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H egel
Phänomenologie
des Geistes
Ä-
Klassiker Auslegen
Herausgegeben von
Otfried Höffe
Band 16
Phänomenologie
des Geistes
Herausgegeben
von Dietmar Köhler
und Otto Pöggeler
2 bearbeitete Auflage
Akademie Verlag
Titelbild: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Brustbild in den jüngeren Jahren
(genaue Datierung unbekannt), wahrscheinlich von Riepenhausen angefertigt,
im Besitz des Hegel-Archivs der Ruhr-Universität Bochum.
IS B N -10: 3-05-004234-6
ISBN -13: 978-3-05-004234-3
Inhalt
1.
E in fü h ru n g
Dietmar Köhler/Otto Pöggeler................................................ 1
2.
Z u H egels P ortrait d er sinnlichen Gewißheit
Andreas G raeser........................................................................ 35
3.
D ie W ahrnehm ung; od er das D ing,
und die T äu sch u n g
Joachim H a g n e r ........................................................................ 55
4.
H e g el’s “ Inverted W orld”
Joseph C. F la y ............................................................................ 91
5.
D ie Bew egung des Anerkennens in H egels
Phänom enologie des G eistes
Ludwig Siep .............................................................................. 109
6.
Selbstbewußtsein als Leitfaden der Phänomenologie
des G eistes
Otto Pöggeler.............................................................................. 131
7.
D e r B egriff der Vernunft in H egels Phänomenologie
Klaus Düsing.............................................................................. 145
8.
T h e Path o f R eason in H eg el’s Phenom enology
o f Spirit
Marcos Bisticas-Cocoves............................................................. 165
VI I nhalt
9.
G estalten nicht des Bewußtseins, sondern einer W elt -
Ü berlegun gen zum G eist-K apitel der
Phänom enologie des G eistes
Elisabeth Weisser-Lohmann .................................................... 185
10.
H eg els G ew issensdialektik
Dietmar Köhler.......................................................................... 211
11.
D ie M etaph er des K n oten s als Leitfaden zur
Interpretation d er Phänom enologie des G eistes
Luis Mariano de la Maza ......................................................... 229
12 .
D as absolute W issen. Zeit, Geschichte, W issenschaft
Gabriella Baptist........................................................................ 245
13.
D ie E n tsteh un g der ,enzyklopädische^
Phänom enologie in H egels propädeutischer
G eistesleh re in N ürn berg
Udo R am eil................................................................................. 263
P e r s o n e n r e g is t e r ................................................................. 297
Zitierweise
Siglen
Einführung
teste Gewißheit, und doch ist sie die abstrakteste und leerste,
da sie von allem nur sagt, daß es sei. Der Gegenstand ist nur
das reine Dieses, und das Ich ist ebenfalls nur reiner Dieser.
Doch das Unmittelbare erweist sich schon als vermittelt durch
einen Unterschied: ein Dieser, der weiß, ist unterschieden
vom Diesen als Gegenstand. Unzählige weitere Unterschiede
kommen hinzu, und so ist die sinnliche Gewißheit in ihrer
Wirklichkeit immer nur ein Beispiel, das Vermittlungen vor
aussetzt. Die sinnliche Gewißheit weicht dieser Erfahrung
aus, indem sie nur etwa den Gegenstand als das Wesen oder
das Wahre setzt, sich das Unwesentliche und Vermittelte
nimmt. Doch der Gegenstand entschwindet der Gewißheit.
W ird er etwa im Jetzt gesucht, dann ist dieses die Nacht; bald
aber ist die N acht entschwunden und das Jetzt der Mittag.
Wenn wir die Wahrheit aufgeschrieben haben, ist sie schal
geworden. Doch das Jetzt erhält sich in dem, was als Tag oder
N acht bei ihm herspielt; es ist immer schon zu einem Allge
meinen geworden, einem „Sein überhaupt“ . Die Sprache kann
gar nicht aussprechen, was die sinnliche Gewißheit meint; sie
widerlegt mit ihrer Richtung auf das Allgemeine unsere M ei
nung. Ähnlich ist es beim Hier, welches das Haus oder der
Baum sein kann, jedenfalls eine vermittelte Einfachheit oder
Allgemeinheit!
Damit der Unterschied und die Vermittlung beseitigt würde,
sollte der Gegenstand allein das Wesen sein. Er wurde in einer
Verkehrung zum Unwesentlichen; er ist nur, weil ich ihn meine,
nämlich mich auf ihn richte als den meinen. Das Wesen der
sinnlichen Gewißheit wird so zurückgedrängt in das Ich. In der
Unmittelbarkeit des Sehens und Hörens soll nun die Wahrheit
liegen. Doch wird auch diese Unmittelbarkeit des Ich sofort
aufgehoben: Ich sehe diesen Baum, doch sieht ein anderer ein
Haus. Das Eine verschwindet zugunsten des Anderen; was be
stehen bleibt, ist das Ich als Allgemeines. Hegel weist hier noch
einmal die Forderung Krugs zurück, die idealistische Philoso
phie solle doch einmal diesen bestimmten Menschen oder nur
dieses Ding, seine Schreibfeder etwa, deduzieren. Schon im
Kritischen Journal der Philosophie, das Schelling und Hegel ge
meinsam herausgaben, hatte Hegel die Forderung Krugs abge
wehrt: Eine solche Deduktion versucht die idealistische Philo
sophie gar nicht, da es ihr ausschließlich um Wesentliches geht.
8 D ie t m a r K ö h ler /O tto P ö g geler
Doch kann ein Kritiker wie Krug mit seiner Forderung gemäß
der Phänomenologie gar nicht einmal sagen, „welches dieses
Ding oder welchen diesen Ich sie meine, denn dies zu sagen ist
unmöglich“ (GW 9, 73).
Muß man nicht das Ganze der sinnlichen Gewißheit in ihrer
Unmittelbarkeit als Wesen setzen, also die Ungetrenntheit
von Gegenstand und Ich? Die sinnliche Gewißheit muß sich
dann durchhalten als die sich selbst gleichbleibende Bezie
hung zwischen Gegenstand und Ich. Doch auch von dieser
Beziehung, dem „reinen Anschauen“, gilt, daß sie nicht festzu
halten ist. U m durch die Sprache nicht ins Allgemeine einzu
treten, müssen wir diese unmittelbare Beziehung uns zeigen
lassen. Wir müssen „in denselben Punkt der Zeit oder des
Raums eintreten“, wo etwas unmittelbar gewußt wird. Indem
das Jetzt gezeigt wird, ist es aber schon ein anderes; es ist
„gewesen“ , und was gewesen ist, ist nicht mehr das gesuchte
unmittelbare Sein. Ich behaupte ein Jetzt als das Wahre meiner
Gewißheit; doch indem ich es aufzeige, ist es schon gewesen.
Ich behaupte diese Negation, das Gewesensein, als Wahrheit.
Doch das Jetzt stellt sich in einer Negation der Negation wieder
her. Aber es ist nicht nur das viele Jetzt, sondern das reflektierte
Erste und Unmittelbare, eine „einfache Vielheit“ oder „die
Bewegung“ einer „einfachen Komplexion“. Diese reflektierte
Einfachheit ist als Zusammenfassung des Vielen schon ein
vermitteltes Allgemeines.
Hegel spricht von einer „Dialektik“ und bezieht sie auf die
Skepsis. Wie im Kritischen Journal in seinem Aufsatz über den
Skeptizismus, so gibt Hegel auch hier dem antiken Skeptizis
mus recht, der anders als der moderne die Behauptung der
Realität oder des Seins äußerer Dinge nicht für unantastbar
hält. Zugleich verweist Hegel auf die alten Eleusischen M yste
rien der Ceres und des Bacchus: das Geheimnis des Essens des
Brotes und des Trinkens des Weins ist, daß alles Einzelne und
Sinnliche aufgezehrt wird. Auch die Tiere seien von dieser
Weisheit nicht ausgeschlossen. Hegel kehrt dann noch einmal
zurück zur Auseinandersetzung mit Krug: Er meine dieses Stück
Papier, worauf ich dies schreibe oder geschrieben habe; doch
das Gemeinte könne nicht gesagt werden, weil es der Sprache
unerreichbar sei, da diese schon dem Bewußtsein und dem
Allgemeinen angehöre. Die Sprache habe „die göttliche N a
E in f ü h r u n g 9
1 Zu Hegels Kritik der sinnlichen Gewißheit vgl. Purpus, W 1905: Die Dialektik
der sinnlichen Gewißheit bei Hegel, dargestellt in ihrem Zusammenhang mit der Logik
und der antiken Dialektik. Nürnberg; Diising, K. 1973: Die Bedeutung des antiken
Skeptizismus fiir Hegels Kritik der sinnlichen Gewißheit. In: Hegel-Studien 8, 119—
130; ferner Graeser, A. 1987: Zu Hegels Portrait der sinnlichen Gewißheit. In:
Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie. 34. Band, 437^453. Uber
die Verflechtung mit der Krug-Kritik vgl. Pöggeler, O. 1976: Hegels Kritik der
sinnlichen Gewißheit. In: Sinnlichkeit und Verstand. H g. von Hans Wagner. Bonn,
167-185. Zur neueren Literatur vgl. Seil, A. 1995: Das Problem der sinnlichen
Gewißheit. Neuere Arbeiten zum Anfang der Phänomenologie des Geistes. In: Hegel-
Studien 30, 197-206. Zum Skeptizismusbezug vgl. Büchner, H . 1990: Skeptizismus
und Dialektik. In: Hegel und die antike Dialektik. H g. von Manfred Riedel.
Frankfurt a. M., 227-243; Roettges, H . 1987: Dialektik und Skeptizismus. Die Rolle
des Skeptizismus fiir Genese, Selbstverständnis und Kritik der Dialektik. Frankfurt a.
M. Zur Verbindung der Bestimmung des Seins mit dem schlechthin Individuel
len in den Jahren 1805-1808 vgl. Shikaya, T. 1978: Die Wandlung des Seinsbe-
grifis in Hegels Logik-Konzeption. In: Hegel-Studien 13, 119-173.
E in f ü h r u n g i i
Kann das, was ist, kann also letztlich das „Absolute“ als Selbst
bewußtsein gefaßt werden? Dieses Selbstbewußtsein müßte dann
eins sein können mit dem Leben und dessen Verwurzelung in
der Dinglichkeit. Hegel prüft an handlichen Exempeln Versu
che, den Zusammenhang von Leben und Selbsthaftigkeit zu
fassen. Das Exempel des Kampfes auf Leben und Tod soll
zeigen, daß der Zusammenhang nicht als bloße Negation des
Lebens, als ein Töten gesehen werden kann, weil dann das
Leben nur verschwindet. Aber auch die Unterwerfung der ei
nen Seite zugunsten der Herrschaft der anderen bleibt unzu
länglich. Die Arbeit des Menschen, die an einer Geformtheit
des Dinglichen und Lebendigen anknüpft, bietet eher schon
einen Lösungshinweis. Bleibt aber nicht das endliche Selbstbe
wußtsein dem unendlichen gegenüber? Stoizismus und Skepti
zismus weisen auf die Einheit beider hin, doch bricht der Gegen
satz im unglücklichen Bewußtsein und seinem religiösen
Verhalten neu auf. Die Dialektik dieser Lösungsversuche führt
zur Position der Vernunft, die in allem waltet, so daß die mensch
liche Vernunft sich in allem wiederfinden kann.
Wenn die Vernunft auftritt mit der These, sie sei alle Realität,
dann wird der Idealismus von Fichtes Rede vom Ich aufgenom
men. Diese These ist metaphysisch-logisch angesetzt; durch
den vierten Abschnitt von Hegels Logik über das wissende
Wissen wird sie in den Gang der Logik überhaupt einge
schmolzen. Die Wissenschaft der Erfahrung oder Phänome
nologie des Geistes soll zeigen, daß sie nicht unvermittelt ist
mit dem natürlichen Bewußtsein. Mögliche Vermittlungswei
sen werden phänomenologisch überprüft. Kann eine beobach
tende Vernunft sich selbst und ihre Formen in der toten und
lebendigen Natur vorfinden, dann psychologisch-logisch im rei
nen Selbstbewußtsein und auch physiognomisch oder mit der
Gallschen Schädellehre in der Leiblichkeit des Selbst? In einem
zweiten Prüfungsgang wird gefragt, ob und wie das Selbstbe
wußtsein sich selbst verwirklichen kann. Wenn Faust sich in das
Leben stürzt, zeigt sich in der Lust eine Notwendigkeit, die den
Einzelnen aufhebt und in ein übergreifendes Ganzes rückt. Doch
dieses Ganze ist dabei so wenig leitend wie im proklamierten
Gesetz des Herzens oder im Eigensinn des Bestehens auf „Tu
gend“ . Die spezifisch praktische Seite des Selbstbewußtseins
kommt in einem dritten Prüfungsgang zur Geltung.
E in f ü h r u n g i 3
2 Briefe von und an Hegel. H g. von Karl Hegel, 1. Theil, Leipzig 1887, 100 ff;
Brief von H egel an Schelling vom 1. M ai 1807.
E in f ü h r u n g i 9
Nach der Schlacht bei Jena sah Hegel den Sieger Napoleon
durch die Stadt reiten, und er sprach ihn an als die Weltseele, die
sich konzentriert zu einem Punkt auf einem Pferd. Keineswegs
sprach Hegel, wie oft zitiert wird, vom Weltgeist, der in der
Geschichte vorwärts stürmt; er erinnerte, jetzt auch mit der Ge
schichte des Neuplatonismus befaßt, an die Weltseele der Plato-
niker, die die Gesetze für die Wirklichkeit in sich trägt. Wie
Napoleon die Verfassungen für reformierte europäische Staaten
mit sich trug, so ist die Geschichte nach Hegel überhaupt die
Ausformung von Strukturen und deren Gesetzlichkeiten. Hegel
tritt mit diesem Vertrauen, das Neues und vielleicht Endgültiges
mit seiner Gesetzlichkeit hervortreten wolle, an den Umbruch
Europas heran, der sich ihm seit seiner Jugend aufdrängte. Als
Hegel gerade in das Tübinger Stift eingetreten war, brach die
Französische Revolution aus; bestimmender war für die Stu
denten die deutsche Revolution des Geistes, die den Umsturz
über die überlieferte Religion, Kunst und Philosophie brachte.
20 D ie t m a r K ö h ler /O tto P ö g geler
Bestimmung der Idee des Guten nur eine kurze Skizze. Die ab
solute Idee wird nur noch genannt. Die Idee des Schönen oder
das Ideal wird z. B. abgedrängt in die Realphilosophie, nämlich
als erster Teil der Ästhetik oder Philosophie der Kunst entfaltet.
Hegel hätte gut daran getan, seinen Schülern und Lesern
darzulegen, warum er Schwierigkeiten mit der Phänomenologie
von 1807 bekommen hatte. Wenn er schließlich eine Philoso
phie des subjektiven Geistes aus Anthropologie, Phänomeno
logie und Psychologie aufbaute, konnte er schwerlich noch die
Phänomenologie zusammen mit der Psychologie in die Propä
deutik rücken oder gar eine Phänomenologie als exemplari
sche Einführung in den Um gang mit logischen Bestimmungen
nutzen. Selbstverständlich konnte die Phänomenologie mit ih
ren Gestalten nicht mehr in eine Wissenschaft der Logik ein
führen, die mit ihren Grundbestimmungen einen anderen und
neuen Verlauf genommen hatte. Zeigt nicht die Unausgegli
chenheit der Ideenlehre, daß Hegel selbst in seiner Logik un
terschiedlichen Motiven folgte? Kantianisierende Hegelianer
wie Rosenkranz haben deshalb diese Ideenlehre schon aus der
Logik zu entfernen versucht. Statt diese Probleme offenzule
gen, griff Hegel gelegentlich direkt auf seine Phänomenologie
zurück, z. B. wenn er die abschließenden Bestimmungen der
Moralität innerhalb der Rechtsphilosophie entfaltete. In einer
Erläuterung zum § 25 der Berliner Enzyklopädie beklagt Hegel,
daß die Entwicklung der konkreten phänomenologischen G e
stalten der Sittlichkeit, Kunst und Religion Parallelen zeige zur
Philosophie des Geistes. Doch ging die Parallelität 1807 noch
nicht direkt auf die Realphilosophie, sondern auf die Entfal
tung des Geistes und des Wissens des Geistes von sich als der
abschließenden Bestimmung in der spekulativen Philosophie!
Offenbar war die Phänomenologie des Geistes für den Verlag
kein Verkaufserfolg. Im Juni 1829 teilte der Buchhändler We-
sche aus Frankfurt mit, daß er den Rest der ersten Auflage vom
Verlag Goebhardt aufgekauft habe und nun eine zweite Auflage
machen wolle. Hegel hielt eine „Umarbeitung des Werkes für
nötig“ und wollte gegebenenfalls gegen die Eigenwilligkeiten
des Verlages einschreiten. (Wie er seinem Schwager von Meyer
am 9. August schrieb (Br IV, 68)). K urz vor dem Tode, am
1.10.1831, schloß Hegel mit der Buchhandlung Duncker und
Humblot einen Vertrag wegen des Druckes und Verlags (der
E in f ü h r u n g 27
Jene Schüler und Freunde Hegels, die sich schon in Jena oder
doch in Heidelberg mit seinem Denken beschäftigten, mußten
sich an der Phänomenologie des Geistes, dem ersten großen öf
fentlichen Werk, orientieren. Das ist in der Tat der Fall bei
Gabler und Hinrichs und auch bei dem Heidelberger Theolo
gen Daub. Die eigentliche Hegelschule bildete sich aber in
Berlin; für diese neuen Schüler war die Phänomenologie des Geis
tes nur ausnahmsweise noch einbezogen in die Vorlesungstätig
keit Hegels. So konnte Michelet berichten, Hegel habe die
Phänomenologie seine „Entdeckungsreisen“ genannt. Karl R o
senkranz, als Biograph mit der Entwicklung von Hegels Den
ken befaßt, mußte in der Phänomenologie eine vorübergehende
Krise im Hegelschen Weg zur Ausarbeitung des Systems sehen.
