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Jugend in Vietnam

• Halb Vietnam ist unter 25 Jahre alt und lebt in einer neuen Welt. Rasantes Wachstum,
globale Perspektiven, junge Vietnamesen entdecken den Wohlstand, aber auch seine
Kehrseiten. Im Land tobt der Wettbewerb um Bildung und Arbeitsplätze, zugleich spitzt
sich die Beschäftigungssituation Jugendlicher zu, Konsum und Eigeninteresse torpedieren
das gesellschaftliche Engagement.

• Die Jugend Vietnams droht an ihrem Potenzial zu scheitern. Die Erwartungen und
Investitionen der Eltern zerschellen an der Wirklichkeit. Wer wird die Jugendlichen
auffangen? Ihre gesellschaftliche Integration steht auf dem Spiel. Das Finden des eigenen
individuellen Ausweges ist kulturell nicht etabliert. Verzweiflung und Flucht in die
Scheinwelten von Spiel, Genuss und Sucht sind wahrscheinlicher als Aufbegehren und
Emanzipation.

• Allerdings bietet die heimische Kultur auch einen Ausweg: Anpassungsfähigkeit an radikale
Veränderung in Zeiten der Unsicherheit. Doch wird auch die vietnamesische Politik diese
Anpassungsfähigkeit besitzen? Immerhin steht sie vor der Aufgabe und in der
Verantwortung für die Jugend Perspektiven zu schaffen, Generationenkonflikte zu
entschärfen, junge Menschen für gesellschaftliche Verantwortung zu gewinnen und damit
auch ihre zukünftige Legitimationsbasis zu festigen. Von der Befähigung junger
Vietnamesen an den aktuellen Umwälzungen mitzuwirken hängen Stabilität und Zukunft
Vietnams ab.

Beinahe die Hälfte aller Vietnamesen sind unter 25 Jahren alt. Das hat das vietnamesische
Zentralamt für Bevölkerungs- und Familienplanung festgestellt. Bis 2020 soll der Anteil der unter
25jährigen immerhin auf ein Drittel der nunmehr 100 Millionen Menschen starken
Gesamtbevölkerung schrumpfen. Das Wesen einer Nation ist geprägt durch seine Demografie. Und
in Vietnam sind junge Menschen in der Mehrzahl, nicht nur auf dem Paper. Man begegnet
Jugendlichen überall; kniend in Reisfeldern, auf Mopeds in den Straßen der Städte, in Cafés und
Werkstätten, vor dem Präsidentenpalast patrouilliert die Jugendwache.

So sichtbar junge Menschen im Alltag Vietnams sind, so verborgen bleiben viele der Hoffnungen
und Wirklichkeiten, die ihr Leben prägen. Sicher ist, die rasante Entwicklung Vietnams wirft für sie
alle neue Fragen auf. Durchschnittlich 7 Prozent Zunahme des Bruttosozialprodukts in den letzten
10 Jahren und selbst jetzt in der Krise noch 4 Prozent, Vietnam ist Wachstumseiland in einem Meer
von Schwund. Ständige Veränderung: die Anzahl der Autos wächst täglich, ohne das die Straßen
mitkommen, Häuser verschwinden und neue schießen in die Höhe. Nichts ist hier fertig, aber alles
hat Potenzial und um dieses zu entwickeln muss Altes verschwinden. Wie finde ich Arbeit, welche
Bildung sollen meine Kinder erhalten, wohin wird sich die Nation entwickeln? Orientierungslos. Auf
der Suche nach Antworten betritt die junge Generation Vietnams Neuland, denn die Erwartungen
und Ratschläge ihrer Eltern fußen auf der Erfahrung von Krieg und Wiederaufbau. Überleben steht
nicht mehr auf dem Spiel, Industrialisierung, Urbanisierung und Globalisierung sind die neuen
Fluchtpunkte der Gesellschaftsentwicklung.

Unter solchen Bedingungen, wie integrieren sich junge Vietnamesen heute in die Gesellschaft?
Eine bedeutende Frage, denn wenn die Integration nicht gelingt könnte das destabilisierende
Folgen für Wirtschaft und Politik des Landes haben. Nicht zu sprechen von den Konsequenzen für
die Familien und die Jugendlichen selbst. Um diese Frage zu beantworten bedarf es jedoch einer
differenzierten Vorstellung vom Leben junger Vietnamesen. Was heißt es eigentlich in Vietnam ein
Jugendlicher zu sein? Keine einfache Aufgabe, denn wenig umfassend erforscht ist, welche
Auswirkungen die Anzahl, Lebensformen und Entscheidungen junger Menschen auf Vietnam
haben. Somit ist die Aufgabe dieses Artikels auch überhaupt einen Überblick über Jugend in
Vietnam zu geben. Grundlage der faktischen Aussagen dieses Textes sind statistische Erhebungen
und qualitative Umfragen, darunter vor allem der DHS 2002 (Vietnam Demographic and Health
Survey) der SAVY 2003 (the Survey Assessment of Vietnamese Youth) und der AIS 2005 (Aids
Indicator Survey), alle durchgeführt vom Allgemeinen Amt für Statistik Vietnams (GSO). Insgesamt
ist das Datenmaterial jedoch äußerst begrenzt, regelmäßige Erhebungen existieren nicht, Zahlen
veralten in Vietnam besonders schnell. Viele Argumente sind daher letztlich auch auf
Beobachtungen und Gespräche gestützt.

Um diesen Argumenten auch ein begriffliches Fundament zu geben werde ich Jugend zunächst
definieren und erläutern, warum Jugend in Vietnam für die Gesellschaft grundsätzlich so wichtig
ist. Der darauffolgende Abschnitt wirft einen Blick auf die Bereiche Beschäftigung, Familie und
Gesellschaft. Hier sollen sollen Merkmale von Jugenderfahrung in Vietnam skizziert,
Konfliktpotenziale identifiziert und politische Gestaltungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Zum
Abschluss rolle ich die Frage der sozialen Integration junger Menschen in Vietnam neu auf und
gebe einen Ausblick über die Folgen für das Land und die Politik.
1. Jugend - Begriff und Bedeutung

Jugendliche in Vietnam sind zwischen 15 und 30 Jahren alt, so zumindest heißt es im


vietnamesischen Jugendgesetz. Voll strafmündig ist man in Vietnam bereits mit 16 Jahren, bei
schweren Delikten auch schon ab 14. Das vietnamesische Arbeitsrecht wiederum definiert 15-18
Jährige als jugendliche Arbeiter. Welcher Teil der Bevölkerung gehört nun eigentlich zur Jugend?
Internationale Bestimmungen helfen kaum, dort herrscht auch Uneinigkeit. Während die UN von
der Alterspanne 15-24 für Jugendliche ausgeht sind nach dem deutschen Jugendschutzgesetz
Jugendliche „Personen, die 14, aber noch nicht 18 Jahre alt sind.“

