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Geschwindigkeit der Kunst

von Boris Groys

In unserem Jahrhundert hat Kunst eine bisher nie vermutete Geschwindigkeit erreicht. Es handelt
sich dabei nicht um die Wiedergabe der Geschwindigkeit in der Kunst, mit der sich u.a.
Futuristen beschäftigt haben, sondern um die Geschwindigkeit der Kunstproduktion selbst. In
erster Linie hat das Ready-madeVerfahren von Duchamp die Geschwindigkeit der Kunst fast bis
zum Äussersten erhöht: Es genügt heute, dass ein Künstler ein beliebiges Fragment der Realität
als Kunst ansieht und benennt, damit dieses Fragment tatsächlich zum Kunstwerk wird. Die
Kunstproduktion erreicht hier beinahe Lichtgeschwindigkeit. Neben der Atomspaltung ist das
Ready-made-Verfahren wahrscheinlich die höchste technische Errungenschaft dieses
Jahrhunderts, wenn man dafür die erreichte Geschwindigkeit als Kriterium nimmt. Diese erhöhte
Geschwindigkeit sichert den visuellen Künsten in unserer Zeit eine gewisse kulturelle
Vormachtstellung, die deutlich wird, wenn man beispielweise die Geschwindigkeit der
Bildproduktion mit derjenigen der Textproduktion vergleicht.

Aber diese erhöhte Geschwindigkeit der Kunst wird zugleich als gefährlich erlebt und gebremst,
so wie man die Atombombe auch nur sehr ungern benutzen würde. Die Geschichte der Künste
nach ihrer Beschleunigung am Anfang dieses Jahrhunderts ist die Geschichte ihrer
Verlangsamung. Die wirksamste Bremse für die Kunstgeschwindigkeit ist dabei das moderne
Kriterium des Neuen. Nicht alles, was man zur Kunst erklären kann, wird nämlich in der Tat als
Kunst anerkannt. Vom künstlerischen Blick wird erwartet, dass er das Neue zeigt, d.h. etwas, was
in den real-existierenden Kunstarchiven noch nicht vorhanden Da diese Archive sich ständig
füllen und die Kunstöffentlichkeit nicht immer grosszügig genug ist, um diese oder jene
Abweichungen vom schon Gesehenen als Neues zu akzeptieren, wird die Kunstproduktion durch
die Forderung, neu zu sein, mit der Zeit zunehmend gebremst. Die Okonomie der Innovation
verhindert das ungebremste Kunstwachstum. Die Forderung nach dem Neuen dient also
keineswegs der Beschleunigung der Kunst, sondern ihrer Verlangsamung.

Manchmal bewegt sich die Kunst mit ihrer Beinahe-Lichtgeschwindigkeit einfach zu schnell, um
ihre Innovationen von aussen als solche registrieren zu lassen. Die Aussenwelt sieht in diesen zu
rasch vorbeiziehenden innovativen Abweichungen, die zu klein, zu unscheinbar, zu undeutlich zu
sein scheinen, oft nichts Neues - und verwirft sie. Der Künstler ist deswegen gut beraten, wenn er
sich auch etwas bremst und die Geschwindigkeit seiner Kunst mit dem Tempo des Lebens da
draussen synchronisiert. Dann kann er auch von anderen besser wahrgenommen und
"nachvollzogen" werden.

Fischli und Weiss sind immer grosse Verlangsamer gewesen. So schnitzen sie beispielweise ihre
Ready-mades-ähnlichen Objekte in mühsamer, langsamer Arbeit aus dem Polyurethan, statt sie
mit besagter Lichtgeschwindigkeit aus der sie umgebenden Wirklichkeit einfach auszuwählen.
Damit haben sich die Künstler scheinbar an die normale Geschwindigkeit einer handwerklichen
Arbeit angepasst und sich dem Zeitgefühl des Lebens angenähert. Nur bleibt dabei ein Problem
freilich bestehen: Diese Verlangsamung wird gerade von aussen nicht bemerkt, weil die
geschnitzten Objekte äusserlich so aussehen, als ob sie bloss ausgewählte Readymades wären.
Fischli und Weiss simulieren also Ready-made-Verfahren mit handwerklichen Mitteln - ein
Vorgang, der eine Umkehrung der in unserem maschinellen Zeitalter üblichen Praxis darstellt,
bei der die handwerkliche Arbeit industriell simuliert wird.

Wie immer in solchen Fällen, gibt es für eine solche Umkehrung gleich mehrere Gründe. Aber
zumindest eine Folge dieser Strategie besteht darin, dass die Künstler dadurch die Möglichkeit
bekommen, Ready-mades noch einmal auszustellen, ohne dem Vorwurf ausgesetzt zu werden, ihr
Werk sei nicht neu, denn Ready-mades handwerklich zu produzieren ist auch dann - und
besonders dann - neu, wenn man es gar nicht merkt. Dadurch entgehen Fischli und Weiss der
Bremswirkung, die die Forderung nach dem Neuen für die Geschwindigkeit ihrer Kunst darstellt,
und können ruhig und unzensiert alles aus dem Leben zitieren, was ihnen gefällt solange sie die
Mühe auf sich nehmen, das Zitierte handwerklich zu verdoppeln. Eine Verlangsamung des
Kunstproduktionsprozesses auf der einen Ebene dient also bei Fischli und Weiss der Erhöhung
der Geschwindigkeit ihrer Kunst auf einer anderen - und viel wichtigeren - Ebene. Und diese
erhöhte Geschwindigkeit liefert den Künstlern wiederum die Berechtigung, Dinge zu geniessen,
die andernfalls der Innovationszensur geopfert werden müssten. Das gilt auch für ihre
Ausflugsvideos, die sie an der Biennale in Venedig ausstellen.

Was verdient unsere Aufmerksamkeit - und was nicht? Welches Bild unter Tausenden und
Abertausenden von Bildern, mit denen wir ständig konfrontiert sind, sollen wir als wertvoll
auswählen - um andere als wertlose aus dem Gedächtnis zu verdrängen? Und nach welchen
Kriterien? Fischli und Weiss sind für diese Unsicherheit bei der Auswahl der Bilder besonders
empfindlich, weil sie sich lange mit der Ready-made-Problematik beschäftigt haben, in deren
Zentrum die Frage nach den Auswahlkriterien steht.

Quelle:
Bice Curiger, Patrick Frey, Boris Groys: Peter Fischli David Weiss
Zürich: Verlag Lars Müller 1995, S. 25-27 (XLVI Biennale die Venezia)

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