Die Junghegelianer, die Hegel von den Erfahrungen der Zeit
her aufnahmen, mußten wie David Friedrich Strauss und Bruno
Bauer statt auf das fertige System wieder auf die Phänomenologie
des Geistes setzen. So konnte Karl Marx in seinen Pariser Manu-
28 D ie t m a r K ö h ler /O tto P ö g geler
4 Haym, R. 1857: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwick
lung, Wesen und Werth der Hegelschen Philosophie. Berlin, 243.
E in f ü h r u n g 29
Die Aufarbeitung der frühen Texte Hegels und vor allen der
Jenaer Entwürfe hat aber gezeigt, daß die Phänomenologie aufs
Engste mit Hegels Logik und mit der Realphilosophie verbun
den ist und in spezifischer Weise auf die Probleme der System
bildung verweist. Kann überhaupt eine Logik jene Grundbe
griffe vorweg bereitstellen, die dann in der Realphilosophie
anzuwenden sind? Oder sind das Substanz-Akzidens-Verhält-
nis und die Kausalität eher Konzeptionen, die sich erst in unter
schiedlichen Anwendungsfeldern erfüllen? Dann muß das offe
ne Ganze dieser Konzeptionen „phänomenologisch“ vermittelt
werden, ohne daß man dem Weg der Erfahrung einen endgülti
gen Abschluß geben könnte.
Wenn man heute versucht, die Hegelsche Phänomenologie
ihrer eigenen „Idee“ nach aufzunehmen, so sieht man sich
durch die Auseinandersetzung mit Hegels „Programm“ unmit
telbar genötigt, erneut nach der Gestalt eines zukünftigen Phi-
losophierens zu fragen. Von der Phänomenologie her zeigt sich
das Problem des Hegelschen Systems überhaupt: die Vermitt
lung von System und Geschichte und darüber hinaus die der
Philosophie mit anderen Weisen unserer Verständigung über
unser In-der-Welt-sein. Konkret verstanden werden kann die
Phänomenologie aber nur, wenn man beachtet, was Hegel über
die programmatischen Erklärungen hinaus tut.
Angesichts des völlig unproportionalen Aufbaus der Phäno
menologie müssen die Beiträge dieses Bandes die Grundintenti
on des Werkes, dessen strukturellen Aufbau wie auch die aktu
elle philosophische Relevanz der Phänomenologie anhand von
exemplarischen Analysen zu den einzelnen Kapiteln erörtern.
Bei einem Werk vom Umfang der Phänomenologie ist es kaum
möglich und auch wenig sinnvoll, einen Kommentar in stren
ger Analogie zum Text durchzuführen, da der Kommentar dann
ebenso unproportional wie seine Vorlage bleiben würde und
zudem schwer handhabbar wäre. Stattdessen bietet sich aber die
Möglichkeit, die spezifischen Paradigmen der jeweiligen K a
pitel herauszuarbeiten und deren Funktion für die Gesamtkon
zeption des Hegelschen Werkes zu erläutern.
Im einzelnen werden sich die Beiträge von A. Graeser der
Sinnlichen Gewißheit und von J. Hagner dem Wahrnehmungs
kapitel widmen. Das dritte Kapitel „Kraft und Verstand“ wird
dann anhand von J. C. Flays Untersuchungen über „Hegels ,In-
E in f ü h r u n g 31
Literatur
Briefe von und an H egel. H g. von Karl H egel, 1. Theil, Leipzig 1887.
Büchner, Hartmut 1990: Skeptizismus und Dialektik. In: H egel und die antike
Dialektik. H g. von Manfred Riedel. Frankfurt a. M., 227-243.
Diising, Klaus 1973: Die Bedeutung des antiken Skeptizismus für H egels Kritik
der sinnlichen Gewißheit. In: Hegel-Studien 8, 119-130.
Graeser, Andreas 1987: Zu H egels Portrait der sinnlichen Gewißheit. In:
Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie. 34. Band, 437-453.
Haym, Rudolf 1857: H egel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und
Entwicklung, Wesen und Werth der Hegelschen Philosophie. Berlin.
Jauß, Hans Robert 1982: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik.
Frankfurt a. M., 467-504.
Köhler, Dietmar 2006: Freiheit und System im Spannungsfeld von Hegels Phäno
menologie des Geistes und Schellings Freiheitsschrift. Paderborn/München.
Kozu, Kunio 1999: Bewußtsein und Wissenschaft. Zu H egels Nürnberger
Systemkonzeption (Hegeliana Band 10). Frankfurt a. M.
Pöggeler, Otto 1976: H egels Kritik der sinnlichen Gewißheit. In: Sinnlichkeit
und Verstand. H g. von Hans Wagner. Bonn, 167-185.
Pöggeler, Otto 2004: Die Phänomenologie - Konsequenz oder Krise in der
Entwicklung Hegels? In: Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptio
nen Hegels. H g. von H einz Kimmerle. Berlin, 257-267.
Purpus, Wilhelm 1905: Die Dialektik der sinnlichen Gewißheit bei Hegel,
dargestellt in ihrem Zusammenhang mit der Logik und der antiken Dialektik.
Nürnberg.
Roettges, Heinz 1987: Dialektik und Skeptizismus. Die Rolle des Skeptizismus
für Genese, Selbstverständnis und Kritik der Dialektik. Frankfurt a. M.
34 D ie t m a r K ö h ler /O tto P ö g geler
Rosenkranz, Karl 1988: G eorg Wilhelm Friedrich H egels Leben. Berlin 1844.
Unveränd. reprograph. Nachdruck. Darmstadt.
Seil, Annette 1995: Das Problem der sinnlichen Gewißheit. Neuere Arbeiten
zum Anfang der Phänomenologie des Geistes. In: Hegel-Studien 30, 197—
206.
Shikaya, Takako 1978: Die Wandlung des Seinsbegriffs in H egels Logik-
Konzeption. In: Hegel-Studien 13, 119-173.
Siep, Ludwig 2000: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M.
Speight, Allen 2001: Hegel, Literature and the Problem of Agency. Cambridge.
2
Andreas Graeser
i.
1 Wieland 1973, 67-82, bes. 70: „Doch wird man H egel nicht gerecht, wenn man
ihm logische oder semantische Fehler nachweist und nicht gleichzeitig die M ög
lichkeit in Rechnung stellt, daß er diese Fehlerhaftigkeit selbst gekannt und
berücksichtigt hat“. - Siehe auch Wiehl 1973, 41: „Die Sprache, die dieses Be
wußtsein spricht, um seine Erfahrung auszusprechen: das Jetzt ist Tag, das Hier ist
Baum -, muß ihm unnatürlich, ja verkehrt Vorkommen“. Vgl. auch Scheier 1980,
39: „Die Prüfung [...] kann nun wohl als spitzfindig oder sogar als unverständig
erscheinen, wenn sie nicht ausschließlich bezogen bleibt auf die hier vom B ewußt-
sein behauptete, und unbeschadet, ob geschichdich aufgetretene oder eigens für
diesen Anfang abstrahierte Wahrheit“.
Zu H e g e ls P o r t r a i t d e r s in n lic h e n G e w is s h e it 37
II.
2 V gl. z. B. Daniels 1983, 88. Schon N ink 1948, 16, spricht von einer „vorphilo
sophischen, unkritischen Einstellung“. - Siehe hingegen Westphal 1973, 89: „Die
sinnliche Gewißheit ist eine unwirkliche Abstraktion. Unser Wissen von der
äußeren Welt fängt nicht in der verdünnten Sphäre reiner Sinnlichkeit an, sondern
in der konkreten Lebenswelt des alltäglichen Bewußtseins von Dingen und ihren
Eigenschaften.“ - 9 1 : „U m den Primat der Wahrnehmung in H egels Phänomeno
logie der Erfahrung zu verstehen, muß man jedoch mehr als das bloß Abgeleitete
des Appells an sinnliche Gewißheit begreifen. Man muß auch einsehen, daß mit
diesem Nam en überhaupt keine wirkliche Bewußtseinsform bezeichnet ist“.
3 H egel selbst, der in der „Vorrede“ der Ph.d.G., (G W 9, 24) und in der Philoso
phischen Propädeutik ( T W 4, 111) von „sinnlichem Bewußtsein“ (im Gegensatz zu
„wahrnehmendem Bewußtsein“) spricht, charakterisiert die sinnliche Gewißheit
gelegentlich auch als „gemeines Bewußtsein“ (T W 19, 374-375) und spricht von
ihm als dem „ungebildeten Standpunkt des Individuums“ („Vorrede“ zur Ph.d.G.,
G W 9, 24).
38 A nd reas G raes er
III.
7 Verschiedene Autoren weisen auf die Struktur des sokratischen Dialoges hin,
der in H egels Inszenierung der Prüfung der sinnlichen Gewißheit zugrunde liege.
Zu diesem Zweck verweist Westphal 1973, 83 auf Platon, Theaitet 16 lh—162h,
d. h. auf Sokrates’ Ausspruch, daß „keine der Reden von mir ausgeht, sondern stets
von dem Mitunterredner, während ich mich nur auf die Kleinigkeit verstehe, die
darin besteht, daß ich die Rede eines anderen weisen Mannes einer richtigen
Behandlung und Prüfung unterwerfe [...]. Also abermals muß ich mich an den
weisen Theaitet wenden“. Die Analogie liegt nahe, ist jedoch für diesen Zusam
menhang nicht sehr illustrativ.
8 Vgl. auch Heinrich 1983, 1. Aufl. 1974, 113: „Das sinnliche Bewußtsein als
solches vermag nicht Rede und Antwort zu stehen. E s existiert auch niemals rein als
solches. Wohl aber existieren zeitgenössische und vorhergehende philosophische
Strömungen, mit denen die Diskussion über solches Bewußtsein von nöten er
schien.“
Zu H e g e ls P o r t r a i t d e r s in n lic h e n G e w is s h e it 41
IV.
9 Die Destruktion der Unmittelbarkeit ist ein zentrales Thema bei Hegel. Grund
legend für die Einschätzung dieser Them atik sind H egels Erörterungen in der
Wissenschaft der Logik, - siehe „Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht
werden?“, ^ . L . I ( T W 5 ) .
42 A nd reas G raeser
10 Der heutige Leser denkt hier besonders an Bertrand Russells Konzeption des
„Wissens durch Bekanntschaft“ und damit an seine Vorstellung von Sinnes-Daten
als unmittelbar gegebenen Gegenständen des Bewußtseins. Vgl. z. B. Russell 1970,
1. Aufl. 1912, 25: „We shall say that we have acquaintance with anything of which
Zu H e g e ls P o r t r a i t d e r s in n lic h e n G e w is s h e it 43
V.
we are directly aware, without the intermediary of any process of inference or any
knowledge of truth.“ - H egel denkt sicher an Epikur (vgl. etwa fr. 247 Us.).
44 A nd reas G raes er
VI.
11 Die Beobachtung dieses Vorsprungs wird namentlich von Ottmann 1974 gut
betont.
Zu H e g e ls P o r t r a i t d e r s in n lic h e n G e w is s h e it 45
se“ , „Das H ier“, „Das Jetzt“)12 statt. Sicher ist es eine Sache zu
sagen, daß wir im Rahmen der sinnlichen Gewißheit (oder im
Rahmen einer beliebigen empiristischen Position, welche auf
dieser fußt und geltend macht, jene Unmittelbarkeit aufzuwei
sen, welche das Ideal unmittelbarer Gegenstandserkenntnis er
füllt) unsere Gegenstände zu treffen versuchen, ohne Begriffe
zu Hilfe zu nehmen. Sicher ist es eine andere Sache zu sagen,
daß wir uns in solchen Situationen auf Gegenständlichkeiten
von der Art eines „Das Diese“ beziehen. Aber genau dies scheint
Hegel vorauszusetzen: Unmittelbarkeit in dem zu Beginn des
Kapitels vorausgesetzten Sinn reinen Aufnehmens besagt ja,
daß das aufnehmende Subjekt seine Gegenständlichkeit weder
gliedert noch überhaupt in einer Beziehung zu anderen mögli
chen Gegenständen erfährt. Diese Weise reinen Aufnehmens, die
gegen sämtliche Formen und Horizonte indifferent sein müßte,
würde sich genaugenommen auch von solchen beobachtungsarti
gen Zuwendungen unterscheiden, die man mit Moritz Schlick als
Konstatierungen zu bezeichnen hätte (z. B.: „Hier jetzt blau und
grün ...“). Denn derartige Äußerungen vollziehen sich bereits
im Horizont selektiver und jedenfalls kontextuell geprägter
Erfahrungen. Genau diese Möglichkeit selektiver Erfahrung
scheint für die sinnliche Gewißheit ex hypothesi ausgeschlos
sen.
In diesem Sinn ist es nicht erstaunlich, wenn die Beschrei
bung voraussetzt, daß „H ier“ und ,Je tz t“ für einen „unwandel
baren“ Gegenstand stehen, der im Modus seiner Unmittelbar
keit alles Raum- und Zeitbewußtsein nicht nur erfüllt, sondern
geradezu ausfüllt: Das Hier, Das Jetzt usw. Von hieraus be
trachtetwäre es nicht gleichgültig, ob der Beispielsatz die Form
,Je tzt ist Nacht“ oder „Das Jetzt ist Nacht“ erhält (G W 9, 64).
12 Die Verbindung von „dies“, „jetzt“, „dort“ findet sich in dieser Form in den
Zweiten Analytiken des Aristoteles: „Die Wahrnehmung ist von dem Solchen und
nicht von einem Diesen; aber was man wahrnimmt, ist mit Notwendigkeit ein
Dieses, sowie irgendwo und jetzt“ (87b29). Hier, wie 100al6 („Man nimmt zwar
das Einzelne wahr, aber es ist eine Wahrnehmung von einem Universalen, z. B.
einem Menschen, nicht dem Menschen Kallias“), ist anzunehmen, daß Aristoteles
also zwischen einem referentiell intendierten x auf der einen Seite unterscheidet,
und einem Wahrnehmungsgehalt y, als welches x wahrgenommen wird. - Vgl.
hierzu Lloyd 1979, 145. Hierzu sind die KOINA-Strukturen zu vergleichen, die
sich in der Aisthesis-Kritik des Theaitet finden. Vgl. Graeser 1985, 51-56.
46 A nd reas G raes er
vn.
Nun behauptet Hegel zwar nicht, daß der Advokat der sinnli
chen Gewißheit dies nicht wisse. Doch zeigt die Formulierung
„Das Jetzt ist die N acht“, daß Hegel die Konzeption der sinn
lichen Gewißheit mit einer Auffassung verbindet, die ihrem
eigenen Selbstverständnis nach diese Einsicht eben nicht vor
aussetzen darf. Denn damit wäre die Annahme radikaler U n
mittelbarkeit bereits destruiert. Gleichwohl ist der Satz „Das
Jetzt ist die N acht“ nicht leicht zu verstehen. Das „ist“ hat die
Funktion des Identitätszeichens. Der Satz selbst bringt dem
nach eine Identität von “N acht“ einerseits und dem durch „Das
Jetzt“ gewissermaßen unmittelbar benannten Gegenstand zum
Ausdruck. In der Sicht der sinnlichen Gewißheit würde es sich
bei dem, was hier gesagt wird, vermutlich nicht einmal um eine
urteilshafte Struktur handeln, sondern um den Bericht einer
unmittelbaren Kontaktnahme von der Art, wie sie bei Aristote
les gelegentlich im Begriff der Phasis vorgestellt wird. Diese
Struktur ist nicht irrtumsfähig (siehe Berti 1987, 141-164).
Wenn Hegel hier also eine Art von nicht-propositionaler Be
nennung vor Augen gehabt haben sollte,13 so würde dies gut zur
13 Ähnlich wird die Struktur bei H egel von Claesges 1981, 142 verstanden:
„Die Antwort ist nicht ein Urteil, ein Aussagesatz, sondern hat die Funktion
einer unmittelbaren Benennung. Das Jetzt hat einen Namen: N acht (die herr
schende Dunkelheit). Die Benennung ist so beschaffen, daß N am e und Benann
tes eine unmittelbare Einheit bilden“. - Allerdings ist fraglich, ob mit dieser
Interpretationshypothese viel gewonnen ist. Denn wenn Hegel (was Claesges der
Sache nach vielleicht vor Augen hat) tatsächlich etwas von der Art gemeint hatte,
was zeitgenössische Philosophen unter nicht-propositionaler Wahrnehmung im
Unterschied zu propositionalem Wahmehmen verstehen (vgl. etwa Todd 1975,
325-362; Crawford 1972, 201-210), so wäre schwer einzusehen, was H egel dann
genau mit dem Wandel des Wahrheitswertes des Satzes „Das Jetzt ist die N acht“
gemeint haben könnte. Im Interesse einer Verteidigung der Rede von der
Wahrheit, die „schal geworden ist“ wäre zu sagen, daß H egel den aufgeschriebe
nen Satz selbst als Bericht über ein (nicht-propositionales?) Wahmehmungser-
Zu H e g e ls P o r t r a i t d e r s in n lic h e n G e w is s h e it 47
V III.
eignis verstanden wissen will. Dann freilich bliebe zu fragen, ob H egel nicht
etwa - um die Terminologie M oritz Schlicks zu verwenden - eigentliche
Konstatierungen („hier jetzt so und so“) mit Protokollsätzen verwechselt („M. S.
nahm am so und sovielten April 1934 und zu der und der Zeit an dem und dem Ort
blau wahr“). Zur Unterscheidung selbst siehe Schlick 1934, 79-99, bes. 97.
