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Emile Durkheim

Der Selbstmord
übersetzt von
Sebastian und Hanne Herkommer

Außer Der Selbstmord liegen von den Werken Emile Durkheims


(I858-I917) im Suhrkamp Verlag bisher vor: Die elementaren Formen
des religiösen Lebens; Erziehung, Moral und Gesellschaft; Physik der
Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral; Die Regeln
der soziologischen Methode; Schriften zur Soziologie der Erkenntnis;
Soziologie und Philosophie; Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die
Organisation höherer Gesellschaften. Suhrkamp
TItel der Originalausgabe: Inhalt
Emile Durkheim
Le suicide (1897)

Vorwort

Einführung

I. Notwendigkeit, durch eine objektive Definition


den Gegenstand der Untersuchung festzustellen.
Objektive Definition des Selbstmordes. Inwiefern
sie willkürliche Ausschließungen und irrige Ver-
gleiche unmöglich macht: Ausschluß des Selbst-
mordes von Tieren. Wie dadurch die Beziehun-
gen zwischen Selbstmord und normalen Verhal-
tensformen klargestellt werden. .23

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek H. Unterschied zwischen dem Selbstmord der indi-
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der viduen und dem Selbstmord als Kollektiverschei-
Deutschen Nationalbibliografie nung. Die soziale Selbstmordrate; ihre Definition.
http://dnb.ddb.de
Ihre größere Konstanz und spezifische Ausprä-
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 431 gung gegenüber der allgemeinen Sterblichkeit.
Erste Auflage 1983
© dieser Ausgabe 1973 by
Herrnann Luchterhand GmbH, Neuwied und Berlin Die soziale Selbstmordrate ist also ein Phänomen
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung sui generis; sie bildet den eigentlichen Gegen-
des Hermann Luchterhand Verlages stand '!ler vorliegenden Studie. Unterteilung der
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Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, Arbeit. 3°
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
Erstes Buch
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages Die außergesellschaftlichen Faktoren 39
reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Erstes Kapitel
Printed in Germany Selbstmord und psychopathische Zustände
Umschlag nach Entwürfen von
Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
Hauptsächliche außergesellschaftliche Faktoren,
ISBN 3-518-28031-7
die Einfluß auf die soziale Selbstmordrate haben
10 II 12. 13 14 - 08 07 06 könnten: individuelle Tendenzen von hinrei-
chender Allgemeinheit, Zustände der physischen v. Gibt es unmittelbare neziehungen zur Rate des
Umwelt. Alkoholismus? Vergleich mit der geographischen
Verteilung der Trunkenheitsdelikte, der Alkohol-
I. Die Theorie, nach der der Selbstmord nur eine delirien, des Alkoholverbrauchs. Negatives Er-
Folge von Irresein wäre. Zwei Arten des Bewei- gebnis dieses Vergleiches. 67
ses: 1. der Selbstmord ist eine Sonderart der
Monomanie; 2. er ist ein Krankheitsbild des Irre-
seins, das sich nirgends sonst findet. Zweites Kapitel
Der Selbstmord und psychologische Normalzu-
Il. Ist Selbstmord eine Monomanie? Das Vorhanden- stände. Rasse, Erblichkeit
sein von Monomanien wird nicht mehr angenom-
men. Klinische und psychologische Gründe, die I. Notwendigkeit, Rasse zu definieren. Sie kann
dieser Hypothese widersprechen. 43
nicht als erblicher Typ definiert werden; aber
dann wird der Begriff unbestimmt. Daher äußet-
1Il. Ist der Selbstmord ein besonderes Stadium des ste Vorsicht geboten.
Irreseins? Zurückführung aller Selbstmorde von
Geistesgestörten auf vier Typen. Existenz von 11. Die vier von Morselli unterschiedenen Rassen.
begründeten Selbstmorden, die nicht hierunter Sehr große Unterschiede in der Neigung zum
fallen. 47 Selbstmord bei den Slawen, den Keltoromanen
und den germanischen Völkern. Nur die Deut-
IV. Kann der Selbstmord, ohne ein Produkt des schen haben eine durchweg intensive Anfällig-
Wahnsinns zu sein, mit der Neurasthenie enger keit, verlieren sie aber außerhalb von Deutsch-
zusammenhängen? Gründe dafür, daß der Neu- land.
rastheniker als psychologischer Typ am häufig- Von den angeblichen Zusammenhängen zwischen
sten bei Selbstmördern auftritt. Der Einfluß die- Selbstmord und Körpergröße: Ergebnisse einer
ser individuellen Voraussetzung auf die Selbst- Gleichzeitigkeit.
mordrate ist noch festzustellen. Methode, ihn zu
bestimmen: Untersuchung, ob die Selbstmordrate 1Il. Rasse kann nur dann ein Selbstmordfaktor sein,
denselben Schwankungen unterliegt wie die Rate wenn sie im wesentlichen erblich wäre. Beweise
der Geisteskrankheiten. Abwesenheit jeder Ver- zugunsten dieser Erblichkeit sind nicht ausrei-
bindung zwischen den Arten, wie diese bei den chend: I. Die relative Häufigkeit der Fälle, die
Erscheinungen nach Geschlecht, Religion, Alter, auf Erblichkeit zurückgeführt werden können, ist
Land, Zivilisationsstufe variieren. Erklärung da- unbekannt. 2. Möglichkeit einer anderen Deu-
für: die Wirkungen der Neurasthenie sind unbe- tung: Einfluß des Irreseins und der Nachahmung.
stimmt. 54
Gründe gegen die Annahme dieser speziellen
Erblichkeit: I. Warum sollte sich der Selbstmord
weniger stark bei der Frau vererben? 2. Die Art,
wie sich der Selbstmord mit fortschreitendem
Alter entwickelt, ist mit dieser Hypothese nicht in soziale Aktivität maximal ist. Sie erklärt auch die
Einklang zu bringen. 86 jahreszeitlichen Schwankungen des Selbstmordes.
Verschiedene positive Beweise.
Die monatlichen Selbstmordschwankungen ha-
Drittes Kapitel ben also soziale Ursachen. 114
Der Selbstmord und kosmische Faktoren 100

1. Das Klima hat. keinen Einfluß. 100 Viertes Kapitel


Die Nachahmung 12 4

H. Temperatur. Jahreszeitliche Schwankungen des


Selbstmordes. Diese finden sich überall. Wie die Die Nachahmung ist eine Erscheinung der Indivi-
italienische Schule sie mit Hilfe der Temperatur dualpsycholpgie. Die Ntitzlichkeit einer Untersu-
erklärt. 10 3 chung über die Möglichkeit ihres Einflusses auf
die soziale Selbstmordrate. 12 4

1Il. Strittige Auffassung vom Selbstmord als Grund-


lage dieser Theorie. Prüfung der Tatsachen: der 1. Unterschied zwischen Nachahmung und einigen
Einfluß extremer Hitze oder Kälte beweist anderen Erscheinungen, mit denen sie verwech-
nichts; Abwesenheit von Beziehungen zwischen selt wird. Definition der Nachahmung. 12 5

der Selbstmordrate und der jahreszeitlichen oder


monatlichen Temperatur; in vielen warmen Län- lI. Zahlreiche Fälle, in denen sich Selbstmorde von
dern ist der Selbstmord selten. Person zu Person übertragen. Unterscheidung der
Hypothese, nach der die ersten warmen Tage Gegebenheiten bei Ansteckung und Epidemien.
besonders schädlich sind. Unvereinbar 1. mit der Wieso das Problem des möglichen Einflusses der
Kontinuität der Selbstmordkurve im Steigen und Nachahmung auf die Selbstmordrate ungelöst
Fallen, 2. mit der Tatsache, daß die ersten kalten bleibt. 134
Tage, die die gleiche Wirkung haben müßten,
unschädlich sind. 106 1lI. Dieser Einfluß muß in seiner ganzen geographi-
schen Verteilung untersucht werden. Kriterien,
IV. Die Ursachen für diese Schwankungen. Vollkom- an denen er erkannt werden kann. Anwendung
mener Parallelismus zwischen den monatlichen dieser Methode auf die Karte der Selbstmorde in
Schwankungen der Selbstmordzahlen und denen Frankreich nach Arrondissements, auf die Karte
der Tageslänge. Bestätigung durch diese Tatsa- nach Gemeinden von Seine-et-Marne, auf die
che, daß die Selbstmorde vorwiegend am Tage übersichtskarte von Eu rop a. Keine sichtbare
geschehen. Grund für diesen Parallelismus: Wäh- Spur der Nachahmung in der geographischen
rend des Tages ist das soziale Leben in vollem Verteilung.
Gange. Diese Erklärung wird bestätigt durch die Ein Versuch, der angestellt werden muß: wachsen
Tatsache, daß der Selbstmord an den Tagen und die Selbstmordzahlen mit der Zahl der Zeitungs-
Stunden ein Maximum erreicht, wo auch die leser? Gründe, die auf das Gegenteil hindeuten. 137

4
IV. Grund zu der Annahme, daß Nachahmung kei- Zweites Kapitel
nen nennenswerten Einfluß auf die Selbstmord- Der egoistische Selbstmord 161
rate hat: daß hier kein ausschlaggebender Faktor
vorliegt, sondern daß nur der Einfluß anderer 1. Der Selbstmord und die Religionen. Allgemein
Faktoren verstärkt wird. erschwerte Lage beim Protestantismus; Immuni-
Praktische Folgerungen aus dieser Diskussion: tät der Katholiken und besonders der Juden. . 161
'keine Veranlassung, Gerichtsurteile nicht zu ver-
öffentlichen. H. Die Immunität der Katholiken hängt nicht mit
Theoretische Folgerungen: Die Nachahmung hat ihrem Minderheitenstatus in protestantischen
nicht jene ihr bisher zugeschriebene soziale Wirk- Ländern zusammen, sondern mit ihrem weniger
samkeit. 146 ausgeprägten religiösen Individualismus, auf
Grund der viel stärkeren Integration der katholi-
schen Kirche. Wie diese Deutung auf die Juden
~ri& I~
Zweites Buch
Soziale Ursachen und soziale Typen 151 III. Prüfung dieser Deutung: I. Die relative Immuni-
tät in England hängt von der starken Integration
Erstes Kapitel der anglikanischen Kirche im Vergleich zu den
Bestimmungsverfahren 153 anderen protestantischen Ländern ab; 1. Der reli-
giöse Individualismus variiert wie der Wissens-
I. Zweckmäßigkeit der Methode, die Typen des drang, denn der Wissensdrang ist a) bei den pro-
Selbstmordes zunächst morphologisch zu klassifi- testantischen Nationen stärker ausgeprägt als bei
zieren, um dann auf ihre Ursachen zurückzukom- den katholischen; b) der Wissensdrang variiert
men; Unmöglichkeit dieser Klassifizierung. Die immer im selben Maß wie der Selbstmord, wenn
einzig anwendbare Methode besteht darin, die er mit einem Fortschritt im religiösen Individua-
Selbstmorde nach ihren Ursachen zu klassifizie- lismus zusammenhängt. Wie die Ausnahme bei
ren. Warum sie in einer soziologischen Studie bes- den Juden dieses Gesetz bestätigt. 171
ser als jede andere am Platze ist. 153
IV. Folgerungen aus diesem Kapitel: 1. die Wissen-
Il. Wie soll man zu diesen Ursachen gelangen? Die schaft ist das Heilmittel für die Krankheit, deren
Auskünfte der Statistik über die angeblichen Symptom die Vermehrung der Selbstmorde dar-
Gründe der Selbstmorde 1. sind verdächtig, 2. las- stellt, aber nicht ihre Ursache. 1. wenn die Reli-
sen die wahren Ursachen nicht erkennen. Die gionsgemeinschaft vor dem Selbstmord bewahrt,
einzig erfolgversprechende Methode ist die dann einfach darum, weil sie eine stark inte-
Untersuchung, wie die Selbstmordrate in Abhän- grierte Gesellschaft darstellt. 182
gigkeit von verschiedenen sozialen Begleitum-
ständen schwankt. 157

6 7
Drittes Kapitel den Einfluß der Familie zurückzuftihren, vollends
Der egoistische Selbstmord (Fortsetzung) r86 die der verheirateten Frauen. Sie wächst mit der
Dichte der Familie, das heißt mit dem Grade
1. Weitgehende Immunität der Verheirateten nach ihres inneren Zusammenhalts.
den Berechnungen von Bertillon. Ungereimthei-
ten in der von ihm angewandten Methode. Not- v. Der Selbstmord und die politischen und nationa-
wendigkeit, Einfluß von Alter und zivilem Stand len Krisen. Die rückläufige Bewegung, die
völlig voneinander zu trennen. Tabellen, in danach eintritt, ist echt und überall feststell bar.
denen diese Trennung durchgeführt ist. Davon Der Grund dafür liegt in dem durch die Krise her-
abgeleitete Gesetze. 186 beigeführten festeren Zusammenhalt der Gruppe.

