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45 Festspielzeit in Bayern 4 - Juli 2000 Bayreuther Fesispiele - SIEGFRIED Pause 1 Studio: Montag, 22. Mai 2000 - 14-16h - Sp 4/121 Siegfrieds erster Flirt: Der Waldvogel ‘Sprecher: Katja Schill (W), Fabian von Kiitzing (M) Text: Roland Dippel W — Genau in der Mitte des zweiten Ring-Tages erschidigt Siegfried den in einen Wurm verwandelten Riesen Fafner. M- Wie sah meine Mutter wohl aus" W -..fragt er sich im ,Waldweben' vor dem Drachenkampf - und findet keine Ant- wort, Siegftied lenkt sich ab, auf einem Stick ,Rohrgebisch’ blasend ahmt er den Gesang eines Waldvogels nach: M- ,Entrath' ich der Worte/achte der Weise,/sing’ ich so seine Sprache,/versteh' ich wohl auch was er spricht." W— Der Versuch misiingt ihm. M - ,.Vdglein, mich dinkt./ich bleibe dumm:/ von dir lemt sich's nicht leicht. Nun schém' ich mich garf vor dem schelmischen Lauscher/ er lugt, und kann nichts eriauschen.” W - Der Kampf gegen den von Wagner ,Wurm' genannten Drachen, das oft mit Flugein gedachte Fabetwesen, stent auch daftir, daB der Sieger lastende Boden- schwere und elgene negative Antriebe Gberwindet. Mit Fafners Tod wird Siegiried innerlich frei fOr die Wahmehmung bis dahin vom ihm nicht bemerkter Sphdren —ais er mit Fainers Blut seine Zunge benetzt, versteht er den Gesang eines Waldvogels ais menschliche Sprache. 'M - FUnfmal insgesamt erhebt der Waldvogel seine Stimme zur Rede: Er fordert Siegiied auf, sich Ring und Tarheim zu nehmen, wart ihn vor Mimes Mordabsicht und berichtet von BrUnnhilde. Diese erbat sich in der SchluBszene der Walktre von Wotan, daB nur der ,Hehrste Held der Welt" sie erwecken kénne. Auch nennt der Vogel Siegiried nach einer elegischen Selbstdarsteliung die wesentliche figen- schaft des WalkUrenenweckers: Furchtlosigkeft. Von der Mutter lenkt der Waldvogel Siegtrieds Neugier auf das Geschlechtswesen Frau. Im Zeitratfer durchelit der Dro- chentéler die Eniwickiungsstufen vorn Knaben zum Mann, der Waldvogel ist Sieg- ftleds Geftihrte fOr die Daver seines ,Frohlings Erwachens' W - Wagner selbst nannte den aweiten Tag des Bihnenfestspiels, diesen ménnii- chen Pubertdtsverlaut. in einem Brief an Franz Liszt ein Heroisches Lustspiel. Und nicht nur Carl Dahihaus bezeichnete ihn als idylisches Intermezzo und dramatisches Mérchen. Er argumentierte: M- Das ,Marchen ereignet sich, im Unterschied zu einer Sage oder Legende, au- Berhallb der historischen wie der mythischen Zeit: niemals und nirgends und immer und Oberall. Und was Siegfried von der Géiterdémmerung uniberbrickbar trennt ist die Zeitlosigkelt des Marchens gegeniber der Zeitlichkeit des Mythos." W- Und weiter: M - ,Die Differenz zur Gétterdémmerung - und andererseits zur Walkie ~ ist auch musikalisch fUhibar, und zwar bis in Details. Charakteristiche Motive des Siegfried, das Waldweben, der Waldvogelgesang und Siegfrieds Homruf, widersetzen sich gleichsam dem musikalischen Zeitverlauf." W - Die Motive Waldweben, Waldvogel-Gesang und Homruf hatte Wagner in der Siegiried-Parlitur unmittelbar vor dem Drachenkampf entwickell und als musikali- sche Inseln nach Mimes Sireit mit Alberich sowie Siegfrieds Mord an Mime wieder