• Gayatri Spivak: Can the subaltern speak? – subversive Identitätsbildung als „strategischer Essentialismus“
Birk/Neumann 2002: Postkoloniale Erzähltheorie

• „Im Hinblick auf die erzählerische Gestaltung der Wahrnehmungsweisen von Erzählerinnen und Figuren
(focalization) ist festzustellen, dass deren Verhältnis im postkolonialen Kontext als ‚Machtverhältnis‘
konzipiert werden kann, ‚in dem sich die Autorität der Erzählinstanz darin manifestiert, dass sie die Figur als
Erzählinstanz zulässt (oder nicht).“ (131, Zitat im Zitat Marion Gymnich: Entwürfe weiblicher Identität im
englischen Frauenroman des 19. Jahrhunderts, Trier 2000, 79)
• Multiperspektivisches Erzählen <…> schlägt eine Brücke zwischen Erzähltheorie und postkolonialem Diskurs.
Aufschluss über das Funktionspotential multiperpektivische Erzählens gibt Michail Bachtins Konzept der
Redevielfalt im Roman. Das Konzept der Polyphonie bzw. Dialogizität beschreibt im multiperspektivischen
Roman einen ‚Mikrokosmos‘ der Redevielfalt‘ (Bachtin 1979, 290), da innerhalb der Texte eine Vielzahl
konvergierender oder auch konkurrierender, divergierender Stimmen festzustellen ist. (132)
Kritische Zwischenbilanz: Interkulturalität – Transkulturalität --
Diversität

• Wolfgang Welsch: „Interkulturalität“ bleibt auf essentialistisch verstandene Kulturen bezogen,


„Transkulturalität“ verweist darauf, dass jenseits kulturelle Differenzen Gemeinsamkeiten bestehen
• Metakritik: Kulturelle Differenzen beherrschen unsere Gegenwart: „transkulturell“ ist häufig eine global
dominante Einheitskultur (Mac Donalds); kolonialisierte Kulturen praktizieren einen „strategischen
Essentialismus“ )Gayatri Spivak)
• Norbert Mecklenburg: die Begriffe „interkulturell“ und „transkulturell“ können ergänzend verwendet
werden, je nachdem ob man auf Differenzen oder Ähnlichkeiten abhebt
• Neuere Forschungen bevorzugen den Begriff „kulturelle Diversität“ statt „Interkulturalität“, weil dabei der
Begriff und die Perspektive des „Eigenen“ zurücktritt und die jeweilige Dominanzkultur ausdrücklich nicht
unreflektiert als Träger des Eigenen verstanden wird
Kulturelle Differenz und Diversität
in der postmigrantischen Gesellschaft

• „postmigrantisch“ (vgl. Foroutan): analog zu „postkolonial“: die Gesellschaft der Gegenwart ist durch
Migration geprägt; die kulturelle Diversität der Gesellschaft verlangt eine Aufgabe des hegemonialen Diskurse
(„Leitkultur“)
• Hegemoniale Repräsentation: die Migrierten werden in dem Sinne als die Anderen betrachtet, dass ´sie gegen
die ‚herrschende‘ Erwartung verstoßen und insofern unterlegen sind
• „Blickregime“: die Mehrheit bestimmt den Blick auf die Gesellschaft und definiert die Norm
• „Othering“: die Definition des Andere als desjenigen, der nicht der Norm der gesellschaftlichen Mehrheit
entspricht
• Aufgabe der postmigrantischen Gesellschaft: den hegemonialen Blick „verlernen“, in kultureller Perspektive
Diversität als Gleichberechtigung aller in der Gesellschaft vertreten Kulturen bzw.. Einsicht in die umfassende
Hybridität der kulturellen Identität(en)
• Bezüge zur europäischen Tradition („Aufklärung“: Reflexion auf die Ansprüche dieser Tradition und die mit ihr
einhergehende Exklusion („Dialektik der Aufklärung“)
• Das Grundgesetz verlangt die Achtung der Würde aller Menschen unserer Gesellschaft und ist kulturell
neutral, dabei aber gegen eine Verabsolutierung je eigener kultureller Prägungen
Von der Migrationsliteratur zur Literatur der postmigrantischen
Gesellschaft

