Sie sind auf Seite 1von 11

1

Eine Analyse zur Verwendung des Akkudativs/Einheitskasus im deutschsprachigen Raum über

geografische und generationsbezogene Trends hinweg

Terrance Duncan Professorin Goertler GRM 461 001 15. März 2021
2

Einführung

Als ich als International-Baccalaureate-Schüler anfing, Deutsch in einem akademischen

Umfeld zu lernen, bemerkte ich schnell, dass das Deutsch, das mir meine muttersprachlichen

Familienmitglieder beigebracht hatten, nicht immer ,,grammatisch richtig” war. Seit Langem

verwirrte ich mich, warum meine deutschsprachige Tante umgangssprachlich Äußerungen wie

,,Ich gehe im Bett” oder ,,Kommste zu mich?” anstelle der standarddeutschen Alternativen ,,Ich

gehe ins Bett” und ,,Kommste (Kommst du) zu mir?” beim Reden nutzte. Im ersten Fall wäre

die Grammatik, die einen Ortswechsel anzeigte, das Akkusativ erfordern, während im zweiten

Fall zu als Präposition notwendigerweise eine Dativdeklination folgen müsste. Bei der

Untersuchung dieses Sprachphänomens wurde schnell klar, dass dies keine Tendenz einer

Muttersprachlerin war, die seit Langem aus ihrer Heimat entfernt wurde, sondern ein natürlicher

Teil einer dialektischen Varietät, die insbesondere im Platt-Dialekt Borbecksch verbreitet war,

den sie sprach, aber existierte auch in drastisch nicht verwandten Dialekten wie

Schweizerhochdeutsch und Berlinerisch (Giger & Öhl, 2017, Solf et al., 2019).

Während es sich unabhängig voneinander in verschiedenen Regionen des

deutschsprachigen Raums entwickelte, fand es einen großen Teil seiner Grundlage als

klassenbezogener Dialekt, der unter Bergleuten im Ruhrgebiet eher verbreitet war (Grosse,

1991). Während eines Großteils des 19. Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

war es sowohl in schriftlicher als auch in mündlicher Form üblich und wurde gleichzeitig mit

dem Bedarf an Kohle und damit auch an den Bergleuten allmählich nicht mehr genutzt

(Unterstell, 2010, Schierling, 2005). Nichtsdestotrotz blieb es in gewisser Weise bestehen, wie

zum Beispiel die weit verbreitete Verwendung in Dativverschmelzungen und in der älteren

Bevölkerung, insbesondere in jenen, die vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden (Steinig,
3

1976). Mit dem Aufkommen der sozialen Medien und dem damit verbundenen entsprechenden

Soziolekt erlebte sie jedoch eine Wiederbelebung ihrer Nutzung (Eichinger, 2008).

Basierend auf den vorläufigen Untersuchungen, die zusätzlich zu den Feldforschungen in

sozialen Medien durchgeführt wurden, wollte ich die folgende Forschungsfragen vorschlagen:

Wie unterscheidet sich die Verwendung des Akkudativs bzw. des Einheitskasus diachronisch,

diatopisch und generationsbezogen bzw. diastratisch und inwiefern ähneln sie sich? Wie wird es

heute verwendet? Besonders bei der Nutzung von sozialen Medien?

Methoden

Ein Metakorpus wurde unter Verwendung vorhandener Korpora sowie des Korpus

zusammengestellt, der aus einer Untersuchung bzgl. seiner Verwendung in sozialen Medien

erstellt wurde. Obwohl dieses Sprachphänomen sowohl in mündlicher als auch in schriftlicher

Form vorliegt, wurde in Übereinstimmung mit den Autoren, die für die Erstellung von 3 der

Korpora verantwortlich waren, aufgrund des Mangels an verfügbaren Audioaufnahmen und der

Unfähigkeit, Audioaufnahmen von dazugehörigen Muttersprachlern rechtzeitig zu erhalten,

wurde das mündliche Element der Studie nicht berücksichtigt, und stattdessen wurde nur eine

Analyse der schriftlichen Texte durchgeführt. Das Metakorpus besteht somit aus schriftlichen

Texten der Arbeiterklasse des Ruhrgebiets und der Schweiz, insbesondere aus den Bereichen

Bergbau und Industrie, sowie einer Zusammenstellung von Tweets aus den Jahren 2010 bis

2021. Aufgrund der geografischen Reichweite sowie der Unfähigkeit, auf bestimmte Ressourcen

zuzugreifen, die nur persönlich in der Deutschen Nationalbibliothek verfügbar waren, war das

Metakorpus eher klein.


4

Resultate und Diskussion

Bei der Betrachtung der von den Autoren erstellten Texten in den Originalkorpora zeigte

sich ein klarer Trend, dass dieses Sprachphänomen ein Soziolekt ist. Dies wurde oft von den

Autoren selbst bemerkt, aber expliziter gemacht, da die Texte ausdrücklich von der

Arbeiterklasse bezogen wurden (Anhang I). Dies war zumindest auch teilweise auf persönliche

Erfahrungen zurückzuführen, bei denen ich vor dem Studium ehrlich angenommen hatte, dass

das Deutsch meiner Tante einer niedrigeren sozialen Klasse angehörte, da sie nicht viel

Erfahrung mit formaler Bildung hatte und im Dritten Reich als Teil einer armen Arbeiterfamilie

aufgewachsen wurde. Obwohl ich dies nicht in einem negativen Sinne betrachtete, als ich um

Erklärung gebeten hatte, nachdem sie verstorben wurde und mich bei verwandten

Familienmitgliedern danach erkundigt hatte, warum sie so sprach, machten sie eine Bemerkung

darüber, wie es vielleicht darauf hindeutete, dass es an ihrem Mangel der Bildung läge, und dass

ich ihre Sprechweise nicht nachahmen sollte, obwohl sie auch Muttersprachlerin der deutschen

Sprache war. Interessanterweise wurde dieser Trend nicht generationenübergreifend gesehen.