Die Vielfalt der Altersgrenzen für Jugend sind Ausdruck unterschiedlicher soziokultureller
Erfahrungen und verschiedener rechtlicher Funktionen. Sie werfen die Frage auf: was macht
Jugend eigentlich im Kern aus, jenseits des Alters und in allen Gesellschaften? Klar ist, Alter kann
Jugend beschreiben aber nicht erklären. Spätestens dann, wenn man die spezifischen kulturellen
und gesellschaftlichen Eigenschaften von Jugend in einem Land wie etwa Vietnam untersucht,
benötigt man einen flexibleren Begriff. Grenzen zwischen Kinderdasein, Jugendlichkeit und
Erwachsenenalter sind frei verschiebbar und fließend. Da kann es Gesellschaften mit jungen
Menschen ohne Jugend geben – obwohl alle über Jugend sprechen.

Daher hier nun eine Unterscheidung. Ist von jungen Menschen die Rede, dann ist damit ein
Alterssegment gemeint, dass grob zwischen 15 und 25 liegt. Dieser rein quantitativen Aussage
steht der qualitative Begriff Jugend gegenüber. Er besitzt drei Elemente: Übergänge, soziale Räume
und Gemeinsamkeit. Übergange beschreibt, wie Jugendliche von Abhängigkeit zu
Verantwortlichkeit steuern und fokussiert auf die dabei eigentümlichen Erfahrungen der Jugend.
Altersgrenzen sind hier nur zweitrangig, nicht Ursprung sondern Ausdruck der Gesamtheit aller
Übergänge. Soziale Räume meint die Bereiche Ausbildung/Beschäftigung, Familie und Gesellschaft
in denen Übergänge stattfinden. Der Ausgebildete wird angestellt, die Tochter gründet eine
Familie, der Jugendliche wird Bürger. Soziale Räume bilden untereinander Spannungsfelder aus
denen sich junge Menschen ihre Lebenswelten formen und aus denen sie geformt werden. Und
schließlich, jeder Jugendliche durchlebt Übergänge innerhalb der genannten sozialen Räume. So
verschieden diese individuellen Erfahrungen auch sein mögen, sie können und werden mit
anderen geteilt und wirken auf alle. Das ist die Gemeinsamkeit, die uns ermöglicht von Jugend als
Generationserfahrung zu sprechen. Kern des Jugendbegriffs und das, was es von der Kindheit und
dem Erwachsenendasein unterscheidet ist also ein Widerspruch: Jugend ist die Übergangsphase in
der junge Menschen gemeinsam einerseits die objektive, materielle und rechtliche Abhängigkeit
von den Eltern erfahren und auf der anderen Seiten neue Rechte, Pflichten und Freiheiten als
Arbeitnehmer, Familiengründer, als Bürger und als Konsumenten entdecken.

Damit ist der Jugendbegriff offen, er fordert Wandel und beinhaltet Vielfalt. Menschen in
Entwicklungsländern wie Vietnam arbeiten auf dem Land häufig schon in jungen Jahren, um zur
Grundversorgung der Familie beizutragen und gründen, nicht zuletzt für ihre Grundversorgung von
morgen, früh eine eigene Familie noch während sie im eigenen Elternhaus leben. Hier ist Jugend
kurz und keine markante lineare Übergangsphase. Für so etwas bedürfte es weiterer objektiver
Bedingungen: vor allem Zeit (Freizeit), materielle Sicherheit und eine strukturiertes Angebot von
Lebensentwürfen. Die Jugendlichen des urbanen Mittelstandes, der gerade in Vietnam entsteht,
verfügen zunehmend über solche Bedingungen. Auf der anderen Seite begegnen sie ihren
Altersgenossen vom Land als Wanderarbeiter, die zuvor auf Reisfeldern arbeiteten, nie eine höhere
Schule besuchten und ihre Jugend schon schnell hinter sich gelassen haben.

Sichtbar werden die Probleme mit denen die heutige Generation junger Vietnamesen konfrontiert
ist erst, wenn man sich mit der Jugend in Vietnam beschäftigt. Verborgen bliebe sonst der
Unterschied und daraus möglicherweise erwachsenen Konflikte zwischen urbaner und ländlicher
Jugend. Oder auch wie junge Vietnamesen heute, im Verhältnis zu ihrer Elterngeneration,
Geschlechterrollen neu entwerfen. Jugend in Vietnam ist ein wichtiges Thema, weil es die Frage
aufwirft, wie eine Generation junger Menschen die tragenden Verhältnisse ihrer Zeit, darunter ihre
Jugend selbst, verhandelt. Für Vietnam ist das bedeutsam, weil nichts so viel über die Zukunft
eines Landes aussagt wie seine Jugend heute.