• Am Anfang eine Literatur der Migration – literarische Reflexion der Migration und der ersten
Begegnungen mit Deutschen; Erarbeitung einer Sprache, die subversiv gegenüber der
Mehrheitsgesellschaft den Eigen-Sinn der ‚Subalternen<‚ bewahrt; interne Mehrsprachigkeit als
Stilmittel
• Seit den 2010er Jahren Entwicklung einer ‚postmigrantischen Literatur‘, Prägung der Gesellschaft
und der Sprache durch das Phänomen der Migration, Reflexion über die Stellung von
Minderheiten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, Einforderung von Gerechtigkeit und
Gleichheit aller Menschen jenseits von Herkunft, Klasse und Geschlecht
• Herausforderung der Mehrheitsgesellschaft durch die postmigrantische Literatur: Aushandeln von
Identitäten und Beziehungen jenseits von „Integration“ und „Leitkultur“
Shermin Langhoff
Die „Erfindung“ des „Postmigrantischen“ durch Shermin Langhoff

• Das Ballhaus Naunynstraße macht nach eigenen Angaben "postmigrantisches" Theater. Was bedeutet
dieser Begriff, und warum haben Sie ihn gewählt?
• Wir haben uns das Label "postmigrantisch" gegeben, <dabei> geht es um Geschichten und Perspektiven
derer, die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und
kollektive Erinnerung mitbringen. Darüber hinaus steht "postmigrantisch" in unserem globalisierten, vor
allem urbanen Leben für den gesamten gemeinsamen Raum der Diversität jenseits von Herkunft.
• „Postmigrantisch bedeutet nichts anderes als die Gesellschaft, die wir durch Migration heute geworden sind.
Das umfasst nicht nur die Migrant*innen, sondern alle. Es zielt auf unser Zusammenleben heute ab. Wir sind
eine Einwanderungsgesellschaft. Als ich anfing, gab es die Geschichten der Hinzugekommenen teilweise
schon im Film und in der Literatur, aber in der Schule und eben auch im Theater gab es sie nicht. Wenn das
Theater immer noch und immer wieder Repräsentation produziert, Konflikte und Fragen der deutschen
Gesellschaft thematisiert, was sagt die Unterrepräsentation des (post-)migrantischen Deutschlands im
Theater dann über die Gewichtung aus, die diesem im öffentlichen Diskurs beigemessen wird? Dieses
Spannungsfeld hat mich seit 2004 beschäftigt, als ich den Begriff erstmals im Rahmen des Festivals Beyond
Belonging am Berliner HAU geprägt habe. Damals war es eine Art Kampfbegriff, heute sprechen wir am Gorki
eher von neuem deutschen Theater – ganz einfach. Ein Theater mit zeitgenössischen Geschichten über
unsere plurale Gesellschaft.“
Naika Foroutan
Das Konzept der postmigrantischen Gesellschaft

• „postmigrantisch“ (vgl. Foroutan): analog zu „postkolonial“: die Gesellschaft der Gegenwart ist durch
Migration geprägt; die kulturelle Diversität der Gesellschaft verlangt eine Aufgabe des hegemonialen
Diskurses („Leitkultur“)
• Das Grundgesetz verlangt, dass alle Bürger_innen Deutschlands als gleichberechtigt behandelt werde; das
Ideal einer Herrschaftsform der postmigrantischen Gesellschaft löst also das „Versprechen des
Grundgesetzes“ ein – die hier analysierten Texte kritisieren, dass dieser Anspruch gerade nicht eingelöst ist,
und kritisieren die Machtkonstellationen, die immer noch repressiv gegenüber Menschen mit
Migrationserfahrung in ihrer Familie sind
• Hegemoniale Repräsentation: die Migrierten werden in dem Sinne als die Anderen betrachtet, dass sie gegen
die ‚herrschende‘ Erwartung verstoßen und insofern unterlegen sind; „Blickregime“: die Mehrheit bestimmt
den Blick auf die Gesellschaft und definiert die Norm; „Othering“: die Definition des Anderen als desjenigen,
der nicht der Norm der gesellschaftlichen Mehrheit entspricht
• Aufgabe der postmigrantischen Gesellschaft: den hegemonialen Blick „verlernen“, in kultureller Perspektive
Diversität als Gleichberechtigung aller in der Gesellschaft vertreten Kulturen bzw.. Einsicht in die umfassende
Hybridität der kulturellen Identität(en)
Was ist „postmigrantische Literatur“?