H. Erklärung dieser Gesetze. Der Erhaltungskoeffi- VI. Allgemeine Schlußfolgerung aus diesem Kapitel.
zient der Verheirateten hängt nicht mit der Gat- Direkte Beziehung zwischen Selbstmord und dem
tenwahl zusammen. Beweise: r. Gründe apriori; Grad des Zusammenhalts bei den sozialen Grup-
2. sachliche Gründe: a) Schwankungen des Koef-
pen, gleich welchen. Grund dafür; warum und in
fizienten in den verschiedenen Altersstufen, b) welcher Beziehung die Gesellschaft für das Indi-
Ungleichheit im Immunitätsgrad bei verheirate- viduum eine Notwendigkeit ist. Wie der Selbst-
ten Männern und Frauen. mord 'Fortschritte macht, wenn sie es im Stich
Beruht diese Immunität auf dem Einfluß der Ehe läßt. Beweise für diese Deutung. Beschaffenheit
oder auf dem Einfluß der Familie? Gegen die des egoistischen Selbstmordes. 23 1
erste Hypothese spricht I. der Gegensatz zwi-
schen der gleichbleibenden Zahl der Eheschlie-
ßungen und dem Anwachsen der Selbstmorde; 2. Viertes Kapitel
geringe Immunität der kinderlos Verheirateten; Der altruistische Selbstmord
3. Erschwerung der Lage bei kinderlos verhei-
rateten Frauen. 1. Der Selbstmord bei primitiven Gesellschaften:
Wesensmerkmale, die ihn vom egoistischen
IlI. Ist die leichte Immunität der kinderlos verhei- Selbstmord unterscheiden. Beschaffenheit des ob-
rateten Männer eine Folge der Gattenwahl? ligatorischen altruistischen Selbstmordes. Andere
Gegenbeweis dazu in der erschwerten Lage bei Formen dieses Typs.
den kinderlos verheirateten Frauen. Wie sich die
teilweise Konstanz dieses Koeffizienten beim kin- 11. Der Selbstmord in den europäischen Heeren. Er
derlosen Witwer erklärt, ohne die Gattenwahl erhöht sich durch den Militärdienst. Er ist unab-
heranzuziehen. Allgemeine Theorie der Witwen- hängig von der Ehelosigkeit; vom Alkoholismus.
schaft. 208
Er ist keine Folge des überdrusses am Dienst.
Beweise: I. er nimmt mit der Dauer des Dienstes
IV. übersichtstabelle über die bisherigen Resultate. zu, 2. er ist bei Freiwilligen und Längerdienenden
Die Immunität der Verheirateten ist fast ganz auf mehr ausgeprägt; ebenso bei den Offizieren und

8 9
Unteroffizieren im Vergleich zum einfachen Sol-
IV. Selbstmorde auf Grund ehelicher Anomie. Die
daten. Er ist eine Folge des soldatischen Geistes
Witwenschaft. Die Scheidung. Parallele Entwick-
und der altruistischen Atmosphäre, die dieser
lung zwischen Scheidung und Selbstmord. Sie
schafft: Dafür zum Beweis: er nimmt um so stär-
führt zurück auf eine Qualität der Ehe, die sich
ker zu, je weniger Anfälligkeit für den egoisti-
auf verheiratete Männer und Frauen gegenteilig
schen Selbstmord die betreffenden Völker besit-
auswirkt; Beweise dafür. Worin besteht diese
zen; 4. er ist bei den Elitetruppen maximal; 3. er
Qualität in der Ehe. Die Abschwächung der ehe-
nimmt ab, sowie der egoistische Selbstmord sich
lichen Disziplin, die in der Scheidung sichtbar
entwickelt. 256
wird, vergrößert die Anfälligkeit zum Selbstmord
beim Mann, verringert sie bei der Frau. Grund für
1II. Wie die angewandte Methode in den erzielteIJ.
diesen Gegensatz. Beweise zur Stützung dieser
Ergebnissen ihre Berechtigung findet. 270
Deutung.
Das Bild der Ehe, das sich aus diesem Kapitel
ergibt. t96
Fünftes Kapitel
Der anomische Selbstmord 273

Sechstes Kapitel
I. Der Selbstmord nimmt bei wirtschaftlichen Kri-
Individualformen der verschiedenen Selbstmord-
sen zu. Dieses Ansteigen erfolgt auch bei plötzli-
typen 319
cher wirtschaftlicher Prosperität: Beispiele Preu-
ßen, Italien. Die Weltausstellungen. Selbstmord
Zweckmäßigkeit und Möglichkeit, die vorste-
und Reichtum. 273
hende ätiologische Ordnung durch eine morpho-
logische zu ergänzen. 319
II. Deutung dieser Zusammenhänge. Der Mensch
kann nur leben, wenn seine Bedürfnisse und seine
1. Grundformen der drei selbstmordfördernden
Mittel im Einklang miteinander stehen; woraus
Strömungen verkörpert durch die Individuen,
eine Begrenzung der letzteren folgt; die Begren-
Mischformen, die sich aus Kombinationen zwi-
zung wird von der Gesellschaft vorgenommen;
schen den Grundformen ergeben. J21
wie dieser mäßigende Einfluß normalerweise vor
sich geht; wie er durch Krisen behindert wird;
Il. Muß man bei dieser Ordnung auch die gewählte
dadurch Normlosigkeit, Anomie, Selbstmord. Be-
Todesart berücksichtigen? Die Abhängigkeit die-
stätigung für diese Schlüsse in den Beziehungen
ser Wahl von sozialen Ursachen. Aber diese Ursa-
zwischen Selbstmord und Reichtum. 279
chen sind unabhängig von denen, die den Selbst-
mord an sich determinieren. Sie haben also mit
1Il. Die Anomie ist tatsächlich eine chronische
der vorstehenden Untersuchung nichts zu tun.
Erscheinung des Wirtschaftslebens. Daraus ent-
Ubersichtstabelle der verschiedenen Typen
stehende Selbstmorde. Beschaffenheit des anomi-
von Selbstmord. 33 5
sehen Selbstmordes. 290

10
II
Drittes Buch die das nicht tun, übersteigen jedes individuelle
Vom Selbstmord als sozialer Erscheinung im all- Vorstellungsvermögen. Ihre Grundlage bildet das
gemeinen Aggregat des Bewußtseins der in der Gesellschaft
zusammengefaßten Individuen. Diese Auffassung
Erstes Kapitel hat nichts Ontologisches. 356
Der gesellschaftliche Aspekt des Selbstmordes 343
IV. Anwendung dieser Vorstellungen auf den Selbst-
I. Ergebnisse aus dem Vorstehenden. Keine Zusam- mord. 374
menhänge zwischen der Selbstmordrate und kos-
mischen oder biologischen Erscheinungen. Be-
stimmte Wechselwirkung mit den sozialen Tatsa- Zweites Kapitel
chen. Die soziale Selbstmordrate entspricht dem- Beziehungen zwischen dem Selbstmord und den
nach einer Kollektivneigung der Gesellschaft. 343 anderen sozialen Erscheinungen 38 I

H. Konstanz und Eigenart dieser Rate ist anders Methode zur Feststellung, ob der Selbstmord
nicht zu erklären. Ein Versuch von Quetelet in moralisch oder unmoralisch ist. 381
dieser Richtung: Der Durchschnittstyp. Widerle-
gung: die Regelmäßigkeit der statistischen Daten 1. Historische übersicht über die in den verschiede-
findet sich gleichfalls bei Tatsachen, die nicht nen Gesellschaften bezüglich des Selbstmordes
durchschnittlich sind. Zwingende Annahme einer geltenden gesetzlichen oder moralischen Vor-
Kollektivkraft oder einer Gruppe von Kollektiv- schriften. Stärkerwerdende Mißbilligung außer in
kräften, deren Stärke in der sozialen Selbstmord- Zeiten der Dekadenz. Die Berechtigung dieser
rate ihren Ausdruck findet. 347 Mißbilligung; sie ist mehr denn je in der norma-
len Beschaffenheit der modernen Gesellschaften
III. Was unter dieser Kollektivkraft verstanden wird: verankert. 382
sie ist eine dem Individuum äußerliche und iiber
ihm stehende Realität. übersicht und Prüfung der H. Beziehungen zwischen dem Selbstmord und
gegen diese Auffassung erhobenen Einwände: anderen Formen der Unmoral. Der Selbstmord
1. Einwand, nach dem eine soziale Tatsache und die Vermögensdelikte; keinerlei Beziehung
nur durch interindividuelle Weitergabe erhalten vorhanden. Der Selbstmord und der Mord; eine
bleiben kann. Antwort: die Selbstmordrate Theorie, nach der beide Ausdrucksformen dessel-
pflanzt sich nicht auf diese Art fort. ben organisch-psychischen Zustandes sind, aber
2. Einwand, daß im Individuum die ganze Rea- von einander entgegengesetzten sozialen Bedin-
lität der Gesellschaft liegt. Antwort: a) Auf wel- gungen abhängen. 397
che Weise materielle Dinge, die dem Individuum
äußerlich sind, zu sozialen Gegebenheiten wer- Ill. Besprechung des ersten Teiles der These; daß Ge-
den und in dieser Eigenschaft eine Rolle sui gene- schlecht, Alter, Temperatur bei beiden Erschei-
ris zu spielen haben; b) die sozialen Tatsachen, nungen nicht auf die gleiche Art wirksam werden. 402

12 13
IV. Besprechung des zweiten Teils. Fälle, in denen Das Heilmittel gegen den egoistischen Selbst-
der Antagonismus sich bestätigt. Mehr Fälle, bei mord: die Gruppen, in deren Einflußbereich das
denen er sich bestätigt. Deutung dieser scheinba- Individuum lebt, mit mehr Zusammenhalt auszu-
ren Widersprüche. Bestehen verschiedener statten. Welche eignen sich für diese Aufgabe am
Selbstmord typen, von denen einige den Mord besten? Es ist weder der Staat, der dem Indivi-
ausschließen, während andere von den gleichen duum zu fern steht, noch die Religionsgemein-
sozialen Bedingungen abhängen. Beschaffenheit schaft, die den Menschen nur insoweit sozialisiert,
~ieser Typen. Warum die erste Gruppe tatsäch- wie sie ihm die Denkfreiheit entzieht, noch die
hch zahlreicher ist als die zweite. Familie, die sich immer weiter auf das Ehepaar
Auf welche Weise das Vorstehende die histori- reduziert. Die Selbstmorde der Verheirateten
schen Beziehungen zwischen Egoismus und Alt- steigen im selben Maß wie die der Unverheirate-
ruismus beleuchtet. ten. 439

III. Von der Berufsgruppe. Warum sie als einzige


Drittes Kapitel imstande ist, dieser Funktion gerecht zu werden.
Praktische Folgerungen Daß sie sich dafür formen muß. Auf welche Weise
sie zu einem sozialen Milieu werden kann. -
I. Die praktische Lösung des Problems variiert, je Warum sie auch den anomlschen Selbstmord im
nachdem man die gegenwärtige Situation des Zaum halten kann. Fälle ehelicher Anomie.
Selbstmordes für normal oder fUr unnormal hält. Widerspruchsvolle Seiten bei diesem Problem.
Wieso sich die Frage trotz der Immoralität des Der Antagonismus der Geschlechter. Mittel zu
Selbstmordes stellt. Gründe für die Annahme, seinem Ausgleich. 449
daß das Bestehen einer mäßigen Selbstmord rate
nichts Krankhaftes an sich hat. Gründe für die IV. Schluß. Der gegenwärtige Zustand des Selbst-
Annahme, daß die augenblickliche Selbstmord- mords ist Anzeichen einer moralischen Misere.
rate bei den europäischen Völkern Indiz für einen Was man unter der moralischen Misere der
pathologischen Zustand ist. Gesellschaft verstehen muß. Wie die vorgeschla-
gene Reform auf Grund unserer ganzen histori-
Ir. Vorgeschlagene Maßnahmen zur Bekämpfung schen Evolution erfordert wird. Verschwinden
des Obels: I. Repressive Maßnahmen. Welche alle sozialen Gruppen zwischen Individuum und
wären möglich. Warum' sie nur beschränkte Wir- Staat; Notwendigkeit wieder herzustellen. Die
kung hätten. 2. Erziehung. Sie ist nicht imstande berufliche Dezentralisierung im Gegensatz zu
eine moralische Reform der Gesellschaft herbei~ territorialer Dezentralisierung: Warum hier die
zuführen, weil sie lediglich deren Abbild ist. Not- notwendige Basis für die soziale Organisation
wendigkeit, die den Selbstmord fördernden Strö- liegt.
mungen in ihrer Quelle zu erreichen; daß man Die Bedeutung der Selbstmordfrage. Ihre enge
immerhin den altruistischen Selbstmord außer acht Verbindung zu den größten praktischen Proble-
lassen kann, der nichts Anormales an sich hat. men der Gegenwart. 459
Gewohnheit sträubt, ist er ein unablässig sprudelnder Brunnen senes soziales Faktum wie den Selbstmord allein verantwortlich
neuer Ideen. Und da gerade in Gesellschaften der höchsten gemacht werden.
Kulturstufe geistige Vorstellungskraft am nötigsten und am
höchsten entwickelt ist, wobei gleichzeitig wegen ihrer außer-
ordentlichen Komplexität ein ständiger Gedankenfluß die Exi- v
stenzbedingung bildet, haben die Neurastheniker hier die Aber einen besonderen psychopathischen Zustand gibt es noch,
größte Daseinsberechtigung und finden sie sie sich am häufig- dem man seit einiger Zeit ungefähr alle Ubel unserer Zivilisa-
sten. Die Menschen also, die sich aus eigenen Stücken abson- tion anhängt, nämlich dem Alkoholismus. Man hat ihn bereits,
dern, weil sie nicht für die Art Umwelt geboren sind, in die sie zu Recht oder Unrecht, verantwortlich gemacht für die
hineingestellt wurden, sind nicht immer wesentlich unsozial. Zunahme von Geisteskrankheit, Pauperismus und Kriminali-
Aber damit sie sich so entwickeln können, müssen zu der ihnen tät; ob er auch Einfluß hat auf den Selbstmord? Dieser
eigentümlichen organischen Konstitution andere Elemente hin- Gedanke scheint apriori ziemlich unwahrscheinlich. Denn der
zutreten. Die Neurasthenie selber ist lediglich eine sehr allge- Selbstmord hat seine meisten Opfer in den kultivierten und
meine Veranlagung, die nicht zu irgendeiner bestimmten wohlhabenden Schichten, in denen Alkoholismus nicht eben am
Handlung führt, die aber je nach den Umständen die verschie- häufigsten anzutreffen ist. Aber es geht nichts über Tatsachen,
densten Erscheinungsformen annehmen kann. Auf diesem prüfen wir sie!
Boden können je nach Art der Einwirkung sozialer Faktoren Wenn man die Selbstmorde in Frankreich und auch die Straf-
die allerverschiedensten Neigungen entstehen. Bei einem über- verfahren wegen Trunkenheit auf je einer Karte von Frank-
alterten und ideenlosen Volk werden Abscheu vor dem Leben reich einträgt 3 S, so wird man zwischen den beiden kaum eine
und träge Melancholie gut gedeihen, mit all ihren düsteren Beziehung feststellen. Die erste ist gekennzeichnet durch zwei
Begleiterscheinungen; bei einem jungen Volke jedoch wird es große Verdichtungen, wovon eine in der Gegend von Paris liegt
viel eher einen flammenden Idealismus, einen hohen Bekeh- und sich von da nach Osten erstreckt, und die andere sich an
rungseifer oder tätige Opferbereitschaft geben. Wenn man in der Mittelmeerküste zwischen Marseille und Nizza findet. Die
den Perioden der Dekadenz die Zahl der Degenerierten wach- Verteilung der hellen und dunklen Stellen auf der Karte des
sen sieht, so sind es doch auch sie, die neue Staaten gründen. Alkoholismus ist ganz anders. Hier findet man drei Hauptzen-
Alle großen Neuerer rekrutieren sich aus ihren Reihen. Eine so tren. das erste in der Normandie und an der unteren Seine, das
doppeldeutige Erscheinung 34 kann nicht für ein so genau umris- zweite um das Kap Finistere und allgemein in der Bretagne und
schließlich das dritte im Rhonedistrikt und den benachbarten
34 Einen sdIlagenden Bewe;s dieser Doppeldeutigkeit findet man bei einem Vergleich
dessen, was in der französisdten und der russischen Literatur an fihnlidlkeiten und
Gegenden. Die Rhonegegend ist dagegen bei den Selbstmorden
an KontraSten gibt. Die russische Literatur hat bei uns einen solmen Anklang gefunden. nicht über dem Durchschnitt, die meisttln der normannischen
daß sie mit der unseren eine Art Wahlverwandtschaft haben muß, Und wirklich ~indet
Departements liegen darunter, und die Bretagne ist fast unbe-
man bei den Schriftstellern der heiden Völker eine fast krankhafte Zartheit des Nerven~
systems bei Abwesenheit eines geistigen und moralischen Gleichgewichts. Diese rührt. Die geographische Verteilung der beiden Phänomene ist
Geistesverfassung hat aber in ihren biologisdlen und psychologisdlen Auswirkungen zu verschieden, als daß man einer Seite einen erheblichen
die erstaunlidlstcn so:tialen Folgeersdleinungen. Die russische Literatur ist idealistis<h
bis zum Exzess; die Schwermut, die uns in ihr überall entgegentritt. baut si<h atif einer Einfluß auf die Gestaltung der anderen zuschreiben könnte.
aktiven Teilnahme am Leiden der Menschheit auf. Sie stellt eine jener gesunden Trau- Man kommt zu keinem anderen Ergebnis, wenn man den
rjgkeiten dar, dje an den Glauben appellieren und die Aktivität fördern. Unsere Lite-
ratur dagegen ergeht si<h in Ausdrücken finsterer Ver:tweif1ung, und es spiegeit si<h in
Selbstmord nicht bloß mit Trunkenheitsdelikten, sondern mit
ihr ein Zustand von Ersmütterung wieder, der beunruhigt. So kann ein und derselbe
35 Nach dem Compte general de I'administration de 1a justice criminel1e, Jahrgang 1887.
organisdte Zustand einander fast diamentralen sozialen Zielsettungen dienen.
- Siehe Karte I t 1-4 im Anhang S. 504.