2. Wie man in Vietnam jung wird

Thom ist 25 Jahre alt und stammt ursprünglich aus der Provinz Nghe An. Sie kam nach Hanoi um zu
arbeiten und lebt nun einem Außenbezirk Hanois. Diese Gegend ist, trotz der nahen Industriezone,
noch immer dominiert vom Reisanbau. Eine Erinnerung daran, dass Vietnam noch ein Agrarland
ist. Auch Thom arbeitet in der Landwirtschaft. Auf einer Farm pflanzt und erntet sie Früchte,
züchtet Fische und arbeitet im Gartenbau. Mit ihrem Monatslohn von rund 1 Million Dong (50
Dollar) unterstützt Thom ihren Ehemann, ihre 8 Jahre alte Tochter und ihre Schwiegereltern in
deren Haus sie lebt. Ihr Mann ist Tagelöhner, ohne geregeltes Einkommen. Thom ist 25 Jahre alt,
hat keine Berufsausbildung und ist in kein Mitglied der Partei. Gefragt nach ihren Zukunftsplänen,
äußert sie den Wunsch nach Ho-Chi-Minh City zu gehen. „Dort verdient man mehr Geld.“
Thoa ist in Hanoi geboren und aufgewachsen. Sie ist 27 Jahre alt und arbeitet als Managerin
bei einer internationalen Steuerberatungsfirma. Dort sind die Zukunftsperspektiven
vielversprechend, schon in einigen Jahren kann sie bei entsprechender Leistung zum Partner
aufsteigen. Studiert hat Thoa Buchhaltung an der nationalen Universität Hanoi. Mit ihren Eltern
und ihrem Mann wohnt sie in einer der neuen modernen Wohnsiedlungen am Rande Hanois, in
einem Einfamilienhaus. Ihr Gehalt von 20 Millionen Dong (400 Dollar) ist ein wichtiger Bestandteil
der Haushaltskasse. Politisch engagiert ist Thoa nicht. Auf die Frage ob sie im kommunistischen
Jugendverband aktiv war, ist sie sich nicht einmal sicher ob sie je eine Mitgliedschaft innehatte.
Wie verschieden sind die Lebenswelten junger Vietnamesen, wo liegen die
Gemeinsamkeiten und was unterscheidet was sie von jungen Menschen anderswo? Deutlich wird,
die Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land sind in Vietnam enorm, auch unter jungen
Vietnamesen. 2006 verfügte ein Stadtbewohner pro-Monat über doppelt soviel Einkommen (ca. 1
Mio. Dong oder 60 Dollar) wie jemand, der auf dem Land lebte. Gleichzeitig heiraten junge
Vietnamesen relativ früh und leben selbst danach normalerweise weiter bei den Eltern eines
Partners. Auch räumlich ist die Familie in Vietnam der zentrale Bezugspunkt für soziales
Miteinander, selbst wenn ein „privateres“ Arrangement möglich wäre. Zum
Mehrgenerationenhaushalt tragen in Vietnam auch junge Frauen maßgeblich mit ihrem
Einkommen bei. Und ob arm oder wohlhabend, politischer Aktivismus scheint wenig ausgeprägt.
Beschäftigung, Familie und Gesellschaft - diese ersten Eindrücke von den Integrationskontexten
sollen nun in den größeren Zusammenhang von Jugend in Vietnam gerückt werden.

2.1 Das Buch zum Wohlstand

Vietnam verspricht seinen Menschen eine blühende Zukunft. Um diese Hoffnung materiell zu
realisieren ist ein Arbeitsplatz notwendig. Beschäftigung ist, laut dem SAVY, jungen Vietnamesen
am wichtigsten. Der Weg dorthin führt über Bildung. Studieren hat Tradition in einem Land, in dem
zu Zeiten der Mandarine und später der Franzosen formal-theoretische Bildung Zugang zu den
höchsten Ämter der Verwaltung versprach. Und auch in der sozialistischen Planwirtschaft führte
der Weg über die höhere Bildung mit größter Gewissheit zu einem sicheren Arbeitsplatz. Heute ist
quer durch alle sozialen Schichten die Bereitschaft groß für bessere Beschäftigung Zeit und Geld in
Ausbildung zu investieren.

Zeuge des Bildungshungers in Vietnam wird man bei den alljährlichen nationalen
Zugangsprüfungen. 18Jährige Absolventen der Oberschule strömen in die Städte, der Verkehr
erlahmt, die Eltern fiebern, die staatlichen Jugendorganisationen schaffen
Übernachtungsmöglichkeiten für die Anreisenden, Aufgabenlösungen kursieren bereits im Internet
und schüren den Verdacht, dass die Lehrer, die zuvor zur Testerstellung ins „Gefängnis“ mussten,
doch nicht isoliert genug waren. Hier entscheiden die Ergebnisse über den weiteren Bildungsweg –
Uni oder Berufsausbildung. Die Universität ist Ziel aller dieser Schüler, ihre Absolventen genießen
das höchste Ansehen. Darunter leidet wiederum die berufspraktische Ausbildung. Sie ist, trotz
staatlicher Förderung, das Auffangbecken für die Durchgefallenen.

Allerdings dringt auch nur rund ein Viertel der Schüler eines Jahrgangs überhaupt zu den
Zugangsprüfungen vor. Alle anderen sind bereits ausgeschieden, die meisten nach Abschluss der
Mittelstufe mit 15-16 Jahren. Sie arbeiten vor allem im Niedriglohnsektor, viele davon bei der
Familie im informellen Sektor. Die Arbeit bei der Familie ist ein Grund weshalb ihnen dann auch
häufig eine weitere formale Ausbildung verwehrt bleibt. Der Hauptgrund war jedoch bereits für
den frühzeitigen Ausstieg aus der allgemeinen höheren Schulbildung verantwortlich:
Schulgebühren. In Vietnam kommt im Rahmen der sogenannten Sozialisationspolitik immer
weniger der Staat und zunehmend die Gesellschaft für Bildung auf. Familien von Wanderarbeitern
verwenden beispielsweise bis zu 20% ihres Einkommens auf die Bildung ihrer Kinder an privaten
Institutionen (GTZ). Verlieren sie ihr Einkommen, so erhalten auch ihre Kinder keine Bildung mehr.
Geschieht dies in größerem Umfang, dann sind die Erfolge Vietnams im Bereich der Grundbildung,
insbesondere bei der beträchtlichen Senkung der Analphabetenrate gefährdet.

Die relativ hohen Investitionen in Bildung einen die Erfahrungen junger Menschen aus allen
Schichten. Der geringe Ertrag allerdings auch. Es herrscht Bildungsinflation. Abschlüsse und
Zertifikate gibt es viele, allgemein anerkannt und aussagekräftig bezüglich der tatsächlichen
Berufsqualifikation des Absolventen sind die wenigsten. Sowohl in der Hochschule als auch im
Berufsbildungsbereich regiert die Theorie. Es existieren vielfältige Qualifikationen und
Ausbildungswege aber kaum Standards. Junge Menschen investieren Geld und Zeit, aber der
Arbeitnehmer kann sich der Fähigkeiten des Einzelnen nicht sicher sein, der Arbeitsmarkt fordert
andere Qualitäten. 2008 lud Intel in Vietnam frischgebackene Ingenieure zu einem einfachen
multiple-choice Verfahren zur Ermittlung der Grundqualifikation ein. Die Firma suchte Fachkräfte
für ihr neues Werk zu Chipherstellung nahe Ho-Chi-Minh Stadt. 2000 absolvierten den Test, 40
bestanden.

Welcher ist der beste Weg in den Arbeitsmarkt? Ungelernte junge Arbeitskräfte folgen der Arbeit,
zumeist in die Städte und vor allem nach Ho-Chi-Minh-Stadt. Dort sei der Lohn höher, das Leben
besser. Dahinter steht keine langfristige Ausbildungsstrategie. Indes, auch junge Vietnamesen in
Ausbildung stehen vor strukturellen Zwängen, die die Planung für die spätere Beschäftigung
erschweren. So finden über die Hälfte der frischgebackenen Universitätsabsolventen keine ihrem
Studium entsprechende Arbeit (ILO, 2007 waren gab es insgesamt 232.000 Absolventen – GSO).