• Postmigrantische Literatur: literarische Strategien zur Etablierung eines neuen Blickregimes und neuer
Sprecherpositionen
• Postmigrantische Literaturwissenschaft: Analyse postmigrantischer Perspektiven in der Literatur und
kontrapunktische Lektüre von Texten, welche diese postmigrantische Perspektive verdrängen bzw.
hegemoniale Perspektiven reproduzieren
• Postmigrantische Literaturdidaktik: in der Begegnung mit literarischen Texten die eigene Position in der
Gesellschaft reflektieren und nicht-hegemoniale Perspektiven des Blickes und Positionen des Sprechens
entwickeln
• „Postmigrantischer Roman“: in der Neuzeit diente der Roman zur „Erfindung der Nation“ (B. Anderson); der
postmigrantische Roman macht die Diversität der Gesellschaft bewusst und kritisiert Hegemonie.
Postmigrantische Literatur: inhaltliche Aspekte

• Kritik der Mehrheitsgesellschaft/anti-hegemonialer Diskurs,


• zweite Generation der Migration,
• Familiengeschichte,
• Kultur und kulturelles Gedächtnis des Herkunftslandes/der Herkunftsethnie
• Mehrfachzugehörigkeit,
• Inszenierung von Hybridität
Postmigrantische Literatur: formale Aspekte

Wer spricht?
• Korrelation von Erzählperspektive/ und Gender/Race,
• „Ego-Dokument“ und fiktionalisiertes Ego-Dokument: die Notwendigkeit der Wortergreifung
• Multiperspektivität/Polyphonie: die Koexistenz verschiedener Sprecherpositionen
Wie wird gesprochen?
• Genre: (fiktionalisiertes) Ego-Dokument, postmigrantischer Entwicklungsroman, Familienroman,
Gesellschaftsroman
• Satire: kritisch-ironische Fokussierung von Stereotypen (vgl. „interkultureller Humor“) und Bloßstellung
illegitimer Macht
• Humor: komische Infragestellung von Stereotypen und Herrschaft
• Ironie: Infragestellung binären Denkens und Inszenierung von Hybridität
• Strategischer Einsatz von ‚niedriger‘ Spreche und hybridem Deutsch
Postmigrantische Literatur: intersektionale Aspekte

• Die Kritik am hegemonialen Denken bezieht sich auf die Kategorien Gender, Race, Class
• „Intersektionale Perspektive“: die Machtverhältnisse überkreuzen und verstärken sich im Kontext der
genannten Kategorien
• Das hegemoniale Denken und seine Praxen sind primär auf die Kategorie „Race“ bezogen; die Fülle von
Texten weiblicher Autorinnen lässt aber darauf schließen, dass die Verschränkung diskriminierender
Erfahrungen im Kontext von Gender und Race sehr wirkmächtig ist
• Die Konstellation bestimmter Migrationserfahrungen zeigt, dass häufig die Kategorie „Race“ durch die
Kategorie „Class“ überblendet wird: besonders problematisch erscheinen Konstellationen, in denen
Erfahrungen der Diskriminierung von „Race“ durch die mit „Class“ extrem dramatisiert werden
Emine Sevgi Özdamar
Migrationsliteratur I:
Emine Sevgi Özdamar – Die Brücke vom Goldenen Horn