66
Krankheiten nervöser oder geistiger Art, die ihre Ursache im Maximum in der Normandie und im Norden und schwächt
Alkoholismus haben, vergleicht. Wir haben zunächst die fran- sich nach Paris zu immer mehr ab. Das gilt für den Alkoholis-
zösischen Departements je nach dem Anfall an Selbstmorden in mus. Dagegen zeigt die andere ihre größte Intensität im und in
acht Klassen unterteilt und dann für jede dieser Klassen den der Nachbarschaft des Departements Seine. Sie ist schon viel
Durchschnitt alkoholismusbedingter Geisteskrankheiten nach heller in der Normandie und im Norden kaum gefärbt. Die
dem Zahlenmaterial von Dr. Lunier36 festgestellt. Dabei sind erste wird gegen den Westen stärker und geht bis an die ozean i-
wir zu folgenden Ergebnissen gekommen: sche Küste, die andere ist gen au umgekehrt orientiert. Gegen
Westen kommt sie sehr bald zu einer Grenze, die nicht über-
Selbstmord je alkoholbedingte Psychosen je
J 00 000 Einw. 100 Einweisungen (1867-6~
schritten wird. Eure und Eure-et-Loire werden nach dieser
(18 7 2 -76) und 1874"76) Seite zu Grenzlinien, dagegen setzt sich die Intensität weit nach
I. Gruppe ( l Departements) Unter SO Osten fort. überdies sind auf der Karte der Selbstmorde im
2. Gruppe (18 Departements) P bi, 75 Süden Var und Rhonemündung dunkel gef;;.rbt, dagegen beim
J. Gruppe (I l Departements) 76 bis 100
4. Gruppe (.20 Departements) 101 bis ISO
Alkoholismus überhaupt nicht3B •
5. Gruppe (10 Departements) 151 bis lOO Auch wenn es gelegentlich einmal übereinstimmungen gibt,
6. Gruppe'( 9 Departements) bis
201 250
dann sind sie rein zufällig und haben keine Beweiskraft. Wenn
7. Gruppe ( 4 Departements) 2p bis 300
8. Gruppe ( 5 Departements) Darüber man z. B. von Frankreich aus immer weiter nach Norden geht,
steigt der Alkoholismus gleichmäßig an, ohne daß die Zahl der
Die bei den Spalten haben keine Beziehung zueinander. Selbstmorde zunimmt. Während 1873 in Frankreich nur etwa
Während die Selbstmorde vom einfachen zum sechsfachen und 2,8 1 Alkohol pro Kopf der Bevölkerung konsumiert wurden,
mehr anwachsen, wächst das Verhältnis der alkoholisch beding- betrug die gleiche Zahl 1870 in Belgien 8,561, in England
ten Geisteskrankheiten kaum um einige Punkte, und der (187o--?I) 9,071, in Holland (1870) 41, in Schweden (1870)
Zuwachs ist nicht regelmäßig. Die zweite Klasse ist größer als 10,}41, in Rußland (1866) 10,691 und in Petersburg 1855 sogar
die dritte, die fünfte größer als die sechste, die siebte größer als 20 I. In den gleichen Zeitabschnitten hatte man während-

die achte. Immerhin, wenn überhaupt der Alkoholismus als dessen in Frankreich 150 Selbstmorde pro Million Einwohner,
psychopathischer Zustand Einfluß auf die Zahl der Selbstmorde in Belgien nur 68, Groß-Britannien 70, Schweden 85, in
hat, so ist das nur durch die dadurch verursachten geistigen Rußland sehr wenige. Sogar in Petersburg war die Selbstmord-
Störungen möglich. Der Vergleich der Mittelwerte wird durch rate im Jahresdurchschnitt der Jahre 1864-1868 nur 68,8. Däne-
einen Vergleich der beiden graphischen Darstellungen bestä- mark ist das Land im Norden, wo es gleichzeitig eine
tigt37 • hohe Anzahl von Selbstmorden und auch einen hohen Alkohol-
Auf den ersten Blick scheint wenigstens in Frankreich ein konsum gibt (16,51 I im Jahre 1845)'9. Wenn sich die nördlichen
engerer Zusammenhang zwischen der Menge des konsumierten Departements von Frankreich gleichzeitig auszeichnen durch
Alkohols und der Neigung zum Selbstmord zu bestehen. In den ihren Hang zum Selbstmord und ihre Vorliebe für geistige
südlichen Departements trinkt man tatsächlich den meisten Getränke, so heißt das nicht, daß dies von jenem sich ableitet
Alkohol, während gleichzeitig der Selbstmord eben dort am und aus denen sich erklärt. Das Zusammentreffen ist zufällig.
heftigsten grassiert. Zunächst aber haben die beiden Karten Im Norden trinkt man allgemein viel Alkohol, weil der Wein
keineswegs die gleiche Struktur. Die eine hat ihr betontes
38 Ebenda.
36 De 1a produ~tion er de la consomroarion des bois50ns a1cooliques en Franee. 5.174-175. 39 Lunier, aaO, S. 180 H. Ahnliehe Ziffern fur andere Jahre findet man bei Prinzing, ..0.
37 Tafel l l r im Anhang (S. 508). 5.58.

68
dann deshalb, weil die Bevölkerung katholisch ist oder zum
Alkoholismus und Selbstmord in Deutschland mindesten starke katholische Minderheiten aufweist 4 ' .
Alkoholkonsum Mittlere Selbstmord,ate So sehen wir also, daß nicht ein einziger psychopathischer
(1884-86) pro der Gruppe pro Länder
Gruppe
Kopf Million Einwohner Zustand mit dem Selbstmord in einem regelrechten und unbe-
Posen, Sdllesien, Brandenburg,
streitbaren Zusammenhang steht. Nicht deswegen hat eine
I3 bis 10,8 I 206)1
Pommern gegebene Gesellschaft mehr oder weniger Selbstmörder zu ver-
9,2 bis 7,2 I 208,4 05[- und Westpreußen, Hannover. zeichnen, weil sie etwa mehr oder weniger Neuropathen oder
Provinz- Sachsen, Thüringen,
Westfalen
Alkoholiker ausweist. Obwohl Degeneration in ihren verschie-
6,4 bis 4,5 I 234,1 Meddenhurg, Königreich Sachsen, denen Formen einen besonders geeigneten Boden für den
Schleswig-H.olstein, Elsaß, Provim
Selbstmord abgibt, ist sie nicht selbst eine der Ursachen. Man
und Großherzogturn Hessen
4 1 und weniger Rheinprovinz, Baden, Bayern, ka~n anne~men, daß unter den gleichen Umständen ein Dege-
4 '47.9
Württemberg nerIerter sich eher tötet als ein Gesunder, aber er tötet sich
nicht notwend.ig ~es?alb, weil er degeneriert ist. Das entspre-
chende Potential In Ihm kann nur unter dem Einfluß anderer
da selten und teuer ist40 , und weil vielleicht eine Spezialkost,
Faktoren wirksam werden, die wir untersuchen müssen.
mit der man die Körpertemperatur hochhalten kann, da ange-
brachter ist als anderswo; und man findet andererseits, daß sich
die allgemeinen Ursachen für den Selbstmord in dieser Gegend
von Frankreich besonders häufen.
Diese Schlußfolgerung wird bei einem Vergleich der ver-
schiedenen Länder Deutschlands bestätigt. Wenn man sie näm-
lich nach dem zweifachen Gesichtspunkt der Selbstmorde und
des Alkoholkonsums gruppiert 4 " (S. 68), findet man in der
Gruppe mit den meisten Selbstmorden, der dritten, gleichzeitig
eine der niedrigsten Alkoholkonsumzahlen. Im einzelnen fin-
det man sogar regelrechte Kontraste. Die Provinz Posen ist fast
im ganzen Reich der Landstrich mit den wenigsten Selbstmor-
42 Um d~n Einfluß de, Alkohols aufzuzeigen. hat man manchmal das Beispiel Norwegens
den (9 6,4 Fälle pro Million Einwohner), und gerade da ist der angefuhrt~ wo Sich der Konsum alkoholischer Getränke und die Anzahl der Freitode sett
Alkoholismus am betontesten (131 pro Kopf). In Sachsen, wo . 1830 parallel zueinander gesenkt haben. Aber in Schweden hat der Alkoholismus im
gle,ehe.~ Maße ab~e?ommen, während die Freitode ständig zahlen mäßig gestiegen sind
sich fast viermal so viel Menschen das Leben nehmen (34 8 pro
(115 Falle pro MIlhon 1886-88 gegen 63 in den Jahren 1821-30). Das Gleiche ist in
Million), trinkt man nur halb so viel. Auch sieht man, daß in der Rußland der Fall.
vierten Gruppe, wo der Alkoholismus am schwächsten ist, fast . U~. dem Les~r alles an Hand zu geben, was auf die Frage Bezug hat, müssen wir
hmzufugcn, daß 10 der französischen Statistik der Anteil der Selbstmorde der auf akute
nur die Länder im Süden Deutschlands zu finden sind. Auf der ~derchronische Trunksucht zurückgeführt wird, von 6,69 % imJahre 1849 auf 13,41 %
anderen Seite, wenn hier die Selbstmorde weniger häufig sind, 1m Jahre 1876 gestiegen i.st. Zunächst müßte man aber nachweisen, daß in allen diesen
Fällen der eigentliche Alkoholismus die Schuld trägt. den man nicht mit gelegentlichem
Angetrunkensein oder dem Besuch von Nacktlokalen verwechseln darf. Alles in allem
40 Vom Weinkonsum kann man zur Sclb~tmordrate fast umgekehrt propor- beweisen ~tese Zahlen; ohne Rücksicht auf ihre genaue Bedeutung Im Einzelfalle, nicht.
tional ist. Im Süden trinkt man meisten Wein) und gerade da sind die SelbQ,tmorde daß der MIßbrauch geIStiger Getr.nkt in der lnzidenzder Frei tode eine sehr große Rolle
arn seltensten. Man darf daraus jedoch nicht schließen, daß der Wein eine Art Garantie s~le1t. WIr,werden weIter unten auch sehen, daß man diesem statistischen Material über
gegen den Selbstmord ist. dte angeblichen Ursachen der Freitode keine allzu große Bedeutung zumessen darf.
41 Nach Prinzing, a.O. S. 75.
Alkoholverbrauch (1873)
Tafel I Selbstmord und Alkoholismus [Zu Seite 67]
Selbstmorde (1878-1887)

Anzahl der je Einwohner verbraudlten Liter reinen Alkohols


I. 6,80-10; 2. • . 5.05-6,)4; 3. ),)0-4.75; 4; 2,o5-2~61;
5.1,01-1,84; 6. 0,)7-0.99.
Verhältnis zu je 100000 Einwohnern Durchschnitt: 2,84.
17;
I. 11-48;~. 24-30; 3. 18-2J,' 4. 1J-17; S· 8-12;6. 1-7·
Alkoholbedingte Geisteskrankheiten (1867-1876)
Trunkenheitsdelikte (1878-1887) Jahresdurchschnitt

Verhältnis zu je
1. 376-639; 2..
100000 Einwohnern
210-266; 3. 111-196; 4. 70-1°4; S. 41-69;
1.
100
21IIIIIIII
Einweisungen
3m 41IIIIl1 s[[ll] 60
Verhältnis der Fälle alkoholbedingter Geisteskrankheiten bei

1.18,9--39.); 2. 1),69-18,14; 3. l,J,75-13,44; 4. 10,06-12,22;


6. 19-J8. . 5- 8,27-9,76; 6. J,90-7,90.
47° Durdtsdmitt: 173.
Durchschnitt: 14,)6. 47 1
At
Zweites Kapitel in denen die Bewohner dieser verschiedenen Länder leben
Der egoistische Selbstmord ~icht .gen~u glei~h. Die Zivilisation in Spanien und in Portugai
1st bel weItem mchtso fortgeschritten wie in Deutschland. Es
k~nn~e also sein, daß diese Rückständigkeit der Grund ist für
dIe m~deren Selbstm?rdziffern. Wenn man diese Fehlerquelle
Beobachten wir zunächst, wie sich die verschiedenen Religions- vermelden und den Emfluß von Katholizismus bzw. Protestan-
gemeinschaften zum Selbstmord verhalten. ti~mus auf die Neigung zum Selbstmord genauer bestimmen
WIll, dann muß man die beiden Religionen innerhalb derselben
Gesellschaft vergleichen.
I "! on. allen großen deutschen Staaten zählt Bayern, und zwar
Wenn man nur einen Blick auf die Karte der geographischen bel weItem, die wenigsten Selbstmorde. Es sind jährlich kaum
~erteilung der Selbstmorde in Europa wirft, dann sieht man 9° pro Million Einwohner seit 1874, während es in Preußen 122
sofort, daß diese in den rein katholischen Ländern wie Spanien, ~I87I-75) sind, im Herzogtum Baden 156, in Wi.irttemberg 162,
Portugal oder Italien wenig Bedeutung haben, während ihr m Sachsen 300. Und auch die Katholiken sind hier am zahl-
Maximum in den protestantischen Ländern wie Preußen, Sach- reichsten; auf 1000 Einwohner kommen 713,2. Wenn man dann
sen, Dänemark liegt. Die folgenden von Morselli errechneten noch die verschiede~en ~rovinzen des Königreichs vergleicht,
Mittelwerte bestätigen dieses erste Resultat. findet man, daß hIer dIe Zahl der 151 Selbstmorde direkt
~roportional zur Zahl der Protestanten und umgekehrt propor-
Mittel der Selbstmorde tIOnal zur Zahl der Katholiken ist:
auf I Mill. Einw.
Protestantische Staaten 19° Bayerische Provinzen (1867-75) *I
gemischt protestantisch-katholische 96 Provinzen mit Selbst- Provinzen mit Selbst- Provinzen mit Selbst-
katholischer morde katholischer morde mehr als
ka tholische 58 Minderheit pro lOS Mehrheit
morde
pro 106 90% Kath. pro lOG
griechisch-katholische 4° (unter 500/0) Ein'?'. (50-90% ) Einw. Einw.
Rheinpfalz 167 Unterfranken 157 Oberpfalz 64
Dennoch kann die niedrige Zahl bei den Griechisch-Katholi- Mi ttelfranken 2.C7 Schwaben II8 Oberbayern II4
Oberfranken 2. 04
schen nicht mit Sicherheit auf die Religion zurückgeführt wer- Niederbayern 49
den. Denn da ihre Zivilisation sich sehr von der anderer euro- Im Mittel 192. Im Mittel 135 Im Mittel 75
päischer Völker unterscheidet, kann diese kulturelle Ungleich-
heit Ursache für die geringere Anfälligkeit sein. Das ist aber
nicht der Fall bei den meisten der katholischen oder protestan- Die Gesetzmäßigkeit wird nicht nur in den Zahlen der
tischen Gesellschaften. Zweifellos sind sie nicht alle auf dem Mittelwerte bestätigt, sondern alle Zahlen in der ersten
gleichen intellektuellen oder moralischen Niveau; trotzdem Kolonne liegen höher als die in der zweiten und alle Zahlen der
sind die ähnlichen Züge doch so wesentlich, daß man den so zweiten Kolonne ohne Ausnahme höher als die in der dritten.
deutlichen Kontrast beim Selbstmord mit einigem Recht dem
I Interschied in den Konfessionen zuschreiben kann
Immerhin bleibt dieser erste Vergleich allzu summarisch.
1 Kinder unter 15 Jahren sind nicht mitberücksichtigt.
Trotz unbestreitbarer Ähnlichkeiten sind die sozialen Milieus,
~
In Preußen ist es genau .das gleiche: TabelleI8
Preußische Provinzen (r883-90)
Selbstmorde in den verschiedenen Ländern
pro Million Einwohner jeder Konfession
Provinzen Selbst- Provinzen Selbst- Provinzen Selbst- Provinzen Selbst-
mit mehr morde mit 8~8°/o morde mit 4o-~00!O morde mit 32-28% morde
als 90% pro 1O· Protestanten pro ro· Protestanten pro 10· Protestanten pro 106 Prote- Katho- Juden Name des
Protestanten Einw. Einw. Einw. Einw. stanten liken Beobachters