Das defizitäre Bildungssystem ist dafür die Hauptursache, zumindest auf der Angebotsseite von
Arbeit. Auf einer Konferenz des Bildungsministeriums MOET im Jahr 2008 hieß es, über 50 Prozent
der Universitätsabsolventen benötigten Umschulungen bevor sie ins Arbeitsleben treten könnten
(Vietnam National University HCMC). Aber auch die Berufsausbildung in Vietnam produziert bisher
keine anwendungsrelevanten und qualitativ hochwertigen Abschlüsse (GTZ). Theoretische
Ausbildung ohne Praxisbezug und Anbindung an den jeweiligen Beruf, das Problem ist strukturell.
Heute sieht der Global Competitiveness Report 2009-2010 des Weltwirtschaftsforums Vietnam
daher im Bereich höherer Bildung und Ausbildung auf dem 92. Platz, von 129 Ländern. Wer in
Vietnam das Geld hat, schickt seine Kinder im Ausland auf die Schule.

Wohl noch schwerer wiegt jedoch auf anderen Seite die allgemein explodierende Nachfrage nach
Arbeit. Mit jedem neuen Jahrgang müssen 1,5 Mio. Arbeitsplätze geschaffen werden. Diejenigen,
die letztes Jahr keine Arbeit fanden nicht eingerechnet. Im Bereich der Hochschulen beispielsweise
sind die Zahlen der Absolventen von 165.000 im Jahr 2003 auf 232.000 im Jahr 2007 gestiegen
(GSO). Der Wettbewerbsdruck steigt. Versteckte Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung blühen,
von Statistiken unerkannt. Wo in Vietnam sollen die passenden Arbeitsplätze herkommen?

Industrialisierung und Dienstleistung sind noch marginale Sektoren und aufgrund von
Mechanisierung, Automatisierung und Digitalisierung werden dort auch nicht die Zahlen an
Arbeitsplätzen entstehen, die im Agrarbereich und im informellen Niedriglohnsektor geboten
werden. Zurück auf das Reisfeld? Der formale Sektor bietet jedenfalls nicht genügend
Beschäftigungsmöglichkeiten – insbesondere für Universitätsabsolventen. Die ILO schlussfolgert, je
höher der Ausbildungsgrad in Vietnam, desto geringer die Chancen auf Beschäftigung. Ein
vietnamesisches Paradox. Wofür also so viel Geld und Zeit in Bildung investieren? Gehegte
Erwartungen zu Einkommen, Lebensstandard und Arbeitsform begegnen der nackten Realität. Es
ist kein Wunder, dass junge Menschen in Vietnam sich vor allem Gedanken um ihre Zukunft als
Arbeitnehmer machen.

Von Bildung zu Beschäftigung – ein Übergang in dem sich Chancen und Widersprüche für junge
Vietnamesen verdichten. So unterschiedlich ihre soziale Situation, sie eint die Erfahrung in einem
rasch wachsenden Entwicklungsland zu lernen und zu arbeiten. Die Erwartungen der Jugend und
ihrer Eltern, der finanzielle Aufwand für Bildung und die neuen Marktbedingungen im
Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt – der Übergang von Schule zu Arbeit wird neu
konfiguriert. Dabei kommt es schon jetzt zu frappierenden Unterschieden zwischen Anspruch und
Wirklichkeit. 90% der Schüler, die die Mittelstufe und Sekundarstufe I besuchen, wollen an die
Universität. Doch nur 10% schaffen es dorthin und machen einen Abschluss (SAVY). Enttäuschung
vorprogrammiert. Hält die Unsicherheit bezüglich des Wertes von Bildung für Beschäftigung an,
entstehen auf dem Arbeitsmarkt nicht genügend Arbeitsplätzen um gelernte wie ungelernte
Jugendliche aufzunehmen und ihnen eine Perspektive zu bieten, so wird die Jugend in Vietnam
den Übergang in Beschäftigung und die finanzielle Eigenständigkeit nicht abschließen.

Bildungsweg und Beruf sind in modernen Gesellschaften zentrale Identitätsstifter und


gesellschaftliche Integratoren. Aber sie zersetzen zugleich auch traditionell gemeinschaftliche
Integrationsmuster, in dem sie das Diktat individueller Verantwortung einführen und dem
einzelnen Jugendlichen ermöglichen, sein Einkommen und seinen beruflichen Erfolg bzw. Scheitern
nunmehr allein als Ergebnis seiner persönlichen Leistung zu begreifen. In Vietnam entsteht mit
Sozialisationspolitik und Industrialisierung genau eine solche Individualisierungsdynamik. Aufgrund
des schlechten Bildungssystems und zu weniger Arbeitsplätzen im formalen Sektor jedoch ohne die
gleiche Integrationsfähigkeit. Damit drohen persönliche Misserfolge und Enttäuschungen zukünftig
die Norm für vietnamesische Jugenderfahrung zu werden. Und das wird wiederum für die Familien
der Jugendlichen nicht ohne Folgen bleiben.
2.2 Zuhause ist es am schönsten

Die Kosten der Bildung junger Menschen tragen in Vietnam die Eltern. Und auch bei der Wahl der
späteren Beschäftigung sind Eltern maßgeblich beteiligt. Die Familie in der ein junger Vietnamese
lebt, ist der entscheidende Einflusswert für seine Zukunft auf dem Arbeitsmarkt (ILO). Messbare
Ursachen sind Beruf der Eltern und Lebensstandard der Familie. Auch die Beziehungen der Eltern
spielen eine Rolle, viele junge Arbeitnehmer erhalten ihre Arbeitsstelle über Kontakte der Eltern.
Wenn das scheitert, oder die Eltern nicht genügend Geld für die Ausbildung ihrer Kinder haben,
helfen diese im Geschäft oder im Haushalt mit.