48 A nd reas G raes er
14 Taylor 1976, 162: „Now H egels démarche in face of his conception is very
similar to W ittgenstein’s: H e challenges sensible certainty to say what it expe
riences. T h e underlying principle is the same, viz. that if it is really knowledge
then one must be able to say what it is“. Vgl. ders. 1975, 195: „Er behandelt das
Vermögen, sich durch Sprechen auszudrücken, wie eine maßgebende Eigenschaft
des Wissens. Und es fällt wohl schwer, ihm hier nicht recht zu geben. Denn
deutlich ist im Wissen, im hier relevanten Sinn, ein sicheres Bewußtsein von dem,
was gewußt wird, enthalten“.
15 Hinzuzufügen wäre hier, daß H egel den Maßstab sprachlicher Artikuliertheit
aus der Perspektive des „für uns“ quasi nur als Instrument der Erläuterung ein
führt. Denn Sätze wie „Sie sagt von dem, was sie weiß, nur dies aus: E s ist11(G W 9,
63) „enthält allein das Seyn der Sache“ (a. a. O.), dürfen natürlich nicht als Berich
te darüber gelesen werden, was die sinnliche Gewißheit de facto artikuliert oder
was jemand, der diese Position einnimmt, de facto äußert. Vielmehr handelt es
sich um Erläuterungen (und Bewertungen) bezüglich des angenommenen Be
wußtseinsstandes dessen, der eine solche Position einnimmt.
16 Ähnliche Überlegungen finden sich auch in der Enzyklopädie (1830) § 20 und
in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I (T W 18, 534-538) im Z u
sammenhang der Charakterisierung des Megarikers Stilpon.
50 A nd reas G raes er
IX.
17 Ähnliche Probleme stellen sich bereits im Zusammenhang der Frage nach dem
Status der Universalien in der Kategorien-Schrift des Aristoteles. Auch hier gibt es
ein Schwanken zwischen der Eigenschafts-Konzeption auf der einen Seite und der
Aggregats-Auffassung auf der anderen Seite. Dieses Schwanken wird m. E. beson
ders gut von Jones (1975, 161 ff.) herausgestellt. - Zur Berührung zwischen der
Auffassung der Kategorien-Schrift und der Sicht der Idee als Vielheit im Platoni
schen Philebos (15a) siehe Frede 1978, 34. - Ich habe die Auffassung übernommen
in: Graeser 1983, 30-56, siehe weiter Oehler 1984, 180 ff.
Zu H e g e ls P o r t r a i t d e r s in n lic h e n G e w is s h e it 51
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Zu Beginn von Hegels Jenaer Zeit hatte die Logik die Aufgabe
einer Einleitung in die Metaphysik als der eigentlichen W is
senschaft zu versehen. Diese frühere, von Schelling als „wissen-
schaftliche[r] Skepticismus“ (Schelling 1859, 269) etikettierte
Logik, die Logik der endlichen Reflexion sollte im Durchgang
durch die endlichen Reflexionsbestimmungen des Ich deren
grundsätzliche Widersprüchlichkeit aufzeigen, den Erkennt
nisanspruch der endlichen Reflexion zurückweisen und so in
die Metaphysik als Wissenschaft des Seienden an sich einleiten.
Hegel selbst setzt diese Logik zu Beginn seiner Jenaer Zeit
weitgehend dem gleich, was Fichte und Schelling als idealisti
sche Geschichte des Selbstbewußtseins betrieben haben.
D ie W a h rn eh m u n g; o d er das D in g , u n d d ie T ä u sch u n g 57
288) als „Eine[m]‘‘ (Hume 1978, 288) und seinen vielen „sinn-
lichefn] Qualitäten“ (Hume 1978, 288), die an die Probleme
erinnern, die das Wahrnehmen mit dem Einssein des Dinges
und seiner Vielheit hat: „Es wird von den urteilsfähigsten Philo
sophen zugestanden, daß die Vorstellung eines Körpers nichts
ist als ein vom Geiste geschaffenes Zusammen von Vorstellun
gen verschiedener, an sich selbständiger sinnlicher Qualitäten,
die ein Objekt zusammensetzen und [dabei] eine konstante Ver
bindung miteinander zeigen. So gewiß nun aber diese Qualitä
ten an sich selbständige Bewußtseinsobjekte sind, so betrachten
wir doch jedesmal das Ganze, das sie bilden, als Eines und
zugleich als etwas, das trotz sehr wesentlicher Veränderungen
dasselbe bleibt. Die zugestandene Zusammengesetztheit steht
aber offensichtlich mit dieser angenommenen Einfachheit, und
[ebenso] die Veränderung mit der Identität im Widerspruch.“
(Hume 1978, 288) Einem Vergleich dieser Passage mit Hegels
Erörterung der Erfahrung des Wahrnehmes im Hinsehen auf
die beiden Texten zugrundeliegenden Intentionen und den G e
brauch bestimmter Begriffe zeigen sich zwar gravierende U n
terschiede. Doch die sprechen in meinen Augen nicht gegen
eine Bezugnahme Hegels auf diesen und noch einen anderen
Abschnitt aus dem humeschen Traktat, wie sie Westphal, K. R.
1996, bes. 154—169 nachzuweisen sucht. Sie dürften jedoch ein
Indiz dafür sein, daß Hegel die Positionen, die er aufnimmt,
idealisiert.
Eine solche Idealiserung bedeutet zum einen die M öglich
keit, philosophische Probleme aus ihrem ursprünglichen Zu
sammenhang zu lösen und sie in einem veränderten systemati
schen Kontext neu zu verhandeln. Sie macht es außerdem m ög
lich, daß eine Weise des Fürwahrhaltens durchaus für mehrere
Standpunkte stehen kann. Sie ist dann deren von historischen
Zufälligkeiten gereinigte theoretische „Essenz“ : So ist es ist gut
möglich, daß Hegel bei seiner Bestimmung des Gegenstands
der Wahrnehmung als Ding von vielen Eigenschaften und bei
der Darlegung ihrer Erfahrung nicht nur an Humes Schwierig
keiten mit dem einen Körper und seinen vielen sinnlichen Qua
litäten gedacht hat, sondern auch an gewisse aristotelische (Fink
1977, 95) und kantische (Westphal, M . E. 1973, 84/85; Fink
1977, 92) Theoreme oder an bestimmte Lehrstücke der plato
nischen Philosophie.
70 J o a c h im H agn er
einem anderen Auch sein. Nun ist jedoch das erste Auch durch
die Eigenschaft „weiß“ selbst bestimmt und damit dem durch
die Eigenschaft „schwarz“ bestimmten Auch entgegengesetzt,
das es ausschließt. Und das nötigt nach Hegel dazu, das Auch
oder die Dingheit überhaupt jetzt als Eins, ausschließende Ein
heit oder Ding zu betrachten.
Ob der Gegenstand der Wahrnehmung also als Auch der
vielen Bestimmtheiten oder als Eins, als Dingheit überhaupt
oder als Ding aufgefaßt werden muß, das scheint davon abzu
hängen, welches der beiden Implikate des unmittelbar-sinn-
lichen vermittelten Einfachen gerade in den Vordergrund ge
rückt wird: Ist es das Sichaufsichselbstbeziehen, das die gegen
einander gleichgültigen Bestimmtheiten auszeichnet, dann muß
der Gegenstand als Auch angesehen werden. Ist es dagegen die
Negation, die als Entgegensetzung die Bestimmtheiten zu be
stimmten Eigenschaften werden läßt, so muß er als Eins be
trachtet werden.
Der Widerspruch aber, der in dem Gegenstand vorhanden
sein soll, gründet offenbar darin, daß dem unmittelbaren, sinn
lichen vermittelten Einfachen das Sichaufsichselbstbeziehen ge
nauso wesentlich zugehört wie die Negation, daß es Bestimmt
heit und Eigenschaft zugleich ist und sich infolgedessen keines
dieser beiden dauerhaft ausblenden läßt. Die sich auf sich selbst
beziehende Bestimmtheit „weiß“ , die gleichgültig neben den
Bestimmtheiten „kubisch“ , „scharf“ oder „schwer“ besteht, ist
zugleich die bestimmte Eigenschaft „weiß“ , da sie den Eigen
schaften „schwarz“, „rot“ oder „gelb“ konträr entgegengesetzt
ist. Und das würde vor dem Hintergrund des eben angedeute
ten kausalen Zusammenhangs zwischen der Hervorhebung ent
weder des Sichaufsichselbstbeziehens oder der Negation und
der Ansicht des Gegenstandes als Auch oder Eins bedeuten, daß
dieser immer abwechselnd bald als Auch der vielen Bestimmt
heiten oder als Vielheit, bald als Eins angesehen werden muß.
D er Widerspruch von Vielheit und Einheit wäre insofern nur
eine Auswirkung desjenigen „Widerspruchs“ , der in dem un-
mittelbar-sinnlichen vermittelten Einfachen angelegt ist.
j6 Jo a c h im H a g n e r
heit des Dinges in das Auch der vielen sich auf sich selbst
beziehenden Bestimmtheiten zu setzen und das Einssein als
Unwahrheit seiner Reflexion in Rechnung zu stellen. Hegel
sucht das in drei Schritten plausibel zu machen. In einem ersten
erinnert er daran, daß die Bestimmtheit der Dinge in der Be
stimmtheit ihrer Eigenschaften gründet, die sich ihrerseits der
Negation der ihnen jeweils entgegengesetzten Eigenschaften
verdankt. Wenn eine bestimmte Eigenschaft ist, dann müssen
immer auch die ihr entgegengesetzten sein. Auf diese Weise
hätte Hegel gezeigt, daß die Bestimmtheit des Dinges das Vor
handensein von Eigenschaften voraussetzt.
Die einander entgegengesetzten Eigenschaften sollten aller
dings verschiedene, einander dadurch ebenfalls entgegenge
setzte Dinge auszeichnen; sie sollten nicht Eigenschaften ein
und desselben Dinges sein können. Und so muß dort, wo der
Aufweis ihrer Vielheit den ersten Schritt auf dem Weg zu dem
Auch als Wahrheit des Gegenstandes darstellen soll, in einem
zweiten nachgewiesen werden, daß sie durchaus an einem Ding
sein können: Hegel betrachtet zu diesem Zweck die Eigen
schaften als je „eigene Eigenschafft des Dinges“ (a. a. O.). Zu
gleich hebt er an dem Ding hervor, daß es als die Wahrheit „an
sich selbst [ist]; und was an ihm ist, ist an ihm als sein eigenes
Wesen, nicht um anderer willen“ (a. a. O.). In diesem Kontext
kann dann die bestimmte Eigenschaft, die als eigene Eigen
schaft des Dinges etwas an ihm ist, nicht „nur um anderer
Dinge willen, und für andere Dinge, sondern [muß in erster
Linie] an ihm selbst“ (a. a. O.) sein. Das bedeutet für die be
stimmte Eigenschaft jedoch, daß die ihr entgegengesetzten an
dem gleichen Ding sein müssen wie sie selbst. Denn andernfalls
wäre sie primär um desjenigen Dinges willen, an dem diese
jeweils sind.
In dem zweiten Schritt wäre somit gezeigt worden, daß die
Bestimmtheit des Dinges das Vorhandensein von vielen be
stimmten Eigenschaften an dem gleichen Ding zur Bedingung
hat. Um nun aufzuweisen, daß es sich bei dieser Vielheit von
bestimmten Eigenschaften strenggenommen nur um eine Viel
heit von sich auf sich selbst beziehenden Bestimmtheiten und
bei dem Ding, an dem sie sein sollen, nur um die Dingheit
überhaupt, um das Medium als Auch handeln kann, greift Hegel
in einem dritten Schritt auf Bestimmungen zurück, die er im
D ie W a h rn eh m u n g; o d er das D in g , u n d d ie T ä u sch u n g 83
Literatur
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_________________________________________________4
Joseph C. Flay
1 Jean Hyppolite and H ans-Georg Gadamer must be excepted here. Both have
made sustained attempts to make sense of this passage, the former in a reference to
Christian doctrine and the latter in reference to Plato and Aristotle. M y own
attempt here to comprehend this passage in reference to Kant and Leibniz does
not disagree with either interpretation, but rather supplements them. See H yppo
lite 1946 and Gadamer 1964. See also H orn 1963 and Goldstein 1988.
92 J o seph C. F lay
I.
II.
3 Cf. Leibniz’ discussion of perception and apperception in the New Essays on the
Understanding, Bk. IV, chaps. 1 4 (Leibniz 1960 a).
H e g e l ’s “ In v erted w o rld ” 97
III.
IV
7 Zimmerman 1982, 369 offers a criticism of this point. However, I think that I
have taken into account all the things he thinks that I have omitted.
H e g e l ’s “ In v erted w o rld ” 10 5
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Forum, 13,342-370.
5
Ludw ig Siep
kapitels (I) und dann für den weiteren Verlauf der Phänome
nologie erörtert werden (II). Dann gehe ich auf die neueren
grundsätzlichen Adaptationen des Begriffes Anerkennung
ein (III).
I.
6 V gl. Marx, W 1971: Hegels Phänomenologie des Geistes. Die Bestimmung ihrer Idee
in „Vorrede“ und „Einleitung“. Frankfurt a.M., vor allem Kap. VI.
7 V gl. dazu die plastische Interpretation bei Gadamer 1973, 225 f.
in L u d w ig S ie p
der Realität des Selbstbewußtseins erst die Stufe, die dem Ende
der Erfahrungsgeschichte des Bewußtseins in den ersten Kapi
teln adäquat ist: daß nicht nur das Subjekt für sich, sondern die
von seinen Wünschen und Vorstellungen unabhängige, blei
bende, „objektive“ Gegenständlichkeit den Charakter von Sub
jektivität oder Selbstbezogenheit hat.
Die daran anschließende Betrachtung des Begriffes des Selbst
bewußtseins (G W 9, 108 f.) geschieht aber wiederum aus der
Perspektive des Philosophen (G W 9, 109 „für uns“) und zeigt
in dem Erreichten bereits die Struktur des Geistes, eines kollek
tiven Selbstbewußtseins, in dem individuelle Subjekte („ver
schiedene für sich seiende Selbsbewußtsein“) sich „in vollkom
mener Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes“ entwik-
keln können (a. a. O.). Diese Einheit von „Ich, das Wir, und
Wir, das Ich ist“ erweist sich später als die vollendete Anerken
nung im rechtlichen, sittlichen, religiösen und philosophischen
Leben eines Volkes.
In der an diese Einleitung des IV Kapitels anschließenden
Prüfung von „Gestalten“ des Selbstbewußtseins - d. h. Positio
nen, die die These von der eigentlichen Realität des Selbstbe
wußtseins vertreten - geht Hegel aber mehrere Schritte zurück.
Er beginnt mit einer neuen begrifflichen Exposition der inter
subjektiven Struktur des Selbstbewußtseins, die er ausdrücklich
„Bewegung des Annerkennens“ (a. a. O.) nennt. Auch dieser
Struktur entsprechen die folgenden Erfahrungen (die G W 9,
110 u. mit dem Satz beginnen „Das Selbstbewußtsein ist zu
nächst einfaches Fürsichsein“) nur erst teilweise, vor allem nur
„asymmetrisch“ .
Auf die komplizierte Exposition dieser Struktur will ich zu
nächst kurz eingehen. Vorauszusetzen ist dabei, daß nach dem
HI. Kapitel („Kraft und Verstand“), das sich mit der Naturwis
senschaft und Naturphilosophie des 16. bis 18.Jahrhunderts
befaßt hatte, sowohl die (eigentliche) Realität wie das Selbst
bewußtsein grundsätzlich durch eine Struktur gekennzeichnet
sind, die Hegel „Unendlichkeit“ nennt. Sie besteht darin, daß
etwas durch sich selbst in sein Gegenteil übergeht oder sein
Gegenteil „ist“ . Wie Hegel das an den Begriffen und Prozessen
der Natur, verstanden als ein durch Gesetze geordnetes Kräfte
spiel, dargelegt hat, kann hier nicht erörtert werden. Wichtig
ist, daß sowohl Selbstbewußtsein überhaupt wie individuelles
D ie B ew egun g d es A n erken n en s 113
9 H egel behandelt Liebe in den Jenaer Schriften ja als ein M oment der Familie
und bezieht sich damit deudich auf Aristoteles’ Theorie der ersten natürlichen
Gemeinschaft im ersten Buch der Politik.
10 V gl. Siep 1974 und Duso, G . 1987: L a critica Hegeliana delgiusnaturalismo nel
periodo di Jena. In: G. D uso (Hg.), II contratto sociale nella filosofía política moderna.
Bologna, 311-362.
116 L u d w ig S ie p
II.
11 Vgl. Pöggeler, O. 1956: Hegels Kritik der Romantik, Bonn (Diss.) sowie Siep, L.
1995: Individuality in HegeTs Phenomenology ofSpirit. In: K . Ameriks u. D. Sturma
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York, 140 ff.
12 2 L u d w ig S ie p
III.
12 Vgl. Siep, L. 1992: Einheit und Methode von Fichtes „Grundlage des Naturrechts“.
In: ders., Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus. Frankfurt a.M., 47 ff.
D ie B ew egun g d es A n erkennens 12 3
15 Für eine ausführliche Kritik an Fukuyama vgl. Pöggeler, O. 1995: Ein Ende der
Geschichte? Von Hegel zu Fukuyma. Vorträge der Nordrhein-Westfälischen Akade
mie der Wissenschaften. G 332, Opladen.
16 Vgl. dazu auch die alternative, auf eine nicht-rechtsförmige M oral zielende
Untersuchung von H egels Anerkennungstheorie bei Wildt, A. 1982: Autonomie
und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption. Stuttgart.
D ie B ew egun g d es A n erkennens 12 7
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Lichte seiner Fichte-Rezeption. Stuttgart.
6
Otto Pöggeler
Selbstbewußtsein
als Leitfaden der
Phänomenologie des Geistes
vom Sein zur Relation führt und dann weiter zu den anderen
spekulativen Grundbestimmungen. Die Gestalten des Bewußt
seins entsprechen damit den Momenten der Wissenschaft der
Logik, die Phänomenologie als Lehre von den Erscheinungen
des Geistes ist bezogen auf die Logik als die eigentliche W is
senschaft des Geistes.