Sachsen Hannover Westpreußen 123,9 Posen österreich ( 18 52-59) 79,5 51,3


30 9,4 2I2.' 9 6 ,4 20,7 Wagner
Schleswig 312,9 Hessen 200,3 Schlesien 260,2 Rheinland 100,3 { ( r8 49-55) 159,9 49,6 46 ,4 Wagner
Preußen (1869-72.) 18 7 69
Pommern 171,5 Brandenbg. 96 MorseHi
Berlin Westfalen Hohenzoll. (1890) 24° roo 180 Prinzing
296,3 1°7,5 9°,1
Ostpreußen 171,3 { ( r8 52-62) 139 II7 87 Legoyt
264,6 Im Mittel Im Mittel r6J,6 Im Mittel Baden ( 1870-74) 17 r 136 ,7 12.4
Im Mittel 2.20,0 95,6 MorseHi
( 18 78- 88) 24 2 17° 210 Prinzing
{ ( 18 44-5 6 ) 135,4 49,1 1°5,9 MorseHi
Bayern
( 1884-9 1 ) 224 94 193 Prinzing
Im einzelnen gibt es bei 14 so verglichenen Provinzen nur { (,.,6-60) I I 3,5 77,9 65,6 Wagner
zwei leichte Abweichungen: Schlesien, das auf Grund seiner Württemberg ( 18 73-76) 19° 120 60 Wir selbst
(r88I-90) 170
relativ hohen Selbstmordzahl eigentlich in die zweite Gruppe II9 152 Wir selbst
gehörte, findet sich erst in der dritten, während dagegen
Pommern eher in die zweite Kolonne als in die erste gehörte. So stellen also überall ohne jede Ausnahme2 die Protestanten
Die Schweiz ist unter diesem Gesichtspunkt ebenso interes- viel mehr Sel~stmörder als die Gläubigen anderer Religionen.
sant. Denn da man dort französische und deutsche Bevölke- Der UnterschIed schwankt zwischen einem Minimum von 20 bis
rungsteile vorfindet, kann man auch den Einfluß der Konfessio- 3~ % . und. ein~m Maximum von 300 %. Gegen eine derartige
nen auf jede der beiden Gruppen getrennt beobachten. Und wir EmstlmmlgkeIt von Fällen kann man schwerlich, wie etwa
finden, er ist in beiden Fällen gleich. Die katholischen Kantone Mayr3, den einzigartigen Fall VOn Norwegen und Schweden
haben vier- und fünfmal weniger Selbstmorde als die protestan- anführen, die, wiewohl protestantisch, nur eine mittlere Selbst-
tischen, gleichgültig welche N ationali tät vorherrscht. mordrate aufweisen. Wie wir schon am Anfang dieses Kapitels
bemerkt haben, sind diese internationalen Vergleiche zunächst
Selbstmorde pro Million Einwohner nicht repräsentativ, wenn sie sich nicht auf eine genügend
Französische Deutsche Zusammenfassung
große Anzahl von Ländern beziehen; und selbst dann sind sie
Kantone Kantone der Kantone aller nicht schl~ssi~. Die Unte~schiede zwischen den Bevölkerungen
Nationalitäten der skandmavIschen Halbmsel und den mitteleuropäischen sind
Katholiken 83 87 86,7 groß genug, um deutlich zu machen, daß der Protestantismus
Gemischt 212,0
Protestanten 293 )26,)
nicht bei beiden Gruppen dieselbe Wirkung haben kann. Aber
453
außerdem, wenn auch die Selbstmordrate in den beiden Län-
dern nicht eben hoch liegt, erscheint sie doch relativ ansehnlich,
Der Einfluß der Konfession ist also so mächtig, daß er über
alles andere dominiert. 2 Wir besitze~ kei~e Angaben über den Einfluß der Religionen in Frankreich. Immerhin
übrigens hat man in ziemlich vielen Fällen die Zahl der .. sagt ~eroy m s.emer Studie ?ber das Departement Seine-et-Marne folgendes: In den
Gememden Qumcy, Nanteu!l-les-Meaux, Mareuil ergibt sich bei den Protestanten ein
Selbstmorde pro Million jeder Konfession direkt feststellen Selbstm.~rd auf 310 Einwohn<;r, bei den Katholiken einer auf 678 (aaO, S. 203).
können: 3 Handworterbuch der StaatswIssenschaften, Ergänzungsband I, S. 702.
wenn man ihre Stellung zwischen den zivilisierten Völkern II
Europas mit berücksichtigt. Es gibt keinen Grund anzunehmen, Wenn man berücksichtigt, daß die Juden überall nur sehr wenig
daß sie intelligenter seien als die Italiener, und doch wählen sie vertreten sind und daß bei den meisten Völkern, bei denen eben
zwei- bis dreimal so häufig den Tod (90 bis 100 Selbstmorde pro diese Beobachtungen gemacht wurden, die Katholiken in der
Million Einwohner gegenüber 40). Könnte nicht doch der Pro- Minderzahl sind, so könnte man versucht sein, darin gerade die
testantismus die Ursache dieser relativen Verschärfung sein? Seltenheit des Selbstmordes bei den beiden Religionenbegrün-
Das Gesetz, das wir auf Grund einer so großen Anzahl von det zu sehen 6 • Man kann tatsächlich annehmen, daß die
Einzelbeobachtungen aufgestellt haben, wird dadurch eher weniger stark vertretenen Konfessionen in ihrem Kampf gegen
noch bestätigt4. die feindliche Umgebung zu ihrer Erhaltung gezwungen sind,
Bei den Juden ist die Neigung zum Selbstmord immer strenge Selbstmordkontrolle zu üben und sich einer besonders
geringer als bei den Protestanten. Im allgemeinen ist sie auch scharfen Disziplin zu unterwerfen. Um die immer etwas labile
geringer, wenn auch nur wenig, als bei den Katholiken. Es Toleranz, mit der ihnen begegnet wird, zu verdienen, sind sie
kommt allerdings vor, daß dieses Verhältnis sich umkehrt; vor zu einem sittlich besonders hochstehenden Lebenswandel
allem ist das in jüngerer Zeit der Fall. Bis zur Mitte des Jahr- gezwungen. Abgesehen von diesen Überlegungen lassen
hunderts kamen bis auf BayernS in allen Ländern bei den Juden bestimmte Tatsachen den Schluß zu, daß dieser Faktor nicht
weniger Selbstmorde vor als bei den Katholiken. Dieses Privi- ganz ohne Einfluß ist. In Preußen ist der Minderheitenstatus
leg beginnen sie erst etwa 1870 zu verlieren. Noch immer ist es der Katholiken sehr ausgeprägt, denn sie stellen nur etwa ein
selten, daß die Rate wesentlich höher liegt als bei den Katholi- Drittel der Bevölkerung. Dabei bringen sie sich dreimal weni-
ken. ger selbst um als die Protestanten. Diese Spanne vermindert
Außerdem darf man nicht aus den Augen verlieren, daß die sich in Bayern, wo zwei Drittel der Bevölkerung katholisch
Juden durchweg häufiger als die anderen konfessionellen Grup- sind. Die Anzahl ihrer Selbstmorde verhält sich zu der der
pen in Städten leben und AJ1&ehörige intellektueller Berufe Protestanten wie 100:275 oder auch wie 100:238, je nach der
sind. Deshalb sind sie dem Selbstmord stärker ausgesetzt als die geprüften Periode. Dieses Verhältnis sinkt schließlich im
Mitglieder anderer Religionen, und zwar aus Gründen, die katholischen österreich auf 155 protestantische Selbstmorde
außerhalb der von ihnen ausgeübten Religion liegen. Wenn also gegenüber 100 katholischen ab. Es scheint also, daß die Selbst-
trotz dieser erschwerenden Umstände die Selbstmordrate des mordanfälligkeit der Protestanten abnimmt, wenn sie zur Min-
Judentums so niedrig ist, so kann man annehmen, daß in glei- derhei t werden.
cher Sit:.lation von allen Religionen es die jüdische ist, in der Zunächst wird der Selbstmord mit zu großer Nachsicht
man am wenigsten Selbstmord begeht. behandel t, als daß die Furcht vor dem leisen Vorwurf, der ihn
Wie soll man nun die so festgestellten Tatsachen erklären? trifft, einen so mächtigen Einfluß auf die Minderheiten ausüben
könnte, die in besonderem Maße durch ihre Situation, dazu
gezwungen sind, die öffentliche Meinung zu beachten. Wenn
die religiöse Intoleranz übrigens sehr stark ist, hat sie oft gerade
d!e' gegenteilige Wirkung. Statt die öffentliche Meinung stärker
4 Bleibt der Fall des mcht katholischen Landes England, wo der Selbstmord nicht häufig zu beachten, werden sich die Dissidenten daran gewöhnen, sich
ist. Wir werden ihn weiter unten erklären (5. 172 H.).
5 Bayern ist immer noch die einzige Ausnahme: Die 5elbstmordrate der Juden ist hier überhaupt nicht darum zu kümmern. Wenn man sich als Ziel-
doppelt so hoch wie bei den Katholiken. Ist die Lage des Judentums in diesem Lande
irgend~ie abnorm? Wir wissen es nicht. 6 Legoyt, aaO, 5. 205, Ottingen, Moralstatistik, 5. 654.
scheibe eines unversöhnlichen Hasses sieht, verzichtet man dar- Nun ist aber der einzige wesentliche Unterschied zwischen
auf, ihn aufzulösen, und man versteift sich darauf, die am Katholizismus und Protestantismus der, daß dieser der freien
meisten getadelten Gebräuche erst recht zu pflegen. So ist es Forschung weit mehr Raum zugesteht als jener. Zwar dadurch,
häufig den Juden ergangen, und es ist daher fraglich, ob ihre daß der Katholizismus eine idealistische Religion ist, läßt er an
außergewöhnliche Immunität nicht andere Gründe hat. Nachdenken und Meditation bereits weit mehr zu als der
Diese Erklärung würde aber auf keinen Fall ausreichen, die graeko-Iateinische Polytheismus oder der jüdische Monotheis-
jeweiligen Situationen der Protestanten und Katholiken zu mus. Er gibt sich nicht mehr mit gewohnheitsmäßigen Hand-
deuten. Wenn dort, wo die Mehrheit katholisch ist, der schüt- lungen zufrieden, sondern er erstrebt eine Herschaft über das
zende Einfluß der Religion auch schwächer ist, so ist er immer Gewissen. An dieses also wendet er sich, und selbst wenn er von
noch sehr beträchtlich. Er hängt also nicht lediglich vom der Vernunft blinde Unterwerfung verlangt, so spricht er doch
Minderheitenstatus ab. Allgemeiner gesprochen, welchen in der Sprache der Vernunft. Es trifft deshalb aber nicht
Anteil auch die bei den Religionen an der Bevölkerung haben, weniger zu, daß der ,Katholik seinen Glauben als Ganzes, ohne
hat man überall da, wo man sie im Hinblick auf den Selbstmord Kritik, empfän.zE. Er kann ihn nicht einmal der Nachprüfung
vergleichen konnte, gefunden, daß sich mehr Protestanten durch die Geschichte unterziehen, da ihm die Einsicht in die
umbringen als Katholiken. Es gibt sogar Landstriche, wie die Originaltexte, auf die dieser Glaube aufgebaut ist, versagt wird.
Oberpfalz oder Oberbayern, wo die Bevölkerung fast ganz (9 2 Mit großem Geschick wird eine ganze Hierarchie von Autoritä-
bzw. 96 %) katholisch ist, wo aber 300 bzw. 423 Selbstmorde von ten aufgeboten, die die Tradition garantieren sollen. Jede Ver-
Protestanten 100 von Katholiken gegenüberstehen: Dieses Ver- änderung schreckt katholisches Denken. In weit höherem
hältnis steigert sich sogar bis auf 52% in Niederbayern, wo es Grade ist der Protestant Schöpfer seines eigenen Glaubens.
nicht mehr als einen Reformierten auf 100 Einwohner gibt. Der Man gibt ihm die Bibel in die Hand und es wird ihm keine
Selbstmord muß deshalb vorwiegend andere Ursachen haben bestimmte Auslegung aufgezwungen. Dieser religiöse Indivi-
als allein die Religionszugehörigkeit. dualismus erklärt sich aus der Eigenart des reformierten Glau-
Wir finden sie im Wesen dieser bei den Konfessionen begrün- bens. 1;'Jur in England findet man eine Hierarchie des protestan-
det. Beide verbieten eindeutig den Selbstmord. Nicht nur bele- tischen Klerus. Der Priester ist, wie jeder Gläubiger, nur sich
gen beide ihn mit außerordentlich strengen moralischen Tabus, selbst und seinem Gewissen verantwortlich. Er ist zwar ein
sie lehren auch, daß jenseits des Grabes ein neues Leben besser unterrichteter Führer als der gemeine Gläubige, hat aber
beginnt, in dem die Menschen für ihre bösen Taten bestraft keine besondere Autorität, Dogmen zu fixieren. Was aber am
werden; unter diese rechnet der Protestantismus den Selbst- deutlichsten diese Freiheit zur Prüfung bezeugt, die von dem
mord ebenso wie der Katholizismus. Endlich sind diese Verbote Reformatoren gefordert wurde und die nicht nur Idee blieb, ist
bei beiden Religionen göttlichen Ursprungs; sie werden nicht die wachsende Vielfalt aller möglichen Sekten, die sich so
als logische Folgerung eines vernunftgemäßen Denkens darge- lebhaft von der unteilbaren Einheit der katholischen Kirche
stellt, sondern sie stammen von Gott selber. Wenn nun der abhebt.
Protestantismus die Entwicklung des Selbstmordes begünstigt, Wir kommen also zu dem ~rsten Ergebnis, daß die Anfällig-
dann liegt das nicht an dessen dogmatisch verschiedener keit des Protestantismus gegenüber dem Selbstmord mit dem
Behandlung. Wenn in diesem einem Punkt die beiden Religio- <liese Religion bestimmenden Geist der freien Forschung 4-