Traditionell bildet die Familie die entscheidende Sozialstruktur innerhalb derer junge Vietnamesen
Ambitionen entwickeln und Entscheidungen treffen. Hier kann man konfuzianische Traditionen als
Erklärung bemühen. Der Körper des Kindes gehöre den Eltern. Tatsächlich erfahren kann man ihre
kulturell tragende Rolle in Vietnam überall: in der Art wie vietnamesische Personalpronomen sich
nach je nach Hierarchie und persönlichem Verhältnis der Gesprächspartner verändern, wenn am
Sterbebett der Großeltern noch 50 Tage nach ihrem Tod Essen für sie serviert wird, das Licht
brennt und der Ventilator läuft, und wenn auch heute noch der Sohn als Oberhaupt der
Familienlinie bevorzugt wird, während die Tochter in die Familie des Ehemanns wechselt. Die
Intensität der Rollenzuschreibung und -Reproduktion in vietnamesischen Familien ist enorm. Selbst
nach der Heirat leben noch 75% bei der Familie des Mannes, 14% bei der Familie der Frau.
Ausgaben eines solchen Haushaltes werden dann aus einem Topf getätigt, zu dem jeder sein
individuelles Einkommen hinzugibt. Junge Menschen treten nie aus dem Familienverband aus, sie
begegnen dem Fördern und Fordern der Eltern ein Leben lang.

Ein Verständnis von Jugend, dass von einer natürliche Emanzipation des Jugendlichen von den
Eltern, seiner freien Persönlichkeitsentfaltung und selbstbestimmter Suche nach dem eigenen
Lebensweg ausgeht, spielt aufgrund der starken Familienintegration in Vietnam bisher kaum eine
Rolle. Man lebt bei den Eltern und heiratet früh. Für 2005 ergab der AIS dass der Median für das
Erstheiratsalter bei Frauen bei 21 Jahren und bei Männern bei 25 Jahren lag (AIS). Zum Vergleich:
in Deutschland lag zur gleichen Zeit der Median für Erstheirat bei 32,6 Jahren für Männer und bei
29,6 Jahren für Frauen (Statistisches Bundesamt). Geburt korreliert stark mit Heirat in Vietnam.
Hier ist mit einem Median von 23 Jahren (SAVY) für die Erstgeburt bei Frauen auch die Frühe der
Familiengründung belegt. In Vietnam sind Familienunterordnung und Familiengründung Prozesse
die zumeist parallel und am selben Ort ablaufen. Von einem klaren linearen Übergang von der
Familie der Eltern zur eigenen Familie kann nicht die Rede sein. Eher verdichtet und erweitert sich
das Netz des Gehorsams zu den Eltern um das Element der Verantwortungsbeziehungen für die
Kinder.

Dennoch verändern sich die strukturellen Bedingungen der vietnamesischen Familie. In der Stadt
verschärft sich das Generationenproblem. Bei dort sinkenden Geburtenraten und steigendem
Durchschnittsalter ist das 4-2-1 langfristig absehbar. Junge Einzelkinder müssen für ihre 2 Eltern
und 4 Großeltern sorgen. Dazu treffen hier unter einem Dach die unterschiedlichsten Erfahrungen
und Erwartungen aufeinander. Eltern, die noch Krieg, Verlust und Leid erlebten und sich im
nationalen Befreiungskampf und dem wirtschaftlichen Aufschwung ungeahnte Möglichkeiten
schufen leben zusammen mit Kindern, die nur Wachstum, politische Stabilität und Wettkampf um
Arbeit und Bildung in einem zunehmend globalen Kontext kennen. Auf dem Land sind es die
Wanderarbeiter, die ihre Familien verlassen um in den Städten für die Familie Einkommen zu
erwirtschaften. Die räumliche Integration der Familie, so wichtig in Vietnam, schwindet auch dort.
Frauen übernehmen daheim neue Rollen, Männer verlieren sich im anonymen urbanen Raum.
Welche Perspektive hat die jugendliche Landbevölkerung außer ihren Eltern zu folgen und dem
Versprechen der Stadt zu erliegen? In der Stadt und auf dem Land sind Familien mit verschiedenen
Herausforderungen konfrontiert. Auf dem Land verfügen sie durchschnittlich nur über die Hälfte
des Einkommens einer städtischen Familie, dafür und deshalb sind die ländlichen Familien aber
auch doppelt so groß. Es gibt deutliche soziale Unterschiede zwischen Familien des Landes und der
Stadt. Doch wo sind die Gemeinsamkeiten? Kann man hier überhaupt von einer gemeinsamen
Jugenderfahrung sprechen?

Im Grunde ist die Kluft zwischen Stadt und Land gar nicht nicht das entscheidende Maß, sondern
der rege Austausch zwischen beiden. So ist in Vietnam die Stadt durch ihre Medienmacht und ihr
Wohlstandpotenzial zunehmend Fixpunkt gesellschaftlicher Vorstellungen, Werte und
Wanderungen. Zweitens sind der Kampf und das Erhalten von Wohlstand die Faktoren, welche
Bildung, Zusammensetzung und Integrationsfähigkeit aller vietnamesischen Familien verändern.
Mobilität und Flexibilität sind hier sowohl von Stadt- als auch Landbevölkerung gefragt. Ein
Jugendlicher zieht als Wanderarbeiter nach Hanoi, ein anderer geht nach Singapur um zu studieren
– beide verlassen ihre Familien zurück. Hier wird deutlich, welche Erfahrungen die Jugend in
Vietnam teilt. Denn die Familie ist für jeden jungen Vietnamesen der zentrale Ort des Lebens. In
der Familie werden im gleichen Wohnraum Bildungswege und Beschäftigungsverhältnisse
vorstrukturiert, Rollen und Identitäten des Einzelnen festgeschrieben, sowie die Entscheidungen
der jungen Generation über die Gründung der eigenen Familie mitgestaltet. Sich von der
elterlichen Abhängigkeit zu lösen und eine eigene Kernfamilie zu gründen, all findet im Rahmen
der größeren Familie und damit selten vollständig statt. Der Staat ist hier noch wenig präsent. Die
Familie ist das soziale System Vietnams. Generationenkonflikte sind quer durch alle sozialen
Schichten unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten.

Und es droht ein solcher Konflikt. Grundsätzlich bedingen die neuen Anforderungen des Marktes
eine hohe Flexibilität bei den Jugendlichen und desintegrieren die Familie, zumindest räumlich.
Zweitens müssen Eltern diese Flexibilität finanzieren. Sie ermöglichen die Fahrt in die Stadt und die
ersten Tage Unterkunft, sie fördern die Ausbildung in einer besseren Schule in einem anderen Ort.
Damit steigen Ansprüche und Erwartungen der Eltern an ihre Kinder, doch vor der Realität des
Arbeitsmarktes werden sie wohl kaum bestehen. Schließlich wird das Potenzial für einen
Generationenkonflikt auch noch auf der anderen Seite geschürt. Durch die neuen Möglichkeiten
für Jugendliche nach westlichem Vorbild zu konsumieren und sich zu organisieren.