Hegel hat am Ende seiner damaligen Realphilosophie die
Grundmomente und damit die Hauptabschnitte der Logik der
spekulativen Philosophie angegeben: Sein, Verhältnis, Leben
und Erkennen; wissendes Wissen, Geist, Wissen des Geistes
von sich. Hegel faßt die spekulative Philosophie nun einheit
lich als Logik, doch in der genannten Gliederung klingt noch
die alte Zweiteilung in Logik und Metaphysik nach. Zuerst
werden die logischen Grundbegriffe und Denkformen angege
ben; zu den Kategorien treten differenzierende Denkformen
wie die Teleologie als Grundzug des Lebens und Erkennens.
Dann wird in einem metaphysischen Teil gefragt, wie das Er
kennen, das als wissendes Wissen die Realität weiß, überhaupt
existiert. Dieses wissende Wissen ist nur möglich, wenn die
einzelnen in ihrem Volk leben, das Volk oder der sittliche Geist
ein Wissen dieses Geistes von sich in Religion und W issen
schaft gewinnt und damit Gott, Welt und Seele zusammen
schließt. Die Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins, die
dann den Titel einer Phänomenologie des Geistes bekam, folgt
diesem Weg der Logik, indem sie das natürliche und ungebil
dete Bewußtsein seine Erfahrungen mit dem Gebrauch der
logischen Momente machen läßt. D a Hegel die Phänomenologie
des Geistes in das Systemganze einfügt, hat diese Phänomenolo
gie zwei Textsorten: zuerst gibt der Verfasser, der schon das
Ganze des Systems im Blick hat, an, um welche logischen M o
mente es geht. Dann zeigt er, wie das natürliche Bewußtsein mit
dem jeweiligen logischen M oment seine Erfahrungen macht.
So wird bei der Darstellung der ersten Gestalt angegeben,
daß es dem sinnlichen Bewußtsein um das reine Sein geht.
Dann wird an Exempeln (dem Gebrauch von deiktischen Wor
ten wie „dieses“) gezeigt, wie das ungebildete Bewußtsein seine
Erfahrung mit dieser logischen Bestimmung macht. Die Erfah
rung sagt, daß wir von dieser logischen Bestimmung zu anderen
Bestimmungen geführt werden, nämlich zuerst zu der Relation
zwischen dem einen Ding und den vielen Eigenschaften, dem
P h ä n o m e n o l o g ie d e s S elbstbew u s s t s e in s 13 5
Them a der Wahrnehmung. In der Tat ist es so, daß die Eigen
schaften (etwa die Härte des Tisches) nicht losgelöst von ihrem
Träger durch den Raum fliegen - das wäre eine Welt, in der wir
nicht leben könnten. Die dritte Gestalt des Verstandes muß
schließlich zu dem Resultat kommen, daß das eine Ding mit
seinen Eigenschaften als Relation nur möglich ist, wenn die
Substanz, die die Eigenschaften trägt, Kraft ist, die aus ihrer
Einheit heraus geht zur Vielheit der Eigenschaften und diese
Eigenschaften dann auch immer wieder an ihre Einheit zurück
bindet. So erst kommt die „Idee“ des Verhältnisses zur Sprache,
welche die Trennung von Substanz und Akzidenzien erst m ög
lich macht. Die zwei logischen Momente „Sein“ und „Verhält
nis“ spiegeln sich in drei Gestalten des Bewußtseins, weil die
dritte Gestalt den zusammenfassenden Knoten für die entfalte
ten logischen Bestimmungen zuzieht.
Damit ist die Linie der Gestalten des Bewußtseins, das sich
dem Gegenstand gegenüberstellt, abgeschlossen. Die abschlie
ßende Erfahrung sagt, daß der Gegenstand dieselbe Struktur
zeigt wie das Bewußtsein: jene Kraft, die von der Einheit oder
Identität zur Vielheit oder Differenz führt und dann wieder
zurück zur Einheit und Identität. Damit kann eine neue Ent-
wicklungslinie beginnen: ist nicht das, was überhaupt ist, in
seiner erfüllten Form Leben, das sich aus seiner Entelechie
heraus zu einem gegliederten Ganzen bildet und dieses geglie
derte Ganze immer wieder an die einheitliche Entelechie zu
rückbindet? Dieses Leben kann sich selbst erkennen. Das ge
schieht im Menschen, der um die Welt und um sich selbst weiß.
Wenn die Tiere wüßten, auf welche Weise sie jeweils Pferde
oder Elefanten wären, dann wären sie vernünftige Wesen wie
wir; doch nur die Menschen bauen so etwas wie eine Biologie
und sogar eine Veterinärmedizin auf. Die Phänomenologie muß
zur Erfahrung bringen und so mit dem natürlichen Bewußtsein
einüben, daß die Strukturmomente des Lebens und des Erken-
nens das, was ist, bestimmen und damit eine „Wahrheit der
Gewißheit seiner selbst“ gewonnen werden kann. Erst im spä
teren Inhaltsverzeichnis hat Hegel diesen Erfahrungsprozeß
unter den Titel „Selbstbewußtsein“ gestellt. Es handelt sich um
das sich erkennende oder selbstbewußte Leben oder das leben
dige Selbstbewußtsein. So hat die Erfahrung des Selbstbewußt
seins zwei Teile: es geht zuerst um die Unabhängigkeit des
13 6 O tto P ö g geler
Die Dualität des Bewußtseins von etwas erweist sich nach Hegel
als Leben, das im Anderen und mit dem Anderen sich selbst findet
und Selbstbewußtsein werden soll. In diesem Selbstbewußtsein
wird das, was an sich ist, erst für sich, und so ist dieses Selbstbe
wußtsein ein teleologischer Prozeß. Von dieser Voraussetzung
14 2 O tto P ö g geler
2 V gl. hierzu Marx, W. 1981: Hegels Phänomenologie des Geistes. Die Bestimmung
ihrer Idee in „Vorrede“ und „Einleitung“. 2. erw. Aufl. Frankfurt a.M., 45 ff.
3 Hierzu sei der Verweis erlaubtauf meinen Aufsatz: Hegels „Phänomenologie“ und
die idealistische Geschichte des Selbstbewußtseins (zuerst: serbokroatisch in: Godisnjak
za povijest filozofije 6, 1988, 32-48). N eue Fassung in: Hegel-Studien 28 (1993),
103-126. D ort wird auch deutlich, daß die idealistische Geschichte des Selbstbe
wußtseins einen empirischen Vorläufer hat in Condillacs Schilderung, wie an
einer menschlichen Statue ein Vermögen nach dem anderen erwacht (vgl. Condil
lac, E. B. de 1754. Traité des sensations. 2 Bde. Paris). H egel erwähnt diese Lehre
Condillacs in der Enzyklopädie, vgl. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften
im Grundrisse (1830), G W 20, § 442 Anm.
14 8 K la u s D ü s in g
6 Das Titelproblem ist gelöst in Nicolin, F. 1967: Zum Titelproblem der Phänome
nologie des Geistes. In: Hegel-Studien 4, 113-123.
15 0 K la u s D ü s in g
sich das Ich oder das Selbstbewußtsein nicht nur ein Gegen
stand neben anderen ist, sondern einziger Gegenstand mit Aus
schluß denkbarer anderer; es begreift sich wesentlich als alle
Wahrheit in positiver Selbstbeziehung, und darin ist sein selbst
bezügliches Fürwahrhalten allgemein und vernünftig; es er
kennt in allem, was ist, wesentlich Selbstbewußtsein; dies gilt,
wie sich dann erweist, auch für alles naturhaft Seiende als defizi-
entes Selbstbewußtsein. So ist das reine Ich oder die Apperzep
tion Kategorie, d. h. allgemeine Grundbestimmung des Seien
den überhaupt, von dem sich auf der Stufe der vernünftigen
Selbstbeziehung zeigt, daß dies Seiende denkendes Wesen ist,
oder die ontologische Bedeutung der Kategorie ist in sich ego
logisch. In der Realphilosophie von 1805/06 hatte Hegel er
klärt: „Logos [ist] Vernunft, Wesen des Dings und Rede, Sache
und Sage, Kategorie.“ (G W 8, 190)9 Hier wird die griechische,
genauer Aristotelische Herkunft von Kategorie hervorgehoben
als Einheit von gedanklicher Aussage und Bedeutung des Seien
den. In der Phänomenologie wird dieser Logos subjektivitäts-
theoretisch gefaßt; er ist die Vernunft, die sich und alles als
Selbstbewußtsein weiß. Diese Position der Vernunft reicht so
mit in Varianten von den Griechen bis zu Kant und Fichte; und
sie ist grundsätzlich auch Hegels eigene Position.
In der Darstellung der Phänomenologie haften dieser Position
jedoch noch Vorläufigkeiten an, die Hegel u. a. im Rekurs auf
seine Jenaer Kant- und Fichte-Kritik benennt und die generell
darin bestehen, daß dies Vernünftige nur ein begrenztes Für
wahrhalten eines endlichen Selbstbewußtseins ist. Zum einen
erklärt Hegel, daß die Position der Vernunft als Idealismus
unmittelbar auftritt unter Vergessen des Weges, der zu ihr führt.
Auch für die Gestalt des vernünftigen Fürwahrhaltens gilt, daß
das Bewußtsein auf jeder Stufe neu und ohne Berücksichtigung
der vorherigen Stufen beginnt. Darin liegt implizit der Vorwurf
gegen die Kantische und insbesondere gegen die Fichtesche
Philosophie, daß sie jeweils mit ihrem Prinzip anfangen, dessen
Gültigkeit nur versichern können und keine systematische Ein
leitung zur Rechtfertigung dieses Prinzips voranschicken, wie
Hegel dem System und der spekulativ-logischen Erkenntnis mit
10 Vgl. Reich, K. 1986: Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel. 3. Aufl. Ham
burg. Zur neueren Literatur über die Systematik von Kants Urteilstafel vgl. die
detaillierte Übersicht bei Brandt, R. 1991: Die Urteilstafel. Kritik der reinen Ver
nunft A 67-76; B 92-101. Hamburg, 9^43. - Daß die Urteilstafel und Kants Erläu
terungen dazu in der Kritik der reinen Vernunft selbst schon die Anforderungen an
systematische Entwicklung erfüllten, dürfte m. E. wohl zweifelhaft bleiben.
154 K la u s D ü s in g
11 Vgl. Rosenkranz, K . 1844: Hegels Leben. Berlin, 188; dort findet sich das
H egel-Zitat (vermudich aus der zweiten Hälfte der Jenaer Zeit): „Fichtes W issen
schaftslehre sowie Schellings Transzendentalidealismus sind beides nichts anders
als Versuche, die Logik oder spekulative Philosophie rein für sich darzustellen.“
12 In der Jenaer Realphilosophie von 1805/06 bemerkt H egel einmal, daß die
„Copula“ in einem solchen spekulativen Schluß, d. h. das Verbindende, logisch
gesehen: der spekulative Mittelbegriff, der die Extreme zugleich in sich enthält,
das Ich ist (vgl. G W 8, 197 Anm.). Zur weiteren Ausführung der subjektivitäts
theoretischen Bedeutung des spekulativen Schlusses in der Logik sei der Verweis
gestattet auf die Darlegung des Verf.s 1995. Das Problem der Subjektivität in Hegels
Logik. Hegel-Studien. Beiheft 15. 3. Aufl. Bonn, 203 f., vgl. 266 ff.
D e r B e g r i f f d e r V e r n u n f t in H e g e ls Phänomenologie 15 5
Mannigfaltige oder den Anstoß als ein ihm Äußeres von ihm
abzutrennen.
Die Vernunft ist also, wie sich gezeigt hat, eine Weise des
Fürwahrhaltens des Selbstbewußtseins, nach der das Ich als
Prinzip des Idealismus sich gewiß ist, Kategorie, d. h. Einheit
von Denken und Seiendem zu sein; aber es bleibt begrenzt und
einseitig, da es unmittelbar auftritt und seine Gewißheit nur
versichert, da es jene Einheit als eine einfache und unmittelbare
versteht, die nicht entfaltet werden kann in innere Differenzie
rungen, und da es damit selbst leer und abstrakt ist und allererst
erfüllt werden muß. Zunächst wird ihm die vernünftige, kon
krete Einheit als in der Natur gegebene und vorfmdliche ein
leuchtend; dabei verhält sich das vernünftige Fürwahrhalten als
Naturerkennen. Aber die selbstbezügliche Vernünftigkeit kann
sich zur Vernunft als Inhalt nicht passiv verhalten; sie muß ein
spontanes, tätiges Verhältnis zum Vernunftinhalt des Vorge
stellten entwickeln. Dies geschieht durch die praktische Ver
nunft und die verschiedenen Weisen ihrer Realisierung. Es ist
eine und dieselbe Vernunft oder eine und dieselbe Gattung des
Fürwahrhaltens des vernünftigen Selbstbewußtseins, das sich
gewiß ist, Einheit von Denken und Seiendem oder alle Realität
zu sein, und das diese Gewißheit einerseits theoretisch und
anderseits praktisch zu realisieren sucht. Der Übergang zu
praktischen Realisierungen der Vernunft beruht nach Hegels
Darlegungen auf Defizienzen des theoretischen vernünftigen
Erkennens.
Auch in der Explikation der praktischen Realisierung der
Vernunft, speziell ihrer höchsten Stufen als „gesetzgebende“
und „gesetzprüfende Vernunft“ bezieht sich Hegel kritisch auf
Kant als den entscheidenden Repräsentanten der Aufklärung,
die bis in seine eigene Zeit fortwirkt, und zwar auf Kants ethi
sche Lehre von der praktischen Vernunft. Die Zurückweisung
dieser Kantischen Lehre durch Hegel beruht offensichtlich auf
einer anderen Vernunftkonzeption. Vor allem diese und weniger
Hegels grundlegende Mißverständnisse von Kants ethischen
Argumentationen13 seien hier hervorgehoben.
13 V gl. dazu z. B. Görland, I. 1966: Die Kantkritik des jungen Hegel. Frankfurt
a.M. 160 ff. Eine detaillierte immanente Interpretation der genannten beiden
Abschnitte der Phänomenologie liefert Scheier, C.-A. 1986: Analytischer Kommentar
15 6 K la u s D ü s in g
14 Vgl. hierzu Rameil, U . 1988: Der systematische Auflau der Geisteslehre in Hegels
Nürnberger Propädeutik. In: Hegel-Studien 23, 19-49; ferner ders. 1990: Die Phä
nomenologie des Geistes in Hegels Nürnberger Propädeutik. In: Hegels Theorie des subjek
tiven Geistes in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“.
H g. von L. Eley. Stuttgart-Bad Cannstatt, 84-130.
D e r B e g r i f f d e r V e r n u n f t in H e g e ls Phänomenologie 15 9
15 V gl. auch H egels Stichworte und Gliederungen zum subjektiven Geist in der
Berliner Zeit: Ein Hegelsches Fragment zur Philosophie des Geistes. Eingeleitet und
hg. von F. Nicolin. In: Hegel-Studien 1 (1961), 9-48 sowie Hegels Vorlesungsnotizen
zum subjektiven Geist. Eingeleitet und hg. von F. Nicolin und H . Schneider. In:
Hegel-Studien 10(1975), 11-77.
16 V gl. z. B. in der zweiten Auflage der Wissenschaft der Logik (1831), s. G W 21,
32. Vgl. zu diesem Problem Fulda, H . F. 1975, 22 ff., 83 ff.
i6 o K la u s D ü s in g
Objekt über greifende“ (GW 20, § 438 (nur in der dritten Auf
lage)) Subjektivität, die sich begreift; darin besteht für das Ich
alle Wahrheit.
Diese Position der Vernunft wird nur im Überblick charakte
risiert; es werden keine speziellen, konkreten Gestalten ver
nünftigen Selbstbewußtseins geschildert wie in der Phänomeno
logie von 1807; Vernunft bedeutet auch keine vorläufige Weise
des Fürwahrhaltens. M it der „Vernunft“ wird vielmehr der in
Ich und Objekt entzweite Geist nur im allgemeinen zu einer
höheren, und zwar vermittelten Einheit entwickelt. Die Ver
nunft als diese Einheit bildet die generelle Grundlage der philo
sophischen „Psychologie“ und ihrer zusammenhängenden Ex
plikation der Fähigkeiten und Leistungen des Geistes, der in
sich bleibt und zunehmend vernünftige Selbsterkenntnis in sich
hervorbringt. Diese wird erreicht im vernünftigen Denken
des subjektiven Geistes, das spekulativ-syllogistisch von sich
weiß.18 - Hegel verwendet hierbei das durch Kant in der D e
duktion der Kategorien allererst fundierte und durch Reinhold
als allgemeines, ursprüngliches Prinzip gefaßte Modell der
Selbstbeziehung des Selbstbewußtseins als Subjekt-Objekt-
Beziehung, das für Hegel zum Modell der Selbstbeziehung als
Identität von Subjekt und Objekt wird, die den Unterschied in
sich enthält. Dies in der Geistesphilosophie verwendete Modell
beruht auf der in der Logik dargelegten spekulativen Einheit
von Subjektivität und Objektivität des reinen Denkens seiner
selbst. Diese Einheit wird dort aber erst stufenweise aus ganz
anderen Verhältnisbestimmungen entwickelt; sie ist für Hegel
Resultat immer komplexer werdender reiner Beziehungsweisen
und ihrer Relata; sie wird also keineswegs einfach angesetzt
oder gar vorausgesetzt, sondern durch solche ideale Genesis
allererst konstituiert und damit zugleich begründet. Sie ist es,
die die kategoriale Grundbestimmung für jene selbstbezügliche
Vernunftidentität des subjektiven Geistes darstellt.
