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MORD? DRACHEN! --�

1897 reisten drei Fabelwesen und So spann


Männer per Ballon Teufel: Wie sich die Livia, die Frau
in die Arktis - und Menschen vor 500 des Augustus,
verschwanden. Ein Jahren das Ende im alten Rom
Schweden- Krimi der Welt ausmalten die Fäden
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-
Editorial

Ein deutscher Agent,


der die Nazis foppte?
Was für ein Stoff!

Liebe Leserin, lieber Leser,


manchmal diskutieren wir in unserem Team über Wochen, ob ein
historischer Stoff facettenreich genug ist, um aus ihm einen Titel­
schwerpunkt schöpfen zu können - und mitunter läuft es ganz an­
ders. In diesem Sommer schaute ich
mal wieder Michael Curtiz' meisterhaf­
tes "Casablanca" von 1942, und dabei
fiel mir auf, wie packend allein schon
der Agententhriller ist, der das Liebes­
drama vorantreibt. Tags darauf melde­
te sich unsere Kollegin Ulrike Rückert

Rüdiger Barth. stellvertretender mit der Idee, ein Porträt des Doppel-
Chefredakteur P,M.
agenten "Garbo" zu schreiben, der
im Zweiten Weltkrieg die Nazi-Führungvirtuos gefoppt hatte.
Schnell stand für uns fest: "Hitlers Geheimagenten" ist ein ideales

Titelthema für P.M. History. Die Geschichten, die wir zusammen­


gestellt haben, sind so lehrreich wie span-
nend und nicht selten einfach unglaublich.
Oder wussten Sie, dass Reinhard Heydrich
und Wilhelm Canaris, die beiden wichtigs­
ten Geheimdienstchefs der NS-Zeit, Nach­
barn und sogar Freunde waren?
Ein Leseabenteuer ganz anderer Art:
"Reise in den Tod" von Peter Sandmeyer.
Es erzählt von der dramatisch gescheiter­
ten Andree-Expedition 1897 und schildert
eine detektivische Spurensuche im Eis (sie­
he Faksimile rechts) - Crime vom Feinsten.
Schreiben Sie uns wie immer gern, wie
Geschah im Eis ein Mord?
Ihnen diese Ausgabe gefallen hat: history@
Beweisstück 1: Tagebuch,
pm-magazin.de. entdeckt 1930

Viel Vergnügen beim Schmökern, Ihr


P. M. HISTORY
November 2015

66

Chronologie
..: o
(3 Ln
=- Livia Drusilla Ln

Das Wunderzeichenbuch
CO 5.76 5.86
M

4 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


Inhalt
6 ARENA

50 Eine romantische Zwangsheirat in Japan, die Geschichte des Popcorns


und Bahnbrechendes von, nun ja: stolzen Schildkröten-Forschern. Plus:
Die besten Tipps der Redaktion zu Büchern , Filmen, Ausstellungen

14 ANDREE-EXPEDITION
Steht das Rätsel um die verschollenen Arktis-Fahrer vor der Auflösung?

26 MEISTERWERK: GOETHE IN DER CAMPAGNA


Johann H. W. Tischbeins eigenwilliges Porträt des Dichterfürsten

TITELTHEMA

HITLERS GEHEIMAGENTEN
30 REINHARD HE YDRICH
Kein Agent war so mächtig - und so gnadenlos - wie der Chef des
"
"Sicherheitsdienstes , des Geheimdienstes der NSDAP

37 WILHELM CANARIS
Er war Freund und erbitterter Rivale Heydrichs: der Chef der "Abwehr",
des deutschen Militärgeheimdienstes

42 SABOTEURE IN DEN USA


Wie die Nazis acht handverlesene Attentäter mit dem U-Boot an der
US-Ostküste absetzten - und was nach deren Ankunft geschah

50 DIE CODE-KNACKER
Der dramatische Wettstreit der Dechiffrierer

58
58 DOPPELAGENT "GARBO"
Die unfassbare Geschichte des spanischen Familienvaters Juan Pujol Garcia

66 WERWÖLFE
Das Ende: Deutsche Partisanen verüben Terror gegen Alliierte und "Verräter"

Rubriken 76 LlVIA DRUSILLA


Die Gattin von Kaiser Augustus war die mächtigste Frau Roms
03 Editorial
74 Bücher zum Titelthema
84 ZEITMASCHINE: NELLIE BLY
82 Zahlen der Geschichte
Eine Reporterin lässt sich 1887 in eine geschlossene Anstalt einweisen
94 Rätsel
95 Leserbriefe & Service 86 WUNDERZEICHEN
96 Vorschau & Impressum Wie die Menschen der Frühen Neuzeit Vorboten der Natur deuteten -
98 Sprengsatz spektakuläre Bilder von Katastrophen aller Art

r-.... r-....
TITELTHEMA
00 cn
� Im Irrenhaus � TodimEis Hitlers Geheim­
S.84 S.14 agenten s. 30-73

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 5


ANS EINGEMACHTE

iese Stadt ist ein einziges WAS SEHEN?


D historisches Vermächtnis, Die Glienicker Brücke verbindet

gepflastert mit Orten aus der Berlin und Potsdam. Sie wurde

Kaiser- und DDR-Zeit. Neben berühmt, weil hier zu Zeiten der

dem opulenten Sanssouci (siehe DDR Agentenaustausche statt­

Foto) lohnt das Schloss Cecilien­ fanden. Heute sieht man noch ein

hof einen Besuch. Nach dem Metallband, das den ehemaligen

Zweiten Weltkrieg tagte hier die Grenzverlauf symbolisiert.

Potsdamer Konferenz, bei der WO SCHLAFEN?


die Siegermächte die Teilung Das .Hotel Brandenburger Tor" liegt

Deutschlands in Besatzungs­ zentral an Potsdams kleiner Version Popcorn


zonen besiegelten. Mit den des Bogens. Ruhig und gemütlich,

Zeitzeugenberichten aus dem DZ ab ca. 100 Euro. Warum in 10000 Meter Höhe alle Welt
Audioguide am Ohr und dem WO EINKEHREN? nach Tomatensaft schreit, ist rätselhaft und
Blick auf den Konferenztisch Im urigen "Speckers Landhaus" beschäftigt sogar Naturwissenschaftler.
wird die Geschichte lebendig: (Jägerallee 13) wird gehobene Ihre Antwort nach vielen Jahren des Rätseins
Ach, auf diesen Stühlen saßen regionale Küche in einem denkmal­ und Forschens: In dünner, trockener Luft seien
mal Stalin und Churchill ... geschützten Haus serviert. Sinneswahrnehmungen stumpfer, sodass die
Reisenden nach intensiveren Aromen lechzten.
Die Liaison zwischen Kino und Popcorn erklärt
sich da schon einfacher: Charles Cretors, ein
Bonbonverkäufer aus Illinois, baute die erste
Popcornmaschine 1885, zehn Jahre vor der
ersten Filmvorführung. Hochmodern und
dampfbetrieben, ließen sich mit ihr nicht nur
die beliebten Erdnüsse rösten, sondern auch
rund 20 Pfund Puffmais auf einmal zum
Platzen bringen und mit geklärter Butter und
Zucker überziehen. Ein köstliches Schauspiel
und im Ergebnis dem fetttriefenden Popcorn,
das bis dahin in Drahtkörben über offenem
Feuer zubereitet wurde, weit überlegen. Bei
der Weltausstellung in Chicago 1893 feierte
Cretors dann auch Triumphe und brachte
fortan alle paar Jahre ein neues Modell auf den
Markt. Unterdessen wurde Popcorn zum Snack
für die Massen, ein Tütchen Luxus für wenige
Cent, von fliegenden Händlern vor allem in
kleinen Kinos und Varietes unters Volk
gebracht. Selbst in der Weltwirtschaftskrise
blieb es erschwinglich und darum ein Renner.
Ab den 1930er-Jahren gab es in den USA kein
Filmtheater mehr ohne Popcorn. Neu war das
Ganze allerdings nicht: Ausgrabungen in Peru
belegen, dass schon die amerikanischen
Ureinwohner ihren Mais gern gepoppt zu sich
nahmen - vor 5000 Jahren. Ruth Hoffmann

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P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 9
Arena
Was macht den Fund von Pappochelys so spektakulär?
Baden-Württemberg galt immer als Urheimat der Schild­

0 0 0 UND JETZT kröten. Doch dann wurden Fossilien von Odontochelys, der
Zahnkröte, in China entdeckt. Sie ist rund 220 Millionen
Jahre alt und war von da an die älteste bekannte Entwick­

Derwahre
lungsstufe der Schildkröte. Doch wir haben jetzt nach
langen Jahren der Forschungsarbeit Pappochelys
als noch älteren Ahnvater der Schildkröten zweifelsfrei
bestimmen können. Das ist wie ein Sechser im Lotto.

Großvater
Die Schildkröte kehrt also nach Hause zurück?
Sozusagen. Aber etwas anderes ist viel wichtiger. Nämlich
die Antwort auf die alte Streitfrage, ob die Schildkröten auf
ausgestorbene Urreptilien zurückgehen oder noch heute
lebende Verwandte haben. Unser Fund zeigt eindeutig, dass
P.M. History hat normalerweise die Geschichte der
Schildkröten eng mit heutigen Echsen und Krokodilen, aber
Menschen im Blick. Aber hier mussten wir einfach
auch Vögeln verwandt sind und eben nicht auf Urreptilien
nachhaken: Ein 240 Millionen Jahre alter Fund zurückgehen. Dieses Resultat hat manchem Kollegen, der
klärt das Familienverhältnis der Schildkröte sein Forscherleben lang von der Urreptilienthese über­
zeugt war, erst mal wenig gefallen. Aber dann haben die
meisten doch gesagt: Die Fossilien haben uns überzeugt.
aläontologen sind Forscher, die zu ergründen versuchen, Was ist mit dem anderen Ahnvater, dem Eunotosaurus,

P wie Lebewesen in früheren Erdzeitaltern entstanden


sind. Glückliche Paläontologen sind Forscher, die
bei ihren Grabungen endlich einen Beweis für das finden,
der ja noch älter sein soll als Ihr Fossil?
Bis heute wird gerätselt, ob er in die Schildkrötenlinie
hineingehört. Bei ihm finden sich zwar verbreiterte
woran sie schon immer geglaubt haben. Rainer Schoch Rippen, ein Schildkrötenmerkmal, aber der Schädel ist
vom Naturkundemuseum Stuttgart ist in diesen Tagen ein ganz anders gebaut. Warum so viele Forscher ihn den­
überaus glücklicher Forscher. Er hat einen Stammvater noch als Schildkrötenvorfahr ansehen, liegt daran, dass er
unserer heutigen Schildkröten entdeckt, der noch älter ist bereits Rippen hatte. Schildkröten sind die einzigen noch
als der bereits bekannte aus China, sozusagen den Groß­ lebenden Tiere, die ihren Panzer nicht aus Knochenplat­
vater der Panzertiere: unfassbare 240 Millionen Jahre alt. ten, sondern aus Rippen geformt haben. Bei Pappochelys
Folgerichtig nannte Schoch seinen Fund Pappochelys hingegen passt alles. Er zeigt den Bauplan der Schildkrö­
(griechisch "Pappo" für Großvater). Der Schildkröten-Opa ten in seiner Entstehung.
stammt aus Baden-Württemberg- und Schoch nennt ihn Wie meinen Sie das?
seinen Hauptgewinn. Wir wollten wissen, warum. Bei dem jüngeren Vorfahr,
dem Odontochelys, ist der
Bauchpanzer schon fertig.
Bei Pappochelys noch
nicht. Da kann man
buchstäblich einen Blick
auf die Entstehung eines
Panzers werfen. Denn die
Rippen von Pappochelys
sehen genauso aus wie
bei einem heutigen
Schildkröten-Em­
bryo, bei dem der
Panzer langsam
heranwächst. Das ist
doch fantastisch!
Wie geht es jetzt weiter?
ANTWORT IN STEIN Die Fossilien Wir haben noch viele
von Pappochelys wurden in Vellberg Fragen, etwa: Warum gab
bei Schwäbisch Hall gefunden (oben). das Tier seine Rippen auf,
Rainer Schoch ist 45 Jahre alt und die es doch zum Atmen
Kurator beim Staatlichen Naturkunde­ brauchte, und schuf
museum Stuttgart (oben rechts). Die daraus einen Panzer?
Illustration des Ahnvaters (rechts) Interview: Katharina Jakob

10 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


LESESTOFF BACKSTAGE
DIE RÖMER KOMMEN WAS DIE P.M. HISTORY-REDAKTION
Eine steinerne Grenze, dahinter die barbarische Wildnis: DIESMAL INSPIRIERTE
Das war, aus Römerperspektive, der Limes. Der Text-Bild­
DER

LIMES
Band der Archäologen Marcus Reuter und Andreas Thiel Die mörderisch
bietet jede Menge spannender Informationen über Roms spannenden Intrigen
"Traum von Germanien" und die unterschiedlich gearteten der Herrscher im
AUF DEN SPUREN
Grenzanlagen zwischen Nordsee und Inn. DER RÖMER alten Rom machten
Marcus Reuter, Andreas Thlel Kollege Thomas
Der Limes sprachlos. In Livia
Theiss, 224 Seiten, 49,95 Euro fanden sie ihre Meisterin, stellte
er bei seiner Recherche fest.
Immer wieder drängten sich
TOTALE LEIDENSCHAFT KOLLAPS Ähnlichkeiten zur US-Serie
Warum begeben sich manche Im Jahr 1177 vor Christi "House of Cards" auf. Holly­
Menschen in Lebensgefahr? Geburt geschah für den woods Autoren scheinen gute
Weil sie nicht anders können. Archäologen Eric H. Cline Geschichtskenntnisse zu haben.
Wie Abenteurer ihren Traum der erste Zusammenbruch
von der Überquerung des der Zivilisation. Was damals Geheimgänge unter der Erde,
Ozeans wahr machten. passierte, erzählt der Autor der Nachbar verdächtig!
Ebba D. Drolshagen in fünf spannenden Kapiteln. Zwei kleine britische Jungs
Wie man sich allein auf See EricH. Cline beweisen in Michael Frayns
einen Zahn zieht 1177v. Chr. Roman "Das Spionagespiei"
Corso, 190 Seiten, 26,90 Euro Theiss, 336 Seiten, mitten im Zweiten Weltkrieg
29,95 Euro viel Fantasie. Doch als sie eine
AM ANFANG ihrer Mütter für eine Spionin
Nicht erst mit Alexander dem SCHICKSALSHALBJAHR der Deutschen halten, gerät
Großen beginnt die hellenisti­ Zwischen Januar und Juni das Spiel außer Kontrolle.
sche Geschichte. Eine neue 1919 entschied sich auf der
Überblicksdarstellung von Pariser Friedenskonferenz Q wäre hier Stammkunde: Im
Peter Scholz setzt deutlich Deutschlands Zukunft: Das neu eröffneten Spy Museum in
früher an: beim makedoni­ Ergebnis war der Vertrag Berlin hätte der Waffenmeister
schen Königtum. von Versailles. Packend! von James Bond sicherlich
Peter Scholz Margaret MacMillan Inspiration gefunden: tödliche
Der Hellenismus Die Friedensmacher Regenschirme, brisante BHs
C.H. Beck, 352 Seiten, Propyläen, 736 Seiten, und die KGB-Nuss.
16,95 Euro 34 Euro
Total genial gibt Benedict
Cumberbatch (vorn in der Mitte)

Fund stücke
den Drachen
Smaug oder
den Meisterde­
tektiv Sherlock
Spannende neue Bücher und Filme - über ein mächtiges Bollwerk, Holmes. Auch
als genialer Mathematiker und
den Zusammenbruch der Zivilisation und die Tochter Stalins Code-Entschlüsseler in "The
Imitation Game" überzeugte
der Brite. Der Film fiel unserem
VERLOSUNG TV-DOKUMENTATION
Kollegen Andreas sofort ein, als
Die steinerne Schlange Stalins Tochter er vom Titelthema erfuhr.

Diesen Roman finden wir Sie war die einzige Tochter des russischen "Er ist wieder da"
,.,.
_

so spannend, dass wir Diktators Josef Stalin. Swetlana Stalina litt - Hörbuch, gelesen
unter unseren Lesern zehn unter ihrem grausamen Vater, der ihren , � von Christoph

I
Exemplare verlosen: "Die Maria Herbst.
ersten Geliebten in die Verbannung schickte,
IR Grrrroßartig.
steinerne Schlange" von weil er ein Jude war. Als junge Frau änderte
Iny Lorentz, dem Autoren­ sie ihren Nachnamen in Allilujewa, den
"Geheimer Krieg": So arbeiten
duo, das auch "Die Namen ihrer Mutter, und emigrierte 1967 in
Nachrichtendienste heute. Die
Wanderhure" geschrieben die USA, wo sie
Journalisten Christian Fuchs
hat. Die junge Tochter sich Lana Peters und John Goetz enthüllen in
eines Stammesfürsten will nicht die Geliebte nannte. Die ihrem Buch die Praktiken von
eines römischen Statthalters werden. Sie Dokumentation NSA und CIA in Deutschland.
kämpft um ihre Freiheit und setzt damit ihr zeigt ihr unstetes Lesenswert!
Leben aufs Spiel. So können Sie teilnehmen: Leben und auch
Schicken Sie das Stichwort" Steinerne das letzte, noch nie Ein Denkmal hat "Goldfinger"
Schlange" per E-Mail an history@pm-magazin. zuvor gesendete dem Gentleman-Agenten
de oder per Postkarte an P.M. HISTORY, Interview mit ihr. gesetzt. Kein James-Bond-Film
Kennwort: HISTORY-Rätsel, 20733 Hamburg. ist kultiger. Sean Connery vs.
Einsendeschluss: 17. November 2015 Auf HISTORY am 22. November um 16 Uhr Gert Fröbe. 007 at his best!

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 11


Arena

PLAKATIV

Glühbirne
s war ein Wettlauf bis zur Erleuch­

E
tung: Um dauerhaftes, elektrisches
Licht für alle zu ermöglichen, tüftel­
ten Erfinder im 19. Jahrhundert wie
besessen an der Glühlampe. Offiziell
machte der Amerikaner Thomas Alva Edison
das Rennen. Er erhielt im Jahr 1880 den
Zuschlag für das Basispatent. Seine Version
der Glühlampe bestand aus einem Glaskolben
mit einem Kohleglühfaden aus Bambusfasern.
Sie brannte 45 Stunden, was damals als Rekord
galt. Auch ein deutscher Erfinder hatte um
das Patent gekämpft: Der Uhrmacher Heinrich
Göbel gab an, bereits in den 1850er-Jahren
eine Glühlampe mit Kohlefaser konstruiert
zu haben, blieb aber den Beweis schuldig.
Edison war nicht nur schneller als andere,
sondern auch geschäftstüchtiger und begann
die Massenproduktion. Er setzte sich zudem
für die Elektrifizierung ein, damit der Absatz­
markt wuchs. Mehr als ein Jahrhundert lang
erhellte die Glühbirne fortan tapfer die Nächte.
Österreich (1938): Völlig überdimensioniert wird hier die Glühbirne von
Bis sie, zumindest in Europa, vor einigen
einer Frau vor dem Markenlogo .Elix· angepriesen. Die Erfindung wurde
Jahren verboten wurde - nun sorgt die Energie­ damals noch als .,dauerhafte Lampe· beworben, auch wenn dies natürlich ein
sparlampe dafür, dass es nicht dunkel wird. gewagtes Werbeversprechen war, denn die Drähte verglühten mitunter rasch.

Deutschland (1916): Deutschland (um


Im Mund eines traurig 1910): Sogar der Teufel
schauenden schwarzen scheint sich zu freuen,
Hundes mit blutroten dass nun Licht in die
Augen baumelt eine Dunkelheit gebracht
Glühlampe vor einem wird. Die Glühbirne wird
Sternenhimmel. Sie ist auf diesem Plakat als
das einzig Erhellende auf strahlende Kraft in einer
diesem eher finsteren Goldfassung präsentiert.
Werbeplakat, das im Was .halbe Gaserspar­
Krieg erschien. Besser nis· bedeutete? Die
wäre es taghell, wenn Konsumenten jener Zeit
man diesem Ungetüm wussten dies ganz
begegnete. bestimmt.

12 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


1111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111111"""'""'""'""""""'""'""""'"""''''''" ""'"""""""'

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Der Abschied: Die
Andree-Expedition hat
sich auf den Weg zum
Nordpol gemacht. Das
�ild, aufgenommen
kurz nach dem Start
am 11. Juli 1897, zeigt,
wie der Ballon nach
dem Aufstieg vom
Wind bis aufs Wasser
herabgedrückt wird
POLAREXPEDITION

Von Peter Sandmeyer

enn man einen alten pe, kein Internet im Haus. Der Mann

W
Hasen mit einem har­ hat viel Zeit zum Lesen. Und er liest
ten Hund kreuzt und gewissenhaft. Besonders interessiert
noch einen Schuss liest er Berichte über die Entdecker in
Indiana Jones hinein­ den polaren Eisregionen, die er selbst
züchtet, müsste das Ergebnis ungefähr gut kennt. Eine Erzählung, vielleicht
so aussehen wie Hauke Trinks. Stäm­ die mysteriöseste der gesamten Polar­
mige Figur, kurzes graues Haar, Raub­ geschichte, faszinierte ihn besonders,
tierlächeln; ein nicht besonders großer, weil so viele Fragen offenblieben.
ungemein drahtiger Mann, dem man Die Andree-Expedition fand 1897
nicht ansieht, dass er 72 ist. statt, sie endete mit dem Tod der drei
Der Wissenschaftler war Fallschirm­ Teilnehmer und gilt bis heute in Schwe­
jäger der Bundeswehr, Professor für den als klassisches Beispiel für tragi­
Experimentalphysik in Troms0 und sches Scheitern. "Andree und seine
Präsident der Technischen Universität Männer waren edle Menschen, die sich
Hamburg-Harburg. Schlagzeilen aber wie wahre Helden schließlich der
machte er als draufgängerischer Ein­ Übermacht der Natur beugen muss­
handsegler, der zweimal im Eis von ten." So verkündete es der offizielle
Spitzbergen überwinterte. Der Mann Untersuchungsbericht, der erst 33 Jah­
und sein Segelboot, beide aus Stahl, re danach entstand. Trinks, generell
sind an allen Küsten des Nordatlantiks skeptisch gegenüber Heldenlegenden,
bekannt, in Island wie in Grönland und machte sich an die Arbeit.
ganz besonders in Spitzbergen. Salomon August Andree, 1854 in
Heute wohnt der Forscher, der drei Gränna am Vätternsee geboren, war in
Kinder hat und zehn Enkel, allein in seiner Jugend und seinen frühen Er­
einem 130 Jahre alten Fischerhaus auf wachsenenjahren ein missvergnügter
der kleinen Insel Utsira vor der Süd­ Mensch, der vieles ausprobierte, um
westküste Norwegens, sechs Quadrat­ Anerkennung zu finden. Nach einer
kilometer, 200 Einwohner, keine Knei- Kurzausbildung zum Ingenieur ging er

Die Andree-Expedition gilt bis heute in S


klassisches Beispielfür tragisches Sche
16 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015
Detektivarbeit
Linke Seite: Hauke Trinks mit
seinem Hund auf Spitzbergen.
Der frühere Physikprofessor und
leidenschaftliche Einhandsegler
hat die Geschichte der Expedition
akribisch recherchiert. Seine
Schlüsse werfen ein ganz neues
Licht auf die Ereignisse vor
118 Jahren. Großes Foto: Die
Aufzeichnungen des Expeditions­
leiters Salomon August Andree
werden in einen Pullover
gewickelt gefunden. Unten: die
Kamera des mitreisenden
Fotografen Nils Strindberg