nen die gleiche Auffassung haben, dann muß ihre ungleiche zusammenhängt. Versuchen wir daher, dieses Verhältnis richtig
Wirkung auf die Selbstmordrate von allgemeineren Merkmalen zu verstehen. Die freie Forschung selbst ist nur die Folge einer
herrühren, durch die sie sich unterscheiden. anderen Ursache. Als sie auftauchte und die Menschen, nach-
l\1V

dem sie lange Zeit ihren Glauben vorgefertigt von der Tradi- Wenn es also wahr ist, daß freie Kritik, ist sie einmal prokla-
tion übernommen hatten, nun das Recht beanspruchten, selber miert, Spaltungen vervielfacht, dann muß man hinzufügen, daß
darüber zu bestimmen, geschah es nicht auf Grund der· der sie diese voraussetzt und aus ihnen entsteht, denn sie ist nur
freien Forschung innewohnenden Anziehung, die ebenso viel darum als Prinzip erforderlich und eingesetzt, damit sich
Leid wie Freude birgt, ~Qndern weil die Gläubigen von nun an latente od,er beginnende Spaltungen leichter entwickeln kön-
\lieser Freiheit hedürfeg, Nun aber kann dieses Bedürfnis selbst nen. Wenn der Protestantismus dem eigenen Denken folglich
nur eine Ursache haben, und die liegt in der Erschütterung der mehr Raum läßt als der Katholizismus, dann aus dem Grunde,
überlieferten Dogmen. Wenn sie sich stets mit dem gleichen weil er weniger mit allgemeingültigen Glaubensvorstellungen
Nachdruck aufdrängten, würde man nicht einmal daran den- und Gewohnheiten rechnet. Denn es gibt keine Religionsge-
ken, sie zu kritisieren. Wenn sie immer dieselbe Autorität meinschaft ohne ein allen gemeinsames Credo, und sie ist um so
gehabt hätten, würde man nicht nach der Quelle ihrer Autorität homogener und stärker, je breiter die Basis dieses Credo ist.
fragen. Das Nachdenken entwickelt sich erst dann, wenn es .Denn sie verbindet nicht die Menschen durch gegenseitigen
notwendig wird~ daß es sich entwickelt, das heißt, wenn Austausch von Diensten - ein nur vergängliches Band, das
. bestimmte, nicht durchdachte Vorstellungen und GefÜhle, die Differenzen einschließt oder sogar voraussetzt, die zu schlich-
bis dahin das Verhalten ausreichend bestimmten, ihr~ Wirk- ten ihr unmöglich ist. Sie sozialisiert sie nur, weil sie sie alle an
samkeit verloren haben. Dann ist es bestrebt, die entstandene den gleichen Lehrkodex bindet, und die Gemeinschaft ist um so
Leere auszufüllen, auch wenn es sie nicht geschaffen hat. So wie enger, je umfassender und fester gebaut dieser Lehrkodex ist. k
es einschläft, wenn Gedanken und Handlungen automatisch mehr Denken und Handeln religiös bestimmt und folglich der
und gewohnheitsmäßig ablaufen, so wacht es nur auf, wenn sich freien Kritik entzogen sind, um so mehr ist die Gottesidee in
vertraute Gewohnheiten auflösen. Es beansprucht sein Recht allen Einzelheiten des Lebens gegenwärtig und lenkt den Wil- #.

gegenüber der öffentlichen Meinung nur, weim diese nicht len des einzelnen auf ein einziges und gleichbleibendes Ziel.
mehr die gleiche Kraft hat, also nicht mehr gleichermaßen von Umgekehrt, je mehr eine Glaubensgemeinschaft dem Urteil des
allen geteilt wird. Wenn das nicht nur zeitweilig und in Form einzelnen überläßt, desto mehr entfremdet sie sich seinem
einer vorübergehenden Krise geschieht, sondern chronisch Leben, desto weniger Zusammenhalt und Vitalität zeichnet sie
wird, wenn das Bewußtsein des einzelnen sich selbst konstant aus. Wir kommen also zu dem Schluß, daß der Grund für die ~'..
seine Autonomie bestätigt, dann deswegen, weites beständig in größere Selbstmordanfälligkeit des Pr'otestantismus darin zu 1
~erschiedenen Richtungen hin- und hergerissen wird und weil suchen ist, daß_er als Kirche weniger stark integriert ist als die.
sich noch keine neue Meinung als Ersatz für die alte gebildet katholische.
ha't, die nicht mehr herrscht. Wenn sich ein neues Glaubenssy- Daraus erklärt sich gleichzeitig auch die Situation des Juden- &
stem geformt hätte, das für alle ebenso einleuchtend gewesen ~. Unter den Juden hat wirklich die langdauernde Verfol-
wäre wie das alte, dann dächte niemand daran, es zu diskutie- ung durch die Christen eine ganz besonders ausgesprochene
ren. Es wäre überhaupt nicht zulässig, es zur Diskussion zu stel- Solidarität geschaffen. Die Notwendigkeit, sich gegen die a -
len. Denn wenn eine ganze Gesellschaft bestimmte Ideen teilt, gemeine Feindseligkeit zur Wehr zu setzen, ja die Unmöglich-
dann gewinnen diese daraus eine Autorität, die sie sakrosankt keit des freien Verkehrs mit der übrigen Bevölkerung hat sie
macht und jedem Angriff entzieht. Damit sie toleranter sind, ist . gezwllDgeg. sich eng zusammenzuschließen. Dadurch wurde
es nötig, daß sie schon weniger allgemein und unbedingt jede Gemeinde eine kleine Gesellschaft. die, kompakt und eng
geworden sind, daß sie durch vorhergehende Kontroversen y~rbunden. ein sehr lebhaftes Bewußtsein ihrer selbst und ihrer
schon geschwächt sind. Einheit aufwies. Alles dachte und lebte in derselben Weise.
lI,t L 1\1-~
Innerhalb der Gruppe wurden individuelle Abweichungen fast man aber feststellen, daß die Hochkirche viel stärker integriert
unmöglich wegen der Gemeinsamkeit ihres Lebens und der ist als die anderen protestantischen Kirchen. Es ist schon richtig,
unaufhörlichen Kontrolle, die sie gegenseitig aufeinander aus- daß man sich daran gewöhnt hat, in England das klassische
Üben. So ist es gekommen, daß die jüdische Kirche zur stärkst Land der persönlichen Freiheit zu sehen. In Wirklichkeit aber
~onzentrierten von allen wurde, gerade weil sie infolge der spricht vieles dafür, daß viel mehr Glaubenssätze oder allge-
Intoleranz, mit der man ihr begegnete, ganz auf sich gestellt mein .verbindliche Normen vorliegen als in Deutschland, die
~. Analog unseren früheren Feststellungen über den Prote- der freien Kritik des einzelnen entzogen sind. Zunächst einmal
stantismus muß sich infolgedessen die wenig ausgeprägte Nei- finden noch viele religiöse Vorschriften Schutz und Billigung
gung des Juden zum Selbstmord auf dieselbe Ursache zurück- des Gesetzes, als da sind das Gesetz zur Heiligung des Sonn-
führen lassen trotz aller möglichen Umstände, die diese im tags. das gesetzliche Verbot, biblische Gestalten auf der Bühne
Gegenteil verstärken müßten. Zum Teil verdanken sie dieses darzustellen, das Gesetz, auf Grund dessen erst kürzlich von
Privileg zweifellos der sie umgebenden Feindseligkeit. Wenn jedem Abgeordneten eine Art Glaubensbekenntnis verlangt
aber dieser Einfluß vorliegt, dann wirkt er sich nicht etwa in wurde usw. Auch ist bekannt, wie allgemein und groß in
einer überlegenen Moral aus, sondern eben darin, enger ver- England die Achtung vor der Tradition ist: Man kann unmög-
bunden miteinander leben zu müssen. Sie erhalten dadurch lich annehmen, daß diese sich auf Religiöses nicht ebenso
einen Schutz gegen den Selbstmord, weil die Religionsgemein- erstrecken sollte wie auf anderes. Nun werden aber selbstbe-
schaft, der sie angehören, so fest zementiert ist. Im übrigen ist stimmte Handlungen
-
des Individuums
-
bei einem vorherrschen-
der Ostrazismus, dem sie ausgesetzt sind, nur eine der Ursachen den sehr entwickelten Traditionalismus mehr oder weniger aus-
für diese Wirkung. Sie wird zum großen Teil durch die Beschaf- geschlossen. Schließlich ist der anglikanische Klerus von allen
fenheit des jüdischen Glaubens selbst zustande gebracht. Es ist anderen protestantischen der einzige, der eine Hierarchie hat.
so, daß der jüdische Glaube wie alle weniger ausgebildeten Diese äußere Organisation verrät offensichtlich eine innere
Religionen im wesentlichen aus einem Handlungskodex Einigkeit, die mit einem besonders betonten religiösen Indivi-
besteht, der bis in die Einzelheiten das Leben regelt und dem dualismus nicht in Einklang zu bringen ist.
Urteil des einzelnen wenig Raum läßt. übrigens ist England auch das protestantische Land mit dem
~,