18 Zur Interpretation dieses Denkens des subjektiven Geistes sei der Verweis auf
die Darlegung des Verfassers erlaubt: Hegels Begriff der Subjektivität in der Logik und
in der Philosophie des subjektiven Geistes. In: Hegels philosophische Psychologie. H g. von
D. Henrich. Hegel-Studien. Beiheft 19. Bonn 1979, 201-214.
IÖ 2 K la u s D ü s in g
VI. Schluß
Literatur
Brandt, R. 1991: Die Urteilstafel. Kritik der reinen Vernunft A 67-76; B 92-101.
Hamburg.
Condillac, E. B. de 1754: Traité des sensations. 2 Bände. Paris.
Diising, Edith 1986: Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische,
phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz,
Fichte und Hegel. Köln.
Düsing, Klaus 1979: H egels Begriff der Subjektivität in der Logik und in der
Philosophie des subjektiven Geistes. In: H egels philosophische Psychologie.
H g. von D. Henrich. Hegel-Studien. Beiheft 19, 201-214.
Düsing, Klaus 31995: Das Problem der Subjektivität in H egels Logik. Hegel-
Studien. Beiheft 15.
Düsing, Klaus 1993: H egels „Phänomenologie“ und die idealistische Geschichte
des Selbstbewußtseins. In: Hegel-Studien 28, 103-126.
Fulda, Hans Friedrich 1975: Das Problem einer Einleitung in H egels „Wissen
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Görland, Ingtraud 1966: Die Kantkritik des jungen Hegel. Frankfurt a.M.
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Hyppolite, Jean 1946: Genèse et structure de la phénoménologie de l’esprit de
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Kaehler, K . E., Marx, Werner 1992: Die Vernunft in H egels Phänomenologie des
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Labarrière, P. J . 1968: Structures et mouvement dialectique dans la phénoménolo
gie de l’esprit de Hegel. Paris.
16 4 K la u s D ü s in g
T he Path o f Reason
in H egel’s
Phenomenology o f Spirit
I. M ovements
2 In fact, one has been written; see Kaehler, K. E. and Marx, W 1992: Die Vernunft
in Hegels Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M.
T h e P a th o f R e a s o n in H e g e l ’s Phenomenology of Spirit 16 7
II. Levels
consciousness. For brevity’s sake, I will call the first level “phe
nomenological,” the second “logical” or “speculative.”
The relation of the phenomenological to the logical is com
plex. T he Phenomenology records the experience of conscious
ness on its way to speculative philosophy. Each shape of con
sciousness undergoes a discreet form of experience; yet the
progress from one form to another is beyond consciousness.
We, the speculative observers, go behind the back of conscious
ness and contribute the link between stages. We see what the
experience of consciousness means implicitly; as such, we pro
vide the starting point for the new stage of consciousness.
This distinction between levels is important for the argumen
tative and rhetorical structure of the book. In the early chapters,
there is a clear distinction between two sorts of text; for exam
ple, “Sense-Certainty” begins with a brief excursus on the spec
ulative level, in which the departure point for consciousness is
identified as the immediate (das Unmittelbare), the singular (das
Einzelne), or as being (Sein). Consciousness then proceeds gar
ners its experience on the phenomenological level, and the
chapter ends with the result of this dialectic, the universal (das
Allgemeine), restated on the speculative level.
This tripartite structure remains clear in “Perception” ; some
of the notorious difficulties in “Force and the Understanding”
can be attributed to the lack of a clear distinction between
argumentative levels. With “ Self-Consciousness,” another pat
tern begins: Each of the chapters (“Reason” included) begins
with a long introduction on the speculative level which is set off
from the text proper. In “Reason,” each of the introductions to
the major sections is also written from the speculative perspec
tive. It is only when we arrive at the subsections that we encoun
ter the experience of consciousness; and there, too, we have
both logical and phenomenological text.
Logic does not only frame the phenomenological discussion,
it also underlies it. Each shape of consciousness corresponds to a
logical determination (Miller 491; G W 9, 432); the experience
of consciousness is a training in speculative philosophy. T here
fore, to understand reason, we must understand the logical
determination that underlies the chapter.
The logical determination can be described in three ways.
First, it can be characterized as a wissendes Wissen, a “knowing
17 0 M arco s B is t ic a s - C o co ves
4 See, for instance, Fulda, H . F. 1966: Zur Logik der Phänomenologie von 1807. In
Hegel-Studien. Beiheft 3, 75-101; Pöggeler, O. 1993: Hegels Phänomenologie des
Selbstbewußtseins. In: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Second edition,
Freiburg, München, 231-98, esp. 268 ff.; and Trede, J. H . 1975: Phänomenologie
und Logik. In: Hegel-Studien 10, 173-209.
5 Pöggeler, O. 1988 -.Ansatz und Aufiau der Phänomenologie des Geistes. In: Journal
of the Faculty o f Letters. Vol. 13, Tokyo, 11-36, esp. 21 ff.
T h e P a th o f R e a s o n in H e g e l ’s Phenomenology of Spirit 171
crete things. Active reason tries to realize the unity of being and
essence; that is, it tries to force its idea of the good on the world.
Finally, individuality is the category: T he categorical imperative
is nothing but the assertion that the law or essence can be
derived or tested by the concrete individual consciousness.
Hegel expresses the logical relations inherent in reason in a
third way: Reason is nothing but the progressive mediation of
universality (Allgemeinheit) on the one hand and individuality or
singularity (Einzelnheit) on the other. Hegel often makes re
course to this language, further identifying the universal with
essence and mediation, the singular with actuality (Wirklichkeit)
and immediacy. Thus, for example, the task of classification in
observing reason is finding the universal in individual things;
the pleasure and necessity is about the inevitable universal con
sequences of singular acts of pleasure; and the making of law is
about the singular individual creating universally valid law.
A final key to understanding the phenomenological develop
ment of consciousness rests in H egel’s use of example. Hegel
explicates the experience of consciousness by means of exam
ples taken from philosophy, history, and literature. Thus, the
“Freedom of Self-Consciousness” is illustrated through the ex
amples of stoicism, skepticism, and the Christian religion; Sitt
lichkeit is presented through the example of Greek drama, in
particular through Sophocles’ Antigone·, and “Conscience” is
exemplified in Jacobi’s Woldemar.
Since the standpoint of reason is that of idealism, it is no
surprise that Hegel’s examples in the chapter are often drawn
from Kant, Fichte, and Schelling. Thus, the final moment of the
“Observation of N ature” is an implicit critique of Schelling’s
philosophy of nature. Similarly, Hegel clearly has Kant, and, to a
lesser extent, Fichte, in mind in his discussion of the making and
testing of law; less obviously, but equally the case, is the criticism
o f Kant’s practical philosophy in “Virtue and the Way of the
World.” Finally, idealism provides the chapter a broader unity.
Ju st as Kant’s philosophy moves from the theoretical to the
practical, so the movement and the examples in reason begin
with the theoretical (in “Observing Reason”) and move to the
practical (in “Active Reason” and “Individuality”).
N o t all o f H egel’s examples are taken from idealism, however;
rather, he surveys the rationalism of his day. Thus, the observa
17 2 M arco s B is t ic a s - C o co ves
tion of nature discusses not only Kant and Schelling, but also
Aristotle, Linnaeus, Benjamin Franklin, J. J. Winterls, F. A. C.
Gren, G. T. Treviranus, and H. Steffans, among others. His
consideration of physiognomy takes Lavater as its chief exam
ple, while Gall’s work is the departure point for his discussion of
phrenology. As we shall see in the next section, the examples of
active reason include Goethe’s Faust I, Rousseau’s Fmile, Schil
ler’s The Robbers, and Cervantes’s Don Quixote.
A question remains: Does the argument dictate the example,
or the example the argument? Perhaps the question is mis
placed; history, philosophy, and literature are not contingent
occurrences for Hegel, but part of a world-historical develop
ment; perfectly appropriate examples of the experience of con
sciousness will present themselves, and in fact must necessarily
present themselves, for they are products of a consciousness
that has a necessary development and expression. Be that as it
may, one cannot help but wonder if, for example, “Pleasure”
could have an example other than Faust: For, if the experience
of consciousness is a training in logic, and if that experience is
valid for all consciousnesses, then thousands of examples of
pleasure must present themselves every day.
The “Introduction”
6 Given that I would like to discuss the text closely, and the fact that the various
editions and translations of the text do not share pagination, I have thought it best
to refer to the subsections o f “Active Reason” (the introduction, “Pleasure,” “The
Law of the H eart”, and “Virtue”) by paragraph number. T he numbering of each
subsection of the text will begin anew with “paragraph 1.”
17 4 M arco s B is t ic a s - C o co ves
singularity; and this identity is in part the basis for the overcom
ing of active reason.
7 Rousseau, J.-J. 1979: Emile: or.; On Education. Translated by Allan Bloom, New
York, 234 (hereafter, Emile); cf. Œuvres completes IV. Emile. Education-morale-bota-
nique. Edited by Bernard Gagnebin and Marcel Raymond, Paris 1969, 521 (here
after, Œuvres).
T h e P a th o f R e a s o n in H e g e l ’s Phenomenology of Spirit 17 9
8 Paine, T. 1925: The Life and Works of Thomas Paine. Volume 6, edited by
W illiam M. Van der Weyde, N ew Rochelle 72 ff.
9 H obbes, T. 1968: Leviathan. N ew York, 185.
10 Schiller, F.: Works. Volume 3, translated by various hands, N ew York, 276; cf.
Schillers Werke. Band IE , edited by H erbert Stubenbach, Weimar 1953, 134.
18 0 M arco s B is t ic a s - C o co ves
IV. Conclusion
11 Kant, I. 1985: Critique of Practical Reason, translated by Lewis White Beck, New
York, 87; cf. Kants Werke, Volume 5, edited by the Königlich Preußische Akademie
der Wissenschaften, Berlin 1903, 84.
T h e P a th o f R e a s o n in H e g e l’s Phenomenology of Spirit 18 3
Bibliography
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Studien. Beiheft 3, 75-101.
H egel, G eorg Wilhelm Friedrich 1977: Phenomenology of Spirit. Translated by
A. V. Miller. Oxford.
H obbes, Thom as 1968: Leviathan. New York.
Kaehler, Erich Klaus and Werner Marx 1992: Die Vernunft in H egels Phänome
nologie des Geistes. Frankfurt a.M.
12 M y thanks to Dietmar Köhler, Mary Rawlinson, and Ellen Feder for their
suggestions while I was preparing this manuscript.
18 4 M arco s B is t ic a s - C o co ves
1 Das „ebensosehr“ im zweiten Satz zeigt, daß es im ersten Satzteil heißen müßte,
„das Wahre ist nicht allein“ . Der Hintergrund dieser These wird plausibel, wenn
Schellings Abkehr von Fichtes ,Subjektivierung‘ und die gleichzeitige Wendung
zu Spinozas Zentralbegriff „Substanz“ mitgedacht wird. Schellings Wende soll
hier gleichsam auf höherer Ebene wieder rückgängig gemacht werden. Vgl.
Metzke, E . 31970: Die Vorreden Hegels. Heidelberg, 160.
2 Fichte, I. H . 21841: Beiträge zur Charakteristik der neueren Philosophie oder kriti
sche Geschichte derselben von Des Cartes und Locke bis au f Hegel. Sulzbach. Haym, R.
1857: Hegel und seine Zeit. Berlin. Zur Rezeptionsgeschichte insgesamt vgl. Pög-
geler, O. 21993: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg, München,
170 ff.
G e s t a l t e n n ic h t d e s B e w u s s t s e in s , s o n d e r n e in e r W elt
3 Lukäcs, G . 1948: Der junge Hegel. Über die Beziehungvon Ökonomie und Dialektik.
Zürich. N A 2 Bde Frankfurt a.M. 1973 (nach dieser Ausgabe wird zitiert), 718.
4 Schmitz, H . 1992: Hegels Logik. Bonn, Berlin. 301. Zur Kontroverse um diese
Frage, vgl. Fulda, H . 1965: Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der
Logik. Frankfurt a.M.; Düsing, K. 1976: Das Problem der Subjektivität in Hegels
Logik. Bonn.
19 0 E l is a b e t h W e is s e r - L o h m a n n
5 So ordnet Lukács etwa dem Geist-Kapitel die Sphäre des objektiven Geistes zu,
vgl. Lukäcs 1948, 728.
19 2 E l is a b e t h W e is s e r - L o h m a n n
6 Die Rolle der „Anerkennung“ für diesen Prozeß hat L. Siep herausgearbeitet.
Vgl. Siep, L . 1979: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Freiburg;
sowie den Beitrag von L. Siep in diesem Band.
G e s t a l t e n n ic h t d e s B e w u s s t s e in s , s o n d e r n e in e r W elt : 93
bringt sich das Selbst zur Geltung. In Gestalt der Person hat es
Wirklichkeit gewonnen, zu dem Preis allerdings, daß die Ein
heit von Selbst und Substanz nun aufgelöst ist: „die Welt hat
hier die Bestimmung, ein Äußerliches, das Negative des Selbst
bewußtseins, zu sein“ (GW 9, 2 64).7 Das Individuum kann sich
in den ,neuen1 Institutionen nicht wiederfinden - das „gemein
same“ Werk bzw. das „Tun aller“ ist als Identifikationsbasis
zerstört. Die dem Bewußtsein gegenüberstehende Welt er
scheint als fremde Wirklichkeit; sie ist in ihrem (negativen)
Dasein aber auch als Werk des Bewußtseins zu begreifen. „Sie
erhält ihr Dasein durch die eigne Entäußerung und Entwesung
des Selbstbewußtseins“ (GW 9, 264). „Für sich“ sind die vom
Bewußtsein isolierten, losgebundenen Elemente „das reine Ver
wüsten, und die Auflösung ihrer selbst“. Dies negative Wesen
erweist sich aber, so Hegel, als die Entfremdung der Persön
lichkeit selbst, in dieser Weise schwingt sie sich zum „Spiel“ der
„tobenden Elemente“ auf. Als Geist weist sich diese Gestalt für
Hegel aus, indem sie - auch in ihrer Entfremdung - sich als eine
selbstbewußte Einheit von Selbst und Wesen erweist. In eine
gedoppelte Welt zerfällt die einst „Eine Welt“ des Geistes: „die
erste ist die Welt der Wirklichkeit oder seiner Entfremdung
selbst; die andre aber die, welche er, über die erste sich erhe
bend, im Äther des reinen Bewußtseins sich erbaut“ (G W 9,
266). Die beiden einander entgegengesetzten Welten - als
Diesseits die Welt der Bildung und als Jenseits die Welt des
Glaubens - sind in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zu begrei
fen. Die Entfremdung ist ein Produkt des Bewußtseins. Es ist
für Hegel die Aufklärung, die die hier herrschenden Gestalten,
verwirrt und revolutioniert. „Nützlichkeit“ und „Zweck“ sind
jene Begriffe, die nun das Verhältnis des Bewußtseins zur Wirk
lichkeit bestimmen. In der neuen Gestalt des Bewußtseins, Die
absolute Freiheit und der Schrecken, werden diese Begriffe nicht
7 Es ist problematisiert worden, daß der Rechtszustand des römischen Reichs hier
nicht wie in der gleichzeitig entstandenen Realphilosophie II (1805/06) bzw. der
späteren Rechtsphilosophie den Ausgangspunkt für die Sphäre der Sitdichkeit
bildet. Vgl. Siep 1979. H egel selbst allerdings betont in der Phänomenologie, daß
der Rechtszustand eine entwickelte Form des Wissens ist (vgl. G W 9, 264). Zu
beachten ist in diesem Zusammenhang auch, daß das Recht hier nicht als ein
Prinzip eingeführt, sondern als eine Gestalt des Geistes: die Person und das auf sie
gegründete Recht ist hier Inhalt und Zweck des römischen Staats.
G e s t a l t e n n ic h t d e s B e w u s s t s e in s , s o n d e r n e in e r W elt : 97
„Die absolute sittliche Totalität (ist) nichts anderes als ein Volk“
(NA 449) - mit dieser Formel begegnet Hegel in seinen Jenaer
Anfängen der Kantisch/Fichteschen Zergliederung der Sittlich
keit in Legalität und Moralität. Hegels positive Darstellung des
eigenen Ansatzes hebt mit diesem Diktum der Einheit der abso
luten Sittlichkeit an. Die Identifikation des Sittlichen mit einem
Volk zerbricht allerdings in der „Tragödie des Sittlichen“ : das
Negative, als Einzelheit aber auch als Rechtssphäre und Öko
nomie macht sich als Prinzip geltend und zerstört die unmittel
bare Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit. Hegel faßt die
sen Einbruch des Negativen keineswegs rein punktuell auf, so
als ob dies ausschließlich ein Geschehen wäre, das sich für die
griechische Polissittlichkeit ereignet. Hegel faßt diesen Ant
agonismus grundsätzlicher, er findet sich auf verschiedenen
Ebenen. Einmal stellt er sich als der immerwährende Kam pf
des lichtvollen Appollon gegen die Eumeniden, die unterirdi
schen Mächte dar. Dieser Gegensatz tritt aber auch in den
beiden Ständen des Staates auf: dem allgemeinen Stand als der
Lichtseite steht der Stand der Nichtfreien gegenüber. Letzte
ren, charakterisiert Hegel mit Platon als durch eine böse ge
waltsame N atur beherrscht. Es sind nicht militärische Erfah
rungen, die die besondere Rolle des Kriegerstandes als dem
Stand der Freien ermöglichen. Es ist die Erfahrung des Todes,
das Risiko des eigenen Lebens, die den Charakter dieses Stan
des bilden. Dieses Bewußtsein ist „das reale absolute Bewußt
sein der Sittlichkeit“ (NA 462; 150, 151). Der Stand der Nicht
freien, welcher in der Differenz des Bedürfnisses und der Ar
beit, und im Rechte und der Gerechtigkeit des Besitzes und des
Eigentums ist, schließt die Gefahr des Todes nicht in sich. Zwar
19 8 E l is a b e t h W e is s e r - L o h m a n n
ermöglicht dieser zweite Stand und mit ihm der dritte Stand, die
Bauern, den Freien die Unabhängigkeit von der Sorge um die
eigene Subsistenzsicherung. Eine Leistung, die ihren Anteil an
der Sittlichkeit des Volkes allerdings nicht zu bessern vermag,
in Beziehung auf die absolute Sittlichkeit ist das Werk des zwei
ten und dritten Standes rein negativ zu bewerten.