2.3 Urbane Befreiung und politische Verantwortung

Vor allem die Stadt ermöglicht jungen Menschen die Einforderung von Jugend als freie und
persönliche Lebensphase jenseits von Familie, Schule und Arbeitsplatz. Damit ist selbstbestimmte
Jugend in Vietnam zunächst ein urbanes Phänomen. Dort entsteht sie, durch städtische
Entwicklung ist sie geprägt. Hanoi, Ho-Chi-Minh Stadt, Hai Phong, Danang, Can Tho. Städte die
aufwachsen. Das Ziel: groß und wichtig werden, wie Singapur, wie Seoul. Wohin geht die
Städtereise? Zumindest Ho-Chi-Minh Stadt und mit Abstrichen auch Hanoi scheinen auf dem
besten Weg zu pan-asiatischen Metropolen.

Der urbane Raum bricht, einem Prisma gleich, organische Lebenswelten auf, teilt sie in
Bestandteile, in unterschiedlich formalisierte und individuell zurechenbare Bahnen und Übergänge.
Seine Ethik sind Vielfalt, Auswahl, Zugang und Mobilität. Die Stadt ermöglicht und bedingt durch
ihr Angebot an Konsumgütern, Kommunikations- und Assoziationsmitteln, ihre nationale und
internationalen Perspektive, ihre Verdichtung staatlicher Macht, und die pure Intensität alltäglicher
Begegnungen und Tauschbeziehungen die Entwicklung sowohl neuer Freiheiten als auch neuer
Zwänge.

In den zunehmend schrumpfenden städtischen Familien wachsen immer mehr Jugendliche in


ihrem eigenen Zimmer auf. Ein Mehr an Privatsphäre. Nun bekommen die Eltern noch weniger mit,
mit wem und in welchem Umfang das Kind mit dem Handy telefoniert und im Internet surft.
Zugleich beginnt jenseits des städtischen Wohnraums die Anonymität. Die Nachbarn sind Fremde.
Das Stelldichein am Hanoier Westsee mit dem neuen Freund ist möglich, ohne dass die Eltern
davon erfahren. Die Wahrscheinlichkeit einen Freund oder eine Freundin vor der Ehe zu haben ist
für Jugendliche in der Stadt höher als für ihre Altersgenossen auf dem Land (36% zu 25%). Eher
suchen sie auch eigenständig ihren Partner aus und haben in der Regel früher ihren ersten Sex. Vor
der Ehe die wenigsten jedoch davon zuhause.

Die Stadt lädt ein zum verabreden und ausprobieren. Skateboard fahren vor dem Lenindenkmal,
Tanzgruppen und Diskussionsrunden im Park. Jugendaktivitäten in Vietnam organisiert von den
Jugendlichen selbst. Entsteht da eine Subkultur? Die Breakdancer tanzen abends in dem
öffentlichen Raum an dem man morgens ihre Eltern beim Tai Chi, Aerobic oder Federballspiel
antrifft. Beide verbindet die Hingabe. Hier kann von Flucht vor dem Elternhaus oder gar
rebellischem Verhalten keine Rede sein. Alles ist möglich, solange die Zensuren stimmen. Aber
immerhin, neu sind die Vielfalt und Öffentlichkeit der Ausdrucks- und Assoziationsformen
Jugendlicher in Vietnam. Neu ist auch ihre Kaufkraft. Segen für eine stetig steigende
Binnennachfrage. Triebfeder dieser Nachfrage ist die Unterscheidung. In Mobiltelefonen und
Mopeds finden das demonstrative, statusmotivierte Element des Verbrauchs unter jungen
Menschen seine Erfüllung.

Selbstbezogener Konsum und selbst-organisierte Aktivitäten, so erlebt man urbane Jugend in


Vietnam zunächst. Für den Betrachter hat das etwas von Ausleben, von Befreiung. Die Freiheit hat
jedoch einen Preis. Die Ausdehnung der Freizeit und ihre flexiblere Nutzung ist das Ergebnis länger
Studienzeiten. Möglich gemacht durch die Eltern, nicht durch den Staat. Auch die neuesten Handys
und Mopeds werden von den Eltern finanziert. Die neue Freiheit funktioniert nur durch noch mehr
finanzielle Abhängigkeit von den Eltern. Dennoch scheint der Anfang gemacht. Junge Menschen,
die ihre individuellen und persönlichen Lebenswelten freier gestalten – Jugend im westlichen
Gewand. Doch welche gesellschaftliche Verantwortung übernehmen sie, engagieren sie sich
politisch? Noch dazu in einem sozialistischen Land in dem zivilgesellschaftliches Engagement und
Organisation von Interessen nicht frei sind. Hier ergibt sich ein enormes Konfliktpotenzial, junge
Vietnamesen konsumieren und organisieren sich selbst, doch was ist wenn sie selbst politisch tätig
werden wollen. Oder haben sie gar ihr Interesse an gesellschaftlicher Mitwirkung bereits am
Wühltisch neuester Produkte abgegeben? Die Suche nach Potenzialen und Wirklichkeiten
politischer Teilhabe beginnt zunächst bei den formalen Bedingungen für Jugendrepräsentation und
-organisation.

Eine klar definierte Jugendpolitik gibt es in Vietnam nicht. Ein Ministerium, dass sich mit Jugend
direkt befasst sucht man vergeblich. Am nächsten kommt dem noch das Nationalkomitee der
Jugend (NCYV), das direkt dem Premierminister unterstellt und unter anderem von Vertretern der
einzelnen Ministerien besetzt ist. Auch gibt es in der Nationalversammlung Vietnams einen
Ausschuss zu „Kultur, Bildung, Jugend, Kinder und Säuglingen“. Messen kann man Repräsentation
der Jugend an deren Vertretung in der Nationalversammlung. Dort waren in den letzten Jahren um
die 8% der Delegierten unter 30 Jahren alt. Nichtsdestotrotz, insgesamt scheint die
institutionalisierte Repräsentation junger Menschen für ein so junges Land wie Vietnam wenig
ausgeprägt.

Der Schein trügt jedoch. In Vietnam wird Jugend („Thanh niên“) schon seit der Geburt des
sozialistischen Staats durch Massenorganisationen und Kampagnen in die Gesellschaft getragen
und im öffentlichen Diskurs verankert. Da gibt es den Dachverband Jugendföderation, dessen
Mitgliedschaft offen für alle ist, sowohl Individuen als auch Organisationen. Seine prominentesten
Mitglieder sind der kommunistische Jugendverband Ho-Chi-Minh, der Verband junger
vietnamesischer Unternehmer und der Studentenverband. Alle diese Organisationen organisieren,
publizieren, forschen und sind über ein Netzwerk von Ortsverbände mit der Gesellschaft
verflochten. Die Monopolisierung der Jugendarbeit durch Massenorganisationen, sie erklärt
vielleicht die geringe Bedeutung des Themas in anderen institutionellen Kontexten.