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 17


POLAREXPEDITION

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L
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...
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, . "
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Irrweg im Eis
Die rekonstruierte Strecke
der Polarexpedition zeigt:
Schon drei Tage nach dem
Start muss der außer Kurs
geratene und undichte
Ballon notlanden. Die
Gruppe will zu Fuß zurück
nach Spitzbergen, lässt sich
nach einem Zickzackkurs
zur Küste auf einer Eis­
scholle bis Vit0 treiben, wo
die drei Männer schließlich
umkommen. Warum, könnte
nun endlich geklärt sein

in die USA, kehrte aber bald mittellos Annäherung an den Nordpol erreicht. Erik Nordenskiöld. König Oskar 11. und
zurück; er nahm an einer Polarexpe­ Schwedens Selbstbewusstsein ist ange­ Dynamit-Erfinder Alfred Nobel betei­
dition teil, bei der er ziemlich versagte; schlagen. Die Nation sucht nach einer ligen sich finanziell, das Projekt ist
er fand schließlich einen Job im Patent­ Demonstration ihrer Größe und Bedeu­ binnen weniger Wochen gesichert. Mit
büro und saß eine Zeit lang sogar im tung. Der Wettlauf zum Pol, einem der Hurra-Rufen wird die Expedition am
Stockholmer Stadtparlament, aber alles letzten weißen Flecken auf dem Glo­ 7. Juni 1896 in Göteborg Richtung
ohne den ersehnten Erfolg. bus, ist die Herausforderung der Zeit. Spitzbergen verabschiedet.
Wahrgenommen wird er erst, als er Andree selbst ist vom Tempo dieser
sich zu einem Pionier der Ballonfahrt as bringt den geltungshungrigen Entwicklung vollkommen überrascht.
entwickelt und ihm eine Stiftung einen
Wasserstoffballon finanziert. Seine wei­
ten, waghalsigen Flüge nach Gotland
D Andn!e auf eine verwegene Idee:
Er geht davon aus, dass es eine
zuverlässige Luftströmung von Nord­
Schneller als er es sich je träumen ließ,
ist sein Expeditionskorps im Nord­
westen Spitzbergens, wo es auf einem
und über die offene Ostsee machen ihn spitzbergen über den Nordpol nach kleinen Uferplatz von Danshya sein
endlich bekannt. Alaska gibt, und er möchte sie nutzen, Basislager aufschlägt. Nach Andrees
Schweden steckt in jener Zeit in um mit einem Riesenballon als erster Expeditionsschiff heißt der Platz heute
einer Identitätskrise. Der kleine Bruder Mensch den Nordpol zu erreichen. "Die "Virgo-Bucht". Ein Schutzhaus für den
Norwegen hat sich immer stärker aus neue Zeit gehört der modernen Tech­ Ballon wird errichtet und die Anlage
der Union gelöst, erlebt einen national­ nik, die mühselige Schlepperei mit zur Produktion von Wasserstoffgas auf­
patriotischen Aufschwung, vor allem Schlitten durch das Eis ist Vergangen­ gebaut. Besucher aller Art kommen und
dank seiner Polarforscher. Der Nor­ heit", verkündet er. Und obwohl seine gehen, vor allem Journalisten.
weger Fridtjof Nansen ist es, der 1888 Idee lediglich auf einer vagen Annahme Doch der Wind spielt nicht mit. An­
als Erster das Grönlandeis auf Skiern beruht, begeistert sich sofort ein Lands­ ders als vorhergesagt, bläst er nicht aus
durchquert und auf seiner Expedition mann für sein Vorhaben, der erste Süd, sondern anhaltend aus Nord. Im
mit der "Frarn" 1893 bis 96 die größte Bezwinger der Nordostpassage, Adolf August muss das Unternehmen abge-

18 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


Allzu blauäugig
Vor der Abreise voller Zuversicht:
Expeditionsleiter Salomon Andree
(rechts) mit seinen Reisegefährten
Nils Strindberg (Mitte) und Knut Framkel
1fi'f.Na'chIIISS des Expeditionsfotografen
Nils Strindberg finden sich 1930
auch diese Aufnahmen: die Lage nach
der Notlandung des Ballons "Örnen"
(Adler) am 14. Juli 1897 sowie
Strindberg und Fra:mkel (unten, links
im Bild) mit einem erlegten Eisbären.
Rechte Seite unten: bei Strindbergs
Leiche entdeckte Filmrollen

20 P.": HISTORY - NOVEUBER 2015


Die Nähte des Ballons sind undicht, die Steuerseile
funktionieren nicht, der Wind treibt ihn hin und her
brochen werden. Der angesehene Mete­ Hauke Trinks staunt, als er liest, voller Eiswasser durchzogen war. Ex­
orologe Nils Gustaf Ekholm hat inzwi­ was alles den drei Ballonfahrern zur peditionsleiter Andree ließ seine zu­
schen die Fehlerhaftigkeit seiner Wind­ Verfügung stand. Er kennt etliche Be­ sehends entkräfteten Männer zunächst
Hypothese erkannt und überdies fest­ richte von Männern, die gezwungen wochenlang einen sinnlosen Zickzack­
gestellt, dass der Ballon sich niemals waren, einen arktischen Winter mit kurs verfolgen, bevor sie sich der Drift
30 Tage lang in der Luft halten würde. deutlich schlechterer Ausrüstung zu des Treibeises anvertrauten und mit
Er steigt aus dem Projekt aus, warnt überleben, und denen das gelang. Wa­ ihrer Eisscholle am 3. Oktober 1897 auf
vor dem Flug. Vergeblich. Ekholm wird rum starben Andree und seine Gefähr­ Vit0 strandeten.
von Andree gegen den 27-jährigen Bau­ ten? Und woran? Das Urteil der schwedischen Kom­
ingenieur Knut Fnenkel ausgetauscht, Die Entdeckung des Todeslagers auf mission ist rasch gefasst: Andree und
sportlich und kräftig, ein einfaches Vit0 löst in Stockholm Hektik aus. Nor­ seine Männer hätten die Insel mit letz­
Gemüt. König Oskar und Alfred Nobel wegen ist inzwischen eine unabhän­ ter Kraft erreicht, krank und total er­
spendieren frisches Geld. Und ein Jahr gige Nation, die Insel gehört zu ihrem schöpft; Strindberg sei zuerst gestor­
später, am 11. Juli 1897 um 13.46 Uhr, Hoheitsgebiet, doch Schweden drängt ben, die anderen seien dann ihrer
ist es so weit: Mit Andree, Frrenkel und auf eine eigene Regierungskommis­ Entkräftung und der bitteren Kälte er­
dem 25-jährigen Physiker, Chemiker sion, die sich auch sofort auf den Weg legen. Drei tapfere Helden.
und Fotografen Nils Strindberg startet macht. Die geborgenen Gebeine der
der "Adler" getaufte Ballon in Richtung Toten werden untersucht und die Auf­ erade als sich dieser Mythos
Nordpol. Während er aufsteigt, ruft der
Expeditionsleiter mit kräftiger Stimme:
"Es lebe das Vaterland Schweden!" Es
zeichnungen ausgewertet. Auch Foto­
platten sind entdeckt worden.
Schon am dritten Tag ihrer Luft­
G zu verbreiten beginnt, erscheint
die schwedische Zeitung "Da­
gens Nyheter" am 7. September 1930
ist das Letzte, was man von ihm je ge­ fahrt hatten Andree und seine Gefähr­ mit einem sensationellen Bericht. Ihr
hört hat. ten die Ventile ihres Ballons geöffnet, Reporter Knut Stubbendorff war auf
das Gas abgelassen und waren auf dem eigene Faust noch einmal nach Vit0

D
ie drei Ballonfahrer verschwin­ Eis gelandet. Die Nähte ihres Ballons gefahren, wo der Eishügel, der das
den im nördlichen Himmel über waren undicht, die Seile, mit denen er Andree-Lager bedeckt hatte, inzwi­
Spitzbergen. 33 Jahre bleiben gesteuert werden sollte, funktionierten schen weiter abgeschmolzen war. Der
sie trotz mehrerer Suchexpeditionen nicht, der Wind trieb ihn mal hierhin, Reporter entdeckte eine Art Wohnhütte
spurlos verschollen. mal dorthin, jedenfalls nicht zum Nord­ und darin die bekleidete Leiche von
Dann kommen am 6. August 1930 pol, und die Ballonhülle verlor unter Knut Frrenkel, dem dritten Expedi­
einige Norweger mit ihrem Schiff an dem Gewicht gefrierenden Eisnebels tionsteilnehmer, der seine Notizbücher
der nordöstlich von Spitzbergen ge­ ständig an Tragfähigkeit. Möglicher­ bei sich hatte. Außerdem fand Stubben­
legenen kleinen Insel Vit0 vorbei. Sie weise zwangen die beiden Jüngeren dorff außerhalb der Hütte zwei bear­
wollen an Land gehen und Seehunde den älteren Andree zur Landung, solan­ beitete Eisbärfelle, eine Pyramide aus
jagen. Dabei stoßen sie auf ein mit ge ein Rückmarsch nach Spitzbergen Treibholz, das zum Trocknen aufge­
Segeltuch bespanntes Boot, halb im über das Eis noch zu bewältigen war. In schichtet war, einen bepackten Schlit­
Schnee vergraben. Und zehn Meter öst­ ihrer Ausrüstung fehlten weder Schlit­ ten und viele weitere Indizien, dass die
lich auf eine Leiche, die als Salomon ten noch ein zerlegtes Boot. Männer längere Zeit auf der Insel ge­
August Andree identifiziert wird. Seine Doch es war eine ungeheure An­ lebt hatten. Der Journalist wunderte
Tagebücher trägt er, gegen Wetter und strengung, die viel zu schwer belade­ sich: "Es wirkt in auffälliger Weise so,
Zerfall geschützt, unter der Kleidung. nen Schlitten über diese gespenstische als ob die unglücklichen Menschen in
Die Überreste eines weiteren Toten in arktische Urlandschaft aus Packeis zu einer plötzlich hereinbrechenden Kata­
einem primitiven Grab werden entdeckt zerren, die immer wieder von Rinnen strophe umgekommen wären, in einem
sowie ein Winterlager, in dem es an furchtbaren Sturm, einer überwälti­
nichts fehlt: Es gibt Kocher und Petro­ genden Kälte, denn die Zeugnisse der
leum, Gewehre und Munition, Medi­ ursprünglichen mustergültigen Organi­
kamente, Harpunen, Werkzeug, reich­ sation des Lagers sind offensichtlich."
lich Kleidung, Schlafsäcke, Konserven, Hauke Trinks wunderte sich noch
Bücher und vieles mehr; so­ mehr. Ein furchtbarer Sturm,
gar eine Flasche Portwein, der die Treibholzpyramide
1834er "Antonio de Ferrara", stehen ließ? Eine überwäl­
ein Geschenk des Königs. tigende Kälte, ohne dass die

P.M. HISTORY - NOVEMBER 2015 21


POLAREXPEDmON

Das letzte Bild


Innenansicht aus dem
Notlager der Expedition -
rechts das umgedrehte
Boot, durch das man 1930
auf diesen Ort aufmerk­
sam werden wird

22 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


Einer will um jeden Preis zurück. Einer sucht den
Morphiumrausch. Der Dritte hat allein keine Chance

P. M. HIS TORY - NOVEMBER 2015 23


POLAREXPEDITION

Heimkehr der Helden


Unter großer Anteilnahme der schwedischen Bevölkerung werden die 1930
geborgenen sterblichen Ü berreste der Expeditionsteilnehmer per Kriegsschiff
nach Stockholm überführt. In der Hauptstadt wird halbmast geflaggt

wärmenden Eisbärfelle in die Hütte Männer der Arktis. Man kommt auch
geholt wurden? Warum der gepackte mal wieder auf die Rätsel der Ballon­
Schlitten? Weshalb lag der tote Strind­ fahrt zu sprechen. Trinks, der Norwe­
berg unbekleidet unter einer rohen gisch und Schwedisch spricht, erzählt
Steinschüttung, die nicht mal mit einem von seinen Zweifeln. Ein Mann in der
Holzkreuz als Grab gekennzeichnet Runde hört ihm genau zu, sagt aber
war? Und warum gab es in den Auf­ wenig. Trinks kennt ihn kaum. Als er
zeichnungen von Andree keine Ein­ am nächsten Morgen auf seinem Schiff
tragung über Strindbergs Tod und Bei­ mit den Vorbereitungen zur Abfahrt
setzung? In dieser Geschichte passte beschäftigt ist, poltert der Zuhörer des
nichts richtig zusammen. Und myste­ Vorabends plötzlich an Bord und legt
riös blieb auch ihre Fortsetzung. einen dicken Umschlag auf den Tisch
Schwedens tote Polarhelden wur­ der Kajüte. "Das interessiert dich viel­
den per Kriegsschiff heimgeholt nach leicht", sagt er, "ich schenke es dir."
Stockholm; in allen Zwischenhäfen gab Und verschwindet wieder.
es pathetische Reden, in der Hauptstadt Das Manuskript darin erweist sich
wehten alle Fahnen auf Halbmast, und als der medizinische Teil des Unter­
Tausende von Menschen mit entblöß­ suchungsberichts von 1930 mit dem
ten Häuptern entboten den schwarz Bericht über die Sektion der Leichen,
verhängten Leichenwagen ihren Salut. der nie veröffentlicht wurde; ergänzt
Der König persönlich nahm die Särge um einen jüngeren medizinischen
in Empfang. Ein paar Tage blieben sie Kommentar von 2010. Trinks liest und sehr schwaches Indiz nach 33 Jahren
noch im Stadthaus stehen; dann wur­ ist perplex. Er erfährt zum ersten Mal, Lagerung unter Eis und Schnee.
den sie flugs verbrannt. Ein Schleier dass der Medizinvorrat der Männer Die eigentliche Sensation des Be­
ehrfürchtigen Schweigens legte sich zum Zeitpunkt ihres Todes fast unange­ richts aber ist ein Bild des Schädels von
über die Toten von Vit0. rührt war. Vergiftungen, Entzündun­ Strindberg, das auf seiner Stirn ein
gen oder Infektionen können sie folg­ kreisrundes Loch zeigt - "von der Größe
kzeptiert wurde weithin die Ver­ lich kaum gehabt haben, da sonst die einer Zehn-Öre-Münze", wie der Sek­

A sion des Untersuchungsberichts:


Danach wurde Strindberg von
einem Eisbären angegriffen und ge­
fiebersenkenden Medikamente ange­
brochen gewesen wären. Weitgehend
aufgebraucht war hingegen der Vorrat
tionsbericht lakonisch festhält. Das sieht
eindeutig nach einem Einschussloch
aus. Doch der Obduktionsbericht von
tötet, die geschwächten Überlebenden an Morphintabletten. Andree, der im 1930 ignoriert dieses Loch. Und der
Andree und Frcenkel hätten ihn noch Freien aufgefunden wurde, an eine Kommentar von 2010 kommt zu dem
notdürftig bestattet und seien dann Felswand gelehnt, hatte eins der Schluss, es könne sich gar nicht um ein
selbst Seite an Seite verstorben. Fläschchen mit Morphium in Tabletten­ Einschussloch handeln, weil dessen
Auch Hauke Trinks muss sich mit form bei sich, ebenso Frcenkel. Auch Durchmesser mit keinem Patronen­
dieser Version abfinden. Doch 2011 der Bericht über die Untersuchung der kaliber der Expeditionswaffen überein­
liegt der Professor mit seinem Segel­ Leiche von Strindberg war überra­ stimme. Tatsächlich nicht? Trinks will
schiff mal wieder im Hafen von Long­ schend. Es waren nämlich gar keine das wissen. Er klappert die Antiquitä­
yearbyen, dem Hauptort von Spitzber­ eindeutigen Spuren einer Eisbären­ tengeschäfte von Troms0 ab, bis er eine
gen, und geht abends auf ein Bier in attacke festgestellt worden. Die Eisbär­ Münzsammlung mit 80 Jahre alten
den "Barents Pub", seine Stammknei­ Hypothese stützte sich lediglich auf Öre-Stücken auftreibt. Er kauft sie.
pe, wo sich weitere Stammgäste ein­ den Zustand des Kleiderbündels, das 15 Millimeter beträgt der Durchmesser
finden, Jäger, Fischer, Touristenführer, bei dem Toten gefunden wurde - ein der Zehn-Öre-Münze. Das nächste Ziel

Endlich nimmt die furchtbare Wahrheit Gestalt an:


Es war Mord, gefolgt von zwei Suiziden
24 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015
Zeilen schrieb. Seine Zweifel daran, ob
ihr Führer Andree willens und imstan­
de war, sie zurückzubringen, mussten
von Tag zu Tag gewachsen sein.

e länger sich Hauke Trinks mit

J den vielen Details der Fundstätte


auf Vit0 beschäftigt, desto siche­
rer ist er, dass sich dort ein ganz ande­
res Geschehen ereignet hat, als die re­
gierungsamtliche Darstellung bis heute
glauben machen will.
Seine Sicht der Dinge ist plausibel,
und tatsächlich passt plötzlich alles zu­
sammen: ein zur Heimkehr entschlos­
sener Strindberg, der zu Aufbruch und
Weitermarsch zum leicht erreichbaren,
rettenden Nordostland drängt, bevor
die Polarnacht einsetzt; ein bewusst
verzögernder Andree, der sein Ansehen
als Führer längst verloren hat; ein Kon­
flikt zwischen beiden, der eskaliert; der
gepackte Schlitten, vielleicht das Signal
Strindbergs, notfalls allein aufzubre­
chen; der zornige, jähzornige, um seine
Führungsautorität gebrachte Andree;
der Schuss in die Stirn; die Entkleidung
des Professors ist Troms0s größtes Waf­ physische Anstrengung, Kälte, Dunkel­ des Toten, um verborgene Aufzeich­
fengeschäft. Er inspiziert Waffen, wie heit und Isolation so unter Druck ge­ nungen bei ihm zu finden; das hastige
Andree sie mitgeführt hat, zwei einläu­ raten, dass Konflikte zwischen ihnen Steingrab für den Erschossenen; das
fige Remington-Gewehre und ein dop­ zu mörderischen Auseinandersetzun­ Fehlen aller Angaben über Strindbergs
pelläufiges Gewehr aus schwedischer gen eskalieren. Besonders wenn die Tod in den ansonsten penibel geführten
Produktion. Aus den einläufigen Flin­ Führung schwach und der Streitstoff Aufzeichnungen von Andree; die wahr­
ten, von denen eine bei Andrees Leiche groß ist. Wie bei Andree und seinen Ge­ scheinliche Manipulation der Notizen
gefunden wurde, lassen sich zwei Ar­ fährten. Kern ihres Konflikts, da ist sich von Strindberg; der suizidale Kälte­
ten von Munition verschießen - Schrot­ Hauke Trinks ziemlich sicher: Andree tod Andrees unter freiem Himmel im
patronen gegen Vögel oder Einzelpro­ wollte die Rettung gar nicht. Denn was Morphiumrausch; und ein resignierter
jektile gegen Großwild wie Eisbären. hätte ihn, den nach Anerkennung Süch­ Nachfolge-Suizid des letzten Überleben­
Und der Durchmesser dieser sogenann­ tigen, in Schweden erwartet? Nichts den Fr<enkel.
ten Slug-Munition beträgt 14 bis 15 Mil­ als Häme, Spott und Vorwürfe. Er war So interpretiert, wäre das bis heute
limeter. Passt. Und das medizinische gescheitert, aber keineswegs heroisch, als rätselhaft geltende Ende der Andree­
Bulletin irrt. Strindberg kann durchaus sondern durch eigene Stümperei. Und Expedition enträtselt. Kein Anlass für
mit einem Stirnschuss aus Andrees Ge­ es gab dort auch keinen Menschen, der pathetische Reden. Einfach nur die
wehr getötet worden sein. ihn liebend zurückerwartete. Warum Wahrheit.
Die Möglichkeit eines Mordes oder also eine Heimkehr in Schande? Lieber Professor Dr. rer. nato Hauke Trinks
Totschlags weist der Kommentar von im Morphiumrausch vergehen und als ist sich ganz sicher: Sie ist es.
2010 entschieden zurück: Erstens wäre Mythos weiterbestehen.
das eine äußerst ungewöhnliche Todes­ Nils Strindberg und Knut Fr<enkel
art und zweitens wäre ein Mordmotiv hatten beide noch eine große Zukunft Peter Sandmeyer, lange

überhaupt nicht erkennbar. vor sich, vor allem Strindberg, der am Jahre Autor des .. stern". hat

Ungewöhnlich? Auch das sieht Hau­ Beginn einer wissenschaftlichen Karri­ schon viele verwickelte

ke Trinks anders. Aus den Berichten ere stand, sich auch noch kurz vor dem Geschichten aufgeschrie­

arktischer Expeditionen kennt er eine Ballonstart verlobt hatte und seiner ge­ ben - doch diese hier gehört eindeutig zu

Reihe von Beispielen, dass Menschen liebten Anna auf dem Blutmarsch über den faszinierendsten.

unter den extremen Belastungen durch das Eis abends im Zelt sehnsüchtige

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 25


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HITLERS AGENTEN

REINHARD HEYDRICH
S S-GENERAL, HOLOCAUST-PLANER, SUPERAGENT
In wenigen Jahren baut er den mächtigsten Geheimdienst des Dritten Reichs
auf. Wer in seiner Feindkartei steht, muss um sein Leben fürchten

Von Hauke Friederichs

s ist ein sonniger Frühlingstag, als sich einer der In Prag bekämpften Heydrichs Agenten bereits die Feinde

E
mächtigsten Männer des Dritten Reichs von seiner Hitlers, bevor 1939 die Wehrmacht die Tschechei komplett
schwangeren Frau Lina, von seinen Söhnen Heider besetzte. Dort kundschafteten seine Männer - und mordeten.
und Klaus und der Tochter Silke verabschiedet. Und ganz in der Nähe der Hauptstadt spielte sich 1935 ein
Reinhard Heydrich, stellvertretender Reichsprotek­ echter Agententhriller ab.
tor von Böhmen und Mähren, wird seine Familie einige Tage Am 9. Januar jenes Jahres ließ Heydrich in Berlin einen
nicht sehen. Adolf Hitler, Reichskanzler und Führer der Vertrauten in sein Büro kommen. Als der SS-Untersturm­
NSDAP, wartet auf ihn in Berlin. Heydrich steigt in die offene, führer Alfred Naujocks den Raum betrat, überreichte ihm der
feldgraue Mercedes-Limousine, die vor dem Portal auf ihn Chef wortlos ein Foto. Es zeigte einen jungen Mann, mit offe­
wartet, und setzt sich nach vorn, neben den Chauffeur. Er nem Gesicht. "Das ist Rudolf Formis", sagte Heydrich. "Er
will an diesem 27. Mai 1942 von seinem Landsitz im tsche­ ist untergetaucht und strahlt Rundfunksendungen gegen
chischen Jungfern-Breschan nach Prag fahren. Dort wartet den Nationalsozialismus aus." So schildert es ein Biograf.
sein Flugzeug, das er selbst in die Hauptstadt steuern will. Heydrich befahl: "Bringen Sie Formis nach Berlin. Lebend!"
Heydrich trägt die schwarze Uniform der Schutzstaffel Spezialisten des Sicherheitsdiensts hatten den Standort
(SS), an seiner Mütze prangt ein silberner Totenkopf. Bei sich von Formis' Sender per Funkpeilung geortet, 60 Kilometer
hat er nur eine kleine Aktentasche. Wie meist verzichtet er südwestlich von Prag. Naujocks fuhr mit dem Wagen in die
auf eine Eskorte und auf Leibwächter. Neben sich im Wagen Tschechei. Ihn begleitete eine Freundin, sie gaben sich als
hat er eine Pistole gelegt - mehr Schutz will er nicht. Warum Ehepaar aus. Im Hotel Zahofi im Ort Dobfic entdeckte er den
sollten seine Tschechen ihm denn Böses wollen, hat Heydrich Sender und besorgte sich einen Schlüssel für Formis' Zimmer.
noch im Frühjahr 1942 einem Besucher gesagt. "Gefunden", telegrafierte er nach Berlin. Dann flog er zurück,
Mit 38 Jahren ist Heydrich der wichtigste Geheimagent um weitere Befehle von Heydrich einzuholen.
der Nationalsozialisten. Er lenkt den Sicherheitsdienst, ihren
bedeutendsten Geheimdienst, und ihm vertraut Adolf Hitler. essen Plan hörte sich simpel an: Naujocks und ein
Heydrich soll die Feinde des Dritten Reichs im In- und Aus­
land bekämpfen, gnadenlos. In seinem Auftrag entführen
SS-Männer gegnerische Agenten und Oppositionelle. Sie
D weiterer SD-Mann sollten in das Zimmer des Funkers
eindringen, Formis mit Chloroform betäuben und ent­
führen. Mit Phosphor sei der Sender dann zu zerstören. In der
begehen Anschläge und Morde, sie spionieren, und in den Nacht zum 23. Januar schlugen Naujocks und sein Kollege
besetzten Gebieten jagen sie Juden und Kommunisten. zu - doch Formis zückte eine Pistole, verwundete Naujocks.
Heydrichs Fahrer tritt auf das Gaspedal, der große, sechs­ Die SD-Männer schossen zurück und töteten ihn. Bevor die
sitzige Wagen verlässt schnell den Innenhof des Schlosses, Nazis flohen, zerstörten sie die Sendeanlage. Dann eilten sie
fährt durch eine weite Parkanlage und durch das Tor, das von nach Berlin zurück. Heydrich zitierte sie in sein Büro. Dort
zwei steinernen Löwen bewacht wird. Wie immer nimmt der traf sie die Wut des sonst so kontrollierten SD-Chefs: Heydrich
Chauffeur denselben Weg. Er führt durch ein sanftes Hügel­ empörte sich über ihr dilettantisches Vorgehen. Das sei ja,
land, 20 Kilometer hat Heydrich vor sich. entfuhr es ihm, "wie in einem Gangsterfilm".
Am Prager Stadtrand warten bereits zwei Männer auf den Heydrich war Perfektionist. Er verachtete die gierigen,
SS-Obergruppenführer. Sie lauern an einer Haarnadelkurve. korrupten Parteibonzen, die Dummköpfe der SA, die nach
Hier kann der Wagen nur langsam fahren. der Machtergreifung den Kampf gegen die Feinde des Reichs
Ein perfekter Ort, um Rache zu nehmen. für beendet hielten. Der Kampf war für ihn nicht vorbei.