Dies bedeutet für Hegel aber nicht, daß diese Mächte unter
drückt werden müssen. Erst das Gewährenlassen dieser negati
ven Mächte in einem begrenzten Raum des Staates ermöglicht
für ihn die Bewahrung der Sittlichkeit des Ganzen. Durch diese
Differenzierung innerhalb der sittlichen Macht ist für Hegel im
Naturrechts-Aaisntz der Bestand der Sittlichkeit eines Volkes
garantiert. Historisch ist auch diese Differenzierung in Stände
durch das Prinzip der formellen Einheit und Gleichheit im
römischen Reich untergegangen. Dies ist auch das Ende der
absoluten Sittlichkeit. In der Situation einer juridischen Gleich
heit aller kann nur die bewußt Aufnahme des negativenPrinzips,
des Bourgeois, des Privatlebens, in das Allgemeine Abhilfe brin
gen. Es bleibt allerdings die Differenzierung und Absonderung
eines edlen Standes, der für Hegel in dieser Situation die Be
wahrung der absoluten Sittlichkeit verbürgen könnte. Die Aus
bildung dieser Subsysteme der Sittlichkeit ist für Hegel im
Naturrechts-Auisaiz eine Leistung der „N atur“ . Sein Ansatz
steht damit konträr zur Tradition des Naturrechts, für die sich
aus den natürlichen Rechten des einzelnen das Rechts- und
Eigentumssystem der bürgerlichen Gesellschaft herleiten läßt.
Für Hegel kommt dieser Ansatz beim einzelnen einer „Atomi
sierung“ der Sittlichkeit gleich.
Die Identifikation der Sittlichkeit mit einem Volk ist seit den
frühen Jenaer Arbeiten der Ausgangspunkt für Hegels Ansatz
einer praktischen Philosophie. Dieser Ausgangspunkt hat auch
für die Phänomenologie Gültigkeit, wenn für die Einübung in
spezifisch praktische Wissensformen Gestalten einer Welt nicht
lediglich Gestalten des Bewußtseins erfahren werden müssen.
Vergleicht man den frühen Jenaer Ansatz mit der Konzeption
des Geist-Kapitels in der Phänomenologie so dürfen die Diffe
renzen in systematischer Hinsicht nicht ignoriert werden. Im
Naturrechts-Aaisntz gibt Hegel in Abgrenzung von der Traditi
on des Naturrechts eine Darstellung seiner Konzeption von
praktischer Philosophie und damit einhergehend seiner Auffas
G e s t a l t e n n ic h t d e s B e w u s s t s e in s , s o n d e r n e in e r W elt 19 9
8 „Wir betrachten die Momente des sich organisierenden Bewußtseins weder auf
der Seite des Subjekts in der Form von Vermögen, Neigungen, Leidenschaften,
Trieben usw. noch auf der ändern Seite des Gegensatzes als eine Bestimmtheit der
Dinge, sondern wie es als Einheit und Mitte von beidem absolut für sich ist“,
(Fragment 20, in: G W 6, 290) In den einzelnen Potenzen, Sprache, Gedächtnis
und Arbeit vollzieht sich Sozialisation und Individualisierung des Menschen.
D am it ist die Entfaltung dieser Potenzen „nicht Them atik einer Philosophie des
„subjektiven“ Geistes, der vom „objektiven“ Geist unterschieden wird“, sondern
diese Formen konstituieren sich aus dem Zusammenspiel von Begriff und Be
wußtsein (Pöggeler 1993, 66).
200 E l is a b e t h W e is s e r - L o h m a n n
9 Zur Problematik des hier verwendeten Zweckbegriffs, vgl. die Arbeit von
M . Bienenstock 1992: Politique dujeune Hegel. Jen a 1801-1806. Paris.
202 E l is a b e t h W e is s e r - L o h m a n n
Allein der Tod ist das Werk der „allgemeinen Freiheit“. Die
ser T )d hat keinen „inneren Umfang noch Erfüllung“. Was in
diesem T>d negiert wird, ist der „unerfüllte Punkt des abso
lutfreien Selbsts: „er ist also der kälteste, platteste Tod, ohne
mehr Bedeutung, als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder
ein Schluck Wassers“ (GW 9, 320).
Auch die Weisheit der Regierung geht über die „Plattheit der
Silbe“ ,Tod‘ nicht hinaus, d. h. die Regierung kann, dies war
bereits deutlich geworden als Hegel nach den Gestaltungsmög-
lichkeiten für ein positives Werk fragte, gar nichts anderes sein,
„als der sich fortsetzende Punkt oder die Individualität des all
gemeinen Willens“ . Diese schließt notwendig die übrigen Indi
viduen aus ihrer Tat aus - de facto hat sich in Hegels Gegenwart
in dieser Gestalt das zweite Modell (die absolute Herrschaft
eine Individuums) durchgesetzt. In ihrer Tat wird diese Regie
rung zum bestimmten Willen, dadurch ist sie dem allgemeinen
Willen entgegengesetzt: „sie kann daher schlechterdings nicht
anders, denn als eine Faktion sich darstellen“ (a. a. O.).
Für den Bildungsprozeß des werdenden Wissens bedeutet
dies, daß eine weiterführende Analyse der Erfahrung des Selbst
bewußtseins möglich wird: das Bewußtsein ist hier bestimmt
durch die Erfahrung der absoluten Freiheit. In dieser Gestalt
wird sie zum Gegenstand der Erfahrung. Ansich ist die absolute
Freiheit abstraktes Selbstbewußtsein, der Schrecken des Todes
ist seine Realität und als solcher wird er hier erfahren. Diese
Erfahrung steht konträr zu jenem Begriff, den das Selbstbe
wußtsein von der „absoluten Freiheit“ hat: „daß nämlich der
allgemeine Wille nur das positive Wesen der Persönlichkeit sei“
(GW 9, 321). Für das lernende Bewußtsein zeigt sich hier ein
Umschlagen: „Der allgemeine Willen, als absolut positives wirk
liches Selbstbewußtsein, schlägt, weil es diese zum reinen Den
ken oder zur abstrakten Materie gesteigerte selbstbewußte Wirk
lichkeit ist, in das negative Wesen um, und erweist sich ebenso
Aufleben des sich selbst Denkens oder des Selbstbewußtseins zu
sein.“ (GW 9, 321)
In der konkreten geschichtlichen Gestalt, der französischen
Revolution, ist es aber letztlich nicht die Einsicht in den negati
ven Charakter des Selbstverständnisses, die eine Abkehr von
der Schreckensherrschaft1 ermöglicht, sondern es ist die Furcht
vor dem absoluten Herrn, dem T>d, die eine „Organisation der
G e s t a l t e n n ic h t d e s B e w u s s t s e in s , s o n d e r n e in e r W elt 205
Literatur
Bienenstock, Myriam 1992: Politique du jeune Hegel. Jena 1801-1806. Paris.
Diising, Klaus 1976: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Bonn.
Fichte, I. H . 21841: Beiträge zur Charakteristik der neueren Philosophie oder
kritische Geschichte derselben von Des Cartes und Locke bis auf Hegel.
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Frankfurt a.M.
Haym, R. 1857: H egel und seine Zeit. Berlin.
Lukacs, Georg 1948: D er junge Hegel. U ber die Beziehung von Ökonomie und
Dialektik. Zürich. N A 2 Bände. Frankfurt a.M. 1973.
Metzke, E . 31970: Die Vorreden Hegels. Heidelberg.
Pöggeler, O tto 21993: H egels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg/
München.
Schmitz, Hermann 1992: H egels Logik. Bonn, Berlin.
Siep, Ludwig 1979: „Anerkennung“ als Prinzip der praktischen Philosophie.
Freiburg.
10 Vgl. etwa die Studie von D. Köhler zu Hegels Jacobi-Rezeption in: ders. 1993:
Hegels Gewissensdialektik. Hegel-Studien 28, 127-141.
11 Jener „tiefe Zusammenhang“, den Lukacs zwischen der logischen Abfolge der
Kategorien und der historischen Entwicklung der Menschheit in der Phänomeno
logie aufgewiesen sieht, wäre hier somit gerade nicht zu finden.
10
Dietm ar Köhler
H egels Gewissensdialektik
1 Hierzu zu rechnen sind u. a. Lübbe, H . 1964: Zur Dialektik des Gewissem nach
Hegel. In: Hegel-Studien. Beiheft 1. Heidelberger Hegel-Tage 1962. Vorträge und
Dokumente. H g. von H .-G . Gadamer. Bonn, 247-261; ferner Kaan, A. 1966: Le
mal et son pardon. In: Hegel-Studien. Beiheft 3. Hegel-Tage Royaumont 1964.
Beiträge zur Deutung der Phänomenologie des Geistes. H g. von H .-G . Gadamer.
Bonn, 187-194; schließlich Scheier, C.-A. 1980: Analytischer Kommentar zu Hegels
Phänomenologie des Geistes. Die Architektonik des erscheinenden Wissens. Freiburg/
München, besonders 469-509.
2 V gl. Hirsch, D. E 1926: Die Beisetzung der Romantiker in Hegels Phänomenologie.
Ein Kommentar zu dem Abschnitte über die Moralität. In: Die idealistische Philosophie
und das Christentum. Gesammelte Aufsätze von D. Emanuel Hirsch. H g. von
C . Stange. Gütersloh, 117-139; zuerst abgedruckt in: Deutsche Vierteljahrsschrift
für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Bd. 2. 1924. H eft 3, 510-532.
Daneben von besonderer Bedeutung ist die Arbeit von Falke, G . 1987: Hegel und
Jacobi. Ein methodisches Beispiel zur Interpretation der Phänomenologie des Geistes. In:
Hegel-Studien 22, 129-142.
2 12 D ie t m a r K ö h ler
durch setzt es sich selbst ins Unrecht und ist zerrüttet, da ihm
die Verwirklichung und Anerkennung im anderen fehlt. In der
Folge muß das urteilende Gewissen sein einseitiges, nicht aner
kanntes Urteil aufgeben, d. h. verzeihen, ebenso wie ihm von
dem handelnden Bewußtsein verziehen wird: Die Versöhnung
als gegenseitiges Anerkennen ist Ausdruck des absoluten Gei
stes.
In diesem Prozeß weiß der absolute Geist sich als Gegensatz
und Wechsel mit sich selbst, d. h. sowohl als handelndes - ein
zelnes, für-sich-seiendes - Gewissen als auch als beurteilendes,
somit abstraktes und unwirkliches Gewissen. In der Rede voll
zieht sich die Versicherung der Gewißheit des Geistes in sich
selbst. Erst über diese Entäußerung kehrt das in seinem Dasein
entzweite Wissen in die Einheit seines Selbst zurück als „das
allgemeine sich selbst Wissen in seinem absoluten Gegenthei-
le“ (G W 9, 362).
Die hier aufgezeigte Struktur des ,Gewissenskapitels1 stimmt
nun recht genau und an einzelnen Stellen bis hin zu wörtlichen
Anklängen mit dem Entwicklungsgang von Friedrich Heinrich
Jacobis Roman Woldemars überein, wie in Ansätzen bereits in
den 20er Jahren von Emanuel Hirsch und zuletzt ausführlich
von Gustav Falke nachgewiesen worden ist.6 Der erste Teil des
7 V gl. Werke 10, 310: „Diese Schwäche [gemeint ist Werther] hat später bei
immer steigender Vertiefung in die gehaldose Subjektivität der eigenen Persön
lichkeit noch mannigfach andre Formen angenommen. Die Schönseeligkeit z. B.
Jakobi’s in seinem Woldemar läßt sich hierher rechnen. In diesem Roman zeigt sich
die vorgelogene Herrlichkeit des Gemüths, die selbsttäuschende Vorspieglung der
eigenen Tugend und Vortrefflichkeit im vollsten Maaße. ... “
218 D ie t m a r K ö h ler
nicht als reines „Zufallsgebilde“ aufzufassen ist. Vgl. hierzu Pöggeler, O. 21993:
H egels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg, München; ferner ders.
1966: Die Kom position der Phänomenologie des Geistes. In: Hegel-Studien.
Beiheft 3,27-74.
In anderer Weise thematisiert auch Hermann Schmitz diese Problematik; gegen
über seiner „Rekonstruktion“ des „ursprüglichen Plans“ der Phänomenologie nimmt
sich der vorliegende Text eher wie eine „Entgleisung“ Hegels aus. Das ,Gewissens
kapitel· hätte sich nach Schmitz’ Hypothese urspünglich dem nach seiner Ausle
gung zentralen Kapitel V C. a. „Das geistige Thierreich und der Betrug, oder die
Sache selbst.“ anschließen müssen, da nach seiner Theorie das gesamte Geist-
Kapitel (VI) wie auch die Kapitel V II und VTTT aus dem „ursprünglichen Plan“ der
Phänomenologie herausfallen. Ohne Schmitz’ Behauptungen hier im einzelnen ent
gegenzutreten, was zweifellos eine eigenständige Abhandlung erfordern würde,
erheben sich doch Bedenken gegen das von ihm praktizierte Verfahren: Auf der
einen Seite ergibt gerade das Geist-Kapitel auch in seiner tatsächlichen Stellung
innerhalb des Textes der Phänomenologie nach meiner Überzeugung einen guten
Sinn, auf der anderen Seite fasse ich Hegels historische Anspielungen keineswegs
als „zum Him mel schreiende Anachronismen“ auf, sondern als paradigmatische
Gestalten für die Erfahrungsgeschichte des Bewußtseins. Ich unterstelle in diesem
Zusammenhang, daß H egel seine Auffassung von „Geschichte“, wie er sie auf den
letzten Seiten der Phänomenologie entfaltet, dem Text selbst durchgehend zugrun
delegt, was Schmitz offenbar nicht tut, da er schließlich auch das gesamte Kapitel
über das absolute Wissen aus der „ursprünglichen Fassung“ der Phänomenologie
eliminieren möchte. V gl. Schmitz 1992, 238 ff.; besonders 282 ff.
220 D ie t m a r K ö h ler
9 Die Entsprechung der einzelnen Momente der Logik oder spekulativen Philo
sophie gegenüber denen der Phänomenologie des Geistes hat Otto Pöggeler mehr
fach dargelegt, zuletzt in dem Aufsatz: Ansatz und Auflau der Phänomenologie des
Geistes. In: Journal of the Faculty of Letters. T h e University o f T>kyo. Aesthetics.
Vol. 13.T)kyo 1988,11-36; besonders S. 21 ff. Diesen Ausführungen schließt sich
die nachfolgende Interpretation vollinhaldich an.
222 D ie t m a r K ö h ler
Literatur
Diising, Klaus 21982: Die Rezeption der Kantischen Postulatenlehre in den frü
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Falke, Gustav 1987: H egel undjacobi. Ein methodisches Beispiel zur Interpretati
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Hirsch, D. Emanuel 1926.: Die Beisetzung der Romantiker in H egels Phänome
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stische Philosophie und das Christentum. Gesammelte Aufsätze von D. Em a
nuel Hirsch. H g. von Carl Stange. Gütersloh, 117-139; zuerst abgedruckt in:
Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte.
Bd. 2. 1924. H eft 3, 510-532.
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Tage Royaumont 1964. Beiträge zur Deutung der Phänomenologie des G ei
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H eg els G e w is s e n s d ia l e k t ik 227
Lübbe, Hermann 1964: Zur Dialektik des Gewissens nach Hegel. In: Hegel-
Studien. Beiheft 1. Heidelberger Hegel-Tage 1962. Vorträge und Dokumente.
H g. von H ans-G eorg Gadamer. Bonn, 247-261.
Pöggeler, Otto 1956: H egels Kritik der Romantik. Bonn.
Pöggeler, Otto 1966: Die Komposition der Phänomenologie des Geistes. In:
Hegel-Studien. Beiheft 3, 27-74.
Pöggeler, Otto 21993: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg,
München.
Pöggeler, Otto 1988: Ansatz und Aufbau der Phänomenologie des Geistes. In:
Journal of the Faculty of Letters. T h e University of T>kyo. Aesthetics. Vol. 13.
Tokyo, 11-36.
Scheier, Claus-Artur 1980: Analytischer Kommentar zu H egels Phänomenologie
des Geistes. Die Architektonik des erscheinenden Wissens. Freiburg/M ün
chen.
Schmitz, Hermann 1992: H egels Logik. Bonn, Berlin.
11
ganzen Geistes entfaltet sich aber zeitlich (in einem Sinn, der
noch geklärt werden muß) über einzelne Gestalten, die dem
Allgemeinen eine besondere Konkretisierung verleihen. Diese
Gestalten werden als „Unterschiede“ innerhalb der soeben ge
nannten Momente dargestellt, wie z. B. die „sinnliche Gewiß
heit“ , die Wahrnehmung“ und „Kraft und Verstand“ den ganzen
Geist unter dem Aspekt des Bewußtseins bestimmen.
N un behauptet aber Hegel im 10. Paragraphen des Reli-
gionskapitels, daß die Gestalten, die bis zu diesem Punkte auf
traten, aus der Perspektive des selbstbewußten Geistes anders
geordnet sind als sie bisher erschienen. Und er fügt dieses
seltsame Gleichnis hinzu: „Wenn also die bisherige Eine Reihe
in ihrem Fortschreiten durch Knoten die Rückgänge in ihr
bezeichnete, aber aus ihnen sich wieder in Eine Länge fortsetz
te, so ist sie nunmehr gleichsam an diesen Knoten, den allge
meinen Momenten, gebrochen und in viele Linien zerfallen,
welche in Einen Bund zusammengefaßt, sich zugleich symme
trisch vereinen, so daß die gleichen Unterschiede, in welche
jede besondre innerhalb ihrer sich gestaltete, Zusammentref
fen“ (G W 9, 367).