autgenommen. M - Deshall sind in jeder Inszenierung Rohrpfeife und Hom unerlassliche Requisiten Hingegen ist die Phantasie der Regisseure mit der Inszenierung des Waldvogels ge- fordert, sofern seine Stimme nicht aus dem Orchestergraben oder von der Seiten- bbUhne ohne szenische Présentation der Figur erkinat, 60 75 90 los 2 W ~ Drei konirastierende Inszenierungsbeispiele seien genannt: Siegfied Schén- bohm zeigie den Waldvogel 1986 am Staatstheater Kassel in einem mit fldgelarti- gen TUchem bespannten leichten Flugwerk, er erscheint Siegfried als schwereloser Paradiesvogel. in Patrice Chéreaus Bayreuther Jahrhundert-Ring 1976 saB er im Ka- fig als Instrument der Manipulation Siegtrieds durch Wotan. Und Ruth Berghaus be- setzte an der Oper Frankfurt den von ihr Agent Wotans" genannten Waldvogel mit gleich drei Téizer Séngerknaben. Mit ihnen, deren Kosttime dem des Drachentdters Ghnelien, spiegelte sie Siegfried Reiteprozess zwischen Wald und Walkirenfelsen. M - Was beabsichtigte Richard Wagner mit dieser Episoden-Figur, deren zoologi- sche Art er nicht festlegte? Bemerkenswerl ist dies insofem, weil es in der Poesie kei- neswegs gleichgttig war, wer da pfiff und gurrle - ob Schwalbe, Taube oder Nachtigall? Der Ring-Luschauer ist angewiesen auf eigenes Erinnem an die archal- sche Symbolik des gefidgelten Sanger. W-Im Marchen helfen Held und Vgel einander. Der Flug der Végel eweck! Sehn- sUchte und Femweh, sein schéner Gesang |GBt das Menschenherz héher schlagen: Auch Siegfrieds Puls beschieunigt sich bei des Vogels Kunde vorn unbekannten We- sen, dem ,herfichsten Weib" Brinnhilde in sinnlicher Eregung. M- Mit dem offenbar gleichen, rhythmisch und melodisch jedoch sténdig geting- fgig abgewandelten Versen des Waldvogel-Parls imilierte Wagner den natiiri- chen Vogelgesang. Er schrieb den Part fOr einen Sopran mit leichter Héhe: Dieser Stimmtypus, der Lyrische Koloratursopran, war das Paradefach der Musiktheater- Genres, die Wagner mit seiner an der dramatischen Situation und Deklamation ausgerichteten Kompostionstechnik Gberwinden wollte. W- Ein ,Weib' nannte Wagner in Oper und Drama die traditionelle Oper und holte aus zum Radikalschlag gegen ihre nationalen Ausprégungen: Das italienische Me- lodrama nannte er ,Lustdirne', die franzésische Oper ,Kokotte" und die deutsche .Pride*. Primadonnen wie Jenny Lind oder Henriette Sontag verkérperten in Werken dieser sich gegenseitig beeinflussenden Nationaistile Prinzessinnen, empfindsame Borgerinnen und durch Wahnsinn ihre Jungfréulichkeit schitzende Heroinen. M- Primadennen, die wie Nachtigallen und Kanarienvégel Opemhauser und bir getliche Salons mit hohen Ténen fullten - der Vergleich von Séngerinnen mit Végeln hatte nur selten negative Bedeutung, war vielmehr Zeichen herausragender Ver- ehrung, W- Das Publikum erlebte verborgene Sehnstichte im Gesang von Primadonnen, die in ihren BUhnenschicksalen den Tabubruch volizogen, den die Zuschaver in der Realitat nicht wagten und verurteilien. M- Dem Lytischen Koloratursopran hatte Wagner nur sogenannte Zweite Rollen‘ zugedacht. im Rienzi den Friedensboten. Der Hirt mit seiner Schalmei ist Teil der von Tannhduser nach seinen Venusberg-Exzessen