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Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Musterprüfung LV 9

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Die alte Stadt der Kelten

1 „Heuneburg“ heißt der steil aufragende, grün überwucherte Hügel in


2 der Nähe der süddeutschen Stadt Sigmaringen an der Donau, auf
3 dem vor vielen Jahrhunderten eine keltische Burg stand. Für
4 Archäologen ist dieser Hügel von großer Bedeutung. Hier führen sie
5 Ausgrabungen durch und versuchen, anhand der ausgegrabenen
6 Objekte Aufschluss über die Lebensweise der Kelten, eines längst
7 untergegangenen Volkes, zu gewinnen. Als die Archäolo gen am Fuß
8 der Heuneburg im letzten Sommer die Reste einer keltischen
9 Siedlung ausgruben, machten sie eine spektakuläre Entdeckung: Bei
10 den Grabungen kam ein Tor aus Stein ans Tageslicht.
11 Für die Archäologen ist das etwas Einmaliges: „Das kennt man
12 aus der Zeit um 500 vor Christus nördlich der Alpen überhaupt
13 nicht!“ Alle bisher bekannten keltischen Gebäude, auch jene Bauten,
14 die vor zweieinhalb Jahrtausenden an der Heuneburg standen,
15 waren aus Holz und Lehm. Nun aber stand da auf einmal ein
16 steinernes Tor. Auch die Reste von zwei Mauern, die, jede noch
17 etwa einen halben Meter hoch, bei den Grabungen zum Vorschein
18 kamen, waren aus behauenen Steinen errichtet. Eine solche
19 Bauweise aus der Zeit um 500 v. Chr. ist in Mitteleuropa einzigartig.
20 Nördlich der Alpen sind aus jener Zeit keine Bauten aus Stein
21 überliefert.
22 Wir kennen von den Kelten jener Zeit weder die Namen der
23 Herrscher und Helden noch die Lieder der Dichter. Und doch waren
24 die Kelten ein Volk, das damals große Teile West- und Mitteleuropas
25 dominierte. Es gibt nur wenige europäische Länder, in denen sie
26 nicht ihre Spuren hinterlassen haben. Zwar werden sie in Berichten
27 zeitgenössischer griechischer und römischer Schriftsteller vor allem
28 als wilde Krieger beschrieben. Doch schon in früher Zeit besaßen
29 die Kelten eine vielseitige und hoch entwickelte Kultur. Die Kelten
30 waren es, die in Mitteleuropa den Bergbau einführten. Über
31 Jahrhunderte betrieben sie Salzbergwerke in den Alpen wie in
32 Hallstatt und Hallein, zwei Orte, die heute in Österreich liegen. Au ch
33 die Technik der Glasherstellung war bei ihnen weit entwickelt. Die
34 Eisenverarbeitung wiederum beherrschten sie so gut, dass selbst
35 die alten Römer, die in der Waffentechnik erfahrene Experten
36 waren, die keltischen Schwerter bewunderten. Wie archäologisc he
37 Funde belegen, reichten die Handelsverbindungen der Kelten von
38 der Ostsee bis zum Mittelmeer. Bei Ausgrabungen keltischer
39 Siedlungen in Mitteleuropa fand man griechische Weinkrüge.
40 Gerade der hohe Entwicklungsstand der keltischen Kultur
41 nördlich der Alpen wie auch der neue Fund an der Heuneburg
42 werfen eine interessante Frage auf, die nun erforscht werden soll:
43 Haben Kelten vor zweieinhalb Jahrtausenden schon in Städten
44 gelebt? Einzelne Hinweise, dass dies der Fall gewesen sein könnte,
45 hatten sich schon aus früheren Forschungen ergeben. So konnte
46 man zum Beispiel nachweisen, dass die keltische Gesellschaft
47 bereits nach relativ komplexen Regeln organisiert war. Auch weiß
48 man inzwischen, dass die keltische Wirtschaft stabile, dauerhafte
49 Strukturen besaß. Vor diesem Hintergrund wäre es also durchaus
50 denkbar, dass die Kelten um 500 v. Chr. auch eine städtische
51 Lebensweise kannten. Mit neuen Ausgrabungen an mehreren
52 keltischen Siedlungsorten hoffen die Archäologen, auf die Frage
53 eine Antwort zu finden.
54 Auch an der Heuneburg sind neue Ausgrabungen geplant, die
55 dazu einen wichtigen Beitrag leisten könnten, denn kein
56 frühkeltischer Fundplatz ist so gut erforscht wie dieser. In der
57 Siedlung am Fuß des Burghügels wurden bei früheren Grabungen
58 bereits Häuser gefunden, die offensichtlich an einer Straße lagen.
59 Die Archäologen vermuten, hier habe vielleicht schon eine frühe
60 Form von Siedlungsplanung zugrunde gelegen. Unter den Resten
61 sogenannter Grubenhäuser stieß man zudem auf Abfälle der
62 Metallverarbeitung, an anderer Stelle fand man Spuren von
63 Textilverarbeitung. Gab es in dieser Siedlung womöglich ein
64 besonderes Viertel für Handwerker mit ihren Werkstätten? Auch dies
65 wäre ein Indiz für eine städtische Lebensweise. Ein weiterer
66 Gesichtspunkt ist die Einwohnerzahl. Nach Schätzung der
67 Archäologen könnten an diesem Ort etwa ein- bis zweitausend
68 Menschen gelebt haben, was für die damalige Zeit eine ziemlich
69 große Bevölkerung wäre. Genügen diese drei Faktoren schon, um
70 von einer „Stadt“ zu sprechen? Die Archäologen beantworte n die
71 Frage mit einem vorsichtigen „Ja“, das sie gleich wieder
72 einschränken. Nach ihrer Auffassung fehlen noch wichtige Elemente
73 wie eine religiöse Kultstätte und ein Marktplatz, die man trotz aller
74 Bemühungen bisher noch nicht nachweisen konnte. Im Grunde sind
75 sie aber überzeugt, dass es einen Markt gab, denn dafür spricht die
76 Lage des Ortes an der Donau. An diesem großen Fluss nämlich
77 verlief einer der wichtigsten alten Handelswege nördlich der Alpen.
78 Und schließlich ist auch das einzigartige steinerne To r - „für diese
79 Region war das ein Monumentaltor!“ - ein Indiz dafür, dass dieser
80 Ort überregionale Bedeutung hatte. Muss man also annehmen, dass
81 die an der Heuneburg ausgegrabene Siedlung eine keltische Stadt
82 war? Wenn das der Fall wäre, dann wäre dies die älteste Stadt
83 Mitteleuropas! Doch bis diese Frage sich zuverlässig beantworten
84 lässt, muss an der Heuneburg noch weiter gegraben werden.

(Quelle: SZ 13.9.2005; gekürzt und bearbeitet)

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