• Die Sprache der „Subalternen“:


„Mit dem rechten Auge hinter der Lupe konnte man mit der Pinzette die dünnen Drähte der kleinen
Radiolampen biegen. Die Drähte waren wie die Beine einer Spinne, sehr fein, ohne Lupe fast unsichtbar. Der
Fabrikchef hieß Herr Schering. Sherin sagten die Frauen, Sher sagten sie auch. Dann klebten sie Herr an Sher, so
hieß er in manchen Frauenmündern Herschering oder Herscher.“ (16)
• Mehrsprachigkeit I:
„<…> aus dem linken Busfenster sah ich den Anhalter Bahnhof, der wie das Hebbeltheater gegenüber unserem
Wohnaym stand. Wir nannten ihn den zerbrochenen Bahnhof. Das türkische Wort für ‚zerbrochen‘ bedeutet
gleichzeitig auch ‚beleidigt‘. So er auch ‚der beleidigte Bahnhof.‘“ (24)
* Mehrsprachigkeit:
„Wenn wir drei Mädchen in unser Wohnaym zurückkamen, liefen die ersten Frauen schon in ihren
Nachthemden über den Korridor. Sie sagten: ‚Ihr habt euch von euren Vätern und Müttern abgeschnitten. eure
Väter und Mütter sollten euch mit Seilen an sich binden. Ihr werdet euren Diamanten verlieren. Die Knochen
eurer Toten werden wegen euch Schmerzen bekommen.“ (85)
Migrationslieratur II:
Zafer Şenocak – Lyrik
Gedicht I

• wofür bin ich gekommen/ die Zunge meiner Mutter


und den Kopf meines Vaters/ erkenne ich nicht wieder
• jemand kommt hinzu der mir erklärt
• und nimmt sich meine Zunge/meinen Kopf
• wofür
• meinem Vater werde ich schreiben,/ wenn er tot ist einen Brief
• wofür
• und mich auf die Suche machen/ nach der Zunge meiner Mutter
denn ohne Zunge kann man/ nicht nach dem Weg fragen
sollte man einmal nach Hause wollen
• wofür
• wenn ich vor der Tür zu klopfen vergesse/und plötzlich Zeuge werde
wie der Kopf meiner Mutter/ sich einrollt in die Zunge meines Vaters
• Zafer Şenocak: Übergang. Ausgewählte Gedichte 1980-2005. München: Babel 2005, S. 9.
Gedicht II

• unter die Erstgeborenen kam ich in den Norden


fand die grünen Wiesen für mich bereitet
da lag ich nun allein
schnürte mein Gepäck auf
und brach das mitgebrachte Brot
• Ich schlief fest und vielleicht den Sommer lang
jemand hatte mich mit einer Wolke zugedeckt
als ich aufwachte fand ich darin einen Vogel
die Flügel waren ihm vereist
• Diese Wolke würde mich nicht wärmen
mich in den Schneehimmel schaffen
von dem sie entfernt worden war
vor meiner Zeit
• Bevor ich auf der Erde erwachte/auf der gefrorene Erde
die nichts von mir wusste/und nichts von dem Vogel
der sie niemals erreicht hatte
Postkoloniale Literatur: Uwe Timm: Morenga

• Vgl. gesonderte Präsentation (Timm-Morenga).


Fluchtliteratur -- Abbas Khider: Der falsche Inder (2013)