32 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


HITLERS AGENTEN

Heute gilt er als der Prototyp eines fanatischen, skrupel­


losen Nationalsozialisten. "Menschliches Monster" nennt ihn
der französische Historiker Edouard Calic und erklärt ihn zur
"Schlüsselfigur des Dritten Reiches". Eine "leidenschaftslose
Kälte" bescheinigt ihm der Biograf Günther Deschner.
Bereits als Kind, das schildern Zeitgenossen, sei Heydrich
ein ehrgeiziger Einzelgänger gewesen. Am 7. März 1904 kam
er als Sohn des Komponisten Bruno Heydrich und dessen
Frau Elisabeth in Halle zur Welt. Er wuchs in einer kleinbür­
gerlichen Familie in Halle an der Saale auf, bestand 1922 das
Abitur. Danach trat er in die Reichsmarine ein. Er wurde zum
Nachrichtenoffizier ausgebildet, arbeitete als Funker, stieg
zum Oberleutnant auf. Doch ein peinlicher Skandal beendete
im April 1931 seine Karriere. Eine junge Frau warf ihm
vor, sein Heiratsversprechen nicht eingehalten zu haben. Ein
Ehrengericht der Marine tagte - Heydrich wurde entlassen.

G
edemütigt und arbeitslos suchte er nach einer neuen
Aufgabe. Ein Freund der Familie, Karl von Eberstein,
hochrangiger Nazi in Bayern, stellte einen Kontakt zu
Heinrich Himmler her, dem "Reichsführer SS". Die "Schutz­
staffel", 1925 als Leibwache Hitlers gegründet, hatte damals
10 000 Mitglieder. Sie trugen schwarze Uniformen und un­
terstanden einem strikten System von Befehl und Gehorsam.
Das gefiel Heydrich, der die hierarchische Welt des Militärs
vermisste. Er trat am 1. Juni 1931 in die NSDAP ein und er­
hielt die Mitgliedsnummer 544916. Innerhalb der Partei kam
für Heydrich nur die SS infrage - die Elite.
Himmler bestellte Heydrich nach München. Binnen
20 Minuten, so befahl Himmler, solle der ehemalige Marine­
offizier skizzieren, wie ein Geheimdienst aussehen müsste.
Das Bild vom britischen Secret Service vor Augen, über den er
viel gelesen hatte, entwarf Heydrich die grobe Struktur einer
Spionage- und Abwehrabteilung. Himmler war beeindruckt
von dem selbstsicheren jungen Sachsen und stellte ihn ein.
Im Braunen Haus in München, der protzigen Zentrale der
NSDAP, gründete Reinhard Heydrich den Sicherheitsdienst
(SD). Er betrieb "Feindaufklärung", erstellte eine Kartei mit
Informationen über politische Gegner - spionierte aber auch
parteiinterne Konkurrenten seines Chefs aus. Der SD war
nicht der einzige Geheimdienst der Partei, mehrere Nazi­
Organisationen betrieben solche Abteilungen (siehe Kasten
auf Seite 39). "Ich werde diesem Wirrwarr ein Ende machen",
sagte Heydrich zu seiner Verlobten Lina von Osten. So schildert
sie es in ihrem Buch "Mein Leben mit Reinhard". Im In- und
Ausland baute er ein Netz von Spitzeln und Informanten auf.
Monster und Familienmensch Im Dezember 1931 heiratete Heydrich Lina von Osten.
Seinem Mitarbeiter Alfred Naujocks befiehlt Heydrich, Als die SS im Jahr darauf vom Staat verboten wurde, zog der
einen Funker aus Tschechien zu entführen (oben). Die SD, als Presse-Informationsdienst getarnt, in das Münchner
SS-Männer erschießen ihr Opfer jedoch. "Menschliches Haus der Heydrichs ein. Neben dem SD-Chef arbeiteten dort
Monster" nennt ein Historiker Heydrich in einer Biografie. sieben weitere Mitarbeiter. Eine bizarre Konstellation: Auch
Lina Heydrich hingegen beschreibt ihren Mann als Lina Heydrich gehörte zur Truppe. "Ich war Wachposten,
Familienmenschen, der den Urlaub mit den Kindern an der Köchin und Hausfrau. Von der Küche aus konnte ich die Straße
Ostsee genossen habe (unten). Mit Frau und Kindern zieht gut überblicken. Das war mein Beobachtungsposten. Der SD
Heydrich 1941 nach Prag. Bei einem Anschlag dort musste ständig mit einer Hausdurchsuchung rechnen", er­
verwunden ihn Attentäter am 27. Mai 1942 schwer (rechts) innerte sie sich später.

34 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


Heydrich arbeitet bis zu 18 Stunden am Tag.
Manchmal nennt er sich "Mülleimer des Reichs"
Nachdem Reichspräsident Paul von Hindenburg am Heydrich, ein Befehl von ihm, konnte einen Menschen ins
30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Kanzler ernannt hatte, er­ Konzentrationslager oder an den Galgen bringen.
richteten die Nationalsozialisten innerhalb weniger Wochen Und Feinde, das waren nahezu alle. Seine Männer gingen
eine Diktatur. Hunderte politische Gegner kamen wegen gegen Kommunisten, Katholiken, Sozialdemokraten, Homo­
Heydrichs Feindkartei in die neu eingerichteten Konzentra­ sexuelle, Geistliche und Juden vor, spionierten aber ebenso
tionslager. Wer auf seinen Listen stand, musste um sein Leben Generäle, Wirtschaftsführer und Diplomaten aus. In Berlin
fürchten. betrieb der SD sogar ein Edelbordell. Abhörgeräte zeichneten
Viele Nazi-Organisationen zogen nun nach Berlin, der SD im "Salon Kitty" auf, was hohe Parteibonzen und ausländi­
blieb in München - und Heydrich wurde mächtiger und sche Besucher den Prostituierten erzählten.
mächtiger. Er übernahm zusätzlich den Befehl über die Poli­ Auch im Ausland schlug Heydrich zu. Einen kritischen
tische Polizei in Bayern, schickte Gegner in das Konzentra­ Journalisten aus der Schweiz ließ er entführen, ebenso zwei
tionslager Dachau. Am 22. April 1934 erhielt er zudem in Ber­ britische Agenten aus den Niederlanden. Er hetzte Stalin mit
lin das Kommando über die Geheime Staatspolizei (Gestapo). gefälschten Informationen gegen den eigenen Generalstab
Nun siedelte auch sein SD nach Berlin über, in die Wilhe1m­ auf. Und er plante die fingierte Attacke auf den Sender Glei­
straße 102. Er war längst der einzige Geheimdienst der witz in Oberschlesien, der Deutschland einen Grund liefern
NSDAP, alle anderen Spionageabteilungen innerhalb der sollte, Polen zu überfallen. Am 31. August griffen als polni­
Partei hatten ihre Kompetenzen an Heydrich verloren. Den sche Soldaten verkleidete SS-Männer den Sender an.
wichtigsten Konkurrenzdienst, die Abwehr der Wehrmacht, Einen Tag danach begann der Zweite Weltkrieg.
leitete sein Freund Wilhelm Canaris. Heydrich stieg zum SS­ Im Krieg offenbarte Heydrich eine rätselhafte Sehnsucht.
General auf und schuf mit dem Reichssicherheitshauptamt Er flog als Pilot für die Luftwaffe mehrere Angriffe an der
ein Dach, das den SD und die Gestapo verband. Nun unter­ Ostfront und auf England und Norwegen. Das Risiko reizte
standen ihm die Geheimpolizei des Staates und der Geheim­ ihn, den Schreibtischtäter. Einige Monate lang verheimlichte
dienst der Partei. Nach Hitler und Himmler sah er sich als er seine Missionen vor Hitler und Himmler. Erst als er über
Nummer drei des NS-Regimes. der Sowjetunion abgeschossen wurde und gerettet werden
Heydrich arbeitete bis zu 18 Stunden am Tag, kontrollier­ musste, untersagte die NS-Spitze diese gefährlichen Einsätze.
te alles und jeden. Niemandem außer sich selbst traute er die­ Heydrich schien ihnen zu wertvoll.
se Aufgabe zu. Manchmal nannte er sich "Mülleimer des "HHhH" soll Luftwaffen-Chef Hermann Göring gespottet
Reichs". Doch in Wahrheit schien er es zu lieben, die Macht haben: Himmlers Hirn heißt Heydrich. Der mochte keine
über Leben und Tod anderer zu haben: Eine Unterschrift von öffentlichen Auftritte und gesellschaftlichen Verpflichtungen.
HITLERS AGENTEN

Heydrich ist es, der die Wannseekonferenz


organisiert - hier planen die Nazis den Holocaust
Er war stets froh, wenn sein Chef die repräsentativen Aufga­ Sein Fahrer jagt den Attentätern hinterher, statt sich um
ben übernahm: "Da geht der Himmler hin", sagte er erleich­ seinen Chef zu kümmern. Beide Angreifer sind ehemalige
tert zu seiner Frau. "Der kann das Repräsentieren nicht halb Unteroffiziere der tschechischen Armee, vom britischen Ge­
so gut wie Göring, aber noch zweimal so gut wie ich." heimdienst ausgebildet. Ihr Auftrag: Rache nehmen. Sie ster­
Heydrich wirkte lieber im Verborgenen. Er schlief wenig, ben später nach einem Feuergefecht mit SS- und SD-Männern.
arbeitete sich akribisch durch die Akten. Oft kannte er so Tagelang kämpfen Ärzte um Heydrichs Leben. Hitler und
viele Details, dass seine Referenten eingeschüchtert waren. Himmler schicken ihre Leibärzte. Vergebens.
Sein Mitarbeiter Werner Best notierte, "dass alle Untergebe­ Das Begräbnis wird zum Staatsakt, und Hitler hält die
nen Heydrichs ihn ebenso fürchteten, wie sie ihn mit einer Trauerrede. "Er war einer der besten Nationalsozialisten",
gewissen Bewunderung respektierten". Freundschaft schloss sagt er, "einer der stärkstenVerteidiger des deutschen Reichs­
der SO-Chef mit keinem seiner Leute. gedankens, einer der größten Gegner aller Feinde diese
Im Sommer 1941 schickte Hitler den von ihm hoch­ Reiches." Joseph Goebbels notiert: "DerVeriust Heydrichs ist
geschätzten Heydrich in die Tschechei. Der sollte im Protek­ unersetzlich." Und Abwehrchef Canaris schreibt an Heydrichs
torat Böhmen und Mähren für Ordnung sorgen - mit allen Frau: "Ich habe einen guten Freund verloren."
Mitteln. "Endlich einmal eine positive Aufgabe", sagte er be­
geistert zu seiner Frau. Am 27. September trat Heydrich sein
Amt als stellvertretender Reichsprotektor in Prag an, seine
anderen Posten in Berlin behielt er. Gleich am ersten Tag
befahl er seinen Agenten und Polizisten hart gegen jeglichen
Widerstand vorzugehen. Innerhalb weniger Wochen hatte
Heydrich zahlreiche Organisationen zerschlagen, die gegen
die Besatzung gekämpft hatten. Dennoch glaubte er, dass
"seine" Tschechen ihm dankbar seien. Schließlich wären an­
dere Nazis viel unmenschlicher gewesen als er.

och seine Gnadenlosigkeit war - trotz der herrschen­

D den Zensur - allgemein bekannt. Heydrich ließ Juden


festnehmen, in Ghettos und Konzentrationslager sper­
ren. Im September 1942 litten bereits mehr als 53000 Men­
schen im KZ Theresienstadt, sie lebten auf engstem Raum,
hungerten und waren der Gewalt der Wachen ausgeliefert.
Heydrich erhielt derweil immer neue Aufgaben. So sollte
er einen Plan zur "Gesamtlösung der Judenfrage im deut­
schen Einflussgebiet in Europa" vorlegen. Im Januar 1942
organisierte er die Wannseekonferenz, auf der eines der
schlimmsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit
konzipiert wurde: der Holocaust.
Vier Monate später sitzt er im Auto auf dem Weg zum
Flughafen, es ist der 27. Mai 1942. Heydrichs Limousine hat
den Stadtrand von Prag erreicht, als am Ende einer Kurve ein
Mann auf die Straße springt. Dieser zieht eine Sten Gun, eine
zerlegbare Maschinenpistole, unter seinem Mantel hervor,
richtet sie auf Heydrich, drückt ab, doch es fällt kein Schuss.
Der Attentäter hat seine Waffe nicht entsichert.
Ein Anschlag! Heydrich zieht seine Pistole hervor, feuert
auf den Attentäter. Sein Fahrer bremst, Heydrich springt aus Hitlergruß für einen Toten
der Limousine. In diesem Moment explodiert eine Granate, Die NS-Spitze lässt Heydrich als Märtyrer der Bewegung
zahlreiche Splitter treffen den SO-Chefin den Rücken. Heydrich feiern. In Berlin (Foto) und Prag verabschieden sich Tausende
schießt noch sein Magazin leer, dann bricht er zusammen, von dem Toten - ein Staatsbegräbnis. Hitler hält die
fällt auf die Kühlerhaube. Trauerrede und rühmt Heydrichs treue Dienste

36 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


WILHELM CANARIS
ADMIRAL, ABENTEURER UND ABWEHRCHEF
Der erzkonservative und reaktionäre Offizier bekämpft die Demokratie.
Erst unterstützt er die Nazis als Geheimdienstchef - und wird dann zum Gegner

S
ie waren beide anders als ihre Kameraden: Sie Die beiden Marinesoldaten unterhielten sich häufig nach den
schätzten klassische Musik, diskutierten intensiv privaten Kammerkonzerten. Canaris hatte Spannendes zu er­
über Politik, interessierten sich lebhaft für die Welt zählen: Im Ersten Weltkrieg war er mit dem Kreuzer "Dresden"
der Geheimdienste. Am 1. Juli 1923 trafen sich der auf Kaperfahrt vor der südamerikanischen Küste unterwegs
Korvettenkapitän Wilhelm Canaris, 37 Jahre alt, gewesen. Gejagt von der britischen Marine sank das Kriegs­
und der Marinerekrut Reinhard Heydrich, 19, das erste Mal schiff schließlich, die Überlebenden der deutschen Mann­
an Bord des Kriegsschiffs Berlin. Auf den Planken des Kreu­ schaft wurden auf einer chilenischen Insel eingesperrt (siehe
zers begann diese Freundschaft zweier Männer, die sich spä­ P.M. History 04/2015). Canaris, damals Leutnant, floh nach
ter auch leidenschaftlich bekämpfen sollten. Europa zurück. 1916 arbeitete er dann in Spanien für den
Canaris diente als Erster Offizier der "Berlin", er war straf­ Marinenachrichtendienst - seine Mission war streng geheim:
versetzt worden: 1920 hatte er den Kapp-Putsch unterstützt, Er baute ein Netz von Informanten auf und organisierte die
einen Vmsturzversuch reaktionärer Kräfte. Nun, an Bord des Versorgung von deutschen V-Booten. Solche Agentenge­
Schiffs, nahm sich Heydrich den Vorgesetzten zum Vorbild. schichten hatte Heydrich schon als Kind geliebt.

P.M. HISTORY - NOVEMBER 2015 37


HITLERS AGENTEN

Ständig kommen sich SD und Abwehr in die Quere.


Ihre Aufgaben sind nicht sauber abgegrenzt

38 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


Die Dienste des 3. Reichs
ABWEHR Das "Amt Ausland/Abwehr" des Ober­
kommandos der Wehrmacht (OKW) sollte Armee
und Staat vor feindlichen Agenten beschützen und
selbst im Ausland spionieren und sabotieren. Nach
dem Ersten Weltkrieg verbot der Versailler Vertrag
Deutschland, einen Militärgeheimdienst zu unter­
halten. Dennoch baute die Heeresleitung diese
geheime Spionageabteilung auf. Sie wurde 1928
mit dem Nachrichtendienst der Marine vereint.
Die Abwehr blieb zunächst klein, hatte 1933 nur
150 Mitarbeiter, sie wuchs dann stetig: Mitte 1937
gab es 1000 offizielle Angestellte, 1939 waren es
bereits 2000. Die Zahl der Spitzel und Informanten
Umtriebiger Chefspion ist nicht bekannt.
Bei einem Kameradschaftsabend von Wehrmacht und SS SICHERHEITSDIENST Der SO wurde im Sommer
treffen sich Canaris und Heydrich um 1936 in Berlin (links). 1931 von Reinhard Heydrich als Geheimdienst der
Beide versuchen immer herauszufinden, was den anderen SS aufgebaut. Heydrichs Truppe sollte gegnerische
gerade umtreibt. Canaris reist viel für die Abwehr. 1941 Parteien beobachten, oppositionelle Strömungen
fliegt er nach Russland (rechts) innerhalb der NSDAP überwachen, Spitzel der
Politischen Polizei enttarnen und Feinde im In- und
Ausland ausschalten. Rund 30000 Spitzel versorg­
1924 gingen beide Männer von Bord. Heydrich kam auf ten den SO mit Informationen. Die Zahl der fest
eine Marineschule, Canaris wurde in einen Stab an Land ver­ angestellten Mitarbeiter lag vor der Machtergreifung
setzt, beide hielten Kontakt. Als Heydrich jedoch 1931 un­ wohl nur bei 40. Danach stieg sie rapide an. 1939
ehrenhaft aus der Armee entlassen wurde, trennten sich die wurde der SO mit der Geheimen Staatspolizei
Wege. Heydrich schloss sich der SS an. Canaris machte weiter (Gestapo) unter dem Dach des Reichssicherheits­
Karriere in der Marine. 1935 wurde er Chef der Abwehr der hauptamts zusammengelegt: 1944 hatte er 6400
Wehrmacht: Sein Vorgänger war immer wieder mit der SS Angestellte - zum Vergleich: Die Stasi der DDR
aneinandergeraten - auch mit Heydrich. Canaris, zum Kon­ hatte 91 000 Festangestellte und 189000 inoffizielle
teradmiral befördert, versuchte ein besseres Verhältnis zum Mitarbeiter.
mächtigen Chef des Sicherheitsdiensts (SD) herzustellen. REFERAT IC DER SA Auch die Sturmabteilung (SA)
Schon bald frischte er die alte Freundschaft wieder auf. der NSDAP betrieb einen eigenen Geheimdienst. Als
Ernst Röhm 1931 Stabschef der SA wurde, beauf­
it ihren Familien trafen sich beide im Frühjahr 1935 tragte er Karl Leon Du Moulin Eckart, eine Abteilung

M in Berlin bei einem Spaziergang. Überrascht stellten


sie fest, dass sie seit Kurzem in derselben Straße
wohnten. Sonntags verabredeten sich die Familien zum
zur Nachrichtengewinnung und Spionageabwehr
aufzubauen. Gegen den SO konnten sich die
Nachrichtenleute der SA aber nie behaupten. Sie
Krocketspielen im Garten. Bald zogen die Canaris an den sahen auch den Schlag der SS gegen die Sturmab­
Schlachtensee um. Erneut folgten der SD-Chef und seine teilung nicht kommen: Am 30. Juni 1934 ließ Hitler
Frau, nun grenzten ihre Gärten aneinander. Ein Agenten­ den SA-Chef Röhm und weitere Führer verhaften
Idyll. Erika Canaris und Reinhard Heydrich musizierten gern oder erschießen. Danach verlor die SA an Bedeu­
zusammen. "Es ist eine schöne, friedliche Zeit", schrieb Lina tung und unterhielt keinen Geheimdienst mehr.
Heydrich später. "Die Männer verabreden sich, treffen sich FORSCHUNGSAMT DER LUFTWAFFE Am
zum Ausritt im Grunewald und ziehen gelegentlich Mitarbei­ 10. April 1933 gründete Hermann Göring, Oberfehls­
ter hinzu." Auf den Ausritten besprachen die Geheimdienst­ haber der Luftwaffe, einen eigenen Geheimdienst.
chefs sich, tauschten Infos aus - und versuchten herauszufin­ Zur Tarnung wurde er Forschungsamt genannt.
den, was der andere wusste, woran er arbeitete. 120 Mitarbeiter arbeiteten zunächst für diese Sonder­
Der SD, von Heydrich 1931 aufgebaut, war der Geheim­ abteilung. Zu den Aufgaben des Forschungsamts
dienst der NSDAP, er diente dem Machterhalt der Partei. Die gehörten das Abfangen von Funksignalen und
Abwehr war 1920 entstanden, sie sollte Deutschland und die das Entschlüsseln von Nachrichten. Der Dienst
Armee vor feindlichen Saboteuren und Spionen beschützen, belauschte auch massenhaft Telefongespräche
aber auch selbst im Ausland geheime Informationen besor­ und fing Telegramme ab. Im Jahr 1944 sollen
gen und den Gegner schädigen. Abgegrenzt waren die Aufga­ mehr als 6000 Soldaten und Zivilisten für Görings
ben der beiden Dienste kaum. Geheimdienst tätig gewesen sein.