Es ist leicht einzusehen, daß das Bild des Knotens, wie alle
anderen von ihm abhängenden, unbedingt erhellt werden muß,
wenn man ein Minimum von Klarheit über die Organisation
des Ganzen und die Entsprechung seiner Teile gewinnen will.
Dies soll im Folgenden versucht werden, wobei die Resultate
einer früheren Forschungsarbeit erneut aufgenommen und zu
sammengefaßt werden.2
2 Vgl. De la Maza, L. M. 1998: Knoten und Bund. Zum Verhältnis von Logik,
Geschichte und Religion in H egels Phänomenologie des Geistes. Bonn.
D ie M etaph er des K no ten s 23I
daß sich die genannte Reihe auf die „Gestalten“ der Phänomeno
logie bezieht, das heißt auf jene „Unterschiede“ die die „Wirk
lichkeit“ des ganzen Geistes ausmachen. Jeder Leser der Phäno
menologie kann selbst feststellen, wie die genaue Bestimmung
dieser Gestalten von Kapitel zu Kapitel zunehmend schwieriger
und fraglicher wird. Während am Anfang die ersten zwei Kapi
tel die Gestalten der „sinnlichen Gewißheit“ und der „Wahr
nehmung“ deutlich zu bestimmen vermögen, geschieht im drit
ten Kapitel eine merkwürdige Verdoppelung des Titels, die
auch Indiz einer inhaltlichen Doppelung in der Gestaltung von
„Kraft und Verstand“ zu sein scheint. N och komplizierter wird
die Abgrenzung im vierten Kapitel, das nun ausdrücklich in
zwei Abschnitte aufgeteilt ist, die wiederum auf mehr als eine
Gestalt hinweisen, etwa „Begierde“ , „Herrschaft“ und „Knecht
schaft“ im ersten Abschnitt, „Stoizismus“ , „Skeptizismus“ und
„unglückliches Bewußtsein“ im zweiten Abschnitt. Vom fünften
Kapitel an wird das Problem der eindeutigen Ausgrenzung von
Gestalten praktisch unlösbar und es drängt sich die Feststellung
auf, daß die Gestalten der Phänomenologie nicht als fixe Einhei
ten betrachtet werden dürfen, sondern vielmehr als das was sie
nach Hegel darstellen, nämlich Erfahrungen eines sich bilden
den Bewußtseins, flüssige Bestimmungen, die je nach dem Zu
sammenhang, in dem sie erscheinen, als eine gewisse Ganzheit
von Erfahrungen oder selbst als ein Erfahrungsmoment einer
anderen Gestalt genommen werden.
Es kann m. E. keinen Zweifel darüber geben, daß der Fort
schritt von einer Gestalt zur anderen, unabhängig von der
Tatsache ihrer problematischen Ausgrenzung, in bestimmten
Punkten der Darstellung unterbrochen wird, um dann wieder
von Neuem anzufangen. Gerade diese Punkte werden von
Hegel mit einer der Bedeutungen der Metapher des Knotens
bezeichnet. Er weist ausdrücklich darauf hin, was er genau in
diesem Zusammenhang mit der Metapher beabsichtigt, oder
mit anderen Worten, was er mit den genannten Unterbre
chungspunkten meint, nämlich die „allgemeinen Momente“.
Wir wissen bereits, was die „ M °mente“ bedeuten: Bewußtsein,
Selbstbewußtsein, Vernunft usf. Sie sind „allgemein“ in bezug
auf die Gestalten, die sie als ihre „Unterschiede“ enthalten. Die
Knoten werden auch „Rückgänge“ genannt, eine Bezeichnung,
die für Hegel nicht nur den negativen Sinn eines Unterbre-
232 Luis M a r ia n o d e l a M a z a
6 Weiteres darüber in meinem schon erwähnten Buch: Knoten und Bund, Zweiter
Teil, 5.1, 6.2, 7.2, 8.2.
D ie M etaph er des K no ten s 235
Aber wenn sie jetzt auch als Knoten bezeichnet werden kön
nen - Hegel tut es nicht ausdrücklich geschieht das aus einem
anderen Grund als einer Unterbrechung und Neuentwicklung
einer fortschreitenden Kontinuität oder als einer Zusammenfü
gung einer Mannigfaltigkeit von Gestalten unter einem ge
meinsamen Nenner, obwohl das Letztere mit der neuen Bedeu
tung des Knotens näher verwandt ist. Denn das, was bis jetzt als
Prinzip der Vereinigung von Gestalten erschien, wird nun als
Orientierungspunkt der Entwicklung des ganzen Geistes be
trachtet: „Es erhellt übrigens aus der ganzen Darstellung von
selbst, wie diese hier vorgestellte Beiordnung der allgemeinen
Richtungen zu verstehen ist, daß es überflüssig wird, die Bemer
kung zu machen, daß diese Unterschiede wesentlich nur als
Momente des Werdens, nicht als Teile zu fassen sind“ (a. a. O.).
Von diesen Momenten sagt Hegel auch, daß es in der Phänome
nologie darauf ankommt, sie als Bestimmungen aufzufassen in
denen der Geist sich seines Wesens bewußt wird, was wiederum
an die schon erwähnten Anhalts- und Richtungspunkte der Wis
senschaft der Logik erinnert.
8 Obwohl dies in letzter Zeit bestritten worden ist, (vgl. Schmitz, H . 1992: Hegels
Logik, 300-307) scheint mir immer noch der Vorschlag von O. Pöggeler, die
Systemskizze am Ende der Geistesphilosophie vom dritten Jenaer Systementwurf
(1805/06) als wichtigsten Hinweis für die Entsprechungen zwischen Phänomeno
logie und L ogik heranzuziehen, die angemessenste und am besten begründete
Position. Vgl. dazu Pöggeler, O. 1973: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes.
Freiburg, München 1973, 269 ff. Siehe auch W. Bonsiepens Einleitung zu der in
Fußnote 1 erwähnten Studienausgabe der Phänomenologie, XX V I ff.
240 Luis M a r ia n o d e l a M a z a
9 Siehe dazu den Bericht von Gabler und Rosenkranz in Kimmerle, H . 1967:
Dokumente zu H egels Jenaer Dozententätigkeit (1801-1807). In: Hegel-Studien 4,
71,84.
242 Luis M a r ia n o d e l a M a z a
stellt sich der ganze Geist als Pendant der Religion dar. Von ihm
sagt Hegel in der Einleitung des Kapitels: „Der ganze Geist nur
ist in der Zeit, und die Gestalten, welche Gestalten des ganzen
Geistes als solchen sind, stellen sich in einer Aufeinanderfolge
dar, denn nur das Ganze hat eigentliche Wirklichkeit, und daher
die Form der reinen Freiheit gegen anderes, die sich als Zeit
ausdrückt“ (G W 9, 365). Wenn aber Hegel einige Zeilen weiter
unten behauptet, daß innerhalb der Momente des Bewußtseins,
des Selbstbewußtseins, der Vernunft und des unmittelbaren
Geistes sich die Gestalten auch zeitlich unterscheiden, dann
meint er nicht die weltgeschichtliche Zeit sondern nur eine
„begriffene Organisation“ (GW 9, 434) derselben, die gewisse
Erscheinungsformen aus ihr abstrahiert, um sie nach systemati
schen Kriterien für den Zweck der Bildung des Bewußtseins zu
benutzen. Es handelt sich also um Beispiele, die aus der G e
schichte genommen werden und innerhalb der Momente (oder
Knoten) in einer diachronischen Reihenfolge erscheinen, wel
che aber im Übergang von einem Knoten zum anderen unter
brochen und neu begonnen wird.
Im allumfassenden Bund der Religion dagegen taucht zum
ersten Mal der Geist als eine Totalität auf, die zwar noch nicht
die „begriffene Geschichte“ ist, die Hegel im absoluten Wissen
von der zufällig-realen und von der phänomenologischen G e
schichte unterscheidet, (a. a. O.) wohl aber eine weltgeschicht
liche Dimension erreicht, die in den idealtypischen Formen der
Religionsgeschichte - der natürlichen Religion des Orients, der
Kunst-Religion der Griechen und der offenbaren Religion der
Christen - aufgenommen wird. Diese geschichtliche Erschei
nung des ganzen Geistes ist für Hegel insofern notwendig, weil
sie es ermöglicht, daß der Geist sich selbst in der Zeit als
„daseiender“ oder gegenständlicher Begriff anschaut, bevor er
sich im absoluten Wissen auch zur „Form “ des Begriffs erheben
und somit die reine Durchsichtigkeit einer begriffenen G e
schichte erreichen kann. In diesem Sinne stellt die Religion den
„absoluten Inhalt“ des absoluten Wissens dar (G W 9, 426).
Hierin liegt aber gerade ihre unentbehrliche Funktion für die
Phänomenologie, wie Hegel sie versteht: „Eh daher der Geist
nicht ansich, nicht als Weltgeist sich vollendet, kann er nicht als
selbstbewußter Geist seine Vollendung erreichen. Der Inhalt
der Religion spricht daher früher in der Zeit, als die Wissen
D ie M etaph er des K n o tens 243
schaft, es aus, was der Geist ist, aber diese ist allein sein wahres
Wissen von ihm selbst“ (G W 9, 429 f.). In welcher Weise kann
aber nach Hegel die Religion den Weltgeist vollenden? Die
Antwort lautet: Indem sie selbst ihre Entwicklung vollendet,
und das heißt, indem zwischen der Form in der sich ein Volk in
seiner eigenen Religion selbst erkennt und dem weltgeschicht
lichen Dasein dieses Volkes eine reale Entsprechung stattfindet
(G W 9, 370). D a aber die Menschwerdung Gottes wesentlicher
Bestandteil der Religion als Selbstbewußtsein des Geistes ist,
kann diese, laut Hegel, ihr Ziel nur im Christentum erreichen.
Literatur
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Geschichte und Religion in H egels Phänomenologie des Geistes. Bonn.
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Kimmerle, H einz 1967: Dokumente zu H egels Jenaer Dozententätigkeit
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Pöggeler, Otto 1973: H egels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg,
München.
Schmitz, Hermann 1992: H egels Logik. Bonn, Berlin.
12
Gabriella Baptist
1 V gl. G W 8, 277 ff. Schon in diesem Kontext wird der Kunst die Erkenntnis
weise der Anschauung und der Vorstellung sowie das logische Niveau der Form
und der Unmittelbarkeit zugesprochen; die Religion wird als der vorgestellte
Geist behandelt, wobei auf der Stufe des Wesens und seiner Versöhnung mit der
Wirklichkeit argumentiert wird; bei der absoluten Wissenschaft der Philosophie
ist endlich der Begriff erreicht.
246 G a b r ie l l a B a p t is t
2 V gl. dazu die Dissertation von Mariano de la Maza, Knoten und Bund.
3 Dies scheint allerdings eine Charakteristik von jedem entscheidenden Punkt der
phänomenologischen Entwicklung zu sein, vgl. wie z. B. im 4. Kapitel: „Die
Wahrheit der Gewissheit seiner selbst“ die früheren Bewußtseinsstufen kurz wie
derholt werden (G W 9, 103 f.) und auch wie am Anfang des 5. Kapitels: „Gewiß
heit und Wahrheit der Vernunft“ der Übergang zwischen Bewußtsein, absolutem
Wesen und Verstand, der zum Selbstbewußtsein wird, und unglücklichem Be
wußtsein kurz umrissen wird (G W 9, 132).
248 G a b r ie l l a B a p t is t
Dasein auch noch mit dem Wissen des Ich = Ich gleichgestellt
wird, wobei die „Versöhnung des Bewußtseyns mit dem Selbst-
bewußtseyn“ (G W 9, 42 5) angestrebt wird. Dies wird aber erst
vom religiösen Geist erreicht, obwohl das noch bewußtseinsmä
ßig geschieht, da die Versöhnung in der Form des Ansichseins
eines objektivierten Gottes als eines realen Wesens erfolgt. Die
Vereinigung des Bewußtseins des Geistes und seines Selbstbe
wußtseins, seines Wissens des Seins und seines Wissens des Wesens
ist jetzt jedenfalls als die eigentliche Aufgabe des absoluten
Wissens eingeführt, was „diese Reihe der Gestaltungen des
Geistes beschließt“ (GW 9, 425), da der Geist sich zu wissen
hat, wie er in der Einheit des Begriffes an und für sich ist, das
heißt als ein Wissen von dem reinen Wissen, als ein Wissen von dem
Begriff.
Die Gestalt der schönen Seele hatte sich schon - zwar einsei
tig, weil der eigenen Realisierung und Erfüllung entgegenge
setzt - als ein Wissen von sich selbst als Geist erwiesen. Im
handelnden Geist und in der Religion hatte dieses noch leere
Wissen schließlich seinen Inhalt erlangt und seinen Begriff mit
dem Dasein und mit dem Wesen zusammengebracht, aber le
diglich auf vorstehende Weise. Im absoluten Wissen soll dar
über hinaus der Begriff „das Wissen des Thuns des Selbsts in
sich als aller Wesenheit und alles Daseyn, das Wissen von diesem
Subjecte als der Substanz, und von der Substanz als diesem Wis
sen seines Thuns“ (G W 9, 427) sein, das heißt das handelnde
Bewußtsein, noch inhaltsarm, und das religiöse Bewußtsein,
noch entzweit in seinem Wissen von dem Wesen und Wissen
von dem Sein, sollen in einem begrifflichen Wissen von sich
vereinigt werden, was eben „die Versammlung der einzelnen
Momente“ sowie „das Festhalten des Begriffes in der Form des
Begriffes“ (GW 9, 427) erlaubt.
Der Leitfaden für die Auswahl der früheren Stufen der phä
nomenologischen Entwicklung ist ausdrücklich ein logisch-sy-
stematischer, wie die wiederholte Anwendung von argumenta
tiven Instrumenten wie an sich/für sich/an und für sich, Sein/
Wesen/Begriff, Bewußtsein/Selbstbewußtsein/Vernunft oder
Geist oder Inhalt/Form bestätigt. Vergleicht man diesen Leit
faden mit der Darstellung am Anfang des Geistkapitels oder des
Religionskapitels, so drückten die früheren Zusammenfassun
gen im ersten Fall bloß eine Skizze des Bewußtseins des Geistes
D as abso lu te W is s e n .Z e it , G e s c h ic h t e , W is s e n s c h a f t 249
als Bewußtsein seines Seins aus,4 im zweiten Fall jedoch die ver
schiedenen Weisen des Bewußtseins des absoluten Wesens als des
Selbst, eines erstmaligen Wissens von sich, obwohl noch in der
Bestimmung des geistigen Wesens als eigentlichen Gegenstan
des, wie dies in der Religion als eines ersten Selbstbewußtseins des
Geistes sich zeigte. Bei der letzten Vollendung des früheren
Ablaufes im absoluten Wissen gelangt man zum absoluten
Selbstbewußtsein des Geistes zunächst über das Bewußtsein sei
nes Begriffes. Deswegen ist diese Rekapitulation des Weges über
haupt die „letzte Gestalt des Geistes“ (G W 9, 427) in seinem
Bewußtsein, das er von sich als absoluter hat. Es ist ein „Geist,
der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich die Form
des Selbsts gibt, und dadurch seinen Begriff ebenso realisirt als
er in dieser Realisirung in seinem Begriffe bleibt“ (GW 9, 427),
wobei seine Wahrheit und seine Gewißheit, sein Dasein oder
Inhalt und sein Selbst, sein Wesen oder seine Form als letzte
Gestaltung des begrifflichen Wissens, als Wissenschaft in dem
Begriff transparent werden.
Diese nochmalige Versammlung der phänomenologischen
Gestalten kann als das „Sein“ oder „Dasein“ des absoluten W is
sens selbst gedeutet werden, als seine erste Stufe und als Objekt
seines absoluten Bewußtseins. Nicht zufällig wird hier gerade auf
jene Wissenschaft verwiesen, die die Phänomenologie als dem
philosophischen Bewußtsein selbst erscheinende „Wissenschaft
der Erfahrung des Bewußtseins“ bietet, was hier skizziert und
mit Hervorhebung der begrifflich-systematischen Intention
dargestellt wird: Das Sein oder das Bewußtsein des absoluten Wis
sens ist so die begriffliche Wahrheit seines eigenen Werdens, sein
gewußter Weg als Gestalt des wissenschaftlichen Begreifens, die
letzte und perfekte Gestaltung, weil einerseits der Unterschied
und die Zerrissenheit des Bewußtseins endgültig überwunden
ist, aber dennoch andererseits im Begriff das Objekt der Wissen
schaft und also des philosophischen Bewußtseins ist.5
4 Auch am Anfang des Religionskapitels werden die Stufen des wahren, des sich
entfremdeten und des seiner selbst gewissen Geistes als Gestalten des „Bewußt-
seyn[s]“ des Geistes vorgestellt (G W 9, 364).
5 V gl. G W 9, 428: „Dieser Inhalt bestimmter angegeben, ist er nichts anders, als
die so eben ausgesprochene Bewegung selbst; denn er ist der Geist, der sich selbst
und zwar fiir sich als Geist durchläufft, dadurch daß er die Gestalt des Begriffes in
seiner Gegenständlichkeit hat“.
250 G a b r ie l l a B a p t is t
Begeistung, wodurch die Substanz Subject, ihre Abstraction und Leblosigkeit ge
storben, sie also 'wirklich und einfaches und allgemeines Selbstbewußtseyn gewor
den ist“.
D as abso lu te W is s e n .Z e it , G e s c h ic h t e , W is s e n s c h a f t 253
8 Schon in der Jenaer Naturphilosophie war von einem Tilgen und Aufheben der
Zeit die Rede gewesen, sofern von der Zeit die Dimension der Totalität ihrer
Momente hervorgehoben wurde, vgl. G W 7, 195. N ach Seba (1980, 47) sind im
absoluten Wissen „weder die physische Zeit, noch diejenige der geschichdichen
Fakten getilgt“.
