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Donarstag, 13.

Januar 2011

Lieber Ernst,

dieser Tage erinnerte ich mich daran, dass du mich vor zwanzig Jahren ohne ein Abschiedswort
verlassen hast. Nicht dass ich dir irgendetwas vorzuwerfen hätte. Nein, es ist lediglich
ein Gedankenwirbel, ein Gehirnrauschen, oder vielmehr eine winzige Impulsfolge in den
unerforschten Ganglien, die der Mensch ohnehin nicht unter Kontrolle hat.

Ja nun, was wir in den Siebzigern in unseren Diskussionen vorausgeahnt haben, wird jetzt in
den jährlichen Überschwemmungen sichtbar. Das Klima beginnt sich zu rühren und protestiert.
Ozeane werden aufgewärmt und neue Sintfluten bahnen sich jährlich in der Monsunzeit einen
Weg. Letztes Jahr war es Pakistan wie zuvor Bangladesh. In diesem Jahr sind Westaustralien
bei Brisbane, die USA und Brasilien an der Reihe, aber in kleinerem Stil auch Heidelberg,
Wertheim, gar unser Städtchen und das winzige Unterweissach. Die Landschaften oder auch
nur die Ortskerne wurden überall mit einer braunen, lehmigen Brühe oder Schneedecken
übertüncht - wie in den früheren Jahrhunderten, als ob der Mensch bereits wieder jegliche
Kontrolle verloren hat. Wir haben die Kontrolle ohnehin nie wirklich gehabt, aber von deiner
hohen Warte aus kannst du das ja alles viel besser überschauen.

Auch unser Labor, wo wir einst zusammen gearbeitet haben, ist nicht mehr. Es wurde
abgerissen und hat einem Betonbunker platz gemacht, der jetzt auch schon wieder einige
Jahren leer steht. Einmal wöchentlich kommt noch der Nachtwächter vorbei um zu sehen, ob
der letzte auch wirklich das Licht ausgeschaltet hat. Auch deine letzten Entwürfe liegen dort
wohl noch im Lager – eingemottet.

Nein, der Club von Rom hatte schon Recht und das Treiben der Menschen ist hirnrissig. Bei
der Ausarbeitung von Alternativen haben wir uns schon damals den Kopf über die gespaltenen
Gesellschaft zerbrochen. Noch immer ist die Menschheit in zwei Lager verteilt, deren eine
Hälfte vom Glauben und die andere Hälfte von der Vernunft und Politik gesteuert wird. In der
Politik hat der Kommunismus ausgedient, aber an dieser Stelle ist nicht gerade die Vernunft,
sondern eher das Gegenteil getreten.

Die Mechanismen des Glaubens und die Leitfäden des Lebens, die wir vor dreißig Jahren
diskutiert haben, sind mir mittlerweile ziemlich klar geworden. Angefangen hatte es wohl als
ein inspirierender Fruchtbarkeitskult, dann aber setzte sich eine aggressive Männerdominanz
durch, die auch vor einer Anpassung der Schöpfungslegende keinen Halt eingelegt hat.

Es finden jetzt langsam Anpassungen statt – es wird aufgeräumt, leergefegt, geputzt – was
man eben nach einer Sintflut so macht. Mann macht sich Gedanken über die Aktienkurse und
Staatsverschuldung - Frau kauft neue Kleider. Ein einziger Monsun pro Jahr ist noch zu wenig
überzeugend. Wir jedoch geben die Hoffnung nicht auf...
Es gehe dir gut. Ich hoffe, dass du dich in deinem wolkigen Wohnort wohlfühlst. Vergiss nicht
immer wieder ein kräftiges Halleluja zu singen, sobald wir den nächsten Frühling unbeschadet
erreicht haben - und grüße mir den Herrn.

Dein alter Kamerad,


Hans

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