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 39


HITLERS AGENTEN

Der Herr der Dackel


Mit Besuchern und Bekannten spricht
Wilhelm Canaris gern über seine
Hunde (links). Seine Frau Erika (rechts)
musiziert gemeinsam mit Reinhard
Heydrich, beide spielen Violine. Ihre
Familien treffen sich zu Spaziergängen
und zum Krocketspielen im Garten, sie
sind in Berlin Nachbarn. Die Freund­
schaft wird aber vom Geheimdienst­
geschäft überschattet - vor allem vom
Konkurrenzkampf der Abwehr und des
Sicherheitsdiensts

Am Schlachtensee wohnt das Ehepaar Canaris


neben den Heydrichs - ein Agenten-Idyll
Die beiden befreundeten Geheimdienstchefs waren seiner Frau. "Ich fürchte, der soll alle Gespräche, die Canaris
zwangsläufig auch Rivalen. Heydrich weitete seine Befugnis­ nicht mithören kann, abhören und sie ihm dann mitteilen."
se mit dem Segen Hitlers und Himmlers immer weiter aus Wenige Tage später meldete ein Wachmann, der das Haus des
und kam damit seinem alten Förderer zunehmend in die SS-Generals beschützte, dass er nachts ein Liebespaar an der
Quere. Als Heydrich einen russischen Doppelagenten nutzte, Gartenpforte beobachtet habe: Mohammed und eine Berline­
um Stalin getürkte Informationen zukommen zu lassen, ver­ rin. Sie hätten auf Deutsch geturtelt.
riet er Canaris nichts von der Mission. Mitarbeiter informier­ Heydrich rief umgehend bei Canaris an und beschwerte
ten den Admiral dann von Heydrichs riskantem Vabanque­ sich über den Spitzeleinsatz. Der SO-Chef bat seinen Kolle­
spiel, das nicht geheim geblieben war. Canaris tobte vor Wut. gen, dieser möge "derartige Kindereien in Zukunft unterlas­
Er hatte schließlich viel mehr Erfahrung als Heydrich, sen". Wie Canaris darauf reagierte, ist nicht bekannt.
galt als kluger, gewitzter Geheimdienstler. Der große alte 1942 besuchten Wilhelm und Erika Canaris die Heydrichs
Mann des Nachrichtenwesens hielt es nie lange hinter dem in Tschechien. In Prag und auf Schloss Jungfern-Breschan
Schreibtisch aus, ihn zog es selbst immer wieder in die Ein­ überarbeiteten die Männer die sogenannten "Zehn Gebote",
satzgebiete - etwa an die Ostfront nach Russland, wo auch eine Auf teilung der Kompetenzen ihrer Dienste. Sie wollten
seine Leute Kriegsverbrechen begingen. künftig, zumindest auf dem Papier, besser zusammenarbei­
ten. Kurz darauf starb jedoch Reinhard Heydrich.
er Konkurrenzkampf wurde härter. Canaris ließ seine Zwei Jahre später wurde Canaris als Chef der Abwehr

D Leute nach Heydrichs angeblich jüdischer Herkunft


forschen. Heydrich soll angeblich sogar das Büro und
die Telefone von Canaris verwanzt haben lassen, um ihn ab­
entlassen, sein Dienst aufgelöst und in die SS eingegliedert.
Der Admiral hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst von den
Nazis abgewandt und den militärischen Widerstand gegen
hören zu können. Dennoch pflegten beide Agentenchefs ihre Hitler unterstützt. Nach dem Attentat auf den Diktator vom
privaten Kontakte weiterhin. 20. Juli 1944 verhaften Gestapo und SO auch ihn. Am 5. Febru­
Bei einem Abendessen 1941 bei Familie Canaris zeigte ar 1945 kam Canaris ins KZ Flossenbürg. Ein Standgericht
sich, wie sehr sich die alten Kameraden mittlerweile miss­ der SS verhängte die Todesstrafe. Im Morgengrauen des
trauten. Die Gäste wurden zu "ihrer Überraschung", wie Lina 9. April erhängte die SS den deutschen Meisterspion.
Heydrich später berichtete, von einem arabischen Butler be­
dient, den Canaris "Mohammed" nannte. Wo er den Diener
herhabe, fragte Lina Heydrich. "Den habe ich in Bordeaux Hauke Friederichs beschäftigt sich seit Langem

gekauft", antwortete der. Der Mann habe 20 Mark gekostet. mit der NS-Geschichte. In der KZ-Gedenkstätte

"Ich möchte bloß wissen, was sich der listige Fuchs damit Neuengamme macht er ehrenamtlich Führungen.

ausgedacht hat. Dass der Araber weder Deutsch sprechen Heydrichs Machtfülle hat ihn dennoch entsetzt.

noch verstehen kann, glaube ich nicht", sagte Heydrich zu

40 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


Magazine, die Geschichte schreiben.
I
HITLERS AGENTEN

Im Sommer 1942 schickt Hitler acht Saboteure nach Amerika, um


den Feind im Inneren zu treffen. Die deutschen Agenten sollen
Anschläge verüben - auf kriegswichtige Fabriken, Eisenbahnen, Brücken.
Die "Operation Pastorius" wird eine spektakuläre Pleite

42 P.M. HISTORY - NOVEMBER 2015


U-Boote der deutschen Kriegsmarine
ähnlich diesem erreichen 1942 nach gut
zweiwöchiger Fahrt die US-Ostküste -
aus ihnen klettern Hitlers Spione und
rudern mit Schlauchbooten ans Ufer

P. M. HIS TORY - NOVEMBER 2015 43


HITLERS AG
E NTEN

J. EDGAR HOOVER, DIRECTOR

EIGHT GERMAN SABOTEURS

GEORGE JOHN DASCH ERNEST PETER BURGER RICRARD QUIRIN

HERBEHT HANS HAUPT WERNER TRIEL


EDWARD KERLING
44 P. M. HISTO
RY - NOVEM
BER 2015
Traurige Truppe
Duane Traynor war in seiner Zeit
als FBI-Agent mit dem Fall der
Möchtegern-Saboteure aus
Übersee befasst - er war es, der
George John Dasch (großes Bild,
obere Reihe links) zum Plaudern
brachte. Auf diesem Foto von
2004 zeigt er eine FBI-Akte mit
den Porträts der acht Deutschen

Von Mirco Lomoth

ARM H"EINCK
HEINRICH H
er Deutsche zieht nervös an seiner Zigarette und

D
bläst den Rauch ins Verhörzimmer. Er ist 39 Jah­
re alt und trägt einen gut sitzenden Anzug. Seine
Augen sind wach. Sie fixieren den Mann, der ihm
gegenübersitzt. "Ich habe eine lange Geschichte
zu erzählen, aber ich erzähle sie Ihnen auf meine Weise", sagt
er großspurig und mit hartem deutschen Akzent. Duane L.
Traynor nickt. Der 32-jährige Agent der Anti-Sabotage-Ein­
heit des FBI in Washington ahnt: Dies könnte der wichtigste
Fall seiner Laufbahn werden. Wenn er es schafft, dass ihm
der geheimnisvolle Fremde vertraut.
Es ist der 19. Juni 1942. Wenige Stunden zuvor, um zehn
Uhr morgens, war beim FBI ein Anruf eingegangen. Da hatte
der Deutsche vom Hotel Mayflower aus "REpublic 7100" ge­
wählt, die zentrale Nummer des FBI, und sich als Franz Daniel
Pastorius aus Deutschland ausgegeben: Er habe brisante In­
formationen. Traynor schickt einen Wagen zum Hotel. Als der
Mann keine halbe Stunde später in Raum 2248 des Justiz­
ministeriums seinen Hut abnimmt, durchfährt es den FBI­
Agenten: die weiße Strähne im zurückgekämmten Haar des

�. OTTO NEU
BAUER
Fremden! Die hatte Tage zuvor ein Küstenwachmann bei einer
verdächtigen Person an einem Strand auf Long Island be­
merkt. Ganz in der Nähe waren deutsche Marineuniformen

HERMANN und mehrere Kisten mit Sabotagematerial gefunden worden:


TNT-Blöcke, Zündkabel und als Füllfederhalter getarnte Zeit­
zünder. Genug Sprengstoff, um das Empire State Building in
die Luft zu jagen. Traynor ist Profi, verbirgt seine Erregung
hinter einem undurchdringlichen Gesichtsausdruck.

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 45


HITLERS AGENTEN

Zeitzünder aus getrockneten Erbsen, Sprengsätze


aus der Drogerie: Lernstoff im Sabotage-Crashkurs
Der Deutsche hat viel zu sagen. Er kommt sofort auf den Das war nur einer von zahlreichen Fehlern in dieser hoch­
Sprengstoff zu sprechen, den er mit seinen Kameraden auf gradig dilettantischen Mission, geboren aus Ungeduld und
Long Island vergraben hat. Er drückt sich vornehm aus, fährt Unvermögen. Nach Deutschlands Kriegserklärung an die
sich mit dem Zeigefinger an die Nase, wenn er seinen Worten Vereinigten Staaten am 11. Dezember 1941 hatte Reichs­
Gewicht verleihen will. Bereitwillig stimmt er zu, dass Steno­ führer Adolf Hitler seinem Abwehrchef Wilhelm Canaris
typistinnen mitschreiben. "Ich will, dass die Aussage offiziell befohlen, "endlich etwas in Amerika zu tun". Denn die wach­
wird", sagt er und gibt seinen echten Namen zu Protokoll: sende US-Produktion von Flugzeugen, Panzern undU-Booten
George John Dasch aus Speyer am Rhein. Traynor behandelt stellte eine zunehmende Gefahr für die deutschen Kriegsziele
ihn zuvorkommend, versorgt ihn mit Zigaretten, Hähnchen­ dar. Hitler wollte Sabotageakte sehen. Der erfahrene Geheim­
sandwiches und Milch. Er will den Deutschen im Glauben dienstler Canaris zweifelte an deren Wirksamkeit, war je­
lassen, ein freier Mann zu sein, um möglichst viel über die doch gezwungen, Loyalität zu zeigen. So nahm die "Opera­
geplanten Sabotageaktionen aus ihm herauszuholen. Sechs tion Pastorius" ihren Lauf - benannt nach Franz Daniel
Tage dauert die Befragung, sechs Stenotypistinnen schreiben Pastorius, dem Anführer der ersten deutschen Immigranten
abwechselnd mit. An den Abenden führt Traynor seinen in Nordamerika im Jahr 1683. Nur dass es diesmal eine töd­
Informanten großzügig in Washingtoner Restaurants aus. Er liche Einwanderung werden sollte.
erfährt eine unglaubliche Geschichte. Bis April 1942 wurden elf Männer für die Operation re­
krutiert. Alle hatten vor dem Krieg in den USA gelebt, die meis­
m 13. Juni 1942, kurz nach Mitternacht, schleppten ten pflegten enge Beziehungen zum nationalsozialistischen

A drei Männer in deutschen Marineuniformen Holz­


kisten über den Strand von Long Island, rund 170 Kilo­
meter östlich von New York. Sie stapften durch dichten Nebel
Amerikadeutschen Bund, sprachen Englisch und sollten sich
im Feindesland unauffällig bewegen können. Doch als Spion
erfahren war keiner von ihnen. George Dasch hatte in New
zu den Dünen. George John Dasch stand in der Brandung York als Kellner gearbeitet und sich als Gewerkschaftler
und half zwei Matrosen dabei, das Wasser aus einem engagiert, bevor er 1941 - enttäuscht vom amerikanischen
Schlauchboot zu kippen. Plötzlich näherte sich der Licht­ Traum und entflammt von Hitlers politischen Versprechen -
kegel einer Taschenlampe. Dasch fluchte. Gute zwei Wochen nach Berlin zog und für das Auswärtige Amt amerikanische
hatten die Männer an Bord desU-Boots U 202 verbracht, bis Propaganda überwachte. Die anderen Kandidaten waren ge­
die Ostküste der Vereinigten Staaten im Sehrohr auftauchte lernte Mechaniker, Köche, Werkzeugmacher.
und sie mit dem Schlauchboot übersetzen konnten. Sollte Am 11. April trat der eilig rekrutierte Amateurkader zum
ihre Mission jetzt enden, wo sie gerade erst einen Fuß an Sabotage-Crashkurs an. In einem Gutshaus auf einem abgele­
Land gesetzt hatten? genen Gelände bei Brandenburg lernten sie, Sprengsätze aus
"Who are you?", rief ein junger Mann in der dunkelblauen Drogerieartikeln zu bauen und Zeitzünder aus getrockneten
Uniform der US-Küstenwache. "Fischer aus East Hampton", Erbsen, die sich im Wasser ausdehnen. FünfUnterrichtsstun­
antwortete Dasch. "Wir waren unterwegs nach Montauk den am Tag, Chemielektionen im Labor, heimliche Spreng­
Point, aber unser Boot ist auf Grund gelaufen. Wir warten auf übungen im Wald. In den Pausen lasen sie die in Deutschland
den Sonnenaufgang." Der Mann sah misstrauisch aus, doch verbotene "New York Times", sangen "Oh! Susanna", trainier­
offenbar war er unbewaffnet - einer von Tausenden dieser ten Jiu-Jitsu. Zwei Rekruten wurden als unfähig entlassen,
schlecht ausgerüsteten "sand pounders", Sandstampfern, die die übrigen entwickelten sich zufriedenstellend: Sogar das
zu Fuß die amerikanischen Küsten abliefen, um auffällige Schreiben mit unsichtbarer Tinte hatten sie gelernt. Nach­
Vorkommnisse zu melden. Er forderte Dasch auf, mit ihm zur dem sie falsche Pässe erhalten hatten, konnte die "Operation
Wachstation zu kommen. Im Lichtkegel der Taschenlampe Pastorius" losgehen. Die Gruppe unter George John Dasch, so
blitzte im dunklen Haar Daschs die weiße Strähne auf. der Plan, sollte Anschläge auf Aluminium- und Magnesium­
Der Befehl des Deutschen für Fälle wie diesen lautete: fabriken in Tennessee verüben und Bomben in Bahnhöfen
Feind überwältigen und als Kriegsgefangenen zuU 202 brin­ und jüdischen Kaufhäusern zünden. Eine zweite Einheit soll­
gen. Es wäre ein Leichtes gewesen, die beiden Matrosen te wichtige Eisenbahnstrecken und Brücken an der Ostküste
trugen Maschinenpistolen bei sich. Doch Dasch drückte dem zerstören, darunter die Hell Gate Bridge über den East River
irritierten Mann 260 Dollar in die Hand. "Wenn wir uns in in NewYork.
East Hampton begegneten, würdest du mich erkennen?", Doch die Rekruten waren und blieben Amateure. Das
fragte er ihn mit ernster Miene. "Nein, Sir, ich habe Sie in zeigte sich schon auf dem Weg zum französischen Atlantik­
meinem ganzen Leben nie gesehen." Dasch war zufrieden hafen Lorient, wo zwei U-Boote auf sie warteten. In Paris
und ließ den Mann laufen. brüllte einer betrunken herum, er sei Geheimagent. Ein an-

46 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


TAL LESS

Gentleman - oder Spion?


Hinter jedem scheinbar harmlosen Bürger
könnte sich ein Nazi-Zuträger verbergen:
Das US-Propagandaplakat (links) mahnt,
vorsichtshalber seine Zunge zu hüten -
"man weiß ja nie". Oben: John C. Cullen (links)
von der US-Küstenwache trifft auf George
Dasch, kaum dass dieser seinen Fuß auf den
Strand von Long Island setzt. Durch seine
Meldung heftet sich erst die Küstenwache,
dann das FBI auf die Fährte der Nazi-Spione.
Vizeadmiral Russell R. Waesche gratuliert
dem 21-Jährigen dazu einige Tage später
öffentlichkeitswirksam in Washington

derer holte sich den Tripper und musste nach Deutschland An Bord von U 202 hatte der Kapitänleutnant ganz andere
zurückkehren. George John Dasch vergaß in Lorient seine Sorgen. Mit der Ebbe war sein U-Boot auf eine Sandbank
falschen Papiere im Zug, mitsamt allen Aufzeichnungen aus aufgelaufen. Verzweifelt ließ er den Motor hochjagen und die
der Sabotageschule. Sie sollten nie wieder auftauchen. Auch Tauchzellen ausblasen. Es half alles nichts. Der Kapitän gab
bestand ein Teil der Kommandokasse aus Dollar-Scheinen, den Befehl, Sprengsätze zur Selbstversenkung anzubringen
die schon fast ein Jahrzehnt nicht mehr im Umlauf waren. und die Evakuierung vorzubereiten. Doch als um kurz nach
Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt, als die Hilfsspione drei Uhr morgens die Flut einsetzte, gelang es, U 202 in einem
am Abend des 28. Mai 1942, getarnt als Kriegsberichterstat­ letzten Versuch zu befreien. "Hurrah!", notierte der Leutnant
ter, im Bauch von U 202 ihre Stockbetten bezogen. im Logbuch.
Schon im ersten Licht der Dämmerung fand der Trupp der
urück nach Long Island. Gegen ein Uhr am Morgen Küstenwache alles, was Dasehs Männer am Strand versteckt

Z des 13. Juni 1942, keine Stunde, nachdem die Dasch­


Truppe aus dem Schlauchboot gestiegen war, stürm­
ten acht bewaffnete Männer der US-Küstenwache auf den
oder verloren hatten. Die vergrabenen Holzkisten und ihre
Uniformen, eine Schaufel, die noch im Sand steckte, um­
herliegende Kleidungsstücke, eine Schnapsflasche und eine
Strand. Unter ihnen der 21-jährige John Cullen, der nach der Zigarettenpackung mit der Aufschrift "D. Mosel Hamburg -
seltsamen Begegnung mit Dasch sofort seinen Vorgesetzten München". Als das von der Küstenwache spät informierte FBI
informiert hatte. Im dichten Nebel suchten sie nach verdäch­ die Ermittlungen aufnahm, waren Dasch und seine Männer
tigen Gestalten. Plötzlich rochen sie Dieselabgase und hör­ bereits in New York. Sie hatten den ersten Pendlerzug genom­
ten Maschinenlärm. Hinter den brechenden Wellen erschien men. Im Abteil versteckten sie sich hinter der Tagesausgabe
die verschwommene Silhouette eines U-Boots. Aus Angst, der "New York Times", wo im Kulturteil ein Film besprochen
beschossen zu werden, versteckten sie sich schnell. wurde, der am Vorabend in New York angelaufen war und

P.M. HISTORY - NOVEMBER 2015 47


HITLERS AGENTEN

Tödliche Mission
Beweisfotos fürs FBI-Archiv: die
verhinderten Attentäter Edward
John Kerling (alias Kelly, links)
und George John Dasch nach
ihrer Festnahme. Mit versteckten
Sprengkörpern - wie dieser als
Kohlestück getarnten Bombe
(unten) - sollten sie im Auftrag
des Deutschen Reichs in den
USA Anschläge verüben, unter
anderem auf Eisenbahnanlagen
wie die Hell Gate Bridge in New
York (darunter)

48 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


Die Nazi-Agenten verprassen ihre Kommandokasse
und gehen in New York auf große Einkaufstour

von einem deutschen Saboteursring in den USA handelt. Sein Beste, wenn man ihn inhaftierte, um keinen Verdacht auf­
Titel: "Nazi Agent". kommen zu lassen. Kurz darauf sitzt Dasch in Häftlings­
In New York trennte sich die Gruppe, um nicht aufzufallen. kleidung in einer Isolierzelle im 30 . Stock des Bundesgerichts
Dasch nahm sich ein Zimmer im Hotel Governor Clinton. Die in New York. Er kann es nicht fassen: Plötzlich wird er wie ein
Spione kosteten ihre neu gewonnene Freiheit aus und gingen Verbrecher behandelt. Auch will niemand mehr etwas von
in Manhattan auf Einkaufstour. Mit dem Geld aus der gut seinen Propagandaplänen gegen Hitler wissen. Der Deutsche
gefüllten Kommandokasse kauften sie edle Armbanduhren, bricht in Tränen aus. Die angenehmen Tage im Verhörzimmer,
maßgeschneiderte Anzüge, Lederschuhe, Parfüm, Zigarren. wo er sich nach den Worten eines FBI-Mitarbeiters "wie eine
Dasch war froh, wieder in New York zu sein. Nur die Kampf­ Operndiva aufgeführt" hat, sind unwiderruflich vorbei.
jets am Himmel erinnerten ihn daran, dass er als Feind ge­ Es kommt noch schlimmer. Dasch ist dem FBI-Chef J. Edgar
kommen war. Am Nachmittag fand die größte Militärparade Hoover ein Dorn im Auge. Der will die Sache lieber so drehen,
der Stadtgeschichte statt, mehr als zwei Millionen Menschen als hätten seine Leute das Komplott selbst aufgedeckt. Hoover
waren auf den Beinen, Panzer rollten durch die Straßen, informiert die Presse. Am 28. Juni titelt die "New York Times":
Soldaten marschierten, auf einem der Umzugswagen zer­ "FBI nimmt acht Saboteure fest".
malmte ein Diktator-Monster die Menschen unter lauten Präsident Franklin D. Roosevelt verlangt die Todesstrafe
Heil-Hitler-Rufen. für die Nazi-Spione, stimmt sogar einem Schnellprozess vor
einer Militärkommission zu. Ein halbes Jahr nach dem ver­

S
chon am Abend dieses ersten Tages in den USA stand heerenden Angriff der Japaner auf Pearl Harbor will der Prä­
für George Dasch fest: Er würde die "Operation Pastori­ sident den Amerikanern und der Welt zeigen, dass sich sein
us" nicht zu Ende führen. Er hoffte, in den USA als Held Land sehr wohl gegen Eindringlinge verteidigen kann. Die
gefeiert zu werden, wenn er die Sabotageaktion verriet, malte Verhandlung beginnt am 8. Juli 1942 im Justizministerium in
sich gar einen Neuanfang als Propagandaberater der ameri­ Washington.
kanischen Regierung aus. Doch als er schließlich das FBI Einen Monat später werden sechs Saboteure auf dem
anrief, wurde er prompt zur "Verrückten-Leitung" durchge­ elektrischen Stuhl hingerichtet, ein weiterer bekommt lebens­
stellt. Dasch sagte, er müsse FBI-Chef J. Edgar Hoover wegen länglich. Dasch wird zu 30 Jahren Haft verurteilt. "Ich bin
bedeutender Enthüllungen dringend in Washington treffen. nicht als Feind in dieses Land gekommen, sondern als
Die Telefonnotiz wurde als belanglos zu den Akten gelegt. Freund", versucht er, sich zu verteidigen, "bereit, das Äußers­
Um seine Nerven zu beruhigen, suchte Dasch seine alte te zu tun, um dazu beizutragen, die aktuelle Regierung in
Stammkneipe auf, das "Mayer's" in der West 49th Street am Deutschland zu Fall zu bringen." Niemand glaubt ihm.
Rockefeller Center. Zwei Nächte lang spielte er Karten mit 1948 schiebt Präsident Harry S. Truman Dasch nach
alten Kellnerfreunden. Dann fuhr er nach Washington. Deutschland in die amerikanisch besetzte Zone ab. Der reist
In Raum 2248 des Justizministeriums raucht Dasch eine voller Groll gegen die Amerikaner ins zerstörte Berlin, um
Zigarette nach der anderen, reißt Witze und freut sich über sich jetzt östlichen Geheimdiensten anzudienen. Doch die
den einen oder anderen Scotch mit Sodawasser, den Traynor verdächtigen ihn, ein US-Spion zu sein, die Stasi hält ihn
ihm reicht. Nachdem er dem FBI rund 84000 Dollar aus der sogar für einen Kriegsverbrecher. Frustriert geht er zurück
Kommandokasse auf den Tisch gekippt hat, wird er endlich in den Westen. "Niemand vertraut mir", beklagt Dasch sich
ernst genommen. Er fühlt sich auf Augenhöhe, den FBI­ bei einem Bekannten. In Mannheim schlägt er sich als Woll­
Beamten spricht er mit "Pie" an, dem Spitznamen eines be­ händler durch, wird von der Presse und auf der Straße als
rühmten Baseballspielers. Traynor nennt ihn George. Die Verräter angefeindet. 1992 stirbt George John Dasch in
vermeintliche Vertrautheit zeigt Wirkung: Dasch verrät alles. Ludwigshafen. Bis ins hohe Alter hatte er immer wieder
Bald kennt das FBI die Nummer des Hotelzimmers eines Briefe an die amerikanischen Präsidenten geschrieben -
weiteren Saboteurs und hat Kontaktadressen dechiffriert, die Eisenhower, Kennedy, Johnson. Bis zuletzt hoffte er auf
mit unsichtbarer Tinte auf einem Stoff taschentuch stehen. späte Anerkennung. Vergebens.
Dasch behauptet, er habe von Anfang an die "Operation
Pastorius" hintertreiben wollen, um den Amerikanern zu
einer besseren Propaganda zu verhelfen. Millionen Deutsche
sollten so gegen Hitler aufgewiegelt werden. Mirco Lomoth war überrascht, dass die .Operation
Am 24. Juni, dem sechsten Tag des Verhörs, führt Traynor Pastorius· in Deutschland in Vergessenheit geraten

den Deutschen noch einmal zum Essen aus. Er erzählt ihm, ist. Schon während der Recherche amüsierte er

dass alle anderen Saboteure bereits verhaftet seien und es Freunde und Familie mit der Geschichte.

zur Anklage kommen werde. Auch für Dasch sei es nun das

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 49


HITLERS AGENTEN

Von Till Hein

ordwestlich von Madeira, 8. Januar 1943. Der

N
Tankerkonvoi TM 1 ist auf dem Weg von Trini­
dad nach Europa, um Treibstoff für die Panzer
der Alliierten zu liefern. Krie!?sschiffe der Royal
Navy eskortieren die neun Oltanker. Doch als
der Abend dämmert, nähern sich deutsche U-Boote. Wie eine
Meute fallen sie über die Schiffe her - und versenken sieben.
Seit Monaten bluten die Alliierten auf dem Atlantik. Allein
im November 1942 zerstörten deutsche U-Boote 126 Schiffe,
darunter so viele Tanker, dass den Briten der Sprit auszu­
gehen droht. Die sogenannte "Rudeltaktik" der Deutschen
ist gefürchtet: Sichtet ein U-Boot-Kommandant Versorgungs­
schiffe der Alliierten, ruft er Verstärkung herbei, und man
greift gemeinsam an. Die "grauen Wölfe", wie man sie nennt,
reißen Schiff um Schiff. Ein deutscher Sieg im Atlantik scheint
nur eine Frage der Zeit.
Doch ab Mitte April 1943 macht die deutsche Kriegsma­
rine schlagartig kaum noch Beute. In den ersten Maiwochen
verliert sie selbst 33 U-Boote. Am 24. Mai befiehlt der Ober­
befehlshaber Admiral Karl Dönitz entnervt den Abbruch aller
U-Boot-Operationen im Atlantik. Der Weg für die Alliierten
ist frei, die bald darauf ihre Invasion in der Normandie vorbe­
reiten. Aber was ist geschehen?
Seit 1939 arbeiten auf einem Landsitz, 80 Kilometer nord­
westlich von London, Experten des britischen Geheimdiensts sehen die Geräte, auf die Heer, Luftwaffe, Kriegsflotte und
daran, "Enigma" zu knacken: das Verschlüsselungssystem SS seit 1933 vertrauen, wie gewöhnliche Schreibmaschinen
der Deutschen. Die meisten der Kryptoanalytiker sind Quer­ aus - doch sie ermöglichen mehr als 100 Trillionen Varianten
einsteiger: Mathematiker, Linguisten, aber auch Ägyptologen, der Verschlüsselung. Man tippt auf einer Tastatur, der chiff­
Gräzisten, Schachgroßmeister. Tag für Tag brüten sie über rierte Text erscheint in Leuchtbuchstaben. Unter anderem
rätselhaften Buchstabenfolgen, Zahlen und Formeln. nutzt Enigma ein Prinzip, auf das der römische Kaiser Gaius
Im Herbst 1939 zählte das Geheimlabor rund 140 Mit­ Julius Cäsar bereits vor mehr als 2000 Jahren setzte: Für Ge­
arbeiter, zwei Jahre später waren es schon fast 1000. Der be­ heimbotschaften an seine Offiziere verschob er einfach das
gabteste unter ihnen ist der Mathematiker Alan Turing, der Alphabet um eine bestimmte Anzahl von Stellen. Ein Dreier­
"
bereits Mitte der 30er-Jahre die theoretischen Grundlagen schlüssel etwa machte aus jedem "A" ein 0 ,, , ein Viererschlüs­
für die Computertechnologie erdacht hat. Er hat einen eige­ sel ein "E". Enigma, die der Berliner Ingenieur Arthur Scherbi­
nen Blick auf die Welt und sagt: "Ich sehe die Menschen als us entwickelt hat, chiffriert raffinierter: Sie verwandelt ein
"
ein rosafarbenes Gebilde mit charakteristischen Daten." "A" mal in ein 0
,, , mal in ein "E", mal in einen anderen Buch­
Die Chiffriermaschine Enigma (griechisch: "Rätsel") ist staben. Und das nicht nur im selben Text, sondern bereits im
eine Gegnerin nach seinem Geschmack. Auf den ersten Blick selben Satz oder Wort.