Der kommunistische Jugendverband Ho-Chi-Minh ist die wichtigste Jugendorganisation in Vietnam.


Über sein Führungspersonal ist der Verband im Nationalkomitee der Jugend von Vietnam (NCYV)
vertreten. Der Jugendverband ist einflussreich, nicht zuletzt auch weil er die Kaderschmiede der
Kommunistischen Partei ist. Nur durch ihn bringt man es in der Partei zu etwas. Daher ist er auch
exklusiver als etwa die Jugendföderation, nicht jeder kann Mitglied werden. Sein Anspruch ist
jedoch ein anderer, er appelliert an die gesamte Jugend Vietnams: „übernehmt Verantwortung für
die Gesellschaft, verbessert sie durch freiwilliges Engagement!“ Gesellschaftliche Entwicklung, das
ist ein abstrakter Prozess, der vor dem Hintergrund sozialer Unterschiede, starker Familienbande
und fehlender Invasoren in Vietnam nur schwer für das Individuum als handlungsleitend zu
vermitteln ist. Um ihre Botschaft wirkungsvoll zu artikulieren verfügt der Jugendverband daher
über einen weitverzweigten Apparat. Er reicht von der nationalen bis herunter zur Dorfebene und
organisiert unter anderem die ideologische Schulung der Jugend, Freiwilligendienste und den
internationalen Austausch. Dazu kommen: eine eigene nationalen Zeitung (Tuổi Trẻ),
Verlagshäuser, ein Jugendforschungsinstitut und ein Radiosender. Mit über 6 Millionen Mitgliedern
ist der kommunistische Jugendverband Ho-Chi-Minh das Machtzentrum sozialistischer
Jugendorganisation in Vietnam.

Welchen Einfluss hat der Jugendverband auf die Jugend? Zahlen gibt es leider keine,
Beobachtungen und Gesprächen bleiben die einzigen Anhaltspunkte. Der Eindruck ist: alle kennen
die Jugendunion, einige haben schon an ihren Aktivitäten teilgenommen, wenige engagieren sich
allerdings langfristig in der Organisation. Das alltägliche Leben der meisten jungen Vietnamesen
scheint nicht sonderlich von der Jugendunion beeinflusst – insbesondere auf dem Land. Der
Verdacht liegt nahe, die politische und Sozialisation junger Vietnamesen deckt sich nicht mehr mit
dem was Jugendliche im Alltag bewegt – ja steht sogar mit ihr im Widerspruch. Die Jugend
Vietnams ist offenbar nicht die Jugend der Partei.

Und doch kennt jeder in Vietnam den Jugendverband. Und man begegnet häufig den Jugendlichen
mit den blauen Hemden des Verbandes bei ihren öffentlichen Aufgaben, als Verkehrsordner auf
den chaotischen Straßen Hanois, bei Aufräumarbeiten nach Überschwemmungen oder neuerdings
im Dienste eines Millionen Dollar schweren Programms für die Förderung von Berufsausbildung.
Selbst wenn nur ein Viertel der Jugendliche des Verbandes in jedem Jahr in jeder Commune des
Landes aktiv sind, bei insgesamt 6 Millionen Mitgliedern macht das immerhin 1,5 Millionen
Freiwillige. Bei aller Schwierigkeit deren Aktivitäten national zu koordinieren, das ist
rekordverdächtig im Bereich staatlich gefördertes ziviles Engagement. Und damit das so bleibt
modernisiert sich der Jugendverband. Mit Hilfe internationaler Freiwilliger baut man etwa derzeit
ein Freiwilligendienstportal auf um kommunale Aktivitäten besser zu koordinieren und
bedarfsgerechter Freiwillige zu rekrutieren. Auch führt man für eine effektivere Organisation nun
horizontale Netzwerke ein. Früher war der Verband räumlich hierarchisch organisiert, von der
Putzfrau bis zum Chefarzt, die Einheit war das Krankenhaus. Doch seit neuestem wird geclustert:
Ärzte mit Ärzten, Philosophen mit Philosophen, Angestellten mit Angestellten. Der Dinosaurier
Jugendverband kann auch Nager sein. Er versucht die Herausforderung anzunehmen, die Jugend
für das nationale Projekt zu interessieren und mobilisieren. Und die internationale NGO Care
bescheinigt ihm großes Potenzial dazu. Im Rahmen eines von der UNDP geförderten Projekts zur
gemeinschaftsbasierten HIV/AIDS Vorbeugung und Verhaltensänderung wurden Mitarbeiter des
Verbandes ausgebildet und die Thematik nahtlos in die Agenda des Verbandes integriert – trotz
einer fehlenden nationalen Regierungsstrategie zu Jugend und AIDS. Integrierte man diese
Aktivitäten ins Tagesgeschäft auf allen Ebenen des Verbandes und verbesserte die
Projektplanungs- und Durchführungskapazitäten so sei, laut CARE, nachhaltige Breitenwirkung von
Aktivitäten möglich.

Die kommunistische Partei ist der Mechanismus mit dem politische Teilhabe der Jugend in Vietnam
gesteuert wird. Die Partei macht Jugendpolitik, nicht der Staat mit seinen Gesetzen und sozialen
Systemen. Diese Unterscheidung ist aus zwei Gründen wichtig. Erstens geht es darum Jugendpolitik
in Vietnam nicht als monolithisches System zu betrachten, sondern als Sammlung verschiedenster
intransparenter Strukturen und Aktivitäten. Diffuse Macht. Im zweiten Schritt gilt es hinter
freiwilligen Engagement vieler Jugendlicher im Rahmen dieses Gebildes eben nicht einfach
ideologische Steuerung zu vermuten, sondern vor allem auch Gestaltungskraft die Wirkungen
erzielt. Grassroots, vielleicht.