9 M an beachte hier besonders den Gebrauch der Metapher des Schicksals. Den
Zusammenhang zwischen Schicksal und Notwendigkeit auf einer logischen Ebe
ne habe ich zu bearbeiten versucht in Baptist 1997.
254 G a b r ie l l a B a p t is t
10 Vgl. die Jenaer Überlegungen über „das andre der Zeit - nicht eine andre Zeit,
sondern die Ewigkeit, der Gedanke der Zeit“ (G W 8, 287). Ebenso auch Labar-
riere (1979, 98 und 100): „Das ist das absolute Wissen: nicht die letztgültige
Aneignung der Schlüssel des Universums, sondern jene viel ärmere Macht, welche
ein einigendes W ort riskiert, das dem unerwartet Einfallenden einen Sinn zu
geben verm ag“. „Hier, in der Fluktuation der Dinge, drückt sich die Ewigkeit des
Geistes als dieses Verständis aus, das die Zeit in Geschichte verwandelt“.
11 Vgl. die folgenden Äußerungen in G W 4, 10: „Wenn aber das Absolute, wie
seine Erscheinung die Vernunft, ewig ein und dasselbe ist, wie es denn ist; so hat
jede Vernunft, die sich auf sich selbst gerichtet und sich erkannt hat, eine wahre
Philosophie producirt, und sich die Aufgabe gelöst, welche, wie ihre Auflösung,
zu allen Zeiten dieselbe ist. Weil in der Philosophie die Vernunft, die sich selbst
erkennt, es nur mit sich zu thun hat, so liegt auch in ihr selbst ihr ganzes Werk wie
ihre Thätigkeit, und in Rücksicht aufs innre Wesen der Philosophie gibt es weder
Vorgänger noch Nachgänger“. Vgl. auch G W 4, 12: ,Jede Philosophie ist in sich
vollendet, und hat, wie ein ächtes Kunstwerk, die Totalität in sich“, deswegen ist
für H egel kein früheres System als eine bloße Vorübung für die Gegenwart zu
betrachten.
D as abso lu te W is s e n .Z e it , G e s c h ic h t e , W is s e n s c h a f t 255
„In dem Wissen hat also der Geist die Bewegung seines Gestal-
tens beschlossen“ (G W 9, 431), da der Begriff die Versöhnung
von Sein und Selbst erlangt hat. Aber dennoch ist dies Ende
auch ein neuer Anfang, der den Aufriß des Systems vorzeichnet.
Das Wissen des Geistes von sich im Denken ist demgemäß auch
das Wissen seines Seins als der Raum außer sich - im Schauplatz
der Natur, in der der Geist das „Theater“ seines Werdens fin
det -, sowie das Wissen seiner Selbst als die Zeit seiner Geschich
te. Die Doppelungen und Entzweiungen, die den Lauf des
Bewußtseins begleitet hatten, kehren hier auf einem anderen
Niveau wieder, da die Spaltung von Wahrheit und Gewißheit in
der wirklichen Vernunft des Systems vereinigt wird: Die Entäu
ßerung in die Ausdehnung des Seins und der Substanz und die
Erinnerung in die Tiefe des selbstbewußten Subjektes bilden
nun die Richtlinien einer skizzierten Philosophie der Natur und
des Geistes, aber auch einer Rückkehr zum Dasein des neuen
256 G a b r ie l l a B a p t is t
Anfanges und der neuen Geburt als „neue Welt und Geistesge
stalt“ (G W 9, 433). Von zentraler Bedeutung ist hier besonders
die Bewegung der Erinnerung (vgl. dazu Verra 1970), in der
sowohl eine platonische Reminiszenz als auch ein christlicher
Zug wiederzuerkennen ist, indem Platos Anamnesis und Chri
stus Kreuzweg in der „anamnèse salvifique“ des absoluten Wis
sens zusammenfallen (Vieillard-Baron 1978, 37 ff.).
Schon in den Jenaer Logikentwürfen hatte Hegel das Erken
nen als Operation des Resümierens und als Kreisbewegung
aufgefaßt (vgl. G W 7, 116-117), ebenso war die Selbsterkennt
nis des Geistes als Kreislauf der Rückkehr in sich aus seinem
Anderen und in den Anfang zurück dargestellt (vgl. G W 7, 173
und 177).12 Das Sinnbild des Kreislaufes kann jetzt auch für die
neue Geschichte und Geschichtlichkeit gelten, die durch die
Vernunft und den Begriff des absoluten Wissens definiert wer
den, also nach der Versammlung seines Werdens in seinem
Bewußtsein und nach der Besinnung auf sein zeitliches Wesen
in seinem Selbstbewußtsein. Die unterschiedlichen Typen von
Geschichte, die in der Phänomenologie selbst ihren Schauplatz
gefunden hatten - etwa die aus der Geschichte herausgezoge
nen Beispiele zur Einübung in die Kategorialität, die tatsächli
che Weltgeschichte, die typologische Geschichte des Bewußt
seins oder der Religion - ordnen sich hier demnach begrifflich
zu drei verschiedenen Geschichten, bei denen eine kreisför
mige Vermittlung zwischen dem Kontingenten und dem Lo-
gisch-Systematischen ermöglicht wird: So gibt es die zufällige
Geschichte des bloßen Geschehens, sozusagen die „histoire évé
nementielle“ als einfaches Werden und Wahrheit des Seins und
des Lebens des Geistes, als sein Schicksal, dann die bewußt
seinsmäßig organisierte Geschichte des erscheinenden Wissens,
die die Phänomenologie selbst als Geschichte der Erfahrung des
Bewußtseins, als Weg der Verzweiflung durch die „Gallerie von
Bildern“ (GW 9, 433) und als Gewißheit und Erkennen des
Geistes darstellt und schließlich die begriffliche und begriffene
12 Vgl. auch den dort betonten Übergang von dem absoluten Geist zur N atur als
seinem Anderen, sowie die Definition der N atur als „der sich auf sich selbst
beziehende absolute G eist“, „der als das Andre seiner selbst sich darstellende
G eist“ in G W 7, 179 und 184. Auch die Zeit wurde in der Jenaer Naturphiloso
phie als ein Kreislauf aufgefaßt, vgl. G W 7, 195.
D as abso lu te W is s e n .Z e it , G e s c h ic h t e , W is s e n s c h a f t 257
15 Man achte auf die Anwendung der Metapher einer „Schädelstätte des absolu
ten Geistes“ in G W 9, 434, die analog zur früheren Darstellung der Zeit als
„Schicksal“ gebraucht wird.
16 Bekanndich hatte Schiller in dem 11. und 12. seiner Briefe Ueber die ästhetische
Erziehung des Menschen, schon an einem Tilgen der Welt sowie an eine Aufhebung
D as abso lu te W is s e n .Z e it , G e s c h ic h t e , W is s e n s c h a f t 259
der Zeit und ihres Werdens appelliert, vgl. Schiller 1962, 341 ff., besonders 343
und 346.
2Öo G a b r ie lla B a p t is t
Literatur
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Vieillard-Baron, Jean-Louis 1978: Le temps. Platon, Hegel, Heidegger, Paris.
13
U do Rameil
i.
In die Zeit von 1808 bis 1816, in der Hegel als Rektor und
Philosophielehrer am Gymnasium in Nürnberg wirkt, fallen
zwei Ereignisse, die für die genuine Gestalt der Hegelschen
Philosophie von herausragender Bedeutung sind: Zum einen
erarbeitet und veröffentlicht Hegel in den Nürnberger Jahren
die beiden Bände der Wissenschaft der Logik (1812/13 und 1816),
zum anderen entwickelt er in dieser Zeit die Enzyklopädie der
philosophischen Wissenschaften als Gesamtdarstellung seines phi
losophischen Systems. Diese beiden philosophischen Projekte
stehen allerdings in einem ganz unterschiedlichen Verhältnis zu
Hegels Nürnberger Gymnasialunterricht. Während er mit der
Wissenschaft der Logik in den Zustand der Wissenschaft der Philo
sophie seiner Zeit eingreifen will, „um einen neuen Begriff
wissenschaftlicher Behandlung“ (G W 11, 7)1 der Philosophie
und eine neue Grundlegung ihrer Methode zu etablieren, ent
wirft er die Enzyklopädie unmittelbar als integralen Teil seines
1 In Ergänzung zum Siglenverzeichnis dieses Bandes werden für Zitate aus Hegels
Werken folgende Siglen verwendet:
N S: G . W. F. Hegel: Nürnberger Schriften 1808-1816. H g. vonJ.Hoffmeister.
Leipzig 1938
H Enz: G . W. F. Hegel: Sämtliche Werke. H g. von H . Glöckner. Band 6: Enzyklo
pädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse und andere Schriften
aus der Heidelberger Zeit. Stuttgart 1968 (Faksimile-Nachdruck der Origi
nalausgabe der Enzyklopädie, Heidelberg 1817)
264 U do R a m e il
2 Siehe dazu Verf. 1993: Der teleologische Übergang zur Ideenlehre und die Entstehung
des Kapitels „ Objektivität“ in Hegels propädeutischer Logik. In: Hegel-Studien 28,
165-191.
3 „Vorbericht“ zur Begriffslehre von 1816, also nach Abschluß des gesamten
Projekts; ähnlich äußert sich H egel bereits zu Beginn der Veröffentlichung der
Wissenschaft der Logik in einem Brief an Niethammer vom 5. Februar 1812: „Es ist
D ie E n t s t e h u n g d e r e n z y k l o p ä d is c h e n 1P h ä n o m e n o l o g ie 265
keine Kleinigkeit, im ersten Semester seiner Verheuratung ein Buch des abstruse
sten Inhalts von 30 Bogen zu schreiben.“ (Br I, 393)
266 U d o R a m e il
4 Dies ist nicht der erste Wandel in H egels Systemkonzeption. Zu Hegels vor der
Phänomenologie liegenden Systementwürfen und zu der Rolle der Logik als wissen
schaftlicher Einleitung in die spekulative Philosophie oder Metaphysik siehe
D ie E n t s t e h u n g d e r e n z y k l o p ä d is c h e n 1P h ä n o m e n o l o g ie 267
II.
8 Siehe dazu Diising, K . 1993: Hegels „Phänomenologie“ und die idealistische Ge
schichte des Selbstbewußtseins. In: Hegel-Studien 28, 103-126.
D ie E n t s t e h u n g d e r e n z y k l o p ä d is c h e n 1P h ä n o m e n o l o g ie 271
III.
10 V gl. Pöggeler, O. 1966: Die Komposition der Phänomenologie des Geistes. In:
Hegel-Studien. Beiheft 3. Bonn 1966, 27-74.
274 U do R a m e il
IV
11 Den Aufbau dieses ersten Teils der Bewußtseinslehre hat Hoffmeister in seiner
Edition des Hegelschen Manuskripts durch seine Eingriffe verfälscht; H offm ei
ster läßt die gesamte Bewußtseinslehre - gegen Hegels eindeutigen Text - geglie
dert sein in „A. Das Bewußtsein abstrakter Gegenstände“, ,,[B. Selbstbewußtsein]“,
„C. [aus Ms.: m.] Vernunft“ (N S 15, 20, 27). In der Theorie Werkausgabe wird
Hoffmeisters eigenmächtige Gliederung zurecht kritisiert (T W 4, 74 n und 611 f.)
und - der Sache nach zutreffend, aber editorisch unzulänglich und offenbar ohne
direkten Rückgriff auf das Harvard-Manuskript - korrigiert in „A. Das Bewußt
sein abstrakter Gegenstände; [I. Bewußtsein]“, „[ü . Selbstbewußtsein]“, „[III. Ver
nunft]“ (T W 4, 74, 78, 85). - Die Untergliederung des Kapitels A ist in Hegels
Manuskript völlig stringent und vollständig durchgeführt, es fehlt lediglich zur
Überschrift „Selbstbewußtsein“ die Gliederungsziffer „II.“ - ausschließlich diese
ist in H egels Manuskript editorisch zu ergänzen. In der Schülernachschrift der
Diktate von 1808/09 ist auch diese Gliederungsziffer enthalten.
12 Offenbar hat H egel ursprünglich eine etwas ausführlichere Darstellung der
Vernunft vorgehabt; eine Randnotiz in H egels Manuskript von 1808/09 lautet:
276 U do R a m e il
V
Aus den bisherigen Darlegungen ergibt sich, daß durch Hegels
(unangekündigten) Übergang vom Anfang des Vernunft-Kapi-
tels der Bewußtseinslehre zur Logik das ,Kurzprogramm1 der
Phänomenologie (Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Vernunft)
1808/09 auf eine eher zufällige und - gemessen an Hegels
philosophischer Systematik - recht unerwartete Weise zustande
gekommen ist, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen ist
festzustellen, daß Hegel, solange er eine Geisteslehre plant, die
aus einer Bewußtseins- und einer Seelenlehre (oder Phänome
nologie und Psychologie) bestehen soll, für die Bewußtseins
lehre keineswegs an eine Kurzversion der Phänomenologie von
1807 denkt, sondern im wesentlichen deren vollständiges Pro
gramm als Lehrgegenstand vorsieht - im Unterschied zur späte
ren enzyklopädischen1 Phänomenologie, die ja gerade (gefolgt
16 Das Schülerheft mit den Diktaten von 1808/09 ist nicht nur - neben Hegels
eigenem Manuskript - ein bedeutendes Dokument für den Kursus von 1808/09,
sondern durch H egels eigenhändige Uberarbeitungsnotizen für 1809/10 die ein
zige Textgrundlage, auf der H egels Phänomenologie von 1809/10 rekonstruierbar
ist. (Siehe dazu die in Anm. 9 genannte Edition des Verf.) Da H egel 1808/09 keine
auf die Bewußtseinslehre folgende Seelenlehre vorgetragen hat, fehlen im Schüler
heft der Diktate von 1808/09 naturgemäß Hegelsche Notizen zur eigendichen
Psychologie als zweitem Teil der Geisteslehre von 1809/10; die Psychologie von
1809/10 ist weder durch ein Manuskript H egels, noch durch eine Diktatnach
schrift überliefert.
D ie E n t s t e h u n g d e r e n z y k l o p ä d is c h e n 1P h ä n o m e n o l o g ie 281
VI.
VII.
19 Siehe dazu Verf. 1988: Der systematische Auflau der Geisteslehre in Hegels Nürn
berger Propädeutik. In: Hegel-Studien 23,19-49.
284 U do R a m e il
20 Diese Einleitungen in die Geisteslehre insgesamt (§§ 1-5) und in die Phäno
menologie (§§ 6-11) sind für den Mittelklassenkursus von 1811/12 zur „Geistes
lehre“ oder „Psychologie“, bestehend aus der Lehre vom Bewußtsein und der
Lehre vom eigentlichen Geist, durch eine Nachschrift des Schülers Chr. S. Meinel
belegt; siehe - außer der in Anm. 9 genannten Edition des Verf. - die Abhandlung
des Verf. 1991: Bewußtseinsstruktur und Vernunft. Hegels propädeutischer Kursus über
Geisteslehre 1811/12. In: F. Hespe, B. Tuschling (Hg.): Psychologie und Anthropologie
oder Philosophie des Geistes. Stuttgart-Bad Cannstatt, 155-187.
D ie E n t s t e h u n g d e r e n z y k l o p ä d is c h e n 1P h ä n o m e n o l o g ie 285
21 Zur Stufe der Vernunft siehe Diising, K. 1994: Der Begriff der Vernunft in Hegels
„Phänomenologie“. In: H . F. Fulda, R.-P. Horstmann (Hg.): Vemunftbegriffe in der
Moderne. Stuttgart 1994, 245-260; wiederabgedruckt in diesem Band.
286 U do R a m e il
V III.
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A u s w a h l b ib l io g r a p h ie 295
Personenregister
Rousseau, J.-J. 116, 172, 178, 179, Soll, I. 35, 50, 51, 53
184,250 Solomon, R. C. 36, 48, 49, 53
Rousset, B. 246 Sophokles 13, 20, 32, 171
Russel, B. 42, 43, 48, 53 Spinoza, B. 20, 250
Steffans, H . 172
Scheier, C. A. 36, 53, 55, 59, 67, Stilpo 49
68, 9 0 ,155, 164, 211,221 Strauss, D. F. 27
Schelling, F. W. J. 7, 18, 20, 21,
27, 28, 29, 56, 59, 60, 62, 90, Taylor, C. 38, 4 0 ,4 7 , 49, 53
142, 147, 148, 153, 154, 163, 164, T x ld , D. 46, 53
165, 171, 1 7 2 ,188, 213, 217, 226, Trede, J. H . 110, 184
235, 246, 250, 251 Treviranus, G . T. 172
Schiller, E 15, 172, 179, 183, 184,
215, 258, 259, 261 Verra, V. 256,261
Schleiermacher, F. 216, Vieillard-Baron, J.-L . 255, 256, 261
Schlegel, F. 146, 216, 224
Schlick, M. 45, 41, 53 Wagner, H . 10
Schneider, H . 159, 164 Wahl, J . 132
Schmitz, H . 189, 209, 212, 219, Weisser-Lohmann, E. 31
221, 239, 243 Westphal, K . R. 55, 69, 90
Schopenhauer, A. 165, 184 Westphal, M. 31, 40, 53, 55, 60,
Schütz, A. 160, 163 69, 90
Seba, J.-R . 253, 261 Wiehl R. 36, 53
Seil, A. 10, 31 Wieland, W. 36, 41, 42, 53
Sextus Empirikus 9, 50 Wildt, A. 126, 129
Shakespeare, W 20 Winterls, J. J. 172
Shikaya, T. 10 Wittgenstein, L. 49
Siep, L. 31, 109, 114, 115, 121,
122,124, 128, 129, 192,196, 209 Ziesche, E. 211, 289
Sokrates 40 Zimmermann, R. 104, 107
301
Nachweise