größten Klerus. 1876 gab es dort im Mittel einen Priester auf 908
Gläubige, bei 923 in Ungarn; IIOO in Holland, 1300 in Däne-
III mark, 440 in der Schweiz und 1600 in Deutschlands. Nun ist
Diese Deutung wird durch mehrere Tatsachen gestützt. aber die Anzahl der Priester nicht bedeutungslos und auch kein
Zunächst einmal ist von allen großen protestantischen Län- oberflächliches Charakteristikum ohne Bezug zum Wesen der
dern ~ngland dasjenige, in dem der Selbstmord am wenigsten Religionen. Das beweist die Tatsache, daß der katholische Kle-
verbreitet ist. ~Man zählt dort etwa 80 Selbstmorde pro Million r..us überall viel stärker ist als der protestantische. In Italien
Einwohner, während die reformierten Gesellschaften in kommt I Priester auf 267 Katholiken, in Spanien auf 419, auf
Deutschland zwischen 140 und 400 aufweisen. Dabei scheint es 536 in Portugal, auf 540 in der Schweiz, auf 823 in Frankreich,
nicht, als ob die Lebhaftigkeit der Gedanken und Geschäfte auf 1050 in Belgien. Das kommt daher, daß der Priester das
hier weniger intensiv wäre als andersw0 7 • Gleichzeitig muß natürliche Organ des Glaubens und der Tradition ist und daß
Trotzdem genügen diese Ungenauigkeiten nicht, die so bedeutende Spanne zu den deut-
7 Allerdings sind die englischen Selbstmordstatistiken nicht sehr genau, Viele Fälle werden schen Selbstmordzahlen zu erklären.
wegen der den Selbstmord bedrohenden Strafen als Todesfälle durch Unglück geführt. 8 Oettingen, Moralstatistik, S. 626.
hier wie sonst es sich notwendigerweise im gleichen Maße verstärkt, und wenn sich hieraus die spezielle Veranlagung des
entwickelt wie seine Funktion. Je mehr Dogmen und Lehren es Protestantismus ableitet, kann man die beiden folgenden Tatsa-
gibt, deren Auslegung nicht dem Gewissen des einzelnen über- chen herausstellen: I. Das Bedürfnis nach Bildung muß bei den
lassen wird, desto eher bedarf es kompetenter Autoritäten, Protestanten stärker sein als bei den Katholiken; 2. so wie es •
ihren Sinn zu vermitteln. Auf der anderen Seite, je mehr solcher eine Erschütterung der allgemeingültigen Dogmen ausweist, I
Autoritäten es gibt, desto enger umschließen sie den einzelnen muß es sich in großen Zü~ in denselben Bahnen bewegen wie -
und bestimmen ihn. So ist der Fall England, weit davon der Selbstmord.~Bestä.t:ig~n die Tatsachendiese doppelte Hypo-
entfernt, unsere Theorie zu entkräften, eine Bestätigung dafür. these?
Wenn der Protestantismus hier nicht die gleiche Wirkung hat Wenn man das katholische Frankreich und das protestanti-
wie auf dem Kontinent, dann deswegen, weil die Glaubensge- sche Deutschland nur im Hinblick auf ihre obersten Klassen
meinschaft hier in sich viel geschlossener ist und sich dadurch miteinander vergleicht, dann scheinen wir unseren Vergleich
der katholischen Kirche nähert. aufrechterhalten zu können. In den großen Zentren unseres
Aber wir kommen zu einem Beweis, der noch umfassender Landes ist die Wissenschaft nicht weniger angesehen und ver-
für unsere Annahmen spricht. brei tet als bei unseren Nachbarn; es steht sogar fest, daß wir auf
Die Vorliebe für freie Forschung und Kritik kann nur diesem Felde mehreren protestantischen Ländern überlegen
zusammen mit einer Vorliebe fürs Lernen entstehen. Die Wis- sind. Aber wenn in den obersten Schichten der beiden Gesell-
senschaft ist das einzige Mittel, wodurch die freie Forschung zu schaften das Bedürfnis nach Bildung gleich stark ist, dann ist es
ihrem Ziele kommt. Wenn Dogmen oder vernunftlose Kultur- in den unteren nicht mehr so, und wenn auch in beiden Ländern \
handlungen ihre Autorität haben, muß man, um eine andere zu ungefähr dieselbe Maximalintensität erreicht wird, so ist doch
finden, sich an das aufgeklärte Bewuß tsein wenden, wovon die die mittlere Intensität bei uns eringer. Dasselbe gilt für alle ~
Wissenschaft nur die sublimste Erscheinungsform ist. Im katholischen Länder im Ver zu den rotestantischen.
Grunde sind diese bei den Neigungen nur eine einzige und sie Während in protestantischen Ländern (Sachsen, Norwegen,
haben dieselbe Quelle. Ganz allgemein erstreben die Menschen Schweden, Baden, Dänemark und Preußen) auf 1000 Kinder im
nur in dem Maße Bildung, wie sie sich vom loch der Tradition Schul alter, d. h. zwischen 6 und 12, im Mittel, während der
emanzipiert haben .. Denn in dem Maß, wie sich diese zur Jahre 1877-1878,957 kamen, die die Schule besuchten, so waren
Herrin der Vernunft macht, ist sie allgenügend und duldet nicht es in den katholischen Ländern (Frankreich, österreich,
leicht eine Macht neben sich. Aber umgekehrt sucht man das Ungarn, Spanien und Italien) nur 667, d. h. JI % weniger. Das
Licht der Aufklärung von dem Augenblick an, wo die stumpfe Verhältnis ist das gleiche für die Jahre 1874-75 und 1860-6r 9 ,
Gewohnheit den Anforderungen der neuen Zeit nicht mehr Das protestantische Land mit der niedrigsten Zahl, Preußen,
genügt. Darin liegt der Grund, warum die Philosophie, diese steht noch vor Frankreich, das die katholischen Länder anführt.
erste und synthetische Form der Wissenschaft, mit dem Augen- Das erste zählt 897 Schüler auf 1000 Kinder, das zweite nur
blick, aber auch erst dann, in Erscheinung tritt, in dem die Reli- 7661°. In ganz Deutschland hat Bayern die meisten Katholiken,
gion ihre Herrschaft verloren hat. Und in der Folge entsteht und dort gibt es auch die meisten Analphabeten. Unter allen
daraus allmählich die Vielzahl von Einzelwissenschaften, in bayrischen Provinzen ist die Oberpfalz diejenige, die fast durch
demselben Maß wie das Bedürfnis, das sie ursprünglich hervor- und durch katholisch ist, und von hier kamen auch die meisten
gerufen hat, sich selber entwickelt. Wenn wir uns also nicht
9 Oettingen, Moralstatistik, S. 586.
getäuscht haben, wenn die fortschreitende Abschwächung kol- 10 In einem dieser Zeiträume (1877-78) liegt Bayern leicht vor Preußen. Aber eben nur
kkJiver und Überlieferter Vorurteile die Selbstmordanfälligkeit dieses eine Mal.
~+tT
Rekruten, die nicht lesen und schreiben konnten (15 % im Jahre der Gesellschaft vor sich geht. Die allgemeine Bildung des
1871). Dasselbe trifft in Preußen für das Herzogtum Posen und Volkes ist ein viel sichereres Indiz.
die Provinz Preußen zu 11. Endlich zählte man im ganzen Hiernach wollen wir unsere zweite Behauptung beweisen.
Königreich 1871 insgesamt 66 Analphabeten auf 1000 Protestan- Stimmt es, daß sich das Bildungsbedürfnis in dem Maße, in dem
ten und 152 auf 1000 Katholiken. Bei den Frauen der beiden es mit einem Nachlassen der Gläubigkeit korrespondiert, wie
Glaubensbekenntnisse ist das Verhältnis dasselbe 12 • der Selbstmord entwickelt? Schon die Tatsache, daß die Prote-
Man wird vielleicht einwenden, daß die Volksschule kein t_ stanten eine bessere Bildung haben als die Katholiken und sich
Maßstab für die allgemeine Bildung ist. Man hat oft gesagt, daß in größerer Zahl das Leben nehmen, ist der erste sichtbare
ein Volk nicht deswegen mehr oder weniger gebildet ist, weil es Beweis. Aber das Gesetz bestätigt sich nicht nur, wenn man
mehr oder weniger Analphabeten hat. Wir wollen diesen Vor- diese bei den Konfessionen miteinander vergleicht. Es g-ilt auch
behalt anerkennen, obgleich eigentlich die verschiedenen innerhalb einer jeden Religion.
Grade der Bildung enger zusammenhängen als es den Anschein Italien ist ein rein katholisches Land. Wir sehen aber, daß die
hat und eine Bildungsstufe sich schwerlich entwickeln kann, Grundbildung und der Selbstmord dort auf genau die gleiche
ohne daß gleichzeitig die anderen sich mitentwickeln 13 • Jeden- Art und Weise zusammenhängen:
falls zeig-t das Niveau der elementaren Bildung, wenn es auch
nur unvollkommen das Niveau der Wissenschaft widerspiegelt, Tabelle 19 14
doch mit einer g-ewissen Genaui~keit, in welchem Maße ein I talien:ische Provinzen,
Volk in seiner Gesamtheit ein Bedürfnis nach Bildung hat. Es ein Vergleich von Selbstmord und BiLdung
muß in seinen obersten Schichten die Notwendigkeit der Bil-
dung erfassen, damit Anstrengungen unternommen werden,
ihre Elemente bis in die untersten zu tragen. Um allen die
Mittel zur Bildung an die Hand zu geben, um sogar Ignoranz 2.Provin- 3. Provin-
zengruppe zengruppe
öffentlich zu ächten, muß aufgeklärtes Bewußtsein für die Exi-
stenz des Volkes unabdingbar geworden sein. Wenn die prote-
stantischen Völker solches Gewicht auf die Grundbildung leg-
ten, so deshalb, weil sie es für notwendig erachteten, daß jeder
Piemont 53,09 35,6 Venedig 19,56 32,0 Sizilien 8,98
einzelne in der Lage sein sollte, die Bibel für sich auszulegen. Lombardei 44,29 4 0 ,4 Emilia 19,31 61.,'1 Abruzzen 6,35
Uns geht es im Augenblick um die mittlere Intensität dieses Ligurien 4 I, I 5 47,3 Umbrien 15,46 30,7 Kalabrien 6,8I
Rom 32,6I 4 I ,7 Manhe 14,46 34,6 Apulien 4,67
Bedürfnisses, das heißt um den Prei;, den jedes Volk der Toskana 24,33 40,6 Campagna 12,45 2I,6 Basilikat 4,35
Wissenschaft zuerkennt, nicht um den Wert ihrer Gelehrten Sardinien IO,I4
und deren Entdeckungen. Von diesem besonderen Gesichts- 41,1 Im Mittel I 5,23 32,5 Im Mittel 6,23

punkt aus wäre der Stand der höheren Bildung und der reinen
wissenschaftlichen Forschung ein schlechtes Kriterium, denn er Es stimmen nicht nur die Mittelwerte genau überein, sondern
würde uns lediglich vermitteln, was in einer begrenzten Schicht auch die Details. Es gibt dabei nur eine Ausnahme, die Emilia,
wo unter dem Einfluß lokaler Umstände die Zahl der Selbst-
11 Oettingen, aaO-, S. 582.
12 Morselli, aaO, S. 223. 14 Die auf die gebildeten Eltern sich beziehenden Daten sind aus Oettingen, Moralstati-
13 Im übrigen wird man weiter unter (S. 180) sehen, daß Unter- und Oberstufe im Unter- stik, Anhang, Tabelle 85, entnommen. Sie betreffen die Jahre 1872-78, die Selbstmorde
richt gleichmäßig bei den Protestanten besser entwickelt sind als bei den Katholiken. die Zeit von 1864-76.
~K
morde mit dem Bildungsgrad keinen Zusammenhang aufweist. _nur 290 zählt 17 • In Italien hat Morselli diejenigen Berufe
Dieselbe Erscheinung kann man in Frankreich beobachten. Die isolieren können, die ganz der Bildung gewidmet sind, und er
Departements mit den meisten analphabetischen Ehepaaren hat gefunden, daß die ihnen Angehörenden alle anderen in der
sind Correze, Korsika, die C6tes du Nord, die Dordogne, Finis- Tendenz zum Selbstmord übertrafen. Er schätzt ihren Anteil
tere, die Landes, der Morbihan, die Haute-Vienne; alle haben auf 482,6 pro Million, bezogen auf die Jahre 1868-76, dann folgt
verhältnismäßig wenig Selbstmorde. Allgemeiner ausgedrückt, die Armee E;!it nur 404,1, und der Gesamtdurchschnitt des
kein einziges der Departements, in denen mehr als 10 % der Landes beträgt nur 32. In Preußen (in der Zeit zwischen 1883 bis
Ehegatten weder lesen noch schreiben können, liegt in dem 18 9 0 ) liegt die Gruppe der Staatsbeamten, die mit größter Sorg-
Gebiet im Nordosten, das die klassische französische »Selbst- falt ausgesucht werden und eine intellektuelle Elite darstellen,
mordgegend« darstelltlS . gegenüber allen anderen Berufsgruppen mit 832 Selbstmorden
Bei einem Vergleich der protestantischen Länder unterein- an der Spitze. Der Gesundheitsdienst und der Lehrstand haben,
ander findet man die gleichen Parallelen. In Sachsen gibt es. wenn sie auch viel tiefer liegen, immer noch sehr hohe Ziffern
mehr Selbstmörder als in Preußen; Preußen hat mehr Analpha- (439 und 301 ). Genauso ist es in Bayern. Wenn man die Armee
beten als Sachsen (J,52 % gegenüber 1,3 % im Jahre 1965). In außer acht läßt, deren Lage im Hinblick auf den Selbstmord
Sachsen findet sich sogar die einzigartige Situation, daß die außergewöhnlich ist - auf die Gründe kommen wir später noch
Zahl der Schüler höher ist als die nach dem Gesetz zu erwar- zu sprechen -, dann folgen die Staatsbeamten an zweiter Stelle
tende. Auf 1000 Kinder im Schulalter (1877) wurden 1031 mit 454 Selbstmorden und erreichen damit fast die erste
Schüler festgestellt, das heißt, daß viele über die vorgeschrie- Gruppe, denn die Gruppe der Kaufleute, deren Index bei 465
bene Zeit hinaus ihre Studien fortsetzten. Das findet man in liegt, ist ihnen nur wenig voraus. Die Künste, Literatur und
keinem anderen Land16 • Schließlich ist England, wie wir wissen, Presse folgen dicht auf mit 41618. Es ist wohl richtig, daß die
von allen protestantischen Ländern das Land, in dem Selbst- gebildeten Klassen in Belgien und Württemberg weniger stark
mord am seltensten vorkommt. Gleichzeitig liegt es, was Bil- in Mitleidenschaft gezogen sind, aber dort ist die Nomenklatur
dung angeht, am nächsten bei den katholischen Ländern. der Berufe zu ungenau, als daß man diesen beiden Ausnahmen
Andere Zahlenangaben ähneln den obenstehenden und kön- zuviel Gewicht beimessen könnte.
nen zu ihrer Bestätigung herangezogen werden. Sodann hatten wir gesehen, daß überall viel weniger Frauen
Sicher sind es die freien Berufe und, allgemeiner gesprochen, Selbstmord begehen als Männer. Nun sind sie auch viel weniger
die höheren Einkommensklassen, bei denen der Drang nach gebildet. Sie richten sich im wesentlichen traditionsgebunden in
Bildung am meisten ausgeprägt und am ehesten eine intellektu- ihrem Verhalten nach etablierten Grundsätzen und haben
elle Lebensführung zu finden ist. Obgleich nun die nach ~eine großen intellektuellen Bedürfnisse. In den Jahren 1878-79
Berufen und Einkommensgruppen gegliederte Selbstmordstati- kamen in halien auf 10000 männliche Ehegatten 4808, die
stik nicht immer mit der nötigen Genauigkeit geführt wird, ihren Ehekontrakt nicht unterschreiben konnten. Auf 10 000
besteht kein Zweifel, daß der Selbstmord in den höchsten Bräute kamen dagegen 702919. In Frankreich war 1879 das
Gesellschaftsschichten außerordentlich häufig ist. Von 1826 bis Verhältnis 199 männliche und 310 weibliche Ehegatten je 1000
1880 halten in Frankreich die freien Berufe die Spitze. Sie errei- Eheschließungen. In Preußen findet man bei den Protestanten
chen 550 Selbstmorde prQ Million Angehöriger der gleichen
17 Compte general de la justice criminelle, 1882, S. cxv.
Berufsgruppen, während die nächste Gruppe, Hauspersonal, 18 S. Prinzing, aaO, S. 28-31. Es ist bemerkenswert, daß'Pres~e und Künste in Preußen
15 Annuaire statistique de la France, 1892-94, S. 50-51. einen ziemlich niedrigen Index aufweisen (279 Selbst~orde).
16 Oettingen, Moralstatistik, S. 586. 19 Oettingen, Moralstatistik, Anhang, Tabelle 83.
und bei den Katholiken bei beiden Geschlechtern die gleiche Katholiken Protestanten Juden
Prozentanteil jeder Konfession an der
Differenz 20 • In England, im Jahre 1879, verzeichnete man 138 Bevölkerung im allgemeinen
.~ Analphabeten gegenüber 185 weiblichen je 1000 Eheschließun- Prozentanteil jeder Konfession an den
Schulen höherer Lehranstalten 73, I 9,6
gen, und dieses Verhältnis ist schon seit 1851 im wesentlichen
gleich geblieben21 • Aber England ist auch das Land, wo die YIl enn man die Bevölkerungsunterschiede in Rechnung stellt,
Selbstmordziffern der Frauen denen der Männer am nächsten dann besuchen Juden die Gymnasien, Realschulen usw. 14mal
kommen. 1858 bis 60 kamen auf 1000 weibliche Selbstmorde häufiger als die Katholiken und 7mal als die Protestanten. Auf
2546 männliche, 2745 in den Jahren 1863-67, 2861 in den Jahren 1000 junge KatholIken, die schulische Einrichtungen besuchen,.
1872-76, während überall sonst 22 die Selbstmorde der Männer kommen nur 1,J Universitätsstudenten; auf 1000 Protestanten
das 1-, 5- und 6fache betragen. Schließlich sind nach den Erfah- sind es 2,5, bei den Juden steigt der Anteil auf 16 25 •
n rungen die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten fast umge- Wenn es aber den Juden gelingt, gleichzeitig sehr gebildet
. L kehrt, was besonders aufschlußreich ist. Es scheint, daß die und doch dem Selbstmord wenig geneigt zu sein, dann deshalb,
!D Negerfrauen dort die gleiche od~r sogar eine höhere Bildung ;eil ihr Wissensdrang einen ganz besonderen Grund hat. Es ist
haben als ihre Männer. Nun benchten mehrere Beobachter 2 3, ein <l;llgemeingültiges Gesetz, daß sich die religiösen Minder-
daß auch bei ihnen eine starke Selbstmordanfälligkeit vorliegt, heiten Miihegeben, in ihrem Wissen den sie umgebenden
die manchmal sogar größer ist als die bei weißen Frauen. Volksteilen überlegen zu sein, entweder um sich so besser gegen
Es gibt jedoch einen Fall, wo unser Gesetz anscheinend nicht die Ihnen entgegengebrachte Abnei~ungyerteidigen zu kön-
zutrifft. nen, oder einfach aus einer Art Rivalitätsdrang heraus. Aus
_Unter allen Religionen hat der Selb~tmord beim Judentum diesem Grunde zeigen auch die Protestanten eine um so höhere
das geringste Gewicht. Trotzdem hat die Bildung nirgendwo Neigung zum Wissen, wenn sie in der Gesamtbevölkerung eine
eine so breite Basis. Schon auf dem Gebiet der Elementarkennt- Minderheit bilden26 •
nisse haben die Juden mindestens das gleiche Niveau wie die Die Juden suchen also Bildung nicht, um kollektive Vorur-
Protestanten. Genauer, auf 1000 Juden beiderlei Geschlechts teile durch reflektierte Ansichten zu ersetzen, so..nde!? einfach
kamen (1871) in Preußen 66 analphabetische Nlänner und 125 llm im Kampf besser gerüstet zu sein. Sie ist für sie ein Mittel
Frauen; auf protestantischer Seite finden wir fast identische der Kompensation in der unglücklichen Lage, in die sie die
Angaben, nämlich 66 bzw. 114. Besonders aber auf dem Gebiet öffentliche Meinung und manchmal auch das Gesetz bringen.
der höheren Bildung und Hochschulbildung stellen die luden Und da die Bildung an sich einer Tradition, die ihr festes
l?roportional einen höheren Anteil als die Angehörig~n a~derer
25 Zeitschrift des preußischen statistischen Büros, 1889. S. xx.
Religionen. Das beweisen die folgenden Zahlen, dIe WIr der
26127 Im nachstehenden einige Zahlen, welche geringe Regelmäßigkeit in der protestanti-
preußischen Statistik (für die Jahre 1875-76) entnehmen 24 : schen Frequenz der höheren Schulen in den verschiedenen preußischen Provinzen
vorliegt:
Anteil der Protestanten an der
Gesamtbevölkerung
I Mittlerer Differenz
Prozentsatz. der zwischen dem
20 Morselli, S. 223.
Protestanten bei ersten und
21 Oettingen, aaO, S. 577.
den Schülern zweiten
22 Mit Ausnahme von Spanien. Aber abgesehen davon, daß wir der Genauigkeit der spani-
schen statistischen Angaben skeptisch gegenüberstehen, ist Spanien mit den großen I Prozentsatz
Völkern Mittel- und Nordeuropas nicht zu vergleichen. Gruppe /9 8 ,7 bis 87,2°/0 Mittelwert 94,6
23 Baly und Boudin. Wir zitieren nach Morselli, S. 225.
1.