• literarische Konstruktion: plurale Identität des Flüchtlings


• Manuskript-Fiktion: der Ich-Erzähler findet im ICE ein Manuskript eines Flüchtlings (die Autorschaft des Textes
bleibt unklar)
• »Der falsche Inder»: Schon im Irak wird der zweite Ich-Erzähler für einen Inder gehalten
• Außerdem besteht die Möglichkeit, dass seine Mutter eine schöne Zigeunerin war
• Acht Kapitel des Manuskripts: acht Versionen einer Flucht aus dem Irak nach Deutschland, acht potentielle
Identitäten
• Rahmen: In dem Manuskript hat der Ich-Erzähler seine eigene Geschichte gefunden
• »Alles in einem Werk vereint: Roman, Kurzgeschichte, Biografie und Märchen»
• Im Zuge der literarischen Rezeption wird die Sicherheit des Alltagsbewusstseins gestört“
• Bildlichkeit: Tauben als Verlorene und Grenzüberschreitende
• Widmung: „Für die, die eine Sekunde vor dem Tod noch von zwei Flügeln träumen“
• Intertextualität: „Es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich“ (Gottfried Benn)
• Schreiben als Widerstand gegen Fremdbestimmung und als Arbeit am Trauma
Fatma Aydemir
Postmigrantische Literatur I:
Fatma Aydemir -- Dschinns
Postmigrantische Literatur I: Fatma Aydemir: Dschinns

• Dreißig Jahre hat Hüseyin in Deutschland gearbeitet, nun erfüllt er sich endlich seinen Traum: eine
Eigentumswohnung in Istanbul. Nur um am Tag des Einzugs an einem Herzinfarkt zu sterben.
• Zur Beerdigung reist ihm seine Familie aus Deutschland nach.
• Fatma Aydemirs großer Gesellschaftsroman erzählt von sechs grundverschiedenen Menschen, die zufällig
miteinander verwandt sind. Alle haben sie ihr eigenes Gepäck dabei: Geheimnisse, Wünsche, Wunden. Was
sie jedoch vereint: das Gefühl, dass sie in Hüseyins Wohnung jemand beobachtet.
• Voller Wucht und Schönheit fragt „Dschinns“ nach dem Gebilde Familie, den Blick tief hineingerichtet in die
Geschichte der vergangenen Jahrzehnte und weit voraus.
Dschinns: Polyphonie und Familienroman

Sechs Figurenperspektiven:
• Der „Gastarbeiter“ Hüseyen, der mit sechzig Jahren eine Wohnung in Istanbul gekauft hat und während des
Einzugs an einem Herzinfarkt stirbt
• Seine ältere Tochter Sevda, die geschieden ist, zwei Kinder hat und Geschäftsfrau ist;
• Sein älterer Sohn Hakan, der keine gute Ausbildung hat und sich als Macho und Kleinkrimineller durch sein
Leben kämpft;
• Seine Tochter Peri, die Studentin ist und mit Drogen, Sex und Partys ihre Opposition gegen Familie und
Gesellschaft auslebt
• Sein jüngerer Sohn Ümit, der seine Bruder bewundert und der seine Homosexualität nicht ausleben darf;
• Seine Frau Emine, die alles für die Familie tut, aber trotzdem nicht zufrieden ist
Geheimnisse:
• Hüseyin ist Kurde und musste im türkischen Militär kämpfen; er und Emine hatten einen Sohn, den sie
Hüseins älterem Bruder überlassen mussten
Dschinns: Polyphonie und Familienroman

• „Dschinns“: die verdrängten Traumata der Familiengeschichte


• „Und wahrscheinlich haben alle ihre Dschinns. Hüseyin hatte seinen Dschinn, den er sich mit seinem Fleiß
vom Hals zu halten versucht hat, diesem Fleiß, mit dem er sich immerzu beschäftigt hielt, um sich niemals
damit auseinanderzusetzen zu müssen, warum er kein Kurdisch mehr sprach, warum er Emine verbot,
Kurdisch zu sprechen und es den Kindern beizubringen.“ (189)
• Das postmigrantische Gedächtnis arbeitet auch die Hybridität des Gedächtnisses der Herkunftskultur und
deren Machtverhältnisse auf, die eine Prägung auch der folgenden Generation bewirken (vgl. Peri und ihr
aktivistischer kurdischer Freund)
Aktuelle Texte der postmigrantischen Literatur

• Jackie Thomae: Brüder (2019)