Die Betonung der aktivierenden Funktion vietnamesischer Jugendpolitik ermöglicht jedenfalls, den
Widerspruch zwischen selbst-organisierter urbaner Jugend und Konsumkultur und sozialistischer
Jugendorganisation zu entspannen. Damit knüpft die Logik der politische Integration in die
Gesellschaft durch die Partei sogar an die zersetzende Logik der Individualisierung an. Selbst-
organisierte Tanzgruppe oder selbstloses Engagement beim Jugendverband, die Ziele sind
verschieden, das leitende Prinzip ist Freiwilligkeit, die Betonung ist auf „selbst“. Mit dieser
Perspektive kann man Massenorganisationen schließlich auch als Vermittler zwischen apolitischer
Jugendkultur und politischer Führung zu begreifen. Sie haben das Potenzial gesellschaftliche
Konflikte, die jenseits von Familie und Arbeit entstehen aber bis in diese Institutionen wirken,
aufzufangen, den Tatendrang und die Hoffnungen der Jugend in das nationale Projekt zu leiten und
so im gleichen Atemzug politische Herrschaft zu legitimieren.
3. Ausblick

„Die Jugend ist die Zukunft des Landes, eine mächtige soziale Kraft und besitzt großes Potenzial für
den Aufbau und die Verteidigung der Nation. Ausbildung, Weiterbildung und Förderung der Jugend
ist die Verantwortung des Staates, der Familie und der Gesellschaft“ (Artikel 4, Abs. 1. Allgemeine
Bestimmungen, Jugendgesetz Vietnam 2005)

Werden junge Vietnamesen dieser Aufgabe gerecht werden? Der Druck wächst. Knapp die Hälfte
der Patienten eines Hanoier Krankenhauses, die einen Selbstmordversuch begangen hatten, waren
zwischen 15- und 24 Jahre alt. Das ergab eine Studie von 2005 zu „versuchtem Selbstmord in
Hanoi“ (Huang Tran Thi Thanh). In Europa waren es laut einer WHO-Studie nur 28 Prozent.
Hauptursache für den Versuch waren Probleme in der Familie.

Der Versuch sein Leben zu beenden ist wohl der extremste Indikator für die gescheiterte soziale
Integration eines jungen Menschen. In Vietnam weiß man über das Problem nur sehr wenig,
nationale Zahlen werden nicht erhoben. Die Leiden und das Scheitern junger Menschen, das ist in
Vietnam das Geheimnis der Familie und daher kaum systematisch erfassbar. Ebenso übrigens wie
Heroinsucht, AIDS, Gewalt und andere sich ausbreitende „gesellschaftliche Übel“. Die Bekämpfung
der Armut weicht in Vietnam jedenfalls langsam der Bekämpfung von Wachstumsfolgen. Doch
welchen neuen zentralen Konflikt gilt es dabei zu lösen?

Die Entfremdung der Jugend von ihrer Elterngeneration. Aufgrund der großen Zahl junger
Menschen und der dementsprechend schwierigen Arbeitsmarktsituation werden junge
Vietnamesen den Hoffnungen ihrer Eltern und vor allen Dingen deren Investitionen nicht gerecht
werden können. Gäbe es eine ausgeprägte Kultur der Achtung individueller Lebenskonzepte, wie
etwa in westlichen Ländern, so wäre dies weniger dramatisch. Nur ist in Vietnam die Familie
weiterhin der entscheidende Raum sozialer Integration Junger Menschen, bis in das
Erwachsenendasein hinein. Emanzipation von den Eltern, Aufstand der Jugend gegen die
Elterngeneration, das ist nicht zu erwarten.

Paradoxerweise auch aufgrund individualisierender Prozessen, die es in Vietnam erst neuerdings


gibt. Mobilität, steigende Anforderungen im Bildungswettbewerb und im Kampf um Arbeitsplätze,
Zugang zur Welt des Konsums und das Ausleben eigener Interessen. Junge Vietnamesen ist es
heute möglich sich ganz neu in der Gesellschaft zu orientieren und zu bewegen. Das Problem, in
der Folgte rückt das selbst in den Mittelpunkt, es wirft die sozialen Umstände des Einzelnen auf
seine eigenen Handlungen und Leistungen zurück und macht ihn mit anderen vergleichbar. „Ich
scheitere, weil ich nicht gut genug war.“ Das ist neu, denn traditionell heißt es in Vietnam kraft der
Herkunft und der Familie und nicht aufgrund von individuellen Handlungen steht der Mensch da
wo er ist. Vietnamesen sind traditionell im Geiste Soziologen. Während die Eltern also noch die
Leistungen ihrer Kinder als eine natürliches Ergebnis der Familienanstrengungen betrachten,
können sich die Jugendlichen nicht darauf ausruhen, sondern sollen neben der Familie auch für
sich selbst Verantwortung übernehmen. Aufstand passt nicht in dieses engmaschige Anspruchs-
und Verantwortungsmuster. Viel eher Verzweiflung.

Doch ganz so einfach ist es nicht. In Vietnam ist die soziale Integration junger Menschen ein
widersprüchlicher Prozess. Allerdings liegt dies nicht nur an Vietnam, sondern auch an der
westlichen Brille. Das Problem: man sucht Brüche und erhebt sie zu Wegweisern der
vietnamesischen Entwicklung, bleibt dabei jedoch blind für Kontinuitäten und
Anpassungsleistungen. Und Vietnamesen sind äußerst anpassungsfähig. In der Verbindung von
Tradition und Moderne ließen sich so auch Vietnam Lösungen für die Integrationsprobleme junger
Menschen finden. Das Potenzial dazu ist da.

Scheitern die Übergänge in Arbeit und Lohn, so ist auch vorstellbar, dass Familien schlicht ihre
Ansprüche und Investitionen auf Realitäten einstellen. Das ist plausibel wenn man bedenkt, dass
die Elterngeneration in Vietnam Krieg, Armut und Unsicherheit noch kannten und somit, anders als
etwa die gleiche Generation in Deutschland, die Unsicherheiten ihrer Kinder heute noch
nachvollziehen können. Gleichzeitig liegt gerade für die Beschäftigungsproblematik junger
Menschen in Vietnam die Lösung im Familienunternehmen und im informellen Sektor. Dieses
durch soziale Netzwerke gestützte Auffangbecken ist in Vietnam noch sehr groß und bietet gerade
in der Krise Arbeitsplätze – auch wenn es der westlichen Vorstellung gleicher Aufstiegschancen und
transparenter Arbeitsmärkte widerspricht. Und schließlich gibt es da noch die Partei. Ihre
Massenorganisationen haben ein immenses Potenzial Jugendliche auf breiter Basis zu erreichen
und sie für die Industrialisierung und Modernisierung Vietnams zu gewinnen. Sie sind für die
Politik die Brücke in den Alltag junger Menschen und zugleich legitimierender Rückführkreis.
Arbeit, Familie und Partei, das Potenzial die Konflikte und Probleme der sozialen Integration junger
Menschen zu bearbeiten ist da. Gezwungen es zu nutzen ist man.

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