Ein geheimes Labor, das bald 1000 Mitarbeiter


beschäftigt: Bletchley Park, Sitz der Tüftler
52 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015
Schöpfer und Werk
Die Enigma sieht aus wie eine Schreibmaschine
und wandelt die Funksprüche der Nazis in
unverständliche Buchstabenfolgen um (links).
Sie beruht auf dem Prinzip mehrerer rotie­
render Walzen, die mithilfe der Tastatur in
Gang gesetzt werden. Hinzu kommen täglich
wechselnde Schlüsseltabellen. Ihr Erfinder ist
der deutsche Ingenieur Arthur Scherbius
(oben). Sein erstes Patent für die Maschine
meldet er 1918 an

Das Herz von Enigma sind drei drehbare, elektrisch mit­ analysieren. 1933 gelang es ihm, erste Funknachrichten der
einander verschaltete Walzen, auf denen jeweils die 26 Buch­ Wehrmacht zu decodieren. Er baute eine Entschlüsselungs­
staben des Alphabets abgebildet sind. Diese drei Rotoren bie­ maschine, die er "Bomba Kryptologiczna" nannte, "kryptolo­
ten in Kombination 17576 Möglichkeiten der Chiffrierung. gische Bombe". Fünf Jahre später verdichteten sich die Hin ­
Wichtig ist dabei ihre Ausgangsposition. Geheime Schlüssel­ weise, dass Hitler einenAngriff auf Polen plante. Ausgerechnet
bücher legen sie monatlich für jeden Tag neu fest. Und: Nach in dieser Zeit, im Dezember 1938, rüstete Nazi-Deutschland
der Verschlüsselung jedes Buchstabens dreht sich mindestens seine Enigmas mit zwei zusätzlichen Buchstabenwalzen aus.
eine der Walzen um eine Position weiter, was das Knacken Der polnische Geheimdienst konnte nicht mehr mitlesen.
des Codes enorm erschwert. Hitler und seine Offiziere sind Warschau beschloss, den Secret Intelligence Service (SIS)
überzeugt: Enigma ist absolut sicher. aus London einzuweihen. Im Juli 1939 erläuterte Rejewski
Allerdings landete bereits 1928 ein Paket mit einem dem Chef der britischen Kryptoanalytiker, Dillwyn Knox, auf
solchen Gerät durch einen Zustellungsfehler der Post beim einem konspirativen Treffen seine Erkenntnisse und über­
Warschauer Zollamt. Die Beamten wurden stutzig, als der reichte ihm den Bauplan der "Bomba". Keine fünf Wochen
Adressat mit Nachdruck darauf bestand, dass die Sendung später marschierte die Wehrmacht in Polen ein. Rejewski
ungeprüft an den Absender zurückgeschickt werden müsse. tauchte unter. Er wird den Krieg überleben, bei der Entschlüs­
Nachdem der Geheimdienst das Chiffriergerät untersucht selung Enigmas jedoch keine Rolle mehr spielen.
hatte, sandte man es nach Deutschland zurück. Dort schöpfte Seine "Bomba" aber inspiriert die britischen Kryptoana­
niemand Verdacht - aber die Polen hatten eine heiße Spur. lytiker. 1938 hat der SIS das Landgut Bletchley Park in der
Der junge Mathematiker Marian Rejewski von der Univer­ Grafschaft Buckinghamshire erworben. Ein viktorianisches
sität Posen (heute Poznail) begann das Enigma-Prinzip zu Herrenhaus aus rotem Backstein. Englischer Rasen, Rosen-

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 53


HITLERS AGENTEN

Aufholjagd
Die Besatzung eines deutschen
U-Boots hat einen Öltanker
torpediert, der vor ihren Augen in
den atlantischen Fluten versinkt
(rechts). Dank ihrer Verschlüsse­
lungstechnik verschaffen sich
die Nazi-Deutschen im Seekrieg
zunächst große Vorteile.
Eine deutsche Funkkompanie in
Polen chiffriert 1941 Nachrichten
mithilfe der Enigma (ganz rechts).
Kurz darauf feiern britische Spezia­
listen den ersten Durchbruch -
dank erbeuteter Schlüsselbücher

Die Nazis sind nachlässig, geben sich wenig Mühe,


die Funksprüche der Alliierten zu entschlüsseln
beete, ein Teich. Elegant und diskret. Knox, der sich bereits Dechiffriergeräte, vielleicht weil sie die Funktionsweise der
im Ersten Weltkrieg als Code-Knacker einen Namen gemacht TypeX - des britischen Pendants zu Enigma - zu wenig durch­
hat, rekrutiert immer mehr Mitarbeiter: Intellektuelle, Tech­ schauen. Das Entschlüsseln von Codes bleibt Handarbeit.
niker, Schreibkräfte. Maschinen rattern, Forscher grübeln vor Stückwerk. Auch die Dechiffrierung von Sigaba, der wich­
Papierstapeln, Sekretärinnen tippen Buchstabenfolgen. tigsten Verschlüsselungsmaschine der USA, gelingt nicht.
Der Genialste unter den Kryptoanalytikern ist der exzen­ Da sind die Briten erfolgreicher. Schon als die deutsche
trische Alan Turing. Im Sommer trägt er, wenn er mit dem Wehrmacht am 9. April 1940 Dänemark und Norwegen über­
Rad zur Arbeit fährt, gern mal eine Gasmaske aus Angst vor fiel, erfuhren sie durch entschlüsselte Funksprüche von dem
Heuschnupfen. Rutscht seine Hose, bindet er sie an der Kra­ Plan. Allerdings um Wochen zu spät. Doch Bletchley Park rüste­
watte fest. Auch seine Arbeitsweise strapaziert die Nerven te immer weiter auf. Bald wurde rund um die Uhr gearbeitet.
der Kollegen. "Nur ich habe gerade noch genug Autorität und Noch im Frühling 1940 glückte der erste Coup: Turing und
Geschick", klagt Knox, "um ihn und seine I deen in einer ge­ Co. knackten den Code für den Funkverkehr der Luftwaffe.
wissen Ordnung und Disziplin zu halten." Angeregt durch die Aufzeichnungen Rejewskis, hatte der
schrille Brite eine verbesserte "Bomba" konstruiert: 30 rotie­
urings Kreativität und mathematisches Verständnis rende Buchstabenwalzen, die in Hochgeschwindigkeit die

T werden dringend benötigt. Eine Besonderheit von


Enigma: Sie kann einen Buchstaben niemals mit sich
selbst verschlüsseln: Ein A erscheint also niemals als A, ein B
potenziellen Einstellungen der Enigma-Rotoren testeten.
Im August 1940, während der ersten Luftangriffe auf
England, verrieten "Turing-Bomben" frühzeitig die geplanten
niemals als B. Das schränkt die Zahl der Möglichkeiten Ziele. Dann aber begann Nazi-Deutschland den U-Boot-Krieg.
wesentlich ein. Turing und seine Kollegen stoßen auf weitere Seine Kriegsmarine verfügte über Hochleistungs-Enigmas
Schwachstellen: Redewendungen, die in Funkbotschaften oft mit acht Walzen, deren Codes kaum zu enträtseln waren. Im
verwendet werden - zum Beispiel "HEIL HITLER" am Ende - September setzte die deutsche U-Boot-Flotte erstmals auf die
sind Einfallstore. Rudeltaktik - und versenkte Hunderttausende Tonnen Schiffs­
Die Deutschen wiederum haben es ihrerseits versäumt, raum der Briten. Bletchley Park stocherte im Nebel. Hitler
die Kompetenzen im Chiffrierwesen zu bündeln. Bis zu neun hat vorgesorgt: Damit die Schlüsselbücher mit den Enigma­
verschiedene winzige Labors sind damit beschäftigt. Nicht Tagescodes niemals dem Feind in die Hände fallen, müssen
nur das Oberkommando der Wehrmacht, die Luftwaffe und seine U-Boot-Kommandanten im Notfall den Befehl zur Selbst­
die Marine haben jeweils ihre eigene Kryptoanalytiker-Trup­ versenkung geben.
pe, sondern auch die Reichspost. Trotz der deutschen Tradi­ In der Not heckte der britische Geheimdienst nun die
tion im Maschinenbau entwickeln die Teams lange Zeit keine "Operation Ruthless" ("Unternehmen rücksichtslos") aus:

54 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


P.M. HISTORY - NOVEMBER 2015 55
HITLERS AGENTEN

Eine Walze mehr: Wieder


trifft die Code-Knacker ein
herber Rückschlag. Die
Lösung: 9000 Mitarbeiter

Britische Soldaten sollen in blutverschmierten deutschen


Luftwaffe-Uniformen mit einem gekaperten deutschen
Kriegsflugzeug über den Ärmelkanal fliegen, einen Absturz
simulieren, notwassern - und darauf warten, dass sie ein
Schiff der feindlichen Marine an Bord nimmt. "Besatzung
erschießen und über Bord werfen", heißt es lakonisch in den
Plänen - "und die Schlüsselbücher rauben". In Dover war be­
reits ein erbeuteter Bomber entsprechend präpariert. Doch
die Royal Navy sichtete kein deutsches Kriegsschiff, das sich
als Ziel der Finte eignete. Das Geheimunternehmen wurde
abgeblasen.
Am 8. Mai 1941 half den Briten das Glück. Südlich von
Grönland hatte die Royal Navy das deutsche U-Boot U 110
mit Wasserbomben schwer beschädigt. Sein Heck lag bereits
unter Wasser, die Besatzung floh. Doch bevor U 110 in die
Tiefe gerissen wurde, gelang es britischen Marinesoldaten,
einzudringen und Enigma-Schlüsselbücher zu erbeuten.

onatelang konnten die Briten fortan die Funksprü­

M che der Nazis mitlesen und ihre Versorgungskonvois


weiträumig an Hitlers U-Booten vorbeiführen. Und
London erlangt wichtige Einblicke in die Pläne der deutschen
Kriegsmarine. "Gänse, die goldene Eier legen und niemals
schnattern", lobt der britische Premier, Winston Churchill,
seine Code-Knacker. In Deutschland sind ebenfalls Spezialis­
ten am Werk. Ihr größtes Manko ist jedoch, dass die einzel­
nen Labors sich kaum untereinander austauschen. Dadurch
erreicht kein Kryptologen-Team auch nur in Ansätzen das
Niveau der Konkurrenz aus Bletchley Park.
Doch noch immer halten der "Führer" und seine Offiziere
Enigma für bombensicher. Vereinzelte deutsche Chiffrier­
experten wissen inzwischen allerdings um die Schwächen
der Verschlüsselungsmaschine. Einer dieser Mahner ist
Gisbert Hasenjaeger aus Hildesheim. Seit Januar 1942 gehört
der begabte Mathematikstudent, der zuvor an der Ostfront
verwundet wurde, der Chiffrierabteilung der Wehrmacht
an - der wichtigsten deutschen kryptologischen Behörde.
Doch selbst dieses Team ist lächerlich klein. Gerade mal drei
Kollegen werden Hasenjaeger zugeteilt, um Enigma und an­
dere Verschlüsselungsmaschinen auf Schwächen abzuklop­
fen. Schon nach kurzer Einarbeitung regt er Verbesserungen
an. Doch auch Hasenjaeger ahnt nicht, wie weit die Briten bei
der Enigma-Entschlüsselung bereits sind - seine Warnungen
versanden. Einzig durch zusätzliche Rotoren lässt Hitler
manche der Verschlüsselungsgeräte präventiv aufrüsten.

56 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


Tragisches Genie
Was Alan Turing tür Großbritannien geleistet hat, dankt
ihm seine Heimat nicht. 1952 wird er wegen seiner Homo­
sexualität zu einer Hormonbehandlung verurteilt, der
chemischen Kastration. Zuvor hat das Mathegenie (rechts)
an einer Software tür die ersten Computer gearbeitet und
Schachprogramme entwickelt. Um die verschlüsselten
Funksprüche der Enigma zu lesen, braucht man Spruch­
schlüssel, jeden Tag einen anderen (links). Unten: das
Code-Knacker-Team in Bletchley Park, Buckinghamshire

Ab Februar 1942 steigt die gesamte deutsche U-Boot­


Flotte auf eine weiter verbesserte Enigma um, deren Code
noch schwerer zu knacken war. Ein herber Rückschlag für
Bletchley Park. Noch schlimmer: Durch einen Zufallstreffer
knacken NS-Geheimdienstler kurzfristig den Code, mit dem
die Royal Navy ihren Funkverkehr verschlüsselt. Und da die
Briten die Meldungen der deutschen Kriegsmarine nicht
mehr lesen können, erfahren sie nichts von dem Leck.

ald wüten deutsche U-Boote auch vor der Küste Nord­

B amerikas. Bis Ende Juni verlieren die USA mehr als


500 Schiffe. Doch die Superhirne in Bletchley Park
lassen nicht locker. Fast 9000 Mann entschlüsseln 1000 Funk­
sprüche von Heer und Luftwaffe pro Tag. So sind die Briten bis
ins Detail über Erwin Rommels Kriegstaktik in Nordafrika
informiert, und es gelingt ihnen im Frühling 1943, den Tune­
sienfeldzug des Afrikakorps zu stoppen. Schließlich knacken
sie auch die Codes der Kriegsmarine so weit, dass Hitler Ende
Mai 1943 den Atlantik freigeben muss. Bald darauf schmie­
den Churchill und US-Präsident FrankIin D. Roosevelt den
Plan für eine Invasion: Der D-Day bringt die Vorentscheidung
im Zweiten Weltkrieg - dank Bletchley Park.
Churchill sagt nach Kriegsende, der Sieg sei in erster Linie
den Code-Knackern zu verdanken. Historiker sind überzeugt,
dass sie die Niederlage Nazi-Deutschlands um viele Monate
beschleunigt und Hunderttausende Menschenleben gerettet
haben. Die Briten aber behandeln Bletchley Park weiter als
Staatsgeheimnis. Keiner der Hacker wird geehrt. Auch nicht
Alan Turing. Im Gegenteil. Im März 1952 muss er sich vor
Gericht verantworten. Die Justiz hat erfahren, dass er homo­
sexuell ist - in England damals noch ein Straftatbestand.
Man nötigt ihn zur chemischen Kastration. Am 8. Juni 1954
wird Turing tot in seinem Schlafzimmer gefunden. Neben
ihm liegt ein mit Cyanid vergifteter Apfel.
Selbstmord oder Mord? Das wird nie geklärt werden.
Wohl auch deshalb ranken sich um Alan Turing viele Legen­
den. Eine besagt, dass das Logo der Computerfirma Apple
eine stille Hommage an den genialen Kryptoanalytiker,
Mathematiker und Informatikpionier ist.

Till Hein pflegt eine zwiespältige Beziehung zur

Mathematik: Während er die eigentliche Lehre nie

wirklich lieben lernte. faszinieren ihn die Sonderlin­

ge. die in mathematischen Genies so oft stecken.

P.M. HISTORY - NOVEMBER 2015 57


Das Spiel beginnt
Im portugiesischen Küstenort
Estoril (oben) trifft Juan Pujol
Garcia einen britischen Agenten,
der ihn als Spion anwirbt.
Gleichzeitig denken die
Deutschen, Pujol spioniere
bereits für sie in England. Doch
zunächst denkt sich Pujol in
Lissabon Meldungen aus, die er
nach Madrid an die Nazis
schickt. Dann bringt ihn der
britische Geheimdienst heimlich
nach London. In der Nähe des
Piccadilly Circus (unten)
bekommt der Doppelagent ein
Büro. Von hier aus täuscht
"Garbo" seinen deutschen
Kontaktmann mit fingierten
Meldungen, die er mit seinem
britischen Führungsoffizier
Tomas Harris (rechts) erfindet

60 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


Von Ulrike Rückert

s ist Winter, als Juan Pujol Garcia lich ein blonder deutscher Herr mit einem

E
seine Laufbahn beginnt. Sie macht Regenmantel über dem Arm in einem Cafe
ihn zum gefeierten Agenten der treffen.
Briten im Zweiten Weltkrieg. Und Allerdings misslingt schon der erste Auf­
gleichzeitig zu einem der wichtigs­ trag, den der Deutsche in Aussicht stellt:
ten Spione Nazi-Deutschlands. Dies ist die Pujol solle sich einen Job als Zeitungskorres­
unglaubliche Geschichte eines Märchen­ pondent in England besorgen, damit ihn die
erzählers, der einen seiner Auftraggeber mit großem Mut deutsche Abwehr dort als Spion einsetzen könne. So einen Job
und noch größerer Fantasie austrickst. kann Pujol nicht auftun. Aber er kann etwas anderes: fabulie­
Im Januar 1941 ist Juan Pujol Garcia 28 Jahre alt. Eigent­ ren. Ein Freund, so erzählt der Spanier seinem Kontaktmann
lich Geflügelzüchter von Beruf, schlägt er sich als Manager nach einigen Treffen, habe ihm einen Diplomatenpass ver­
eines heruntergekommenen Hotels in Madrid durch. Seine schafft, damit er als Sonderermittler nach England fahre und
Frau Araceli erwartet ein Kind. Spanien ist in diesen Tagen, dort einen Devisenschmuggler einfange.
knapp zwei Jahre nach dem Bürgerkrieg, ein ruiniertes, düs­ So einen "Diplomatenpass" besitzt Pujol tatsächlich. Es ist
teres Land. Es gibt kaum zu essen, die Gefängnisse sind über­ ein Muster, das er einem Drucker in Lissabon abgeschwatzt
füllt mit Gegnern von General Franco, und am Horizont droht hat. Den Pass schiebt er dem Deutschen unter dem Cafetisch
die nächste Katastrophe. Niemand weiß, ob Spanien noch in zu. Der wirft einen Blick hinein und kauft ihm die Geschichte
Hitlers Krieg hineingerät. Von Politik versteht Pujol nicht ab, so absurd sie auch ist. Pujol erhält den Auftrag, als Spion
viel, doch Hitlers und Francos Faschismus ängstigen ihn. Er der Deutschen nach England zu reisen.
will weg mit seiner Frau, irgendwohin, wo das Leben besser Am 12. Juli 1941 ist es so weit. Juan Pujol Garcia macht
ist, und setzt seine Hoffnungen auf die Briten. Er würde gern sich scheinbar auf den Weg nach London, im Koffer einen
dazu beitragen, dass sie Hitler besiegen. So kommt er auf die Vorrat an unsichtbarer Tinte und Banknoten, versteckt in
Idee, sich ihnen als Spion anzudienen. "Ich muss gestehen", Zahnpastatuben. Sein erster Brief an den Kontaktmann ver­
schreibt er später in seinen Memoiren, "dass meine Pläne meldet, er sei wohlbehalten angekommen und habe eine
ziemlich verworren waren." nützliche Bekanntschaft gemacht, einen Steward auf der
Naiv, wie er ist, marschiert er in die britische Botschaft. Fluglinie Lissabon-London. Der werde künftig seine Briefe
Und blitzt ab. Der Botschafter achtet auf die Neutralität Spa­ mitnehmen und in Lissabon aufgeben, damit sie die britische
niens und denkt nicht daran, Spione zu rekrutieren. Ganz im Postzensur umgehen.
Gegensatz zum deutschen Geheimdienst, der eifrig Infor­ Kein einziges Wort davon ist wahr. In Wirklichkeit ist
manten im Land anwirbt. So kommt Pujol auf den Gedanken, Pujol nach Lissabon gefahren. Dort lebt er nun mit Frau und
den Briten seine Fähigkeiten zu beweisen: Er will sich beim Baby, hat sich bei einem Fischer einquartiert. Den Auftrag
deutschen Feind einschleichen und wertvolle Informationen der Deutschen, in England einen Agentenring aufzubauen,
beschaffen. Bestimmt sähen ihn die Briten dann mit anderen will er von zu Hause aus erledigen, kraft seiner Fantasie.
Augen. Und siehe da: Nach einigen Anrufen will ihn tatsäch- Denn die funktioniert tadellos. Seinem neuen Führungs-

]uan Pujol Garcia baut einen Agentenring auf - in


seiner Fantasie. Und täuscht damit die Deutschen
P.M. HISTORY - NOVEMBER 2015 61
HITLERS AGENTEN