Während es in den sozialen Medien zu einem gewissen Grad eine Verspottung des Akkudativs

gab, hatte dies eher mit den tatsächlichen Dialekten selbst zu tun als mit der Wahrnehmung, dass

seine Sprecher einem niedrigeren sozialen Milieu angehörten. Andernfalls wurde es absichtlich

und etwas ironisch verwendet (Anhang III).

Dann gab es auch seine Verwendung in Berlinerisch, wo eine wesentliche Verwendung

des Akkudativs stattfand, als man Gefühle gegenüber jemand anderem ausdrückte, wie "ich mag

dir" oder "ich liebe dir" (Anhang II). Beide Verben in diesen Beispielen erfordern das

Verwenden eines Pronomen mit akkusativer Deklination, aber eines des Dativs wurde stattdessen
5

benutzt. Dies könnte eine gewisse historische Verbindung haben, da bis 1918, als das

Sprachphänomen längst als Unterscheidungsmerkmal der Arbeiterklasse etabliert war, beide

Gebiete als ,,preußisch” angesehen wurden, die Region, in der dieses Sprachphänomen

wahrscheinlich entstanden wurde. Der Fall seiner Verwendung in schriftlichem

Schweizerhochdeutsch war weniger klar, schien aber auf seine Zweckmäßigkeit zurückzuführen

zu sein, wie es in der Arbeiterklasse des Ruhrgebiets der Fall war. Somit ging seine Verwendung

diatopisch auseinander, obwohl es sich zumindest historisch um ein diastratisches Merkmal

handelte.

Was ich weiter erfahren möchte, ist, warum diese Divergenz auftrat. Bevor ich diese

Untersuchung durchführte, war ich unter der Annahme meiner deutschsprachigen Familie davon

ausgegangen, dass dies ein ehemaliges Sprachphänomen war, das in Deutschland nur noch selten

gehört wurde, außer von seinen ältesten Sprechern und der begrenzten Anzahl von Arbeitern, die

noch in der ,,schmutzigen Industrie” arbeiten. Dies war eindeutig nicht der Fall, da es von den

jüngeren Generationen übernommen wurde und auch in einer scheinbar anderen Verwendung.

Hinzu kommt der fortgesetzte Präsenz in anderen norddeutschen Dialekten wie Berlinerisch, wo

seine Verwendung trotz der anhaltenden Assoziationen, ein Deutsch eines niedrigen sozialen

Milieus zu sein, durchdrungen wurde.


6

Anhang I: Historische Beispiele des Akkudativs

(Grosse, 1991)
7

Anhang II: Berlinerisch Beispiele

(Solf et. al, 2004, Kotthoff, 2007).


8

Anhang III: Der Akkudativ bei dessen sozialen Mediengebrauch


9

(Alle Tweets wurden direkt vom Twitter kopiert)


10

Quellen

Eichinger, L. M. (2008). NORMEN HOCHSPRACHLICHEN SPRECHENS ZWISCHEN

SCHRIFTSPRACHE UND PLURIZENTRISCHER SPRACHKULTUR. German

Life and Letters, 61(4), 420–434. https://doi.org/10.1111/j.1468-0483.2008.00434.x

Giger, N. (2017). Generative Varietätengrammatik. Am Beispiel der

Nominativ-Akkusativ-Variation im Schweizerhochdeutschen (Stauffenburg

Linguistik 86). Tübingen: Stauffenburg. 371 S. Zeitschrift Für Rezensionen Zur

Germanistischen Sprachwissenschaft, 9(1-2), 25–34.

https://doi.org/https://doi.org/10.1515/zrs-2017-0004

Grosse, S. (1991). Arbeitersprache im Ruhrgebiet. In Das 19. Jahrhundert (pp. 202–249). essay,

De Gruyter.

Kotthoff, H. (2007). Potentiale der Redewiedergabe im Spannungsfeld von Mündlichkeit und

Schriftlichkeit, Spracherwerb, Jugendsprache und Sprachdidaktik. Muttersprache,

1(118), 1–26.

Schierling, R. (2005). Flektierte Präpositionen im Deutschen? Neue Evidenz aus dem

Ruhrgebiet. Zeitschrift Für Dialektologie Und Linguistik, 72(1), 52–79.

http://www.jstor.org/stable/40505067.

Solf, M., Grötschel, M., & Klein, W. (2019). Akkudativ und Zislaweng: Zur Her- und Zukunft

des Berlinischen. In C. Fröhlich (Ed.), Abecedarium der Sprache (pp. 19–28). essay,

Kulturverlag Kadmos.
11

Steinig, W. (1976). Soziolekt und soziale Rolle: Untersuchungen zu Bedingungen und Wirkungen

von Sprachverhalten unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen in verschiedenen

sozialen Situationen. Pädagogischer Verlag Schwann.

Unterstell, R. (2010). „Hömma! Hasse dat schon gewusst?”︁. Forschung, 35(4), 10–13.

https://doi.org/10.1002/fors.201090058

Das könnte Ihnen auch gefallen