• Deniz Ohde: Streulicht (2020)
• Cemile Sahin: Alle Hunde sterben (2020)
• Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst (2020)
• Ronya Othmann: Die Sommer (2020)
• Karosh Taha: Im Bauch der Königin (2020)
• Mithu Sanyal: Identitti (2021)
• Shida Bayzar: Drei Kameradinnen (2021)
Aktuelle Texte der postmigrantischen Literatur

• Hengameh Yaghoobifarah: Das Ministerium der Träume (2021)


• Sharon Dodua Otoo: Adas Raum (2021)
• Laura Cwiertina: Auf der Straße heißen wir anders (2022)
• Nino Harataschwili: Das mangelnde Licht (2022)
• Fatma Aydemir: Dschinns (2022)
• Anna Yeliz Schentke: Kangal (2022)
• <Französisch: Négar Djavadi: Arène (2020)>
• <Essay: Kübra Gümüşay: Sprache und Sein (2021)
Postmigrantische Litertaur II: Mithu Sanyal: Identitti (2021)

• Plot: Nivedita, eine „Mixed-Race“-Deutsche, ist begeisterte Studentin bei Saraswati, einer charismatischen
Professorin für Postcolonial Studies; die Handlung setzt ein mit einer „unerhörten Begebenheit“, indem
enthüllt wird, dass Saraswati in Wirklichkeit „weiß“ ist. Nivedita, die Saraswati eine Weiterentwicklung ihrer
Persönlichkeit verdankt, muss sich mit diesem Skandal und diesem „Desaster“ auseinandersetzen.
• <Online-Enzyklopädie des Hinduismus: Saraswati, die Göttin des Lernens und der Weisheit, vermählte sich
mit Brahma, dem Schöpfergott. Als seine Frau wird sie zur Mutter der gesamten Schöpfung. Das Wort
"Saraswati" bedeutet: diejenige, die die Essenz (sara) des eigenen Selbst (swa) gibt. Ferner auch: "die
Fließende". Saraswati repräsentiert einen immer fließenden Strom göttlicher Gnade. Sie steht auch für die
menschlichen Fähigkeiten zu denken und zu unterscheiden.>
• Narratologische Perspektive I: hauptsächlich personalisierte „Sie“-Erzählerin (Fokalisierung auf Nivedita,
deren Entwicklung in einer Mischung aus Empathie und Distanz beobachtet werden kann)
• Narratologische Perspektive II: Nivedita hat einen Blog, auf dem sie unter dem Namen „Identitti“ ihre
Ansichten und Reflexionen mitteilt – hier also direktes Sprechen aus der Ich-Perspektive
• Verlernen des hegemonialen Blicks: Varianten des nicht-hegemonialen Blicks, Einübung in eine
hierarchiekritische, nicht-hegemoniale hybride Identität
Interpretationsansätze

• Fokalisierung auf das nicht-hegemoniale Subjekt (in zwei Weisen), Komik/Satire (auch Medien- und
Universitäts-Satire)
• Artikulation postmigrantischer Subjektivität in offensiv-kritischer Distanz zur Dominanzkultur, Verlernen
hegemonialer Muster, Identität als Performanz, auch kritische Perspektivierung eines (dogmatischen?)
dominanzkritischen Gegenmodells
• Rezeptionslenkung: Auseinandersetzung mit den Subjektentwürfen des Romans, Entwicklung einer eigenen
Position
Beispiel für eine Fokalisierung auf Nivedita in der Perspektive „sie“:

Lange dachte Nivedita, ihr fehlendes Gefühl von Anrecht auf das Indischsein läge daran, dass Indien so weit
weg war. Irgendwann beschloss sie, dass diese Entfernung mehr mit emotionaler Distanz – sprich:
Kolonialismus – zu tun hatte als mit geographischem Abstand. Der erste Junge, in den sie sich verliebte, war
wie sie „mixed“, was wahrscheinlich auch der Grund war, warum sie sich in ihn verliebte. <…> Das war das
Problem: Sobald man anfing, über Identität nachzudenken, fächerte sich die Wirklichkeit in so viele
Dimensionen auf, dass es keine richtigen Worte mehr für die gab. Und dann kam Saraswati und erklärte, dass
das egal war und dass es kein präkoloniales Leben im Postkolonialismus gab und es stattdessen darauf ankam,
Spaß an der Konstruiertheit von Echt und Jenseits-von-Echt zu haben und sich keinen starren Platz in den
Ruinen der verschiedenen Empires zuweisen zu lassen. Feiere, als gäbe es kein Gestern! (46f.)
Der Blog als das zur Sprache Kommen eines nicht-hegemonialen
Subjekts

Okay. Das ist jetzt die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Ich habe das Gefühl zu lügen,
wenn ich Ich sage. Selbst wenn ich über Dinge schreibe, die mir tatsächlich passiert sind. Vor allem, wenn ich
über Dinge schreibe, die passiert sind! Weil ich dann in den Formen oder Mustern über das berichten muss, in
denen Autor*innen das tun, deren Leben Teil des echten, und vorstellbaren Leben ist und deren Stimmen Teil des
Kanons sind. <…> Das erste Buch mit einem Mixed-Race-Ich-Erzähler war Der Buddha aus der Vorstadt von
Hanif Kireishi. Das war 1990! Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Neunzehnhundertneunzig! Zwar
vor meiner Geburt, aber nur gerade so, bevor ich geboren wurde. Und davor gab es uns komplett nur als
Ausrutscher, als Unfall, als menschlicher Makel. <…> Deswegen is es für mich <immer noch> einfacher, über Kali
zu schreiben als über Mich, mit großem M. Kali ist der Schall und der Zorn und die Heftigkeit, die ich brauche,
um den Abgrund zu überwinden, der mich vom Erzählen trennt. (90f.)
Der Umgang mit Saraswatis „Passing“

<…> was mir Saraswati bedeutet hat, was sie für mich war: ein Vorbild, ein Rollenmodell, an der Uni, in
Zeitschriften, im Fernsehen, eine Stimme, die für uns sprach, aber vor allem eine Stimme von uns. Wenn wir
mehr Rollenmodelle of Colour hätten, müssten diese nicht alle unsere Erwartungen an Rollenmodelle of Colour
erfüllen. Wenn wir mehr Rollenmodelle hätten, dürften sie auch fehlerhaft sein. (401f.)
Hätte ich vor drei Jahren schon gewusst, was ich heute über Saraswati weiß, hätte ich dann trotzdem bei ihr
studiert? Uff, wahrscheinlich nicht. Aber: Das wäre der größte Fehler meines Lebens gewesen, ein Verlust, eine
ungeheure klaffende Lücke. Und das ist das Beste, was ich aus dem ganzen Debakel ziehe: dass Politik eben
nicht perfekt sein muss, um einen Unterschied zu machen. Und Saraswati hat nun einmal eine enormen
Unterschied in meinem Leben hergestellt, und in dem vieler anderer, die sich mit ihr und ihren Thesen
beschäftigt haben. Selbst wenn dieser Unterschied auf einem Fake beruht, ist er nichtsdestotrotz real. Wenn
Saraswati eines beweist, dann dies: Nicht-Weißsein ist cool geworden, und das ist das Zeichen unseres Erfolgs.
(403)
Grenzüberschreitung als performative Inszenierung von nicht-
hegemonialer Subjektivität

• Alle wirklich wichtigen hinduistischen – und natürlich nicht nur die hinduistischen, Ihr Schlaumeier, das alles
hier sind nur Beispiele – Göttinnen haben <…> Grenzen immer überschritten: Die Grenzen der Geschlechter,
der Farben, der Spezies, ja selbst der Aggregatzustände. Wir sind die Schöpfung und wir sind das Leben, und
deshalb bestehen hier unsere verdammte Schuld und unsere Verantwortung der Liebe gegenüber, genau wie
du immer sagst, Kali. (419)

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