Über Schiffskonvois und Panzertransporte berichtet


"Garbo" den Nazis - manchmal gibt es sie wirklich
offizier Karl-Erich Kühlenthai, der in Madrid sitzt, schickt er nehmend die Angst, von den Deutschen entlarvt zu werden.
Erfolgsmeldungen. Bis Oktober hat er angeblich drei Spione Dann will ihn plötzlich ein Offizier des MI6 treffen. Auf der
angeworben: einen Handelsreisenden, der für ihn den Schiffs­ Terrasse eines Strandrestaurants im feinen Seebad Estoril
verkehr vor der englischen Südküste observieren soll, einen in kommen die beiden zusammen. Drei Tage später erfährt
Liverpool ansässigen Schweizer namens Gerbers und einen Pujol, dass er heimlich nach London gebracht werden soll.
Venezolaner, der in Glasgow studiert - alles fiktive Figuren. Am 10. April steigt er auf ein Schiff nach Gibraltar.
Von nun an schickt Pujol wöchentlich Briefe, in denen seine Dort bleibt er fast zwei Wochen lang, bis er an einem klaren,
Leute von vermeintlichen Schiffskonvois berichten, die Lebens­ kalten Tag endlich nach Großbritannien geflogen wird. Am
mittel und Panzer aus Amerika an Bord haben, es werden 24. April 1942 landet Juan Pujol Garcia auf einem Militär­
Landungsübungen am Lake Windermere geschildert mit ge­ flughafen in Südengland. Er wird in einem sicheren Haus
nauer Beschreibung der Boote, Feldlager und Übungsplätze einquartiert. Tagelang befragen ihn Geheimdienstoffiziere.
der Luftwaffe. Immer wieder muss er seine Geschichte erzählen. Er legt Ab­
Doch nicht einen Fuß hat der Mann bislang auf britischen schriften all seiner Briefe an KühlenthaI vor, sie werden mit
Boden gesetzt. Er kennt niemanden in England und spricht dem abgehörten Funkverkehr verglichen. Dann sind sich die
auch die Landessprache nicht. Die Quellen seiner Inspiration Männer des MIS sicher: Sie haben "Alaric" gefunden, und er
sind ein Reiseführer, ein Eisenbahnkursbuch und eine große ist kein Köder der Deutschen.
Landkarte. Firmenadressen und andere Details findet er in
alten Zeitschriften in der Stadtbücherei, und auch die Wochen­ UjOI ist überglücklich, er hat sein Ziel erreicht: Die Bri­
schau im Kino bietet Anregungen. Gelegentlich unterlaufen
ihm Schnitzer: Er sichtet Schiffe, die längst von den Deutschen
versenkt worden sind, und er kommt mit dem britischen
P ten machen ihn zu ihrem Agenten. Sein neuer Deck­
name lautet "Garbo", ausgesucht vom MIS-Offizier Cyril
Mills, weil er Pujols schauspielerische Begabung für über­
Währungssystem nicht zurecht. ragend hält. "Der Fall war einzigartig", bestätigt später John
KühlenthaI stört sich nicht daran. Er schätzt seinen neuen Masterman, Geschichtsprofessor in Oxford. "Er kam als fix
Agenten und gibt dessen Informationen per Funk nach Berlin und fertiger Doppelagent - wir mussten das System, das er
weiter. Als Pujol die Abfahrt eines großen Schiffskonvois nach aufgebaut hatte, nur benutzen und entwickeln."
Malta meldet, schicken die Nazis Aufklärungsflugzeuge und Im Zweiten Weltkrieg ist Masterman der Vorsitzende
V-Boote los, um den Konvoi abzufangen. Doch sie können ihn eines Komitees, das den Einsatz der Doppelagenten mit den
nicht finden. Streitkräften abstimmt. Es sind Spione, die von den Deut­
In England bleiben derlei Aktivitäten nicht unbemerkt. schen ins Land geschickt wurden und teils aus eigener Initia­
Die Funksprüche zwischen Madrid und Berlin werden abge­ tive, teils nach ihrer Verhaftung übergelaufen sind. Während
hört und alarmieren den Inlandsgeheimdienst MIS. Der ging die deutsche Abwehr noch immer glaubt, zuverlässige Infor­
bislang davon aus, alle deutschen Spione in Großbritannien manten in Großbritannien zu haben, werden alle Meldungen
geschnappt zu haben. Sie sind inhaftiert, hingerichtet oder vom MIS fabriziert. So können sensible Informationen vor
werden nun als Doppelagenten vom MIS gesteuert. Doch da den Deutschen verborgen und ihnen falsche gezielt zuge­
ist nun ein neuer Mann mit Decknamen "Alaric". Wie hat spielt werden. Es ist ein kompliziertes System: Die Agenten
KühlenthaI den ins Land gebracht? Vnd was haben die über­ dürfen sich nicht widersprechen, und Fiktives muss sich aus
aus kuriosen Meldungen zu bedeuten? Die deutsche Abwehr Gründen der Glaubwürdigkeit mit Realem vermischen. Wel­
hatte von einem der Doppelagenten die Bestätigung einiger che echten Informationen der Abwehr verraten und welche
"Alaric"-Nachrichten verlangt - könnte das eine Falle ge­ militärischen Operationen mit Täuschungsmanövern ge­
wesen sein? Guy Liddell, der Chef der britischen Gegenspio­ schützt werden, entscheiden die Streitkräfte.
nage, hat viele Fragen. Die Jagd nach "Alaric" alias Juan Etwa 120 Doppelagenten setzt der MIS während des
Pujol Garcia hält drei Abteilungen von MIS und Scotland Zweiten Weltkriegs gegen die deutsche Abwehr ein, manche
Yard in Atem, bleibt jedoch erfolglos. Bis sich ein MIS-Offizier nur kurze Zeit, andere über Jahre. Einige werden zur Sicher­
mit einem Kollegen vom Auslandsnachrichtendienst MI6 un­ heit in Arrest gehalten und machen ihre Meldungen unter
terhält - und zufällig von einem Spanier namens Juan Pujol strengster Überwachung.
Garcia hört, der den Kollegen in Madrid und Lissabon seit Juan Pujol Garcia lebt mit Frau und Kind in einer biederen
Monaten auf die Nerven geht. Das muss "Alaric" sein. Gegend in Nordlondon. Pünktlich verlässt er jeden Morgen
Nun will ihn plötzlich jeder haben. Zwischen den beiden das Haus und fährt in die City. In einem kleinen Büro in der
britischen Geheimdiensten entbrennt ein erbitterter Streit Nähe des Piccadilly Circus brütet er über Aktendeckeln. Denn
um den Spanier. Der ahnt noch nichts, doch quält ihn zu- auch als Garbo setzt er seine Arbeit im Reich der Fantasie

62 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


fort. Dabei hilft ihm sein Führungsoffizier Tomas Harris, der
eine spanische Mutter hat. Gemeinsam erfinden sie Figuren Der echte Bond
und Szenen und erweitern den fiktiven Agentenzirkel um Dusko Popov arbeitete gleich
einen Kellner aus Gibraltar, einen südafrikanischen Kommu­ für drei Nachrichtendienste: für
nistenhasser und um den Bruder des venezolanischen Stu­ die Jugoslawen, die Deutschen
denten aus Glasgow. Für jede ihrer Gestalten denken sich und die Briten. Von seiner
Pujol und Harris eine komplette Biografie aus. Mehrfachtätigkeit wusste aber
Im Sommer 1942 will Kühlenthai wissen, ob die Alliierten nur der Geheimdienst Ihrer
Angriffspläne schmieden. Prompt meldet Pujol, seine vene­ Majestät, der Secret Intelli­
zolanischen Agenten würden in Schottland Truppen beob­ gence Service in London. Der
achten, die offenbar für den Gebirgskampf trainierten. Und Tripleagent war für dessen
weiter: Frostschutzmittel und Schneeketten würden in gro­ Auslandsabteilung MI6 einer
ßen Mengen herangeschafft, sodass alles auf eine Landung der wichtigsten Mitarbeiter.
der Alliierten in Norwegen hindeute. Wie sein spanischer Kollege Juan Pujol Garcia belieferte
Aus dem abgehörten Funkverkehr weiß der MIS, dass auch Popov die deutsche Abwehr mit falschen Informatio­
Pujols Meldungen für die Deutschen Priorität haben und un­ nen über den D-Day, die Invasion in der Normandie. Er
verzüglich nach Berlin weitergeleitet werden. wurde üppig bezahlt und führte ein Leben in Luxus. Popov
Im November machen sich- diesmal real- britische Trup­ inspirierte später den britischen Autor lan Fleming zu einer
pen in Liverpool bereit, per Schiff nach Nordafrika zu gelan­ literarischen Figur, die Weltruhm erlangte: dem Gentleman­
gen. Davon dürfen die Deutschen keinesfalls erfahren. Pujol Agenten James Bond, bekannt als 007

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 63


HITLERS AGENTEN

Zweifach ausgezeichnet
Der hochdekorierte Spion: Am 29. Juli 1944 hört Pujol von
seinem deutschen Führungsoffizier, Hitler habe ihm für
seine Verdienste das Eiserne Kreuz verliehen (oben). Auch
von den Briten erhält er eine wichtige Ehrung, den Orden
Member of the Order of the British Empire. Sein Verwirr­
spiel um die Landung der Alliierten in der Normandie hilft
dabei, den D-Day erfolgreich durchzuführen (rechts)

1943 beginnen die Alliierten, die Invasion zu planen.


Auch dabei spielt ihr Doppelagent eine wichtige Rolle
lässt seinen fiktiven Schweizer Agenten Gerbers, der in Liver­ Am 8. September meldet er, der Angriff beginne in der Nacht.
pool ansässig ist, so schwer erkranken, dass von dort -leider, Am Morgen erscheint eine Flotte vor Calais, begleitet von
leider - keine Berichte an die Deutschen gesendet werden einem riesigen Flugzeugschwarm -und kehrt wieder um. Die
können. Gerbers erliegt sogar seinem schweren Leiden, und BBC verkündet, es habe sich um eine Übung gehandelt.
Kühlenthai kondoliert der Witwe. Pujol alias Garbo alias
Alaric "entdeckt" im letzten Augenblick die Vorbereitungen un gilt Pujol auch beim Oberkommando der Wehr­
auf einen Angriff in Nordafrika. Sofort schickt er Eilbriefe
nach Madrid. Kühlenthai ist voll des Lobes über die Berichte,
auch wenn sie bedauerlicherweise zu spät eintrafen. Doch
N macht als besonders zuverlässige Quelle. Der Boden
für den großen Einsatz ist bereitet. Und von Beginn
des Jahres 1944 an richten sich alle Anstrengungen nur noch
Pujol hat sein Gesicht gewahrt. auf den D-Day. Den gewaltigen Aufmarsch in Südengland
1943 beginnen die Planungen für die alliierte Invasion in geheim zu halten ist ausgeschlossen. Es ist offensichtlich,
der Normandie. Garbo soll die Nazis über Zeit und Ort der dass es sich bei dem Zielgebiet um die französische Ärmel­
Invasion täuschen. Von allen Seiten melden nun seine erfun­ kanalküste handelt. Aber um die Deutschen über den genauen
denen Spione Truppenaufmärsche an den Küsten, Transport­ Ort, den Zeitpunkt und die wahre Größe des Invasionsheers
flugzeuge in Schottland, Kanonenboote und Kampfflieger im im Unklaren zu halten, inszenieren die Alliierten ein gigan­
Süden. Täglich funkt er seinen neuesten Stand nach Madrid. tisches Täuschungsmanöver: die "Operation Fortitude". Sie

64 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


imitiert. Im Mai 1944 sind Hitler und seine Generäle über­
zeugt, in Großbritannien lägen an die 80 Divisionen statt der
tatsächlich vorhandenen 52.
In der Nacht zum 6. Juni soll Pujol den Beginn der Invasion
melden. Um Punkt drei Uhr ruft der Funker Madrid. Keine
Antwort. Madrid schläft. Erst um acht Uhr geht die Meldung
durch, da wird an den Stränden schon gekämpft.
Die deutschen Generäle sind sich jedoch unschlüssig, ob
dies schon der Hauptangriff ist. Die First US Army Group ist
noch gar nicht in Bewegung. Zögernd werden mehrere Pan­
zerdivisionen zur Verstärkung in die Normandie komman­
diert. Die 15. Armee in der Region Calais rührt sich nicht von
der Stelle. Und dann gibt Hitler am 10. Juni den Befehl, zwei
anrückende Panzerverbände Richtung Calais umzulenken.
Am Vortag hat Pujol seine wichtigste Nachricht gesendet:
Die Verbände in Südostengland könnten nur für einen zwei­
ten großen Angriff in Reserve gehalten werden, und dieser
werde sicher bei Calais erfolgen. Abends war die Kurzfassung
beim Oberkommando der Wehrmacht eingetroffen und Hitler
vorgelegt worden. Es gibt keinen eindeutigen Beweis, aber
einiges spricht dafür, dass Juan Pujol Garcia damit den Aus­
schlag für die weitere Verzögerung gegeben hat.
Eisenhower hatte gedacht, mit der "Operation Fortitude"
eine Frist von maximal 48 Stunden zu gewinnen. Aber tat­
sächlich rechnet die Wehrmachtsführung sogar bis weit in
den Juli hinein mit einem Hauptangriff bei Calais.
In England sind noch immer Soldaten damit beschäftigt,
Lagerfeuer aufWaldlichtungen zu schüren undWäsche in die
Bäume zu hängen, um die Existenz von FUSAG vorzutäuschen.
Aber im August ist die Fiktion einer zweiten Angriffswelle
hinfällig, FUSAG wird in die Kulissen hineinmanövriert.
Noch im Frühjahr 1945 sucht die deutsche Abwehr nach den
Überbleibseln der Truppe. KühlenthaI fragt seinen Spion, ob
er wisse, was aus den amerikanischen Einheiten geworden
erfinden eine komplette Armee und platzieren sie in Süd­ sei? Trotz gründlicher Nachforschungen, meldet Pujol, habe
ostengland, gegenüber von Calais. Die Nazis sollen glauben, er keine Spur von ihnen finden können.
die Landung in der Normandie sei eine Falle, um ihre Streit­ Am 8. Mai sendet er seinen letzten Funkspruch an Madrid.
kräfte vom Ort des Hauptangriffs - Calais - abzulenken. Dann ist der Krieg vorbei. Juan Pujol Garcia hat jetzt nur noch
In diesem T heaterstück hat Pujol die Hauptrolle. Sein An­ einen Wunsch: neu anzufangen. Seine Ehe ist ruiniert, seine
sehen bei den Deutschen ist groß, und sein Phantom-Agen­ Frau kehrt mit den beiden Kindern nach Spanien zurück. Pujol
tenring taugt als geschicktes Werkzeug. Mittlerweile jong­ nimmt eine neue Identität an und geht nach Venezuela. Der
liert der Spanier mit einem Puppentheater aus 24 erfundenen MI5 streut das Gerücht, er sei in Angola an Malaria gestorben.
Informanten. Die Deutschen machen es ihm leicht, weil sie Doch 1984 heftet sich jemand an seine Fersen und spürt ihn
genau das erwarten, was der Agent ihnen einflüstern soll: Das auf - ausgerechnet ein Geschichtenerzähler. Es ist der eng­
Invasionsziel sei Calais. Täglich setzt Pujol mehrere Meldun­ lische Schriftsteller Rupert Allason, der Pujol findet, vier Jahre
gen mit Informationsschnipseln ab, Puzzleteilchen, aus denen vor dessen tatsächlichem Tod. Auch Allason kennt das Spiel mit
die Nazis emsig einen Invasionsplan zusammensetzen. Im falschen Namen, seine Bücher schreibt er unter dem Pseudo­
Lauf der nächsten Monate erscheint auf ihren Karten exakt nym Nigel West. Sein Thema? Spione.
das Bild, das die Briten sich wünschen.
Die fiktive First US Army Group, abgekürzt FUSAG, wird
so inszeniert, dass die Meldungen durch Luftaufklärung und Ulrike Rückert staunte über das Narrenspiel
Funkabhördienst bestätigt werden können. Einheiten realer dieses Anti-James-Bond. Was für eine Leistung,

Armeen werden an sie ausgeliehen, oder eine Handvoll jahrelang eine Story mit so vielen Figuren fortzu­

Soldaten täuscht in Südostengland große Feldlager vor. Der spinnen, ohne entscheidende Fehler zu machen.

Funkverkehr ganzer Truppenverbände wird von Spezialisten

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 65


HITLERS AGENTEN

Von Rainer Busch

er letzte Tag im Leben des Franz Oppenhoff ist

D
ein warmer Frühlingssonntag. Mit seiner Frau
Irmgard pflanzt der Rechtsanwalt nachmittags
Gemüsesetzlinge in seinem Garten. Morgens hat­
te die Familie die Messe besucht, abends bringt
das Ehepaar die drei kleinen Töchter ins Bett.
Es ist der 25. März 1945. Seit fünf Monaten schon ist
Aachen von den Nazis befreit. Der Krieg ist weitergezogen, in
wenigen Wochen wird er vorüber sein. Die Amerikaner
haben Oppenhoff zum Oberbürgermeister ernannt, er leitet
die erste auf deutschem Boden eingesetzte Zivilverwaltung,
er ist eine Symbolfigur des Neuanfangs.
Gegen 22 Uhr klopfen zwei Männer in deutscher Flieger­
uniform an der Haustür des 42-Jährigen. Sie stellen sich als
abgeschossene Piloten vor, bitten um Ausweise und Proviant.
Oppenhoff geht zurück ins Haus, holt ihnen etwas zu essen.
Als er vor die Tür tritt, schießt ihm einer der Männer aus
nächster Nähe in die linke Schläfe.
"Deutsche Freiheitskämpfer" hätten das Todesurteil gegen
den "Verräter" vollstreckt, jubelt der "Völkische Beobachter",
die Zeitung der NSDAP. Für Reichsführer SS Heinrich Himmler
ist die Tat ein doppelter Triumph: Er hat den Mord befohlen,
und ausgeführt wurde die Tat von einem Kommando einer
Organisation, die er ins Leben gerufen hat - die Werwölfe.
Ihre Gründung im September 1944 ist ein Akt der Verzweif­
lung. Im Osten des Deutschen Reichs setzt die Rote Armee
zur Großoffensive an, im Westen betritt ein amerikanischer
Spähtrupp nördlich von Trier erstmals deutschen Boden. Der
Krieg ist längst verloren. Doch die NS-Spitze träumt von einer
breiten deutschen Widerstandsbewegung nach dem Vorbild
russischer oder französischer Partisanen, die den Feind auf­
hält und die Wehrmacht entlastet.
Brücken sprengen, Straßen zerstören, Telefonverbindun­
gen kappen, gegnerische Truppen ausspähen sollen die
Guerillakrieger hinter den feindlichen Linien - und "Helfers­
helfer des Feindes ausrotten", wie es in der Anleitung "Wer­
wolf - Winke für Jagdeinheiten" heißt. Kein Feind soll sich
sicher fühlen, überall und jederzeit sollen die Kämpfer
zuschlagen. "Wie Werwölfe", so Himmler in einer Rede am
28. Oktober 1944, in der er den Begriff erstmals öffentlich
benutzt, "werden todesmutige Freiwillige dem Feind seine
Lebensfäden abschneiden."
Halb Mensch, halb Raubtier, ein mythisches Wesen, das
sich von Blut ernährt, das rastlos umherstreift, reißt und

Brücken und Straßen zerstören, Feinde töten: In den


letzten Kriegstagen setzt Hitler auf Guerillakämpfer
68 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015
Flugblätter als Drohungen
"Wer sein Volk verrät stirbt!" Mit Warnungen und auch
brutalen Taten versuchen die Werwölfe, die Deutschen
einzuschüchtern (oben). Die Ausbildung der Partisanen
organisiert der 55-Mann Hans-Adolf Prützmann (links)

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 69


Schon der Name verbreitet Schrecken: Der Werwolf
ernährt sich in den Legenden vom Blut seiner Opfer
tötet: Schon der Name steht für Angst und Schrecken. Er ist Führer und das Dritte Reich. Die Werber werden auch beijun­
angelehnt an den Roman "Der Wehrwolf" von Hermann Löns, gen Rekruten der Heeresschulen fündig, wie bei dem damals
einen Bestseller im Dritten Reich, in dem Löns den Part isa­ 19-jährigen Erich Loest. "Ein Hauptmann forderte uns zum
nenkampf von Bauern in der Lüneburger Heide während des Kampf hinter den Linien auf", erinnerte sich der Schriftsteller
Dreißigjährigen Kriegs schildert. später. "Unsere Aufgabe sollte es sein, den Feind zurückzu­
Ein Organisator der Terrorakte ist schnell gefunden: halten, bis die neuen Waffen fertig sind." Diese "Wunderwaf­
Hans-Adolf Prützmann, ein früher Hitler-Anhänger und fen", so die Propaganda, sollen noch den Endsieg bringen.
glühender Nationalsozialist, der sich durch die gnadenlose Ausbilder der Waffen-SS drillen die Untergrund kämpfer
Bekämpfung von Partisanen in der Ukraine einen Namen in geheimen Trainingslagern in der Kleinkriegsführung. In
gemacht hat. Er wird "Generalinspekteur für Spezialabwehr ein- bis zweiwöchigen Kursen lernen sie, mit Sprengstoff
beim Reichsführer SS". umzugehen, Nachrichtenverbindungen zu unterbrechen und
Nachschubwege zu zerstören. Auch das lautlose Töten steht
on Berlin und von Schloss Hülchrath im Rheinland auf dem Programm. Am Ende schwören die Werwölfe einen

V aus leitet Prützmann die Ausbildung der Untergrund­


kämpfer. "Entschlossene Männer und Frauen jeden
Alters" sollen für die Werwölfe gewonnen werden. Doch trotz
feierlichen Eid: Sie geloben nicht eher zu ruhen, bis der letzte
Feind vertrieben ist. Sie versprechen den "rücksichtslosen
Kampf gegen alle Verräter und Überläufer" und dass sie be­
der Appelle: Die Zahl der Freiwilligen ist überschaubar, aller­ reit sind, dabei ihr Leben zu geben.
dings liegen gesicherte Zahlen nicht vor. Rund 1000 Wer­ Die Werwölfe sollen sich vom Feind überrollen lassen,
wölfe sollen es im Osten des Reichs sein. Dort treiben die sich tagsüber in Zivil unter der Bevölkerung bewegen und
Gräueltaten der Roten Armee der Sondergruppe Prützmann nachts ihre Attacken ausüben. "Ein vorzüglicher Soldat" und
die Kämpfer zu. Im Westen, im Angesicht von amerikani­ "zugleich Jäger und Pionier" müsse der Werwolf sein, heißt
schen und britischen Soldaten, sind es deutlich weniger. es in der Ausbildungsfibel. Ihr Erkennungszeichen ist die
Kriegserfahrene Soldaten stehen nicht zur Verfügung, sie Wolfsangel, zwei Runen, die die Buchstaben "i" und "s" bil­
kämpfen an der Front. Es sind vor allem Hitlerjungen oder den. Sie stehen für: "Ich siege".
Mädchen vom Bund Deutscher Mädel, die sich melden. Man­ Zu Einsatzgebieten werden anfangs nur die Eifel, der
che sind gerade erst 14, 15 Jahre alt. Sie glauben noch an den Schwarzwald und Ostpreußen bestimmt, später auch Böh-