2. Gruppe
9 0,8 - 3,8
80 bis 50 Ofo Mittelwert 7°,3 75,3 + 5
24 Nach Alwin Petersilie, Zur Statistik der höheren Lehranstalten in Preußen, in Zeit- 3. Gruppe 150 bis 40 6/0 Mittelwert 46,4 56 + 10,4
schrift des preußischen statistischen Büros, 1877, S. 109 H. 4. Gruppe unter 4°°/. Mittelwert 29,2 6r + 3I ,8
Gefüge behalten hat, nichts anhaben kann, stellen sie ihr intel- unter verschiedenen Aspekten widerspiegeln. D~r Mensch

!~
lektuelles Leben über ihr durch Herkommen bestimmtes Ver- sucht Bildung und ergibt sich dem Tod, weil die Glaubensge-
halten, ohne daß dieses dadurch beeinträchtigt würde. Hier meinschaft der er angehört,· ihren Zusammenhang eingebÜßt
liegt der Grund für die Vielschichtigkeit ihrer Erscheinung. In h.a.t. Aber er sucht den Tod nicht, weil er sich bildet. Es ist nicht
mancher Beziehung schlicht, sind sie in anderer intellektuell einmal Bildung selbst, die den Glauben zerstört, sondern das
und differenziert. Bei ihnen verbinden sich die Vorteile stren- Bedürfnis nach Wissen erwacht· erst mit der Auflösung des
ger Disziplin, die kleine Gruppen auszeichnet, mit den Segnun- Glaubens. Bildung wird nicht erstrebt, um damit Tradiertes zu
g-en einer profunden Bildung, die das ~rivileg der groß~n stürzen, sondern weil dies bereits im Fallen ist. Zweifellos,
Gesellschaften von heute ist. Sie haben In vollem Maße dIe wenn es erst einmal Bildung gibt, dann kann sie in eigenem
Intelligenz der Modernen, ohne deren Verzweiflung zu teilen. N amen und sozusagen fÜr sich kämpfen und sich in Gegensatz
Wenn also in diesem Falle die intellektuelle Entwicklung bringen zu überlieferten GefÜhlen. Aber ihre Angriffe würden
nicht in Beziehung steht zur Anzahl der Selbstmorde, so abprallen, wären diese GefÜhle noch lebendig; ja sie fänden erst
deshalb, weil sie einen anderen Ursprung und eine andere gar nicht statt. Den Glauben entwurzelt man nicht mit dialekti-
Bedeutung hat als sonstwo. So ist die Ausnahme nur scheinbar, schen Beweisen. Er muß schon im Innersten erschüttert sein, um ~
sie bestätigt lediglich die RegeL In Wirklichkeit beweist sie, daß nicht gegen Argumente anzukommen.
dann, wenn die Anfälligkeit für Selbstmord in gebildeten Krei- Weit davon entfernt, die Wurzel des übels zu sein, ist die
sen stärker ist, dieser Akzent, wie wir ausgeführt haben, von Wissenschaft gerade ein Heil mi ttel und das einzige, das uns zur
der Schwächung der traditionellen Dogmen und von der indivi- VerfÜgung steht. Wenn einmal die bestehenden Glaubensleh-
duellen moralischen Verfassung herrührt, die daraus folgt. ren vom Lauf der Dinge erfaßt worden sind, kann man sie nicht
Denn er verschwindet, sobald die Bildung einen anderen mehr künstlich wiederherstellen; nur Nachdenken kann uns
Ursprung hat und anderen Bedürfnissen dient. noch leiten und uns im Leben fÜhren. Wenn einmal der Sozial-
instinkt aussetzt, bleibt der Intellekt unser einziger Wegweiser,
und durch ihn müssen wir uns ein neues Bewußtsein schaffen.
IV
Wie gefahrvoll das Unternehmen auch sein mag, es erlaubt kein
Aus diesem Kapitel können wir zwei wichtige Schlüsse zie-
Zögern, denn wir haben keine WahL Wir raten denen, die mit
hen:
Unruhe und Trauer den Zerfall der alten Ideale erleben und die
Zunächst sehen wir, warum allgemein die Zahl der Selbst-
alle Nöte dieser kritischen Zeit verspüren, nicht der Wissen-
morde mit dem Stand der Bildung zunimmt. Nicht sie selbst
schaft für etwas die Schuld zu geben, woran sie keine Schuld
bestimmt diese Zunahme. Sie ist unschuldig und nichts wäre
trägt, sondern das sie im Gegenteil zu heilen trachtet! Man hüte
ungerechter als sie hier anzuklagen. Das Beispiel der Juden
sich, sie zum Feind zu stempeln! Sie hat nicht die zersetzende
besagt genug. Aber die g-enannten Tatsachen sind gleichzeitig
Wirkung, die man ihr nachsagt, sondern ist die einzige Waffe,
Folgeerscheinungen des gleichen Allgemeinzustandes. den sie
mit der wir den Kampf gegen die Auflösung, deren Ergebnis sie
Ebenso entspricht dort, wo der Protestantismus in Mehrheit ist, sein Anteil .10 selbst ist, aufnehmen können. Achtung ist keine Lösung. Indem
Schülern nicht dem an der Gesamtbevölkerung. Wächst die katholische Minderheit, man ihr Schweigen gebietet, gibt man der Tradition niemals
verändert sich die Differenz bei der Anteile vom Negativen zum Positiven und diese
positive Differenz vergrößert sich im Maße, wie die Protestanten weniger zahl-
ihre Autorität zurück. Es wird uns schwerer, eine neue zu
reich werden. Auch der katholische Kultus zeigt dort größeres intellektuelles Streben, finden. Allerdings muß man ebenso darauf achten, Bildung
wo er in der Minderheit ist. nicht zum Selbstzweck zu machen, da sie doch nur Mittel ist.
(S. Oettingen, Moralstatistik, S. 650.)
Wenn man den Geist auch nicht fesseln kann, um ihm die Lust
nach Unabhängigkeit zu nehmen, so genügt es auch nicht, ihn .
tlOn. D'Ie E'mzelh'
elten d er D )<'ß
ogmen·und Praktiken sind sekun-
zu entfesseln, wenn man ein Gleichgewicht erreichen will. Man där. PAS Wesentliche ist ihre Eignung, einem kollektiven
muß sich dieser Freiheit mit Maß bedienen. D.asein g~nügend Inhalt zu geben. Und,weil die protestantische J
So sehen wir, warum, allgemein gesprochen, die Religion auf Kirche mcht denselben Grad von KonSIstenz hat wie die ande-
den Selbstmord sozusagen prophylaktisch wirkt. Das kommt ren, hat sie auf den Selbstmord auch nicht die gleiche mäßi-
. nicht daher, wie man manchmal hört, daß sie ihn unbedingter gende Wirkung. 0

'1 als die Laienmoral verdammt, noch daher, daß die Gottesidee
I ihren Mittlern eine ganz besondere Autorität mitgibt, die sich
I den Willen des Einzelnen unterwirft, noch daher, daß die
I Aussicht auf Leben nach dem Tode und furchtbare Strafen, die
dort den Schuldigen erwarten, ihren Verboten mehr Nachdruck
I verleihen als menschliche Gesetze. Der Protestant glaubt nicht
\ weniger an Gott und an die Unsterblichkeit der Seele als der
..:.;.. Katholik. Mehr noch, die Religion mit dem geringsten Hang
zum Selbstmord, nämlich die jüdische, ist genau die, die ihn
nicht offen verurteilt, und hier spielt auch die Idee der Unsterb-
lichkeit die geringste Rolle. Tatsächlich enthält die Bibel keine
einzige Stelle, die es dem Menschen verbietet, sich zu töten 28 ,
und andererseits sind die Dogmen, die sich darin auf ein
anderes Leben beziehen, recht vage. Zweifellos hat die Lehre
der Rabbiner allmählich in dem einen oder anderen Punkt die
Lücken in der heiligen Schrift geschlossen, aber sie hat nicht
deren Autorität. Der wohltätige Einfluß der Religion ist also
nicht auf den besonderen Charakter der Heilslehre zurückzu-
führen. Wenn sie den Menschen schützt vor dem Drang der
Selbstzerstörun dann nicht weil sie ihm mit Argumenten sui
generis die Achtung vor seiner eigenen Person pre igt; son ern

~
weil sie eine Gemeinschaft ist. Grundpfeiler dieser Gemein-
. schaft ist die Existenz einer bestimmten Zahl von Dogmen und
Praktiken, die allen Gläubigen gemeinsam, traditionell gewor-
. den und damit verpflichtend sind. Je zahlreicher und stärker
diese Kollektiverscheinungen sind, desto geschlossener ist die
religiöse Gemeinschaft in sich. Um so mehr hat sie Schutzfunk-
28 Di~ einzige Strafvorschrift, die wir kennen, ist die, von der Flavius Josephus in seiner
»Geschichte des Krieges der Juden gegen die Römer« spricht (IH, 25), und dort heißt
es nur: "Die Körper derjenigen, die sich freiwillig den Tod geben, bleiben bis nach
Sonnenuntergang unbegraben, obgleich eine frühere Beerdigung der im Kampfe gefal-
. lenen erlaubt ist«. Man kann sich sogar fragen, ob das überhaupt eine Strafmaßnahme
ist.
einzelne daran teilnehmen. In einer hinreichend dichten dem Maß, wie sie sich auflösen. In G riechenland und Rom tritt
Gesellschaft wird dieser Kreislauf nie unterbrochen, denn er in Erscheinung von dem Augenblick an, wo die alte Ordnung
immer sind irgendwelche Menschen miteinander in Kontakt, der Stadt erschüttert ist. und an seinen wachsenden Zahlen sind
während b6 geringerer Stärke nur sporadische Beziehungen die verschiedenen Stufen der Dekadenz abzulesen. Wir hören
möglich sind. und es dann Augenblicke gibt, in denen das-~ von demselben Geschehen im osmanischen Reich. In Frank-
Gemeinschaftsleben ganz stockt. In ähnlicher Weise ist es bei reich zeigten sich am Vorabend der Revolution die Stürme, die
der Kleinfamilie so, da immer nur wenige zusammen sind. Das die Gesellschaft als Folge des Verfalls der alten Ge5ellschafts-
häusliche Leben schlcppt sich hin, und es gibt Augenblicke. in ordnung durchtobten, begleitet von einem plötzlichen Anstieg
denen der heimische Herd verödet. der Selbstmordzahlen, von denen uns zeitgenössische Autoren
Von einer Gruppe zu sagen, daß sie weniger Gemeinscha.fts- bericht~nH.
leben habe als eine andere, heißt zugleich, ihr innerer Zusam- Aber über das hinaus, was uns die Geschichte lehrt, liefert
menhalt sei weniger stark. Denn die Stärke des Zusammenhal- uns die Sc:lbstmordstatistik, obgleich sie kaum mehr als siebzig
tens innerhalb eines sozialen Gefüges ist nu r ein Abbild davon. J:lhre zUTÜckreicht, einige Beweise für unsere Behauptung, die
wie intensiv das Gemeinschaftsleben durchschnittlich ist. Es ist gegenüber den ohen stehenden den Vorteil größerer Genauig-
um SO einheitlicher und widerstandsfähiger, je lebhafter und keit haben.
kontinuierlicher der Verkehr zwischen seinen Gliedern ist. Wir Man kann gelegentlich lesen, daß die großen politischen
können also unsere vorherige Schlußfolgerung noch folgender- Bewegungen die Sc:lbstmordzahlen vervielfachten . Aber Mor-
maßen ergänzen: Die Familie ist ein mächtiger Schutz gegen- selli hat schlüssig nachgewiesen, daß die Tatsachen diese
über dem Selbstmord und wirkt um so nachhaltiger, je fester sie Annahme widerlegen. Alle Revolutionen, die Frankreich im
gefügt istH . Laufe dieses Jahrhunderts mitgemacht hat, haben im Augen-
blick ihres Ausbruchs iallende Selbstmordziffem bewirkt. 'SJo
fiel die Gesamtzahl der Fälle von 19°4 im Jahr 1819 auf 17S6,
, das ist ein plöu.1iches Fallen um 10"10. Die Rückentwicklung
Wenn es nicht erst seit so kurzer Zeit Statistik gäbe, könnte 1848 ist nicht geringer. Die Zahlen bewegen sich von )647 nach
man mit derselben Methode nachweisen, daß das gleiche lJ01. Dann pflanzt sich in den Jahren 1848-49 die Krise,
Gesetz auch für die politischen Gesellschaften gilt. Die nachdem sie Frankreich durchgerüttelt hatte. durch ganz
Geschichte lehrt uns, daß der in den jungen Gesellschaften im Europa fort. Uberall sinken die Sc:lbstmordziffem, und zwar
allgemeinen seltene Selbstmord" sich im Gegenteil im Lauf der um so fühlbarer, je schwerer und länger die Krise war. Das
Entwicklung und der Konzentration vervielfacht. und zwar in ersehen wir aus der folgenden Tabelle:

15 Wi,k.tbca d., "'0"d1"''''''''''' o.<h .. od<, o.chn,k";. i" .;".m""'H:>n<krcn Sin ... l}'n ....uk ..... kR B.y ... n Ko..i, •.
".- O" ..... ic:h
CObulKh •.• t. Cl ... n.. in dt. So.. ol", ••• bl •• h in. Im .111..... ' .... " dd'";"""" ...Ir .I ••
Do.h.. "'....,. Grupp< n,ch. ""h ck ••10.,,1..." Zahl .In •• nuln<" Mol']'''!« (.I ..
"",nk" ,..;.1 ......... Vo ..............." ...... 1....." .... m ",~h J.-. Anuh' do'f tn,Ji .. idorn . .I", bco
,1..<lI<m Volumm •• u.ichh.h ,n Wo<h",lbn.chu",.......".nde.... ben (,. Rtgtln dc<
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In Deutschland war die Erregung viel stärker als in Däne- ..
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mark und der Kampf viel länger als selbst in Frankrei<:h. wo
sich sofort eine neue Regierung bildete. Zudem hält der Rück-
gang in den deutschen Staaten bis 1849 an. Er beträgt für dieses . ." .. .........••, .."..
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Jahr in Bayern I}'ro, in Preußen 18%. In Sachsen macht er
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innerhalb eines einzigen Jahres. von 1848 bis 1849. ebenfalls
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Diese Erscheinung wiederholt sich 18p in Frankreich nicht,
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ebensowenig wie 18p. Die Selbstmordziffern bleiben konstant.
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Aber der Staatsstreich in Paris brachte eine Wiederholung der unter der Einwirkung von Zeit und Müdigkeit wieder etwas
Wirkung. Obgleich er sich im Dezember abspielte, fiel die glätten. Man sieht auch. daß die Selbstmorde im Juli, statt
Selbstmordziffer von 48} im Jahre 18p auf 446 im Jahre 18p höher zu liegen als die Rate im Vorjahr, im Gegenteil eine
(- 8%) und 180 ist sie erst wieder auf 463)8. Man scheint aus Abnahme von 14 % zeigen. Bis auf eine kleine Pause im August
dieser Tatsache entnehmen zu können, daß die Palastrevolu- hillt die Abwärtsbewegung, wenn auch in geringerem Maße, an
tion Paris viel mehr in Aufruhr gebracht hat als die Provinz, die bis Oktober. Zu dieser Zeit findet die Krise ihr Ende. Und
offenbar ziemlich gleichgültig blieb. übrigens ist ganz allgemein danach beginnt wieder die Aufwilrtsbewegung. die einen
gesprochen die Auswirkung dieser Krisen in der Hauptstadt Augenblick aufgehalten worden war. Im Jahr 1889 ist das
stets stärker fühlbar als in der Provinz. ,8}0 war die Abnahme Phänomen noch deutlicher. Anfang August geht die Kammer
in Paris I} (269 Fälle statt )07 im Vorjahr und H9 im Jahr auseinander. Sofort beginnt der Wahlkampf und dauert bis
danach). 1848 war sie p "10 (481 Fälle gegenüber 698)39. Ende September; zu diesem Zeitpunkt fanden dann die Wahlen
So wenig weittragend einfache Wahlkrisen sein mögen, statt. Wir haben wieder im August im Vergleich zur entspre-
haben sie doch gelegentlich die gleiche Auswirkung. Daher chenden Zeit des Vorjahres eine starke Abnahme von 12 "10, die
kommt es, daß man in Frankreich den parlamentaris<:hen im September anhält, aber nichl weniger plötzlich im Oktober
Staatsstreich vom 16. Mai 18n und die Aufregung, die er verur- aufhört. das heißt, sobald der Kampf entschieden ist.
sachte, im Selbstmordkalender erkennen kann und ebenso die Die großen nationalen Kriege haben denselben Einfluß wie
Wahlen, die 1889 die Ära Boulanger beendeten. Um das zu politische Wirren. Als 1866 der Österreichisch-italienische Krieg
beweisen, braucht man nur die monatliche Verteilung der ausbricht, gehen die Sdbslmordt in heiden Ländern um 14%
Selbstmorde in diesen beiden Jahren mit denjenigen der voraus- zurück.
gehenden und nachfolgenden Jahre zu vergleichen.
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Während der ersten Monate 18n sind die Selbstmorde zahl-

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reicher als 1876 (ISl H Fälle im Januar bis April gegenüber 1784)
und sie blei~ im Mai und Juni hoch. Erst am Ende dieses "', '"
Monats lösen sich die Kammern auf und der Wahlkampf
beginnt de facto, wenn auch noch nicht de jure. Wahrscheinlich Im Jahre 1864 traf es Dänemark und Sachsen. Die Zahl der
gehen in diesem Augenblick die Wogen der politischen Leiden- Selbstmorde im letztgenannten Land fielen von 634 im Jahre
s<:haften sogar am höchsten, denn sie werden si<:h in der Folge laoS) auf iH (- loS%) im Jahre 1864, stiegen 186~ dann wieder
3. N.ch UJO)", S. 251.
auf 619. Da wir für Dänemark die Selbstmordziffer für 186}
39 N.ch ~b'1'r". 0., S<lb.'mo,d. S. 1)1 . nicht kennen, können wir nur 1864 zum Vergleich heranziehen.

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Wir wissen aber, daß ihre Höhe für dieses Jahr (.p [) die nied- beweisen, daß dieser zufällige Umstand für eine Erklärung des
ngste seit 1g j 1 war. Und dl sie 1R6f auf ~ 51 steigt, ist es durchaus Phänomens nicht ausreicht. Zunächst einmal ist da seine sehr
möglich, daß die Zahl ~II einen wesentlichen Rückgang dar- beachtliche Allgemeingültigkeit. Das zeigt sich bei Siegern und
stellt. Besiegten, bei den Besetzern wie bei den Besetzten. Des weite-
Der Krieg von [ 87Q-7 ' hatte dieselben Folgen in Frankreich-", ren, falls die Erschütterung sehr stark war, sind die Folgeer.
und in DeutSchland: scheinungen noch ziemlich lange nachher zu vrrzeichnen. Die

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Zahl der Selbstmorde steigt nur langsam wieder an; es vergehen
einige Jahre, bis sie ihren vorherigen Stand v.'ieder erreicht
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haben. Das ist sogar in den ländern so, in denen sie normaler-
weise r~gelmäßig von J ahr zu Jahr ;I.nsteigen. Obgleich partielle
und im übrigen bei diesen unruhigen Zeiten du rchaus mögliche
und sogar wahrscheinliche Fehler auftreten, hat uns das von der
Man könnte vielleicht annehmen, die Verminderung käme Statistik nachgewiesene Absinken viel zu viel Konstanz, als daß
daher, daß in Kriegszeiten ein Teil der Zivilbevölkerung unter man es auf eine vorübergehende Zerstreutheit der Verwaltung
den Fahnen steht, und daß es bei der kämpfenden Truppe sehr <1ls Hauptursache ZurückfUhren könntr.
schwer ist, die Selbstmorde zu ermitteln. Aber bei den Frauen Der beste Beweis jedoch dafür, daß wir es hier nicht mit
zeigt sich die Abnahme genauso wie bei den Männem. In einem Bercchnungsfehler, sondern mit einer Erscheinung der
Italien bewegen sich die Selbstmordzahlen für Frauen von '30 Sozial -Psychologie zu tun haben, liegt darin, daß nicht alle poli-
im Jahre ,864 nach "7 im Jahre 1866; in Sachsen von IH im tischen oder nationalen Krisen diese Wirkung haben. Nur 501-
Jahre [863 nach 110 im Jlhre [86~ und "4 im Jahre ,86j ,he sind hier wirksam, die die leidenschaften aufrühren. Wir
( - 1 j %). 1870 ist die Abnahme da nicht weniger spürbar; von haben früher schon ausgeführt, daß die Revolutionen bei uns
[}O im Jahre 1869 fallen sie auf "4 im Jahre 1870 und bleiben immer größeren Einfluß auf die Selbstmorde in Paris hatten als
bis [871 auf derselben Höhe. Der Rückgang beträgt 13 % und ist in der Provinz; trotz der Tatsache, daß die Administration in
damit größer als der bei den Männern zur gleichen Zeit. der Provinz ebenso gestört war wie in der H auptstadt. Nur hat
Während in Preußen 1869 Fnluen 616 Selbstmorde begingen, diese Art Geschehnisse die Provinzler stets weniger interessiert
sind es 187[ nur noch HO (-I}%). Man weiß übrigens, daß die als die Pariser, die dafür verantwortlich waren und daran betei-
jungen Leute unter Waffen nur wenig zu den Selbstmordziffem ligt waren. Auf ähnliche Weise haben im Gegensatz. zu den
beitr.l.gen. Vom Jahre 1870 waren nur sechs Monate Krieg. In großen nationalrn Kriegen wie [8 7Q-7I, der sowohl in Frank-
Friedenszeiten hätten eine Million Franzosen zwischen lj und reich wie in Deutschland großen Einfluß auf den Verlauf der
} O etwa 100 Selbstmorde verübt"o, während zv.'ischen 1870 und Sclbstmordkurve hatte, die rein dynastischen wie der Krim-
1869 die Differenz zumindest 1017 Fälle ausmacht. krieg oder der italienische Krieg, die die Gemüter de r Massen
Man hat sich auch gefragt. ob dieser plötzliche Rückgang in nicht so sehr erhitzten, keine nennenswerte Auswirkung. [814
Krisenzeiten nicht damit zu erklären sei, daß dann der Einfluß gab es sogar eine fühlbare Steigerung ( 3700 stau 341 j im Jahre
der Administration gelähmt ist und Selbstmorde vielleicht [I!}). Dasselbe beobachtet man in Preußen nach den Kriegen
weniger genau festgestellt werden. Aber zahlreiche Tatsachen von [864 und 1866. Die Zahlen bleiben 1864 gleich und steigen
[166 etwas an. Das kommt daher, daß dieser Krieg rein politi-
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H.1b,.h......... wo> 200. C .""i in die Z,hl d .. Stlbwno.o. jedon Ah.N von 1170,", scher Natur war und nicht wie 1870 das ganze Volk in Bewe-
18"0 .uf d .. Dopp<h. 1<";"1"'" gung brachte.

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Srlb.. motd pro Million Ein ... ohn., <l •• S,,'~hbot.ölhf"n ,
Vom selben Standpunkt ist es interessant festzustellen, daß
das Jahr 1870 in Bayern nicht denselben Effekt hatte wie in den ,., "-
anderen deutschen Ländern, besonders in NorddeulSChland. ,', ".
Man hat hier 1870 mehr Selbstmorde festgestellt als 1869 (-4P
stau .411 ). Erst 187 1 ist ein leichter Rückgang zu verzeichne';, Die Feststellungen dürften jedoch auf dem Lande noch
Dieser wird 187 1, wo es nur 411 Fälle gab, noch etwas stärker; schwieriger sein als in den Städten. Die wirkliche Ursache für
aber auch das sind erst 9 % gegenüber 1869 und -4 % gegenüber diesen Unterschied liegt daher woanders: der Krieg hat morali-
1870. Und doch hat Baye rn bei den militärischen Aktionen sche Konsequenzen vornehmlich für die Stadtbevölkerung, die
denselben materiellen Beitrag geleistet wie Preußen. Es hat in stnsibler. eher zu beeindrucken und besser über die Ereignisse
der gleichen Weise seine ganze Armee: mobilisiert, und wir infonniert ist als die Landbevölkerung.
haben keinen Grund anzunehmen, daß weniger Durcheinander Diese Gegebenheiten lassen nur noch eine Deutung zu, näm-
in der Verwaltung geherrscht hätte. Nur eben 'I\'ar es an den lich die, daß die großen Volksbewegungen wie die großen
Ereignissen moralisch nicht in der gleichen Weise beteiligt. Man Kriege Kollektivempfindungen wecken, den Parteigeist ebenso
weiß ja, daß das katholische Bayern von allen Ländern wie den Patriotismus, den politischen Glauben wie den nationa-
Deutschlands am ehesten immer sein Eigenleben gelebt hat und len beleben und, indem alle Kräfte auf ein einziges Ziel konzen-
auf seine Autonomie immer am eifersüchtigsten bedacht war, triert werden und wenigstens fü r eine Zeitlang eine größere
Es hat nur nach dem Willen seines Königs, nicht aber aus Integration des Ganzen zuwege bringen. Nicht also der Krise
eigenem Antrieb an dem Krieg teilgenommen. Es hat darum stlbst danken wir den von uns festgestellten heilsamen Einfluß,
auch viel mehr als die anderen Völker der großen sozialen sondern den Kämpfen im Gefolge dieser Krisen. Wenn alle
Bewegung, die Deutschland erschütterte, Widerstand entge- Menschen zusammenstehen müssen, um einer gemeinsamen
gengesetzt. Aus diesem Grund hat die Gegenbewegung dort Gefahr die Stirn zu bieten, dann denkt der einzelne weniger an
erst später und schwächer eingesetzt. Die Begeisterung kam sich selbst und mehr an die gemeinsame Sache. Im übrigen ist
erst hinterher und war mäßig. Erst mußte der Hauch von Ruhm es deutlich, daß diese gegenseitige Verbundenheit nicht nur
kommen, der DeulSChland nach den Erfolgen von 1870 umfii- momentan ist, sondern gelegentlich länger dauert als das, was
chehe, ehe Bayern, das bis dahin kühl und widerstrebend sie unmittelbar hervo rgerufen hat, besonders wenn sie stark ist.
geblieben war, sich etwas erwärmte" .
Zu diesen Tatsachen kann man das Folgende in Beziehung
bringen, das die gleiche Bedeutung hat. In Frankreich hat sich
in den Jahren 1870-7 1 die Selbstmordziffer lediglich in den "Wir ha ben also nacheinander folgende drei Thesen aufgestellt:
Städten verringert. Dtr Selbstmord suht im Mmgekehrun VtThältnis z",m Inugra-
rio11Jgrad der Kirche, der Familie ",nd des Staats. Diese Zusam-
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von 1110 Y~,u ..... b.... O<d<n ;" . , .. Ik,h.lb .... ulk... n~mlich h. t m. n';n Ab....J.mm menstellung zeigt, daß, wenn diese ve rschiedenen gesellschaft-
dn Srlb.. monb.. hI ... hum l.n",. (.."'.11.... konnen ••1. <1<, lVXt .. Ib .. d . ... ru. lD lichen Gruppen einen mäßigenden Einfluß auf den Selbstmord
SKh..., ..... ,~,k,.ich 1It. "'uck,.ft,.on 1"0,<1<, n.benbot. nu, , .. bot,,,,,, im J' M< haben, er nicht auf Besonderheiten einer jeden Gruppe, son-
1"1 nich. und 100.. ,.11 (... Y61li, .uf. Im H.noc'um B~n t..-.ch,ink, ..ich <1;.
Abn. h ..... uf J •• J.hr "'0. 0 .. J.h. 1'11 lie" mn IH FäILrn 10'!lo hohe, ~t. 1169. dem auf etwas beruht. das ihnen allen gemeinsam ist. Die Reli-
Ei Iu., d... AftO<he'ft ••1. 01> .11';. ~lkn n~<h IItm Si", oon';,..,. An koU.k ,;. .. gion verdankt ihre Wirksamkeit nicht den besonderen religiö-
E.o ph.,ri.",p.ck, ...."d •. Di •• nd.",. S... l<n .mpf.n<l<n dtn z.. ... ~.h,.ft "'uhm " nd
Mach'; m Gdol,. dn Kri", .. ..ni,.. lItut!i"h, "nd n. chd< m .;nmal die , , 0ße •• <io-
stn Empfindungen, da Familie und Staat dieselbe Wirkung her-
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