genossenen Naturidylle. Die Rhein- tOchter - durch den Goldraub ihrem naturhaften Sein enifremdete Wasserwesen - und Klingsors Blumenméicichen gehorchen dem Rhein beziehungsweise dem imy tenten Magier. Der Waldvogel ist jedoch weder Handlungstréger noch kolori sches Beiwerk. In vieren seiner fUnf Gestinge vermittelt er Siegftied wesentliche In- formationen. W- Der Horer nimmt die ersten drei WaldvogelGesdnge als Strophen wahr, cbwoh| Wagner die Melodie-Perioden staindig minmal abwandelte. Sie beginnen auf ver- schiedenen Takt-Schlagen, Uber den Streicher-Tremol ist ihr Rhythmus unregelma- Big. An der Texistelle ,.O traute er Mime dem Treulosen nicht" wechselt fOr nur eine Einheit sogor der Takt. Damit entlarvt Wagner - kaum wahmnehmbar in den dichten Orchesterstimmen - Mimes Falschheit. Schwer AuszufUhrendes forderte Felix Mot in Ubereinsimmung mit dem Komponisten von den Séngerinnen des Waldvogels in einer FuBnote seines Siegtried-Klavierauszuges,... M- ...,da8 der Gesang mit der letzten Note des Taktes jedesmal genau aut das rite Teil desselben fall. W- AuBergewohnlich ist, daB Wagner, der in sp&teren Werken Sing- und Orchester stimmen in staindiger Bewegung durch die Tonarten trieb, den Waldvogel-Part in 120 13s 150 les 3 nur einer Tonart, £-Dur, notierte. Die tonale Stabilit&t bewirkt im Konirast zu Siegtrieds mit melodischen Aufschwingen durchsetzter Deklamation den schwebenden Ein- ruck, M- Von der Information zur Iyrischen Selbstbetrachtung wechsell der Vogel in der ersten Coda: W- , Lustig im Leid/ sing' ich von Liebe:/ wonnig aus Weh'/ web’ ich mein Lied:/ nur Sehnende kennen den Sinn." M- Hier &ndem sich Rhythmus und Melodie. Den sachlichen Informationen folgen nun zwel inhaltlich begrtindete autfordemde Gesten - der Vogel {Uhr Siegfried zum Walkirenfelsen. W — Begriindet ist jedoch nicht vom Waldvogel enwahntes Leid und Weh im Lied, ‘auf das Siegiried nicht gerade sinnvoll antwortet. M- Holder Sanger!" W-_. nennt er den Vogel mit einer Floskel erotischer Werbung. Fur nur wenige Se- kunden sind die Gegenstitze Vogel - Mensch, Wissender - Ahnender, Lufi - Boden aufgehoben. Siegfied und der Vogel entgrenzen sich ihrer Umwelt wie das Paar eines Melodrammas in der Kadenz ihres Duetts. Die ersten Hérer enischilsselien die aus den vertrauten musikalischen Elementen des Waldvogel-Parls entsiehende symbolische Bedeutung mihelos: Dreiklangsbrechungen, gehaltene Téne in hoher Lage. rhythmische UnregelmaBigkelten waren vorrangige Kompesitionsmittel der Primadonnen-Parls von Donizetti bis Thomas. In den drei Waldvogel-Strophen mit doppelter Coda - nach Dahlhaus... M-..."unveranderiche Klanggebilde, die der Zeitbildung des Mythos enigegenste- hen und musikalisches Zeichen der M&rchenarligkeit sind’... W-... verwendete Wagner die sonst von ihm verschmahten tracitionelien Mittel M - Der Waldvogel ist durch seinen arfifziellen Gesangspart ein gewissermagen ,Kinstliches* Naturwesen und zugleich das einzige sich in gesungenen Ténen arfiku- lierende ,echte' Tier im Ring. Denn Wotans Raben in Géiterdéimmerung sowie Gra- ne und die Walkiirenrosse, auch der Bar und - nicht zu vergessen —

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