70 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


Im Glauben an den "Führer"
Linke Seite: Erich Loest als Hitlerjunge. Wie viele andere
auch lockt ihn später als Jugendlicher die Propaganda des
NS-Regimes (Mitte). Er will als Werwolf Adolf Hitler ver­
teidigen. Doch Loest wird von Amerikanern festgenommen
und eingesperrt. Nach der Freilassung schweigt er über
seinen Einsatz und entgeht so einer Verhaftung durch die
Sowjets. Er wird Schriftsteller in der DDR, siedelt in den
Westen über (links). 2013 begeht er Selbstmord

verbreitet "Radio Werwolf" von nun an vermeintliche


Erfolgsmeldungen. Die Propaganda verfehlt ihre Wirkung
nicht. Die Sorge der Amerikaner und Briten vor einem bluti­
gen Partisanenkampf ist groß. Schon im September 1944
hatte der amerikanische Geheimdienst vor einem Guerilla­
krieg auf deutschem Boden gewarnt. Der Sender verstärkt
die Furcht. Kein Soldat will sich noch in letzter Minute von
fanatischen Endkämpfern erschießen lassen.
Britische und amerikanische Medien berichten über
hasserfüllte Jugendliche, die sich in Wäldern oder Häusern
verbergen. Gerüchte machen die Runde. Auf Hauswänden
taucht die Wolfsangel auf, Flugblätter mit dem Werwolf-Sym­
bol werden an Laternenpfähle geklebt, oft in Verbindung mit
dem Text: "Wer nicht mitmacht - ist gegen uns!" Von bis zu
200000 deutschen Werwölfen gehen die Amerikaner aus.
men und Mähren, Nieder- und Oberschlesien. Proviant und Britischen Soldaten ist es unter Strafandrohung verboten,
Munition werden in unterirdischen Depots versteckt, ein­ deutsche Lebensmittel zu essen oder deutsche Zigaretten zu
fache Bunker angelegt. Sie dienen als Stützpunkte für die rauchen. Der britische Geheimdienst MI5 warnt vor vergifte­
kleinste eigenständige Kampfeinheit, die fünfköpfige Jagd­ ten Würstchen, Zucker oder Ersatzkaffee, deren Verzehr zum
gruppe, angeführt zumeist von einem SS-Mann, dem "Leit­ Tod führt. Und vor weiblichen Werwölfen, die Puderdosen
Wolf". Für größere Aktionen, wie Angriffe auf befestigte Stel­ mit tödlichen Bakterien mit sich führen.
lungen, sollen sich "Jagdzüge" oder "Streifkorps" bilden.
Doch dazu kommt es kaum. Die militärische Wirkung der ie Angst ist maßlos übertrieben. Die meisten Opfer der
Werwölfe ist gering. Zu schnell rücken die Alliierten vor, zu
chaotisch sind die Zustände in den letzten Kriegswochen.
Befehle erreichen die Gruppen nicht, Unterstützung bleibt
D Werwölfe sind Deutsche. Eine unbekannte Zahl von
Zivilisten und Soldaten, die nicht mehr für Führer und
Vaterland ihren Kopf riskieren wollen, stirbt in den letzten
aus, die Bevölkerung ist kriegsmüde. Viele Kämpfer setzen Kriegstagen. Doch welcher Mord geht auf Werwölfe zurück?
sich ab und gehen nach Hause. Der von Himmler erhoffte Welche auf den Volkssturm, auf die Hitlerjugend oder auf
flächendeckende Aufstand bleibt aus. Sondereinheiten? Gegen Ende des Krieges zerfließen die
Das entgeht auch Joseph Goebbels nicht. "Ich bin mit Grenzen.
der Arbeit unserer Werwolf-Organisation nicht zufrieden", Bei der "Penzberger Mordnacht" gibt es keinen Zweifel. In
notiert der oberste Nazi-Propagandist in seinem Tagebuch. dem kleinen oberbayrischen Ort, 50 Kilometer südlich von
"Nicht der richtige Druck" stecke dahinter. Als "Generalbe­ München, hört Hans Rummer am Morgen des 28. April 1945
vollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz" reißt Goebbels Radio. Die "Freiheitsaktion Bayern" meldet, das NS-Regime
die Werwolf-Bewegung an sich. Über die Köpfe von Prütz­ in München sei gestürzt. Rummer, ehemals SPD-Bürgermeis­
mann und Himmler hinweg proklamiert er eine neue Strate­ ter des Ortes, verhindert daraufhin mit Weggefährten die
gie. Statt eines Guerillakriegs hinter den Linien fordert er von den Nazis geplante Sprengung des Bergwerks. Er befreit
nun alle Deutschen zum Kampf "bis zur Selbstvernichtung" Zwangsarbeiter und Gefangene aus benachbarten Lagern
auf - mithilfe des Rundfunks. und setzt den nationalsozialistischen Bürgermeister ab.
Am 1. April 1945, einem Ostersonntag, fünf Wochen vor Doch die Meldung vom Sturz erweist sich als falsch. Sol­
Kriegsende, erhebt der "Sender Werwolf" auf der Frequenz daten der Wehrmacht umstellen auf Befehl des Münchner
des Deutschlandsenders erstmals seine drohende Stimme: Gauleiters Paul Giesler das Rathaus, erschießen Rummer und
"Wo ein Freiheitskämpfer fällt, stehen neue auf. Verräter, sechs seiner Mitstreiter. Später stößt auf Anordnung von
Feiglinge und Gesinnungslumpen fallen unter unseren Hie­ Giesler eine Werwolf-Gruppe hinzu. Sie erhängt neun weitere
ben. Tod unseren Feinden, Sieg unserer Freiheit! Hass ist un­ Menschen, die als Verschwörer gelten, darunter eine schwan­
ser Gebot und Rache unser Feldgeschrei." Täglich um 19 Uhr gere Frau. Ihren Opfern legen sie ein Schild mit der Aufschrift

P.M. HISTORY - NOVEMBER 2015 71


HITLERS AGENTEN

72 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


"Werwolf" um den Hals. Auf Flugblättern warnen sie: "Un­
sere Rache ist tödlich!" Zwei Tage später marschieren die
Amerikaner in Penzberg ein. Die Alliierten gehen mit großer
Härte gegen wirkliche oder vermutete Werwölfe vor. Bei
Aachen sterben am 5. Juni zwei Hitlerjungen im Alter von 16
und 17 Jahren im Feuer eines Erschießungskommandos. Ein
Kriegsgericht hatte sie angeklagt, US-Truppen ausspioniert
zu haben. Im Osten kommt es oft gar nicht erst zu einem Ver­
fahren. Im Kampfgebiet angetroffene Hitlerjungen werden
von der Roten Armee in der Regel kurzerhand erschossen.
Erich Loest gehört nicht dazu, er hat Glück. Er liegt wenige
Tage vor Kriegsende versteckt in einem Wald in der Oberpfalz,
den die Amerikaner auf der Suche nach Werwölfen durchkäm­
men. Loest kann fliehen, wird aber später von den US-Soldaten
gefasst und eingesperrt. Nach dreiwöchiger Gefangenschaft
kommt er frei und kehrt in seine Heimatstadt Mittweida zu­
rück, die mittlerweile von der Roten Armee besetzt ist. Von
seiner Verpflichtung als Werwolf erzählt er niemandem et­
was - das rettet ihm womöglich das Leben.

m 24. April 1945 stellt der "Sender Werwolf" seinen

A Betrieb ein. Am 5. Mai, kurz nach Hitlers Selbstmord,


verbietet Admiral Karl Dönitz, der vom "Führer" zu
seinem Nachfolger bestimmt wurde, die Organisation. Denn
diese schade dem deutschen Volk. Der Kampf der jungen
Partisanen ist vorüber, mit ganz wenigen Ausnahmen. So
kommt es in Böhmen und Mähren auch nach Kriegsende
noch zu vereinzelten Anschlägen von Werwölfen.
Doch die Geschichte der Organisation ist längst nicht
vorbei, sie wirkt bedrückend nach, vor allem in der sowje­
tischen Besatzungszone. Unter dem Vorwurf, Werwolf ge­
wesen zu sein, werden rund 10 000 Kinder und Jugendliche
verhaftet und ohne rechtsstaatliche Ermittlungen in Lager
gesperrt. Nicht darunter ist Erich Loest: "Ich, der ich tat­
sächlich ein Werwolf gewesen war, konnte am Wochenende
tanzen gehen, während meine Altersgenossen im Lager
saßen." Fast 1000 Jugendliche haben weniger Glück. Sie
müssen im Februar 1947 in einen Zug nach Sibirien steigen.
Dort, in den Arbeitslagern, stirbt fast jeder Dritte. Die Über­
lebenden kehren erst 1952 heim.
Im Westen erfolgt die Aufarbeitung vor Gericht - mit er­
staunlichen Urteilen. Im Fall der "Penzberger Mordnacht"
müssen sich 1948 17 Männer verantworten. Zwei der Täter
werden zum Tode verurteilt, weitere zu Haftstrafen. In spä­
teren Prozessen werden die Strafen reduziert oder aufge­
hoben. Auch in Aachen zeigen die Richter im Prozess gegen
die Mörder von Franz Oppenhoff große Milde. Die geringen
Strafen, die die sechs Täter erhalten, werden in einem spä­
teren Verfahren aufgehoben - wegen "Befehlsnotstand".

Rainer Busch findet es bedrückend. dass einige


Werwolf-Fanatiker noch kurz vor Kriegsende

Unschuldige ermordeten - und die Organisation

auch noch nach 1945 zahlreiche Opfer forderte.

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 73


HITLERS AGENTEN

ZUnt Weiterlesen ...


Buchtipps zum Titelthema von der Redaktion

WERWOLF-STANDARD
Wer sich mit den NS-Wer­
wölfen näher beschäftigen
will, kommt an diesem Buch
nicht vorbei. Es ist die
einzige halbwegs aktuelle
Gesamtdarstellung - was
sehr verdienstvoll ist, weil
viele neue Dokumente
ausgewertet werden,
insbesondere zur Verfolgung
von vermeintlichen Werwöl­
fen in der späteren DDR.
Deutlicher Schwachpunkt:
RUNDUM INFORMATIV
Michael Dobbs beschreibt nicht
Das Werk ist unklar
nur die Ereignisse auf spannende
gegliedert, voller Wieder­
Weise szenisch und nah an den
holungen, es fehlt an Ge­
Personen, sondern vermittelt auch
wichtung und Einordnung.
viel Hintergrundwissen, ohne
Volker Koop
Himmlers letztes Aufgebot. schwerfällig zu werden - vor allem
Die NS-Organisation zu den Interessen des FBI, zur
"Werwolf" amerikanischen Innenpolitik und
Böhlau, 2008, 24,90 Euro dem umstrittenen Prozess gegen
die deutschen Saboteure vor
einem Militärtribunal. Gut zu lesen
und sehr detailreich recherchiert.
Michael Dobbs
Saboteurs: The Nazi Raid
on America

�SPY 11TH
Vintage Books, 2005, antiquarisch
oder als E-Book, ca. 13 Euro

29 NAMES
JAlON lEBSTER MEHR DOPPELAGENTEN
Ben Macintyre schildert ein größeres
ROBERT OERWARTH
Szenario des Doppelagentensystems,
mit dem die Briten Hitler täuschten.
REINHARD
Neben "Garbo" treten vier weitere
wichtige Doppelagenten in den HEYDRICH
BIOGRAPHIE
Hauptrollen auf.
Ben Macintyre
Double Cross
Bloomsbury, 2012, ca. 12 Euro

BEN MACINTYRE
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Jason Webster erzählt
Juan Pujol Garcias bizarre
Geschichte so spannend
wie einen Spionageroman
und untermauert seine
unglaubliche Story dabei
immer sachlich solide.
HINTERGRÜNDIG
Der Autor stellt Heydrich nicht einfach nur als
Jason Webster
The Spy With 29 Names Bestie dar, sondern beschreibt seine große

Vintage Books, 2015, Bedeutung für die Nationalsozialisten bei der

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Robert Gerwarth
Reinhard Heydrich: Biographie
Pantheon, 2013, 16,99 Euro

74 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


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76 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015
FIRST LADY ROMS
Zur Hochzeit wird sie gezwungen, ihrem Mann hilft sie dennoch als
kluge Beraterin: Livia Drusilla steigt an der Seite von Kaiser Augustus
zur bedeutendsten Frau im Römischen Reich auf Sie fördert
zahlreiche Günstlinge - Gegner lässt sie einfach ermorden

Von Thomas Röbke

s ist ein bizarres Hochzeits­ Gefühlen bei der angeordneten Hoch­

E
arrangement an diesem Okto­ zeit ist nichts bekannt, weder hinter­
bertag des Jahres 39 v. ehr. lässt sie eigene Aufzeichnungen noch
in Rom: Die hochschwangere, bleiben Berichte von Zeitzeugen er­
kaum 20 Jahre alte Livia Dru­ halten. Vielleicht ist sie sogar froh, die
silla wird von ihrem gerade geschiede­ Ehe mit dem so viel älteren Tiberius
nen Ehemann und Vater ihres ungebo­ Claudius Nero auf diese Weise beenden
renen Kindes zum künftigen Bräutigam zu können. Arrangierte Ehen sind in
geführt. Sie soll ausgerechnet Octavian den vermögenden und adligen Fami­
heiraten, einen Mann, vor dessen Sol­ lien damals der Normalfall, Liebe kein
daten die junge Frau mit ihrer Familie Kriterium. Vielleicht spürt Livia bereits
noch vor Kurzem geflohen ist. Jenen das Machtpotenzial, das in dem ehrgei­
Octavian, dessen 24. Geburtstag sie vor zigen Octavian steckt, und erhofft sich,
wenigen Wochen gemeinsam gefeiert davon zu profitieren. Tatsache ist: Livia
hatten und der so von ihr fasziniert und Octavian bleiben 52 Jahre lang ein
war, dass er ihren Ehemann auffor­ Paar - bis der Tod sie scheidet. Und das,
derte, sich von ihr scheiden zu lassen. obwohl Livia ihm nie den ersehnten
An diesem Oktobertag beginnt eine Sohn, einen leiblichen T hronfolger,
wunderbare Doppelkarriere. schenken kann. Und obwohl er später,
Denn während Octavian als Kaiser als Kaiser Augustus, zahlreiche Gelieb­
Augustus die Weltgeschichte prägt, te hat - die sie ihm zum Teil sogar zu­
wird Livia zur mächtigsten Frau im Ansehen der zugehörigen Frauen zu führt. Etwas ganz Besonderes scheint
Römischen Reich. Sie ist eine Meisterin steigern. Und hat so ganze Familien in dieses Herrscherpaar zu verbinden, das
des Klüngels: Geschickt spinnt sie ein der Hand. Sie ist die loyale Beraterin weit über die Erotik der Macht hinaus­
dichtes Netz von Verpflichtungen und ihres Mannes - und sie lässt jeden, der reicht.
Abhängigkeiten. Sie unterstützt nach ihren Ränken im Wege ist, eiskalt Wie können wir uns Livia vorstel­
Kräften diejenigen, die ihr genehm und ermorden. Eine unglaubliche Biografie. len? Der Althistoriker Ronald Syme
nützlich sind oder werden könnten. Sie Wie aber wird Livia nur so skrupellos schreibt: "Die kalte Schönheit mit den
baut ein Netzwerk mit einflussreichen und machtbesessen? schmalen Lippen, der dünnen Nase und
Frauen auf, fördert die Ehemänner und Die Heirat mit Octavian jedenfalls dem entschlossenen Blick hatte in vol­
Kinder ihrer Günstlinge, um auch das verändert ihr Leben radikal. Von ihren lem Maße die politischen Fähigkeiten

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 77


LIVIA DRUSILLA

Im Osten des Reichs wird Livia


als Göttin verehrt. Auf Bildern
und Statuen wird sie gepriesen

zweier Häuser geerbt, der Claudii und Niemand käme auf die Idee, sie
der Livii, die in Rom über Macht aus als reines Beiwerk des Herrschers zu
eigenem Recht verfügten. Sie beutete betrachten. Sie besitzt selbst großen
ihre Klugheit zu ihrem eigenen und Reichtum - und sie mehrt ihr eigenes
ihrer Familie Vorteil aus. Augustus Vermögen ständig, beteiligt sich an
unterließ es nie, ihren Rat in Staats­ einem Kupferbergwerk und erwirbt
geschäften einzuholen. Es lohnte sich, Mietshäuser. Dass sie das Recht hat,
ihn zu haben, und sie verriet nie ein ihren Besitz eigenständig zu verwalten,
Geheimnis." ist in Rom nicht selbstverständlich: Die
Livia begleitet Octavians Weg zur meisten Frauen stehen in wirtschaft­
alleinigen Macht. Nach Cäsars Tod lichen Dingen unter männlicher Vor­
muss er sich die Regierungsgewalt zu­ mundschaft. Livia hingegen komman­
nächst mit zwei Männern teilen (siehe diert 150 Diener und einen eigenen
Kasten auf Seite 83). Doch es reicht ihm Bautrupp. Immer wieder versteht sie
nicht, einer von drei Triumvirn zu sein. es geschickt, mit ihrem Reichtum das
Seinen Konkurrenten Marcus Aemilius Ansehen und den Aufstieg ihrer Söhne
Lepidus, den schwächsten der Trium­ Tiberius und Drusus zu fördern.
virn, stellt er elegant kalt. Doch sein Im Osten des Römischen Reichs -
Konflikt mit Marcus Antonius im Jahr also vor allem in Griechenland, Klein­
32 v. Chr. eskaliert zu einem Krieg, aus asien und dem östlichen Mittelmeer -
dem er als Sieger hervorgeht. Als Anto­ wird Livia schon bald als Göttin
nius und dessen Geliebte Kleopatra sich verehrt. Im Westen ist man zurück­
30 v. Chr. selbst töten, wird Octavian haltender, doch auch hier wird sie
zum Alleinherrscher über das Römi­ "noch zu Lebzeiten des Augustus durch
sche Reich. Und 27 v. Chr. verleiht man die Aufstellung von Statuen und die
ihm den Beinamen Augustus, "der Er­ Verehrung von Bildern in eine göttliche
habene". Der Name eines Kaisers. Sphäre gerückt. Öffentliche Weihun­
Er erlässt unter anderem neue sitt­ gen reichen von reinen Ehrenwidmun­
liche Regeln - und Livia setzt sich an gen bis zu kultischen Verehrungen",
die Spitze der neuen Tugendbewegung, schreibt die Historikerin Christiane
verkörpert die gesellschaftliche und Kunst, Autorin von "Livia. Macht und
moralische Erneuerung. Sie trägt nun Intrigen am Hof des Augustus".
stets die Tracht einer Matrone. In Rom
steht dieser Begriff für eine untadelige, och einen männlichen Erben
vornehme Dame und Familienmutter,
zugleich werden auch Muttergotthei­
ten so bezeichnet.
D kann Livia ihrem Kaiser nicht
bieten - Augustus bleibt "nur"
die Tochter Julia von seiner zweiten
In der ersten Dekade von Augustus' Ehefrau. Was Livia nicht davon abhält,
Alleinherrschaft gibt sich Livia in der eine neue Dynastie aufzubauen - indem
Öffentlichkeit zurückhaltend, so als ob sie ihre Familie, die Claudier, mit der
sie falsche Schritte vermeiden wolle. ihres Mannes, den Juliern, verbindet.
Doch sie beobachtet ihren Mann auf­ Sie arrangiert die Ehen zwischen ihrer
merksam, und schon bald gewinnt sie Enkelin und Augustus' Enkel Gaius so­
an Profil. Vor allem weicht sie Augustus wie zwischen ihrem Sohn Drusus (mit
nicht von der Seite, und allen ist klar: dem sie bei der Hochzeit schwanger
Der Weg zum Kaiser führt über Livia. war) und einer Nichte von Augustus.
Sie ist seine geschätzte Ratgeberin. Vor allem aber forciert sie die Heirat

78 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 79
LIVIA DRUSILLA

ihres Sohns Tiberius mit Augustus'


Tochter Julia. Tiberius muss sich dafür
von seiner Ehefrau Vipsania scheiden
lassen, die mit dem zweiten gemein­
samen Kind schwanger ist. Er beugt
sich, doch die Zweckehe wird im Jahr
2 v. Chr. geschieden und Julia in die
Verbannung geschickt. Angeblich soll
sie untreu gewesen sein, in Wirklichkeit
betreibt Livia die Trennung. Denn Julia
ist ihr eine zu große Konkurrentin ge­
worden. Die erzwungene Trennung von
Vipsania aber wird Tiberius seiner Mut·
ter niemals verzeihen.

ieben Jahre zuvor war Drusus bei

S einem Feldzug zwischen Saale


und Rhein vom Pferd gestürzt und
dabei so schwer verletzt worden, dass er
wenige Tage später starb. Ein schwerer
Schlag für Tiberius wie für Livia. Der
Tod ihres jüngeren Sohns verändert sie
wohl tatsächlich. Doch dass sie mensch­
Anziehende Macht licher und nahbarer erscheint, ist vor
Livia inspiriert noch lange nach ihrem Tod die Künstler. Im 1. Jahrhundert allem das Werk eines Imageberaters.
n. Chr. entsteht eine Livia-Büste aus Bronze, die heute im Louvre in Paris "Nach dem Tod des Drusus wurde der
ausgestellt wird (oben rechts). Im französischen Vienne erinnert ein Tempel Philosoph Areus herangezogen", urteilt
bis heute an Augustus und Livia (unten). Ihr Sohn Tiberius regiert von 14 bis die Biografin Christiane Kunst, "Livia in
37 n. Chr. (oben links) der Trauer um ihren Sohn beizustehen.
Dieser soll ihr nun geraten haben, die
strenge Haltung um ihres Seelenfrie­
dens willen aufzugeben. Livia wurde
wohl auf größere Leutseligkeit fest·
gelegt." Und ihre Mutterrolle wird in
der Öffentlichkeit durch eine Reihe von
Ehrungen und Statuen stärker betont,
was, Ironie des Schicksals, schon zu
Beginn des Jahres 9 v. Chr. eingeleitet
wird, als Drusus noch lebt. Livia ist da­
mit endgültig in ihrer Rolle als "Mutter
der Nation" angekommen, eine Über­
Matrone.
Und sie wird auch zur Mutter des
neuen Kaisers. Denn zwei von Augus­
tus' Enkelsöhnen, Gaius und Lucius,
sterben noch zu dessen Lebzeiten, und
der dritte, Agrippa Postumus, ist mit
seinen 16 Jahren noch zu jung, als der
Kaiser seine Nachfolge regeln will. So
bleibt Augustus keine Wahl: Er adop­
tiert Livias Sohn aus erster Ehe und
macht Tiberius so zu seinem Erben.
Im Jahr 14 n. Chr. stirbt schließlich
Kaiser Augustus. Wieder beweist Livia
ihren Sinn für Dramatik, indem sie ver­
breiten lässt, seine letzten Worte seien

80 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


Livia lässt den letzten Enkel des Kaisers töten.
So ebnet sie ihrem Sohn den Weg zur Macht
an sie gerichtet gewesen: "Lebewohl, dend vergrößern. Und sie gewinnt wei­ Nach wie vor ist sie die erste Frau im
Livia, und gedenke unseres gemein­ ter an Macht. Wie vom Kaiser testa­ Staate, nun hinter Kaiser Tiberius. Oft
samen Lebens." Ein geschickter Zug, mentarisch verfügt, wird Livia vom von seinem Stiefvater Augustus zurück­
analysiert die Historikerin Christiane Geschlecht der Julier adoptiert. Julia gesetzt, feiert der 56-Jährige mit seiner
Kunst: "Das ließ den Kaiser als einen Augusta lautet nun ihr offizieller Herrschaft einen späten Triumph. Zu­
Mann von Gefühl, dessen letzte Gedan­ Name - sie ist die erste Frau, die diesen gleich ist er zutiefst verbittert. Denn er
ken seiner Frau galten, milde und groß­ Ehrennamen trägt. Sie setzt sich beim weiß sehr wohl, dass er seine Position
herzig erscheinen. Gleichzeitig wurde Senat erfolgreich dafür ein, dass Augus­ nicht eigenen Verdiensten zu verdan­
Livia damit ausgezeichnet, für Treue tus zum Gott ernannt wird und sie zu ken hat, sondern dem Tod der Konkur­
und Beständigkeit belohnt." Livia lässt seiner Priesterin - zur ersten Priesterin renten und dem Intrigenspiel seiner
noch schnell Augustus' letzten leib­ eines männlichen Gottes überhaupt. Mutter.
lichen Enkel, den nunmehr 26-jährigen Zu Augustus' Vergöttlichung trägt ent­ "Weil er sich durch seine Mutter
Agrippa, ermorden. Sicher ist sicher. scheidend die Aussage eines früheren Livia eingeengt fühlte, da sie seiner
Durch Augustus' Tod erbt Livia ein Prätors bei, der behauptet, er habe Ansicht nach einen gleich großen Anteil
Drittel seines Vermögens - zwei Drittel Augustus' Seele aufsteigen sehen. Livia an der Machtausübung beanspruchte",
gehen an Tiberius - und kann dadurch ist diese Aussage ungeheuerliche eine schreibt der römische Schriftsteller
ihr Wirtschaftsimperium noch entschei- Million Sesterzen wert. Sueton, "vermied er ein häufiges Zu­
sammentreffen mit ihr und längere
Gespräche unter vier Augen, damit es
nicht so aussehe, als werde er durch
Ein Mord mit Folgen ihre Ratschläge regiert."

Wie Cäsars Tod die Republik in einen Bürgerkrieg stürzt Im Jahr 22 macht er sich von ihrer
Übermacht frei und bricht jeden Kon­
Livias Aufstieg ist ohne die takt mit Livia ab. Als sie im Jahr 29
Ermordung Julius Cäsars am stirbt, bleibt der Kaiser der Beerdigung
15. März 44 v. Chr. nicht zu er­ fern. Stattdessen schadet er Freunden
klären. Mit seiner Selbsternen­ und Vertrauten der verhassten Mutter,
nung zum "Diktator auf Lebens­ wo er kann, verurteilt diese zu schwe­
zeit" hatte Cäsar sich den ren Strafen, lässt sie sogar ermorden
römischen Adel zum tödlichen oder treibt sie in den Selbstmord. Seine
Feind gemacht. Mit dem Atten­ Motive seien aus heutiger Sicht nur sehr
tat auf Cäsar versuchten die schwer zu verstehen, meint Christiane
Aristokraten, Macht und Einfluss Kunst: "Vieles deutet auf einen zutiefst
zurückzugewinnen. Ihr Plan scheiterte aber. Denn der von Cäsar adoptierte verletzten Menschen, der nun Rache an
Octavian, sein Großneffe, eroberte den T hron. Er regierte das Römische seinem Peiniger nimmt."
Reich zunächst im Triumvirat mit Marcus Antonius und Marcus Aemilius Fünf Jahre nach Tiberius' Tod lässt
Lepidus. Sie schlugen die Heere des römischen Adels in der Doppelschlacht sein Neffe Claudius seine Großmutter
von Philippi im September 42 v. Chr. Livias Vater, Marcus Livius Drusus Livia zur Göttin erklären, ein Jahr nach­
Claudianus, der sich den Cäsar-Attentätern angeschlossen hatte, stürzte dem er im Jahr 41 zum römischen Kai­
sich aus Verzweiflung und aus Angst vor Octavians Rache in sein Schwert. ser ernannt wird. Es möge, so erhofft er
Livia floh mit ihrem Mann und dem 13 Monate alten Tiberius vor Octavians sich, etwas von ihrem Glanz auf seine
Soldaten ins griechische Sparta. Doch für Octavian war das Thema "Rache Herrschaft fallen.
für Cäsars Tod" mit der siegreichen Schlacht offenbar abgeschlossen, und
er suchte die Aussöhnung mit dem Adel. Als er Livia kennenlernte, hatte er
sich von seiner zweiten Ehefrau Scribonia nach nur einjähriger Ehe gerade Thomas Röbke findet die
getrennt - der Scheidungsbrief erreichte diese am Tag ihrer Niederkunft mit Vorstellung hochinteressant

der gemeinsamen Tochter Julia. Nun will Octavian die junge Livia heiraten. welchen Weg Livia mit ihren

Er bittet deren Mann T iberius Claudius Nero, sich scheiden zu lassen. Und Talenten wohl heutzutage

dieser stimmt zu, er verspricht sich davon eine Allianz mit Octavian. Tiberius einschlagen würde. Oder ist sie vielleicht

Claudius Nero führt Livia sogar bei der Hochzeit ihrem neuen Ehemann zu. längst unter uns?

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 81


Zahlen der Geschichte
....-
. ....------....
... - ., ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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hundert entstandene SCHÜSSE feuerte
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MINNESANG
VON 140 DICHTERN
seit dem Jahr 1160.

6000
Viele der derzeit
lebenden rund

2800
NACHKOMMEN des
Reformators
Martin Luther und
seiner Geschwister
sind als "Lutheriden"
organisiert.

Der "Fliegende Hamburger" war


ein Diesel-Schnellzug, der ab 1933
zwischen Berlin und Hamburg
verkehrte. Die 286 KILOMETER lange
Strecke legte er laut Fahrplan in
138 MINUTEN zurück. Erst 1997
wurde der Rekord eingestellt.

Im Kolosseum in Rom (erbaut


zwischen 72 und 80 n. ehr.) fanden bis zu
50000 ZUSCHAUER PLATZ.
Damit ist es das größte je errichtete
Amphitheater der Welt.

50 STAATEN,

82 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


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Pressevertrieb GmbH, Nils Oberschelp (Vorsitz), Heino DOhrkop, Dr. Michael Rathje. DOsternstraße 1-3, 20355 Hamburg, als leistender Unternehmer. AG Hamburg, HRB 95752 .

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Sie waren die besten Reporter der Geschichte. Sie schöpften aus dem prallen Leben.
Diesmal im Originalton: Nellie Bly lässt sich undercover in die Psychiatrie einweisen

m 22. September wurde als Schauspielerin und hielt mich für und Sanftmut ich so schnell nicht ver­

A
ich von der "NewYork fähig, den Wahnsinn lange genug gessen werde. ( ...)
World" gefragt, ob ich vorspielen zu können, um jeden mir Die Menschen draußen in der Welt
mich in eine der New anvertrauten Auftrag zu erfüllen. können sich nicht vorstellen, wie lang
Yorker Anstalten für Würde ich eine Woche in der Irren­ die Tage in der Anstalt sind. Sie schei­
Geisteskranke einweisen lassen anstalt auf Blackwell's Island verbrin­ nen niemals zu enden, und wir waren
könnte, um einen schlichten und gen können? Ich sagte, dass ich es über jeden Zwischenfall froh, der uns
ungeschminkten Bericht über die könnte und dass ich es tun würde. etwas gab, worüber wir nachdenken
Behandlung der dortigen Patientinnen, Und ich tat es. ( ...) und uns unterhalten konnten. Es
die Methoden der Verwaltung usw. zu Aber erlauben Sie mir an dieser Stelle gibt nichts zu lesen, und das einzige
verfassen. Ob ich den Mut hätte, mich noch eine Bemerkung: Von dem Mo­ bisschen Unterhaltung, das sich nie
derart hart auf die Probe stellen zu ment an, da ich die Station für Geistes­ abnützt, besteht darin, sich köstliche
lassen, wie es dieser Auftrag verlangte? kranke auf der Insel betrat, machte Speisen auszumalen, die man erstehen
Könnte ich die Merkmale des Wahn­ ich keinen Versuch mehr, meine Rolle wird, sobald man draußen ist. Voller
sinns gut genug vortäuschen, um die der Geisteskranken weiter aufrechtzu­ Unruhe erwarteten wir die Stunde, in
Ärzte zu überzeugen und um eine erhalten. Ich redete und verhielt mich der das Boot ankam, damit wir sehen
Woche unter den Verrückten zu leben, genau so, wie ich es auch sonst im konnten, ob irgendwelche neuen Un­
ohne dass die Aufseher dort heraus­ Alltag tue. Und doch, so merkwürdig es glücklichen unsere Reihen verstärken
fänden, dass ich bloß ein Störenfried klingt: Je vernünftiger ich redete und würden. Wenn sie kamen und in den
war, der sich Notizen macht? Ich sagte, handelte, für desto verrückter hielt Aufenthaltsraum geführt wurden,
dass ich es zu können glaube. Ich hatte man mich - mit der einzigen Ausnah­ versicherten sich die Patientinnen ge­
einiges Vertrauen in meine Fähigkeiten me eines Arztes, dessen Freundlichkeit genseitig ihres Mitgefühls für sie und

84 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


waren bemüht, ihnen kleine Zeichen in ein kaltes Bad.Dann warfen sie sie sie den Patientinnen auch nur die
ihrer Aufmerksamkeit zukommen zu auf ihr Bett. Als der Morgen anbrach, geringste Aufmerksamkeit schenken.
lassen.Station 6 war die Empfangs­ war das Mädchen tot.Die Ärzte sagten, Wie kann ein Arzt den Verstand einer
station, und so kam es, dass wir alle dass sie an Krämpfen gestorben sei. Frau beurteilen, wenn er ihr bloß einen
Neuankömmlinge sahen. ( ...) Ansonsten unternahmen sie nichts. guten Morgen wünscht und ihre Bitten
Ich machte die Bekanntschaft von Sie injizieren den Patientinnen so viel um Entlassung nicht anhört? Sogar
Bridget McGuinness, die zum damali­ Morphium und Chloral, dass sie ver­ die Kranken wissen, dass sie sich nicht
gen Zeitpunkt geistig gesund erschien. rückt werden. Ich habe Patientinnen zu beschweren brauchen, denn es
Sie sagte, dass sie in den Retreat 4 gesehen, die wegen der Medikamente würde stets heißen, sie bilden sich alles
geschickt und der "Seil-Kolonne" zu­ wild vor Durst waren, aber die Schwes­ nur ein." (...)
geteilt worden war. "Die Prügel, die tern weigerten sich, ihnen etwas zu
ich dort erhielt, waren schrecklich. Ich trinken zu geben. Ich habe Frauen eine ie Irrenanstalt auf Blackwell's
wurde an den Haaren herumgezogen
und unterWasser gehalten, bis mir die
Luft ausging. Ich wurde gewürgt und
ganze Nacht lang vergeblich um einen
1ropfenWasser flehen hören. Ich habe
nach Wasser geschrien, bis mein Mund
D Island ist eine menschliche
Mausefalle.Es ist leicht
hineinzukommen, aber unmöglich
getreten.Die Schwestern postierten herauszukommen. Ich hatte ursprüng­
stets eine ruhige Patientin am Fenster, lich vorgehabt, mich auch in die
die sie warnte, wenn sich einer der Abteilungen für gewalttätige Patientin­
Ärzte näherte.Es war aussichtslos, nen einweisen zu lassen, die Lodge
sich bei den Ärzten zu beschweren, oder den Retreat, aber nachdem ich die
denn die sagten stets, wir litten nur Aussagen zweier geistig gesunder
an den Einbildungen unserer kran- Frauen gehört hatte, die ich nun
ken Hirne. Außerdem schlugen uns wiedergeben kann, entschied ich
die Schwestern zusätzlich, wenn wir mich, meine Gesundheit - und mein
etwas sagten.Sie hielten die Patientin­ Haar - nicht aufs Spiel zu setzen und
nen unterWasser und drohten, sie zu nicht gewalttätig zu werden. (...)
ertränken, wenn sie nicht versprächen, Obwohl ich mich so sehr darauf
den Ärzten nichts zu verraten.Wir gefreut hatte, diesen fürchterlichen
versprachen es alle, denn wir wuss­ Ort zu verlassen, fühlte ich doch
ten, dass uns die Ärzte nicht helfen einen gewissen Abschiedsschmerz,
würden, und wir taten alles, um der als es so weit war und ich wusste,
Bestrafung zu entgehen. Nachdem dass ich wieder frei unter Gottes
ich ein Fenster zerschlagen hatte, Sonnenschein wandeln würde.
wurde ich in die Lodge verlegt, den So töricht es auch scheint: Ich fühlte
schlimmsten Ort auf der Insel.Es ist mich ungemein egoistisch, weil ich
fürchterlich schmutzig da drinnen, meine Mitgefangenen in ihrem Leid
und der Gestank ist entsetzlich. Im zurückließ. Zehn Tage lang war ich
Sommer wimmelt es von Fliegen.Das eine von ihnen gewesen, und nun
Essen ist noch schlechter als das auf verspürte ich für einen Moment den
den anderen Stationen, und es gibt schwärmerischen W unsch, ihnen
nur Zinnteller.Die Gitter sind nicht so dürr und trocken war, dass ich nicht durch mein Mitgefühl und meine
außen angebracht, wie hier auf der mehr sprechen konnte." (...) Anwesenheit zu helfen. Aber kaum
Station, sondern auf der Innenseite.Es Ich habe immerWert darauf gelegt, waren die Gitterstäbe fort, schmeckte
gibt viele ruhige Patientinnen, die seit den Ärzten zu sagen, dass ich geis- mir die Freiheit süßer denn je. Bald
Jahren dort sind, aber die Schwestern tig gesund sei und entlassen werden überquerte ich den Fluss und näherte
behalten sie, damit sie die Arbeit ver­ wolle. Aber je mehr ich mich darum mich New York. Nach zehn Tagen im
richten. Bei einer der Züchtigungen, bemühte, sie von meinem gesunden Irrenhaus von Blackwell's Island war
die ich dort erhalten habe, sind die Verstand zu überzeugen, desto mehr ich nun wieder ein freier Mensch.
Schwestern auf mich gesprungen und zweifelten sie an diesem. "Wozu sind
haben mir zwei Rippen gebrochen. Sie als Ärzte hier?", fragte ich einen
Entnommen aus:
Während ich dort war, wurde ein hüb­ von ihnen, an dessen Namen ich mich
Nellie Bly
sches junges Mädchen eingeliefert.Sie nicht erinnern kann. "Um die Patien­ Zehn Tage im Irrenhaus.
war krank und wehrte sich dagegen, tinnen zu betreuen und ihren Verstand Undercover in der Psychiatrie
Herausgegeben, übersetzt
an diesen schmutzigen Ort gebracht zu zu überprüfen", gab er zurück. "Gut", und mit einem Nachwort
werden.Eines Nachts schnappten die sagte ich. "Es gibt hier sechzehn Ärzte von Martin Wagner

Schwestern sie und hielten sie, nach­ auf der Insel, und mit Ausnahme von
192 Seiten. 15.90 Euro.
dem sie sie geschlagen hatten, nackt zweien habe ich nie gesehen, dass Aviva Verlag 2011

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 85


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Im "Wunderzeichenbuch" ("The Book of Miracles") sind
auf 167 Seiten großformatige Illustrationen zu bestau­
nen. Ein Erklärband enthält Übersetzungen und Erläu­
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Rätsel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

BESONDERE FRAGEN ZUR 13 14 15

16 17

Geschichte 18

21 22
19

23 24
20

25

Das Lösungswort ergibt sich aus den B uchstaben


26 27 28 29 30 31
in den gelben Feldern - in richtiger Reihenfolge
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59 60 61 62

63 84 65 66 67 68

69 70 71 72 73 74 75

76 77 78 79 80 81

82 83 84 85

86 87 88 89 90

91 92 93 94 95 96 97
Waagerecht: 1 Ohne Kunstsinn 9 Frisiergerät
13 Abgeschrägte Kante 14 Kastanienbraun 15
Veralt.: Bezirk 16 Span. Stadt, Provinz 17 Ital. 98 99 100 101 102 103 104 105
Adelstitel 18 SS-Obergruppenführer und SO­
Chef (Reinhard) 20 Südengl. Badeort 21 Einer 106 107 108 109 110 111
der drei Musketiere 24 Pflanze mit Haftfrüch­
ten 26 Röm. Kaiser 27 Insel der Aleuten 29 Bri!.
112 113
Sagenkönig 32 Geländegäng. Motorrad 34 Oper
von Lortzing 36 NS-Untergrundbewegung 39
Nicht dick 40 Arab. Sackmantel 42 Fruchtäther 114 115 116 117
44 Babyspeise 45 Gruppe, Abteilung 49 Farb­
ton 50 Ugs.: gleichgültig 52 Nordnordwest (Abk.)
54 Kanton der Schweiz 55 Nonsens 57 Wortteil
59 Stadt in Oklahoma 60 Niederl. Stadt 62 Süd­
osteuropäer 63 Südfrucht 65 Hohes Bauwerk
(Mz.) 68 Segelschiffstyp 69 Unterwelt der griech.
Lösungswort:
Sage 72 Norw. Dichter t 1906 74 Turngerät 76
Wundabsonderung 78 Zuspruch im Leid 80 Ot. Längenmaß 22 Frz. Männername 23 Abk.: Me­ ort am Meer 90 Ct. Verschlüsselungsmaschine
milit. Geheimdienst 82 Abk.: Reichssicher­ morandum of Understanding 25 Tarnname des 92 Lateinamerik. Tanz 93 Aalfanggerät 94 Kleine
heitshauptamt 83 Türk. Schwarzmeerhafen 84 Überfalls auf den Sender Gleiwitz (Unterneh­ Brücken 95 Flachland 96 Republik in Ostafrika 98
Schloss in Versailles 86 Geflügelte Liebesgötter men ...) 27 Kurort in Graubünden 28 Schlitten­ Altisländ. Schrifttum 99 Ugs.: Tölpel 100 Haupt­
88 Altes Leuchtdichtemaß 89 Geräuscharm 91 gleitschiene 30 Wackelig gehen 31 Ital. Barock­ stadt der Malediven 101 Dickflüssig 103 Frz.
Ugs.: schlechter Wagen 94 Niederl. Stadt 97 maler t 1642 33 Stadt an der Aare 35 Irische Schriftsteller (Pierre) t 1923 105 Jedermann 110
Schott. See (Loch ... ) 98 Abtei in Oberbayern Hauptstadt 36 Poln. Name der Warthe 37 Acker­ Griech. Göttin 111 Grad bei Budosportarten
100 Hauptstadt Lothringens 102 Schwermetall grenze 38 Süßwasserfische 41 Oberbekleidungs­
104 Handlung, Aktion 106 Durchscheinbilder stück 43 Süddt.: scharf gewürzt 45 Angehöriger
(Kw.) 107 Spende 108 Weltalter 109 Zahlungs­ eines german. Volksstamms 46 Leiter des Wehr­ Sie haben zwei Möglichkeiten, das Lösungswort an
mittel 112 Für zwei gegn. Staaten arbeitender machtsgeheimdiensts 47 Kleine, lichte Wälder P.M. zu schicken: per P ostkarte an: P.M. HISTORY,
Spion 113 Stadt bei Bologna 1141tal. Nachrich­ 48 Po-Zufluss 51 Erdgeist 53 Fabrik 56 Frauenna­ Kennwort: HISTORY-Rätsel, 20733 Hamburg
tenagentur (Abk.) 115 Ansprache 116 Kinderspr.: me 58 Trop. Schlingpflanze 61 Partie des Hauptes oder online unter:
Bett 117 Nord. Göttergeschlecht 62 Kleinkunstbühne 64 Engl.: Krankenschwester www.pm-ma9azin.de/gewinnspiele

66 Schiff für Tauchfahrten 67 Stadt im Irak 68 Einsendeschluss: 16. November 2015


Teilnehmen kann nur, wer Postkarte oder Online·Fonnular
Senkrecht: 1 Windhund 2 Lat.: Meer 3 Westl. Jap. Lauteninstrument 70 Musikstil der 60er 71 eigenständig ausfüllt und absendet. Ausdrücklich ausge­
Weltmacht (Abk.) 4 Geistl. Gericht im MA. 5 Jap. Lachsfisch 73 Wundmal 75 Vorn. Hemingways schlossen sind Einsendungen, die beauftragte Oktnstleister
Porzellanstil 6 Quälfreudiger Mensch 7 Sport­ 76 Ritter der Tafelrunde 77 Sohn Odins 79 Drall für ihre Kunden/Mitglieder vornehmen. Mitarbeiter des
Verlags Gruner Jahr sowie deren Angehörige dürfen nicht
größe 8 Landschaftsform 9 WÜrfel 10 Blutsver­ des Balls (engl.) 81 D!. Schauspielerin (Nina) 85 +

teilnehmen. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.


wandter 11 Erschöpft 12 Anstrengung 19 Engl. Verbindungsbolzen 87 Zugeteilte Menge 88 Kur-

94 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


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Steinacker, Stuttgart; Anita Tankiewicz , Kerpen; Peter
Systemgehäuses befand. E-Mail: history@pm-magazin.de
Thalacker, Strausberg; Linde Weiland, Bad Bevensen
Andreas Kurpisz, per E-Mail Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.

P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015 95


Vorschau

TITELTHEMA

SUPERMACHT HANSE
Ihre Koggen kreuzten auf allen Meeren und mehrten den Reichtum der Kaufleute in den
rund 200 Städten, die dem Handelsimperium angeschlossen waren. Lübeck war die reichste
und mächtigste unter ihnen und führte das Bündnis die meiste Zeit seines 600-jährigen
Bestehens an - auch im Kampf gegen Piraten wie Klaus Störtebeker (r.: angeblich sein Schädel).
Neueste Forschungsergebnisse machen die Hansezeit lebendig

96 P. M. HISTORY - NOVEMBER 2015


Impressum

Gff GRUNER + JAHR GMBH & CO KG

POSTANSCHRIFT FÜR VERLAG UND REDAKTION


Am BaumwalllI. 20459 Hamburg
Teleion: 04013703·0. Fax: 04013703·5694

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Stellvertretender Chefredakteur: Rüdiger Barth
Geschäftsführende Redakteurin/CvD: Bettina Daniel
Art Direction und layout: Michael Darling
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Redaktion: Christi ne Dohler (fr), Hauke Friederichs Ur),
Katharina Jakob Ilrl. Thomas Röbke (Ir)
Bildredaktion: Julia Franz. Imke Keyssler (fr)

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Executive Director Direct Sales: Heiko Hager
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WIE DIE PR IN DIE WELT KAM Verantwortlich für den Anzeigenteil: Daniela Krebs.
G+J Media Sales. Am Baumwall!!. 20459 Hamburg

Wenn wir Dinge kaufen, die wir gar nicht brauchen, Sales Manager: Max Schulz
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Public Relations. Der Neffe von Sigmund Freud inspi­


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P.M. HISTORY - NOVEMBER 2015 97


Sprengsatz

"Je mehr Gesetze,


desto mehr Diebe."
LAO-TSE (UM 550 V. eHR.)

ir wissen kaum
W etwas über den
DIE BEFOLGUNG ÄUSSER­
LlCHER VORSCHRIFTEN IS T
Früher litten wir chinesischen Gelehrten

an Verbrechen, heute an Lao-Tse oder auch Lao­ GUT, UM DEINE GEDANKEN


zi, dem so viele Lebens­ REIN ZU ERHALTEN,
Gesetzen.
weisheiten zugeschrie­
ABER ZUR WAHRHEIT UND
ben werden. Es ist noch
nicht mal gesichert, ob WIRKLICHKEIT FÜHRT
Publius Cornelius Tacitus
(ca. 55-120), er überhaupt gelebt hat. SIE DICH NICHT.
römischer Geschichtsschreiber Allerdings soll auf ihn das "Daodejing" zu­
rückgehen, eine Sammlung weiser Sprü­
che, die wirklich existiert. Es ist ein Werk
Shankara (ca. 788-820), genannt
in 81 Versen, das zur Grundlage einer gan­
Shankaracharya,
Welch ein zen religiösen Lehre wurde: des Daoismus, indischer Philosoph
Chinas ureigener Religion neben dem Kon­
künstlich Netz ist fuzianismus. Wenn es Lao-Tse vor Jahr­
hunderten gegeben hat, dann lebte er ge­
doch das Gesetz; mäß der Legende in Chinas Südwesten Ein Gesetz für
und war von Beruf Archivar. Doch dann
Kleines ist verfiel vor seinen Augen das Land, sodass
Löw und Ochse ist

gefangen, Großes er sich entschloss, es zu verlassen. Auf Unterdrückung.


einem Wasserbüffel reitend, passierte

durchgegangen. Lao-Tse den Grenzpass. Ein Wächter hielt


ihn auf und bat um einen Wegezoll. Der
Gelehrte solle eine Schrift seiner Weisheit (1757-1827),
/
William Blake

hinterlassen. Lao-Tse setzte sich nieder englischer Dichter,


Maler und Naturmystiker
Friedrich von Logau und verfasste seine 81 Verse. Dann ver­
(1605-1655), deutscher Dichter und Jurist, schwand er im Westen. Im 2. Jahrhun­
Pseudonym: Salomon von Golaw
dert n. Chr. kehrte er als Gottheit zurück Mit Gesetzen
und galt fortan als Verkörperung des
"Dao" - das "kosmische" oder "ewige" ist es wie
Prinzip, mit dem der Mensch in Einklang mit Würstchen.
leben soll. Ein Daoist lässt dem Wandel
ES GIBT AUF DER seinen Lauf, greift nicht in die Natur der Es ist besser,
WELT ÜBER DREISSIG Dinge ein und lehnt Hierarchien ab. wenn man nicht
MILLIONEN GESETZE,
sieht, wie
UM DIE ZEHN GEBOTE Überflüssige sie gemacht
DURCHZUFÜHREN.
Gesetze tun den werden.
notwendigen an ihrer
Albert Schweitzer (1875-19651.
Wirkung Abbruch. Otto Eduard Leopold,
deutsch-französischer Arzt, Charles-Louis de Secondat, Fürst von Bismarck (1815-18981.
evangelischer Theologe, Philosoph, Baron de la Brede et de Montesquieu (1689-1755), preußisch-deutscher Staatsmann
1952 Friedensnobelpreisträger französischer Staatstheoretiker und Schriftsteller und erster Reichskanzler

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